Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Der Spiegel 2013 27 PDF
Der Spiegel 2013 27 PDF
B oyun Egme – Beugt euch nicht“, lautete die Zeile des zweisprachig erschienenen
SPIEGEL-Titels der vergangenen Woche. Er hat in Leserbriefen, Mails, Tweets
und in türkischen Medien heftige Reaktionen ausgelöst – sie reichten von Abscheu
bis zu Begeisterung. Glückwünsche zum gelungenen Integrationsprojekt waren eben-
so zu lesen wie der Vorwurf, die Zweisprachigkeit fördere das Bestehen einer türki-
schen Parallelwelt in Deutschland. In der Türkei registrierte SPIEGEL-Redakteur
Maximilian Popp, der die Reaktionen gemeinsam mit
seiner Kollegin Özlem Gezer auswertete, viel Empörung
bei Erdogan-Anhängern – und ein Aufblühen von Ver-
schwörungstheorien. Schon am vorvergangenen Samstag,
als nur das Titelbild, nicht aber der Text verbreitet war,
kursierten krude Thesen: Der SPIEGEL habe den Auftrag
der Bundesregierung, die Türkei zu spalten, zu schwächen
und von der EU fernzuhalten. Außerdem wolle er ver-
hindern, dass die Türkei den Konflikt mit den Kurden
löse. Das tatsächliche Motiv des SPIEGEL wurde anderer-
seits von vielen verstanden: ein Zeichen zu setzen, dass
die Ereignisse in Istanbul alle Menschen etwas angehen,
in Deutschland, in der Türkei, in Europa (Seite 6). SPIEGEL-Titel 26/2013
A m Sitz der Vereinigung der Textilfabrikanten und -exporteure, der wohl mäch-
tigsten Institution des Landes, empfing Vizepräsident Shahidullah Azim die
SPIEGEL-Redakteure Hauke Goos und Ralf Hoppe, um ihnen seine Sicht auf die
Textilproduktion in Bangladesch zu erklären. Azim, selbst Besitzer zweier Textil-
fabriken, beharrte darauf, dass die Tragödie
von Rana Plaza nur ein Einzelfall gewesen
sei – jener Einsturz eines Fabrikgebäudes
im April dieses Jahres, bei dem mehr als
tausend Menschen in den Trümmern star-
INDRANIL KISHOR/DRIK / AGENTUR FOCUS?
Im Internet: www.spiegel.de D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 3
In diesem Heft
Titel
Der Computer-Nerd Edward Snowden narrt
die Supermacht USA ...................................... 72
Wie der US-Geheimdienst NSA deutsche
und europäische Institutionen abhört ............ 76
Der NSA-Aussteiger William Binney
über das Schleppnetz der Datensammler
und Snowdens Flucht ..................................... 78
Deutschland
Panorama: FDP ist empört über Abweichler
in der Union bei der Homo-Ehe / Rechnungshof
warnt Verteidigungsministerium vor
Hubschrauber-Deal / Länder machen mobil
gegen Philipp Röslers Glücksspielgesetz ........ 13
Bundesregierung: Wie Ministerin Schröder die
Bilanz ihrer Familienpolitik schönredet ......... 18
Männer: SPIEGEL-Gespräch mit SPD-
Generalsekretärin Andrea Nahles über Väter,
Politiker und Machos ..................................... 22
SPD: Bei den Sozialdemokraten wächst der
Widerstand gegen eine Große Koalition ........ 25
Debatte: Jürgen Trittin hält bewusstes Nicht-
wählen für undemokratische Arroganz .......... 26
Spionage: Erneut sind zwei russische Agenten
in Deutschland aufgeflogen ............................ 28
EU: Die Partner klagen über Merkels
Geschönte Bilanz Seite 18
WOLFGANG KUMM / DPA
Anti-Europa-Kurs ........................................... 31 Kritische Studien zur Familienpolitik – das passt der Regierung im Wahl-
Afghanistan: Millionenverschwendung beim kampf nicht. Ministerin Kristina Schröder setzt die Wissenschaftler unter
Abzug der Bundeswehr .................................. 32 Druck und verfälscht Resultate. Doch die Betroffenen wehren sich.
Hessen: Ministerpräsident Volker Bouffier
übt sich als Wahlkämpfer ............................... 34
Senioren: Eine Altenpflegerin erklärt, warum
sie eine Heimbewohnerin drangsalierte ......... 36
Kriminalität: Wie die Ermittler den Mann
erwischten, der 762-mal auf Lastwagen
geschossen haben soll .................................... 39
„Das große Spiel der Geschlechter“ Seite 22
Justiz: Warum Gustl Mollath Was ist ein moderner Mann? Im SPIEGEL-Gespräch plädiert SPD-General-
in die Psychiatrie eingewiesen wurde ............ 40 sekretärin Nahles dafür, dass sich Väter mehr Zeit für die Familie nehmen,
und erklärt, warum Frauen trotzdem Machos wie Gerhard Schröder mögen.
Gesellschaft
Szene: Behinderung verbindet Mensch
und Tier / Wie verhält man sich als deutscher
Whistleblower? .............................................. 45
Eine Meldung und ihre Geschichte –
ein Rentner fuhr mit dem Traktor von
Norddeutschland nach Mallorca ..................... 46
Euro-Retter in der Sackgasse Seite 58
Billigwaren: Der Einsturz einer Die Krisenländer in Südeuropa stöhnen unter den harten Sparmaßnahmen,
Textilfabrik in Bangladesch – die Geschichte doch ein Erfolg der Reformen lässt auf sich warten. Der Ruf nach einem
einer absehbaren Katastrophe ........................ 48 Strategiewechsel wird lauter – und nach mehr Geld von den Geberländern.
Homestory: Warum eine 16-Jährige in
der Schule keine Antworten auf die Fragen
unserer Zeit bekommt .................................... 55
Wirtschaft
Trends: OECD will Steueroasen trockenlegen /
Teure Niederlage für Gazprom /
Telekom-Branche beschwert sich bei Rösler ... 56
W-Lan ohne
Währungsunion: Südeuropa kommt nicht
aus der Krise .................................................. 58 Grenzen Seite 128
Globalisierung: Droht in China ein zweiter
Fall Lehman? .................................................. 64
In vielen Ländern kann man
Rohstoffe: Die Staatsbank KfW investiert in an jeder Straßenecke frei im
umstrittene Kohleprojekte in Serbien ............ 66 Internet surfen – in Deutsch-
Sozialstaat: Niedrige Zinsen zehren an den land nicht: Offene W-Lan-
Reserven der Rentenkasse ............................. 68 Netze sind hierzulande Man-
Genussmittel: Verbraucherschützer warnen gelware. Das liegt an der
vor hochkonzentrierten „Energy-Shots“ ........ 69 unsicheren Rechtslage: Der
Ausland Betreiber haftet für alles,
ALLOVER IMAGES / BAB.CH
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 5
Briefe
SPIEGEL-Titel 26/2013 ANTON H. KRAH AUS BRÜSSEL Hier übertrifft der SPIEGEL die ganze
deutsche Presselandschaft. Ich bin begeis-
tert, auch wenn ich befürchte, dass Sie den
Nr. 26/2013, Beugt euch nicht – schwarze Türkei sein, sondern nur der Journalismus im engeren Sinne verlassen
Türkei: Der Aufstand gegen Erdogan – Versuch eines pluralistischen Miteinander. und gar selbst Politik machen wollen. Mit
10 Sonderseiten auf Türkisch DR. LUTZ ZWIOREK, LAHNTAL den besten völkerverbindenden Absichten.
Es kann uns nicht egal sein, was in der Tür-
Ein Stück Deutschland Wenn ich eine türkische Ausgabe möchte,
dann werde ich mir eine türkische Aus-
kei passiert, auch weil ein Stück Türkei
durch die 3 Millionen hier lebenden Men-
Was ist nur in Sie gefahren? Ich habe den gabe kaufen. Das betrifft alle Sprachen. schen mit türkischem Migrationshinter-
SPIEGEL abonniert, um mich in meiner Falls der SPIEGEL jetzt mehrsprachig er- grund ein Stück Deutschland ist.
Muttersprache zu informieren. Sollte ich scheint, werde ich mein Abo kündigen. AXEL GERHOLD, KÖLN
Türkisch lernen wollen, wende ich mich HORST-MICHEL RUDNIK, HERNE (NRW)
an die Firma Langenscheidt. Sie hätten Zehn Seiten auf Türkisch? Meine Frau ist
auch in französischer oder englischer Soll der SPIEGEL in Zukunft multilingual Migrantin der zweiten Generation, rechtes
Sprache drucken lassen können, meine herausgegeben werden? Demnächst Rus- Gedankengut weise ich ebenso von mir
Reaktion wäre dieselbe. sisch für die Demokratiebewegung, Por- wie Vorurteile. Aber es würde allen Be-
STEPHAN HAMACHER, DÜSSELDORF tugiesisch für die Brasilianer, Arabisch teiligten mehr helfen, die Betroffenen zur
für den dortigen Frühling, Chinesisch für Integration zu bewegen, anstatt die eh
Glückwunsch zu dieser großartigen Idee. die Menschenrechte, Koreanisch für die schon vorhandene Parallelisierung der Ge-
Ich habe immer wieder mal in die rechte darbende nordkoreanische Bevölkerung sellschaft weiter zu fördern. Es gibt hier
Spalte geschaut, um einige türkische und wer weiß in welcher Sprache noch? Türken, die fast kein Wort Deutsch spre-
Worte aufzuschnappen. Erdogan wird die Solche unsinnigen Gesten gehören nicht chen. Es geht hier nicht um Solidarität,
Geister, die er rief, nun nicht mehr los. in ein deutsches Wochenmagazin. sondern um die Identitätsfrage an sich.
Die Lösung kann keine weiße oder MANFRED BURGHARDT, GILCHING (BAYERN) DR. UWE-C. SCHILLING, BERLIN
„Dass ebendieses Magazin eine Frau „Die parteiischen Medien und die AKP- „Der SPIEGEL, der den Demonstranten
zeigt, cool und modern, mit einem Plakat Unterstützer erregten sich über den vom Gezi-Park das Signal gibt ,macht
in der Hand, auf dem ,Beugt euch nicht‘ SPIEGEL und kritisierten ihn, bevor weiter‘ …, hat in der Vergangenheit mit
steht, hat mich als Türken sehr stolz ge- Details des Titels überhaupt bekannt seinen Titelthemen der Türkei und der
macht … Ich möchte in einem Land leben, waren. Das zeigt nur, dass es sie wahn- islamischen Welt immer wieder gezeigt,
in dem unsere Mädchen, wenn es sein sinnig geärgert haben muss.“ wo er steht. Auch mit dem aktuellen Titel
muss, auf die Straße gehen können mit hat er den in Deutschland lebenden Tür-
einem ,Beugt euch nicht‘-Plakat … Wir Der Journalist Reha Muhtar in einem ken und Muslimen wieder seine islamo-
sind dem SPIEGEL zu Dank verpflichtet. Interview mit dem regierungsnahen phobe Sichtweise präsentiert.“
Mit der jungen Frau, die das ,Beugt euch Fernsehsender Haberturk:
nicht‘-Plakat trägt, hat er der Welt auch Das konservative Nachrichtenportal
das andere Gesicht der Türkei gezeigt.“„Der SPIEGEL agiert gemeinsam mit Rota Haber:
einem kriminellen politischen Netzwerk
Die regierungsnahe Zeitung „Sabah“: und will verhindern, dass die Türkei das „Bei den Berichten über die Proteste im
Kurden-Problem löst. Über den SPIE- Gezi-Park hatten die deutschen Medien
„Dem SPIEGEL waren die acht türki- GEL wollen die deutsche Bundeskanz- zunächst die Vorreiterrolle als Pro-
schen Opfer des NSU, die Brandanschlä- lerin und die Europäische Union uns sa- vokateur an den US-Sender CNN ver-
ge von Solingen und Mölln keine türki- gen, dass wir nie EU-Mitglied werden. loren. Nun versucht der SPIEGEL, die
sche Schlagzeile wert. Wohl aber die Sie wollen uns zeigen, dass sie uns aus- Lücke zu schließen, indem er erstmalig
Vorfälle im Gezi-Park.“ grenzen und isolieren können.“ mit einem türkischen Titel erscheint.“
6 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Briefe
Ich bin kein Erdoganist, aber habe einen Nr. 25/2013, Deutsche Kleinstaaterei
gewissen Respekt gegenüber dem Amt, verhindert effektiven Hochwasserschutz
in das er von 50 Prozent der Wähler ge-
wählt wurde. So zu tun, als ob es nur in
der Türkei so was gäbe und dass die
Zum Halali gegen die Biber
Mehrheit dort gegen Erdogan ist, finde Die Schutzmaßnahmen für die Flussland-
ich respekt- und verantwortungslos. schaften müssen bereits in den Gebieten
IBRAHIM TIRYAKI, MESCHEDE (NRW) der Zuflüsse beginnen, kurz nach deren
Quellen. Dort müssen Sperren an den
Sie heben hervor, dass die Ereignisse am Bachläufen vorgesehen werden, damit bei
Gezi-Park uns alle, das heißt „Deutsche, Bedarf die Wiesen geflutet werden kön-
Türken und Europäer“, angehen. Die Dar- nen. Ein Großteil der geteerten Feldwege
stellung legt den Fokus jedoch ausschließ- muss renaturiert werden, Uferbefestigun-
lich auf die AKP-Regierung. Die Versäum- gen und -begradigungen müssten zurück-
nisse und die Hinhaltetaktik der EU ge- genommen werden, um die Fließge-
genüber der Türkei als Beitrittskandidaten schwindigkeit zu reduzieren.
werden dabei ausgeklammert. Warum? GEORG TANDLER, SIMMOZHEIM (BAD.-WÜRTT.)
DR. TEOMAN OGUZHAN, BONN
Für einen effektiven Hochwasserschutz
der Elbanrainer, der – nach fünf „Jahr-
hunderthochwassern“ in elf Jahren allein
in meinem Heimatort – immer dringen-
der wird, müssen sofort ausreichende Pol-
derflächen geschaffen werden, deren Kos-
ten durch alle betroffenen Bundesländer
finanziert werden. Ein Rückschnitt oder
gar die Abholzung der Elbtalaue stellt
keine verantwortungsvolle Schutzmaß-
8 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Briefe
Nr. 25/2013, Wortmächtige Populisten Nr. 27/2013, Der Schauspieler Jan Josef
kämpfen in Deutschland gegen den Euro Liefers verteidigt seinen Hilfsbesuch in
Aleppo
Zwei mal drei sind doch sechs
nomischen und politi- Anreize durch fehlgelenkte Subventionen. könnte der SPIEGEL jetzt noch Atze
schen Argumente für ein DR. JÜRGEN PTUCHA, GOTHA Schröder in Begleitung von Cindy aus
Festhalten am Einheits- Marzahn durch Aleppo treiben. Der bei
euro offensichtlich ab- Storch hat recht: Wissenschaft ist auch ein Ihnen immer heftiger in Erscheinung tre-
handengekommen sind, sozialer Prozess. Der Mainstream sagt, tenden Kriegshetze gegen Assad täte das
meint er, die Euro-Kriti- wo’s langgeht, und wirkt auf die wissen- bestimmt keinen Abbruch.
ker verhöhnen zu müs- schaftliche Produktion und Resultate. KARL SCHMALLENBACH, JÜLICH (NRW)
sen. Nicht nur unterschlägt er dabei eine FREDY SIDLER, BIEL (SCHWEIZ)
Beschreibung der vorgeschlagenen Alter-
nativen, er wirft den Euro-Kritikern auch Storchs Rätsel, warum sich die Erde
10 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Panorama Deutschland
KOA L I T I ON
Empörung über
Abweichler
Die zahlreichen Nein-Stimmen der Union bei
der Abstimmung über die steuerliche Gleichstel-
lung von Homo-Ehen sorgen für Ärger in der
schwarz-gelben Koalition. FDP-Generalsekretär
Patrick Döring kritisierte die Unionskollegen
scharf: „Das war stillos.“ Am Donnerstag hatten
rund 20 Abgeordnete von CDU und CSU gegen
ein Gesetz gestimmt, das das Ehegattensplitting
auf eingetragene Lebenspartnerschaften auswei- ALESSANDRA SCHELLNEGGER / SÜDDEUTSCHER VERLAG
H U B S C H RAU B E R
chen Zug einigte man sich per „Memo-
randum of Understanding“, dass der
Hersteller Eurocopter der Marine 18
Vergebliche Warnung modifizierte „NH90“-Helis für den
Seebetrieb liefert. Damit sollte der
Der vergangene Woche vom Haushalts- Konzern für die Reduzierung des Auf-
ausschuss genehmigte Hubschrauber- trags entschädigt werden. Der Rech-
Deal von Verteidigungsminister Tho- nungshof warnte, dass dieses Vorgehen
mas de Maizière (CDU) birgt erheblich „verhindert, dass andere Unternehmen
mehr vergaberechtliche Risiken als bis- die Möglichkeit zur Teilnahme an ei-
her bekannt. In einem Bericht („Ver- nem Vergabeverfahren“ für den Mari-
schlusssache – amtlich geheim gehal- ne-Auftrag hätten. Die Prüfer nennen
ten“) hatte der Bundesrechnungshof diesen eine „ursprünglich nicht vorge-
kurz vor der Entscheidung gewarnt: sehene Leistung“. „Zweifelhaft“ sei,
Das Ministerium vergebe im Rahmen ob das Gebot der Chancengleichheit
der Helikopter-Bestellung faktisch ei- „hinreichend beachtet wird“, mahnte
nen Großauftrag mit einem Volumen der Bericht und forderte, die Vereinba-
von 915 Millionen Euro „ohne Wett- rung mit der Industrie „neu zu verhan-
bewerb“ an den Hersteller Eurocopter. deln“, da es für einen möglichen Mari-
PASCAL ROSSIGNOL / REUTERS
Damit riskiere man Klagen von Kon- ne-Hubschrauber auch „andere Anbie-
kurrenzanbietern. De Maizière hatte ter“ gebe. Obwohl der Bericht dem
mit der Industrie vereinbart, eine be- Haushaltsausschuss vorlag, billigte die
stehende Bestellung von 202 Helikop- schwarz-gelbe Mehrheit eine entspre-
tern der Typen „NH90“ und „Tiger“ chende Vorlage über de Maizières
zu verkleinern. Nun soll das Heer nur Deal mit einem Gesamtbudget von
Hubschrauber vom Typ „Tiger“ noch 139 Fluggeräte erhalten. Im glei- knapp 8,1 Milliarden Euro.
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 13
Panorama
B U N D E S R AT
könnten. Die Länder fordern
auch eine weiterreichende
steuerliche „Aufzeichnungs-
Länder wollen Rösler pflicht“ der Geräte, um künf-
Joachim
Gauck
Merkel baut ihren Vorsprung aus
Das Drohnen-Desaster hat Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) offenkundig
Angela geschadet. Bundeskanzlerin Angela Merkel kann indes ihren Abstand zur SPD-Politikerin
Merkel Hannelore Kraft ausbauen. Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin liegt allerdings
im Ansehen der Wähler immer noch weit vor ihren männlichen Parteifreunden.
Hannelore
Kraft
Ursula
von der Frank-
Leyen Walter
Wolfgang Steinmeier Peer
Schäuble Steinbrück
Horst
Renate Seehofer Claudia Jürgen
Künast Roth Trittin Sigmar
Gabriel
77
72
61
59
57
52
49
43 43 42 42
40
+5 –7 –6
16 8 4 7 8 6 7
Veränderungen von bis zu drei Prozentpunkten liegen im Zufallsbereich, sie werden deshalb nicht ausgewiesen.
14 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Deutschland
E I E R - S KA N DA L
Fahnder gegen mehr als 200 konven-
tionelle und ökologische Legehennen-
betriebe. Sie sollen in ihren Ställen
Verdacht gegen systematisch mehr Tiere gehalten ha-
Thomas
de Maizière Peter Sabine
Altmaier Leutheusser- Guido Gregor
Schnarren- Westerwelle Gysi
berger Kristina
Schröder Rainer Philipp
Brüderle Rösler
39
36 35 35
33
31
28 28
–7
11 18 11 6 16 10 5
TNS Forschung für den SPIEGEL am 25. und 26. Juni; 1000 Befragte ab 18 Jahren
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 15
Deutschland Panorama
TERROR
Operation „Quax“
Der Hinweis eines amerikanischen Ge-
heimdienstes hat das Bundeskriminal-
amt (BKA) auf die Spur der Islamisten
geführt, die in Deutschland einen
Sprengstoffanschlag mittels Modell-
flugzeugen geplant haben sollen. Das
geht aus einem BKA-Vermerk zu den
in der vergangenen Woche durchge-
führten Razzien in Baden-Württem-
berg, Bayern, Sachsen und Belgien
hervor. In dem geheimen Bericht
warnten die US-Sicherheitsexperten
bereits im Februar 2012 vor zwei Tune-
siern und einem Deutschen. Das Lan-
deskriminalamt in Stuttgart leitete dar-
aufhin Ermittlungen im Fallkomplex
MICHAEL REICHEL / DPA
RASSISMUS
KERNKRAFT
eine EU-Richtlinie Atommüll aus For-
schungseinrichtungen davon ausge-
nommen. Das Forschungsministerium
Durch die Hintertür als Haupteigentümer des ehemaligen
Komplexes in Jülich verhandelt derzeit
Mit einem juristischen Trick ist es der mit US-Behörden über den Export von
Bundesregierung gelungen, den Ex- abgebrannten Elementen. Passiert das
port von Atommüll aus dem For- Gesetz in der neuen Fassung am Frei-
WAZ FOTOPOOL / ACTION PRESS
schungszentrum Jülich in die USA zu tag den Bundesrat, würde ein Tabu ge-
ermöglichen. In letzter Minute wurde brochen. Vor zweieinhalb Jahren hatte
eine entsprechende Passage in den Ent- der damalige Umweltminister Norbert
wurf zum Endlagersuchgesetz aufge- Röttgen verhindert, dass Nuklearmüll
nommen. Darin wird die Ausfuhr von aus dem stillgelegten Forschungsreak-
radioaktivem Abfall zwar verboten. tor im sächsischen Rossendorf nach
Doch zugleich wurde mit Verweis auf Atommüll in Jülich Russland transportiert wurde.
16 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Deutschland
BUNDESREGIERUNG
Die Fälscher
Die Koalition will im Wahlkampf in der Familienpolitik punkten –
mit geschönten Gutachten. Ministerin Schröder setzte
kritische Wissenschaftler unter Druck. Doch die Experten wehren sich.
A
ls Professor Holger Bonin, 44,
am Montag vergangener Wo-
che die Treppen im Bun-
desfamilienministerium hinaufstieg,
trug er einen Schatz in seinem Ruck-
sack: die Antwort auf eine 200-
Milliarden-Euro-Frage. Bonin hatte
fünf Jahre lang geforscht und vier-
einhalb Stunden im Zug gesessen. Er
hatte 25 Folien vorbereitet und noch
auf der Fahrt nach Berlin letzte Än-
derungen an seiner Präsentation vor-
genommen. Jedes Komma sollte stim-
men.
Bonin, Ökonom am Zentrum für
Europäische Wirtschaftsforschung
(ZEW) in Mannheim, gehört zu den
Hauptautoren der bislang wohl auf-
wendigsten Untersuchung zur deut-
schen Familienpolitik. Wie wirkt das
Elterngeld, wie das Kindergeld? Ha-
ben öffentlich geförderte Kitas einen
Einfluss auf die Geburtenrate? Welche
der insgesamt 156 familienpolitischen
Leistungen sind sinnvoll, welche sinn-
los und welche sogar kontrapro-
duktiv?
Es sind Fragen, die in einem von
Geburtenrückgang und Überalterung
bedrohten Land über die Zukunft der
Gesellschaft entscheiden. Die For-
schungsergebnisse, die Bonin und sei-
ne Kollegen gewonnen haben, sind
alarmierend. Sie zeigen, dass aus-
gerechnet die teuren Leistungen nur
einen kleinen Nutzen stiften und
deshalb grundlegende Reformen nötig
wären, damit die Familienförderung
auch wirklich den Familien hilft.
Als Bonin den Konferenzsaal im
ersten Stockwerk des Ministeriums
betrat, warteten dort Abteilungsleiter
und Fachleute aus dem Finanz-
und dem Familienressort sowie Exper-
ten anderer Forschungsinstitute, es
gab belegte Brötchen mit Käse und
Schinken. Wer fehlte, war seine Auf-
traggeberin, Bundesfamilienministe-
rin. Kristina Schröders blieb der Run-
de fern.
Die Christdemokratin hatte ihre
Meinungsbildung zur Familienpolitik
bereits abgeschlossen. Vier Tage zuvor Minister Schäuble, Schröder: Die Ergebnisse der Gutachter werden dreist ins Gegenteil verkehrt
18 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
hatte Schröder auf einer gemeinsamen Expertisen in die Schublade gesteckt, fügung zu stellen. Seine Leute hatten
Pressekonferenz mit Finanzminister Wolf- mal wurde ein neuer Forschungsauftrag Schäuble vor allzu viel Nähe zur Famili-
gang Schäuble die Ergebnisse der Wissen- erteilt. Das Verfahren aber, das die enministerin gewarnt. Das Ressort, das
schaftler vorgestellt, nur mit einer ande- schwarz-gelbe Koalition gewählt hat, ist sonst in ganz Europa auf saubere Zahlen
ren Botschaft als die Professoren. Die Fa- besonders dreist: Die Regierung verkehrt drängt, wollte nicht in Verdacht geraten,
milienpolitik der Regierung zeichne sich die wissenschaftlichen Ergebnisse teils in wissenschaftliche Studien einzugreifen.
durch Effektivität und Zielorientierung ins glatte Gegenteil. Die Beamten von Ministerin Schröder
aus. Die schwarz-gelbe Koalition sei „auf Die Tatsache, dass die Forscher gerade hatten da erkennbar weniger Skrupel. Sie
dem richtigen Weg“ und „ausgesprochen milliardenschweren Geldleistungen wie veröffentlichten nicht nur Erklärungen,
erfolgreich“. dem Kindergeld und dem Ehegattensplit- in denen die Studienergebnisse in weiten
Deutschlands Mächtige waren selten ting schlechte Noten geben, passt nicht Teilen in ihr Gegenteil verkehrt wurden.
zimperlich, wenn es galt, die Ergebnisse zum Wahlkampf der Union, die genau Sie zensierten auch die einzelnen Veröf-
unliebsamer Regierungsstudien zu neu- diese Leistungen erhöhen will. Und so fentlichungen der Forschungseinrichtun-
tralisieren. Mal wurden unerwünschte griff die zuständige Ministerin wortgewal- gen, wie im Fall des Münchner Ifo-Insti-
tig in die Präsentation und Darstellung tuts.
der Forschungsergebnisse ein. Die Denkfabrik unter der Leitung des
Störende Aussagen der Wissen- liberalen Ökonomen Hans-Werner Sinn
schaftler drehte sie kurzerhand um. wollte darauf hinweisen, dass reine Geld-
Die beteiligten Institute mussten ihre leistungen in der Familienpolitik oft das
Presseerklärungen zur Genehmigung Gegenteil dessen bewirken, was beab-
vorlegen, missliebige Sätze wurden ge- sichtigt ist. „Die neue familienpolitische
strichen. Ganze Texte verschwanden Maßnahme des Betreuungsgeldes lässt
im Papierkorb, und am Ende erfanden dabei vergleichbare Effekte erwarten“,
Schröders Beamte einfach ein neues hieß es in der Ursprungsversion.
Kriterium, mit dem sich jede noch so Doch Kritik an einer der umstrittensten
unsinnige Geldleistung rechtfertigen Maßnahmen der Koalition war im Hause
lässt. Sie erhöhe die „Wahlfreiheit“. Schröder nicht erwünscht. Das Familien-
Die Regierung wollte ein unlieb- ministerium bestand darauf, den Satz zu
sames Gutachten aus dem Verkehr zie- streichen.
hen, doch nun ist das Thema lebendi-
ger denn je. Beteiligte Wissenschaftler
kündigen an, sich gegen die Verfäl- Der DIW-Chef spricht von
schungen wehren zu wollen. In der Propaganda: „So sollte
Koalition bekommen die Kritiker von
Schröders Familienpolitik Auftrieb, die Regierung nicht mit
und Merkels Regierungsbilanz erhält
einen neuen hässlichen Fleck: Ausge- Expertisen umgehen.“
rechnet im bürgerlichen Kabinett, in
dem bereits mehrere Minister wegen Bei den beteiligten Wissenschaftlern
unkorrekter Doktorarbeiten zurück- schwankt die Stimmung nun zwischen
treten mussten, werden wissenschaft- Frust und Empörung. „Wir erstellen keine
liche Ergebnisse umgedeutet und die Gefälligkeitsgutachten“, sagt ZEW-Öko-
beteiligten Forscher lächerlich ge- nom Bonin. Und auch die Chefs der gro-
macht. ßen Forschungsinstitute melden sich in-
„Man lädt doch nicht die Schüler zu zwischen mit offenem Protest zu Wort.
den Zeugniskonferenzen ein“, heißt „Die wissenschaftliche Expertise wurde
es im Familienministerium verächtlich. ignoriert und vom Ministerium politi-
Die Professoren dürften gern ihre siert“, sagt Marcel Fratzscher, Chef des
Zahlen abliefern. Aber die Bewertung Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor-
sollten sie gefälligst der Regierung schung (DIW): „Bei der bisherigen Prä-
überlassen. sentation handelt sich um politische Pro-
Dabei hatte die zunächst versucht, paganda – so sollte die Bundesregierung
die Veröffentlichung der Familienstu- nicht mit wissenschaftlicher Expertise
die nach erprobter Methode in die umgehen.“
nächste Wahlperiode zu verschieben. Clemens Fuest, Präsident des ZEW,
Doch weil ein wesentlicher Teil der sagt: „Bislang fehlt eine angemessene
Untersuchungsergebnisse bereits seit Auseinandersetzung mit den Ergebnis-
Monaten vorliegt und schließlich sogar sen.“ Und der frühere Chef des Sachver-
die Kanzlerin der Verschleierungs- ständigenrats, Bert Rürup, der ebenfalls
taktik beschuldigt wurde, änderte zur Regierungsstudie beigetragen hat, fin-
Schröder ihre Strategie: Sie ging in die det es „irritierend, dass die Bundesregie-
Offensive. rung bereits die Deutungshoheit über die
Finanzminister Schäuble ließ sich zahlreichen, keineswegs eindeutigen Er-
GONÇALO SILVA / DEMOTIX
ßn
rsi
ah
ve
me
Eltern.
ial
n
Soz
6
51
ngen
und Kinder vereinbaren? Was verhindert
2 0,
leistu
S te u e
Ehegatten-
kann der Staat dafür sorgen, dass Kinder
G eld
splitting
rlic h
21,7
na
HENNING SCHACHT
kündete, eine gute Familienpolitik müsse schaftler geben keine Ruhe. DIW-Chef
sich auch an steigenden Geburtenzahlen Fratzscher denkt darüber nach, die Er-
messen lassen, empfindet Schröder als gebnisse der Studie gemeinsam mit den
Zumutung. Sie kenne „keine seriöse Stu- anderen Forschungsinstituten vorzustel-
die“, die einen positiven Zusammenhang CDU-Politikerin von der Leyen len. „Es ist uns wichtig, dass die Unter-
herstelle zwischen staatlicher Unterstüt- Was verhindert Armut? suchungsergebnisse offen und zielgerich-
zung und Kinderzahl, sagte Schröder vor tet diskutiert werden“, sagt er. „Dies soll-
zwei Wochen. erhöhe die Zahl der Geburten um der- te auch unter Beteiligung aller Wissen-
Doch auch das stimmt so nicht. ZEW- zeit fünf Prozent – eine sehr interes- schaftler, die an der Evaluation beteiligt
Forscher Bonin hat herausgefunden, dass sante Information, wie Bonins Zuhörer waren, geschehen.“
es durchaus einen Zusammenhang zwi- fanden. Schade, dass die Ministerin nicht Das ZEW will sich ebenfalls nicht ein-
schen Familienpolitik und Fertilität gibt, da war. fach der politischen Willkür beugen. Eine
etwa beim insgesamt fünf Milliarden Fraglich ist, ob sich Schröders Strategie Pressemitteilung, die das Institut kürzlich
Euro teuren Elterngeld. „Gäbe es das im Wahlkampf auszahlt. Die eigenen dem Familienministerium zur Abstim-
Elterngeld nicht, würden die Frauen im Leute sind nicht überzeugt. „Angesichts mung vorlegte, sollte so stark verändert
Laufe ihres Lebens zehn Prozent weniger begrenzter Haushaltsmittel müssen wir werden, dass die Experten beschlossen:
Kinder bekommen“, erklärte er am ver- Prioritäten setzen. Ich finde den Ausbau Da machen wir nicht mehr mit.
gangenen Montag bei seiner Präsentation der Ganztagsbetreuung in den Kitas nach Man hätte sich dann, so das ZEW, auf
im Familienministerium. Effizient sei der Wahl erst einmal wichtiger als eine eine andere, „eher inhaltslose“ Mitteilung
freilich auch die subventionierte Kin- Erhöhung des Kindergelds“, sagt der Ge- geeinigt. NICOLA ABÉ, PETER MÜLLER,
derbetreuung in Kitas und Krippen. Sie sundheitspolitiker Jens Spahn. ALEXANDER NEUBACHER, CHRISTIAN REIERMANN
Deutschland
SPI EGEL-GESPRÄCH
und jetzt kommt auch noch das Betreu- tionen ins Kanzleramt geladen, um über sische Frau“ erzogen worden. Da be-
ungsgeld hinzu. Wir wollen nicht hinneh- Gleichberechtigung zu diskutieren. Ir- kommt man natürlich emotionale Schwie-
men, dass Anreize nur einseitig in eine gendwann stand eine Frau auf und sagte rigkeiten, wenn ein Mann in deine Do-
Richtung gesetzt werden: Im Moment sinngemäß: Die wichtigste Entscheidung mäne einbricht (lacht).
werden junge Mütter vom Staat eher ent- für eine Frau ist, dass sie sich einen Part- SPIEGEL: Wird inzwischen von den Män-
mutigt, ihren Beruf weiter auszuüben. ner sucht, der ihre Karriere unterstützt. nern nicht ein bisschen viel verlangt? Sie
SPIEGEL: Das ist doch das Drama der deut- Sehen Sie das auch so? sollen liebevolle Väter sein, zärtliche
schen Familienpolitik: Wenn die Union Nahles: Ich kann da nur von mir selber re- Liebhaber, eine tolle Karriere machen
an der Regierung ist, wird ein Betreuungs- den. Ich habe den richtigen Mann gefun- und möglichst noch gut aussehen.
geld eingeführt, das junge Frauen dazu den, der gut damit klarkommt, eine star- Nahles: Ich bitte Sie! Das war doch schon
ermuntert, ihre Kinder zu Hause zu er- ke Frau an seiner Seite zu haben. immer das Anforderungsprofil an die
ziehen. Sollten Sie an die Regierung kom- SPIEGEL: Wie teilen Ihr Mann und Sie sich Frauen.
men, wollen Sie ein Teilzeitgesetz verab- die Betreuung Ihrer Tochter? SPIEGEL: Früher hat niemand verlangt,
schieden, das Mütter in den Betrieben Nahles: Mein Mann macht Elternteilzeit, dass Mütter Karriere machen.
halten soll. So wird Familienpolitik im- er kümmert sich unter der Woche zu Hau- Nahles: Es macht ja auch nicht jeder Mann
mer teurer und immer widersprüchlicher. se in der Eifel um unsere Tochter, wenn Karriere.
Nahles: Wir wollen die Widersprüche ich unterwegs bin oder in Berlin. SPIEGEL: Verändert es die Beziehung,
doch gerade aufheben, zum Beispiel SPIEGEL: Vielen Frauen, die Karriere ma- wenn der Mann sich vor allem um die
indem wir das Betreuungsgeld wieder ab- chen, fällt es schwer, die Erziehung ihres Familie kümmert? Ist er dann noch ge-
schaffen und auch das Ehegattensplitting Kindes so weitgehend aus der Hand zu ge- nauso attraktiv?
neu aufstellen als Partnerschaftstarif – für ben. Geht Ihnen das manchmal auch so? Nahles: Für mich gibt es da keinen Unter-
Paare, die neu heiraten. Nahles: Ich würde lügen, wenn ich jetzt schied.
SPIEGEL: Vor kurzem hat Angela Merkel sagen würde: nein. Ich komme vom Land SPIEGEL: „Erfolg macht sexy.“ Ist an die-
eine Runde von Frauen in Führungsposi- und bin – wenn Sie so wollen – als „klas- sem Spruch nichts dran?
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 23
Nahles: Ich fand den Brief im Stil ziemlich
daneben. Aber ich würde mich schon
freuen, wenn nicht nur ich als General-
sekretärin mit der Frage konfrontiert wer-
de, wie ich das mit einem kleinen Kind
vereinbare, sondern auch die vielen Väter
in Führungspositionen. Wenn man diese
Frage stellen muss, dann bitte allen. Män-
nern und Frauen. Aber es wird von einer
Mutter eben immer noch etwas anderes
erwartet als vom Vater.
SPIEGEL: Gabriel hat in seinen dreieinhalb
Monaten Babypause eine Sommertour
gemacht, ein Papier zur Bankenregulie-
rung verfasst und – wir haben nachge-
zählt – mindestens 27 Interviews gegeben.
Nahles: Wow. Das habe ich nie nachge-
zählt.
SPIEGEL: Und getwittert. Haben Sie Re-
spekt für sein Multitasking-Talent?
Nahles: Seine Tochter war so klein, die
schlief die halbe Zeit. Sicherlich ist das
die einfache Erklärung.
SPIEGEL: Von Ihnen hat man in Ihrer acht-
wöchigen Auszeit nichts gehört.
Nahles: Da gibt es einen kleinen, feinen
Unterschied: Ich hatte gerade erst die Ge-
WERNER SCHUERING
burt hinter mir, habe gestillt und mich
ganz mit meiner Tochter beschäftigt. Da
sind Sie erst mal fertig. Da haben Sie kei-
ne Zeit für anderes.
Braut Nahles mit Bräutigam Marcus Frings 2010: „Eine starke Frau an seiner Seite“ SPIEGEL: Gehört es nicht auch zur Wahr-
heit, dass Mütter ein engeres Verhältnis
Nahles: Für mich war das nie ein entschei- SPIEGEL: Haben Frauen und Männer un- zu ihren Kindern haben, gerade wenn sie
dendes Kriterium. Und es ist doch ein terschiedlich reagiert? noch klein sind?
sehr eindimensionales Verständnis von Nahles: Eindeutig. Ausnahmen bestätigen Nahles: Bei uns ist das nicht so. Mein
Erfolg. auch hier die Regel, aber viele Männer Mann hat ein ausgesprochen enges Ver-
SPIEGEL: Vor der Geburt Ihrer Tochter ha- haben negativ reagiert und viele Frauen hältnis zu meiner Tochter. Er macht sich
ben Sie von Ihrer Angst gesprochen, aus positiv. mindestens so viel Gedanken wie ich.
dem Beruf auszusteigen. Ein Job wie Ih- SPIEGEL: Sie haben den Männern unter- Aus meiner Erfahrung würde ich sagen:
rer wecke „Begehrlichkeiten“, sagten Sie stellt, dass sie es ausnutzen, wenn ihre Das ist nicht in erster Linie eine bio-
damals. Wie kamen Sie auf diese Idee? Konkurrentinnen im Job in Mutterschutz logische Frage, sondern eine Frage, wie
Nahles: Nein, von Angst habe ich nicht gehen. War das ein Tabubruch? intensiv man Zeit mit dem Kind ver-
gesprochen. Ich war in Sorge, wie sich Nahles: Vielleicht schon. Aber ich habe bringt.
meine Auszeit auf meine politische Ar- ihn ganz bewusst begangen. Weil es im- SPIEGEL: Könnten Sie sich vorstellen, eine
beit und Karriere auswirken wird. Wie mer noch ständig vorkommt in Deutsch- Zeitlang ganz auszusteigen, um sich um
viele hunderttausend andere Frauen auch. land. Es gibt keinen Grund, an dieser Ihre Tochter zu kümmern?
Am Ende ist alles viel besser gekommen, Front Entwarnung zu geben. Nahles: Nein.
als ich dachte. SPIEGEL: Bevor Sigmar Gabriel im Früh- SPIEGEL: Als Franz Müntefering sein Amt
SPIEGEL: Ihr Interview hat vor allem in der jahr 2012 Vater wurde, forderten ihn eini- als Vizekanzler aufgab, um seine Frau
SPD Empörung ausgelöst. ge SPD-Frauen in einem Brief auf, Eltern- zu pflegen, bekam er von allen Seiten
Nahles: Ich habe sehr viele Reaktionen er- zeit zu nehmen. Ist es richtig, in dieser Applaus. Wenn Familienministerin Kris-
halten – sowohl in der Partei als auch von Weise öffentlich Druck auf einen Politiker tina Schröder mit dem Gedanken spielt,
außerhalb. Meine Aussage traf offenbar auszuüben? ihr Ministeramt aufzugeben, um sich
direkt ins Herz einer aus meiner Sicht mehr um die Familie zu kümmern, wer-
nicht ausdiskutierten Frage: Wie halten fen ihr viele Verrat an der Sache der Frau
wir es mit Frauen, die Kind und Karriere vor. Können Sie Schröders Ärger ver-
vereinbaren wollen? Von manch einem stehen?
wird immer noch nicht akzeptiert, dass Nahles: Ja. Ich weiß, wie hart es ist, ein
eine Frau, die Mutter wird, überhaupt Spitzenamt in der Politik und eine Fami-
noch an Karriere denkt. Ich habe mich lie unter einen Hut zu bringen. Man
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
sehr auf mein Kind gefreut und bin sehr braucht sehr viel Kraft, und man muss
glücklich. Aber ich hatte als Frau auch sich dabei wohl fühlen. Wenn jemand
noch Platz in meinem Kopf für den wahn- sagt, ich will das nicht, ich will jetzt mehr
sinnigen Gedanken, dass ich 20 Jahre in Zeit für meine Familie, dann ist das zwar
eine politische Laufbahn investiert habe nicht mein Weg. Aber ich kann es durch-
und mir mein Job großen Spaß macht. aus nachvollziehen.
Nahles, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Frau Nahles, wir danken Ihnen
* René Pfister und Christiane Hoffmann in Berlin. „Da gibt es einen kleinen Unterschied“ für dieses Gespräch.
24 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Deutschland
Großkoalitionäre 2008*
„Was hat es uns gebracht? – Nichts“
MARC-STEFFEN UNGER
Angela Merkel beschäftigt auch den Ab-
geordneten und Generalsekretär der Hes-
sen-SPD, Michael Roth. „Das würde kei-
ner mit Überzeugung machen“, sagt er.
„Im Gegenteil, es würde uns politisch in
nis mit der Union – das war die Botschaft. eine hochriskante Situation bringen.“
SPD Und dieses Mal assistierte ihm sogar sein Mützenich und Roth stehen für viele
Rivale. „Wir haben in der letzten Großen in der Partei. Es ist diese Stimmung, die
E
s kommt schon vor, dass sich der Mit dieser Frage ist eine zweite verbun- absegnen lassen. Es wäre eine Abstim-
Parteichef in der Sitzung der SPD- den: Wie soll man eine Partei in den Wahl- mung, von der ein Spitzengenosse sagt:
Bundestagsfraktion zu Wort meldet. kampf führen, wenn der eigene Kandidat „Wenn ich mir die Delegierten der letzten
Doch am vergangenen Montag merkten weit abgeschlagen zurückliegt? Denn die Parteitage anschaue, sehe ich die Mehrheit
die sozialdemokratischen Abgeordneten Chancen, dass mit Steinbrück ein Sozial- für einen Koalitionsvertrag noch nicht.“
schnell, dass Sigmar Gabriel ein beson- demokrat ins Kanzleramt einziehen könn- Die Parteilinken bringen sich bereits
deres Anliegen hatte. te, sind inzwischen auf ein Minimum ge- in Stellung. „Merkel hat die SPD schon
Die letzte Sitzungswoche vor der Som- sunken. Zu eindeutig sind die Umfragen. 2005 hinter die Fichte geführt“, sagt der
merpause war vorerst auch die letzte Ge- Die Forschungsgruppe Wahlen sah die Uni- Sprecher der Parlamentarischen Linken,
legenheit, den Genossen eine Botschaft on am vergangenen Freitag bei 43 Prozent, Ernst Dieter Rossmann. „Diesmal werden
mit auf den Weg zu geben. Zunächst ent- Sozialdemokraten und Grüne brachten es die Preise deutlich höher sein.“ Trickse-
schuldigte sich Gabriel umständlich, dass gemeinsam gerade mal auf 39 Prozent. reien könne es nicht mehr geben – es sei
er sich mit Peer Steinbrück in aller Öf- Damit liegt eine Neuauflage der denn um den Preis eines Koalitions-
fentlichkeit gestritten hatte. schwarz-gelben Koalition im Bereich des bruchs. Inhaltlich hat Rossmann schon
Dann wurde er konkret. „Es geht um Möglichen. Doch bei den Wählern ist eine konkrete Vorstellungen: „Zentrale Punk-
wesentlich mehr als um Personen oder andere Konstellation beliebter. 44 Pro- te wie Mindestlohn, Bürgerversicherung
uns beide“, sagte er. Die SPD-Niederlage zent der Deutschen fänden nach einer ak- oder Vermögensteuer sind wir unseren
bei der Bundestagswahl 2009 habe einen tuellen Umfrage von Infratest dimap eine Wählern schuldig. Ohne die geht nichts.“
Neuanfang bedeutet. Dieser Prozess sei Große Koalition von Union und SPD gut Die wendige Kanzlerin müsste den Ge-
noch nicht abgeschlossen. Deshalb gelte: für das Land. nossen weit entgegenkommen. Gabriel
„Wir werden bei dieser Bundestagswahl Für viele Sozialdemokraten käme ein ahnt, dass sie diesen Preis wohl zahlen
nicht für ein paar Regierungsämter die solches Bündnis einer Art Höchststrafe würde. Doch das Misstrauen bliebe. „Es
Seele der Partei verkaufen.“ wäre eine Koalition auf Zeit“, prophezeit
Es war der entscheidende Satz, den er * Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier und Peer der Abgeordnete Roth. „Das vorzeitige
loswerden wollte. Wir wollen kein Bünd- Steinbrück. Ende wäre einkalkuliert.“ HORAND KNAUP
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 25
Deutschland
D E B AT T E
I
m SPIEGEL 22/2013 ruft Harald Welzer dazu auf, nicht wäh- Doch eine klare Mehrheit der linken Mitte in der Gesellschaft
len zu gehen. Die Parteien seien alle gleich. Keine sei zu ir- führt nicht automatisch zu einer politischen Mehrheit in Bun-
gendeinem zukunftsfähigen Gedanken fähig. destag und Bundesrat. Die rechte Apo tut viel dafür, diese
Werfen wir einen Blick ins Land 90 Tage vor jener Wahl, Mehrheit zu verhindern.
die Harald Welzer zu boykottieren gedenkt. In dieser Situation eines Widerspruchs zwischen gesellschaft-
Gehen wir in Berlin an der Komischen Oper vorbei, warnt licher und politischer Mehrheit schlägt Harald Welzer vor, auf
ein turmhohes Plakat vor den Plänen der Grünen, Privatver- den Kampf um die politische Mehrheit zu verzichten. Mit
mögen zum Abbau der Staatsschulden heranzuziehen. Die einer Begründung so schlicht wie Stammtisch. Die Parteien
Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer, die sich heute seien alle gleich.
nett als „Familienunternehmer“ vermarktet, hält schon den Es ist schlechte deutsche Tradition, den Gegensatz zwischen
zweiten Kongress gegen eine drohende Vermögensabgabe ab. „guter Gesellschaft“ und „schlimmer Parteipolitik“ herauszu-
Mehrfache Milliardäre kostümieren
sich als der deutsche Mittelstand.
Ebenfalls Unter den Linden in
der Deutschen Bank findet der
Stahldialog 2013 statt. Die Stahl-
unternehmen kämpfen gegen die
Energiewende. Sie zahlen zwar fast
alle nichts für den Ausbau erneuer-
barer Energien und profitieren von
den gesunkenen Börsenpreisen. Sie
bekommen vielfach die Kilowatt-
stunde für 4 Cent, für die ein Mit-
telständler 26 berappen muss. Aber
das genügt ihnen nicht, sie wollen
nur 3 Cent zahlen, wie in Tennessee,
wo der Staat den Strompreis sub-
ventioniert.
Setzt man sich in den ICE nach
Hannover, prangt auf dem ausliegen-
den Zugbegleiter eine Anzeige des
Freien Verbands Deutscher Zahnärz-
te gegen die grüne Bürgerversiche-
rung. Dort in Hannover inszeniert
die Lobby der Chefärzte den Deut-
schen Ärztetag als Konvent gegen Berliner Regierungszentrale
die Bürgerversicherung – obwohl die
Mehrheit der Ärzte für ein Ende der
Zwei-Klassen-Medizin ist.
Die Klientel, für die Schwarz-Gelb regiert, ist politisiert, orga- stellen. Oft steckte hinter der Verachtung für die Politik die
nisiert und haut mächtig auf die Pauke. Man kennt seine Interes- Verachtung der Demokratie. Welzer wärmt diese Tradition auf.
sen. Unternehmensverbände, neoliberale Think-Tanks, konser- Positionen, die er für zukunftsweisend hält, stünden schließlich
vative Meinungseliten kämpfen gegen einen rot-grünen Wechsel. nicht zur Wahl. Er erklärt seine Standpunkte – etwa für ein
Diese rechte Apo ist fest davon überzeugt, dass der Ausgang der Wirtschaftssystem ohne Wachstum oder eine andere europäi-
Bundestagswahl über ihre Privilegien entscheidet. Sie hat recht. sche Wirtschaftspolitik – zu denen „des Souveräns“ und lastet
Sie weiß nämlich, dass sie die politische Hegemonie in der ihre mangelnde Durchsetzung „den Parteien“ an.
Gesellschaft verloren hat. Zwei Drittel bis drei Viertel der Ge-
A
sellschaft sind spätestens nach der Finanzkrise für einen ge- ber die Behauptung, alle Parteien wollten in diesen Fra-
setzlichen Mindestlohn, regulierte Banken, höhere Steuern für gen das Gleiche und das Volk das Gegenteil, ist doppelt
Besserverdienende und große Vermögen, mehr Frauen in Füh- abstrus. Die relevanten Konflikte verlaufen mitten
rungspositionen, mehr Geld für Kitas, Schulen und Universitä- durch die Gesellschaft, zwischen gesellschaftlichen Gruppen,
ten. Schon länger lehnen sie Atomenergie ab und wollen Kli- Interessen, Weltanschauungen. Diese Konflikte werden an allen
maschutz und gleiche Rechte für Schwule und Lesben. Die möglichen Orten dieser Republik ausgetragen, unter anderen
ideologische Hegemonie des Neoliberalismus ist vorbei. im Deutschen Bundestag.
26 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Welzer versteigt sich außerdem zu der Verleumdung, seine Reputation als ökologischer Vordenker in den Dienst
„keine der Parteien“, verschwende „auch nur einen der Gegner einer ökologischen Transformation und kon-
Gedanken“ darauf, wie man die Euro-Krise sozialver- WAHL terkariert das Engagement Hunderttausender Menschen
träglich und demokratisch überwinden könne oder wie 2013 in Deutschland für eine andere Politik. Keine Stimme ab-
die Zivilisierung des Kapitalismus angesichts der Wachs- zugeben ist eine Stimme für den Status quo.
tumsproblematik gelingen könne. Diese Fragen werden ständig Es ist für den Kampf um die soziale und ökologische Zivili-
diskutiert, ja dieser Bundestagswahlkampf dreht sich geradezu sierung des Kapitalismus zerstörerisch, wenn einflussreiche
um sie! Die Grünen etwa haben einen neuen Wohlstandsbe- Stimmen des linkskritischen Lagers dem im Kern rechten Dis-
griff zu einem ihrer neun Wahlkampfschwerpunkte per Mit- kurs der Politikverdrossenheit aufsitzen und sich die Unter-
gliederentscheid bestimmt. Doch nicht nur sie thematisieren scheidung zwischen „Bürgern“ auf der einen und „Politikern“
diese Fragen – siehe die von uns mitangestoßene Enquete- auf der anderen Seite als gesellschaftlichen Leitkonflikt auf-
kommission. Ein Problem aber bleibt: Die entsprechenden schwatzen lassen.
Vorschläge haben bisher keine handlungsfähige Mehrheit. Und Für manche Linke kommt eine grundlegende Skepsis gegen-
so was braucht man, um Gedanken Wirklichkeit werden zu über Regierungsmacht hinzu. Parteien streben Regierungsmacht
lassen. an, doch das ist bei ihnen verpönt und wird als Machtgeilheit
gesehen. Es geht aber darum, einen sozialen und ökologischen
D
enn ihnen stehen mächtige Einzelinteressen entgegen. Wandel, der aus der Gesellschaft kommt, in parlamentarischen
Man fragt sich, ob Welzer jemals hingehört hat, wie sich Einfluss und gesetzgebende Regierungsmacht umzusetzen und
Verbands- und Meinungsmacht in Deutschland gegen so Gesellschaft zu verändern. Eine gesellschaftliche Linke, die
ökologische und soziale Reformen formiert, sei es gegen die Fi- auf diesen entscheidenden Schritt verzichtet, degradiert sich
nanztransaktionsteuer, den Emissionshandel, einen gesetzlichen selbst zum Stichwortgeber für die Sonntagsreden einer auf ewig
Mindestlohn oder striktere CO²-Grenzwerte für Autos. von CDU und Wirtschaftseliten geführten Regierung. Sie zele-
Solche Politikziele mögen dem wortradikalen Vertreter der briert die eigene Unterlegenheit.
Postwachstumsgesellschaft als Kleinkram gelten, sie sind aller- Eine billige Ausrede für die linke Selbstentmachtung ist der
dings notwendige Schritte einer ökologisch-sozialen Trans- Verweis, dass es bei Rot-Grün neben dem Ausstieg aus der
formation. Und sie bergen zumindest die Chance, politische Atomenergie, der Energie- und der Agrarwende, den schwul-
lesbischen Partnerschaften und dem
liberalen Staatsbürgerrecht auch
Hartz IV und Steuersenkungen ge-
geben hat. Denn das unterstellt, aus
Fehlern und Niederlagen nicht ler-
nen zu können. Schmollen ist keine
politische Haltung, länger als zehn
Jahre Schmollen ist regressiv. Vor
allem wenn dadurch die Parteien
am Ruder bleiben, die keinen dieser
Fehler korrigieren werden.
Finanzkrise, Spaltung der Gesell-
schaft, die europäische Krise und das
gigantische Marktversagen beim Kli-
mawandel haben viele Menschen
überzeugt, dass demokratische Poli-
tik sich wieder trauen muss, den
Märkten zu sagen, wo es langgehen
JAN WOITAS / PICTURE-ALLIANCE / DPA
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 27
Deutschland
SPIONAGE
I
n der Asservatenkammer des Bundes- als Agenten in Deutschland gelebt hatten, Freundschaftsversprechen Deutschland
kriminalamts in Wiesbaden liegt ein mehr als 20 Jahre lang, bis sie im Oktober bis heute betrachten: als „Land des Geg-
Schatz, der unter den Geheimdiensten 2011 festgenommen wurden. Vor dem ners“, wie der KGB-Nachfolger SWR die
dieser Welt große Neugier entfacht hat. Oberlandesgericht Stuttgart endet nun Bundesrepublik in einem Funkspruch be-
Er mutet an wie eine gewöhnliche, schwar- der Prozess gegen die beiden, von deren zeichnete, der bei den Anschlags gefun-
ze Laptop-Tasche. Darin ist eine Siemens- wahrer Identität kaum etwas ans Licht den wurde. Die Öffnung des Eisernen
Festplatte eingebaut, jedenfalls sieht es so kam: Wahrscheinlich lauten ihre echten Vorhangs hat viel verändert – doch Mos-
aus. Nur eine Kerbe verrät, dass es sich Vornamen Alexander und Olga, die Nach- kau spioniert ungeniert weiter.
nicht um ein serienmäßiges Produkt han- namen sind unbekannt. Am Dienstag die- Die Bundesregierung hat das erst im
delt, sondern um einen Hochfrequenzsen- ser Woche soll das Urteil fallen. vergangenen Winter wieder neu erfahren
der für Satellitenfunk, dessen Antenne im Dann wird sich die Frage stellen, ob müssen. Zwei Agenten des russischen Mi-
Deckel der Laptop-Tasche versteckt ist. die russische Regierung doch noch einem litärgeheimdienstes GRU versuchten um
Das Gerät stelle moderne Militärtech- Agentenaustausch zustimmt, wie ihn die den Jahreswechsel, in Deutschland ein In-
nik dar, ein „geheimdienstliches Spitzen- Bundesregierung vor gut einem Jahr an- frarot-Zielfernrohr zu kaufen. Das Gerät
produkt allererster Güte“, schwärmt ein bot. Wladimir Putin persönlich empfing der amerikanischen Firma Raytheon un-
Sachverständiger. Seit vielen Jahren ha- damals einen deutschen Emissär im terliegt einem Ausfuhrverbot. Bei der Kon-
ben deutsche Behörden im Krieg der Kreml – und ließ die Deutschen abblitzen. taktaufnahme mit einem Waffenhändler
Spione nichts Wichtigeres in die Hände Dahinter steckte wohl das Kalkül, dass benahmen sich die beiden Russen, die als
bekommen, die Bedeutung des Hightech- man durch den Prozess erfahre, wie viel Diplomaten in Berlin akkreditiert waren,
Apparats reicht an die legendäre Codie- die Deutschen über russische Spionage- derart tapsig, dass sie auffielen und auf-
rungsmaschine Enigma aus dem Zweiten methoden herausgefunden haben. Jetzt, flogen. Die deutschen Behörden beschwer-
Weltkrieg heran. Beim Bundesamt für da der Fall rechtsstaatlich ausgefochten ten sich auf russischer Seite – es drohte
Verfassungsschutz in Köln wartet man ist, muss Putin neu abwägen: Lässt er zu, ein Eklat, der die Karriere der beiden als
sehnlichst darauf, das Gerät zu untersu- dass Heidrun und Andreas Anschlag wo- Kundschafter in der Bundesrepublik mit
chen. Auch die amerikanischen Geheim- möglich für viereinhalb beziehungsweise einem Krachen beendet hätte. Stattdessen
dienste CIA und NSA sowie der israeli- siebeneinhalb Jahre ins Gefängnis gehen, wurde Schweigen über die Aktion gelegt;
sche Mossad haben darum gebeten, das wie die Bundesanwaltschaft fordert? die beiden Agenten mussten gehen.
Wunderteil inspizieren zu dürfen. Die Agentenstory aus dem hessischen Auf welches Niveau die deutsch-russi-
Die Satellitenanlage diente Andreas Michelbach bei Marburg scheint aus der schen Beziehungen abgekühlt sind, wur-
und Heidrun Anschlag als Verbindung in Zeit zu stammen, in der die Mauer noch de zuletzt beim Empfang zum Jahrestag
die Heimat – jenen beiden russischen stand und der Ost-West-Konflikt schwelte. der Revolution in der Botschaft in Berlin
Spionen, die wie einst im Kalten Krieg Und sie zeigt, wie die Russen trotz aller deutlich. Wie Teilnehmer des diplomati-
28 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Mühselige Mitteilung Wie die russischen Agenten Nachrichten austauschten
Ein Kurzwellensender in Empfang mit Kurz- Das Programm „Kelchblatt“ Die bereinigte Tonfolge wird
Russland verschickt identische wellenradio: Per Audio- vergleicht jeweils drei empfangene in Ziffernkolonnen übersetzt und
Tonfolgen auf festgelegten, kabel werden die Signale Tonfolgen, um Übertragungsfehler anschließend durch „Kelchblatt“
wechselnden Frequenzen. auf einen Laptop überspielt. auszusieben. entschlüsselt.
Der Satellit empfängt Die Daten werden mit einem Das Pro- Im Klartext müssen
die Botschaft und leitet sie Hochfrequenzsender übermittelt, gramm „Parabola“ Übertragungsfehler
an die russische Nachrichten- dessen Antenne auf einen rus- verschlüsselt die manuell korrigiert
zentrale weiter. sischen Satelliten ausgerichtet ist. Antwort der Spione. werden.
schen Termins beobachteten, würdigte Mehrmals zog das Paar um, bis es 2010 in Obstbäume oder auf eine nahegelegene
Moskaus Geheimdienstrepräsentant Ser- Michelbach landete, einem idyllischen Anhöhe. Der Hügel unmittelbar hinter
gej Rachmanin seine deutschen Kollegen Vorort von Marburg. Zum Schein nahm dem Haus erwies sich als ungeeignet, weil
keines Blickes. Mütterchen Russland ver- Andreas Anschlag eine Stelle bei einem in der Nähe Windkraftanlagen stehen –
steht keinen Spaß bei seinen Agenten. 350 Kilometer entfernten Automobil- sie störten offenbar die Kommunikation
Erst recht nicht, wenn es um sogenannte zulieferer an und mietete dort eine Zweit- mit dem Satelliten.
illegale Agenten geht, die mit einer auf- wohnung – so ließen sich, etwa gegen- Was die Anschlags über den Äther sen-
wendig konstruierten Legende in ein über neugierigen Nachbarn, seine langen deten oder in toten Briefkästen deponier-
Land eingeschleust werden, um zu spio- Abwesenheiten erklären. „Am Montag ten, waren laut Anklage überwiegend In-
nieren. Es ist die Königsdisziplin der Spio- reist Pit zu seiner Tarntätigkeit“, funkte formationen und Dokumente eines nie-
nage, und kaum ein Geheimdienst ist Heidrun unverblümt an die Zentrale. derländischen Beamten. Dessen Rang im
darin so erfahren wie der KGB-Nachfol- „Pit“ und „Tina“, so nannten die Füh- Außenministerium war nicht allzu hoch,
ger SWR. „Wunderkinder“ nennen die rungsoffiziere im Direktorat S des SWR so dass die Russen die niederländische
Russen ihre Illegalen, deren Tarnung über die Anschlags in ihren Depeschen, für de- Spionageabwehr kaum fürchten mussten.
Jahre aufgebaut wird und fast perfekt ist, ren Empfang das Agentenpaar ein Kurz- Raymon Valentino Poeteray konnte aber
wie der Fall des Ehepaars Anschlag zeigt. wellenradio nutzte. Während einer Reise mit jeder Menge Material der Europäi-
Andreas Anschlags Weg in den Einsatz nach St. Petersburg und Moskau beka- schen Union und der Nato dienen. Aus
führte nach den Ermittlungen der Bun- men sie die hochmoderne Satellitenanlage Sicht der Bundesanwaltschaft bot er den
desanwaltschaft über die Gemeinde Wild- ausgehändigt, dazu gab es einen Kursus Russen „Zugriffe in phantastischer Band-
alpen in Österreich: Dort erschien im für den Umgang mit zwei Computerpro- breite“.
Oktober 1984 ein Jurist und meldete Poeteray drückte ein Berg Schulden,
Anschlag, angeblich 1959 in Argentinien seine Ehefrau war krank. Von seinem mo-
geboren, als neuen Bewohner des 500- Nun muss Putin natlichen Gehalt in Höhe von 2500 Euro
Seelen-Dörfchens an. Der Antrag wurde entscheiden, ob er seine netto blieben ihm nach Abzug der Fix-
genehmigt, obwohl alle beigefügten Un- kosten 650 Euro zum Leben. Glänzende
terlagen gefälscht waren. Der KGB be- Wunderkinder opfert Voraussetzungen für einen Anwerbever-
lohnte den zuständigen Gemeindebeam- such durch einen Geheimdienst.
ten für den Verwaltungsakt mit 3000 oder sie nach Hause holt. So stieg der Beamte ab 2009 zur Spit-
Schilling, gut 200 Euro. Anschlags Frau zenquelle des Agentenpaars auf. Etwa
Heidrun ließ eine Geburtsurkunde vor- grammen: „Kelchblatt“ zum Entschlüs- einmal im Monat fuhr Andreas Anschlag
legen, der zufolge sie 1965 in Lima, Peru, seln, „Parabola“ zum Verschlüsseln. von Michelbach nach Den Haag, immer
als Tochter einer Österreicherin geboren Damit konnten „Pit“ und „Tina“ eine samstags. Über die Jahre kassierte Poe-
worden war. Vieles spricht dafür, dass das sichere Verbindung nach Moskau aufbau- teray mindestens 72 000 Euro vom rus-
Agentenpaar bereits verheiratet war, als en. Sie mussten nur auf die Zeiten achten, sischen Geheimdienst; dafür musste er
es sich auf einem Standesamt in Öster- in denen einer der sechs bis acht Satelli- neben Hunderten Dokumenten selbst-
reich – ein zweites Mal – das Jawort gab. ten, die russische Geheimdienste für ihre verfasste „schriftliche Hausaufgaben“ ab-
Kurz nachdem sie ihre österreichischen Spionageaktivitäten ins All geschickt ha- liefern, Berichte über Kollegen, Einschät-
Pässe beantragt hatten, zogen die An- ben, in Reichweite kommt. Eine rote zungen über Fachthemen.
schlags nach Aachen. Andreas studierte Leuchte an ihrer Funkanlage signalisierte Der SWR war mit dem Agentenpaar
Maschinenbau, 1991 kam die gemeinsame den Anschlags das Herannahen des Sa- aus Hessen offenbar zufrieden. Er lobte
Tochter zur Welt. Offiziell kümmerte sich telliten, eine blaue die Übertragung der die „erfolgreiche und fruchtbare operati-
Heidrun nur um Haushalt und Tochter, verschlüsselten Nachrichten. ve Arbeit“ mehrmals, beförderte im De-
während der Ehemann einem bürgerli- Zuweilen versagte die Anlage jedoch zember 2010 Andreas Anschlag zum Ab-
chen Job nachging. In Wahrheit spionier- den Dienst. Die Anschlags stellten darauf- teilungsleiter und seine Frau Heidrun zur
ten die beiden längst für Moskau, wie ein hin die Sendestation unter eines ihrer stellvertretenden Abteilungleiterin. Auch
Funkspruch aus dem Jahr 1988 belegt. Dachfenster, in den Garten zwischen die wenn es sich nur um eine symbolische
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 29
Deutschland
D
ie Außenminister der EU mussten EU-Botschaftern getroffene Entscheidung der Motor, daher gehört ihre Kompetenz
sich am vergangenen Dienstag besonders Hersteller spritfressender Li- gestärkt“, sagt Spindelegger.
sichtlich zusammenreißen, als dermousinen wie Daimler oder BMW belas- Merkel dagegen hatte es jüngst im
deutsche Kollege das Wort ergriff. Guido tet, intervenierte die Kanzlerin kurz vor SPIEGEL-Gespräch abgelehnt, „noch
Westerwelle wandte sich dagegen, noch dem Brüsseler Gipfel persönlich bei Enda mehr Rechte an Brüssel abzugeben“ und
in diesem Jahr Verhandlungen den Kommissionspräsidenten
mit Serbien über einen EU- direkt zu wählen (SPIEGEL
Beitritt aufzunehmen. Etwas 23/2013). Eine Position, für
anderes sei mit dem Deut- die ihr österreichischer Par-
schen Bundestag nicht zu ma- teifreund kein Verständnis
chen, erklärte der FDP-Poli- hat. Eine Direktwahl würde
tiker und plädierte für einen Europa „ein Gesicht geben
Termin im Januar 2014. und etwas gegen die Entfrem-
Außerdem sollten, anders dung vieler Bürger von der
als üblich, die Staats- und Re- EU tun“, sagt Spindelegger.
gierungschefs das Thema über- Der Kanzlerin wird auch
nehmen. Dem Luxemburger vorgeworfen, in der Krise zu
Außenminister Jean Assel- viele Entscheidungen auf die
born platzte schließlich der Chefebene gezogen zu haben –
Kragen. „Wir sind doch nicht mit fatalen Folgen. So hatte
die Afrikanische Union“, Merkel mit dem damaligen
schimpfte er, „dann können französischen Präsidenten Ni-
wir ja gleich schreiben, der colas Sarkozy verabredet, die
Bundestag möge entscheiden.“ privaten Gläubiger an der
Die anderen Außenminister Griechenland-Rettung zu be-
grummelten zustimmend. teiligen. Die Märkte reagierten
Der Streit steht symptoma- nervös, der Kurs des Euro fiel
tisch für das Verhältnis zwi- bald darauf.
schen Berlin und den EU-Part- Vor dem jüngsten Gipfel hat-
nern. In Brüssel und den an- ten Berlin und Paris wieder ein
deren Hauptstädten wächst gemeinsames Papier vorgelegt,
der Unmut über den neuen zum Unwillen ihrer Partner.
Anti-Europa-Kurs, den die „Oft haben Deutschland und
Bundesregierung im Wahl- Frankreich vor Gipfeln ver-
kampf eingeschlagen hat. sucht, den anderen eine Rich-
„Noch nie hat eine nationale tung vorzugeben“, sagt Öster-
Wahl die Europapolitik so do- reichs Außenminister Spin-
miniert“, sagt ein hochrangi- delegger. „Das stößt bei vielen
JOHN THYS / AFP
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 31
Verladung einer Panzerhaubitze in Masar-i-Scharif
A F G H A N I S TA N
B
loß keine Mauern mehr. Zumindest Gegenzug gehen sie dann respektvoll mit „Wenn wir das machen, machen wir das
keine, die Menschen trennen. Jörg dem deutschen Inventar um – hoffentlich. richtig, und zwar nach deutschen Richt-
Köhn hat bei der Nationalen Volks- Wenn die Deutschen Kunduz verlassen, linien“, sagt Behr. Die Wände sind lind-
armee der DDR gedient, seitdem ist er solle es danach nicht aussehen „wie in grün gestrichen, Türen öffnen sich auf
mit dem Thema durch. Doch nun hat es Wallensteins Lager“, sagt ein Offizier. Es Knopfdruck, die Temperatur ist auf frische
ihn erwischt. Köhn soll die Mauer zwi- ist ein hehres Ziel und allemal die 200 000 18 Grad Celsius gekühlt. Die modernen
schen Frankfurt und Hannover bauen, Euro Baukosten für die neue Mauer wert, Leuchten an den Teleskopträgern funk-
ausgerechnet er. findet man bei der Bundeswehr. tionieren tadellos, im Intensivraum und
Der Oberstleutnant aus Sachsen steht Dabei ist Köhns Bauwerk noch ver- in beiden Operationssälen. Das Ganze hat
auf einem Turm und beschreibt den Zick- gleichsweise günstig. Am Nordrand der etwa sechs Millionen Euro gekostet.
zackkurs der Demarkationslinie, die mit- Kaserne wurde schon eine Million Euro Zwei Jahre lang wurde in der Bundes-
ten durch das Lager führen soll. 800 Meter für eine neue Umfriedung verbuddelt, regierung gestritten. Sollte man so viel
lang und 3 Meter hoch wird die Mauer, eine weitere Million soll in Wege und Ent- Geld ausgeben für den Ausbau des Laza-
die die Wohnblöcke „Frankfurt“ und wässerung vergraben werden. Auf den retts, obwohl doch schon feststand, dass
„Hannover“ trennen wird. „So viele Zie- letzten Metern investiert die Bundeswehr man das Feldlager schließen würde? Das
gel müssen erst mal gebrannt werden“, in Kunduz gewaltige Summen. Manches Verteidigungsministerium bestand darauf,
sagt Köhn. Der Offizier ist bei der Bun- ist nötig, etliches übertrieben, einiges der wegen der Sicherheit der Soldaten.
deswehr im nordafghanischen Kunduz für reine Wahnsinn. Irgendwann war es dann zu spät, das
die Bauangelegenheiten zuständig. Die Af- Das Lazarett zum Beispiel. Oberfeld- Projekt zu stoppen, weil Vertragsstrafen
ghanen haben sich die Mauer gewünscht, arzt Oliver Behr kann sich noch gut an gedroht hätten. „Das System wird nicht
damit sie die Kaserne nutzen können, den 28. Mai 2011 erinnern. Da erfuhr der ans Netz gehen“, sagt Behr resigniert. Al-
wenn die Deutschen bis Ende Oktober ab- Leiter der Krankenstation in Kunduz, les ist fertig, alles ist perfekt, aber es ist zu
gerückt sind. Das Quartier soll getrennt dass in Talokan ein Anschlag auf deut- spät. Das Lazarett wird nicht eröffnet wer-
werden in einen Teil für die afghanische sche Soldaten verübt worden war. Zwei den, und ob die Afghanen es brauchen,
Armee und einen zweiten für die Polizei. Männer starben, ständig wurden neue ist zweifelhaft. Denn in Kunduz wird ge-
Fragt sich, warum die Bundeswehr die Verletzte nach Kunduz geflogen, am rade das örtliche Krankenhaus moderni-
Mauer bauen soll, denn mit Mauern ken- Abend waren es 17, darunter der Kom- siert – mit Hilfe des Auswärtigen Amts.
nen sich die Afghanen aus. Die meisten mandeur des Regionalkommandos Nord, Hinter Behr an der Pinnwand hängt
ihrer Wohnhäuser sind von hohen Mau- Generalmajor Markus Kneip. ein Foto von DDR-Staatsratschef Walter
ern umgeben, aber warum selbst bauen, Behr wusste kaum noch, wie er die vie- Ulbricht, darunter steht der Satz: „Nie-
wenn es die Deutschen machen? len Verwundeten versorgen und operie- mand hat die Absicht, in Kunduz eine
Köhn hat noch andere Aufgaben. Auf ren sollte. Nach Talokan fiel die Entschei- Mauer zu errichten“. Die Mauer, der OP-
Wunsch der Afghanen schließt er mit sei- dung, das Lazarett auszubauen. „Das war Trakt – manchmal können auch die Sol-
nen Leuten die Kaserne ans Stromnetz damals bitter nötig“, sagt er. daten nicht mehr alles ernst nehmen.
der Stadt an, er baut die moderne Feld- Heute ist Behr wieder in Kunduz auf In den nächsten Wochen muss die Trup-
küche aus und errichtet stattdessen lan- Posten. Der neue OP-Trakt, den er da- pe Fahrzeuge, Material und Mobiliar, das
destypische Feuerstellen. Dann muss er mals gebraucht hätte, ist jetzt fertig. Der sich in über zehn Jahren Afghanistan-Ein-
die Abwassersysteme für die afghanische Oberfeldarzt bittet die Besucher, die satz angesammelt hat, sortieren, verpa-
Armee und Polizei aufwendig trennen. Straßenschuhe in blaue Plastikhüllen zu cken und nach Deutschland verfrachten.
Die neuen Nutzer sollen sich schließlich stecken, der Neubau sei bereits sauber Es sind 5000 Kilometer Luftlinie nach
wohl fühlen in ihrem eigenen Land. Im an die Wehrverwaltung übergeben. Hause, und unterwegs durchläuft jeder
32 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Deutschland
Gefechtshelm, jeder Radpanzer, jedes terien sollen jetzt nach Hause, wo sie ord- len die letzten Einheiten das Feldlager in
Nachtsichtgerät die gleiche Prozedur. nungsgemäß entsorgt, zerlegt und recy- Kunduz räumen. Bis dahin rüstet die
In Kunduz wird das Gerät geprüft, ge- celt werden. „Wir sorgen dafür, dass wir Truppe auf das „operative Minimum“ ab,
zählt und verpackt. 13 Konvois sind nach alles nach deutschen Standards zurück- schrittweise wird in den letzten Wochen
Masar-i-Scharif gefahren, dem deutschen lassen“, sagt Brigadegeneral Michael Vet- das Lager abgebaut: Küche, Lazarett,
Hauptstützpunkt in Afghanistan, dazu et- ter, der den Rückzug organisiert. Feldpost, Kneipen. Am Ende gibt es nur
liche Lastwagen privater Spediteure. Billiger wäre es, Geräte zurückzulas- noch Epa, die bei den Soldaten berüch-
Von dort wird das meiste mit riesigen sen, die man nicht mehr braucht, aber tigten Einmannpackungen.
Antonow-Chartermaschinen nach Trab- das geht meist nicht. Aus ökologischen An einem geheim gehaltenen Tag be-
zon am Schwarzen Meer geflogen. In der Gründen nicht und wegen der Taliban ginnt der „Gefechtsmarsch“ nach Masar.
Türkei hat die Bundeswehr für den Abzug schon gar nicht. Kaum auszudenken, Ein langer Konvoi aus gepanzerten Fahr-
einen großen Umschlagplatz am Hafen wenn im Fernsehen gezeigt würde, wie zeugen, der sich auf die 280 Kilometer
eingerichtet; von dort geht es per Schiff die Islamisten nach einem deutschen lange Strecke begibt, gesichert von Heli-
nach Deutschland weiter. Militärisch sen- Rückzug auf Geländewagen vom Typ koptern aus der Luft. 90 Kilometer führen
sible Fracht wie die 50 Tonnen schweren „Wolf“ in Kunduz eindringen würden. durch den Baghlan-Korridor.
Panzerhaubitzen werden direkt nach Leip- Also verwenden die Bundeswehr-Lo- Das kann gefährlich werden. Gut mög-
zig geflogen. Die Bundeswehr rechnet mit gistiker einige Gründlichkeit darauf, ihr lich, dass die Taliban versuchen werden,
150 Millionen Euro allein für die Flugkos- altes militärisches Gerät zu entsorgen. Au- mit gezielten Angriffen einen letzten Pro-
ten bis Trabzon. tobleche werden in höchstens 80 mal 80 pagandaerfolg zu erzielen: den Eindruck
Das liegt auch daran, dass die Lager Zentimeter große Einzelteile gesägt, be- nämlich, dass die Bundeswehr fluchtartig
der Bundeswehr in Afghanistan zum vor sie an lokale Schrotthändler verkauft das Land verlässt.
Bersten voll sind. Jahrelang hat die Trup- werden. Das haben die Sicherheitsexper- Doch die deutschen Offiziere in Afgha-
pe in schönster Planwirtschaft gebunkert, ten vorgegeben. nistan beschwichtigen. „Wir rechnen nicht
was man nur bunkern konnte. Besonders schwierig war die Sache mit mit gezielten Angriffen“, sagt Brigade-
In Kunduz fanden die Soldaten bei der dem Tanklaster. Der war zu groß für die general Vetter. Einen Abzug unter Feuer,
Inventur sechs Schlauchboote im Maga- Säge. Die Militärs in Kunduz mussten län- der nach heilloser Flucht aussähe, werde
zin. In Masar-i-Scharif entdeckte man ger darüber nachdenken, was sie mit dem es „mit Sicherheit nicht“ geben, meint
einen Unimog mit Schneefräse, der of- olivgrünen Trumm anfangen sollten. Dann auch Oberst Thomas Schmidt, der die Si-
fenbar nie benutzt worden war. Im Mate- schossen sie das Fahrzeug mit der eigenen cherungszüge des Lagers kommandiert.
riallager stehen zahlreiche Paletten mit Artillerie in Stücke. So ist in Kunduz wie- Dabei warnen erfahrene Militärs seit
alten Autobatterien. der ein Tanklaster in die Luft gejagt wor- geraumer Zeit, solche Rückzüge seien so
Nebenan im Zelt türmen sich blaue Fäs- den. Hauptsache, gründlich und sicher. heikel, dass man eigentlich mehr Solda-
ser voller Haushaltsbatterien, alle sauber Nur wenn es um den Rückmarsch der ten brauche. Doch ausgerechnet in die-
gewogen und vermessen: 280 Tonnen, Truppe selbst geht, ist die Bundeswehr sem Punkt hat sich die Bundeswehr für
Luftfracht, wohlgemerkt. Denn die Bat- erstaunlich pragmatisch. Im Oktober wol- eine kostengünstige Variante entschieden.
Man sei schließlich nicht allein, beteu-
ern die Deutschen. Im Norden hätten
Berlin
HAUPTROUTE: knapp 50 000 Mann der afghanischen
85% der Bundeswehr- DEUTSCH- Streitkräfte die Kontrolle übernommen.
ausrüstung werden über LAND „Das ist eine richtige Armee, kein verlot-
Trabzon in der Türkei terter Haufen“, sagt Vetter, „die halten
abgewickelt; Dauer: NEBENROUTE LUFT:
ca. 3 Wochen Waffen werden direkt den Kopf für uns hin.“
nach Leipzig geflogen; Und alle beten, dass die Truppe nicht
Dauer: 13 Stunden am falschen Platz gespart hat. RALF BESTE
Mi
tt TADSCHIKISTAN
el HAUPTROUTE:
m
e bis zu 15 Transportflüge
e
Scharif
Isaf-Regional-
Unternehmen insgesamt zu verladen:
Kabul kommando
Nord
4800 Container
Abzug 1200 Fahrzeuge
Routen aus Afghanistan,
Transportmittel AFGHANISTAN PAKISTAN
Schiff
NEBENROUTE
Flugzeug
STRASSE / SCHIFF:
Lkw/ Schiene über Pakistan;
Quelle: Bundeswehr Dauer: min. 8 Wochen
Karatschi
Deutschland
E
s ist ein perfekter Wahlkampftag Früher, als Bouffier noch Innenminister ten-Termin. Der Regierungschef sei ein
für Volker Bouffier. Die Sonne in der Koch-Regierung war, hatte die Hes- „Landesvater vom alten Schlag“.
scheint, das Publikum ist in Feier- sen-CDU ein einfaches Rezept für solche Auf diese Rolle hat Bouffier lange ge-
laune und die Altstadt von Weilburg an Lagen. Wenn es eng wurde, bemühte wartet. Gut drei Jahrzehnte ist es her, er
der Lahn voller Schultern, auf die der Mi- Koch regelmäßig eine Kampfrhetorik, die war Landesvorsitzender der Jungen Uni-
nisterpräsident gleich klopfen darf. er selbst um die Wortschöpfung „brutalst- on, da stahl ihm plötzlich ein sechs Jahre
Bouffier hat gerade den „Hessischen möglich“ bereichert hatte. Er setzte auf jüngerer Emporkömmling die Schau. Ro-
Familientag“ eröffnet. Er hat die Man- harte Schlagzeilen und derbe Kampagnen land Koch kämpfte sich an Bouffier vor-
schetten am blau-weiß gestreiften Hemd gegen kriminelle Ausländer oder politi- bei bis an die Spitze der Hessen-CDU.
lässig hochgeschlagen und ein T-Shirt des sche Gegner mit fremdländisch klingen- Der Ältere ordnete sich unter, wohl
Veranstalters übergezogen. Kaum von dem Namen wie Ypsilanti oder Al-Wazir. nicht klaglos, aber loyal. Bouffier, der als
der Bühne heruntergestiegen, nimmt er Das sorgsam gepflegte Image des kon- ewiger Kronprinz galt, nannte den Kon-
schon Tuchfühlung auf zum Volk. servativen Hardliners sicherte Koch über kurrenten später mal „unseren Anfüh-
Einer jungen Familie mit Kinderwagen viele Jahre die Macht, aber es nutzte sich rer“. Koch revanchierte sich, indem er
erzählt Bouffier, dass er ja „auch drei ab. Zuletzt, bei der Wahl 2009, glänzte seinen Parteifreund nie fallenließ. Bouf-
Kinder und zwei Omas“ habe. Einem Schwarz-Gelb in Hessen nur noch dank fier durfte im Amt bleiben, als er 1999,
Mann mit Pickelhaube, der sich als Mit- eines Ausnahmeergebnisses von 16,2 Pro- nach seiner Ernennung zum Innenminis-
glied der „Weilburger Bürgergarde“ vor- zent für den Juniorpartner FDP. Aber da- ter, gleich ein Ermittlungsverfahren we-
stellt, gibt Bouffier einen Klaps auf den von sind die hessischen Liberalen heute gen Parteiverrats am Hals hatte. Er muss-
Oberarm. Und einer Helferin am Stand etwa so weit entfernt wie Roland Koch te damals 8000 Mark Geldauflage zahlen,
der türkischen Gemeinde, die ein Kopf- vom Friedensnobelpreis. weil er in seinem früheren Beruf als
tuch trägt, tätschelt der Politiker gleich Rechtsanwalt in einem Scheidungsverfah-
mit zwei Händen die Schultern. ren beide Seiten beraten haben soll.
Die Frau berichtet, dass alle Gemein- Er liebt die weichen, Dass Bouffier die Rolle als Kronprinz
demitglieder fleißig mitarbeiteten. „Don- betulichen Auftritte, bei akzeptierte, lag auch daran, dass er Kochs
nerwetter“, lobt der Regierungschef, „das politische Fähigkeiten immer ein wenig
kriegen wir in der CDU nicht hin.“ denen gewinkt bewunderte: gnadenlos polarisieren und
So geht es ohne Pause, fast zweieinhalb zuspitzen, bis es pikst, ohne Rücksicht
Stunden lang, eine Dauerprozession der und gelächelt wird. auf Wunden und Verluste.
Kumpelhaftigkeit. Bouffier posiert mit „Ich habe einen anderen Stil“, sagt
Omas, lässt sich bei Turnübungen foto- Bouffier versucht es nun anders. Die Bouffier über sich. Seine Ausführungen
grafieren, klopft jeden ab, den seine kräf- einprägsamsten Schlagzeilen seiner Re- beginnen oft damit, dass er sich einen Zi-
tigen Hände erreichen. Es hätte durchaus gierungszeit drehten sich bisher eher um garillo anzündet, mit dem Rauch des ers-
ein unbeschwerter Tag für den Minister- kosmetische als politische Stilfragen. Vor ten Zugs ein gemütliches „Aaalso“ aus-
präsidenten sein können – wenn nur die eineinhalb Jahren räumte er beispielswei- stößt und Anekdoten mäandernd anein-
Lage endlich besser wäre, knapp drei Mo- se gegenüber „Bild“ ein, seine damals als anderreiht. Ein Ende ist häufig erst einige
nate vor der Landtagswahl in Hessen. „Manta-Matte“ bespöttelte Mittelschei- Zigarillos später absehbar, wenn der Ge-
Am 22. September muss sich Bouffier tel-Frisur auf Anraten seiner Frau auf ein sprächspartner von Tabakqualm und Re-
zum ersten Mal als Regierungschef einer jugendliches Blond getrimmt zu haben. defluss komplett eingenebelt ist.
Wahl stellen. Das Amt übernahm er Bald darauf wechselte er dann auf ein se- Gefürchtet sind die „Bürgersprechstun-
2010, nachdem sich sein Vorgänger Ro- riöseres Grau mit Seitenscheitel. den“, zu denen der Regierungschef alle
land Koch zu einem deutlich besser be- Der Christdemokrat aus Gießen liebt paar Wochen einlädt. Bei einer dieser
zahlten Job in der Wirtschaft verabschie- die weichen, betulichen Auftritte, bei de- Veranstaltungen im südhessischen Die-
det hatte. Koch hinterließ seinem Nach- nen gewinkt und gelächelt wird. Als kürz- burg erkundigte sich ein Mann arglos, ob
folger allerdings auch so viele Altlasten lich das niederländische Königspaar zu eine der geplanten großen Stromleitun-
und gebrochene Versprechen, dass Bouf- einem Besuch nach Hessen kam, nahm gen für die Energiewende auch an seinem
fiers Erfolgsaussichten im Moment ziem- er sich fast zwei Tage Zeit, um ja keinen Ort vorbeiführen werde. Bouffier antwor-
lich mau sind. öffentlichen Repräsentationstermin an tete nicht mit Ja oder Nein, sondern mit
In sieben Meinungsumfragen, die seit der Seite der Hoheiten zu verpassen. einem weitschweifigen Referat über Ener-
Beginn seiner Amtszeit veröffentlicht Oder er lässt sich, wie vor einigen Wo- giepolitik und den Atomausstieg an sich.
wurden, erlangte Bouffiers schwarz-gelbe chen, einen ganzen Tag lang zu Familien- Als er nach einer guten halben Stunde
Koalition noch nie eine Mehrheit. Auch einrichtungen und Kindergärten in Hes- Monolog zum Schluss kam, beruhigte
in der aktuellsten Repräsentativ-Befra- sen chauffieren, begleitet von Journalis- sein Regierungssprecher das Publikum
gung, die vor wenigen Wochen von der ten und Kamerateams. Im Internet gibt mit feiner Ironie. Das sei jetzt nur die
CDU selbst in Auftrag gegeben wurde, es Filme davon, die zeigen, wie Bouffier, Kurzfassung des Vortrags gewesen, sagte
liegt Rot-Grün vorn. umringt von aufgeweckten Mädchen und er, „ich kenne auch die Langfassung.“
34 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
immer wieder mal zu Wort, um vor der
Weltherrschaft des Islam zu warnen, Ho-
mosexuellen eine „Therapie“ nahezulegen
oder einem deutschen EU-Kommissar, der
für den EU-Beitritt der Türkei eintritt,
„Hochverrat“ vorzuwerfen.
Heute, in der Post-Koch-Zeit, will
Bouffier als verständnisvoller Patron
wahrgenommen werden. Kürzlich durfte
Bouffiers Justizminister Jörg-Uwe Hahn
(FDP) sogar eine hessische Gesetzes-
initiative vorstellen, die ein Adoptions-
recht für gleichgeschlechtliche Lebens-
partnerschaften ermöglichen soll. Der
CDU-Chef habe nicht interveniert, be-
teuert Hahn: „Er hat nur gesagt, das ist
deine Auffassung, Jörg-Uwe.“
Noch hält der starke konservative Flü-
gel der Hessen-Union weitgehend still.
Nur vereinzelt murren Abgeordnete in
vertraulichen Gesprächen, dass Bouffier
es nicht zu weit treiben dürfe mit seiner
Landesvater-Attitüde. Bei Roland Koch
sind sie noch keifend gegen „Windkraft-
monster“ in den Wahlkampf gezogen.
Und jetzt sollen sie es gutheißen, wenn
Bouffier die verhasste Fraktion der Linken
zu einem „Energiegipfel“ einlädt, um den
Ausbau der Öko-Energie abzusprechen?
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 35
Deutschland
Pflegerin R., Bewohnerin Westphal (Szenen aus heimlich gedrehtem Video): „Ich dachte, das bist nicht du selber, das muss jemand anderes
SENIOREN
I
ch liebe meinen Beruf“, sagt die Alten- dokumentiert wurden solche Horrorsze- im Kühlschrank, der Küchenherd bleibt
pflegerin Doreen R., „ich möchte nen nie. schon mal die ganze Nacht eingeschaltet,
nichts anderes tun.“ Wie konnte es zu den Übergriffen kom- und die früher stets blitzsaubere Woh-
Die 42-jährige Frau, groß, kräftig, kur- men? nung verschmutzt nach und nach. Der
ze Haare, sitzt im T-Shirt auf einem Sessel Im Bremer Seniorenzentrum Forum Umzug ins Heim wird unausweichlich. Im
in ihrem Wohnzimmer und streichelt den Ellener Hof, idyllisch gelegen im grünen Ellener Hof, versichert die Heimleitung
Kater auf ihrem Schoß, neben ihr liegt Stadtteil Osterholz, ist die Heimleitung den Angehörigen, sei die Mutter bestens
ein brauner Stoffbär. Die Orchideen, die heilfroh, als sich im Sommer 2011 eine aufgehoben.
auf den ersten Blick echt aussehen, sind gestandene Altenpflegerin mit Examen Anfangs gibt es auch nichts zu rekla-
aus Plastik. Ein Sofakissen trägt die Auf- bewirbt. Zwar fehlen ein paar Zeugnisse, mieren. Meta Westphal findet Freundin-
schrift: „Wenn Du bei mir bist, fühle ich auch der Lebenslauf weist Lücken auf, nen, traut sich mit dem Rollator aus dem
mich himmlisch“. aber die Not ist groß. Fachkräfte sind rar, Zimmer, Pflegerinnen führen sie in den
Doreen R. erzählt von ihrer Art, mit und die Frau macht einen guten Eindruck. Speisesaal. Auch als sie nicht mehr auf-
alten Menschen umzugehen. Sie sei zwar Doreen R. wird engagiert, zunächst be- stehen mag, stattdessen auch tagsüber im
manchmal etwas forsch und laut, aber im- fristet für ein Jahr. Bett bleibt, lobt die Seniorin die Betreu-
mer herzlich, nie böse. Ihre Meinung sage In Zimmer 212 lebt seit Anfang 2010 ung. „Die Schwestern sind so lieb.“
sie stets offen und geradeaus, das fänden die pflegebedürftige Meta Westphal. Die Das ändert sich Ende 2011. Gegenüber
die Senioren prima. „So bin ich nun mal.“ inzwischen 85-Jährige, Mutter zweier Söh- den Söhnen, die sie abwechselnd fast je-
Das ist das Bild, das Doreen R. von ne und zweier Töchter, ist nach einem Le- den Tag besuchen, klagt die Mutter über
sich selbst zeichnet. Doch es gibt andere ben mit vielen Hindernissen und Entbeh- Misshandlungen. „Die haut mich immer“,
Bilder von ihr, heimlich aufgenommen rungen hinfällig und schwach. Nach dem beschwert sie sich oft, „auch gegen den
mit einer Videokamera. Zu sehen und zu Krieg musste sie aus dem Osten fliehen, Kopf.“ – „Wer denn, Mutter, wer?“ –
hören ist, dass die Pflegerin eine hilflose zunächst in die DDR, später in den Wes- „Schwester Doreen.“
Heimbewohnerin behandelt wie einen ten, ins Münsterland. Sie zog die vier Kin- Die Söhne sind skeptisch. Sie wissen,
Feind: sie roh anpackt, sie duzt und be- der auf, ging trotz einer Knochenkrank- dass die Mutter Menschen häufig nicht
leidigt. Ein Gruselfilm. heit nebenbei putzen, stellte eigene Wün- wiedererkennt, Namen und Ereignisse
Dass sich solche Exzesse hinter ver- sche immer zurück. „Sie lebte nur für die verwechselt, mehr und mehr in der Ver-
schlossenen Heimtüren abspielen, wird Familie“, erinnert sich Sohn Detlef. gangenheit lebt. Quälen sie womöglich
oft vermutet. Aber es ist fast nie zu be- Als ihr Mann stirbt, die Ehe dauerte Erinnerungen an ihre Kindheit, geprägt
weisen, die Dunkelziffer ist hoch. Nur 58 Jahre, ist auch sie mit ihren Kräften vom prügelnden Vater und dem Über-
wenn Kollegen das Gewissen drückt und am Ende. Sie kann kaum noch laufen, lebenskampf mit acht Geschwistern?
sie sich zur Zeugenaussage entschließen, das Gedächtnis funktioniert nicht mehr Kommen traumatische Erlebnisse aus der
werden die Vorfälle offenbar. Mit Bildern richtig. Die Söhne finden den Handbesen Kriegszeit hoch?
36 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
gewesen sein“
Die Pflegerin, von den Söhnen zur Das sei im Westen, wohin sie 2007 wegen Manchmal überkommt sie Wut: auf die
Rede gestellt, findet beruhigende Worte. einer Internetbekanntschaft umzog, ganz schlechten Arbeitsbedingungen, auf ihre
„Ihre Mutter schläft die meiste Zeit“, anders. Hier herrsche oft ein übersteiger- zerbrochenen Beziehungen, auf den Är-
erklärt sie, „dabei träumt sie oft ganz tes Anspruchsdenken nach dem Motto: ger mit den pubertierenden Kindern. Und
schlecht.“ „Ich bezahle Sie ja dafür.“ nicht immer gelingt es ihr, diese Wut zu
Niemand im Heim weiß, dass Doreen Sie dagegen habe gelernt, die Men- unterdrücken.
R. schon früher mit ähnlichen Vorwürfen schen nicht in Watte zu packen. Ihr Prin- Es kommt zu Abmahnungen und vor-
konfrontiert wurde. Die Neue aus dem zip sei Hilfe zur Selbsthilfe. „Wenn sich zeitigen Entlassungen. Beanstandet wird
sächsischen Hoyerswerda redet wenig jemand noch selbst waschen kann, unter- meist das Gleiche: lautes, oft respektloses
über ihre Vergangenheit. Dabei gäbe es stütze ich ihn dabei. Wenn sich jemand Auftreten, heftige Beschimpfung von Be-
viel zu berichten. noch selbst die Schnürsenkel zubinden wohnern, vereinzelt auch Verdacht auf
Wie bei so vielen Ostdeutschen hat die kann, ermuntere ich ihn, sich nicht auf Gewalt. Eine Vorgesetzte beschreibt Do-
Wende ihr Leben mit einem Schlag ver- meine Hilfe zu verlassen.“ Mit dieser Hal- reen R. als „schwierige und uneinsichtige
ändert. Die Ausbildung zur Maschinistin tung ecke sie oft an. In vielen Heimen Person“, die sich von der Welt benach-
im Gaskombinat Schwarze Pumpe ist gehe es schon aus Zeitmangel nur um die teiligt fühle und Verfehlungen stets zu
nach 1989 nichts mehr wert. Das Werk, berühmten „drei s“: sauber, satt, still. rechtfertigen versuche. Eine Heimleiterin
längst marode und unrentabel, wird still- Doreen R. hält es im Westen nirgends urteilt kurz und bündig: „Für die Pflege
gelegt, später neu gebaut. Doreen R., die lange aus, wechselt häufig den Arbeits- nicht geeignet.“
im Leitstand die Instrumente kontrollierte, platz. Jobbt mal in Linz am Rhein, mal in Auch in Bremen häufen sich bald nach
sieben Tage Nachtdienst, drei Tage frei, Diez an der Lahn, wechselt nach Limburg, Dienstantritt der Neuen die Beschwerden.
wird arbeitslos, lebt fortan von Sozialhilfe. pflegt in Katzenelnbogen. Überall fällt Mehrere Bewohner im Ellener Hof fühlen
Die junge Frau bekommt kurz hinter- auf, dass es ihr nach kurzer, meist ge- sich eingeschüchtert vom ruppigen Um-
einander ein Mädchen und einen Jungen, glückter Anfangsphase schnell an Geduld, gangston der Pflegerin, die Demente
die Väter lassen sie im Stich. Als der an Einfühlungsvermögen und manchmal grundsätzlich duzt, manche auf der Sta-
Nachwuchs in Kindergärten unterkommt, auch an Mitleid mangelt. tion haben sogar Angst. Die Tochter einer
muss sich die gelernte Maschinistin einen „Ich wollte alles richtig machen“, be- Russlanddeutschen beschuldigt Doreen
neuen Job suchen. Aber was? schreibt sie diese Phase im Rückblick. R., ihre Mutter geschlagen und gekniffen
Die Idee, alte Menschen zu versorgen, Doch der ständige Stress, ausgelöst durch zu haben, sie erstattet Strafanzeige. Die
sei ihr nach dem Siechtum ihrer Oma Personalmangel, zu viele Sonderschich- Pflegerin bestreitet die Vorwürfe, das
gekommen, erzählt Doreen R. „Diesen ten und viel zu wenig Freizeit, habe sie Verfahren wird eingestellt. Immerhin: Die
Entschluss habe ich nie bereut.“ Nach zermürbt und überfordert. „Das Leben Verwandten der Frau erreichen, dass
einem sozialen Jahr finanziert ihr das bestand nur noch aus Arbeiten, Essen Doreen R. den betreffenden Raum nicht
Arbeitsamt um die Jahrtausendwende die und Schlafen.“ mehr allein betreten darf.
Umschulung. In der Praxis kommt sie Die Angehörigen von Meta Westphal
spielend zurecht, sie ist kräftig, kann erfahren davon kein Wort, die Heimlei-
richtig zupacken, Patienten problemlos tung sorgt dafür, dass nichts nach außen
CARMEN JASPERSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA
hochwuchten und versorgen. Die münd- dringt. „Wir waren blind, niemand gab
liche Prüfung, in der viele Fragen zum uns einen Tipp“, empört sich Andreas
psychologischen Umgang gestellt werden, Westphal heute. Weil sich die Mutter wei-
schafft sie gerade noch mit der Note „aus- ter über Prügel beschwert, sogar weinend
reichend“. um Hilfe fleht, entschließen sich die Söh-
Einige Jahre jobbt sie in Hoyerswerda ne nach langem Zögern zu einem unge-
und Umgebung, springt häufig als Vertre- wöhnlichen Schritt.
tung ein, schwärmt bis heute von den An einem Juniabend, kurz bevor ihre
dankbaren Alten dort. „Es ist eine einfa- Mutter bettfertig gemacht wird, instal-
che Region mit einfachen Leuten“, erklärt Heim Forum Ellener Hof in Bremen lieren sie in Zimmer 212 eine versteckte
sie, „die Menschen sind sehr genügsam.“ „Nur noch arbeiten, essen und schlafen“ Kamera. Als sie sich am nächsten Tag die
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 37
Deutschland
Aufnahmen ansehen, packt sie der Zorn. Kamera gewesen, mittlerweile habe sie
Die Kamera hat ein schwer erträgliches sogar Verständnis: „Die hatten ja recht.“
Geschehen festgehalten. Die Staatsanwaltschaft klagte Doreen
Pflegerin R. betritt grußlos und mit R. wegen Misshandlung von Schutzbefoh-
grimmigem Gesicht den Raum. Dann lenen an, doch das Bremer Amtsgericht
zieht sie Meta Westphal mit groben Be- eröffnete das Verfahren lediglich wegen
wegungen den Pullover über den Kopf, einfacher Körperverletzung. Der Grund:
streift ihr später ebenso grob das Nacht- Die schärfere Strafvorschrift setzt eine
hemd über, zieht sie an der Unterhose „gefühllose, fremdes Leiden missachtende
unsanft übers Bett. Weil ihr die Patientin Gesinnung“ voraus – und eine solche Ge-
mit den Händen in die Quere kommt, sinnung mochte das Gericht der Beschul-
herrscht R. sie an: „Nimm doch mal die digten nicht unterstellen, auch wegen der
Flossen weg.“ Kürze des Übergriffs.
Als die gebrechliche Frau, die noch 45 Jennifer Jakobi, die Bremer Verteidige-
Kilogramm wiegt, kraftlos nach hinten rin der Pflegerin, bezweifelt indessen, dass
sinkt, wird sie von der Pflegerin an den einmaliges Haareziehen tatsächlich eine
Haaren gepackt und mit einem heftigen Körperverletzung darstelle. „Da kann man
Ruck nach vorn gerissen. Und als sie sich sehr verschiedener Meinung sein.“ Die Vor-
beschwert („Sie hauen mich jedes Mal“), gänge auf dem Video seien zwar schreck-
hagelt es Verwünschungen. lich, ohne Wenn und Aber. „Doch sind sie
„Ich hab Ihnen doch gar nichts getan“, auch strafbar?“ Und schließlich handle es
jammert die Bewohnerin leise. Antwort: sich um einen einmaligen Ausrutscher.
„Du sollst doch mal die Klappe halten. Die Anwältin will verhindern, dass der
Ist ja ganz schlimm heute.“ Zum Schluss Film bei der Hauptverhandlung als Be-
fasst die Schwester ihrer Patientin mit weismittel zugelassen und vorgeführt
der flachen Hand an die Stirn und beför- wird. Es handle sich um illegal entstan-
dene Aufnahmen, die Belange ihrer Man-
dantin seien grob missachtet worden. Ob
„Wir kämpfen darum, die Juristin damit Erfolg hat, ist fraglich.
dass diese Frau Bei der Abwägung zwischen der Auf-
klärung von Gesetzesverstößen und den
nie mehr alte Menschen Rechten am eigenen Bild entschieden Ge-
richte in der Vergangenheit meistens pro
betreuen darf.“ Strafverfolgung. Mit anderen Worten:
Der Zweck heiligte die Mittel.
dert sie mit einem Stoß in die Rücken- Im Prozess, der noch im Sommer statt-
lage. finden soll, droht Doreen R. nicht nur
Der Film löst vielfältige Reaktionen eine Geldstrafe oder Haft, sondern auch
aus. Eine Tochter von Meta Westphal die Verhängung eines Berufsverbots –
bricht zusammen, nachdem sie sich das eine Sanktion, die ihre Verteidigerin
Video angesehen hat, sie kommt mit unbedingt abwenden möchte. Was nicht
einem Schock ins Krankenhaus. Die ganz einfach werden dürfte: Die Söhne
Söhne zeigen Doreen R. an, engagieren von Meta Westphal und ihr Anwalt haben
einen Anwalt für die Nebenklage. Der ein Berufsverbot zum Hauptziel der Ne-
Heimleiter, dem die Familie die Auf- benklage erklärt. „Uns interessiert nicht
nahmen vorspielt, feuert seine Angestell- die Strafhöhe“, sagt Andreas Westphal.
te fristlos. „Wir kämpfen darum, dass diese Frau nie
Doreen R., die das Video bei der Poli- mehr alte Menschen betreuen darf.“
zei sieht, reagiert entsetzt. „Ich dachte, Doch Doreen R., die nach ihrem Raus-
das bist nicht du selber“, erinnert sie sich, schmiss mehrere Monate am Fließband
„das muss jemand anderes sein.“ einer Tierfutterfabrik gestanden hatte, zu-
Entschuldigen könne sie ihr Verhalten letzt Nachtdienste an der Kasse einer
nicht, nur erklären. Am fraglichen Tag Tankstelle schob, will nicht aufgeben. Seit
sei privat und dienstlich alles schiefgelau- kurzem hat sie wieder einen Job in einem
fen: Ihr Sohn habe seine Ausbildung ge- Pflegeheim. Diesmal, versichert sie, sei
schmissen, Kolleginnen hätten sich mit alles anders: genug Personal, ein nette
ihr gestritten, der Rüffel einer Vorgesetz- Chefin, die Schwestern eine verschwore-
ten sei völlig ungerecht gewesen. Und ne Gemeinschaft. Alles werde gut.
nach zehn Nachtschichten hintereinander „Warum tust du dir das bloß wieder an,
habe sie über keinerlei Reserven mehr nach all dem Ärger, nach all dem Stress?“,
verfügt, zudem auch noch gebangt, ob habe ihr Lebensgefährte kürzlich von ihr
ihr Arbeitsvertrag verlängert werde. wissen wollen. Ihre Antwort: „Weil ich
„Ich hätte nie in dieses Zimmer gehen Menschen helfen will.“
dürfen“, sagt sie inzwischen, „ich habe
mich überschätzt, meine Grenzen nicht
erkannt. Heute würde ich mich in so ei- Video: Ausschnitt aus dem
nem Zustand krankschreiben lassen.“ Beweisvideo
Kurz nach dem Vorfall sei sie noch voller spiegel.de/app272013altenheim
Zorn auf die Söhne Westphal mit ihrer oder in der App DER SPIEGEL
38 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Einschussloch in einer Autotür
100 Fahnder arbeiteten an dem Fall
D
ie Ermittler versuchten, den Täter schwer verletzt. Eine Sonderkommission selt, schoss er nun auf parkende Autos?
zu verstehen. Warum hatte er aus- übernahm den Fall. Mitte April schlug der Schütze wieder
gerechnet auf diesen Lastwagen Der Tatort wurde vermessen, der wie früher zu, auf freier Strecke: drei Tref-
geschossen, der mit Baucontainern bela- Schusswinkel berechnet. Dann war klar: fer auf der A 61 bei Bad Neuenahr-Ahr-
den auf der A 3 unterwegs war? Die Kugel war von oben eingeschlagen, weiler. Die Ermittler werteten die Fahr-
Dessen Fahrer berichtete den Fahn- offenbar abgefeuert aus einem hohen tenschreiber der getroffenen Lkw aus und
dern, dass die PS seines Lastwagens für Fahrzeug im Gegenverkehr. Die Ermittler grenzten den Tatzeitraum ein. In den frag-
die schwere Fracht nicht gereicht hätten. ließen alle Handys feststellen, die zur Tat- lichen 18 Minuten hatten die Geräte die
An jeder Steigung habe er im Schnecken- zeit in der Umgebung eingebucht waren. Kennzeichen von 50 Lastwagen fotogra-
tempo fahren müssen und andere Lkw Weitere Erkenntnisse erhofften sie sich fiert. In den folgenden Tagen schoss der
ausgebremst, bergab dann volle Fahrt auf- von Mautdaten. Die Firma Toll Collect Unbekannte erneut. Immer von hinten,
genommen und die anderen überholt. kann mit rund 300 Anlagen die Kennzei- wenn er überholt wurde. Wieder wurden
Die Ermittler besahen sich die Einschüsse, chen vorbeifahrender Lkw erfassen. Die Kennzeichen ausgewertet.
links, rechts, hinten; der Täter hatte vier- Daten dürfen aber nicht genutzt werden, Als die Daten verglichen wurden, blieb
mal getroffen. Hatte da ein anderer Lkw- um Verbrechen aufzuklären; Toll Collect genau ein Kennzeichen übrig. Der Lkw
Fahrer die Nerven verloren und aus Ver- wies die Ermittler ab. gehört einer Spedition aus der Eifel. Er
ärgerung seine Waffe gezückt? Die Serie setzte sich fort. Mal pausierte war 2012 im Ruhrgebiet gestoppt worden,
Die vier Schüsse fielen im November der Schütze wochenlang, mal feuerte er weil der Fahrer gedrängelt hatte. Die
2009. Es sollten Hunderte hinzukom- Dutzende Schüsse an einem Tag ab. Die Fahnder kannten nun einen Namen: Mi-
men – und mehrere Jahre vergehen, bis Ermittler ließen mehr als tausend Fahn- cha K. Der Mann besaß ein Mobiltelefon.
das Bundeskriminalamt (BKA) in der vo- Die Ermittler hatten Glück, dass der Pro-
rigen Woche meldete: Der Mann, der in vider ausnahmsweise die Verbindungsda-
fünf Jahren mindestens 762-mal auf deut- ten 90 Tage lang aufbewahrte, nicht nur
schen Autobahnen geschossen hatte, wur- die üblichen 7 Tage. Das ergab ein nahezu
de festgenommen. Ein Lkw-Fahrer aus lückenloses Bewegungsprofil.
NORBERT SCHWARZOTT / MAIN-POST
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 39
D. EBENER / PICTURE ALLIANCE / DPA
Patient Mollath vor einer Anhörung am Landgericht Bayreuth im April: Überwältigt von der Welle der Sympathie
JUSTIZ
E
s ist ein großer Auftritt für Gustl Fernsehinterviews. Das gleiche ordentlich aufs Bett geworfen und sie nicht gehen
Mollath an diesem 11. Juni. Im gescheitelte Haar, das schmale Oberlip- lassen, bis ihre Freundin gegen die Haus-
Bayerischen Landtag in München penbärtchen, das fränkisch gerollte R. tür pochte. Auch habe er Unbeteiligten
drängen sich Zuschauer im Flur, durch Mollath ist jetzt 56 Jahre alt, die letzten die Autoreifen auf eine Weise durchsto-
den er gleich kommen soll. Doch dann sieben hat er in der forensischen Psychia- chen, die deren Leben gefährdete. Ge-
führt man ihn von der anderen Seite in trie verbracht. Einen Augenblick scheint richte haben seine Unterbringung jährlich
den Saal hinein, in dem der Parlamenta- er überwältigt von der Welle der Sympa- überprüft. Drei forensische Psychiater ha-
rische Untersuchungsausschuss heute tagt, thie, die ihm hier entgegenschlägt. Dann ben die Wahndiagnose bestätigt, gestützt
es gibt ein Rennen und Schubsen, Kame- bahnt er sich den Weg zum Zeugenstuhl. auf Begegnungen, Gespräche, Akten.
raleute hasten durch die vollbesetzten Ein Gericht kam im Jahr 2006 zur Über- Mollaths Unterstützer hingegen glau-
Stuhlreihen. Alle wollen ihn von Nahem zeugung, dass der Nürnberger wahnkrank ben, er sei Opfer eines Komplotts seiner
sehen: Ist er nun verrückt oder nicht? und gefährlich sei. Er habe seine Frau Pe- Ex-Ehefrau und der Justiz. Sein Anwalt,
Mollath richtet seine braunen Augen tra im August 2001 geschlagen und bis zur der Hamburger Strafverteidiger Gerhard
fest auf den Pulk vor sich und grüßt Bewusstlosigkeit gewürgt. Im Mai 2002 Strate, fasste in einem Interview mit der
freundlich. Er ist eher klein, trägt ein ma- habe er sie im Haus, aus dem sie am Vor- „Süddeutschen Zeitung“ zum Thema
rineblaues Sweatshirt, aus dem ein roter tag ausgezogen und in das sie zurückge- „Wahrheit“ den Fall so zusammen: „Mol-
Kragen schaut, genau wie bei seinen kehrt war, um das Nötigste zu packen, lath sitzt seit sieben Jahren in der Psy-
40 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Deutschland
chiatrie, weil er seine damalige Frau, mit „Der Mann, der zu viel wusste“. Aber zug zueinander und für einen Anfangs-
der er einen Rosenkrieg führte, angezeigt hatte Mollath überhaupt Kenntnisse, mit verdacht nicht konkret genug, so haben
hat: Sie sei als Angestellte der HypoVer- denen er Reichen und Mächtigen hätte es Staatsanwälte im Ausschuss erklärt.
einsbank an Schwarzgeldgeschäften be- gefährlich werden können? Gab es Ma- Man habe das Mollath damals auch so
teiligt gewesen. Ein Gericht hielt ihn des- chenschaften, ihn kaltzustellen? Oder hat mitgeteilt, und selbst das Ergebnis des
halb 2006 für paranoid und ließ ihn ein- das Gericht nur allzu bereitwillig seiner mittlerweile bekannt gewordenen Prüf-
weisen – doch inzwischen haben sich sei- damaligen Frau geglaubt? berichts der HypoVereinbank aus dem
ne Vorwürfe als berechtigt erwiesen.“ Die Betrachtung seines Falls ist ver- Jahr 2003 hätte daran nichts geändert.
Welche Version der Wahrheit näher- trackt, weil er viele Wahrheiten enthält, Laut Bericht war nämlich vieles, was
kommt, könnte bald bei einem neu auf- die oft vermengt werden, obwohl sie ne- Mollath behauptete, nachprüfbar richtig –
gerollten Prozess zutage treten. Immer beneinander betrachtet werden müssen. aber nicht die Schwarzgeldvorwürfe. Das
mehr Fehler im Verfahren sind bekannt Wer die Sache bis in ihre Anfänge hinein Geldhaus spricht von arbeitsrechtlichen
geworden, auch schwere. Inzwischen sind zurückverfolgt, stellt fest: Diese Ge- Verstößen. Kundendepots, die an die Kon-
die Zweifel am Urteil so gewachsen, dass schichte, die die Republik verrückt macht, kurrenz transferiert wurden, Provisionen,
sowohl Verteidigung als auch Staatsan- begann anders als bisher bekannt. die Berater dafür erhielten. „Für eine Kün-
waltschaft die Wiederaufnahme des Ver- digung haben die Beschuldigungen nicht
fahrens beantragt haben. Ist Mollath ein Spinner? gereicht“, sagte der Revisor der Bank im
Gespannt blickt das halbe Land nach Im Ausschuss hat Mollath Platz genom- Ausschuss. Mollaths Ex-Frau verglich sich
Regensburg, wo ein Gericht den Fall noch men. Der Vorsitzende Florian Herrmann mit der Bank und bekam eine Abfindung.
prüft. Das Schicksal des aus der Bahn ge- (CSU) erklärt, die Abgeordneten wollten „Es sind Indizien, die Sie für zwingend
worfenen Ferrari-Restaurateurs eignet von ihm selbst hören, wie Behörden mit hielten, die Staatsanwaltschaft aber
sich als Projektionsfläche für tiefsitzende seinen Anzeigen umgegangen seien, die nicht“, hakt Herrmann ein. Ob er heute
Ängste: Opfer falscher Anschuldigungen er seit 2003 verschickte. Ein Vorwurf steht noch hieb- und stichfeste Beweise vorle-
in einem Scheidungskrieg zu werden oder im Raum: Wichtige Informationen seien gen könne? – „Hätte man nachgefragt,
versehentlich für verrückt erklärt und nicht beachtet worden, weil man ihn vor- hätte ich weitere Hinweise geben können,
weggesperrt. Dieser tragische Held zieht schnell als Irren abgestempelt habe. man wäre in ein Wespennest gestoßen.“
die Menschen an – darunter viele, die Mollath nickt bescheiden, sagt: „Da Warum er diese Beweise nicht beige-
sich selbst vom Leben ungerecht behan- muss ich etwas ausholen, wenn es mir ge- legt habe? – „Ich bin nicht davon ausge-
delt fühlen. Längst fragen sich weite Teile stattet ist.“ Er erzählt, wie er seine Frau gangen, dass das an diese Stellen über-
der Öffentlichkeit, ob es sein kann, dass kennenlernte, wie sie begonnen habe, in haupt gelangt.“ – „Es gibt aber doch für
„Justiz, Politik und Psychiatrie dabei ge- der Vermögensabteilung der HypoVer- alle Schreiben Eingangsbestätigungen.“
holfen haben, einen unbequemen Zeugen einsbank Schwarzgeldgeschäfte in gro- Mollath kommt ins Schlingern. Als Beleg
mundtot zu machen“, wie eine ARD-Do- ßem Stil mit einer Schweizer Bank abzu- für Insiderwissen erzählt er vom Kassen-
kumentation nahelegte. Egal was heraus- wickeln, wie er sie bekniet habe, damit raum der Bank Leu in Zürich, springt zu
kommen wird – der Fall Mollath erschüt- aufzuhören. „Da überzog sie mich mit seinem Prozess am Nürnberger Landge-
tert das Vertrauen vieler Bürger in die ihrer falschen Anzeige.“ Er selbst sei als richt: „Der Saal hatte die gleichen Ab-
Institutionen des Rechtsstaats. friedfertig bekannt: „Gewalttätigkeiten, messungen wie der, in dem 1945 die
Das Schicksal der bayerischen Justiz- das liegt mir fern.“ Mit den Reifensteche- Kriegsverbrecherprozesse stattfanden.“
ministerin Beate Merk (CSU) ist mit dem reien habe er nichts zu tun. „Ich hab bisher zu den konkreten Fra-
Mollaths verknüpft, die Opposition macht Nach fast einer Stunde spricht er über gen nichts gehört“, sagt Herrmann.
Wahlkampf mit dem Thema Justizversa- seine Strafanzeige wegen der „größten, Da verblüfft Mollath mit neuen Infor-
gen in Amigo-Bayern, und es ist noch Luft dreistesten Schwarzgeldverschiebung von mationen: Er habe Koffer voller Beweise
nach oben: Das Bundesverfassungsgericht Deutschland in die Schweiz“. Er hatte sie ins Ausland geschafft, nach Paris zur be-
und die Bundesanwaltschaft sind mit dem an Justizstellen in ganz Deutschland ge- rühmten Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld
Fall befasst. Mollath-Anhänger planen schickt, zusammen mit Flugblättern, Zei- und zum langjährigen Uno-Menschen-
eine Großdemonstration in Nürnberg. tungsberichten und Schreiben an Persön- rechtler Jean Ziegler in die Schweiz.
Ganz am Ende, das noch nicht abseh- lichkeiten wie Kofi Annan oder Günter Der „Nordbayerische Kurier“ hat bei
bar ist, wird man vielleicht einmal sehen, Beckstein. Dazwischen: Buchungsaufträ- Klarsfeld nachgefragt: Tatsächlich schrieb
inwiefern die „Affäre Mollath“ auch eine ge für Konten namens „Pythagoras“ oder Mollath ihr, weil er sie für das Bundes-
medial erzeugte ist. Ein Buch ist über den „Klavier“, Anlageverzeichnisse, Namens- verdienstkreuz vorgeschlagen hatte. Aber
Fall erschienen, es trägt den Untertitel: listen – alles ohne nachvollziehbaren Be- brisantes Beweismaterial? – „Das wäre
DAVID EBENER / PICTURE ALLIANCE / DPA (L.); PETER KNEFFEL / DPA (R.)
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 41
Deutschland
mir aufgefallen.“ Jean Ziegler erklärt: drei Tage nach der Auseinandersetzung zur HypoVereinsbank, die ihre Revi-
„Ich erinnere mich an so etwas nicht.“ vom August 2001 an ihr festgestellt hat: sionsabteilung einschaltet – was er seiner
Man kann sich nun aussuchen, was Hämatome, Würgemale unterhalb des Frau mitteilt. „Hunderte Male“, schreibt
man für wahrscheinlicher hält: Klarsfeld Kehlkopfes, eine Bisswunde am rechten er, habe er sie auf ihrem Handy zu errei-
und Ziegler haben brisante Post von Mol- Ellenbogen mit Abdruck der Zähne. Die chen versucht. Zwei Tage vor Silvester
lath vergessen, Mollath hat den Ausschuss Narben zeigt sie später bei Gericht vor. schreibt er an die Bank. Er will wissen,
belogen, oder die Koffer voller Material Mollath fühlt sich erpresst: „Du sagst, wo seine Frau ist.
existieren wirklich – in seinem Kopf. wenn ich Deine Machenschaften aufflie- „Mir hat das Angst eingejagt“, sagt sie.
gen lasse, bekomme ich keinen Unterhalt Es sei ihr eingefallen, dass ihr Mann eine
Die Geschichte der Petra M. … Du solltest einsehen, dass ich mich von Waffe habe. Um das mitzuteilen, habe
Ihr hat man öffentlich bisher die Hexen- Dir und Deinen Helfern NICHT EIN- sie am 2. Januar 2003 bei der Polizei an-
rolle zugedacht: Petra M., ehemals Mol- SCHÜCHTERN LASSE.“ gerufen. Bei einer Durchsuchung findet
lath. Besucht man sie heute und fragt Sie reagiert nicht. man ein Luftgewehr.
nach damals, fängt sie nicht bei den Petra Mollath schaut zu, wie ihr Mann Am 15. Januar geht Petra Mollath dann
Schlägen ihres Mannes an oder den sie verfolgt, bedroht und anschwärzt. Sie doch zur Wache. Sie habe ihren Bruder
Schwarzgeldvorwürfen, sondern sagt, wie läuft nicht zur Polizei. schützen wollen, sagt sie. „Ich wollte klar-
froh sie sei, dass sie es geschafft habe, machen: Mein Mann war der Aggressor,
sich zu befreien, nach 24 Jahren mit ihm. Mollaths Weg in die Psychiatrie nicht mein Bruder.“ Deswegen habe sie
Folgt man ihrer Erzählung, so lässt sie Es ist Gustl Mollath selbst, der die Ma- dort das Attest vorgelegt. Der Beamte
im Mai 2002 einen Mann in einem ver- schinerie in Gang setzt, die ihn am Ende sagt nach ihrer Erinnerung, das eine habe
müllten Haus zurück. Kein Jahr sei ver- in die Psychiatrie bringt, in einer Art Ne- mit dem anderen nichts zu tun, aber sie
gangen, ohne dass er einen Rechtsstreit benspiel, an dem Petra Mollath zunächst könne ja selbst Anzeige erstatten, wegen
führte. Überall hätten sich seine Beweis- nicht beteiligt ist. Sie ist zu der Zeit im Körperverletzung.
mittel für alles Mögliche getürmt: einen
Wasserschaden, die strittige Lackierung
eines Ferraris, den Hunger in der Welt.
Zum Essen hätten sie den Bügeltisch auf-
geklappt. „Wenn ich aus der Bank kam,
saß er bei runtergelassenen Rollos vor
dem Fernseher, sah immer nur Kriegs-
nachrichten, nächtelang. Dann kriegte er
seinen Trulli: Die Welt war schlecht, ich
war schlecht, und dann ging es los.“
Eine neue Zeugin, die sich vor kurzem
bei der Staatsanwaltschaft meldete, sagte
aus, Mollath habe seine Frau schon Mitte
der achtziger Jahre geschlagen, sie selbst
habe ihn einmal gewalttätig erlebt. Aber
Petra habe ihm immer wieder verziehen.
Es muss einmal die große Liebe gewesen
sein: Sie ist 18, er 22, als sie sich kennen-
lernen, sie haben tolle Jahre, reisen viel,
er fährt Rennen. Sie macht Karriere bei
der Bank, finanziert das gemeinsame Le-
ben. Er restauriert Oldtimer, doch das Ge-
schäft läuft nie. Bis zum Jahr 2000 steckt Ferrari-Fahrer Mollath, Rennsieger Braun 1993: Sie steckt ihr Geld in seine Firma
Petra Mollath laut Gerichtsurteilen umge-
rechnet 210 000 Euro in seine Firma, als sie Urlaub: Am 23. November 2002 ver- Das macht sie.
damit aufhört, muss er dichtmachen. Bei schafft sich Mollath Zutritt zu dem Haus, „Die Gerichts- und Verfahrensakten
der Trennung ist er hoch verschuldet. in dem sein Schwager lebt. Er sucht, so bestätigen diesen Ablauf der Ereignisse“,
In seinen Briefen fleht er sie an, zu- wird er es der Polizei sagen, nach Bewei- sagt auf Anfrage der Nürnberger Justiz-
rückzukommen. Wohl erst, als das nicht sen dafür, dass seine Frau sich hier vor sprecher Michael Hammer.
fruchtet, beginnt er mit den Schwarzgeld- ihm versteckt. Als er einen Brief aus dem Nun erst beginnt der eigentliche
vorwürfen. In der Wohnung ihres Bruders Kasten zieht, erwischt ihn die Freundin Hauptakt. Mollath wird wegen Körper-
seien nachts seine meterlangen Tiraden des Schwagers. Er drückt sie gegen die verletzung an seiner Frau angeklagt. Am
aus dem Faxgerät gequollen. Wand, der Schwager kommt hinzu, ein 25. September 2003 steht er vor dem
Am 8. August 2002 schickt er Petra ein Handgemenge folgt, Tritte, Faustschläge. Amtsrichter Alfred H. Der erinnert sich
Fax in die Bank: „Wie Du weist, werde Die Freundin ruft die Polizei. Der vor dem Ausschuss anhand der Akten:
ich mit diesen ,Machenschaften‘ nicht fer- Schwager zeigt Mollath an, wegen Kör- Von einer Unterbringung in der Psychia-
tig. Jeglicher Kraft bin ich beraubt. See- perverletzung. Dieser kündigt an, den trie sei da noch keine Rede gewesen.
lisch und körperlich bin ich schwer be- Schwager anzuzeigen. Was die Behörden Aber Richter H. kommt Mollaths Auftritt
lastet … Seit vielen Jahren musstest Du weiterverfolgen, ist der Briefdiebstahl. „komisch“ vor. Vom Angeklagten, meint
für mich alle finanziellen und viele sons- Weil der Brief an sie adressiert war, der Richter, hätte er erwartet, dass er bei-
tige Angelegenheiten, durchführen … Je- findet Petra Mollath bei ihrer Rückkehr spielsweise sage, die Sache sei ihm pas-
den Tag musst Du damit rechnen, dass einen Anhörungsbogen von der Polizei. siert, und sich bei seiner Frau entschuldi-
alles auffliegt … Bitte um Stellungnahme Darauf die Frage, ob mit ihrem Mann ge. Dann wäre Mollath wohl mit einer
bis heute Abend, 19 Uhr, Gruß Gustl.“ schon mal Ähnliches passiert sei. Doch Bewährungsstrafe nach Hause gegangen.
Da faxt sie ihm kommentarlos ein At- noch immer zögert sie, ihn zu belasten. Aber das habe er nicht gesagt. Auch
test, in dem festgehalten ist, was ihr Arzt Mollath schickt seine Anschuldigungen nicht: Meine Frau will mich mit einer fal-
42 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
schen Beschuldigung fertigmachen, weil Leute angreift. Er sagt: Es könnte Gefahr Am Silvestertag 2004 beginnen die Rei-
ich sie wegen Schwarzgeld angezeigt für unbeteiligte Dritte bestehen. fenstechereien. Die Polizei zählt 129 ka-
habe. „Dem hätte man ja nachgehen müs- Richter E. beschließt: Mollath soll in putte Reifen, bei den Autos einiger Opfer
sen“, sagt H. der Psychiatrie aufgenommen und begut- entweicht die Luft beim Fahren, manchen
Mollath streitet damals nicht ab, seine achtet werden. Mollath beschwert sich mehrfach, sie fürchten sich, ins Fahrzeug
Frau 2001 geschlagen und bis zur Be- brieflich bei ihm, beschreibt sich als Opfer zu steigen. Man kommt auf Mollath als
wusstlosigkeit gewürgt zu haben. Er gibt eines Komplotts: „Dann sprechen sich Täter, nachdem er einem Betroffenen ei-
dem Richter einen Hefter voller wirrer diese sogenannten Ordnungshüter, mit nen Brief schreibt, in dem er Namen an-
Schreiben und sagt, seine Frau sei auf ihn Kreisen der Schwarzgeldverschieber ab derer Opfer aufzählt.
losgegangen, er habe sich nur gewehrt. und nehmen mich unter skandalösen Um- Einer davon berichtet heute, Mollath
Und: „Mir ging es in den letzten Jahren ständen fest … Als Rechtsanwalt O. hör- habe ihn zuvor besucht, ihm einen scharf
nicht gut. Ich war in einer Grenzsituation, te, der Rüstungs-Familien Diehl-Clan geschliffenen Schraubenzieher gezeigt,
wie ich sie noch nie hatte. Ich kann mich spielt in meinem Fall eine Rolle sagte er ihm von seinem Hass auf die Banken er-
auch nicht so erinnern.“ Da seien ihm kreidebleich: ,Die schrecken ja auch vor zählt und dass er in Verbindung stehe mit
Zweifel an Mollaths Schuldfähigkeit ge- Mord nicht zurück‘, sprang auf und wollte Harald Schmidt; der gebe ihm im Fern-
kommen, sagt der Richter. „Dann musste gehen“. Und dann: „Bei solchen Zustän- sehen Handzeichen, er sei auf seiner Sei-
ich ja einen Gutachter dransetzen.“ den antwortet ein freier, gewissenhafter te. Andere erzählen, Mollath sei nachts
Petra Mollath hatte zur Verhandlung Nürnberger: Gerechtigkeit oder Tod, das auf ihrer Terrasse erschienen und habe
die Stellungnahme einer Psychiaterin vor- ist mein Angebot.“ durchs Fenster gestarrt. Alle Zeugen von
gelegt, wonach ihr Mann wahrscheinlich Ein Amtsrichter kann über die Unter- damals bitten, ihren Namen nicht zu nen-
psychisch krank sei – für seine Unterstüt- bringung in der Psychiatrie nicht ent- nen, aus Angst vor militanten Unterstüt-
zer ein Beweis ihres Plans, ihn in die scheiden, das Verfahren geht ans Land- zern Mollaths, die zurzeit Gutachter und
Psychiatrie zu bringen. Aber das Doku- gericht. Nach dem Geschäftsverteilungs- Justizangehörige bedrohen.
Ist das Urteil gegen Mollath also wirk-
lich „schreiendes Unrecht“, wie manche
Kommentatoren heute behaupten? Hät-
ten Gerichte längst seine Freilassung ver-
fügen müssen?
Aus Sicht der damaligen Richter und
Gutachter, so geht es aus Aussagen vor
dem Ausschuss und auch aus Akten hervor,
war die Sache Mollath ein trauriger Fall
von häuslicher Gewalt wie viele andere,
allerdings mit einem bedrohlich wirkenden
Angeklagten, der sich selbst als psychisch
zerrüttet beschrieb und sich entsprechend
verhielt. Und die Verschwörung? Mehr als
zwei Dutzend Zeugen sind vor dem Un-
tersuchungsausschuss aufgetreten, von der
Turnusregisterbeamtin bis zur Justizminis-
terin: Wer bekam wann und warum welche
DAVID EBENER / DPA
Sache zu Fall? Die Richter in Regensburg, geldverschiebungen … gegeben hat“, Zeit abklingt. Sie machen Ausgänge in
die dies bewerten müssen, sind nicht heißt es im Urteil, „wahnhaft ist, dass der die Stadt, in vergleichbaren Fällen seien
zu beneiden. Der öffentliche Druck auf Angeklagte fast alle Personen, die mit ihm manche nach zwei Jahren wieder drau-
die Kammer ist gewaltig. Schon jetzt zu tun haben, z. B. den Gutachter Dr. W., ßen. Aber Mollath mache nicht mit.
kommen Drohbriefe an, für den Fall, … mit diesem Skandal in Verbindung Aus Sicht der Klinikmitarbeiter verha-
dass Mollath nicht bald freigelassen bringt und alle erdenklichen Beschuldi- kelt er sich mit kohlhaasscher Sturheit
wird. gungen gegen diese Personen äußert.“ immer wieder aufs Neue im Räderwerk
Die Patzer im Urteil reichen von einem Doch dieser Gutachter hat zuletzt gesagt, der Psychiatrie, auch durch sein chroni-
falschen Datum bis hin zum falsch dar- er könne verstehen, warum er aus Mol- sches Misstrauen.
gestellten Festnahmeszenario. Das wohl laths Sicht zum Komplott der Finanz- Sein Weg könnte trotz allem schnell in
gravierendste Versäumnis im Verfahren: schieber gehöre, auch wenn das natürlich die Freiheit führen, er müsste dafür keine
Als man Mollath vorläufig in die Psychia- nicht zutreffe. Das, argumentiert die Medikamente akzeptieren und auch kein
trie einwies, ließ man ihn Tage dort sit- Staatsanwaltschaft sinngemäß, könne die Geständnis ablegen. Er müsste nicht mal
zen, ohne ihn über die Gründe zu infor- Diagnose untergraben. einsehen, krank zu sein, sagt der Bayreu-
mieren – ein schwerer Grundrechtsver- Der dritte Wiederaufnahmegrund: Das ther Chefarzt Klaus Leipziger. „Nur reden
stoß. Attest, das Petra M. vorlegte, um ihre müssten wir mit ihm können, Vereinba-
Mollaths Verteidiger Gerhard Strate Verletzungen zu dokumentieren, gilt rungen treffen.“ Seit anderthalb Jahren,
wertet die Summe aller Fehler als Rechts- rechtlich als unecht. Der Arzt hat es auf sagt Leipziger, könnte Mollath jederzeit
beugung und strafbare Amtspflichtsver- dem Briefpapier seiner Mutter ausgestellt, allein auf dem parkähnlichen Klinikgelän-
letzung. Dafür müsste der Richter sie aber die er in deren Praxis offiziell vertrat, de spazieren gehen, ohne Fesseln. Es gibt
vorsätzlich begangen haben. ohne das ausreichend kenntlich zu ma- keinen Zaun. Bürger der Stadt nutzen die
Das hielt anfangs sogar die Staatsan- chen. Er hat den Inhalt des Attests bei Wege über das Gelände als Abkürzung.
waltschaft Regensburg für denkbar, jetzt der Staatsanwaltschaft bestätigt, in der Mollath dürfte auch selbst in die Stadt
aber nicht mehr. Ein Staatsanwalt erläu- Praxis existieren Unterlagen dazu. Doch gehen, erst in Begleitung eines Mitarbei-
terte den Sinneswandel im Ausschuss: Im womöglich hätte das Gericht dem Attest ters, später ohne. Doch Mollath weigert
Ministerium herrschte Furcht, eine mög- weniger getraut, wenn es gewusst hätte, sich, an der Pforte den Metalldetektor zu
liche Freiheitsberaubung könnte allein dass es von dem ärztlich weniger erfah- passieren wie alle anderen und sich dem
auf Betreiben des Verteidigers beendet renen Sohn der Ärztin kommt. Das Ar- obligatorischen Alkoholtest zu unterzie-
werden – und die Justiz in Gestalt der gument ist schwer zu widerlegen. hen. Lieber bleibe er auf seiner Station
bayerischen Ministerin stünde als Rechts- Für Mollath hängt viel davon ab, wie und gehe gar nicht raus.
brecherin da. Er sagt: „Mein Auftrag war: das Wiederaufnahmegericht dies bewer- Eine Unterbringung in der Psychiatrie,
Führe ein Wiederaufnahmeverfahren zu- tet – aber nicht alles. Hätte man ihn als darauf hat Ministerin Merk hingewiesen,
gunsten Gustl Mollaths“ – und zwar so gewöhnlichen Rechtsbrecher verurteilt, er ist keine Strafe. Sie soll die Allgemeinheit
schnell wie möglich. wäre längst frei. Das ist ein Umstand, der vor Menschen schützen, die wegen ihrer
Krankheit zur Gefahr werden.
Vor Gustl Mollath hat man die Gesell-
schaft schon sehr lange geschützt, wo-
möglich zu lange.
Eine weitere Ironie dieser Geschichte
ist, dass ausgerechnet Beate Merk für ihre
Forderungen nach längerem Wegsperren
bisher viel Beifall bekam. Seit Jahren
steigt in Deutschland die Unterbringungs-
dauer psychisch kranker Straftäter. Wenn
nun ausgerechnet Mollaths Fall Anlass
gäbe, darüber eine Debatte zu führen,
dann wäre das nach Ansicht vieler Fo-
INGA KJER / DPA
den Verein „Whistle- man arge Probleme bekommen. sollte man sich sicher sein, dass man
blower Netzwerk“. Er SPIEGEL: Was kann man tun, wenn man dem Journalisten vertrauen kann.
arbeitete im Amt für in der Firma nicht weiterkommt? SPIEGEL: Womit muss man rechnen,
Veröffentlichungen der Strack: Als Nächstes muss man ver- wenn man als Informant auffliegt?
EU und wies auf einen suchen, sich an eine Behörde zu wen- Strack: Damit, dass der Arbeitgeber
Korruptionsverdacht in den, aber nach unseren Erfahrungen alle Mittel einsetzt, um diesen Mit-
seiner Dienststelle hin. kommt man da oft auch nicht weit. In arbeiter loszuwerden. Angesichts der
jedem Fall sollte man alles dokumen- deutschen Rechtslage kann man nie-
SPIEGEL: Wie geht man am besten vor, tieren, was man probiert hat. Natür- mandem raten, zum Whistleblower zu
wenn man wie Edward Snowden beim lich kann man immer an die Medien werden. Es gibt kein Gesetz, das klar
US-amerikanischen Geheimdienst gehen, aber da wird es gefährlich. regelt, ob und wie man Missstände
NSA bemerkt, dass der Arbeitgeber SPIEGEL: Warum? öffentlich machen darf.
gegen Gesetze verstößt oder der Strack: Wenn man nicht versucht hat, SPIEGEL: Gibt es Länder, die Whistle-
Allgemeinheit schadet? die Sache in der Firma oder über eine blower besser schützen?
Strack: In Deutschland ist man in der Behörde zu klären, ist es in Deutsch- Strack: Eigentlich die USA. Der Schutz
Regel rechtlich verpflichtet, zunächst land nicht ohne weiteres erlaubt, inter- für Whistleblower in Unternehmen
im Unternehmen nach Hilfe zu suchen. ne Vorgänge öffentlich zu machen. Es wurde unter Präsident Obama erheb-
Gibt es jemanden, an den ich mich gibt zwar den Informantenschutz – das lich verbessert. Aber geheimdienst-
wenden kann, etwa den Betriebsrat? heißt, der Journalist muss seine Quelle liche Dokumente sind ausgenommen.
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 45
Gesellschaft Szene
Winfried weint
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Warum ein Rentner mit dem Traktor nach Mallorca fuhr
W
infried Langner, 77, hat ein Ge- hat ein Schild mit einem Reim auf dem von oben mitverfolgt. Er trägt keinen Ge-
sicht wie eine zerknitterte Land- Traktor angebracht: „Lass die Finger von hörschutz, er will den Motor rattern hören,
karte, und wenn die Tränen dar- Maschinen, die du selbst nicht kannst be- rund hundert Kilometer schafft er pro Tag.
überlaufen, gleichsam von Norden nach dienen.“ Diesem Motto gehorchend stieg Er schaut dem Auf und Ab der Landschaft
Süden, muss man einen Augenblick war- Langner niemals in Flugzeuge, weshalb zu, er kann beim Fahren die Risse erken-
ten. Seine Stimme versagt ihm dann den die Frau mehrmals ohne ihn in den Ur- nen im Asphalt, kann die Baumarten be-
Dienst, und sein Atem geht schwer. Lang- laub nach Mallorca flog, eine spanische stimmen. Joncherey, Saint-Loup, Cellieu,
ner hält sich mit der Rechten an seiner Insel voller Deutscher, die sie dem Mann Narbonne, von Norden nach Süden, Rich-
Kaffeetasse fest, in seiner Küche, in sei- als Paradies beschrieb, die Sonne, das tung Paradies. Robert braucht nur 15 Liter
nem Haus, hier, in Lauenförde an der We- Meer. Langner blieb am Boden und mach- Diesel jeden dritten Tag.
ser, wo der größte Teil seines Erlebnisse am Wegesrand:
Lebens dahinfloss wie ein Ein Winzer lädt ihn auf sei-
langer, ruhiger, freundlicher nen Hof ein; die Gendarmerie
Fluss. Sechs Kinder schenkte eskortiert ihn zum Camping-
ihm die Frau, immer abwech- platz; er fährt nachts ein paar
selnd Junge, Mädchen, Junge, Kilometer auf der Autobahn,
Mädchen, Junge, Mädchen, eine Abkürzung. Oft applau-
ein Wunder. Neun Enkel ka- dieren die Bürger, wenn er
men bisher dazu, eine Wand mit seinem Traktor und dem
des Wohnzimmers ist lücken- Mini-Wohnwagen im Schlepp-
los mit Dutzenden Familien- tau durch ihre Dörfer
46 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Gesellschaft
B I L L I G WA R E N
Made in Bangladesh
Am 24. April stürzt in Dhaka eine Textilfabrik ein und begräbt 3500 Menschen.
Ein staatlicher Ermittler hat dem SPIEGEL seine Ergebnisse vorgelegt. Sie erzählen
die Geschichte einer absehbaren Katastrophe. Von Hauke Goos und Ralf Hoppe
A
m Morgen des 24. April 2013, Ein „Basti“ ist eine wuchernde An- Ihrem Mann hat Shali sein Essen in einer
gegen 8.45 Uhr, stürzt in Dhaka, sammlung von einfachen Betonhäusern, Blechdose mitgegeben. Mittagspause ist
der Hauptstadt von Bangladesch, mit Blech- und Wellblechdächern, dazwi- um 13 Uhr, eine Stunde.
das Rana Plaza zusammen, ein neunstö- schen labyrinthische Pfade, halbnackte Die normale Schicht dauert oft bis 20
ckiges Fabrik- und Bürohaus. Mehr als Kinder spielen zwischen Pfützen und Tüm- Uhr. Häufig werden Überstunden ange-
3500 Menschen sind zu diesem Zeitpunkt peln, überall Verschläge mit Hühnern, eine ordnet, bis 22 Uhr. Auf dem Heimweg
in dem Gebäude, 1129 sterben in den Rotte kleiner Schweine durchstreift das kauft Shali noch ein, gegen 23 Uhr ist sie
Trümmern. Am Abend beginnt Mai- Basti Madjipur. Etwa 100 000 Menschen le- zu Hause. Ihr Sohn schläft dann schon.
nuddin Khandaker, hoher Beamter im ben hier. Alle arbeiten in den umliegenden In elf Jahren haben die beiden 20 000
Innenministerium, mit den Ermittlun- Textilfabriken, viele im Rana Plaza. Taka gespart, 200 Euro. Mohammed Ba-
gen. Es ist 5.30 Uhr an diesem Morgen, als dul träumt davon, eines Tages einen Fri-
Sechs Wochen später. Khandaker sitzt Mohammed Badul und seine Frau Shali seurladen zu eröffnen.
in seinem Wohnzimmer in einem holz- aufstehen. Badul arbeitet im Rana Plaza, Auch Fahima und ihr Mann Abu Said
geschnitzten Lehnstuhl, er ist ein Herr bei einer Firma namens Phantom Appa- wohnen im Basti Madjipur. Beide stam-
von Anfang sechzig, mit einer men aus dem Dorf Bodergond im
Goldrandbrille und einer leisen Norden von Bangladesch. Vor
Stimme. Sein Haus liegt im Regie- sechs Jahren kamen sie nach Dha-
rungsviertel von Dhaka. Draußen ka.
ist es längst Nacht geworden, das Sie mussten ihr Dorf verlassen,
Zimmer wird nur erhellt von einer Arbeit suchen, um ihre Schulden
Neonröhre, vor der Nachtfalter zurückzahlen zu können: Abu
flattern. Khandaker balanciert eine Said hatte sich Geld geliehen,
Schale mit blauschwarzen Beeren 50 000 Taka, 500 Euro, weil er eine
auf den Knien. eigene Farm aufbauen wollte.
Er hat in den vergangenen Jah- Zusammen verdienen sie etwa
ren mehr als 40 Fälle untersucht, in 12 000 Taka im Monat, 120 Euro.
denen eine Fabrik in Flammen auf- Etwa 500 Taka können sie im Mo-
INDRANIL KISHOR / AG. FOCUS / DER SPIEGEL
einen Fernseher, zwei Stück Seife. Sie be- werke – nach deutscher Zählart – sind Khandaker, der Ermittler. Und also kaufte
sitzen einen Korb mit Kleidungsstücken, bereits bezogen, ein achtes ist seit kur- Rana Land.
drei Paar Flip-Flops, einen Topf, Besteck, zem im Bau. Über dem Eingang steht, Als Sohel Rana seine Karriere plante,
etwas Geschirr. in geschwungenen Buchstaben: „Rana war Dhaka bereits eine wuchernde Stadt.
Wie fast alle, die hier untergekommen Plaza“. Jedes Jahr kamen Hunderttausende aus
sind, bewohnen Shefali, Shirin und Im ersten Stock ist eine Filiale der Brac den Dörfern, jedes Jahr wurden neue Tex-
Nawshad zusammen nur ein Zimmer, Bank untergebracht, an der Eingangstür tilfabriken gebaut. Und die Menschen
2000 Taka Monatsmiete, 20 Euro. Viele hängt seit gestern ein Schild: closed, ge- brauchten Wohnungen, Häuser, die Fa-
dieser Häuser hat derselbe Mann bauen schlossen. Kein gutes Zeichen, denkt Fa- brikanten brauchten Produktionsflächen.
lassen, der auch Rana Plaza hochziehen hima. Ranas Vater hatte früh ein Stück Land
ließ: Sohel Rana, der Pate von Madjipur. Im Tresor der Bank liegen zehn Millio- gekauft, der Sohn kaufte dazu. Das Ge-
Rana ist ein Mann von Mitte dreißig, nen Taka. Die Bankbeamten hatten es so lände war sumpfig und deshalb billig.
klein, aufgeschwemmt. Er wohnt in der eilig, sich in Sicherheit zu bringen, dass Rana ließ den Sumpf mit Sand und Müll
Bazar Road, in einem fünfstöckigen Haus, sie das Geld zurückgelassen haben. auffüllen. 2007 begann er mit dem Bau
das am Ende einer Gasse steht, mit einem Am Eingang steht Sohel Rana, er redet eines mehrgeschossigen Gebäudes. Rana
Blechtor gegen Besucher geschützt. Wenn auf die Fabrikbesitzer ein. Man müsse Plaza sollte der Beginn einer großen Kar-
er das Haus verlässt, wird Rana von Body- keine Angst haben wegen der paar Risse. riere sein.
guards bewacht. Jemand werde sich um das Problem küm- Sechs Ämter müssen eigentlich zustim-
Er ist Mitglied in der Jugendorganisa- men, wenn es um den Bau einer Fabrik
tion der regierenden Awami-Partei. In sei- Ein Land, das so in Bangladesch geht: das Industrieminis-
nem Basti hat Rana in diesen Tagen Pla- terium, das Arbeitsministerium, das In-
kate von sich aufhängen lassen, es gibt schnell wächst, kann sich nenministerium, das Amt für Feuersicher-
Leute hier, die Rana schon als Parlaments- heit und Zivilschutz, das Umweltamt, das
abgeordneten sehen. nicht lange mit Board of Investment, außerdem die
Aber an diesem Morgen hat Sohel BGMEA, die Organisation der Textilpro-
Rana ein Problem. Im Rana Plaza sind Vorschriften aufhalten. duzenten und -exporteure. Rana umging
Risse aufgetreten, sie durchziehen die diese Auflagen, indem er das Plaza als
Wände wie auch die tragenden Pfeiler. mern. Gestern noch hatten die Manager Büro- und Ladengebäude deklarierte. Er
Und die Mieter, vor allem diese verdamm- alle fünf Textilfabriken geschlossen und bediente sich der Kontakte seines Vaters,
ten Fabrikbesitzer, machen sich Sorgen. die Arbeiter mitten am Tag nach Hause er unterstützte den Wahlkampf eines Par-
geschickt; 3500 Menschen, auch Fahima, lamentsabgeordneten mit Geld. So funk-
Dhaka, Madjipur Bazar Road, Mohammed Badul, Shefali und Shirin, tioniert das System Bangladesch.
Rana Plaza, 7.30 Uhr die beiden Schwestern. Dann waren zwei Ein Land, das so schnell wächst, kann
Ein paar hundert Menschen haben sich Fachleute gekommen und hatten die Ris- sich nicht lange mit Vorschriften aufhalten.
vor dem Rana Plaza versammelt. Auch se begutachtet. Wenn schließlich ein Gebäude dasteht,
Mohammed Badul, der Mann, der auf ei- Kann die Schicht beginnen? Oder ist mit Maschinen darin, wenn in ihm gear-
nen Friseurladen spart, ist unter ihnen, das Gebäude nicht mehr zu retten? beitet wird und Geld ins Land kommt,
ebenso wie Fahima und Abu Said, das Dass ausgerechnet Sohel Rana diese fragt keiner nach Genehmigungen.
Paar, das nicht mal eine Matratze besitzt. Entscheidung trifft, bedeutet Tod und Ver- Im Jahr 2008 feierte Rana die Eröff-
Sie haben Angst. Noch eine halbe Stunde, derben für viele. nung. Das Haus hatte zu dünne Zwischen-
bis die Schicht beginnt – falls die Schicht Sohel Rana ist schon in Dhaka geboren. decken, es war eilig hochgezogen worden;
beginnt. Sein Vater war Anfang der achtziger Jah- die Maurer, heißt es, hatten nie zuvor ein
Das Rana Plaza überragt die umliegen- re hergekommen, Sohel wuchs hier auf, so hohes Gebäude gebaut. Der Beton war
den Häuser, die unteren Geschosse hat besuchte die Adharchandra Highschool. mit zu viel Sand versetzt, der Boden
Rana mit einer blau spiegelnden Glas- „Er wollte vor allem Geld verdienen, nachgiebig. All dies würde Khandaker,
front verkleiden lassen. Sieben Stock- das war das Wichtigste für ihn“, sagt der Ermittler, später herausfinden.
50 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Gesellschaft
Rana baute in seinem Basti neue Un- stapelt Mohammed Badul Jeans in Kar-
terkünfte für Arbeiter, er stieg ins Dro- tons, Badul, der so gern Friseur wäre.
gengeschäft ein, vier Morde soll er in Auf- Dhaka, mit seinen 16 Millionen Ein-
trag gegeben haben. Khandaker, der wohnern, ist eine Stadt der Zuwanderer,
Ermittler, erzählt, dass Rana selbst dro- ein verhasster Sehnsuchtsort. Manche
genabhängig gewesen sei. Er trank, und kommen hierher, um später mit etwas Er-
vor allem konsumierte er Phensedyl, spartem wieder zurückzukehren in ihre
einen Hustensaft, der als „Purple Drank“ Dörfer, wie Fahima und Abu Said. Ande-
beliebt ist. re wollen hierbleiben und ein neues Le-
Don’t make my life miserable, das sagt ben aufbauen, wie Mohammed Badul.
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 51
unternehmer abgeben zu müssen, um
nicht womöglich einen Auftrag zu verlie-
ren. Das führte zu ständigem Termin-
druck.
Das setzt auch die Arbeiter unter
Druck. Sie können sich kaum widerset-
zen. Ihr monatliches Einkommen ist so
knapp bemessen, dass Fahima und ihre
Kolleginnen es an jenem Morgen nicht
wagten, dem Fabrikbesitzer zu widerspre-
chen, als er sie an ihre Arbeitsplätze be-
fahl. Blieben für Fahima, die Schwestern
Shirin und Shefali, für Mohammed Badul
ein, zwei Monatslöhne aus, würde das
ihre Ersparnisse aufzehren.
Gegen 8.30 Uhr fällt im Rana Plaza der
Strom aus. Automatisch springen jetzt
die tonnenschweren Generatoren an.
ULLSTEIN BILD
Dhaka, Rana Plaza, circa 8.45 Uhr
Sechs bis zehn Minuten dauert es, bis in
Immobilienunternehmer Rana nach seiner Festnahme: „Fallt mir nicht auf die Nerven!“ der Südwestecke des Gebäudes der erste
Pfeiler einknickt.
arbeiten in fünf Reihen, 70 Industrienäh- mark, überall dort, wo ein T-Shirt verlo- Dann geht alles sehr schnell. Shefali
maschinen pro Reihe. Kein Ventilator, kei- ckend wenig kostet, 4,99 Euro, 3,99 Euro, spürt, wie unter ihr der Fußboden weich
ne Klimaanlage. Es wird nicht gern gese- fast nichts. Ein solcher Preis setzt voraus, wird, nachgibt. Ihr Blick sucht ihre
hen, wenn eine Arbeiterin ihren Platz ver- dass Käufer und Produzenten so wenig Schwester, in der Kragenabteilung. Aber
lässt. Dennoch geht Shefali manchmal auf wie möglich voneinander wissen. Von Shirin ist nicht da. Und dann ist der Bo-
die Toilette, nur um sich etwas Wasser ins den Bedingungen, unter denen das T-Shirt den weg, und Shefali fällt.
Gesicht zu spritzen. Shirin näht Kragen. entstanden ist, will der Kunde in London Vier Stockwerke tiefer, in der zweiten
Ganz unten in der Hierarchie einer oder München nicht wirklich hören. Er Etage, fühlt Fahima, die Näherin für Gür-
Nähetage stehen die „helper“, Leute, die will ein T-Shirt, kein Schicksal. telschlaufen, einen gewaltigen Schlag. Al-
Stoff anreichen, zwischen den Abteilun- Fahima und ihre Kolleginnen wieder- les versinkt in Staub und Dunkelheit. Sie
gen hin- und herwechseln. Darüber ste- um ahnen nicht, dass die Arbeit, an der rennt in Richtung Verpackungsabteilung,
hen die „sewing operators“, die Näherin- ihr Überleben hängt, in den Ländern des zu ihrem Mann, Abu Said. Sie hört den
nen, Frauen wie Shefali und Shirin. Über Westens so gut wie keinen Wert hat. Dass Supervisor schreien: Alle raus! Dann sind
eine Gruppe von Näherinnen wacht die ein T-Shirt ein Wegwerfartikel ist. sie in der Nähe des Treppenhauses. Über-
Supervisorin, sie achtet darauf, dass das In Läden wie H&M oder Zara ver- all Menschen, die schreien, weinen, wim-
Tempo gehalten wird. schwindet die Geschichte eines Produkts mern, sie drängen panisch zum Ausgang.
Darüber steht der „line chief“, der eine hinter lauter Musik und greller Marken- Warte! Sonst werden wir zertrampelt,
der fünf Reihen überwacht. Alle fünf inszenierung. Sichtblenden, hinter denen schreit Fahimas Mann. Dann werden sie
„line chiefs“ bei New Wave Style sind getrennt.
Männer. Für die ganze Etage ist der Ihr Blick sucht die Mohammed Badul, im dritten Stock,
„floor in charge“ verantwortlich. befindet sich, als das Gebäude zusam-
Zehn Hierarchiestufen gibt es insge- Schwester, aber dann ist menbricht, in der Mitte der Etage. Zum
samt, Shefali und Shirin stehen auf Stufe Treppenhaus ist es zu weit für ihn. Aber
zwei. Shefali hofft, eines Tages zum „line der Boden weg, er kann sich unter einen schweren Holz-
chief“ befördert zu werden, dann würde tisch retten.
sie 14 000 Taka verdienen. Damit wäre und Shefali fällt. Auch Sohel Rana ist in seinem Büro,
die Zukunft von Nawshad, ihrem Bruder, als das Gebäude zusammenstürzt. Die
gesichert. Agenten, Zwischenhändler und Vermitt- Garage erweist sich als verhältnismäßig
ler dafür sorgen, dass der globale Tausch- sicher, eine Art Luftschutzkeller. Rana
Dhaka, Rana Plaza, circa 8.30 Uhr handel funktioniert. Auch in Dhaka gibt wird verschüttet, er bleibt unverletzt.
Fahima, im zweiten Stock, kann sich an es solche Agenten. Bei ihnen laufen die Der Einsturz dauert kaum länger als
diesem Morgen schwer konzentrieren. Aufträge der großen Ketten ein, sie ver- 90 Sekunden. „Das Gebäude wurde zu-
Immer wieder blickt sie hinüber zu den mitteln die Bestellungen weiter an ein- sammengedrückt wie ein Sandwich“, sagt
Rissen. heimische Fabriken. Mainuddin Khandaker, der Ermittler.
Die Risse sind mittlerweile auch hinauf Es läuft so: Der Auftraggeber, etwa Das Rana Plaza war ein Gebäude, das
in den dritten Stock gewandert, wo Mo- H&M, schickt eine Designprobe nach es niemals hätte geben dürfen. Gebaut
hammed Badul Jeans verpackt. Dhaka. Der „middleman“, der Agent, auf sumpfigem Gelände, mit schlechtem
Etwa 3500 Menschen haben sich an die- kennt Fabrikanten und Produktionsstät- Material, ohne Know-how und ausrei-
sem Morgen im Rana Plaza an ihren Ar- ten. Er sucht eine geeignete aus. chende Prüfungen – aber kein Einzelfall.
beitsplatz begeben, obwohl die Einsturz- In den vergangenen Jahren hatten die Experten schätzen, dass von den 240 000
gefahr augenfällig war. meisten Fabrikbesitzer in Bangladesch industriell genutzten Gebäuden in und
Dennoch gingen sie hinein. mehr Aufträge angenommen, als sie ab- um Dhaka etwa ein Drittel in einem ähn-
Warum? arbeiten konnten. Denn sie müssen Löh- lich gefährlichen Zustand ist.
Ein Teil der Antwort findet sich nicht ne zahlen, Darlehen tilgen, Miete an Leu- Eigentlich müssten diese Fabriken so-
in Bangladesch, sondern in unseren Städ- te wie Rana entrichten. Sie nahmen in fort geschlossen werden. Aber das wird
ten, bei H&M, bei Zara, bei Next und Pri- Kauf, einen Teil der Bestellung an Sub- nicht passieren. Ohne diese lebensgefähr-
52 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Meter hoch. Sie wird noch am selben
Abend geborgen, mit einer schweren
Kopfverletzung. Ihr Mann Abu Said
kommt in den Trümmern um. Fahima
wird ihn 16 Tage nach dem Unglück an-
hand der Nummer auf seiner Lochkarte
identifizieren – und anhand der Dose Kau-
tabak, die in seiner Hosentasche steckt.
Sohel Rana ist zu diesem Zeitpunkt
schon auf der Flucht. Er war als einer der
Ersten gerettet worden – seine Body-
guards hatten ihn übers Handy-Klingeln
54 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Gesellschaft
Nullstellen
HOMESTORY Die 16-jährige Mona Steininger
erwartet von ihrer Schule Antworten auf
Fragen unserer Zeit – und bekommt sie nicht.
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 55
Trends
T E L E KO M M U N I K AT I O N
damit, die von der OECD macht Ernst mit ihrem Kampf ge- im vertraulichen Entwurf des Aktionsplans.
Bundesregierung gen Steueroasen. In der vergangenen Wo- Die Experten schlagen vor, dass die Staa-
gesteckten Breit- che verabschiedeten hochrangige Vertreter ten in ihren nationalen Steuergesetzen,
bandziele nicht von Finanzministerien im Steuerausschuss aber auch in internationalen Abkommen
Rösler mehr erreichen zu der Organisation einen Aktionsplan, mit untereinander solchen Praktiken einen Rie-
können, sollte der dem sie Ansprüche gegen notorische gel vorschieben. Der Aktionsplan richtet
Entwurf des Wirtschaftsministers wie Steuervermeider wie Google oder Apple sich zudem gegen „schädlichen Steuerwett-
geplant noch vor der Sommerpause im durchsetzen können. Die Experten wollen bewerb“, bei dem sich Länder mit immer
Kabinett verabschiedet werden. Rösler verhindern, dass international agierende niedrigeren Tarifen gegenseitig unter
hatte mit seiner Verordnung zur Netz- Unternehmen ihre Gewinne etwa durch Druck setzen. Ins Visier nimmt der Plan
neutralität auf die Pläne der Deutschen überhöhte Verrechnungspreise oder Li- nicht nur klassische Steueroasen, sondern
Telekom AG reagiert, bei bestimmten zenzgebühren von Hochsteuerländern in auch EU-Mitgliedstaaten wie Irland oder
Tarifen die Geschwindigkeit der Über- Standorte verlagern, in denen ein niedri- die Niederlande, die Unternehmen Steu-
tragung zu drosseln. Nach seinen Vorstel- gerer Tarif gilt oder auf bestimmte Einnah- ersparmodelle anbieten. Beim nächsten
lungen sollten alle Dienste im Internet men gar keine Steuern anfallen. Multi- Finanzministertreffen der führenden Indu-
unabhängig vom jeweiligen Anbieter nationale Konzerne hätten solche „Präfe- strie- und Schwellenländer (G 20) Mitte Juli
gleich behandelt, bezahlt und von den renzregime“ immer wieder missbraucht, soll der Aktionsplan vorgestellt werden.
Netzbetreibern transportiert werden.
GASMARKT
niert und sich mit seinen Forderungen
weitgehend durchgesetzt. So muss
Gazprom für den Zeitraum von drei
Teure Niederlage Jahren mehr als eine Milliarde Euro an
den Essener Konzern zurückzahlen.
Für den russischen Energiemulti Mit dem nicht mehr anfechtbaren
MAXIM SHIPENKOV / EPA / DPA
GESUNDHEIT
Bürgerversicherung verfassungswidrig?
Die Pläne der Grünen zur Einführung Zugleich will die Partei die beitrags-
einer Bürgerversicherung verstoßen freie Mitversicherung für Ehegatten
aus Sicht des Bundesgesundheitsminis- einschränken. Sie soll nur noch für
KARRI EREN
WÄ H R U N G S U N I O N
Z
u Flamenco-Klängen stolzierten habe „die beste Bank der trotz aller Sanierungsanstren-
spanische Top-Models auf die Büh- Welt“, die meisten installier- gungen ungewiss ist. Und
ne. Sie trugen knapp sitzende Klei- ten Solarpanels und ein gro- trotz aller Reformen wachsen
der der angesehensten Designer ihres ßes Herz, heißt es in einem in Spanien noch immer vor
Landes und präsentierten Teller mit küh- Werbevideo. Auch bei der allem Staatsschulden und Ar-
nen Tapas-Kreationen spanischer Köche. Zahl der Organspender gebe beitslosigkeit, während die
Mit der Show inszenierten die Spanier, es kein Land, das die Iberer übertreffen Wirtschaft in der Rezession verharrt. Da-
mitten im Europäischen Parlament, im könne. bei gehört Spanien noch zu den hoff-
Juni eine Art Wiedergeburt. „Wir haben Doch ein paar reizende Models und nungsvolleren unter den europäischen
der Welt etwas zu bieten. Wir sind nicht das stolze Herz eines Stierkämpfers wer- Sorgenkindern. Seit vier Jahren frisst sich
nur das Land der Krise“, sagt der Außen- den nicht reichen, um Spanien und den die Staatsschuldenkrise durch den Konti-
minister José Manuel García-Margallo. Er Rest Südeuropas aus der Krise zu führen. nent. Ebenso lange doktern die Krisen-
will mit der Mischung aus Modenschau Neben der in dem Video gelobten Ban- manager in Brüssel, Berlin und bei der Eu-
und Köche-Event die „Marca España“ auf co Santander hat Spanien einen schwa- ropäischen Zentralbank (EZB) in Frank-
einer Welttournee präsentieren. Spanien chen Sparkassensektor, dessen Zukunft furt am Main an den Patienten herum.
3
2005 3
5,5 9 6,5 9
+3 +3
–3 –1,5 –3
–2,3
0 0
–5 –5
–10 10
Quelle: EU-Kommission
58
Nach der Ankündigung des EZB-Prä- men streiten sich, ob und, wenn ja, wie Doch der kommt bislang kaum voran.
sidenten Mario Draghi im vergangenen sie da wieder herauskommen. Und das, so glauben viele Politiker und
Sommer, alles zu tun, um den Euro zu Hans-Werner Sinn, Chef des Münch- Ökonomen in den Krisenländern, liegt
erhalten, entspannte sich zwar die Lage ner Ifo-Instituts, plädiert für einen zeit- vor allem an der strengen Austeritäts-
in der Euro-Zone. lich begrenzten Austritt von Krisenlän- politik, für die sie die deutsche Kanzlerin
Doch jetzt zeigt sich, wie trügerisch dern aus dem Euro. Ihre Produkte seien Angela Merkel verantwortlich machen.
diese Ruhe war. Seit US-Notenbankchef so teuer geworden, dass es für sie un- „Einen Großteil der Drecksarbeit hat
Ben Bernanke ankündigte, allmählich we- möglich sei, innerhalb der Währungs- Portugal gemacht, doch es bleiben die
niger Geld in die Finanzmärkte zu pum- union konkurrenzfähig zu werden, argu- hohen Schulden und die hohe Arbeitslo-
pen, sind auch in Europa die Marktzinsen mentiert der Ökonom. Nach einem sigkeit“, sagt Pedro Santa Clara, Professor
deutlich gestiegen. Austritt könnten die Krisenländer ihre an der Nova School of Business & Eco-
Nun, da die sedierende Wirkung des neue Währung abwerten, ihre Importe nomics in Lissabon. „Es gibt für unsere
billigen Geldes nachlässt, wird klar, wel- würden teurer, die Exporte billiger. Es Probleme nur eine Lösung: Wachstum
che Risiken in den europäischen Krisen- wäre eine Rosskur, aber am Ende, so die und Investitionen.“ Auch Portugals Wirt-
staaten noch immer lauern. Und dass vie- Theorie, wäre der Patient gesund, er schaftsminister Álvaro Santos Pereira
le Probleme ungelöst sind: Nicht nur in könnte sogar wieder in die Währungs- drängt auf neue Impulse im Krisenma-
Spanien, auch in Griechenland, Italien union einsteigen. nagement: „Europa muss zum Wachstum
und Portugal wachsen die Staatsschulden „Zynisch“ findet Thomas Straubhaar, zurückfinden, Vertrauen schaffen, um
rapide – trotz Sparpolitik und teils be- Chef des Hamburgischen Weltwirtschafts- Konsum und Investitionen anzukurbeln.“
achtlicher Reformanstrengungen. instituts (HWWI), das Gerede von der Doch die Bundesregierung will eisern
Denn die Regierungen kürzten auf „Abwertung, und dann wird alles gut“. am eingeschlagenen Kurs festhalten. „Die
Druck der EU-Kommission, der EZB und In welchen Bereichen, fragt er, soll denn schwache wirtschaftliche Lage in der
des Internationalen Währungsfonds Griechenland wettbewerbsfähig werden? Euro-Zone ist kein Grund, von der Doppel-
(IWF), der sogenannten Troika, zwar die Außer dem Tourismus und einigen Agrar- strategie nachhaltiger fiskalischer Konso-
Staatsausgaben, gleichzeitig brachen aber produkten gebe es da nichts. lidierung kombiniert mit Strukturrefor-
die Einnahmen infolge der Rezession weg. „Wer austritt, verliert“, sagt Straub- men abzuweichen“, heißt es in einer in-
Hinzu kommt, dass die verheerend hohe haar, und deshalb werde kein Land frei- ternen Vorlage des Finanzministeriums.
Arbeitslosigkeit auch höhere Staatsaus- willig die Währungsunion verlassen. Ein Der bisherige Kurs sei erfolgreich.
gaben verursacht. Aufbau einer Wirtschaftsstruktur sei in- Das strukturelle Defizit der Euro-Zone
Die Krisenstaaten sind in einer Ab- nerhalb eines Transfergebiets wesentlich habe sich seit 2009 mehr als halbiert, die
wärtsspirale gefangen. Und die Ökono- besser zu bewerkstelligen. Lohnstückkosten, ein wichtiger Indika-
tor für die Wettbewerbsfähigkeit, seien
„deutlich gesunken“. Die andauernde
Wachstumsschwäche im gemeinsamen
Währungsgebiet sei „Ausdruck des tief-
ITALIEN GRIECHENLAND
greifenden Anpassungsprozesses, den die
Euro-Zone momentan durchläuft, und
keineswegs monokausal auf die Haus-
2005 2013 2005 2013 haltskonsolidierung zurückzuführen“.
3 3 Diese Entwicklung sei „mittelfristig för-
2,9 3,8 derlich für das Wachstum“. Finanzmi-
9 9 nister Schäubles Beamte warnen ein-
dringlich davor, jetzt „den notwendigen
15 Anpassungsprozess“ zu bremsen. Eine
Abkehr vom Sparkurs würde „die posi-
+3 +3 tive Entwicklung der letzten Monate aufs
Spiel setzen“.
–1,3 –3 –3 Klaus Regling, Chef des Europäischen
–4,2 Rettungsfonds ESM, springt Schäuble bei.
„Die Euro-Programmländer erleben, was
27,0
vor einigen Jahren IWF-Programmländer
20 wie Brasilien, Südkorea oder die Türkei
11,8 9,9 erlebt haben.“ Die betroffenen Menschen
7,7 10 10 sollten daran denken, dass diese Länder
dank Strukturreformen und Geduld heute
2005 2013 2005 2013 beeindruckende Wachstumsraten aufwei-
sen, sagte Regling.
5 Auch Merkel bremste auf dem EU-
Gipfel in der vergangenen Woche jede
0 0
Initiative, schnell mehr Geld für Kon-
–5 –5 junkturprogramme lockerzumachen. „Wir
–10 –10
müssen erst einmal ein gemeinsames Ver-
ständnis dafür entwickeln, was für
Wachstum wichtig ist.“ Sie warb bei ihren
2005 2010 2013 2005
Kollegen Regierungschefs für eine inhalt-
liche Debatte auf dem nächsten Gipfel
im Oktober. Wachstum wolle ja jeder,
spottete sie nach dem Treffen. Für man-
che ihrer Kollegen sei das Wachstumsziel
59
NIKOLAS GIAKOUMIDIS / AP / DPA
Protest gegen die Schließung des griechischen Staatssenders ERT in Thessaloniki: „Symbol für Verschwendung und Korruption“
schon erreicht, wenn die staatlichen In- ben und damit in die Endrunde zu kom- ern, halten Skeptiker für ein statistisches
vestitionen hochgefahren werden. men. Wer im Finale das Rennen macht, Phänomen: In der Krise gehen unproduk-
Im Dezember sollen die Grundlagen für darf fortan als Bibliothekar im benach- tive Arbeitsplätze verloren, damit steigt
Verträge zwischen der EU-Kommission barten 10 000-Einwohner-Städtchen Pog- die Produktivität der verbliebenen – rein
und einzelnen EU-Ländern geschaffen wer- gio a Caiano arbeiten: 26 Stunden in der rechnerisch – automatisch.
den. Erst dann wird es eine Art Solidar- Woche, für 900 Euro netto im Monat. Die eigentlichen Probleme liegen in der
fonds zwischen den Euro-Ländern geben. Arbeit ist rar geworden in Italien, be- Wirtschaftsstruktur. So wuchs in den Jah-
Mehr Geld soll es, so sieht Merkels Plan sonders für junge Menschen. 40,5 Prozent ren vor der Krise in Spanien wegen der
aus, nur gegen völkerrechtlich bindende, der unter 25-Jährigen sind ohne Job, im niedrigen Zinsen vor allem das Baugewer-
fest vereinbarte Reformen geben. Die Bun- Süden sind es 50 Prozent. Und wer eine be. „Im Immobilienboom haben viele Ju-
deskanzlerin weigerte sich in Brüssel stand- Beschäftigung hat, hangelt sich meist von gendliche ihre Ausbildung abgebrochen
haft, vor einer solchen Verabredung über- einer Befristung zur nächsten. und sind in die Bauwirtschaft gegangen,
haupt über konkrete Summen zu reden. Noch schlimmer als in Italien ist die meist mit Zeitverträgen ausgestattet“, sagt
Immerhin beschlossen die Regierungs- Lage in den südeuropäischen Nachbar- Federico Steinberg, Professor am Real In-
chefs beim Gipfel, sechs Milliarden Euro ländern. Mehr als die Hälfte der unter 25- stituto Elcano in Madrid. Diese Leute ste-
zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosig- Jährigen hat in Spanien und Griechen- hen jetzt ohne Job und Ausbildung da.
keit auszugeben und die Kreditvergabe land keine Arbeit, 42,5 Prozent sind es Spaniens Wirtschaftsstaatssekretär Fer-
an kleinere Unternehmen zu fördern. in Portugal. Während Politiker in Deutsch- nando Jiménez Latorre gibt sich dennoch
Doch an den grundsätzlichen Proble- land die verheerenden Zahlen meist lapi- überzeugt, dass die angeschobenen Ar-
men ändert das wenig. Die Krise am Ar- dar damit erklären, die Volkswirtschaften beitsmarktreformen wirken. „Spanien
beitsmarkt und im Finanzsektor, die Re- am Rande Europas seien eben nicht wett- wird flexibler“, sagt er. „In Zukunft dürf-
zession und die politische Lähmung in ei- bewerbsfähig und müssten billiger wer- te schon ein Wachstum von einem Pro-
nigen südeuropäischen Staaten – all das den, halten die Südländer dagegen. zent reichen, um neue Jobs zu schaffen.“
ist mit ein paar zusätzlichen Milliarden „Zu Spanien gehört auch, dass wir län- Doch woher soll das Wachstum kom-
nicht zu lösen. ger als in den meisten Ländern Europas men? „Spanien hat eine sehr restriktive
arbeiten“, sagte Außenminister García- und damit konjunkturfeindliche Haus-
Die Job-Misere Margallo am Rande der Modenschau im haltspolitik. Das ist gut, um die Wettbe-
Im Sportpalast der nordtoskanischen Europaparlament. Und Paloma López, werbsfähigkeit zu erhöhen, aber zusam-
Stadt Prato, wo sonst Hallenfußball- zuständig für Arbeitsmarktpolitik bei der men mit einer nur mäßig expansiven
Pokale ausgespielt werden oder Fliegen- Gewerkschaft CCOO, betont: „60 Pro- Geldpolitik und einem starken Euro er-
fischer die beste Wurftechnik prämieren, zent der Spanier verdienen weniger als würgt das die spanische Wirtschaft“, dia-
kämpften kürzlich 700 junge Menschen 1000 Euro im Monat.“ gnostiziert Ökonom Steinberg.
aus ganz Italien um einen besonders kost- Zudem sind in Spanien und anderen
baren Preis: um einen Arbeitsplatz. Ländern in den vergangenen Jahren die Die Rezession
Mancher war sogar aus dem fernen Si- Lohnstückkosten gesunken, die Leistungs- „Basta de Exploração“ steht auf den Pla-
zilien angereist, um 30 möglichst gute bilanzdefizite wurden kleiner. Doch was katen an der Praça dos Restauradores in
Antworten auf 30 knifflige Fragen zu ge- die einen als Erfolg der Reformpolitik fei- Lissabon, genug der Ausbeutung. Mit
60 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Wirtschaft
dem Slogan hatten die beiden großen Ge- klopft. Sie hatten sich über Eckpunkte Rolle spielen, ebenso die Europäische
werkschaften Portugals zum General- für die europäische Bankenunion ge- Investitionsbank“, sagt Portugals Wirt-
streik aufgerufen. Und während die Re- einigt, die eine gemeinsame Aufsicht über schaftsminister Pereira.
gierungschefs vergangene Woche in Brüs- die Branche und ein Abwicklungsregime Die EZB aber hatte zwar die Möglich-
sel ihr Sechs-Milliarden-Euro-Pflaster für für marode Institute vorsieht. keit angedeutet, über Umwege auch Un-
die Heilung der Arbeitslosenepidemie fei- „Wir kommen weg davon, dass die ternehmenskredite aufzukaufen. Doch
erten, standen in Lissabons Altstadt Steuerzahler immer wieder für die Ban- weil ein solcher Schritt intern höchst um-
Trams und Busse still. Tausende Men- ken geradestehen sollen“, jubelte Merkel. stritten ist, gab EZB-Chef Mario Draghi
schen protestierten gegen die von der Als „wichtigen Schritt“ empfand Spa- den Plan wieder auf. Die Politik, fordert
Troika verordnete Sparpolitik. niens Wirtschaftsminister Luis de Guin- er stattdessen, müsse endlich mit den Re-
Die portugiesische Regierung trägt den dos die Einigung. Im Krisenland Irland formen Ernst machen.
Sparkurs zwar mit, doch inzwischen for- sprach man gar von einem Meilenstein.
dert Lissabon im Gegenzug ganz offen Das Problem ist nur, dass jeder Euro- Die überforderte Politik
Unterstützung aus Brüssel und Berlin. Politiker von der Bankenunion etwas an- Die Stimmung war explosiv, als der grie-
„Ohne solide Staatsfinanzen ist kein deres erwartet, weshalb sich jeder über chische Premierminister Antonis Samaras
Wachstum möglich“, sagt Wirtschaftsmi- etwas anderes freut und die entscheiden- neulich kurzerhand die Schließung des
nister Pereira. „Aber ohne Wachstum ist den Fragen offen sind. Staatsrundfunks ERT anordnete. Das staat-
es auch kaum möglich, den Haushalt ins Die Krisenländer erhoffen sich, dass liche Medienimperium sei ein „Symbol
Gleichgewicht zu bringen.“ künftig mehr Lasten maroder Banken ge- für Verschwendung und Korruption“ ge-
Der Minister kann auf die jüngste Dia- meinschaftlich vom ESM getragen wer- wesen, lautete seine schlichte Begründung.
gnose des IWF verweisen. „Der soziale den. Deutschland sähe es lieber, wenn Der eigenmächtige Akt des Minister-
und politische Konsens schwächt sich jedes Land weiterhin vor allem selbst für präsidenten führte zu einer Welle der
stark ab, die wirtschaftliche Erholung er- seine kranken Banken geradesteht. Und Empörung, die beinahe die Regierung
weist sich als schwer realisierbar“, kon- alle wollen zumindest suggerieren, dass mitgerissen hätte. Schließlich war es die
statierten die Experten des Währungs- künftig die Gläubiger und nicht mehr politische Klasse selbst, die die Vettern-
fonds Anfang Juni. Das Troika-Programm Steuerzahler für Verluste aufkommen wirtschaft bei dem Sender maßgeblich
entbehre weiterer Instrumente zur kurz- müssen – aber ohne die Geldgeber der betrieben hatte. In mehreren zähen
fristigen Steigerung der Wettbewerbsfä- Banken zu sehr zu verschrecken.
higkeit. Deshalb werde der Nachfrage- De facto ist in der Zukunft unklar, wer
rückgang sich fortsetzen, er könne nicht welche Lasten trägt und die Banken mit Rettungsmaßnahmen
durch mehr Exporte kompensiert werden. dringend notwendigem Kapital aufpäp- für ausgewählte Länder in der Euro-Krise,
Ähnlich wie den Portugiesen geht es pelt. Damit aber hemmen Europas Zom- Programmvolumina in Mrd. Euro
auch Spaniern, Griechen und Italienern. bie-Banken weiter die wirtschaftliche
Überall macht sich Frust darüber breit, Erholung. GRIECHENLAND
dass die Opfer nichts bringen, weil das Die Geldnot der Finanzkonzerne ver-
Erstes Rettungspaket
Wachstum fehlt. „Wir brauchen die Mit- schärft die Kreditklemme: Seit Jahren Euro-Zone und IWF
wirkung Europas, um die Krise zu bewäl- vergeben Banken in den Krisenländern 73
tigen“, sagt der spanische Wirtschafts- weniger Darlehen. Und wenn sie Geld
staatssekretär Latorre. verleihen, dann zu höheren Zinsen als
Mindestens 60 Milliarden Euro müssten Konkurrenten in Deutschland. Allein in
mobilisiert werden, um die aktuelle Italien ging das Kreditvolumen 2012 um 163,7 Zweites Rettungspaket
Wachstumsschwäche in Europa zu über- fast 50 Milliarden Euro zurück. EFSF und IWF
winden, meint Guntram Wolff, Chef des Das liegt auch daran, dass die Rezessi- Ankauf von Staatsanleihen
einflussreichen Brüsseler Forschungsinsti- on Firmen und Haushalte in die Insolvenz 30,8
durch die EZB*
tuts Bruegel. Auch in Deutschland würde stürzt. Die Kreditausfälle reißen neue Lö-
eine stärkere Binnennachfrage aus Sicht cher in die Bankbilanzen. Also halten die PORTUGAL
des Wissenschaftlers helfen. Die öffent- Geldhäuser ihre Mittel zusammen.
liche Hand müsse bei den Zukunftsinves- Besonders hart trifft das kleine und Rettungspaket
titionen, in der Forschung etwa oder bei mittlere Unternehmen, die wiederum in EFSF, EFSM und IWF
Kindertagesstätten, endlich mehr ausge- Ländern wie Portugal mehr als 90 Pro- 78
ben. „Ein Boom wäre gut für Deutsch- zent der Arbeitsplätze stellen. Ankauf von Staatsanleihen
land – und für Südeuropa“, sagt Wolff. Fragt man die Banken, warum sie knau- 21,6 durch die EZB*
Er fordert deshalb eine Veränderung der sern, verweisen sie nicht etwa darauf,
deutschen Schuldenbremse: Staatliche dass die Firmen in Spanien, Portugal oder SPANIEN
Investitionen sollten wieder mit einem Italien weniger wettbewerbsfähig wären.
Defizit finanziert werden können. Es sind vielmehr die allgemeine Unsicher-
Doch Brüssel und Berlin bügeln solche heit über die Zukunft der Euro-Zone und 43,7 Ankauf von Staatsanleihen
durch die EZB*
Forderungen ab. Der deutsche EU-Kom- mangelndes Vertrauen in die Konjunktur,
missar Günther Oettinger hält nichts wie es in einer Studie des europäischen
von zusätzlichen Konjunkturprogrammen. Finanzmarktverbands AFME heißt. Bankenrettungspaket
100 ESM
„Auch in diesem Jahr macht die EU Deswegen dürften auch die Versuche,
knapp 500 Milliarden Euro neue Schul- die Kreditklemme in Südeuropa mit Hilfe
den. Sollen wir jetzt 800 oder 1000 Mil- von Förderbanken wie der deutschen
liarden Euro Schulden machen?“, fragt er. KfW oder der Europäischen Investitions- ITALIEN
bank zu überwinden, nur begrenzt helfen.
Die Bankenkrise Südeuropäische Politiker setzen daher
99 Ankauf von Staatsanleihen
So ausgiebig wie vergangene Woche in auf die Hilfe der Europäischen Zentral- durch die EZB*
Brüssel haben sich Euro-Politiker schon bank. „Die EZB kann bei der Überwin- *Buchwert; Stand 31.Dez. 2012
lange nicht mehr auf die Schultern ge- dung der Kreditklemme eine wichtige Quellen: EZB, BMF, ESM, IWF
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 61
OLI SCARFF / GETTY IMAGES
IMAGO
Wohnblock bei Madrid, Italiens Regierungschef Letta: „Schulden steigen unausweichlich“
Krisensitzungen konnte Samaras einen noch zahlen kann, überfordert die Ämter. skeptisch. Und im Fall Griechenland
Koalitionsbruch abwenden. Etliche Euro- Auch die Justiz ist derart ineffizient, scheint ein neuerlicher Schuldenschnitt,
Partner atmeten auf, gilt Samaras doch dass der Gang vor Gericht oft weitgehend nach der deutschen Bundestagswahl, un-
als erster wirklich verlässlicher Partner sinnlos ist. Allein 150 000 Steuerstreitig- ausweichlich.
bei der Umsetzung der Reformprogram- keiten hängen dort fest. Kanzlerin Merkel und die Troika wer-
me. Einige fiskalische Ziele hat der kon- So ist es kein Wunder, dass Investoren den ihre Strategie deshalb notgedrungen
servative Premier sogar übererfüllt: Der nur mit Mühe ins Land gelockt werden ändern müssen. Bisher haben sie vor al-
Staat gibt 30 Prozent weniger aus als noch können und dass die Privatisierung von lem darauf gesetzt, dass die Krisenstaaten
2009, das Staatsdefizit dürfte Prognosen Staatseigentum stockt. Wieder tun sich sparen und zugleich ihre Wettbewerbsfä-
zufolge dieses Jahr bei knapp vier Prozent deshalb Finanzlöcher auf. Mehr als 200 higkeit erhöhen. Langfristig mag das wir-
des Bruttoinlandsprodukts landen und da- Milliarden Euro Hilfskredite haben die ken, doch bis dahin brauchen sie weitere
mit in die Nähe der europäischen Vorga- Euro-Partner Griechenland bereits ver- Unterstützung.
ben rücken. 2009 lag das Minus noch bei sprochen, und schon ist von einer erneu- Der Ökonom Steinberg kritisiert, dass
15,6 Prozent. ten Finanzierungslücke von fünf bis acht die Euro-Retter allen Ländern das gleiche
Das Problem aber ist: Sobald es an den Milliarden Euro im nächsten Jahr die Rede. Wirtschaftsmodell verpassen und kleine
Kampf gegen Vetternwirtschaft und Kor- Auch in Italien lahmt der Umbau, Exportweltmeister formen wollen. „Mer-
ruption und damit an die Sanierung des wenngleich Regierungschef Enrico Letta kels Strategie könnte aufgehen, wenn alle
völlig aufgeblähten und frustrierend in- vor ein paar Tagen wieder einmal ein Re- Euro-Länder nach China exportieren wür-
effizienten Staatsapparats geht, folgt auch formpaket präsentiert hat. Doch Ökono- den.“ Aber der Großteil des Handels fin-
die Regierung Samaras allenfalls zöger- men fehlt der Glaube, dass entscheidende de innerhalb der Euro-Zone statt. „Es
lich den Vorgaben der Troika. Eingriffe in verkrustete Strukturen jemals muss also auch hier Länder geben, die
So war die überstürzte Schließung des umgesetzt werden. konsumieren und importieren.“
2600 Mann starken Staatssenders keine Lettas Vorgänger Mario Monti, der das Reporter des SPIEGEL haben in den
Kurzschlussreaktion eines der Korruption Land im November 2011, mitten in der vergangenen Wochen die unterschied-
überdrüssigen Politikers. Sie war ein Akt Finanzkrise ein paar Millimeter vor dem lichen Probleme der Südländer vor Ort
der Verzweiflung. Samaras hatte der Troi- Abgrund von Silvio Berlusconi übernom- recherchiert. In den kommenden vier Wo-
ka versprochen, bis zum Sommer 2000 men hatte, bewährte sich zwar als Not- chen werden sie in einer Serie über ihre
Staatsbeamte zu entlassen. Doch bis zu- helfer, der die Märkte beruhigte. Aber Erkenntnisse in Griechenland, Spanien,
letzt war ein eigens für die Reform der die Strukturprobleme des Landes min- Italien und Portugal berichten.
Verwaltung zuständiger Minister eine ent- derte er kaum. Dazu gehören, neben der Eine Erkenntnis haben sie aus allen Kri-
sprechende Liste schuldig geblieben. drückenden Steuerlast, eine aufgeblähte, senstaaten mitgebracht: Es braucht einen
Dabei hätte er einen Großteil der Leute unfähige Bürokratie, die nahezu jede Stimmungsumschwung, damit Unterneh-
wohl schon zusammenbekommen, wenn wirtschaftliche Aktivität behindert oder men wieder bereit sind zu investieren
in den vergangenen Monaten einfach kon- erstickt; eine ineffiziente Justiz, die mit und Verbraucher wieder konsumieren.
sequent mutmaßliche Korruptions- und Jahrzehnte dauernden Prozessen poten- Konjunkturprogramme mögen dabei hel-
Betrugsfälle in Behörden und öffentlichen tielle Investoren verschreckt; eine man- fen, Wunder bewirken können sie nicht.
Unternehmen aufgearbeitet und entspre- gelhafte Infrastruktur – von löchrigen Und: Die Reformen, so schmerzhaft sie
chend sanktioniert worden wären. Eine Straßen, störanfälliger Energieversorgung, sind, müssen weitergehen.
Liste mit 2300 Fällen lag seit Februar vor. ständig verspäteten Zügen, veralteten Denn auf Dauer kann eine Währungs-
Es sind solche Zustände, die die Troi- Kommunikationsnetzen bis zu einem de- union mit so großen Unterschieden in
ka-Entsandten, aber auch die heimischen primierend niedrigen Ausbildungsniveau. den Kosten- und Wirtschaftsstrukturen
Vorkämpfer einer Grundsanierung des Ernstzunehmende Ökonomen gingen nicht bestehen. MARTIN HESSE,
Landes zuweilen zum Verzweifeln brin- inzwischen davon aus, so ZEW-Präsident CHRISTOPH PAULY, CHRISTIAN REIERMANN,
HANS-JÜRGEN SCHLAMP, ANNE SEITH
gen. Der ganze Staat gleicht einer Bau- Clemens Fuest, dass Italiens Staatsschul-
stelle: Die Fahnder kommen im Kampf denquote „unausweichlich immer weiter
gegen die Steuerhinterziehung schon des- ansteigen werde“. Lesen Sie im nächsten Heft:
halb nicht nach, weil viele überführte Mis- Auch mit Blick auf Portugals Chancen, Griechenland zwingt die Bürger zu drakoni-
setäter längst pleite oder nicht mehr auf- die Staatsschulden von mehr als 120 Pro- schem Sparen, saniert aber den korrupten
findbar sind. Schon die Aufgabe, heraus- zent der Wirtschaftsleistung auf ein trag- Staatsapparat nur zögerlich. Viele Griechen
zufinden, wer seine Strafe überhaupt bares Niveau zu senken, sind Ökonomen verlieren die Geduld mit ihrer Regierung.
62 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Chinesische Zentralbank in Peking
NG HAN GUAN / AP / DPA
Auf Pump gebaut mit auf weit mehr als 200 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts. Vor fünf Jahren
war es gerade einmal die Hälfte.
Etliche Firmen könnten schon jetzt
Auch in China geben Politiker und Unternehmer Geld aus, „weder ihren Zins- noch ihre Tilgungszah-
das sie nicht haben. Das Wachstum wurde mit hohen lungen leisten, deshalb müssen sie mehr
und mehr leihen“, sagt Yao Wei von der
Schulden erkauft. Die Angst vor einer neuen Finanzkrise geht um. französischen Bank Société Générale.
Als dann vor einigen Wochen eine chi-
D
er Schöpfer hat es gut gemeint mit Phoenix-Insel reicht da nicht aus“, sagt nesische Bank ins Gerede kam, breitete
den Bauherren auf der Tropen- er, statt eines Terminals brauche es min- sich Misstrauen unter den Instituten aus.
insel Hainan. Der natürliche Ha- destens fünf. Ihre Versorgung mit Geld stockte, die Zin-
fen der Stadt Sanya ist so tief, dass selbst Für deren Bau wird sein Unternehmen sen, zu denen sie sich untereinander Geld
die größten Schiffe mühelos hier ankern erneut Hunderte Millionen Euro Kredite liehen, schossen auf bis zu 28 Prozent.
können – und in der Mitte ragen bei Ebbe aufnehmen müssen. Plötzlich ging die Angst um, die Welt
einige Felsen aus dem Meer wie ein gött- Die Finanzierung sei solide, versichert könnte ein zweites Lehman erleben: eine
licher Fingerzeig. Wang sogleich. Manchmal liege er aller- Finanzkrise, wieder ausgelöst durch Ex-
So sahen es jedenfalls chinesische Un- dings schon nachts wach im Bett und fra- zesse an Immobilienmärkten und über-
ternehmer. Sie bauten eine Kaimauer ge sich: Haben wir uns übernommen? schuldete Banken, diesmal aber ausge-
rund um die Bucht und setzten fünf wind- So sensibel sind nicht viele, sonst wäre rechnet im Wirtschaftswunderland China.
schnittige Wolkenkratzer drauf. Im Jahr es um die Nachtruhe etlicher Provinz- Die Turbulenzen schreckten auch die
2006 legte das erste Kreuzfahrtschiff an. politiker, Parteigrößen und Unternehmer Mitglieder des internationalen Finanzsta-
Wang Wanmao, 67, managt das Projekt Chinas schlecht bestellt. Denn die Ver- bilitätsrates auf, in dem Notenbanker und
mit dem ehrgeizigen Namen „Phoenix Is- schuldung des Landes hat längst beängs- Bankaufseher aus aller Herren Länder
land, das Dubai des Fernen Ostens“, und tigende Ausmaße angenommen – zumin- über die Sicherheit des Weltfinanzsys-
das bedeutet wie so oft in China: Er küm- dest wenn man in die Bücher von Pro- tems wachen. Die Informationen, die
mert sich darum, dass es noch größer vinzpolitikern und Firmenlenkern blickt. man dort über das chinesische Finanzsys-
wird. 150 000 Kreuzfahrtgäste besuchen Allein die chinesischen Lokalregierun- tem hat, sind bislang dürftig. Bei einer
Sanya pro Saison, gut vier Millionen zählt gen sind nach Schätzungen eines ehe- Sitzung musste die chinesische Delega-
Wangs Vorbild Miami. „Eine einzige maligen Finanzministers mit umgerech- tion erst einmal Bericht erstatten.
64 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Wirtschaft
Erst eine Erklärung der chinesischen cial Times“, künftig weitere Schuldver- „Auch die staatlichen Banken mischen
Notenbank mit dem diskreten Hinweis schreibungen chinesischer Lokalregierun- über Spezialgesellschaften in dem lukrati-
auf die eigenen Möglichkeiten, veröffent- gen abzuzeichnen. Die meisten seien ven, aber gefährlichen Business mit“, sagt
licht erst fünf Tage nach dem Beginn des nämlich nicht abgesichert, ja die Lage sei Horst Löchel von der Frankfurt School of
Minibebens, beendete den Irrsinn. bereits „außer Kontrolle. Eine Krise ist Finance & Management, der lange in Chi-
Die großen Banken des Landes gehö- möglich. Aber da die Schulden immer na gelebt hat. „So umgehen die Manager
ren schließlich dem Staat, der sie schon weitergewälzt werden, ist der Zeitpunkt der Häuser die strengen Regeln, die ihnen
deshalb kaum pleitegehen lassen wird der Explosion unsicher“. die Regierung auferlegt, und können zu-
und auch die Notenbankpolitik bestimmt. Was die Regierung in Peking zusätzlich dem höhere Zinsen verlangen.“
China ist außerdem reich wie kaum ein besorgt: Ein großer Teil der Kredite wan- Kredite von rund drei Billionen Euro
anderes Land: Die Volksrepublik verfügt dert in einen Bereich ab, in dem sie nicht haben die Schattenbanken des Landes
über Devisenreserven in Höhe von um- Schätzungen zufolge vergeben, und ihr
gerechnet 2,6 Billionen Euro. Auch wenn Steigende Schulden, Anteil am Markt wird immer größer.
die sich nicht von einem Tag auf den an- Ein erheblicher Teil des Geldes fließt
deren in chinesisches Geld tauschen las- gebremstes Wachstum 140
dabei offensichtlich in den Immobilien-
sen, scheint eine unkontrollierte Finanz- Verschuldung von chinesischen sektor des Landes, der schon seit Jahren
krise angesichts solcher Schätze eher un- Unternehmen*, in Prozent des BIP 130 als überhitzt gilt. Zwischen 2000 und 2010
wahrscheinlich. haben sich die Preise verdoppelt, von
Doch die Machthaber in Peking wollen * ohne Finanzsektor; April 2012 bis April dieses Jahres stiegen
der zügellosen Freigebigkeit vieler Un- China ohne Hongkong;
Quelle: BIZ
120 sie in 70 Städten um weitere 4,3 Prozent.
ternehmer und Provinzpolitiker nicht Doch die zahlreichen Bauruinen im
mehr länger zusehen. Eine Kettenreak- Land lassen ahnen, dass der kollektive
tion von Firmen- und Finanzpleiten könn- 110 Wahn seine Grenzen erreicht hat, weil
te dem rasanten Wachstum des Landes den Konstrukteuren das Geld ausgeht
ein abruptes Ende bereiten – ein Szenario, oder die neuen Gebäude leer bleiben. Im
das die ganze Welt treffen würde. 100 milliardenteuren „Grachtenviertel“ in der
China, warnt die Vermögensverwal- Provinz Jiangsu etwa stehen bislang
Veränderung des Bruttoinlandsprodukts (BIP)
tung GMO, habe sich zu einem „Kredit- gegenüber dem Vorjahr, in Prozent
nichts als ein paar trostlose Windmühlen
Junkie“ entwickelt, der immer höhere Quelle: IWF
in der Einöde. In der Geisterstadt Yin Tan
Schulden brauche, um die gleiche Menge 15 am Strand des Gelben Meers brennt
Wachstum zu erzeugen. 12
selbst im Sommer höchstens in jedem
Hainan ist nur ein besonders drasti- zehnten Apartment ein Licht.
9
sches Beispiel, wie zügellos jenseits der Einfach verbieten will die Regierung
Regierungspaläste in der Hauptstadt dem 6 in Peking die undurchsichtigen Geschäfte
Leben auf Pump gefrönt wird. Vor 25 Jah- 3 der Schattenbanker trotzdem nicht. Sie
ren vom Reformer Deng Xiaoping zur steckt im Dilemma: Einerseits finanziert
Sonderwirtschaftszone erhoben, sollte 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 die Branche den heranwachsenden Mit-
die Provinz die boomende, von Peking telstand. Andererseits weiß niemand,
als abtrünnig betrachtete Nachbarinsel welche Risiken dabei in Kauf genommen
Taiwan in den Schatten stellen. Das prägt werden. Die verfügbaren Zahlen über Art
das Wirtschaftsleben bis heute. und Volumen der Geschäfte beruhen
Nicht weit entfernt vom Hafenprojekt größtenteils auf Schätzungen.
„Phoenix Island“ lässt sich deshalb die Der Ausfall von faulen Krediten im
nächste gigantische Baustelle besichtigen, großen Stil oder die Pleite zentraler Geld-
die den ehrgeizigen Namen „National geber auf dem Markt könnte aber auf die
Coast Haitang Bay“ trägt. gesamte Wirtschaft ausstrahlen, fürchten
BERNHARD ZAND / DER SPIEGEL
In ein paar Jahren sollen dort mehr als Experten. Allein die staatlichen Banken
30 Fünf-Sterne-Hotels die Küste zieren, sind direkt oder indirekt an drei Vierteln
außerdem ein Vergnügungspark, ein aller Schattenbank-Transaktionen betei-
Krankenhauskomplex und ein Finanzzen- ligt, glaubt die Rating-Agentur Fitch.
trum. Initiator ist hier kein Privatunter- Die jüngsten Turbulenzen an den chi-
nehmer, sondern die Stadt Sanya selbst: nesischen Finanzmärkten waren deshalb
Sie lässt schon Dutzende Straßen, Brü- Projektmanager Wang vor allem eines, sagt Volkswirt Löchel,
cken und Kanäle in das Sumpfgebiet bau- „Haben wir uns übernommen?“ „ein Zeichen dafür, dass die Regierung
en und siedelt 47 000 Menschen um. die Party beenden will“. Als bei den Ban-
Zwölf Milliarden Euro sind verplant. mehr zu kontrollieren sind. Denn weil ken die Mittel vorübergehend knapp wur-
Wären es nur Ökonomen aus den vor allem kleine und mittlere Firmen die den, verweigerte die Zentralbank deshalb
selbst hochverschuldeten Industriestaaten strengen Vorgaben der vier großen staat- über eine halbe Woche lang die sonst üb-
des Westens, die solch teure Wagnispro- lichen Banken nicht erfüllen, überneh- lichen Geldspritzen. Für Finanzmärkte
jekte kritisierten – man könnte es für ei- men immer mehr Schattenbanken das Ge- ist das eine halbe Ewigkeit.
nen Ablenkungsversuch halten, ver- schäft. Statt über Kundeneinlagen refi- Analysten sehen darin Zeichen einer
mischt mit einer makabren Schadenfreu- nanzieren sie sich unter anderem über Zeitenwende. China, der wichtigste
de, dass auch die fleißigen Chinesen zum kurzlaufende, hochverzinste Wertpapiere, Wachstumsmotor der Weltwirtschaft, will
Niedergang der Weltwirtschaft beitragen. die angesichts der mickrigen Sparzinsen es endlich langsamer angehen lassen.
Doch die schärfsten Warnungen kom- bei Chinesen beliebt sind. Auch wenn die Kurse sich inzwischen
men mittlerweile aus China selbst. Er wei- Besonders skurril daran ist: Zu der un- wieder erholt haben, sind die unsicheren
gere sich, sagte etwa Zhang Ke, Vizechef durchsichtigen Zunft der Schattenbanker Zeiten für den Rest der Welt deshalb
des chinesischen Wirtschaftsprüferver- gehören nicht nur Privatfinanziers, Ver- nicht vorbei: Sie haben erst begonnen.
bands, in einem Gespräch mit der „Finan- mögensverwalter oder Unternehmen. MARTIN HESSE, ANNE SEITH, BERNHARD ZAND
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 65
SVETLANA MILIC
Zerstörtes Haus im Braunkohleabbaugebiet Kolubara
D
ie Kohle war für Nevena Radivo- sie nicht, die EPS lässt viele Bewohner erst angefeuert werden muss – mit über
jevic die große Hoffnung ihres Le- des Ortes Vreoci im Unklaren. 30 000 Tonnen Schweröl pro Jahr.
bens. Als sie vor 30 Jahren in die Der Abbau soll sogar noch forciert wer- Entsprechend wächst die Kritik am
Braunkohleregion südlich von Belgrad den – mit deutscher Hilfe. Die staatseige- Konzern und an der deutschen Förder-
zog, schien sie dem Elend ihrer bosni- ne KfW-Gruppe genehmigte EPS vor kur- bank: „Dass die vermeintliche Qualitäts-
schen Heimat entronnen. zem einen Kredit über 65 Millionen Euro. verbesserung erst die Voraussetzung ist,
Ihr Mann und ihr Sohn fanden Arbeit Weitere 80 Millionen Euro steuert die Eu- neue Braunkohlefelder zu erschließen,
in einem Kraftwerk, das inzwischen der ropäische Entwicklungsbank bei. blendet die KfW komplett aus“, kritisiert
serbische Stromgigant EPS betreibt. Koh- Mit dem Geld soll „umweltgerechtes Regine Richter von der Umweltorganisa-
le – das war die Zukunft. Und Familie Kohlequalitätsmanagement“ gefördert tion Urgewald. „Mit deutschem Steuergeld
Radivojevic war mittendrin: in einem werden, lässt die KfW wissen. Röntgen- wird so Serbiens Abhängigkeit von der
kleinen Dorf zwischen zwei riesigen Ab- geräte an den Baggern sollen zukünftig Braunkohle auf Jahrzehnte zementiert.“
raum-Arealen. die „Brennwertqualität der Kohle erken- Die Kohlefinanzierung ist die dunkle
Doch seit die Bagger vorrücken, wird nen“, erklärt Jürgen Welschof, Leiter des Seite der deutschen Staatsbank, die die
der Ort schmaler und schmaler. Der KfW-Büros in Belgrad. Durch die Mi- Bundesregierung gern als einen der
Staatskonzern EPS hat begonnen, Men- schung verschiedener Qualitäten würde „größten Förderer des Klimaschutzes“
schen umzusiedeln. Um die Radivojevics die Kohle „effizienter“ brennen. Der Ein- präsentiert. Mit fast 30 Milliarden Euro
herum stehen verfallene Geisterhäuser. satz von Schweröl, bisher eine Art Brand- habe das Institut im vergangenen Jahr
Wann sie selbst umziehen müssen, wissen beschleuniger, werde reduziert. weltweit energieeffizientes Bauen oder
erneuerbare Energien gefördert. Doch für lägen keine offiziellen Erhebungen vor.
die Renaissance des Rußes gab die KfW Es sei deshalb eine „environmental due
in den vergangenen Jahren ebenfalls ein dilligence“ durchgeführt worden, eine Art
paar Milliarden Euro aus. Öko-Check, ließ das Berliner Wirtschafts-
Die vermeintlich ökologische Schützen- ministerium auf eine Anfrage der Grünen
hilfe der Deutschen dürften die serbischen wissen. Außerdem gebe es jede Menge
Stromkunden bezahlen müssen. So offen „action plans“ zu Umwelt und Sozialem.
sagt das zwar kein Bank-Manager, aber Mit ähnlicher Wortakrobatik be-
was sonst meint KfW-Mann Welschof, wenn schwichtigte die EU-Kommission mehre-
er sagt: „Die Finanziers der EPS befür- re Abgeordnete, die die mangelnde Be-
worten eine Strompreisanpassung.“ Ob das teiligung von Betroffenen bei Energie-
investierte Geld auf so „fruchtbaren Bo- projekten in Südosteuropa kritisierten.
den“ fällt, wie Welschof behauptet, scheint Transparenz und Offenheit, so der
zweifelhaft. Ende 2011 wurden ein Dut- tschechische Erweiterungskommissar Šte-
zend EPS-Manager vorläufig festgenom- fan Füle, seien „building blocks“ der eu-
men. Wegen Zahlung überhöhter Preise ropäischen Politik. So weit die Theorie.
an Leasing-Firmen und Kickback-Provi- „Das sind die typischen Hülsen, wenn
sionen in Millionenhöhe wird weiter gegen die Kommission Offenheit suggeriert,
sie ermittelt. Zum laufenden Verfahren aber in Wirklichkeit ihre Linie durch-
wollte EPS sich nicht äußern. zieht“, sagt die Brüsseler Grünen-Abge-
Auch die Umsiedlung scheint nicht so ordnete Franziska Brantner.
harmonisch abzulaufen, wie KfW und EPS Ganz neu können die serbischen Pro-
es gern hätten. „Die ganze Prozedur ist ex- bleme für die KfW nicht gewesen sein.
trem undurchsichtig“, sagt Nikola Perusic, Seit dem Jahr 2000 unterstützt die „grüne“
serbischer Mitarbeiter bei Bankwatch. Die deutsche Bank den Stromriesen EPS mit
1995 gegründete Non-Profit-Organisation über hundert Millionen Euro. Zuerst fi-
nanzierte sie Stromimporte für das kriegs-
geschädigte Land. Später gab es Geld für
„Wir nehmen Schlaf- oft aus Deutschland besorgte Ausrüstung,
und Beruhigungsmittel mit der etwa die Braunkohle des Tamna-
va-West-Feldes abgebaut wurde. Aller-
und finden dings soll es laut Bankwatch auch bei Um-
siedlungen rund um diese Grube zu mas-
dennoch keine Ruhe.“ siven Problemen gekommen sein.
Und heute? Soll alles nach europäi-
prüft die Nachhaltigkeit von Investments schen Standards ablaufen. Wie das aus-
internationaler Finanzinstitute und kritisiert sieht, lässt sich an dem Dorf Junkovac
die EPS-Hilfe schon seit geraumer Zeit. ablesen, wo etwa 800 Menschen leben.
Auf Nachfrage konnte der Konzern Junkovac liegt am Fuß der Abraumhalde
nicht einmal sagen, wie viele Menschen in der Kolubara-Grube. Aus dem oberen
Vreoci von der Umsiedlung betroffen sein Teil des Dorfes wurden die Menschen
werden. Bankwatch liegen Dokumente 1992 schon einmal umgesiedelt. Damals
vor, die fürstliche Entschädigungen für Po- rutschte der Abraum immer näher an ihre
lit-Größen und Manager belegen, die dort Häuser heran, Straßen sackten einfach weg.
wohnten. Ein Ex-EPS-Verwaltungsrat soll Anfang Juni war es wieder so weit: Ei-
für sein auf unglaubliche 3,4 Millionen ne vier Meter hohe Wand aus Erde, Sand
Euro geschätztes Haus bereits 1,2 Millionen und Lehm schob sich langsam auf den
Euro bekommen haben. 99 Prozent der Rand des Dorfes zu. Bäume und Strom-
Bevölkerung seien mit der Umsiedlungs- masten knickte die Erdwalze einfach um.
politik einverstanden, behauptet EPS. EPS sieht sich auch dafür nicht verantwort-
Doch das glaubt offenbar nicht einmal lich. Das sei „höhere Gewalt“, heißt es.
mehr die serbische Energieministerin. Sie „Wir nehmen Schlaf- und Beruhigungs-
lässt die Vorgänge inzwischen überprüfen. mittel und finden dennoch keine Ruhe“,
Derweil nehmen die Kollateralschäden sagt Milena Vasiljevic Savkovic, die in
der Kohle kontinuierlich zu: Nevena Ra- Sichtweite des Erdrutsches wohnt. Durch
divojevic arbeitet als Krankenschwester die Wände ihres Hauses ziehen sich Risse,
in Vreoci. Von ihren zwei Tumoren und in den Keller dringt immer mehr Nässe,
den Allergien will sie gar nicht viel er- die nach Kohle stinkt. „EPS will damit
zählen, aber das Husten der Kinder lässt aber nichts zu tun haben.“
ihr keine Ruhe. „Von 100 Kindern haben Viele ihrer Nachbarn haben in ihren
hier 40 Asthma. Wegen der Kohle.“ Vorgärten bereits ihren Hausrat zusam-
Das Leitungswasser sei „seit Jahren un- mengepackt. Manchmal kämen Schätzer
genießbar“, sagt Zeljko Stojković von der von EPS und lachten sie aus, wenn sie an
örtlichen Umweltgruppe. Mitunter fahren ihren Häusern noch etwas reparierten.
deshalb Versorgungslaster mit Trinkwas- Am Ende der Straße steht der Onkel von
ser durch die Dörfer. EPS dagegen be- Milena Vasiljevic Savkovic. Sein Haus
hauptet, „kontinuierlich in die Lebens- war eines der ersten, die die Erdwalze
qualität zu investieren“. Zu schlechter zermalmte. Er hat Tränen in den Augen.
Wasserqualität und Gesundheitsschäden Er arbeitet für EPS. NILS KLAWITTER
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 67
Wirtschaft
Anlageprofi Reineke
Kein Zins ist auch keine Lösung
Rostige Reserve einnahmen und Steuerzuschüsse alle Ren- Für Reinekes Reserve könnte das zu
tenausgaben weit übersteigen, muss Rei- spät sein, denn längst hat sich jene Be-
neke nun immense Summen verwalten: völkerungsgruppe des Themas bemäch-
Die Milliardenrücklagen der In der Rentenrücklage schlummern 27,9 tigt, die schon immer die größte Gefahr
gesetzlichen Rentenkasse sind in Milliarden Euro. Die Bundes- für die Rentenfinanzen darstell-
Gefahr: wegen niedriger regierung liebäugelt gar damit, Rücklage der te: die der Politiker.
im kommenden Januar den Da wäre zum einen die
Zinsen und der Begehrlichkeiten Beitragssatz von 18,9 auf 18,7 Rentenkasse Mehr-netto-vom-Brutto-Frak-
der Berliner Wahlkämpfer. Prozent zu senken. Bis dahin tion. So fordert der CDU-Wirt-
allerdings ist Reineke gefragt: schaftsflügel, dass der Renten-
Er muss die Milliarden sichern. 4,0 Anlagerendite beitragssatz gleich um 0,3 Pro-
A
ls Ulrich Reineke zum ersten Mal
Vater wurde, stellte ihn seine Frau Es klingt paradox: Weil die in Prozent zentpunkte sinken solle, und
vor die Wahl: entweder das Mo- gesetzliche Vorsorge so viele Quelle: Deutsche auch die Liberalen setzen auf
Rentenversicherung
torradfahren aufzugeben oder eine Le- Überschüsse angehäuft hat, 3,0 Entlastung. „Es wäre fair, das
bensversicherung abzuschließen. Reineke kämpft sie plötzlich mit ähnli- Geld den Beitragszahlern zu-
behielt die Honda – und unterschrieb des chen Problemen wie die private rückzugeben“, sagt FDP-Ren-
häuslichen Friedens wegen eine Police. Versicherung. „Die Geldanlage tenexperte Heinrich Kolb.
2,0
Es war kein schlechter Deal: Damals, ist nicht leichter geworden – „Warum sollten wir zusehen,
in den achtziger Jahren, versprachen Al- vor allem, seit die Europäische wie die Inflation die Rücklage
lianz und Co. noch Renditen von 3 Pro- Zentralbank die Geldschleusen entwertet?“
zent. In den Neunzigern waren es sogar geöffnet hat“, sagt Reineke. 1,0 Dagegen wollen die Vertei-
4. Heute ist der Garantiezins für neue Noch Mitte 2008, kurz vor lungsverfechter die Rücklagen
Verträge auf 1,75 Prozent zusammenge- der Lehman-Pleite, verbuchte in neue Leistungen umwan-
schnurrt. Erst an diesem Morgen hat der Volkswirt eine Anlage- deln. Die Rentenkassen seien
Reineke davon wieder in der Zeitung ge- rendite von mehr als 4,5 Pro- 2008 09 10 11 12 „krachvoll“, jubelte Sozialmi-
lesen. Etwas Genugtuung war auch dabei. zent pro Jahr. Bis Ende 2012 ist nisterin Ursula von der Leyen,
Nachhaltigkeits-
Schließlich sind private Lebensversiche- der Wert auf 0,5 Prozent ge- als CDU und CSU am vergan-
rücklage
rungen seine schärfste Konkurrenz. schrumpft. Für 2013 nennt die Mai 2013 genen Montag ihr Wahlpro-
in Mrd. Euro
Reineke ist Finanzchef der gesetzlichen Rentenkasse offiziell gar keine 28,0 gramm vorstellten. So will die
Rentenkasse mit Sitz in einem schmuck- Zahl mehr. Intern gehen die Ex- 30 Union die Mütterrente erhö-
losen Backsteinbau in Berlin-Wilmers- perten von weniger als 0,3 Pro- hen, was jährlich 6,5 Milliarden
dorf. Der Rentenexperte legt die Reser- zent aus. Bei einer Inflations- 25 Euro kosten könnte. Auch die
ven der Sozialversicherung an. Und er rate von 1,5 Prozent liegt die SPD umwirbt die Wähler mit
wird dafür bezahlt, jedes Risiko zu ver- reale Rendite längst im negati- 20 Milliardenversprechen.
meiden. Allerdings ist das derzeit nicht ven Bereich. Die eiserne Reser- Gut möglich, dass Reinekes
ganz einfach. ve rostet. Und dabei wird die 15 Reserve bald viel schneller
In der Euro-Krise erwies sich das Prin- Rentenversicherung Opfer ihres dahinschmilzt, als es die Nied-
zip der gesetzlichen Alterskasse, nach eigenen Sicherheitsstrebens. 10
rigzinsphase erfordert hätte.
dem die Beiträge der Jungen sofort an die Die Sozialkasse muss jeder- „Manchmal fragt man sich, was
Senioren ausgeschüttet werden, als be- zeit flüssig sein, um monatlich besser ist“, sagt er. „Zu viel
5
sonders sicher. Mochten die Aktienmärk- 24 Millionen Renten auszuzah- oder zu wenig Geld in der
te auch auf Talfahrt gehen und die priva- len. Sie darf ihre Reserven da- Rücklage zu haben.“
ten Versicherer mit den Niedrigzinsen ha- her nie länger als zwölf Monate 2008 10 12 CORNELIA SCHMERGAL
68 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
musstörungen, eine 19-jährige Frau wurde Zwar hat Aigner im Mai 2012 eine Än-
GENUSSMITTEL nach etwa sechs Mixgetränken aus Ener- derung der Fruchtsaft- und Erfrischungs-
gy-Drinks und Wodka morgens tot in ih- getränkeverordnung verkündet, die neue
A
uf den ersten Blick deutet ligramm Taurin pro Liter. Ledig-
die schlichte schwarze Dose lich die Empfehlung, nicht mehr
mit dem grünen „M“ nicht Kalkulierte als eine Portion täglich zu kon-
auf die Sensation hin, die sie angeb- sumieren, muss auf der Packung
lich enthält: „Monster Energy“ steht Überdosis enthalten sein.
darauf, mehr nicht. Dabei soll es Koffeingehalt Daran aber halten sich gerade
sich um nichts weniger handeln als von Energy- Kinder und Jugendliche nicht –
„das gewaltigste Energiepräparat auf Drinks wie Martin Hulpke-Wette jeden
diesem Planeten“. Tag in seiner Praxis beobachten
Um die vorgeschriebene Ober- kann. Bei dem auf Herzkrank-
grenze für den Koffeingehalt einzu- heiten spezialisierten Kinderarzt
halten, hatten die Macher des Ener- sitzen Acht- bis Zehnjährige mit
giegebräus ihr Produkt statt in die Herzrasen, zu hohem Blutdruck
üblichen 250-Milliliter-Dosen in oder massiven Herzmuskelwand-
Halbliterbehälter gefüllt, und diese verdickungen.
„Killermischung“, warben sie, kicke „Immer mehr Kinder konsumie-
deshalb doppelt so gut wie andere ren Energy-Drinks, ersetzen mit
Energy-Drinks. ihnen gar ganze Mahlzeiten –
Doch was Monster Energy in ohne zu wissen, wie sehr sie sich
Groß bietet, gibt es längst auch in damit schaden“, sagt der Arzt.
Klein: Immer häufiger finden sich Ihn erschrecken vor allem die
in den Regalen von Supermärkten, Mengen der konsumierten
Tankstellen und an den Theken von Drinks: „Ich hatte neulich einen
Bars und Discotheken sogenannte Jugendlichen, der mir sagte, dass
Energy-Shots – eine konzentrierte er mindestens einen Liter von
Form normaler Energy-Drinks. Für dem Zeug pro Tag trinkt – was
1,99 Euro etwa bietet der Marktfüh- neben der zielgerichteten Wer-
rer Red Bull seine 60-Milliliter-Dose Milligramm je Portion mg/100ml
bung auch am Geschmack liegt.“
an und verspricht bessere Konzen- Denn egal ob Energy-Drinks
trationsfähigkeit sowie die „Verrin- Red Bull Energy Shot (60 ml) 80 133 oder Energy-Shots, der Ge-
gerung von Müdigkeit und Erschöp-
fung“.
Monster Energy (500 ml) 160 32 –schmack ist zumeist ziemlich süß
und damit genau auf Kinder
zum Vergleich
Energy-Drinks, Getränke, die Kof- und Jugendliche als Zielgruppe
fein, Taurin, Glucuronolacton und Espresso (25 ml) 28 110 zugeschnitten.
Inosit enthalten, sind vor allem bei Coca-Cola (330 ml) 30 9 „Für Red Bull & Co. sind die
Jugendlichen beliebt, gute acht Pro- bei Jugendlichen beliebten Ener-
zent trinken mindestens vier- bis fünfmal nen“. Gleiches gelte im Zusammenhang gy-Shots ein Riesengeschäft, dabei stellen
in der Woche einen Liter oder mehr von mit ausgiebiger körperlicher Anstren- sie womöglich eine Riesengefahr dar“,
den süßen Wachmachern. gung oder sportlicher Betätigung. Die sagt Huizinga von Foodwatch. Die Ver-
Unter Wissenschaftlern und Verbrau- Behörde riet deshalb, „das Inverkehr- braucherorganisation fordert deshalb ein
cherschützern hat das Gebräu dagegen bringen von ,Energy Shot‘-Produkten zu generelles Verkaufsverbot der Shots. Her-
einen mehr als zweifelhaften Ruf. Denn untersagen“. kömmliche Energy-Drinks sollten zumin-
die leistungssteigernden Getränke wur- „Passiert ist seither aber wenig“, sagt dest deutliche Warnhinweise auf der Ver-
den in den vergangenen Jahren immer Armin Valet von der Verbraucherzentrale packung tragen und nur noch an Kunden
wieder mit Herzrhythmusstörungen, Hamburg. Vor allem die Hersteller hätten ab 18 Jahren verkauft werden dürfen.
Krampfanfällen und Nierenversagen in kein Interesse daran, sich das gute Ge- Damit müsste die Verbraucherschutz-
Zusammenhang gebracht, auch wenn schäft verderben zu lassen. „Bundesver- organisation übrigens auf einer Linie
eine kausale Verbindung bislang nicht braucherschutzministerin Ilse Aigner hat mit dem BfR liegen: Die dem Aigner-
bewiesen ist. die wissenschaftliche Untersuchung, die Ministerium unterstellte Behörde hat
So starb ein 18-jähriger Basketball- sie selbst in Auftrag gegeben hat, drei Anfang des Jahres schriftlich bestätigt,
spieler, der während eines Turniers ver- Jahre lang einfach ignoriert“, ergänzt dass sich an ihrer Einschätzung aus dem
mutlich bis zu drei Dosen eines Energy- Oliver Huizinga von der Verbraucher- Jahr 2009 „im Grundsatz nichts geändert
Drinks getrunken hatte, an Herzrhyth- organisation Foodwatch. hat“. SUSANNE AMANN
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 69
Panorama
LUXEMBURG
Dem Premierminister, oberster Dienst-
herr der Agenten, wird vorgeworfen,
Informationen zu der Affäre nicht an
Affäre bedroht Juncker Parlament und Ermittler weiterge-
geben zu haben. Junckers Büro wurde
Seit 18 Jahren führt Jean-Claude Jun- bereits zweimal von der Staatsanwalt-
cker das Großherzogtum, doch jetzt schaft durchsucht, auch vor einem
belastet eine Geheimdienstaffäre seine Untersuchungsausschuss musste der
Karriere. Auslöser ist eine Serie von Premier schon aussagen. Spätestens
Bombenanschlägen in den Jahren 1984 kommende Woche muss sich der Re-
bis 1986, unter anderem auf das Haupt- gierungschef vor dem Parlament ver-
quartier der Luxemburger Polizei, den antworten.
Justizpalast, den Flughafen und eine Bei der mitregierenden Arbeiterpartei
Ratssitzung der europäischen Staats- mehren sich die Stimmen, die ein
und Regierungschefs. Zwei Polizisten Ende der seit neun Jahren bestehen-
einer Eliteeinheit werden verdächtigt, den Koalition mit Junckers Christ-
damals die Sprengladungen aus noch sozialen fordern. Sollte er zurücktre-
ungeklärten Motiven gelegt zu haben, ten, müsste es innerhalb von drei Mo-
JOCK FISTICK
seit Februar stehen sie vor Gericht. Im naten Neuwahlen geben. Juncker: „Ich
Zentrum der Untersuchung steht der Juncker werde mich meiner Verantwortung
Luxemburger Geheimdienst. nicht entziehen.“
I TA L I E N
Demonstranten
in Rio de Janeiro
„Wir sind alle Huren“
Frauen sind Silvio Berlusconis Ver- lusconi-Partei „Volk der Freiheit“
hängnis – vielleicht aber auch seine nicht nur in Rom für die Rehabilita-
Rettung. Angeführt von seiner frühe- tion ihres Idols. „Wir sind alle Huren“,
ren Staatssekretärin Daniela Santan- lautet der Leitspruch der Berlusconi-
chè demonstrierten Anhänger der Ber- Aktivistinnen, die hinter dem Urteil
gegen den Cavaliere eine politi-
REUTERS
ISRAEL
Dass sie auf Big Macs verzichten müs-
sen, erzürnt die Siedler jedoch. McDo-
nald’s sei kein Unternehmen mehr,
Burger-Krieg mit Siedlern sondern gleiche einer ideologischen
Organisation mit antiisraelischer Agen-
McDonald’s legt sich mit jüdischen Kerngebiet. Die etwa 20 000 Einwoh- da, so einer ihrer Führer. Die Siedler
Siedlern an. Die Burger-Kette will kei- ner entbehren wenig. Hier steht seit sinnen nun auf Vergeltung und rufen
ne Filiale im besetzten Westjordanland kurzem sogar die erste israelische Uni- zum „gesamtisraelischen Boykott“ der
eröffnen. Seit 1993 gibt es die Hambur- versität auf palästinensischem Gebiet. Fast-Food-Kette auf.
ger-Läden in Israel, mittlerweile sind
es 180 Restaurants. Jedes Jahr kom-
men etwa 9 Filialen dazu. Das Ange-
bot, in einem neuen Einkaufszentrum
in der jüdischen Siedlung Ariel ein
Schnellrestaurant zu betreiben, lehnt
die Kette jedoch ab – mit einer politi-
schen Begründung: Seit es McDonald’s
URIEL SINAI / GETTY IMAGES
Grenzenloser Informant
Der Whistleblower Edward Snowden ist auf der Flucht vor Amerika und hinterlässt
dabei eine Spur von Enthüllungen. Er wird zum Opfer einer globalen Treibjagd, die an
einen Thriller des Kalten Kriegs erinnert – mit der Technik des 21. Jahrhunderts.
Flughafen Moskau-Scheremetjewo
Titel
I
n Fort Meade, im Hauptquartier der weis beworben, er sei Buddhist und damit Pazifiks ein Mann gerade dabei ist, noch
NSA, jenes Geheimdienstes, der zu- eigentlich der Gewaltlosigkeit verpflich- weitere Geheimnisse publik zu machen.
ständig ist für Amerikas Sicherheit, tet. CIA und NSA haben ihn angeheuert, Zwölf Minuten und 35 Sekunden lang
steht eine riesige Gedenktafel aus Granit weil wenige mit Datennetzwerken so gut ist das Video, mit dem sich der bis dahin
mit den Namen der 171 im Dienst getöte- umzugehen wissen wie er. unbekannte Systemadministrator Edward
ten Agenten, darauf der Spruch: „Sie In Hongkong bezieht Snowden ein Snowden am 9. Juni aus der Anonymität
dienten in Stille.“ Es ist eine sehr ameri- Zimmer im Fünfsternehotel „The Mira“ in die Öffentlichkeit katapultiert, vom Je-
kanische Art, an die eigenen Helden zu im Stadtteil Kowloon. Dass Snowden dermann zu einem der meistgesuchten
erinnern. ausgerechnet die chinesische Sonderver- Menschen der Welt. Mehr als 1,7 Millio-
Er hat in Stille gedient – das wird man waltungszone als Rückzugsort wählt, ist nen Mal wird es in kurzer Zeit angeklickt.
über Edward Snowden nie sagen, den wohlkalkuliert. Er glaubt, hier sicher zu Zu sehen ist ein junger, blasser Mann
größten Whistleblower der jüngeren ame- sein – vor dem Zugriff Amerikas, aber mit eckiger Brille und Dreitagebart. Er
rikanischen Geschichte. Und trotzdem ist auch vor den Chinesen. Und er kennt die redet klar, langsam, souverän. Er sagt, er
auch er nun ein Held für viele, weil er Stadt, hat hier einen Bekannten. Hong- habe nicht vor, sich zu verstecken, denn
Amerikas Traum von der totalen Daten- kong ist der Ort, von dem aus er die Serie er habe nichts Falsches getan. Warum er
kontrolle zum Platzen gebracht hat. von Enthüllungen anstößt, die wenig spä- nicht anonym bleiben wollte? „Die Öf-
Mit vier Laptops voller Geheimdoku- ter Amerika und die Welt erschüttert. fentlichkeit verdient eine Erklärung.“
mente reist Edward Snowden seit Ende
Mai um die Welt, von Hawaii nach Hong- „Ich erlebte den Missbrauch regelmäßig. Aber
kong und weiter nach Moskau, dabei zieht
er einen Schweif globaler Enthüllungen mir wurde erzählt, das sei kein Problem.“
hinter sich her. Er hat das „Prism“-Pro-
gramm der NSA enttarnt, das Daten von Als Helfer hat er bereits zuvor Glenn Snowden beschreibt die NSA als Su-
Facebook, Google, Microsoft und Skype Greenwald gewählt, der für den briti- perbehörde, als riesigen Kraken, der welt-
nutzt; er hat die Zusammenarbeit mit dem schen „Guardian“ bloggt. Davor war weit gigantische Datenmengen abgreift.
britischen Nachrichtendienst GCHQ be- Greenwald Hobbypolitiker und Anwalt, Und er erklärt, wieso er zum Informanten
kanntgemacht, dessen Programm „Tem- jetzt lebt er zusammen mit seinem Part- wurde: „Ich erlebte den Missbrauch re-
pora“ Daten von Hunderten Glasfaser- ner und zehn Hunden in Rio de Janeiro. gelmäßig. Je mehr ich darüber reden woll-
kabeln abschöpft; und nun auch die Spio- Seit Jahren setzt er sich für die Veröffent- te, desto mehr wurde ich ignoriert, wurde
nage der NSA in Deutschland (siehe Sei- lichung von Regierungsgeheimnissen ein. mir erzählt, dass das kein Problem sei.“
te 76). Jeden Tag kommt Neues dazu. Er gilt als leidenschaftlicher Kämpfer für Die Treibjagd ist eröffnet.
Seitdem liefert sich Edward Snowden Transparenz, als einer, der keine Kom- Stunden später wird Snowdens Ver-
mit Amerika eine Hetzjagd um die Welt promisse eingeht. Greenwald ist der steck ausfindig gemacht, doch vorher
wie aus einem Thriller des Kalten Kriegs – Mann, den Snowden jetzt braucht; er bit- taucht er ab und versteckt sich in der
mit den technischen Mitteln des 21. Jahr- tet ihn, nach Hongkong zu kommen. Wohnung eines Hongkonger Bekannten.
hunderts. Verfolgt von Hunderten von Am 1. Juni treffen Greenwald, ein Inzwischen hat er Kontakt zu Journa-
Journalisten, Abermillionen von Zuschau- „Guardian“-Kollege sowie die Dokumen- listen der „South China Morning Post“.
ern und vermutlich nicht wenigen Agen- tarfilmerin Laura Poitras ein. Snowden Sie enthüllen nach einem Gespräch mit
ten. Kleine und größere diplomatische lotst sie zu sich ins Zimmer, als Erken- Snowden, dass die NSA auch in China
Erdbeben hat dieser 30-jährige System- nungszeichen dient ein Zauberwürfel. und Hongkong Server von Telefongesell-
administrator bereits ausgelöst, denn die Fast eine Woche lang befragen sie ihren schaften gehackt und Millionen von Text-
Enthüllungen zeigen auch, in welchem Informanten. Dann, am 5. Juni, veröffent- nachrichten gesammelt hat.
Umfang selbst befreundete Staaten aus- licht der „Guardian“ die erste Enthüllung, Snowden hofft wohl, eine Auslieferung
geforscht werden. Die Einblicke in seinen die Geschichte eines geheimen Gerichts- verhindern zu können, indem er den
Abhörapparat haben Amerika gegenüber beschlusses, aus dem hervorgeht, dass die Zorn der Chinesen auf Amerika anheizt.
China und Russland blamiert, Feinden ge- US-Regierung das Unternehmen Verizon Und das ist auch nötig, denn Washington
holfen und Freunde in Verlegenheit ge- zwang, Telefondaten von Millionen US- übt nun Druck aus. Es gibt zwar keinen
bracht, weil auch diese jetzt fürchten müs- Bürgern auszuhändigen. Am Tag darauf Auslieferungsvertrag mit China, aber
sen, dass ihre eigenen Lauschaktivitäten folgt die Enttarnung des Spähprogramms Hongkong ist weitgehend autonom, es
unter die Lupe genommen werden. „Prism“, später eines ähnlichen, weltweit hat 1996 ein eigenes Abkommen mit den
All das kann sich Edward Snowden ver- eingesetzten Programms namens „Bound- USA geschlossen. Die ersten US-Abge-
mutlich noch nicht vorstellen, als er am less Informant“, grenzenloser Informant. ordneten fordern, Snowden mit der „vol-
20. Mai seine Unterkunft auf Hawaii ver- Genau in diese Zeit fällt das erste Tref- len Härte des Gesetzes“ zu verfolgen.
lässt und ein Flugzeug nach Hongkong fen der beiden mächtigsten Männer der „Die Leute, die meinen, ich hätte einen
besteigt. Dabei hat er einen kleinen, Welt. Am 7. Juni lädt US-Präsident Ba- Fehler gemacht, als ich Hongkong aus-
schwarzen Koffer, darin die Laptops, dar- rack Obama den chinesischen Staatschef wählte, missverstehen meine Absichten“,
auf gespeichert tausend streng geheime Xi Jinping auf die Sunnylands-Ranch in sagt Snowden der „South China Morning
Dokumente. Seiner Freundin hat er ge- Kalifornien ein. Es ist heiß, 43 Grad, und Post“. Doch er ahnt, dass er in Hongkong
sagt, er werde bald zurück sein; seinem zum Ärger der Chinesen haben die Gast- nicht sicher ist. Nur, wohin kann er
Arbeitgeber hat er erzählt, er brauche geber kurzfristig das Thema Cyber-Sicher- reisen?
eine Auszeit. heit auf die Tagesordnung gehoben. Oba- Es ist der Moment, in dem zwei Män-
Seit fast drei Monaten arbeitet der ma mahnt, er wünsche sich eine Weltord- ner auftreten, die etwas vom Ruhm des
Computer-Nerd für die Sicherheitsfirma nung, in der sich alle an dieselben Regeln Enthüllers auf sich abfärben lassen wol-
Booz Allen Hamilton auf Hawaii, die Auf- halten. Eine Mahnung derjenigen, die sich len: Rafael Correa und Julian Assange.
gaben für die NSA erledigt – und er hat als Opfer fühlen, an die mutmaßlichen Ecuador gibt kurz darauf bekannt,
Zugang zu den größten Geheimnissen Missetäter im Cyber-Krieg – die Chinesen. über einen Asylantrag Snowdens zu be-
Amerikas. Snowden ist zwar Schulabbre- Die Amerikaner haben die Enthüllun- raten. Nicht, weil Ecuadors Präsident Cor-
cher, aber einer mit Ambitionen. Bei den gen im „Guardian“ zwar registriert, wissen rea ein Freund von Transparenz wäre,
US-Streitkräften hat er sich mit dem Hin- aber nicht, dass auf der anderen Seite des nein – zur gleichen Zeit tritt in seinem
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 73
Titel
Land ein restriktives Mediengesetz in Snowden in Sicherheit zu bringen. As- Pass ist nun ungültig, aber er reist ver-
Kraft. Doch Correa leidet darunter, dass sange aktiviert zudem sein globales Unter- mutlich mit dem Flüchtlingsausweis aus
Ecuador als Resonanzboden für seine poli- stützernetzwerk; sein Mitstreiter Kristinn London; begleitet wird er von der Wiki-
tischen Ambitionen zu unbedeutend ist. Hrafnsson stellt in Island einen Asylantrag Leaks-Aktivistin Sarah Harrison. Die
Und am 16. Juni steht Julian Assange für Snowden. Falls es in Ecuador nicht „South China Morning Post“ veröffent-
auf dem Balkon der ecuadorianischen klappt. Oder als Ablenkungsmanöver? licht am selben Tag die vorläufig letzte
Botschaft in London, diesmal zusammen Am 21. Juni wird Snowden 30 Jahre alt, Snowden-Enthüllung, darunter auch sei-
mit Außenminister Ricardo Patiño. Der und noch am selben Abend erfährt er, ne Aussage, er habe sich vor drei Mona-
WikiLeaks-Gründer sagt nichts, er winkt dass in Washington eine Klage wegen ten gezielt bei Booz Allen Hamilton an-
nur fröhlich seinen Unterstützern zu. Spionage gegen ihn eingereicht wurde stellen lassen, um an hochgeheime NSA-
Aber in Interviews nennt er Snowden und Justizminister Eric Holder nun per- Daten zu kommen. Snowden wirkt jetzt
wie ein Profi-Spion.
Snowden ist nervös, er will weg aus Chinas Regierende genießen unterdes-
sen still, dass nun die USA als großer Da-
Hongkong, aber er weiß nicht, wohin. tendieb dastehen, nicht China. Der Mili-
tärexperte Wang Changqin nennt die
einen Helden und empfiehlt, er solle nach sönlich Druck auf seinen Hongkonger USA ein „Imperium der Hacker“. Nun
Lateinamerika fliehen. Amtskollegen ausübt, ihn auszuweisen. sei erwiesen, dass China selbst ein Opfer
Seit über einem Jahr sitzt Assange jetzt Ein vorläufiger Haftbefehl wurde bereits ausländischer Hacker-Angriffe sei. Und
in London fest, draußen vor der Tür war- nach Hongkong überstellt, sein Pass an- dass nicht China, sondern Amerika das
ten Polizisten, um ihn festzunehmen und nulliert. Gleich am nächsten Morgen teilt intellektuelle Eigentum anderer plündere.
nach Schweden auszuliefern, wo er auf- ein Mittelsmann der Regierung in Hong- Der Fall Snowden ist für die chinesische
grund von Vergewaltigungsvorwürfen ge- kong Snowden mit, dass man nichts dage- Führung jedoch nicht ohne Risiko: Kurz
sucht wird. Sein Zimmer in der Botschaft gen hätte, wenn er demnächst verschwän- nachdem Snowden das Land verlassen
ist nicht viel größer als eine Gefängnis- de. Das ist eine eindeutige Aufforderung. hat, flammt die Debatte auf, wie es
zelle, darin haben ein Tisch, ein paar Spätestens seit den Enthüllungen über eigentlich die Regierung mit der Internet-
Stühle, ein Buchregal und ein Einzelbett die Spionage in China will die Führung sicherheit ihrer Bürger hält. Wie werden
Platz. Der Raum sei so düster, sagte As- in Peking Snowden offenbar nicht auslie- wir Chinesen gegen Übergriffe geschützt?
sange, dass er eine Lampe bestellt habe, fern, sondern zur Weiterreise bewegen. Wer bewilligt die Gesetze, nach denen
die den Himmel simuliert. Er hat ein Lauf- Die offizielle Begründung liest sich wie wir ausgehorcht werden? Wie läuft es ab,
band, ab und zu kommt ein Fitnesstrainer eine öffentliche Ohrfeige, schlimmer noch, wenn die Behörden einen chinesischen
vorbei, ansonsten schaut er „West Wing“ wie ein verbaler Mittelfinger an die Adres- Staatsbürger unter Beobachtung stellen?
und „Twilight Zone“. se Amerikas: Die Unterlagen seien nicht Diese Fragen richtet der Anwalt Xie
Von hier aus führt Assange die inzwi- vollständig gewesen. Die US-Regierung Yanyi an das Ministerium für Öffentliche
schen zerstrittene Organisation. Aber er hat in den Auslieferungspapieren einen Sicherheit, ein Novum in der Überwa-
hatte lange keinen Scoop mehr, der Strom falschen zweiten Vornamen für Snowden chungsrepublik China. Dass Xie auf seine
der Leaks ist versiegt. Und die Situation angegeben. Im Übrigen, heißt es, wünsche Fragen erschöpfende Antworten erhalten
in London wird langsam aussichtslos, eine man umgehend über die Spähaktionen der wird, ist unwahrscheinlich. Dass er sie
Flucht scheint unmöglich. Seit Snowdens Amerikaner aufgeklärt zu werden. überhaupt zu stellen wagte, ist neu.
Selbstenttarnung ist Assange klar, dass Snowden hat jetzt zu viel Angst, er Dutzende Journalisten und Geheim-
dies seine Chance ist, wieder ins Spiel zu fährt daher am 23. Juni zum Flughafen, dienstler erwarten Snowden bei seiner
kommen, auf sein Schicksal hinzuwei- passiert die normale Sicherheitskontrolle Landung in Moskau-Scheremetjewo.
sen – und Amerika eins auszuwischen. und fliegt mit Aeroflot nach Moskau. Sein Aber niemand bekommt den Gesuchten
Assange besorgt Snowden ein Reise-
papier aus Ecuador und sendet seine Mit-
arbeiterin Sarah Harrison nach Hongkong.
WikiLeaks soll Snowdens Fluchthelfer
werden, ihn an einen sicheren Ort brin-
gen. Wenn es den noch gibt.
Am 18. Juni verlässt Edward Snowden
zum ersten Mal wieder sein Versteck. Er
ist noch vorsichtiger geworden, zum Tref-
fen mit dem Anwalt Albert Ho und zwei
Kollegen kommt er mit Mütze und Son-
nenbrille, alle müssen ihre Mobiltelefone
in den Kühlschrank legen. Sie essen Pizza,
trinken Pepsi, dabei diskutieren sie zwei
Stunden lang. Die Anwälte warnen ihn:
Niemand könne garantieren, dass er wäh-
rend eines möglichen Auslieferungsver-
fahrens auf freiem Fuß bleiben werde. Er
wäre dann ohne Computer und Internet.
KIRSTY WIGGLESWORTH / AP
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 75
MS-UNGER.DE
Verbündete Obama, Merkel am Brandenburger Tor
A
uf den ersten Blick scheint es im- chef beim früheren CIA-Direktor Leon dann auch noch die Milliarden Mails, die
mer dieselbe Geschichte zu sein: Panetta war. jeden Tag international verschickt wer-
Es geht um die Nadel, die im Heu- Einen gigantischen Heuhaufen. Einen, den – eine Welt voller unkontrollierter
haufen verschwunden ist, die eine Infor- der sich zusammensetzt aus Milliarden Kommunikation. Und also eine Welt vol-
mation, die sich hinter einem Wust von Minuten, die Menschen grenzüberschrei- ler potentieller Bedrohungen, jedenfalls
Informationen verborgen hält. tend täglich telefonieren. Dazu kommen aus der Berufsperspektive von Geheim-
Amerikas Geheimdienste haben, so die Datenströme in den modernen Hoch- diensten. Das sei die „Herausforderung“,
scheint es, das Problem längst von der leistungskabeln des Internets, die alle wie es in einer internen Darstellung des
anderen Seite aus in Angriff genommen: paar Sekunden Informationen vom Um- amerikanischen Abhörgeheimdienstes
„Wenn du nach einer Nadel im Heuhau- fang des gesamten in der Washingtoner National Security Agency (NSA) heißt.
fen suchst, brauchst du einen Heuhau- Kongressbibliothek gesammelten Wissens Diese Herausforderung hat der Vier-
fen“, sagt Jeremy Bash, der einmal Stabs- rund um den Erdball transportieren. Und Sterne-General Keith Alexander defi-
76 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Titel
niert, der heute NSA-Direktor und gleich- illegal wäre“, heißt es in einem „streng es mit den Informationen über die all-
zeitig Cyber-Kommandochef des US-Mi- geheim“ eingestuften Dokument. gemeine Überwachung von Kommunika-
litärs ist, also Amerikas oberster Cyber- Für alle anderen, auch jene Gruppe tion aus. Sie gefährden keine Menschen-
Krieger. Bei einem Besuch in Menwith von rund 30 Ländern, die als Partner drit- leben, sondern machen ein System
Hill, der großen Abhörstation der Briten ter Klasse („3rd party“) zählen, gilt dieser erfassbar, dessen Dimension jede Vorstel-
in der Nähe von Harrogate in Yorkshire, Schutz nicht. „Wir können die Signale lungskraft sprengt, was in einer Demo-
stellte er angesichts der geballten techni- der meisten ausländischen Partner dritter kratie diskutiert werden muss. Eine sol-
schen Abhörkapazität schon 2008 eine Klasse angreifen – und tun dies auch“, che weltweite Diskussion ist Snowdens
simple Frage: „Warum können wir eigent- brüstet sich die NSA in einer internen eigentliches Anliegen, die Motivation für
lich nicht alle Signale immer abfangen?“ Präsentation. Zu diesen Ländern, die im seinen Geheimnisbruch. Er sagt: „Die Öf-
Alle Signale zu jeder Zeit – das wäre Fokus der Überwachung stehen, zählt fentlichkeit muss entscheiden, ob diese
der ideale Heuhaufen, von dem die NSA laut der Auflistung auch Deutschland. Programme und Strategien richtig oder
träumt. Und was die Nadel ist, eine Spur Damit bestätigen die Unterlagen, was im falsch sind.“
des Terrornetzwerks al-Qaida etwa oder Berliner Regierungsviertel seit langem Die Fakten, die dank Snowden nun der
die Industrieanlagen eines gegnerischen vermutet wird: dass die US-Geheimdiens- Weltöffentlichkeit zugänglich werden, wi-
Staates, die Pläne internationaler Dro- te mit Billigung des Weißen Hauses ge- derlegen vor allem die Verteidigungslinie
genhändler, aber auch die Gipfelvor- zielt auch die Bundesregierung ausfor- des Weißen Hauses. Die Überwachung
bereitung von Spitzenpolitikern befreun- schen, wohl bis hinauf zur Kanzlerin. Da sei nötig, um Terroranschläge zu verhin-
deter Staaten, das wird von Fall zu Fall überrascht es kaum, dass auch die Wa- dern, argumentierte US-Präsident Barack
bestimmt – der Heuhaufen wird’s schon shingtoner Vertretung der Europäischen Obama auch bei seinem Besuch in Berlin.
liefern. Union nach allen Regeln der Kunst ver- Und NSA-Chef Alexander rechtfertigte
Wie nah Amerikas NSA, in trauter Zu- wanzt wird, wie ein Dokument zeigt, das sich, in den USA habe die NSA dazu bei-
sammenarbeit mit anderen westlichen der SPIEGEL eingesehen hat. getragen, zehn Anschläge zu verhindern.
Geheimdiensten, diesem Ideal gekom- Die neue Qualität der Enthüllungen ist Weltweit sollen sogar 50 Terrorplots mit
men ist, hat in den vergangenen Wochen aber nicht, dass Staaten sich gegenseitig NSA-Hilfe aufgeflogen sein. Das mag
ein junger Amerikaner enthüllt, der äu- auszuforschen versuchen, Minister aus- sein, ist aber nur schwer überprüfbar und
ßerlich so gar nichts von jenem Helden horchen und Wirtschaftsspionage be- bestenfalls ein Teil der Wahrheit.
hat, als der er jetzt in aller Welt von de- treiben. Recherchen in Berlin, Brüssel und Wa-
nen gefeiert wird, die sich von Amerikas Was die Dokumente enthüllen, ist vor shington und die Dokumente, die die Re-
gigantischer Überwachungsmaschinerie allem die Möglichkeit der Totalüberwa- daktion einsehen konnte, offenbaren, wie
bedroht fühlen. chung eigener und fremder Bürger, jen- allumfassend die Überwachung der USA
Es ist ein Fiasko für die NSA, die, an- seits jeder effektiven Kontrolle und Auf- angelegt ist.
ders als etwa der US-Auslandsgeheim- sicht. Unter den Geheimdiensten der Deutschland nimmt in diesem globalen
dienst CIA, lange Zeit weitgehend ohne westlichen Welt scheint es eine Aufga- Spionagesystem eine zentrale Rolle ein.
öffentliche Aufmerksamkeit lauschen benteilung und einen teilweise regen Aus- Die NSA hat für die einlaufenden Daten-
konnte. Snowden habe den USA „unwi- tausch zu geben. Denn der Grundsatz, ströme ein Programm entwickelt, das den
derruflichen, schweren Schaden zuge- ein Auslandsnachrichtendienst dürfe sei- Namen „Boundless Informant“, grenzen-
fügt“, klagte Direktor Alexander am ne Bürger nicht oder nur aufgrund indi- loser Informant, trägt und dessen Exis-
vorvergangenen Wochenende in einem vidueller Gerichtsbeschlüsse überwa- tenz der Londoner „Guardian“ enthüllt
Interview mit dem amerikanischen Fern- chen, ist in dieser Welt der globalisierten hat, mit dem Snowden kooperiert. Es ist
sehsender ABC. Kommunikation und Überwachung aus- dafür gedacht, die Verbindungsdaten aus
Snowdens NSA-Dokumente umfassen gehebelt. Der britische Dienst GCHQ sämtlichen einlaufenden Telefondaten
weit mehr als nur ein oder zwei Skandale.
Sie sind eine Art elektronischer Schnapp- Deutschland ist gelb ausgewiesen,
schuss der Arbeit des mächtigsten Ge-
heimdienstes der Welt aus rund zehn Jah- ein Zeichen beträchtlicher Ausspähung.
ren. Der SPIEGEL hat eine Reihe von
Dokumenten aus diesem Archiv einsehen darf alle Menschen bis auf Briten über- und der übrigen Kommunikation „nahe-
und auswerten können. wachen, die NSA alle bis auf Amerikaner, zu in Echtzeit“ aufzubereiten, wie es in
Die Unterlagen belegen, welche zen- der deutsche Bundesnachrichtendienst einer Beschreibung heißt. Erfasst werden
trale Rolle Deutschland im weltumspan- (BND) alle, nur keine Deutschen. So ent- nicht die Gesprächsinhalte, sondern die
nenden Überwachungsnetz der NSA steht die Matrix einer hemmungslosen Metadaten: also von welchem Anschluss
spielt – und wie die Deutschen selbst zum Rundumüberwachung, in der jeder dem mit welchem Anschluss eine Verbindung
Ziel der Angriffe aus Amerika werden. anderen mit verteilten Rollen behilflich bestand.
Jeden Monat speichert der US-Geheim- sein kann. Es sind jene Vorratsdaten, um deren
dienst die Daten von rund einer halben Dokumente zeigen, dass die Dienste Speicherung in Deutschland seit vielen
Milliarde Kommunikationsverbindungen das in dieser Situation Naheliegende und Jahren erbittert gerungen wird – und de-
aus Deutschland. in Deutschland gesetzlich verankerte tun: ren Erfassung das Bundesverfassungsge-
Vor der Spionagewut ist niemand si- Sie tauschen sich aus. Und sie kooperie- richt im Jahr 2010 untersagte.
cher, jedenfalls fast niemand. Nur eine ren intensiv miteinander. Das gilt, neben „Boundless Informant“ erzeugt Karten
handverlesene Gruppe von Staaten ist den Briten und den Amerikanern, für den der Länder, aus denen die von der NSA
davon ausgenommen, die die NSA als BND, der der NSA bei der Internetüber- gesammelten Daten stammen. Die am
enge Freunde definiert, Partner zweiter wachung assistiert. stärksten überwachten Regionen befin-
Klasse („2nd party“), wie es in einem in- Der SPIEGEL hat sich entschieden, den sich im Nahen Osten, dazu kommen
ternen Papier heißt: Großbritannien, vorliegende Details über Geheimopera- Afghanistan, Iran und Pakistan, die beide
Australien, Kanada und Neuseeland. Die- tionen, die das Leben von NSA-Mitar- auf der Weltkarte der NSA blutrot mar-
se Länder seien für die NSA „weder Zie- beitern gefährden könnten, nicht zu pu- kiert sind. Deutschland ist, als einziges
le, noch verlangt sie, dass diese Partner blizieren, ebenso wenig die entsprechen- Land Europas, gelb ausgewiesen, ein Zei-
irgendetwas tun, was auch für die NSA den internen Codewörter. Anders sieht chen beträchtlicher Ausspähung.
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 77
Titel
10
Deutschland Internet
Italien Telefon
Frankreich Telefon
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 79
Titel
gravierende Konsequenzen: Jeder EU- des Programms „Prism“ ist klar, dass die
Wie systematisch die Agency ihr glo-
Mitgliedstaat hat im Justus-Lipsius-Ge- Abhörspezialisten der NSA auch in gro-
bales Überwachungsnetz auslegt, zeigt
bäude Räume, in die sich die Minister zu- ßer Zahl Inhalte bei den wichtigen ame-
eine Übersicht aus Fort Meade, dem
rückziehen können, samt Telefon- und rikanischen Internetfirmen abgreifen.
NSA-Hauptquartier. Darin aufgeführt
Internetanschlüssen. Deren Chefs haben einen direkten Zu-
sind zahlreiche Geheimoperationen zur
Noch skrupelloser agiert die NSA auf griff des Dienstes energisch dementiert.
Überwachung des Internets und des in-
heimischem Boden, in Washington. In Doch es scheint Dutzende Konzerne zu
ternationalen Datenverkehrs. Die NSA
einem eleganten Bürogebäude an der K geben, die jenseits von „Prism“ wissent-
„schöpft im Informationszeitalter aggres-
Street residiert die Delegation der EU, lich mit der NSA zusammenarbeiten.
siv ausländische Signale ab, die durch
offiziell eine diplomatische Vertretung. Ein besonders guter Kooperationspart-
komplexe globale Netzwerke fließen“,
ner, so heißt es in den Dokumenten, sei
Die Europäer seien ein „Angriffsziel“, ein Konzern, der in den USA tätig sei
und an Informationen gelange, die Ame-
heißt es offiziell in einem NSA-Papier. rika durchquerten. Gleichzeitig bietet die
Firma durch ihre Beziehungen „einzigar-
Doch dieser Schutz hilft wenig. Wie ein heißt es in einer internen Selbstbeschrei- tigen Zugang zu anderen Telekommuni-
Dokument der NSA beschreibt, das der bung. kationsunternehmen und Internetprovi-
SPIEGEL in Teilen einsehen konnte, hat Was da geschieht, zeigt ein weiteres dern“. Das Unternehmen sei „aggressiv
die NSA das Bürogebäude nicht nur ver- bislang unveröffentlichtes Papier, das be- dabei, den Datenverkehr über unsere
wanzt, sondern auch das interne Com- schreibt, wie die NSA Zugang zu einem Bildschirme zu leiten“, heißt es in einem
puternetzwerk infiltriert – doppelt hält ganzen Bündel von Glasfaserkabeln er- Geheimpapier der NSA. Die Kooperation
besser. Das Gleiche gilt für die EU-Mis- halten hat, die mit einem Datendurchsatz bestehe schon seit 1985.
sion bei den Vereinten Nationen in New von mehreren Gigabit pro Sekunde ar- Dabei handelt es sich offenbar um kei-
York. Die Europäer seien ein „Angriffs- beiten und damit zu den größeren Ver- nen Einzelfall. Ein weiteres Dokument
ziel“, heißt es in dem Papier, Stand bindungslinien des Netzes zählen. Der belegt die Willfährigkeit diverser Kon-
September 2010, ganz offen. Eine An- Zugang sei neu und betreffe auch meh- zerne. Es gebe „Allianzen mit über 80
frage mit der Bitte um ein Gespräch lie- rere Kabel, „die den russischen Markt be- großen globalen Firmen, die beide Mis-
ßen NSA und Weißes Haus unbeant- dienen“, schwärmt die NSA darin. Die sionen unterstützen“, heißt es in dem Pa-
wortet. Techniker aus Fort Meade kommen da- pier, das „streng geheim“ eingestuft ist.
Nun soll eine hochrangige Experten- nach an „Tausende von Leitungsbündeln „Beide Missionen“ – das meint in der
kommission, auf die sich die EU-Justiz- weltweit“. Und in einer weiteren Opera- Sprache der NSA die Verteidigung eige-
kommissarin Viviane Reding und ihr US- tion überwacht der Nachrichtendienst ein ner, amerikanischer Netze, aber ebenso
Kollege Eric Holder verständigt haben, Datenkabel, durch das der Verkehr in den das Abhören ausländischer Netze, also:
das Ausmaß der routinemäßigen Daten- „Nahen Osten, Europa, Südamerika und die Abteilung Attacke. Zu diesen Part-
schnüffelei feststellen und die Recht- Asien geleitet wird“. nern gehören Telekommunikations-
schutzmöglichkeiten für EU-Bürger erör- Doch nicht nur die Geheimdienste be- unternehmen, Hersteller von Netzwerk-
tern. Im Oktober soll es einen Abschluss- freundeter Nationen sind willige Helfer Infrastruktur, Software- sowie Sicher-
bericht geben. der NSA. Spätestens seit der Enthüllung heitsfirmen.
TAT-14
Das ringförmig angelegte Transatlantische Telefonkabel
(TAT) verbindet die USA mit Großbritannien, Frankreich,
den Niederlanden, Deutschland und Dänemark.
Kupfer- Paraffin Lichtwellenleiter
rohr
Norden/D
Ummantelung PET- verdrillte Wasserbarriere Poly-
aus Polyethylen Folie Stahlseile aus Aluminium carbonat
Bude /GB
New Jersey
1,9
Terabit an Daten
können pro Sekunde
auf beiden Routen von
TAT-14 insgesamt übertragen
werden. Das entspricht
dem Inhalt von 240 Stunden
Spielfilm.
80 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
könnte, dann wird es gerade in der
kleinen Stadt Bluffdale, in den Ber-
gen Utahs, errichtet. Dort, an der
Redwood Road, steht vor einer
frisch geteerten Straße ein Schild
mit schwarzen Lettern auf weißem
Grund: Militärisches Sperrgebiet,
Zutritt verboten. In Papieren des
Pentagons, Formblatt 1391, Seite
134, tragen die Gebäude dahinter
die Projektnummer 21078. Gemeint
ist das Utah Data Center, vier rie-
sige Serverhallen mit Gesamtkosten
von etwa 1,2 Milliarden Euro.
Erbaut von 11 000 Arbeitern, soll
die Anlage als Speicherzentrum all
dessen dienen, was sich in den Da-
tenschleppnetzen der NSA ver-
fängt. Gerechnet wird dann bald in
der Speichereinheit Yottabytes, wo-
bei ein Yottabyte eine Billion Tera-
byte oder eine Billiarde Gigabyte
sind. Heutige handelsübliche exter-
etwa doppelt so viele wie noch im August erst gut ein Jahr her, dass er bekanntgab,
MINDERHEITEN 2012. Und nur zwölf Jahre zuvor, zur Jahr- seine Ansichten hätten sich „entwickelt“,
tausendwende, gab es Schwulen-Ehen nir- er sei nun für die Homo-Ehe.
D
ie Trennlinie zwischen dem Wes- eine entsprechende Entscheidung des Na- Entscheidung hatte das Oberste Gericht
ten und dem Rest der Welt ver- tionalen Justizrates vom Mai womöglich ein wichtiges Wahlgesetz für ungültig er-
lief am vergangenen Donnerstag noch angefochten werden, sie ist aller- klärt: Es sollte bis dahin die Diskriminie-
ziemlich genau zwischen US-Präsident dings bereits in Kraft. rung von Schwarzen bei Wahlen in den
Barack Obama und dem senegalesischen Dazu passt das Urteil des Obersten Ge- Südstaaten verhindern. Die Richter fan-
Präsidenten Macky Sall. Lächelnd stan- richtshofs in Washington: Mit fünf zu vier den aber, das Gesetz werde in dieser
den die beiden in Dakar vor der Presse, Stimmen erklärten die US-Richter den Form nicht mehr benötigt. Während das
doch dann stellte jemand eine Frage nach „Defense of Marriage Act“ teilweise für Gericht Schwarze als nicht mehr so
der Homo-Ehe. verfassungswidrig. Dieses Gesetz zur schutzbedürftig ansieht wie in den sech-
Obama pries die Entscheidung des „Verteidigung der Ehe“ legte fest, dass ziger Jahren, stellt es mit den Homo-
Obersten Gerichtshofs in Washington, Homo-Ehen vor Bundesbehörden wie sexuellen eine andere Minderheit unter
der am Vortag in einer historischen Ent- dem Steueramt keine Geltung haben, den Schutz der Verfassung.
scheidung die Ehe für Schwule und Les- selbst wenn sie in einem Bundesstaat le- Verlierer des Trends sind in allen Län-
ben auch auf Bundesebene anerkannt gal sind. Nun aber erhalten auch schwule dern die religiösen Kräfte. In Frankreich
hatte. Das sei ein „Sieg für die amerika- und lesbische Ehepartner Steuererleich- waren es die seit Jahrhunderten starken
nische Demokratie“, sagte Obama und terungen und sind gegenseitig erbberech- katholisch-konservativen Milieus, die ge-
forderte die afrikanischen Staaten auf, tigt – ein bürokratischer Vorgang mit gro- gen Präsident François Hollandes Gesetz
Homosexuellen ebenfalls gleiche Rechte ßen Auswirkungen. zur Homo-Ehe marschierten. Doch der
zu gewähren. Kaum war die Entscheidung verkündet, Widerstand in Frankreich richtet sich ge-
Sall widersprach Obama umgehend – meldete sich als einer der Ersten der frü- gen weit mehr als nur die Homo-Ehe. Es
im Senegal ist es Schwulen nicht nur ver- here US-Präsident Bill Clinton zu Wort, ging darum, die Legitimität des sozialis-
wehrt zu heiraten, Sex zwischen Män- in einem gemeinsamen Statement mit sei- tischen Präsidenten grundsätzlich in Fra-
nern ist hier gar strafbar, wie in rund 30 ner Frau Hillary. Beide priesen das Ende ge zu stellen. Nur damit ist zu erklären,
afrikanischen Ländern. „Der Senegal ist der „Diskriminierung“ – vergaßen aller- dass der Protest eine solche Wucht ent-
ein tolerantes Land“, sagte Sall. „Aber dings zu erwähnen, dass Clinton selbst faltete. Auch in Frankreich stimmen in
wir sind nicht bereit, Homosexualität zu 1996 den „Defense of Marriage Act“ mit Umfragen bis zu zwei Drittel der Bürger
legalisieren.“ seiner Unterschrift in Kraft gesetzt hatte. für die Homo-Ehe.
Das Treffen der beiden Präsidenten war Selten hat sich die öffentliche Meinung Überall in Europa und Amerika sind
ein Zusammenprall der Kulturen, und er in einer Frage so schnell gewandelt wie die Gegner in der Defensive. Der Bap-
fiel umso heftiger aus, weil in Europa und bei der gleichgeschlechtlichen Ehe. Wäh- tistenprediger und einstige republika-
Amerika gerade ein schneller gesellschaft- rend 2005 noch 60 Prozent der Amerika- nische Präsidentschaftsbewerber Mike
licher Wandel stattfindet. Eine Zahl ver- ner dagegen waren, sind heute 55 Prozent Huckabee kommentierte das US-Urteil
deutlicht, wie rasant er voranschreitet: dafür. Die Politiker kamen bei diesem mit den Worten: „Jesus weinte.“ Und
Von August an werden weltweit 585 Mil- Sinneswandel kaum hinterher. selbst der ultrarechte Radio-Talker Rush
lionen Menschen in Regionen leben, in Barack Obama hatte noch im Wahl- Limbaugh gestand Anfang des Jahres ein,
denen die echte Homo-Ehe existiert – kampf 2008 gesagt: „Ich glaube daran, die Bewegung werde nicht aufzuhalten
nicht nur juristisch besiegelte gleichge- dass die Ehe eine Verbindung zwischen sein: „Die Sache ist verloren.“
schlechtliche Partnerschaften. Das sind einem Mann und einer Frau ist.“ Es ist MATHIEU VON ROHR
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 83
AMR ABDALLAH DALSH / REUTERS
Anti-Mursi-Graffito vor dem Präsidentenpalast, Mursi-Anhänger bei einer Kundgebung in Kairo am vergangenen Freitag: „Der Präsident und seine
A
m Nachmittag des 23. Juni be- oben: Acht Tage zuvor hatte es eine Mas- si halten. Und nicht wenige trauern sogar
schlossen die Männer des Dorfs senveranstaltung in einem Kairoer Sta- Mubarak hinterher. „Es ging uns besser
Abu Musallam bei Kairo, dass es dion gegeben, sie wurde auch im Fern- unter ihm“, sagt der Besitzer eines Sou-
an der Zeit sei, die „Ungläubigen“ in ih- sehen übertragen. Salafistische Hasspre- venirgeschäfts in Gizeh, „wir hatten ein
rer Nachbarschaft abzuschlachten. diger hatten Schiiten als „schmutzig“ und geregeltes Einkommen, das Land war si-
Ein schiitischer Geistlicher hatte den „ungläubig“ beschimpft, und auch Ägyp- cher, die Touristen kamen.“
mehrheitlich sunnitischen Ort betreten, tens Staatsoberhaupt Mohammed Mursi Nicht alle Probleme hat Mursi selbst
er wollte mit ein paar Glaubensbrüdern sprach. Vor 20 000 Anhängern verkündete zu verantworten, schon vor seinem Amts-
einen islamischen Feiertag begehen. der Präsident den Abbruch der Beziehun- antritt ging es mit der Wirtschaft bergab.
Kaum hatten die Männer und die Halb- gen seines Landes zum Assad-Regime in Doch der Präsident, klagt der Kairoer
starken von Abu Musallam davon erfah- Syrien. Weil Damaskus ein Verbündeter Wirtschaftsjournalist Saad Hagras, habe
ren, rotteten sie sich zusammen. Irans ist, schien es Mursi nicht zu stören, weder Ideen noch Konzepte. Mursi beließ
Mit Steinen und Molotow-Cocktails dass nach ihm Prediger zu Wort kamen, es bislang bei vagen Versprechungen wie
griffen sie die Häuser der Schiiten an, die fanatisch gegen Iraner und andere jener, innerhalb von hundert Tagen für
zerrten ihre Opfer grölend auf die Stra- Schiiten hetzten. Stabilität und Aufschwung zu sorgen.
ße, stachen mit Messern und Säbeln zu. Der Muslimbruder Mursi, Ägyptens Von beidem ist die alte Führungsmacht
„Tötet sie!“, riefen die Peiniger. Vier erster demokratisch gewählter Präsident, des Nahen Ostens heute weiter denn je
Schiiten verloren ihr Leben, Dutzende ist seit einem Jahr an der Macht – und entfernt.
Männer lagen blutend im Staub. Einige seine Bilanz ist desaströs. Statt sein Land Mit geringer Mehrheit und niedriger
Polizisten schauten dem Treiben zu. Sie aus der politischen und wirtschaftlichen Wahlbeteiligung hatte die regierende Mus-
griffen nicht ein, sie bargen lediglich die Dauerkrise zu befreien, führt Mursi es limbruderschaft im vergangenen Jahr eine
Leichen. nur noch tiefer hinein. Statt Ägypten zu Verfassung durchgedrückt, die den Stem-
Was trieb den Mob an? Warum wüte- versöhnen, sät er Zwietracht. Massenpro- pel der Islamisten trägt und von weiten
ten die Menschen von Abu Musallam ge- teste zeigen immer wieder, wie polarisiert Teilen der Ägypter rigoros abgelehnt wird.
gen ihre schiitischen Nachbarn, die sie das bevölkerungsreichste Land der arabi- Um kurzerhand noch mehr Macht an sich
seit Jahrzehnten kannten? schen Welt mittlerweile ist. zu reißen, sicherte sich Mursi Ende 2012
Auf jeden Fall konnten sich die Angrei- „Noch nie“, sagt der deutsch-ägypti- präsidiale Sonderbefugnisse, woraufhin es
fer ermutigt fühlen, und zwar von ganz sche Autor Hamed Abdel-Samad, „war im ganzen Land zu Ausschreitungen kam.
84 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Ausland
sowieso in der Schatten- droht der Verlust seiner Zu dem Massaker an den vier Schii-
wirtschaft arbeiteten. Fast sozialen Basis. Doch je ten in Abu Musallam, deren einziges
jeder zweite Ägypter lebt länger er Reformen auf- Verbrechen es war, der falschen Konfes-
unterhalb der Armutsgren- Autor Abdel-Samad schiebt, desto schwieriger sion anzugehören, sagte der Präsident
ze von zwei Dollar pro Polizeischutz in Deutschland wird es. „Der Präsident nichts. DANIEL STEINVORTH
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 85
„Grünhelm“-Helfer in Harim*
„47 Tage ohne jedes Lebenszeichen“
GRÜNHELME
Freien Syrischen Armee (FSA), sie wird
vom Stadtrat versorgt und soll für Sicher-
heit sorgen. Aber die FSA-Männer sind
und Schulen wieder auf. „Doch nachdem vor allem mit dem Treibstoffschmuggel
SYRIEN alle Versuche fehlgeschlagen sind, appel- über die türkische Grenze beschäftigt. Ein
lieren wir an die Bundesregierung, die Graffito im Zentrum parodiert die Revo-
D
ie Entführer kamen nachts um Syrien angekommen war und eigentlich Kommandeure der lokalen Rebellengrup-
kurz vor drei. Sie kamen leise, nur für wenige Wochen in Harim bleiben pen. Der Schlupfwinkel einer Schmugg-
und offenbar bedrohten sie ihre sollte: „Wir hoffen, wir appellieren, aber lergruppe in den Bergen wurde durch-
Opfer, die drei Männer der deutschen wir fühlen uns als Angehörige sehr hilflos, sucht, erfolglos. Eine Gruppe ausländi-
Hilfsorganisation „Grünhelme“; denn die wenn wir gar nicht wissen, welche Maß- scher Dschihadisten wurde verdächtigt,
blieben ebenfalls vollkommen still. nahmen ergriffen werden.“ Aus dem Aus- doch zwei Aussteiger gaben an, der An-
Und so bekam fast niemand etwas mit, wärtigen Amt heißt es, „der Krisenstab führer dort sei zwar brutal, halte aber
als die drei Deutschen Bernd Blech- ist mit dem Fall intensiv befasst“. keine ausländischen Geiseln fest.
schmidt, Simon Sauer und Ziad Nouri am Schon im Herbst vergangenen Jahres Die Kidnapper wussten offenbar sehr
15. Mai aus einer Erdgeschosswohnung wagten sich die ersten Grünhelme in jene genau, wo die Deutschen wohnten, ob-
in der nordsyrischen Stadt Harim entführt verwüsteten Gebiete Nordsyriens, aus de- wohl die erst einen Monat zuvor in das
wurden. nen Rebellen die Truppen des Regimes Haus gezogen waren und kein Schild auf
Nur einen Zeugen hatten die Geisel- vertrieben hatten. In der Kleinstadt Asas die Grünhelme hinwies. Seit vergange-
nehmer übersehen: Amr al-Mraiati, syri- richteten sie ein Krankenhaus wieder her. nem Herbst sind mehrfach Ausländer im
scher Kollege der drei, hörte verängstigt Mitte März 2013 zogen sie weiter nach Norden nach exakt dem gleichen Muster
aus einem Nebenzimmer alles mit. Ir- Harim, direkt an der türkischen Grenze. verschleppt worden: Immer gab es wohl
gendjemand drückte mal die Klinke zu Sie errichteten einen Kindergarten, dann lokale Informanten, dann einen raschen
seiner Tür herunter, brach aber dabei den fingen sie damit an, ein Krankenhaus auf- Zugriff – und anschließend verschwanden
Plastikgriff ab. Er habe die Täter nur ein- zubauen. die Opfer spurlos. Eine Macht, die Aus-
mal reden hören, so al-Mraiati, „als einer „Alle dachten, Harim wäre relativ si- länder an ganz verschiedenen Orten nach
sagte: ,Ich muss jetzt los!‘ und ein anderer cher, weit entfernt von den Kämpfen“, so demselben Muster verschleppen lassen
erwiderte, ,gut, dann geh!‘“ Neudeck. Die irische Hilfsorganisation könnte, ist das Regime in Damaskus.
„Bislang hatten wir gehofft, unsere Mit- „Goal“ hatte dort ein Büro eröffnet. Tage Aber dafür fehlen Beweise.
arbeiter zu finden und freizubekommen“, vor der Entführung kontaktierte dann „Jetzt sind wir seit 47 Tagen ohne jedes
sagt Rupert Neudeck, Gründer des Ver- Lebenszeichen von den dreien“, sagt
eins „Grünhelme e. V.“. Seine Nothelfer * Gründer Rupert Neudeck (vorn l.), Helfer Simon Sauer Rupert Neudeck, „ich bin entsetzlich be-
bauen in Krisengebieten Krankenhäuser (2. v. r.), Bernd Blechschmidt (r.). sorgt.“ HUBERT GUDE, CHRISTOPH REUTER
86 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
ANATOLY MALTSEV / PICTURE ALLIANCE / DPA
RUSSLAND
S
chwarzer Wald zieht am Fenster von umgerechnet 2,9 Milliarden Euro von Moskau. Es ist eine unfreiwillige Rei-
vorbei, der Zug rumpelt durch die beim Bau einer Pipeline zum Pazifik auf se und eine, die für ihn mit bis zu zehn
Nacht, von Moskau Richtung Sibi- und brandmarkte den Putin-Wahlverein Jahren Lagerhaft enden kann. Denn in
rien – so fährt sie dahin, die große Hoff- „Einiges Russland“ als „Partei der Gauner Kirow wartet auf den Oppositionsführer
nung der Opposition in Russland. und Diebe“. Die Losung ist heute in ganz ein Gerichtspräsident, der sich rühmt,
Alexej Nawalny sitzt im Polohemd in Russland bekannt. „im Leben noch nicht einen einzigen Frei-
seinem Abteil. Vor ihm liegt sein iPhone, Das machte Nawalny, 37, zum popu- spruch gefällt“ zu haben.
er hat einen Aufkleber auf die Rückseite lärsten Anführer der Massenproteste, die Auf seinem Laptop klickt sich Nawalny
gepappt. „Putin ist ein Dieb“ steht dar- vor einem Jahr Putins Rückkehr in den durch die Ermittlungsakten, 10 000 Seiten
auf. Nawalny, gelernter Jurist, hat Staats- Kreml begleiteten. Der Blogger kann sind es insgesamt. Vor vier Jahren soll er,
konzerne und Vertraute des Kreml-Herrn mitreißend reden, bis hin zur Demagogie, so die Anklage, als Berater des liberalen
Wladimir Putin der Korruption bezichtigt auf Twitter folgen ihm 360 000 Menschen. Gouverneurs von Kirow beim Verkauf
und die Vorwürfe in seinem Blog mit in- Nun aber schlägt die Staatsmacht zurück. von Holz aus dem Staatswald umgerech-
ternen Berichten des Rechnungshofs un- Nawalny ist unterwegs nach Kirow; die net 370 000 Euro unterschlagen haben,
termauert. Er deckte Unterschlagungen Provinzstadt liegt 13 Zugstunden östlich was Nawalny bestreitet. Der Kreml will
88 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Ausland
Der Straßenkämpfer
Ilja Jaschin sitzt auf der Rückfahrt nach
Moskau im Speisewagen. Er war Nawal-
nys Sekundant in zahllosen Schlachten.
Meistens verloren sie. Beide hatten ihre
Karriere vor mehr als einem Jahrzehnt
in der sozial-liberalen Partei Jabloko be-
gonnen.
Später radikalisierten sich die Jung-
politiker. Nawalny fordert heute, Putin
vor Gericht zu stellen. Jaschin schaffte
es im September 2007 mit einer Protest-
aktion in die Schlagzeilen der Weltpresse:
Mit einem Benzinkanister marschierte er
auf den Roten Platz, in der Hand hielt er
ein Plakat mit einer Botschaft an Putin:
„Brenn in der Hölle“. Dann steckte sich
Jaschin selbst an – allerdings trug er einen
feuerfesten Anzug.
Schon damals symbolisierte die Tat die
schwierige Lage der Putin-Gegner: Gin-
gen in Moskau oder St. Petersburg De-
monstranten auf die Straße, knüppelten
Polizisten sie nieder. In der Wolgastadt
Nischni Nowgorod schickte die Staats-
macht im März 2007 bis zu 20 000 Polizis-
ten gegen wenige hundert Demonstran-
ten ins Feld.
Einige Probleme der Putin-Gegner
aber sind hausgemacht. Eitelkeiten und
Streitigkeiten schwächen die Opposition
von jeher.
Als Chef der Moskauer Jabloko-Ju-
gendorganisation hatte Jaschin 2002 einen
Schreibtisch im Keller der Parteizentrale,
AFP
tei. So steht Jawlinski exemplarisch für ei- me, aber ein kleines Budget“, klagt sie die Partei schon fünf Jahre zuvor gründen
nes der Probleme des neuen Russland: Es heute. Die Schlangen der Patienten, die lassen, um den Kommunisten Stimmen
fällt schwer, eine Demokratie aufzubauen, auf einen Termin warteten, reduzierte sie, abzujagen. Gudkow hoffte, aus dem Re-
wenn es an echten Demokraten fehlt. indem sie Anmeldungen im Internet ein- tortenprojekt eine sozialdemokratische
führte. Die Löcher im Haushalt aber Partei formen zu können. Nach 70 Jahren
Die Ex-Ministerin konnte sie nicht stopfen. Zwei Jahre Kommunismus ticke die Seele Russlands
Wenn es in Russland überhaupt so etwas später trat Gaidar zurück. Um ein Jahr eher links, glaubte Gudkow.
wie Familien mit demokratischer Tradi- in Amerika zu studieren, wie sie sagt. Aber er scheiterte. Die Partei Gerech-
tion gibt, dann kommt Marija Gaidar aus Weil sie gescheitert ist, heißt es in Kirow. tes Russland zog zwar mit Nawalnys
der bekanntesten. Ihr Vater diente als Gaidar sitzt in einem Café unweit des Schlachtruf gegen die „Gauner und Die-
Premierminister unter Boris Jelzin: Jegor Radiosenders Echo Moskwy. Dort darf be“ in den Parlamentswahlkampf und
Gaidar war der Mann, der mit liberalen sie nun eine politische Radioshow mode- verdoppelte so fast die Zahl ihrer Man-
Wirtschaftsreformen Anfang der neunzi- rieren. Der Sender wettert täglich gegen date. Dann aber ließ sich die Truppe vom
ger Jahre die Planwirtschaft beerdigte. die Regierung, gehört aber dem staat- Kreml wieder an die Kette legen. Und
Die Anhänger der Kommunisten hassen lichen Energieriesen Gazprom. die Parteiführung schloss Gudkow im
ihn deshalb noch heute. Aus dem Kabinett ist Gaidar wieder März wegen seiner Putin-Kritik aus der
Vor acht Jahren tauchte seine Tochter auf eine vom Kreml gerade noch tolerier- Partei aus.
Marija in der Moskauer Polit-Szene auf. te Insel der Kritik zurückgekehrt. Ihr In Deutschland wäre Gudkow viel-
Zusammen mit Nawalny organisierte sie Marsch durch die Institutionen ist geschei- leicht Chef der Jusos, Ilja Jaschin wohl
Debatten in Kneipen. Im Gegensatz zu tert. Das hat sie mit einem anderen Nach- bei den Grünen, Marija Gaidar die Nach-
den feinorchestrierten Talkshows im wuchsstar gemeinsam, mit dem jungen wuchshoffnung der Liberalen, und Alexej
Staatsfernsehen waren sie frei und mit- Sozialdemokraten Dmitrij Gudkow. Nawalny würde bei der CSU um die Stim-
reißend. men der Jugend werben. In Russland aber
Mit Ilja Jaschin, dem ewigen Straßen- Der Parlamentsrebell sieht es so aus, als bliebe der Opposition
kämpfer, seilte sich Mascha Gaidar von Dmitrij Gudkow hat sein Büro im zwölf- nur die Wahl zwischen Kapitulation oder
einer Brücke ab und spannte in Sichtwei- ten Stock des russischen Parlaments, Knast.
te des Kreml ein Transparent über die noch, denn die breite Putin-Mehrheit wür- Am Ende des Verhandlungstags tritt
Moskwa: „Gebt dem Volk die Wahlen de den unbequemen Politiker lieber heu- Alexej Nawalny aus dem Kirower
zurück, ihr Scheusale“ stand darauf. Das te als morgen aus der Duma werfen. Gericht. Vor dem Gebäude hängen
war ihr Protest gegen die notorischen Ein Kühlschrank brummt in der Ecke, Transparente seiner Unterstützer, es geht
Wahlfälschungen und die Abschaffung auf dem Boden steht ein Wasserkocher. um Korruption, Verschwendung und
direkter Gouverneurswahlen. Fünf Schreibtische zwängen sich auf 20 Diebstahl bei den Vorbereitungen für
Vor vier Jahren dann wechselte Gaidar Quadratmetern, vier für die Mitarbeiter, die Olympischen Winterspiele 2014 in
auf einen Ministersessel: Putins Kreml- einer für Gudkow. Der 33-Jährige hat die Sotschi. Putins Prestigeprojekt wird
Statthalter Medwedew – schwach, aber Statur eines Basketballprofis, Abteilung Russland mehr als 50 Milliarden Dollar
Reformen nicht abgeneigt – hatte in Ki- Attacke. kosten, das Doppelte dessen, was die
row den Kreml-Gegner Nikita Belych als Zusammen mit Gaidar und Nawalny vergangenen sieben Olympischen Win-
Gouverneur eingesetzt. In der Stadt, in hat er 2006 eine „Jugend-Gesellschafts- terspiele zusammen gekostet haben. „Ki-
der Nawalny heute vor Gericht steht, kammer“ gegründet. Sie war als Platt- row könnte davon hundert Jahre leben“,
begann ein Feldversuch, Medwedew er- form für die Opposition gedacht und als ruft Nawalny.
öffnete der Opposition eine Nische. Die Gegenpol zur „Gesellschaftskammer“, ei- Anhänger umringen ihn. Ehefrau Julija
Regierungsgegner sollten beweisen, dass nem von Putin ersonnenen, willfährigen hält die Hand ihres Mannes. Jeder weiß:
sie selbst regieren können. Beratungsorgan aus Stars und Sternchen. Je lauter Nawalny schreit, desto länger
Gaidar wurde Ministerin für Gesund- 2011 zog Gudkow für „Gerechtes Russ- wird der Kreml ihren Mann wegsperren
heit und Soziales in Kirow. „Viele Proble- land“ ins Parlament ein. Der Kreml hatte lassen. BENJAMIN BIDDER
90 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Ausland
MEERUT
Ein ruhiges Herz
GLOBAL VILLAGE: Warum eine indische Henkersdynastie wieder Hoffnung schöpft
S
eit früher Kindheit hatte Pawan dien selbst setzten viele tausend Demon- Denn offenbar sollte alles ganz schnell
Singh jenen Tag herbeigesehnt: stranten eine Gesetzesverschärfung gehen: Mit Blick auf die nächste Parla-
Zum ersten Mal durfte er seinem durch: Künftig droht auch Vergewaltigern mentswahl, die spätestens 2014 stattfin-
Großvater bei einer Hinrichtung assistie- der Galgen. den muss, wollte die Obrigkeit Hand-
ren. Ganz allein fesselte er die Füße des Aber was Singh und sein 19-jähriger lungsfähigkeit beweisen und auch inter-
Häftlings, bevor der Großvater begann, Sohn Aman – er möchte auch Henker national Stärke zeigen.
sein Handwerk zu verrichten. Er stülpte werden – als tiefe Verletzung der Famili- Indiens Wirtschaft lahmt, Reformen
eine schwarze Kappe über den Kopf des enehre empfinden, ist ein anderer Punkt: kommen nicht voran, da sollen wenigs-
Todgeweihten und legte ihm den Strick Bereits im November vergangenen Jahres tens Verbrecher sterben, auch wenn die
um den Hals. Dann zog er den Hebel, der ließ die Obrigkeit den Pakistaner Ajmal Todesstrafe in den meisten zivilisierten
ruckartig die Falltür unter den Fü- Ländern als barbarisch und ineffi-
ßen des Mannes öffnete. zient gilt.
Das war vor über zwei Jahrzehn- Doch bald wird auch er selbst zu
ten, und für Singh begann damals tun bekommen, da ist sich Henker
eine lange Lehre. „Mein Großvater Singh sicher. Feierlich zieht er ein
brachte mir bei, den Strick so zu Schreiben aus einem braunen Ku-
knoten, dass Verurteilte blitzschnell vert, darin erneuert die Justiz seine
getötet werden“, sagt Singh. Lizenz zum Töten. 3000 Rupien
Von Generation zu Generation Grundgehalt – das sind etwa 38
wurde in seiner Familie der Beruf Euro – soll er demnach schon bald
des Henkers schon vererbt, auch wieder monatlich erhalten, und pro
sein Vater übte ihn aus, sagt Singh. Hinrichtung 2000 Rupien extra.
Doch der Großvater sei der Meister Um zu beweisen, dass er sein
des Fachs gewesen, berühmt in Handwerk noch beherrscht, legte
ganz Indien: Er hängte 1989 zum Singh vor einigen Monaten im
Beispiel einen Attentäter, der gut Gefängnis von Meerut eine Art
vier Jahre zuvor die Ministerprä- Prüfung ab: An einem Sandsack, 45
sidentin Indira Gandhi ermordet Kilogramm schwer, führte er den
hatte. Beamten vor, was ihm sein Groß-
Inzwischen ist Singh 52 Jahre alt vater beigebracht hat: „Um den
und darf hoffen, dass auch er die Strick richtig zu knüpfen, muss
Familientradition fortsetzen kann. man das individuelle Gewicht des
Noch allerdings fährt er mit seiner Häftlings berücksichtigen“, sagt er.
Fahrradrikscha durch das Markt- „Und das Herz des Henkers darf
viertel von Meerut, einer Millionen- nie aus der Ruhe geraten.“
EYEVINE / INTERTOPICS
92 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Szene Sport
EISHOCKEY
zwischen der UdSSR und Kanada 1972
berauscht. In diesem ersten Ost-West-
Vergleich mit den Cracks aus der
Die wilde 17 National Hockey League hatte Char-
lamow, der Angreifer von ZSKA
Ein Kinofilm hat sieben Monate vor Moskau mit der Trikotnummer 17, die
den Olympischen Winterspielen in Sowjetunion mit zwei Toren zum
Sotschi das Eishockeyfieber in Russ- 7:3-Erfolg geführt. Charlamow gewann
land angeheizt. „Legend No. 17“, so mit dem Wunderteam acht WM-Titel
heißt der Spielfilm, der von Russlands und zweimal, 1972 und 1976, Gold
Eishockeylegende Walerij Charlamow bei Olympischen Spielen. Produziert
GOLOVANOV + KIVRIN / IMAGO
FA N S
I
n wenigen Stunden wird der Kampf Erlaubnis bitten. Immer wieder wurde Beschneidungsfeier brachte. Die Profis
auf den Straßen Istanbuls wieder los- er verhört: Hast du in deinen Tweets die schenkten ihm ihre verschwitzen Trikots.
gehen. Während die türkischen Polizis- Polizisten Hurensöhne genannt? Warum Sie blieben den ganzen Abend, schrieben
ten ihre Wasserwerfer auffahren und ihre wolltest du Erdogans Residenz in Istan- Autogramme. Im selben Jahr, 1991, wurde
Pfeffergasgranaten laden, versteckt sich bul angreifen? Okan, wolltest du die Re- Beşiktaş türkischer Meister. Okan sah von
Okan in einem Café am Taksim-Platz. gierung stürzen? nun an alles in den Farben seines neuen
Er nimmt den Akku aus seinem Handy, Okan sagt, Erdogan sei größenwahn- Clubs: siyah, beyaz, Schwarz und Weiß,
aus Angst, das Gespräch könnte abgehört sinnig. Er wolle alles bestimmen: wie vie- der Adler auf dem Wappen wurde sein
werden, er dreht sich nach Zivilpolizisten le Kinder Frauen bekommen sollen, ob Lieblingstier. Sein Vater, ein fanatischer
um, zieht hastig an seiner Zigarette. Er in Istanbul eine neue Brücke gebaut wer- Fenerbahçe-Fan, musste hinnehmen, dass
möchte am liebsten weg, nach Hause, doch de oder ein Einkaufszentrum. Okan, der er seinen Sohn an die Çarşi im Viertel
zuvor will er erklären, warum er an diesem selbst nicht trinkt, versteht nicht, warum verloren hatte.
Abend nicht bei seinen Freunden auf dem Erdogan gegen das türkische Volksge- Çarşi bedeutet so viel wie „Markt“.
Taksim-Platz sein wird – zum ersten Mal tränk Raki, einen Anisschnaps, hetzt. Die Bewohner von Beşiktaş, einem Stadt-
seit Beginn des türkischen Aufruhrs. Okan sagt, er sei für die Demokratie auf teil auf der europäischen Seite Istanbuls
Okan, Ende zwanzig, ein schmächtiger die Straße gegangen – und für Çarşi. nicht weit vom Taksim-Platz entfernt,
Mann mit blassem Gesicht und Adler-Tat- Es gibt die Redewendung, wonach Fuß- nennen so die zentrale Gasse in ihrem
too auf der Schulter, ist Mitglied von Çarşi, ball mehr ist als nur ein Spiel. Dieser Satz Viertel. Hier treffen sich die Çarşi, hier
der Ultra-Fangruppe des Istanbuler Fuß-
ballclubs Beşiktaş. Er hat in den vergan-
genen vier Wochen für Çarşi gegen die
Polizei gekämpft, hat Barrikaden errichtet,
Demonstranten über Twitter durch die
Stadt gelotst. „Ich habe in diesem Kampf
genug Tränengas gefressen“, sagt er.
Die Anhänger von Beşiktaş Istanbul
gelten als die lautesten Fußballfans der
Welt, 141 Dezibel wurden bei einem Liga-
spiel im Mai im Stadion gemessen, ein
Rekord. Nun unterstützen sie den Auf-
stand der türkischen Zivilgesellschaft ge-
gen die autoritäre Regierung von Minis-
terpräsident Recep Tayyip Erdogan. Viele
Türken halten sie seither für die mutigs-
ten Fans überhaupt.
Die Beşiktaş-Ultras haben die Revolte,
die mit der Demonstration gegen die Ab-
SEDATMEHDER.COM
ten holten ihn im Morgengrauen aus buler Bourgeoisie versammelt. Beşiktaş Die Ultras von Beşiktaş waren schon lange
seiner Einzimmerwohnung im Stadtteil ist das Team der Arbeiter und Linksintel- vor dem Aufstand vom Taksim-Platz poli-
Beşiktaş. Er hatte gerade noch Zeit, sich lektuellen. Der Club verfügt über kein gro- tisch engagiert. Sie demonstrierten gegen
anzuziehen und seinem Anwalt eine ßes Budget, der Deutsche Bernd Schuster den Irak-Krieg und den Bau eines Atom-
SMS zu schreiben: „Es geht los.“ Zwei- hat hier einmal als Trainer gearbeitet, aber kraftwerks; sie sammelten Geld für Erd-
mal am Tag bekam Okan eine Schüssel Stars laufen eher für andere Vereine auf. bebenopfer und spenden regelmäßig Blut.
Reis zu essen. Wenn er auf die Toilette Okan war sechs Jahre alt, als sein On- Einer ihrer Anführer ist Armenier, und
gehen wollte, musste er die Wärter um kel Spieler von Beşiktaş mit auf seine das in einem Land, das den Massenmord
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 95
Sport
an den Armeniern im Ersten Weltkrieg ße, mehrere Menschen kamen dabei ums
bis heute nicht als Genozid anerkennt. Als Leben. Ein Abkommen zwischen den FORMEL 1
ein schwarzer Beşiktaş-Spieler von gegne- Fan-Anführern in den Neunzigern dämm-
rischen Fans rassistisch beleidigt wurde,
entrollten Anhänger im Stadion ein Ban-
ner: „Wir sind alle schwarz“.
te die Gewalt ein, verhinderte sie jedoch
nie ganz. Dass Unterstützer der Clubs
nun gemeinsam gegen Erdogan demon-
Ein bisschen öko
Es ist nicht überraschend, dass sich die strieren, sagt Okan, sei allein schon eine Die Einführung moderner
Beşiktaş-Ultras auch an den Protesten Revolution. Hybridmotoren bedeutet für die
gegen die Regierung Erdogan beteiligen. Die Regierung hat das Camp Gezi in- Rennserie eine Zeitenwende.
Çarşi kämpft seit 30 Jahren gegen Des- zwischen von der Polizei räumen lassen.
potismus und Staatswillkür. Die Gruppe Viele Çarşi setzen den Protest trotzdem Künftig gilt: Sieger wird, wer am
hat auf Twitter fast 300 000 Follower. Als fort. Im einem Park in Beşiktaş treffen schnellsten langsam fährt.
die Demonstrationen begannen, genügte sich am Abend Hunderte Demonstranten
I
ein Wort: „Geliyoruz“ – wir kommen. zu einem „offenen Forum“. Die Veran- m Chaos eine innere Ordnung zu
Am 1. Juni, einem Samstag, zogen dar- staltung wird von Çarşi organisiert, Ultras entdecken, das ist der Job von Alex-
aufhin mehrere zehntausend Beşiktaş- bewachen das Gelände. Die Menschen ander Wurz. Seit fünf Jahren kom-
Anhänger in Richtung Taksim-Platz. Sie haben sich in einem Amphitheater zwi- mentiert der Österreicher die Formel-1-
trugen schwarz-weiße Fanschals bei sich, schen Statuen von Schriftstellern und Rennen für das heimische Fernsehen, den
Trommeln, bengalische Feuer. Sie liefer- Journalisten versammelt. Redner wech- ORF. Anfangs war das eine eher unkom-
ten sich Straßenkämpfe mit der Polizei, seln sich am Mikrofon ab. Einer ruft dazu plizierte Sache, weshalb ihm an den
kaperten einen Bagger und vertrieben auf, Burger King zu boykottieren, die Rennwochenenden genug Zeit blieb, um
damit einen Wasserwerfer. Das Video ist Fast-Food-Kette hatte offenbar Schutz- auf Partys zu gehen. Auch mit Schlaf-
bei YouTube ein Hit. Im Gegensatz zu suchenden während der Proteste den mangel und Restalkohol blickte er tags-
Zugang zu ihren Restaurants verweigert. über durch, was alles auf der Strecke so
Ein anderer kündigt eine Kundgebung vor sich ging.
für den folgenden Tag an. Inzwischen meidet Wurz das Nacht-
Einige hundert Meter weiter, in der leben. „Ich muss mich zu stark konzen-
Kneipe eines Çarşi-Anführers, laufen im trieren, um den Rennen zu folgen“, sagt
Fernsehen wieder Bilder von Straßen- er. „Die Erklärungen dafür, was passiert,
schlachten zwischen Demonstranten und kann ich nicht mehr aus dem Handgelenk
der Polizei. Barrikaden brennen, Sicher- schütteln.“
heitskräfte schießen mit Tränengasgrana- 69 Grands Prix ist Wurz, 39, einst als
ten in die Menschenmenge. Vor der Knei- Rennfahrer unter anderem für Williams
pe sitzen die Gäste, rauchen, trinken Bier. und Benetton gefahren, er gilt als klug
EREN AYTUG / NARPHOTOS / LAIF
INFEKTIONEN
Kopulierende Fruchtfliegen
TIERE
98 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Wissenschaft · Technik
NICOLO LANFRANCHI
Giftige Kunstwerke Heftige Regenfälle haben aus dem Schlammmassen entstehen, wenn die Böden der abgeholz-
Schlamm einer brasilianischen Goldmine bizarre Skulpturen ten Regenwälder mit Wasser aus Hochdruckkanonen auf-
geformt. Die Blätter verhinderten, dass die darunterliegende geschlämmt werden, um an den darin enthaltenen Goldstaub
Schicht ausgewaschen wurde. Für die in der Nähe lebenden zu kommen. Die Dreckbrühe ist verseucht mit giftigen
Menschen sind die Minilandschaften weniger zauberhaft: Die Chemikalien, die ins Grundwasser und in die Flüsse gelangen.
ARCHÄOLOGI E
lung präsentiert wird. Weitere Objek- PSYCHOLOGI E
te, die vom gewaltdurchtränkten All-
tag der Wikinger erzählen, sind eine
Grausame Wikinger Vielzahl an Waffen, eiserne Sklaven-
halsringe aus Dublin sowie der konser-
Weibliche Doppelmoral
Waren Wikinger zivilisierte Händler vierte Schädel eines Kriegers aus Got- Frauen suchen sich lieber sexuell zu-
mit Hang zu den schönen Künsten land, der zu Lebzeiten nicht nur zahl- rückhaltende „beste Freundinnen“ –
oder doch eher blutrünstige Haudegen reiche Schwerthiebe auf den Kopf auch wenn sie selbst eher promisk
und Eroberer? Während Archäologen überstand, sondern sich auch Zier- leben. Zu diesem Ergebnis kommt
und Historiker in den vergangenen rillen in die Zähne feilen ließ. eine Studie, für die US-Psychologen
Jahren dazu tendierten, ein friedliches von der Cornell University über 750
Bild der nordischen Seefahrer zu Studentinnen und Studenten befragt
JOHN LEE / THE NATIONAL MUSEUM OF DENMARK
ENERGIE
D
er Husarenhof nördlich von Stutt- Schützenverein mit ihren Flinten in die auf Berggipfeln überdimensionale Luft-
gart, malerisch gelegen zwischen Luft. Der Pfarrer sprach salbungsvolle schrauben zu errichten. Ziel ist, die Wind-
Obstwiesen und Weinbergen, ist Worte über die Bewahrung der Schöp- kraft in Deutschland in den nächsten sie-
ein gemütlicher Weiler. Das Haus von Pe- fung. ben Jahren von 31 000 Megawatt auf
ter Hitzker steht in einer scharfen Links- Andere dagegen sind sauer, sie ärgern 45 000 Megawatt zu steigern. Bis zur Mitte
kurve. „Morgens liegen manchmal kaput- sich über die Verhunzung jener Land- des Jahrhunderts sollen es dann 85 000
te Autos im Vordergarten“, erzählt er. schaft, die schon Hölderlin und Eduard Megawatt sein.
„aber irgendwas ist ja immer.“ Mörike besangen. Die Gegner haben ein Weil die Filetstücke an der Waterkant
Nur mit dem Windmast hinter seinem Bild vom Schnitter Tod gemalt, wie man schon alle weg sind, drängen die Betrei-
Gartenzaun kommt der Mann nicht klar. ihn aus mittelalterlichen Chroniken ber nun verstärkt ins Binnenland. Mosel-
Der Turm ist 180 Meter hoch. „Flapp, kennt. Statt der Sense hält er einen Ro- tal, Allgäu, Voralpenland – auch touris-
flapp“ machen die Flügel, man hört die tormast in der Hand. tisch wertvolle Gegenden sollen geopfert
Stellmotoren: „grrrrhhhnn“. So wie im Husarenhof gärt es überall. werden. Selbst im Gebiet des Bodensees
„Wenn ich im 15 Kilometer entfernten Nach dem Atomunglück von Fukushima und nahe Starnberg, wo Bayernkönig
Heilbronn aus meiner Stammkneipe und der hastig ausgerufenen Energiewen- Ludwig II. ertrank, wurden Flächen aus-
komm, seh ich das Rädle gleich am Hori- de sind die Bundesländer in eine Art gewiesen.
zont und weiß, wo’s langgeht“, erklärt Übereifer geraten. Brandenburg will in Noch geht es vor allem um Pläne, Be-
der humorige Schwabe. Zukunft fast zwei Prozent Landesfläche richte, Anträge. Aktenordner voller Ge-
Mehr Vorteile fallen ihm allerdings für Windmühlen bereitstellen. Rheinland- nehmigungspapiere und Windhöffigkeits-
nicht ein – im Gegenteil. Das Ding sei Pfalz möchte seinen Windstrom mehr als messungen quellen aus den Schubladen
„schrecklich“, sagt er. „Es hat die Gemein- verdoppeln, Nordrhein-Westfalen sogar der Behörden. Rund 60 000 neue Strom-
de gespalten. Hier herrscht Krieg.“ über 300 Prozent drauflegen. mühlen sollen her. Sie werden das Antlitz
Seit über einem Jahr schon dreht sich Deutschland dreht durch. der Republik verändern.
die Enercon „E-82“ über den Hängen der Tieflader, beladen mit Turmsegmenten, Was geschieht da eigentlich? Schaffen
Neckarschleife. Am Tag der Einweihung quälen sich über morastige Äcker. Kräne besonnene Politiker gerade das Instru-
schossen die „Schwarzen Jäger“ vom kriechen schmale Forstwege empor, um mentarium zur Verhinderung des Welt-
100 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Rotorenrepublik Enercon mit seinen Flügeln ab. Rotor-
Regionale Verteilung von Onshore- kränze moderner Anlagen wiegen bis zu
320 Tonnen. Nahe Ribbeck im Havelland
Windanlagen, Leistungsdichte in Megawatt
stehen 83 dreiarmige Banditen: Deutsch-
je Quadratkilometer, 2012 lands größter Windpark.
0,05 0,1 0,5 1 5 und Tolerant gestimmte Städter, die derlei
mehr Stangenwälder mit ihren SUV durch-
fahren, wundern sich zuweilen, wie
hässlich der Osten geworden ist. Andere
gewinnen den Drehschrauben – zu-
mindest im Vorbeieilen – visuelle Rei-
ze ab.
Die Nimbys vor Ort jedoch („Nim-
by“ für: not in my backyard) sind da-
gegen ungehalten – schon deshalb,
weil der Wert ihrer Häuser ins Bo-
denlose sinkt.
Selbst demografisch ausgedünn-
te Provinzen besinnen sich des-
halb auf Gegenwehr, wie die Be-
wegung „Rettet Brandenburg“
beweist. Über 3100 Windkraft-
anlagen gibt es dort. In keinem
Bundesland stehen die Roto-
ren dichter.
Doch erst jetzt, wo die Re-
gierenden weitere 3000 dazu-
pflastern wollen, regt sich Zorn. Eine
„Volksinitiative“ hat sich gebildet. Bei ei-
nem Aktionstag Ende Mai schimpften die
Macher gegen „Windraffkes“ und Müh-
lenmonster.
Den Hang zur Übergröße werden die
Empörer damit kaum stoppen. Um
den Schwachwind, der im Binnen-
land weht, auf lohnende Weise zu
ernten, müssen die Strommüller
immer höher in die Atmosphäre vor-
stoßen.
Raus aus den bodennahen Turbulen-
Windkraftanlagen bei Freiburg zen, empor ins ewige Geblase der Ekman-
ROLF HAID / DPA
schicht, die in 100 Metern beginnt – das
Quelle: IWET ist das Ziel. Nur dort oben wogen jene
untergangs? Oder verschandeln sie nur Bei den Grünen greift das Gezerre mitt- terrawattstarken Urgewalten, mit denen
die Heimat? lerweile tief ins Selbstverständnis. Weil sich der gesamte Energiebedarf der
Über 700 Bürgerinitiativen sind mitt- der Umweltclub BUND die Windkraft be- Menschheit hundertfach stillen ließe.
lerweile im Land aktiv. Sie wehren sich fürwortet, trat sein Gründungsmitglied, Theoretisch.
gegen „Mastenwälder“, „optische Emis- Enoch zu Guttenberg, im vergangenen An Land sei der „technische Trend“ zu
sionen“ und eine „flächendeckende Ver- Jahr mit lautem Gepolter aus dem Verein größeren Anlagen „ungebrochen“, heißt
heerung unserer Mittelgebirgskuppen“. aus. Er verspürt seitdem das „panische es in einer soeben erschienenen Unter-
Gegner tragen Särge, die den Natur- Bedürfnis“, die Menschheit vor den „Rie- suchung des Fraunhofer Instituts für Wind-
schutz symbolisieren, zu Grabe. Kaum sentotems eines Kults der unbegrenzten energie und Energiesystemtechnik (IWES).
ein Tag vergeht ohne Unterschriften- Energie“ zu warnen. Was da noch alles aufs Stromvolk zu-
aktionen oder dem Einreichen von Peti- Auch Deutschlands „Moorpapst“, Mi- kommt, lässt ein Besuch beim IWES-Test-
tionen. Anwohner vom Starnberger See chael Succow, Träger des Alternativen zentrum in Bremerhaven ahnen. Dort
haben Verfassungsklage erhoben. Nobelpreises, droht, von der Fahne zu liegt ein Rotorblatt der nächsten Gene-
Keine Frage: Da tobt unversöhnlich ein gehen. Er hat Angst vor seelenlosen Flu- ration. Es ist biegsam, fast wabbelig, 30
Grundsatzstreit. Naturschützer, Tierfreun- ren und dem Verlust der Stille. Tonnen schwer und hat eine Länge von
de und Baumromantiker, die den Erho- Die Furcht ist nicht unbegründet. Die 83,5 Metern.
lungsraum Natur verteidigen, stehen Zeiten, als Ökofreaks in den achtziger Zurzeit durchläuft das monumentale
einer fortschrittlich gesinnten Kaste von Jahren klapprige Windräder vom Typ Werkstück ein Prüfverfahren. Hydrau-
Ressourcenschonern und Klimarettern ge- „Aeroman“ in den Vorgarten stellten, sind lische Stempel und Seile drücken, biegen
genüber, die sich um die Zukunft des Pla- vorbei. Heute bauen die Hersteller Türme und knuffen den Flügel millionenfach. So
neten sorgt. mit Nabenhöhen bis zu 160 Metern. Im lässt sich die Belastung durch Sturm und
Nur: Wie viele Haine müssen weichen, Betrieb erschlagen die wirbelnden Ma- Böen simulieren.
wie viele Horizonte verspargelt werden, schinen so viele Insekten, dass die klebri- Der IWES-Meteorologe Paul Kühn ver-
um die Energiewende zu schaffen? Und ge Masse die Rotoren bremst. mutet, dass die Türme noch auf Naben-
wo fängt der Übereifer an – und das Ver- Eine Fläche von sieben Fußballfeldern höhen von 200 Meter anwachsen. Erst
plempern von Steuergeldern? streicht das Modell „E-126“ der Firma danach greife das „Kubische Massen-
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 101
PAUL LANGROCK / ZENIT
Rotorblattproduktion in Rostock: Im Betrieb erschlagen die Flügel so viele Insekten, dass die klebrige Masse die Anlage bremst
wachstumsgesetz“, das jedes weitere Ver- Rotmilan sagt Lippert eine „fürchterliche Doch nun nörgelt auch der Norden.
größern ökonomisch unsinnig mache. Zukunft“ voraus. Viele Altanlagen werden dort derzeit ge-
Mahnmale des Atomausstiegs, deren Um die gewaltigen Ziele der Windwen- gen neue, leistungsstärkere Turbinen aus-
Flügelspitzen fast 300 Meter in die Wol- de zu erfüllen, muss auch der Bürger Op- getauscht (Stichwort: „Repowering“). Die
ken reichen? Das erscheint selbst hippen fer bringen. In England stehen große sind statt 50 nun mehr als 150 Meter hoch,
Ökostromern, die im Asphaltdschungel Strommühlen mindestens 3000 Meter von haben Blinklichter, damit keine Flugzeu-
wohnen, gewöhnungsbedürftig. Wohnhäusern entfernt. ge reinsausen, und durchwirbeln lärmend
Wie brutal die Riesenquirle die Luft Im engen Deutschland, wo sich Heim die Luft.
zerhacken, belegen neue Studien der Vo- an Hütte drängt, packen die Kommunal- Die Folge: Überall ertönen Klagen we-
gelschützer. „Goldregenpfeifer meiden planer die Gondeln viel dichter zusam- gen des Krachs.
die Anlagen“, erklärt der Potsdamer Or- men. Bayern erlaubt eine Distanz von Mit leeren Augen und zitternder Stim-
nithologe Jörg Lippert. Schwalben und 500 Metern, in Sachsen sind es sogar nur me – so treten die Schallopfer an. Es sind
Störche düsen voll rein. Der Mopsfleder- 300 Meter. die Märtyrer der Bewegung. Auch Klaus
maus reißt schon beim Vorbeiflug der In der Pionierzeit, als sich alle noch Zeltwanger gehört dazu. Der Bauer
Lungensack. Dem Schreiadler und dem freuten über die saubere Windkraft, lie- wohnt nur 370 Meter vom Rotor beim
ßen manche Küstenbauern die Masten Husarenhof entfernt. „Es patscht und
Berlin 2 bis auf 250 Meter an ihre Katen heran- rauscht“, erzählt er, „dann wieder
Hamburg 48 bauen. Für Stampeden im Schweinestall, brummt es wie beim Flugzeugstart.“
Bremen 137 91 ausgelöst durch die Rotorgeräusche, er- Derlei Klagen wiesen die Gerichte bis-
hielten sie satte Entschädigungen. lang meist ab. Windräder genießen Son-
Saarland 142 558 derrechte. Sie juristisch zu bekämpfen ist
Sachsen 1029 624 schwer.
Hessen 807 2616 Kräftiger Aufwind Immerhin: Bereits im Jahr 2006 erfocht
Meckl.-Vorpommern 1925 1873 Installierte Windkraft-Leistung eine Frau vor einem Gericht in Münster
geplanter Zuwachs der Länder einen Sieg. Sie wohnte nur 270 Meter von
Baden-Württemberg 504 3514 einem Rotor entfernt und pochte auf das
bis 2020, in Megawatt
Bayern 852 3616 „Gebot der Rücksichtnahme“, wonach kei-
Rheinland-Pfalz 2076 2837 Quellen: DEWI, Bundesnetzagentur, Fraunhofer IWES ne technische Anlage so nah am Haus ste-
4599
hen darf, dass sie eine „optisch bedrängen-
Thüringen 889
de Wirkung“ ausübt. Die Fachleute spre-
Sachsen-Anhalt 3808 2358 chen intern vom „Verzwergungsgefühl“.
Brandenburg 4898 2899 Nach langem Streit bekam die Klägerin
Nordrhein-Westfalen 3245 7233 Recht. Der Riese wurde abgerissen.
Es gibt noch einen weiteren juristischen
Schleswig-Holstein 3600 9724
Hebel. Laut Bundesimmissionsschutz-
Niedersachsen 7413 7162 gesetz darf der Lärm in Wohnmischge-
102 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Technik
bieten nachts nicht über 45 Dezibel lie- ser Land“ sei. De facto aber wird alles Ein gewaltiges Vorhaben. Um es auf
gen. Was das in Meterabstand bedeutet, teurer. An der Strombörse in Leipzig kos- den Weg zu bringen, beschloss die
wusste lange niemand. tet die Kilowattstunde unter 3,5 Cent. Der Bundesregierung bereits im Jahr 2006 das
Nun liegt auch hier ein Urteil vor, das Verbraucher zahlt mittlerweile etwa 27 Infrastrukturplanungsbeschleunigungsge-
die gesamte Energiewende erschüttern Cent. Der Preis ist mit Steuern und Öko- setz. 2009 folgte das Energieleitungs-
könnte. Gefällt wurde es vom Oberlan- abgaben überfrachtet. ausbaugesetz, vor vier Wochen verab-
desgericht München. Geklagt hatte eine Gründe dafür gibt es viele. So ist die schiedete der Bundestag das Bundes-
Hausfrau aus Marxheim nahe der Donau, Stromklempnerei auf dem Meer viel auf- bedarfsplangesetz.
deren blumengeschmücktes Bauernhaus wendiger als gedacht. Die Akrobaten auf Was für lange Wörter! Die Leitung da-
850 Meter vor einer Enercon „E-82“ ent- hoher See betreten pannenträchtiges gegen ist noch erstaunlich kurz. Erst 268
fernt steht. Mit Wucht seien die Schall- Neuland. Kilometer des geplanten Elektronetzes
wellen „über Wald und Senke“ herange- Doch anstatt die elegante Offshore- sind fertig.
rauscht, erzählt sie. Technologie in Ruhe zu entwickeln, hat Schuld an der Verzögerung ist nicht zu-
In den Akten ist von „Fauchen“, „Zi- sich die Politik durch ihre Atom-Deadline letzt jene vieltausendfache Truppe von
schen“ und „Pfft-Geräuschen“ die Rede. im Jahr 2020 selbst unter Druck gesetzt. Elektrosmog-Hysterikern, die jede neue
Ein Akustiker ermittelte eine Stärke von Nun neigen alle zu Hektik. Resultat: 110-Kilovolt-Strippe bekämpft, als wäre
42,8 Dezibel. Wegen der „Impulshaltig- Kaum steigen auf hoher See die Kosten, sie ein Werk des Teufels. Der Windpark
keit“ des Lärms schlug er noch mal 3 De- stürzen sich die Luftschrauber wie im kommt stets mit seinem hässlichen Bru-
zibel drauf. Taumel wieder aufs Binnenland. der daher, dem Freileitungsmast.
Ergebnis: Das Windrad darf zwischen Billiger wird es aber auch dort kaum. Also Erdkabel? Das zumindest fordern
22 und 6 Uhr nur noch gebremst laufen. Riesige Stromautobahnen müssen her, die Empörer. Sie übersehen allerdings da-
Damit ist es unrentabel. um die Energie der Tüddelmasten von bei, dass im Boden verlegte 380-Kilovolt-
Zwar bemüht sich die Firma Enercon der Waterkant Richtung Süden zu leiten. Trassen armdicke Kupferstränge brau-
zurzeit um eine Revision des Urteils beim Das komplette Netz muss dafür umgestal- chen, um nicht heiß zu laufen. Das kostet
Bundesverwaltungsgericht. Doch die Aus- tet werden. enorm viel Geld. Insgesamt sind Erdkabel
sichten stehen schlecht. Hunderte Propel- „Wir planen hier nichts weniger als bis zu zehnmal teurer als solche, die in
ler drehen sich in der neudefinierten Ver- eine technische Revolution“, erklärt ein der Luft baumeln.
botszone. Kommt jetzt der große Abriss? Sprecher des Umweltministeriums in Oft sind die Engpässe bei den Netzen
Der Rechtsanwalt Armin Brauns aus Hannover. „Bislang führte das dünnste bereits so groß, dass sich die Stromräder
Dießen in Bayern rechnet zumindest mit Kabel nach Kleinkleckersdorf. Heute vergebens drehen. Bei steifer Brise müs-
einer „Klagewelle“. In seiner Kanzlei tür- brauchen wir dort das dickste, weil die sen sie abgeregelt werden, im Jahr 2010
men sich die Prozessakten. „Denn auch Windparks in der Ödnis stehen.“ waren das 127 Gigawattstunden. Das ent-
beim Landschaftschutz“, so der Fach- Etwa 2800 Kilometer neue Höchstspan- spricht dem Jahresbedarf von 100 000
mann, „verhalten sich manche Kommu- nungsleitungen werden benötigt, dazu Deutschen.
nen unfair und umgehen die bestehenden 7000 Kilometer Verteilungsnetze. Die Doch bange machen gilt nicht. Kostet
Gesetze.“ Kosten dafür schätzt man auf 10 bis 20 die Entsorgung des Atommülls nicht auch
Der Windbranche kommt das Gerangel Milliarden Euro. Unsummen? Und wer mag jene Mond-
äußerst ungelegen. Zwar sollen sich im landschaften, die die Braunkohlege-
Land bald Abertausende neue Turbinen winnung in der Flur hinterlässt?
drehen. Doch aktuell hapert es an Auf- Rotor- Zwar steigen die Bedenken.
trägen. durchmesser: Sachsen hat seine Ausbaupläne
Größenentwicklung 89 m
Lange mästeten sich die Unternehmen von Onshore- bereits eingedampft, Thürin-
prächtig an der Vergütung, die der Staat gen mag keine Windräder im
ihnen für den Windstrom garantiert. Ein Windenergie- Wald.
ganzer Industriezweig entwickelte sich anlagen Doch insgesamt steht die
so zum Subventionskoloss. Die Folge: auf- Nabenhöhe: Phalanx noch ziemlich ge-
geblähte Firmen mit Überkapazitäten. Quelle: 115 m schlossen. Es sind kühne Po-
Erschwerend kommt hinzu, dass der Fraunhofer IWES litiker mit Retterblick, die
Zunft nun auch international die Märkte furchtlos und parteiübergrei-
wegbrechen. Die beiden wichtigsten fend an der Utopie einer vor-
Windstrom-Länder zögern mit dem Wei- 58 m bildlichen Öko-Nation fest-
terbau. Die USA bevorzugen das billigere halten.
„Fracking“, das umstrittene Herauspres- Schleswig-Holsteins grüner Um-
sen von Erdgas aus Schiefergestein. China weltminister Robert Habeck fühlt
hat Probleme mit den Netzen, auch dort 71 m sich gar als Agent eines „Jahrhun-
erlahmt die Lust an den Luftquirlen. dertwerks“. Um seiner Entschlossenheit
„10 000 Arbeitsplätze“ seien hierzulan- Ausdruck zu verleihen, nennt er sich
de in Gefahr, warnte vor kurzem Nieder- „Minister für Energiewende“. Heute,
sachsens Ministerpräsident Stephan Weil sagt er, werde jene Infrastruktur geschaf-
(SPD). Der dänische Hersteller Vestas fen, die dafür sorge, „dass für unsere
musste bereits etwa 1400 seiner Stellen 23 m Kinder der Rohstoff Strom fast kosten-
streichen. zum Vergleich: los ist“.
Entsprechend gereizt ist die Stimmung. 31 m Kölner Dom, Wie er das rechnet, ist ziemlich rätsel-
Überall fehle die „ordnende Hand“, Höhe: 157 m haft. Aktuell jedenfalls muss der Ver-
schimpft der Firmenleiter von Weser- braucher immer mehr löhnen – und
Wind, „es herrscht das totale Chaos“. andere machen den Reibach: Mit
Zwar schwört der Grünen-Chef Cem Nennleistung: Renditen von sechs bis neun Prozent
Özdemir, dass der Klimaschutz „auch 172 kW 1115 kW 2523 kW werden die Mitglieder von Bürger-
wirtschaftlich eine große Chance für un- 1990 2000 2013 windparks gelockt. Gespeist werden
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 103
Technik
Kreisende Schutzengel
Die Gegner der Windenergie entdecken den Artenschutz.
E
s hat viel geregnet auf der Schwä- Kurse zur Vogelbeobachtung oder über aus vereinbar“, sagt der baden-württem-
bischen Alb, der Boden ist weich, bedrohte Fledermäuse sind gefragt wie bergische Umweltminister Franz Unter-
überall stehen Pfützen. Doch Edi nie zuvor. Beliebt sind auch Waldfeste, steller. Der Grünen-Politiker macht zu-
Biener sorgt sich jetzt nicht um nasse gern mit Diavortrag oder Filmvorfüh- gleich klar: „Mit mir kann man nicht
Füße. Er ist am Waldrand auf eine inter- rungen über Rotmilan, Schwarzstorch den ganzen Schwarzwald zum Auer-
essante Spur gestoßen. Weiße Flecken und Auerhuhn. Die Tierschützer werden huhn-Erwartungsland machen.“
auf grünem Waldmeister – eindeutig Vo- nicht mehr als „Fröschlezähler“ belä- Bei den Investoren haben die Gegner
gelmist. chelt. „Wir haben in unseren Fluren und einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Der Rentner aus dem Dorf Ketten- Waldrändern einen Milan-Tourismus“, „Wir haben ein großes Windenergie-
acker begutachtet das verschmutzte spottet Karlheinz Fahlbusch, Sprecher potential in Süddeutschland, aber rund
Pflänzchen. Dann zeigt er auf die Krone des Landratsamts Sigmaringen. zwei Drittel der Projekte scheitern“,
einer alten Buche. „Da oben ist jetzt Le- Mancher Dorfbewohner hat sich auto- sagt Immo Müller, ein erfahrener Planer
ben“, sagt er. Zu sehen ist nicht viel. In didaktisch zum Ornithologen weiterge- aus dem norddeutschen Wangerland.
einer Astgabel, 25 Meter über dem Bo- bildet. Margret Bures lebt 45 Kilometer Angeblich kämpfen auch Investoren
den, schaukelt ein Knäuel im Wind, ein südlich von Kettenacker in einem Weiler mit allen Mitteln. Windkraftgegner wer-
Greifvogelhorst. Seit Biener und seine bei Ostrach. Die „schöne Natur“ habe fen einigen von ihnen vor, vor illegalen
Mitstreiter von der „Bürgerinitiative Für
Mensch und Natur“ vor ein paar Wo-
chen das Vogelnest entdeckt haben, pa-
trouillieren sie unter dem Baum, um
herauszufinden, wem der Horst gehört.
Der Hauptgewinn für Biener und die
anderen Windkraftgegner wäre Milvus
milvus, der Rotmilan. Er ist zwar auf
der Schwäbischen Alb keine Seltenheit,
trotzdem ist er streng geschützt. Wo er
sagt Biener.
Tierkunde ist derzeit nicht nur auf Gefährdeter Tierschützerin
der Schwäbischen Alb angesagt. Denn Rotmilan Steinhart
seltene Spezies können zu wirksamen
Waffen werden, wenn unliebsame Pläne
gestoppt werden sollen. Schon manches sie schon immer interessiert, sagt sie. Maßnahmen nicht zurückzuschrecken.
Getier erlangte auf diese Weise plötzlich Sie hatte nichts gegen Windenergie – Auf der Schwäbischen Alb sollen näch-
Berühmtheit. Der Juchtenkäfer hätte bis die Gemeinde im vergangenen Jahr tens Waldarbeiter durch den Forst ge-
beinahe den Bau des Bahn-Projekts begann, zwei Dutzend Standorte für laufen sein, um brütende Greifvögel
Stuttgart 21 verhindert. Und die Kleine „Monsterräder“ im Wald vor ihrem aufzuscheuchen und zu vertreiben. Be-
Hufeisennase bewirkte einen zwischen- Haus zu prüfen. weise gibt es nicht.
zeitlichen Baustopp der Waldschlöss- Seither hat sie nicht nur ihre Meinung In der Vulkaneifel verdächtigen Wind-
chenbrücke in Dresden. geändert. Sie hat auch ein 800 Seiten di- energiegegner und der Bund für Umwelt
Da kann es nicht verwundern, dass ckes Buch studiert, um zu lernen, wie und Naturschutz Deutschland (BUND)
die Windkraftgegner nach allerlei Tier- man Brutvögel erfasst. Immer wenn sie gar die staatliche Forstverwaltung,
arten suchen, die ihnen in ihrem Kampf nun am Himmel einen der Rotmilane durch unsachgemäße Arbeiten in der
nutzen könnten. sieht, notiert sie die Flugbewegungen. Nähe von Brutplätzen geschützte Vögel
Tatsächlich stellen die Rotoren gerade Auch bei der Horstsuche war Bures absichtlich gestört zu haben. Die Behör-
für Greifvögel eine Gefahr dar. Die schon erfolgreich. „Sieben Stück, min- de räumte ein, einen Schwarzstorch-
schärfsten Augen und die größte Wen- destens“, habe sie gefunden. Horst freigeschnitten zu haben; es hand-
digkeit schützen nicht davor, von den Das Resultat der Bemühungen: 60 bis le sich um ein Versehen.
Flügeln der Anlagen erfasst zu werden. 70 E-Mails mit ihren Beobachtungen, Der BUND-Landesvorsitzende von
Wissenschaftler erforschen die Ursa- die sie an Naturschutzbehörden ge- Rheinland-Pfalz Harry Neumann stellte
chen, während Vogelschützer die Kolli- schickt hat. Strafanzeige, weil in Hausbay und Has-
sionsleichen zählen – und auf wachsen- Selbst Umweltfreunde sehen die Ak- selbach in diesem Frühjahr zwei Horste
des Interesse stoßen. tivitäten der neuen Tierschützer nicht fehlten, in denen noch im vergangenen
Naturschutzverbände berichten über nur positiv. Artenschutz und Windkraft- Jahr Rotmilane gesichtet worden waren.
ungeahnten Zulauf neuer Mitglieder, ausbau seien „beide wichtig und durch- „Solche Horste verschwinden nicht über
104 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
die Gewinne vor allem durch Subventio- Einige Pionierprojekte laufen bereits,
nen, die man dem Bürger vorher abge- zum Beispiel bei Ellern im Hunsrück, wo
Nacht“, sagt Neumann, „außerdem ha- zwackt hat. sich seit kurzem ein Weltrekord-Windrad
ben wir Kletterspuren an den Stämmen Auch die Landwirte verdienen nicht von 200 Meter Höhe über den Baumkro-
entdeckt.“ schlecht beim Umstieg auf die Windkraft. nen dreht.
Im Landkreis Aurich stießen Kartierer Gute Mühlenstandorte bringen in Bayern Sattelschlepper haben riesige Gondeln
für einen geplanten Windpark im ver- über 50 000 Euro Pacht im Jahr. Wer wäre samt Trafostationen die engen Forstwege
gangenen Jahr auf Schlagfallen, mit de- da nicht gern bereit, der guten Energie emporgezogen. Ein 1000-Tonnen-Kran
nen offenbar der geschützten Wiesen- zum Sieg zu verhelfen. gelangte über die glitschigen Steigungen
weihe der Garaus gemacht werden sollte. Baron Götz von Berlichingen aus auf den Gipfel. In den Kurven musste
Windanlagenbetreiber bestreiten, davon Jagsthausen, ein Nachfahr des goethe- Gehölz gefällt werden. Oben sorgten
gewusst zu haben. Der Landkreis ließ schen Ritters in der 18. Generation, ist Motorsägen für Kahlschlag, um die
die Fläche vorsorglich mit Drohnen soeben dabei, mit dem Energiekonzern Fundamente aus Beton in die Erde zu
absuchen, um weitere Schlagfallen zu EnBW auf seinen Latifundien elf Wind- bringen.
finden. parks zu entwickeln. Als Acker brächte Wie sich derlei Taten auf die Fauna
Auch das Dorf Kettenacker erschüt- ihm der Hektar höchstens 700 Euro. Als und Flora auswirken, weiß niemand. Der
terte unlängst ein Kriminalfall. Zwei Stellplatz für Propeller springt ein Viel- Vormarsch im Hunsrück erfolge „ohne
Rotmilan-Horste sollen verschwunden faches heraus. Prüfung“, entrüstet sich der Natur-
sein, kaum dass die Bürgerinitiative sie Deswegen werde genehmigt, was das schutzbund. Im Übrigen sei die Wind-
entdeckt, fotografiert und den Behörden Zeug hält, meinen Windkraftgegner und stromerei im Wald „grundsätzlich abzu-
gemeldet hatte. schimpfen über ideologisierte Klimaapos- lehnen“.
Über Monate ermittelte die Polizei- tel, Flurverräter und gierige Stromzocker, Es ist nicht nur die Ökologie – wo-
direktion Sigmaringen. Kriminaltechni- die noch das letzte Fleckchen Heimat der möglich entpuppt sich die Abkehr von
ker inspizierten die Baumstämme auf Energiewende opfern. der Offshore-Windenergie auch wirt-
Spuren von Steigeisen. Auch die Bürger- Richtig ist, dass Wildwuchs herrscht. schaftlich als Irrweg: Auf dem Meer
initiative geriet unter Verdacht, die ört- 35 Prozent Ökostrom wollte die Regie- kann ein Rotor 4500 Volllaststunden im
Jahr schaffen. An der Küste sind es 3000.
Übers Ziel hinaus 85 Im Binnenland gilt ein Standort schon
80 80 dann als gut, wenn er 1800 Stunden
Installierte Windkraft-Leistung bringt.
in Deutschland, in Gigawatt Aktuelle Die Anlagen, die man jetzt vom Erz-
Planungen
der Länder 60
gebirge bis zum Bodensee errichtet, sind
noch schlapper. Statistiken zeigen, dass
die Rotoren im Süden deutlich weniger
45
Strom erzeugen als prognostiziert. Der
40 größte Windpark Baden-Württembergs,
31,2 850 Meter hoch im Nordschwarzwald ge-
legen, floppt seit Jahren.
18,3 20 Ein „Riesenschwindel“ sei da im Gan-
Zielvorgabe ge, meint der Besigheimer Wirtschafts-
6,1 der Bundes-
prüfer Walter Müller, 65, der früher für
regierung
0 die Treuhand die Bilanzwerte ostdeut-
2000 2005 2012 2020 2050 scher Pleitekombinate ermittelte. Heute
sieht sich der 150-Kilo-Mann mit dersel-
liche Polizei schaltete das Bundeskrimi- rung bis zum Jahr 2020 erreichen. Doch ben Härte die Geschäftsabschlüsse der
nalamt ein. In Wiesbaden untersuchten die Länder haben im Übereifer schon so Windparkbetreiber an.
die Beamten, ob die Fotos von dem viele Flächen ausgewiesen, dass man auf Sein Urteil: alles Lug und Trug. Die
Horst nur Montagen seien. Dafür fand 80 Prozent käme. von den Betreibern beauftragten Wind-
sich ebenfalls kein Beleg. Anstatt die Brummer auf Industriebra- gutachter würden Gegenden mit lauer
Die Windkraftgegner von Ketten- chen zu verbannen oder sie entlang von Brise zuweilen zu „windhöffigen“ Topla-
acker haben inzwischen eine weitere ge- Autobahnen aufzustellen, werden sie kle- gen aufhübschen. Und: „Kleinanleger
schützte Spezies gefunden, um die sie ckerweise über anmutige Bergpanoramen werden scharenweise mit Gewinnverspre-
sich nun liebevoll kümmern: Fledermäu- oder an Seenplatten verteilt. Das ist we- chen in geschlossene Windparkfonds ge-
se. In den vergangenen Wochen sam- nig durchdacht. lockt, die nicht genug Energie erzeugen“,
melten die Mitglieder im Dorf Spenden Was die Gegner aber am meisten meint er. „Am Ende ist das eingezahlte
für spezielle Kästen. „Die ersten zehn schockt, ist der großflächige Angriff auf Kapital aufgezehrt.“
hängen schon im Wald“, sagt die Vor- den Wald. Der nordische Tann, der große Keine Frage: Die großen Räder, die ge-
sitzende Birgit Steinhart, „bald können Zauberort und Gemütsraum der Roman- dreht werden, um das Klima zu schützen,
wir weitere bestellen.“ Die neuen Quar- tik, die Heimstatt von Esche und Eiche – laufen nicht rund. Das größte Infrastruk-
tiere könnten nun Fledermäusen eine all das ist durch das Lockern der Vor- turprojekt der Republik steckt im Schla-
Heimat bieten. schriften in Gefahr. massel. Alle wollen weg vom Atom. Nur,
Wenn diese nachtaktiven Säugetiere Vom Odenwald bis zu den Birkenhai- um welchen Preis?
erst einmal sesshaft geworden sind, dürf- nen Mecklenburgs drängen Monster- Selbst Baden-Württembergs grüner
ten Windräder nur noch unter strengen trucks ins Gehölz vor. Nordrhein-Westfa- Landesvater Winfried Kretschmann gibt
Auflagen genehmigt werden – wenn lens Umweltminister Johannes Remmel sich zerknirscht. Aber er bleibt entschlos-
überhaupt. MICHAEL FRÖHLINGSDORF, (Grüne) hat angekündigt, dass er gern sen: „Es führt kein Weg daran vorbei, die
SIMONE KAISER rund 2000 Rotoren in die Wälder stellen Landschaft auf diese Weise zu verschan-
möchte. Auch Hessen will Tausende deln.“
Hektar abholzen. Ob er richtigliegt? MATTHIAS SCHULZ
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 105
Technik
S
ein Schicksal schien besiegelt. 1943 revolutionäres Design: Zu einer Zeit, als nicht teilen. Bei der Auswahl seiner künf-
wurde der Ingenieur Curt Herzstark Buchhalter und Kontorbesitzer monströ- tigen Geschäftspartner zeigte Herzstark
von den Nazis in das Konzentra- se Zahlenkolonnen mit kiloschweren dann aber auch keine glückliche Hand.
tionslager Buchenwald verschleppt. Doch Büromaschinen oder dem Bleistift bewäl- 1948 ging der kleinste mechanische Rech-
dann bot sich dem Sohn eines jüdischen tigen mussten, überraschte er die Fach- ner zwar tatsächlich unter dem Namen
Fabrikanten unverhofft die Möglichkeit, welt mit einem kleinen, eleganten Appa- „Curta“ in Serie – nur für Herzstark war
ein Arier zu werden. rat, der die vier Grundrechenarten be- das kein Grund zum Feiern.
„Sehen Sie mal, Herzstark“, sagte einer herrschte und in jede Kitteltasche passte. Geschäftsleute, die mit dem Fürsten-
der Lagerleiter zu ihm, „wir wissen, dass Tatsächlich aber wurde der Hochbegab- haus in Liechtenstein kooperierten, hat-
Sie an einer Rechenmaschine arbeiten. te zu einem der größten Pechvögel der ten den arglosen und zeitweilig schwer
Wir erlauben Ihnen, Zeichnungen anzu- Technikgeschichte. Nun will Herbert Bru- von Tuberkulose Geschwächten nach al-
fertigen. Wenn das Ding etwas taugt, derer, ein Experte für die Geschichte der len Regeln der Kunst über den Tisch ge-
schenken wir es dem Führer nach dem Informatik an der ETH Zürich, den ge- zogen. Statt gleichberechtigter Mitinha-
Endsieg. Dafür macht er Sie sicher zum nialen Herzstark aus dem Vergessen ho- ber der Rechenmaschinen-Fabrik zu wer-
Arier.“ len. Der Historiker hat sich im Laufe sei- den, durfte der Ingenieur alsbald kaum
Tatsächlich ging der Ingenieur den Pakt ner Forschungsarbeit tief hineingegraben mehr in die Produktion eingreifen.
mit dem Teufel ein. Nacht für Nacht fer- „in dieses traurige Leben“. Nach zermürbenden Grabenkämpfen
tigte Herzstark nach der täglichen Dabei hatte alles recht hoffnungsvoll ließ sich Herzstark 1952 mit einer lächer-
Zwangsarbeit im Lager detaillierte Kon- angefangen. Herzstark gelang, woran vie- lich geringen Summe ausbezahlen. Der
struktionspläne für die kleinste mechani- le Techniker vor ihm gescheitert waren: mechanische Taschenrechner blieb sein
sche Rechenmaschine der Welt an. Zur Er löste das Rätsel, wie man die unter- Opus magnum, ein weiterer großer Wurf
Motivation erhielt er Sonderrationen – schiedlichen Staffelwalzen für die einzel- gelang ihm bis zu seinem Tod 1988 nicht
und überlebte schließlich das KZ. Der nen Rechenarten in einem winzigen Ge- mehr.
Endsieg indes blieb aus, Hitler kam nicht häuse unterbringen kann. Der Tüftler be- Das Ende der „Curta“ kam ziemlich
mehr in den Genuss der Erfindung. half sich mit radikaler Vereinfachung. abrupt mit dem Beginn einer neuen Ära:
Nach Kriegsende hätte Herzstarks Le- Ihm glückte eine Konstruktion, in der Als im Jahr 1972 auf den ersten elektro-
ben eigentlich in Ruhm und Reichtum etwa die Walze für die Additionen auch nischen Taschenrechnern die roten und
münden müssen, denn der Tüftler aus die Subtraktionen rechnen konnte, wenn grünen LED-Ziffern aufleuchteten, wurde
Wien war eine Art Steve Jobs des Mecha- man nur einen Hebel verstellte. 1938 ließ der mechanische Minicomputer aus Wien
nikzeitalters. Seine Schöpfung hatte ein sich Herzstark seinen mechanischen Ta- nicht mehr gebraucht. FRANK THADEUSZ
106 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Wissenschaft
bereits gemeldet worden – mehr als die den dem Berliner Landesamt für Gesund-
MEDIZIN Hälfte der Erkrankten war über 20 Jahre heit drei Masernfälle gemeldet; das Alter
alt. Jeder dritte musste sogar ins Kran- der Betroffenen: 20, 41 und 45 Jahre.
M
uskeln wie aus Pudding, die Stim- Dass das Virus zunehmend unter Er- vor 1970 geboren – und gehören damit
me tief und rau, fünf Kilo weni- wachsenen grassiert, macht die Eindäm- zu jenen Jahrgängen, die nach Experten-
ger auf der Waage: Julian Ko- mung noch schwieriger, wie der aktuelle meinung die Masern als Kinder durchge-
watsch hat gerade eine schwere Infektion Ausbruch in Berlin zeigt: Bis vorigen Frei- macht haben und deshalb immun sind.
überstanden. Zunächst recht harmlos hat- tag waren bereits 403 Fälle gemeldet – Weil das jetzt als zweifelhaft erscheint,
ten sich die Viren in sein Leben geschli- über das gesamte Stadtgebiet verstreut. hat die Berliner Senatsverwaltung die
chen. „Vor drei Wochen hatte ich plötz- Zwei Ausbrüche 2010 und 2011 unter weit- Empfehlung der Ständigen Impfkommis-
lich leichte Gliederschmerzen, am nächs- gehend ungeimpften Kindern an Waldorf- sion, alle nach 1970 Geborenen mit un-
ten Tag fing das Halsweh an“, erzählt er. schulen in Steglitz-Zehlendorf und Rei- klarem Masernschutz zu impfen, sogar
Es folgten Tage mit über noch einmal ausgeweitet: Ab
40 Grad Fieber, Hustenanfälle sofort rät sie allen Berlinern
wie bei einer Lungenentzün- mit unklarem Impfstatus zur
dung, Ausschlag am ganzen Immunisierung.
Körper, Nächte ohne Schlaf, Eine hohe Impfquote, die
Tage ohne Bewusstsein. „Dar- die Ausbreitung der Krank-
an, dass ich mich eine ganze heit verhindern kann, ist
Nacht lang übergeben musste, dabei vor allem auch zum
kann ich mich gar nicht mehr Schutz der Schwächsten
erinnern“, sagt er. Seine Mut- wichtig: der Säuglinge. Ge-
ter hat es ihm erzählt. impft werden sollen sie erst
Weil früher nur die Klei- mit elf Monaten, bis dahin
nen daran erkrankten, gelten muss der immunologische
Masern als Kinderkrankheit. „Nestschutz“ der Mutter rei-
CENTRE FOR INFECTIONS / PUBLIC HEALTH ENGLAND / SPL / AGENTUR FOCUS
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 107
Szene
FERNSEHEN
110 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Kultur
T H E AT E R
Perfume-Auftritt
Ruinöse Steuer?
Wessen Arbeit ist künstlerisch wertvol-
ler, die eines Regisseurs oder die sei-
nes Bühnenbildners? Theaterregisseu-
re sind nach deutschem Steuerrecht
vollwertige Künstler und dürfen ihr
Honorar zum ermäßigten Umsatzsteu-
ersatz von 7 Prozent versteuern; Büh-
nenbildner aber nicht, sie gelten vieler-
orts als Dienstleistende und müssen
19 Prozent Steuern auf ihr Honorar be-
zahlen. Weil einige Finanzämter in
Deutschland nach genau dieser Maßga-
AU S ST E L LU N GE N
gesucht, die eine Gemeinsamkeit
aufweisen: Die Gesichter auf
den Werken sind nicht zu erken-
Gesichtsverlust nen. Mal drehen sich die Mo-
delle vom Betrachter weg, mal
Zum Schutz, zur Tarnung oder verstecken sie ihren Kopf hinter
bloß zum Vergnügen – es gibt Schleiern, Helm oder Mütze.
viele Gründe, warum jemand Der deutsche Fotograf Thorsten
sein Gesicht hinter einer Maske Brinkmann spielt in seinen
verbirgt. Der Künstler Bogomir Selbstporträts mit dem Thema
Doringer hat für die Ausstellung Gesichtsverlust; andere Werke
„Faceless part 1“, die am Don- zeigen, wie Burkas und Kopf-
NEZAKET EKICI
D
ie Lufthansa-Maschine ist im Sink- „Haben Sie einen schwarzen Umhang, baut, zwei Bildungszentren sind noch
flug, noch 43 Minuten bis zur eine Abaja?“ im Bau, eine U-Bahn-Station und ein
Landung, wir fliegen auf 9296 Me- „Fährst du nach Saudi-Arabien? Da „Schmetterlingsdom“: eine begehbare
ter Höhe. brauchst du mehr.“ Glasblase mit tropischem Klima, in der
Ich hole die schwarze Kleidung aus mei- Der Marokkaner kramte in seinen Kör- Schmetterlinge herumfliegen.
ner Tasche und schließe mich auf der ben: Kopftuch, schwarzer Schal und Stul- Architekten, die große Büros betreiben,
Bordtoilette ein. Das Licht ist kalt und pen für die Unterarme – „die Menschen versuchen im Ausland zu bauen. Das hat
hart. Ich ziehe den bodenlangen Umhang dort freuen sich, wenn du Respekt zeigst“. viele Gründe. Die Baubranche war in den
an, streife eine schwarze Mütze über den Viel Kleidung, viel Respekt. Jahren nach der Wiedervereinigung zu
Kopf, die Haare und Hals verdeckt und „Und nicht schminken, und kein Par- groß geworden, vor etwa 15 Jahren bra-
nur das Gesicht freilässt. Dann lege ich füm, es wäre nicht höflich. Und schon im chen die Aufträge weg, im Nahen und
das Tuch um. Flugzeug umziehen. Geh in die Toilette, Fernen Osten aber gibt es viel zu tun.
Die Kleidung habe ich vor ein paar Ta- und werde ein anderer Mensch.“ Und in Deutschland sitzen Wutbürger auf
gen in Hamburg gekauft, in der Nähe des Vorn in der Business-Class sitzt der Bäumen über den Baustellen, und Politi-
Hauptbahnhofs. Prostituierte standen auf Mann, um den es in dieser Geschichte ker sprechen bei öffentlichen Bauprojek-
dem Gehweg, an Sex-Bars blinkten Neon- geht. Er ist Architekt, heißt Eckhard ten sehr viel mit.
lichtherzen, schräg gegenüber einer Mo- Gerber, 74 Jahre alt, betreibt Büros in Aber sind das Gründe, Repräsenta-
schee liegt das Geschäft, das von einem Dortmund, Berlin und Hamburg, 120 Mit- tionsbauten in Ländern zu errichten, die
Marokkaner betrieben wird, der seine arbeiter. keine Demokratien sind?
Kundinnen duzt. In Riad, der Hauptstadt Saudi-Ara- Die Leute in seiner Firma sagen,
„Was hast du im Herzen?“, fragte er. biens, hat er die Nationalbibliothek ge- Gerber sei ein besonders fairer Arbeit-
112 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Kultur
geber, und in Saudi-Arabien habe er eine Auch die Architektin wirkt durch die
Frau als Bauleiterin zweier Projekte ein- Abaja verändert. Vor ein paar Stunden,
gesetzt. als wir in Frankfurt ins Flugzeug stiegen,
Gerber hat das deutsche Ringen um hatte sie einen kurzen Rock an, schön
die Demokratie erlebt, geboren 1938 in und schlicht war sie gekleidet, und das
der Nazi-Zeit, aufgewachsen in der DDR, ließ Rückschlüsse zu, für welche Art von
Abitur im thüringischen Apolda 1957, Stil sie steht. In ihrem Beruf nicht ganz
Abitur in West-Berlin 1958. Gelitten, sagt unwichtig.
Gerber, habe er an der Unfreiheit, und Es gibt sie bestimmt auch hier in Riad,
seit seiner Flucht empfinde er die Freiheit die Zeichen, mit denen Menschen zeigen,
als Geschenk, jeden Tag. wer sie sind oder sein wollen. Aber wel-
Ausgerechnet Gerber, Demokrat, Frei- che sind das? In der Ankunftshalle tragen
heitspatriot, Frauenförderer, baut für eine ein paar Frauen Chanel-Taschen, eine hat
absolute Monarchie, für ein frauenfeind- Rüschen an der Abaja: schwarze Rüschen
liches Regime, für eine Politik, die Kultur auf schwarzem Grund.
offenbar als Bedrohung empfindet: In Wir reihen uns ein in das schwarzweiße
Saudi-Arabien sind Kino und Konzerte Meer. Männer weiß, Frauen schwarz, ein
verboten. Das Auswärtige Amt meldet paar Europäer in ihrer üblichen Kleidung.
auf seiner Website, die Saudi-Araber ver- Männliche Gäste müssen sich nicht um-
weigerten den Frauen „wesentliche Men- ziehen.
schenrechte“. Die Schlange, in der die Frauen stehen,
Das Flugzeug ist gelandet. Aussteigen bewegt sich schneller vorwärts. Die Män-
mit der Abaja, mit einem Kopftuch, das ner in unserer Reisegruppe erklären, wor-
rutscht, aussteigen als anderer Mensch. an das liegt: Damit wollten die Saudi-
Es ist eine komplizierte Reise. Journalis- Araber zeigen, dass Frauen geschützt
ten sollten versuchen, ihren Gesprächs- würden. Auch der Schleier gelte in dieser
partnern auf Augenhöhe zu begegnen, Kultur als Schutz. Gerber sagt: „Ich weiß,
wie wird das gehen – verschleiert? Es gibt wir können das kaum verstehen.“
kaum Touristenvisa und nur einge- Nach der Kontrolle würde ich norma-
schränkt Visa für Geschäftsreisende, für lerweise einen Mietwagen holen, doch in
Journalisten und erst recht weibliche ist Saudi-Arabien dürfen Frauen kein Auto
es besonders schwer, ins Land zu kom- lenken. Ein Architekt aus Gerbers Team
men. Ich habe allerdings ein Regierungs- fährt uns durchs nächtliche Riad, Wüsten-
visum, es fühlt sich fast an wie ein Staats- wind, Sand in der Luft. Rechts liegt die
besuch. Sind Gäste einer Regierung frei erste Frauenuniversität des Landes. Der
zu sagen, was sie denken? Campus ist von einer hohen Mauer um-
In der Ankunftshalle steht Eckhard schlossen.
Gerber und sagt: „Habe Sie gar nicht er- König Abdullah versucht, mehr Rechte
kannt.“ für Frauen durchzusetzen. Er versucht
Gerber hat zwei Kollegen aus seinem gleichzeitig, die religiösen Fundamen-
Berliner Büro mitgebracht, eine Frau, ei- talisten nicht gegen sich aufzubringen.
nen Mann, Architektin und Architekt, die Abdullah kam im selben Jahr an die
Frau ist jetzt auch verschleiert. Sie hat Regierung wie Merkel, 2005. Deutsch-
CHRISTIAN RICHTERS
ihre Abaja in der Berliner Sonnenallee land und Saudi-Arabien sind wichtige
gekauft, erzählt sie. Die Sonnenallee Handelspartner. Es gibt ein Foto von Mer-
wurde zu DDR-Zeiten durch die Mauer kel, Gerber und dem König bei einem
geteilt. Empfang.
Wenn die Bundeskanzlerin und der
König den Handel wollen, ist es dann be-
rechtigt zu fragen, ob Architekten hier
bauen sollten? Gerber findet, Kritik sei
unberechtigt. Er sagt: „Ich komme aus
der DDR und will Saudi-Arabien nicht
mit der DDR gleichsetzen, ich will nur
sagen, was mich geprägt hat: Willy
Brandts Ostpolitik, Wandel durch An-
näherung.“
Wir fahren zur Nationalbibliothek. Ein
Palästinenser führt durchs Gebäude, er
ist Bauleiter und Angestellter der Saudi
Binladin Group, eines Baukonzerns, den
der Vater des Terroristen Osama Bin
Laden gegründet hat.
Der Palästinenser spricht englisch mit
den Bauarbeitern in der Bibliothek, die
Arbeiter kommen aus Pakistan, Sri Lanka
DER SPIEGEL
GERBER ARCHITEKTEN
Männertrakt.
Gerber sagt, es sei ein Fortschritt, dass
jetzt viel für die Bildung von Frauen ge- Geplanter Schmetterlingsdom Entwurf U-Bahn-Station
tan werde. „Das wird viel bewirken, das
geht doch gar nicht anders.“ König Ab-
dullah gibt fast ein Viertel des Staatshaus-
halts für Schulen und Universitäten aus,
zurzeit studieren 120 000 Männer und
Frauen mit einem Stipendium des Königs
im Ausland. Aber reicht eine Hoffnung
aus, um das hinzunehmen – Frauentrakt,
Männertrakt?
Eigentlich werden Häuser in Riad wie
Höhlen gebaut, sie sollen das Licht und
die Hitze abhalten. Deutsche Architekten
aber lieben Glas und Helligkeit des Bau-
hauses: klare Formen, Transparenz. Die
Transparenz des Bauhauses war immer
auch politisch gemeint, sie steht für die
Öffnung einer erstarrten Gesellschaft, das
Bauhaus entstand in Deutschland gleich-
zeitig mit der Weimarer Republik. Seit-
dem sehen sich Architekten als Antreiber
gesellschaftlichen Wandels. Gerber sagt:
„Wir entwerfen Bilder einer Gesellschaft.“
Neben der Bibliothek liegt ein Hoch-
haus, das der britische Architekt Norman
Foster im Jahr 2000 fertiggestellt hat, es
CHRISTIAN RICHTERS
114 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Kultur
QUELLE: AMNESTY.ORG
Architekten sind beauftragt. Wenn das litten Gewalt. Eine Kam-
Viertel fertig sei, werde eine Sicherheits- pagne für Frauenrechte
firma es mit über 10 000 Kameras be- konnte sich etwas Gehör
wachen. verschaffen, was zu Fest-
Gerber hat hier ein Bildungszentrum nahmen führte, aber auch Enthauptung in Saudi-Arabien: Gesetz der Scharia
geplant und das Schmetterlingshaus. Die zu kleinen Fortschritten.
Bauherren vom saudi-arabischen Pen- Ausländische Arbeitsmigranten waren Gebäck. Die Teilnehmer verhandeln die
sionsfonds haben ihm keine Vorgaben ge- nach wie vor Ausbeutung und Misshand- Kosten, es scheint schwierig zu sein, sie
macht. „Machen Sie es, wie es am besten lungen durch ihre Arbeitgeber ausgesetzt, sind sich nicht einig.
ist“, so habe der Auftrag gelautet. Beim die in der Regel ungestraft blieben. Min- Hinterher wird Gerber sagen, dass es
Schmetterlingshaus bestand die Aufgabe destens 82 Gefangene wurden hingerich- das sei, woran er glaube: an die Ausein-
darin, einen Raum zur Erholung zu schaf- tet. Dies bedeutete einen drastischen An- andersetzung. Auseinandersetzung be-
fen. Gerbers fünfjähriger Sohn hat Freude stieg der Hinrichtungen gegenüber den deute Entwicklung auf beiden Seiten:
an hübschen Insekten, und so kam der beiden vorangegangenen Jahren.“ „Gebäude sind immer Ergebnis gemein-
Architekt auf die Idee. Es geht mit dem Auto durch die Stadt, samen Arbeitens.“
Bauherren in Deutschland gehen an- die Straßen sind voll. Gerber wird in Riad In einer Pause gehen die beiden ein-
ders vor: „Sie dürfen einen Architekten eine U-Bahn-Station bauen, sie soll ein heimischen Architekten in den Gebets-
nie frei laufen lassen, Sie müssen seine geschwungenes Dach mit Palmen bekom- raum, wir betrachten so lange in einem
Träume einfangen“, sagte Hartmut Meh- men. Die U-Bahn-Station ist eine der Vorraum Modelle der Bauprojekte, die
dorn, heute Chef des Berliner Skandal- ersten in der Fünf-Millionen-Einwohner- gerade in Riad entstehen. Eines davon
flughafens, in einem SPIEGEL-Gespräch. Stadt, bisher gibt es so gut wie keinen wirkt hermetisch, ein fast geschlossener
Hier oben vom Turm lässt sich die öffentlichen Nahverkehr. Quader.
Stadt überblicken, nordwestlich liegt an Die Fahrt geht ins Diplomatenviertel „Es soll das Gerichtsgebäude werden“,
einem Wadi, einem Flusslauf, der nur zu einem Treffen für den Bau der sagt Gerber, „wir haben uns am Wett-
manchmal Wasser führt, eine Siedlung U-Bahn-Station. Das Viertel wurde in den bewerb beteiligt, aber nicht gewonnen.“
mit alten Lehmhäusern. Die Siedlung siebziger Jahren angelegt, den Master- „Wer hat gewonnen?“
heißt Dirija, es war die Hauptstadt des plan hat der Frankfurter Stadtplaner „Albert Speer.“
ersten saudischen Staates, der 1744 ent- Albert Speer gemacht, das schönste Ge- Albert Speer hat vor 14 Jahren in ei-
stand. Baufachleute aus der ganzen Welt bäude des Viertels, den Tuwaiq-Palast, nem SPIEGEL-Gespräch über sich und
rekonstruieren mit Unterstützung der seinen Vater, Hitlers Architekten und
Unesco die alten Häuser mit Ziegeln aus Rüstungsminister, gesprochen. Speer hat
Stroh und Lehm. Die Frage, ob ein deutscher erzählt, wie es sei, ein Leben lang mit
Hier die Suche nach der Vergangenheit, Architekt ein Gericht den Verbrechen des Vaters in Verbindung
dort der Sprung in die Zukunft, Gerber gebracht zu werden, dass er einsehe,
wird in den nächsten Tagen auf beiden in Riad bauen sollte, ist dass es nun mal so sei, aber leicht sei das
Baustellen zu Gast sein, überall wird er nicht. Das kann man nachempfinden:
herzlich empfangen werden, er ist ein leicht zu beantworten. Niemand darf Kinder für die Taten der
gerngesehener Gast. Sie zeigen ihm das Eltern verantwortlich machen. Und doch
Gute, den Fortschritt. Gerber weiß, dass baute 1985 der Deutsche Frei Otto in Zelt- tragen nachfolgende Generationen Ver-
es nur ein Ausschnitt ist: „Von der an- form. Albert Speer und Frei Otto waren antwortung.
deren Seite Saudi-Arabiens hören wir Pioniere hier. Das Diplomatenviertel Zu der gehört auch, sich die Frage zu
immer nur.“ trägt die Farbe Riads. stellen, ob ein deutscher fortschrittlich
Amnesty International sammelt Fakten Am Tisch treffen die Architekten, In- denkender Architekt für Saudi-Arabien
über diese andere Seite, Jahr für Jahr. Im genieure und Finanzplaner, die an der Gerichtsgebäude entwerfen sollte. In Sau-
Saudi-Arabien-Report 2012 heißt es: „Ge- U-Bahn-Station arbeiten, auf zwei Ver- di-Arabien gilt das Gesetz der Scharia.
plante Demonstrationen wurden rück- treter des Bauherrn – eine Regierungsab- Homosexuellen droht die Hinrichtung,
sichtslos unterdrückt. Hunderte von Men- teilung, die für Architektur zuständig ist. Ehebrechern auch. Gerber sagt, auch in
schen, die sich an Protestaktionen betei- Zwei Saudi-Araber, ein Pole, ein Asiate, den USA werde die Todesstrafe vollzo-
ligten oder es wagten, sich für Reformen drei Engländer, ein Ire, drei Deutsche. gen. Niemand würde deutschen Architek-
auszusprechen, wurden festgenommen. Eine Uno in Kleinformat. ten vorwerfen, in den USA zu bauen.
Das Justizwesen war weiterhin undurch- Die Sitzung dauert Stunden, ein Paki- Die Vereinigten Staaten sind seit über
sichtig; Informationen über Häftlinge, staner serviert Tee und orientalisches 200 Jahren eine Demokratie. Ein Ver-
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 115
Kultur
D
er Siegeszug des Unterhaltungs- ständig zu machen. Er geriet in Chicago Nickelodeon in Chicago war Laemmle
mediums Film begann, denkbar zufällig in ein Nickelodeon und beschloss ein Weltherrscher des Showbusiness, Er-
unspektakulär, Anfang des vori- auf der Stelle, dort selbst einen solchen finder und König von Hollywood. Im
gen Jahrhunderts in den Großstädten des Laden zu eröffnen. Lauf weniger Jahre siedelten sich seine
amerikanischen Ostens. Leerstehende Lä- Laemmle hatte im Textilbusiness durch Konkurrenten in der Nachbarschaft an.
den in den Geschäftsstraßen wurden mit auffällige Werbeaktionen Erfolg gehabt, Universal City war sogar größer als der
einer Leinwand, Stuhlreihen, einem Pro- und auffällig ging er, im Februar 1906, schwäbische Ort Laupheim, wo Karl
jektor und einem Klavierspieler zu Vor- auch mit der eigenen Unternehmung an Lämmle 1867 geboren worden war, eines
führräumen umgerüstet, wo die Lauf- den Start: Er ließ Fassade, Innenraum und von 13 Kindern eines jüdischen Viehhänd-
kundschaft für einen „Nickel“ (fünf Cent) Mobiliar seines Ladens knallweiß strei- lers. Als er 17 Jahre alt war, ein eher
ein Potpourri aus komischen Sketchen, chen, um sich von der oft etwas schmud- schmächtiges Kerlchen, hielt ihn nichts
Aktualitäten und Kurzdramen zu sehen deligen Konkurrenz abzuheben. mehr in der Heimat. Er beantragte, wie
bekam. Ein pfiffiger Unternehmer, 1905 Der Effekt wirkte, und weil er rasch das damals notwendig war, die Ent-
in Pittsburgh, nannte seinen Laden hoch- erkannt hatte, dass die jungen Film-Ver- lassung aus der deutschen Staatsbürger-
trabend „Nickelodeon“. triebsfirmen dilettantisch agierten, grün- schaft, schiffte sich mit dem großen
Der Begriff gefiel und verbreitete sich dete er noch im selben Jahr selbst einen Auswandererheer in Bremerhaven ein
so rasant wie die Läden selbst. Schon 1908 Verleih. 1908 war er der größte Verleiher und kam über New York nach Chicago,
gab es 8000 bis 10 000 Nickelodeons im in den USA und posierte in Anzeigen mit einer Stadt, die damals mehr deutsch-
ganzen Land. Skeptiker hielten den dem Slogan „I Am the Moving Pictures sprachige Einwohner hatte als zum Bei-
Boom für kurzlebig. Wer würde sich, Man“. Im folgenden Jahr, logisch, kam spiel Stuttgart.
wenn er es einmal gesehen hatte, das stets eine eigene Spielfilmproduktion dazu. Anders als viele Einwanderer, die ihrer
ähnliche holprige Bildergewimmel ein Seine Filme begannen stets mit dem Heimat für immer den Rücken gekehrt
zweites Mal anschauen wollen? Doch es Vorspann „Carl Laemmle presents“ und hatten, pflegte Laemmle die Verbindung
gab früh Begeisterte. warben mit einer sensationell wirkenden zum Ort seiner Kindheit. Schon als armer
Einer von ihnen muss Carl Laemmle Neuigkeit: Während bei der Konkurrenz Staatenloser war er zweimal zu Besuch
gewesen sein, damals 39, Geschäftsführer die Darsteller ungenannt blieben, setzte heimgekehrt, und in der sprichwörtlichen
einer Konfektionsfirma in der Kleinstadt seine Werbung plakativ auf die Namen Rolle des reichen Onkels aus Amerika tat
Oshkosh in Wisconsin, der entschlossen der Schauspieler – so wurde er zum er es dann fast jeden Sommer. Er finan-
war, sich vor seinem 40. Geburtstag selb- Erfinder des Star-Prinzips, das für die zierte in Laupheim eine neue Schule,
Kinogeschichte entscheidender werden später ein Schwimmbad, er unterstützte
* Auf dem Set von „Uncle Tom’s Cabin“ 1927. sollte als jede technische Novität. die jüdische Gemeinde, aber auch das
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 117
Kultur
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 119
Kultur
AU TO R E N
E
ndlich! Endlich krempelt mal einer ist ein einfaches Buch, es teilt die Welt in
die Ärmel hoch in unserer ewigen Gut und Böse, und seine Leser möchten
Laberrunde. Einer, der die Welt ge- zu den Guten gehören, sie sind gegen die
sehen hat und unseren Politikern und ih- da oben, und den Hannes Jaenicke ken-
ren Spezialisten und den Konzernfürsten, nen sie aus der Glotze.
die unseren Planeten in eine Kloake ver- Als Schauspieler („Abwärts“, „Schlaf-
wandeln, zeigt, wo der Hammer hängt. los in Oldenburg“, „Tatort“) ist er einer
Da steht er nun, wie im Khakihemd und der besseren. Als Dokumentarfilmer über
mit diesem Dings, diesem Buch unterm bedrohte Tierarten wie Orang-Utans,
Arm. Es heißt: „Die große Volksverarsche. Haie oder Eisbären ist er beeindruckend.
Wie Industrie und Medien uns zum Narren Geht mittenrein, arbeitet mit versteckten
halten“*. Klartext also. Hat im Nu die Kameras, liefert dramatische, fast schon
Spitze der Bestsellerliste erobert. Ach was, gepimpt wirkende Reporterstücke.
erobert, der Mann hat einfach die Tür ein- „Wut allein reicht nicht“ hieß sein ers-
getreten, Tropenbräune im Gesicht und ter grüner Bestseller. Sein jetziger aber
in den Augen das Abenteuer. zeigt: Die Wut reicht wohl doch.
Es mag zunächst unfair sein, aber in Jaenicke nimmt sich die große Verschwö-
diesem Moment wirkt er da oben wie ein rung vor, der wir alle auf den Leim gehen,
Guttenberg, der auf einer Berliner Party also das, was Horkheimer/Adorno den
in seinen Kampfboots erscheint, den „Verblendungszusammenhang“ genannt ha-
Staub der afghanischen Wüste noch auf ben. Der allerdings bezog sich auf die
den Stiefelkappen, der Mann der Tat, der Kulturindustrie, deren Teil, wenn wir streng
allen anderen klarmacht, dass sie doch sind, auch Jaenicke ist. Aber so was von:
nur Sesselfurzer sind. Er ist der Indiana Jones der grünen Agenda,
Aber: Man muss sich Hannes Jaenicke der mit Hutkrempe und Nilpferdpeitsche Buchverfasser Jaenicke mit Orang-Utan auf Borneo:
als guten Menschen vorstellen. Er ist in die Verhältnisse zum Tanzen bringt.
den grünen achtziger Jahren politisch Jaenicke ist der Aufklärer mit Wut. ist. Am Beispiel irgendeiner EU-Ver-
sozialisiert worden, und das sitzt tief. Er Man könnte auch sagen: Nie war Wut te- ordnung: „Diese Pokerrunde ging an die
will alles richtig machen. Er will die Welt legener. Man könnte auch sagen, mittler- Lobby.“ Ja, Jaenicke lädt uns ein an den
retten, mindestens, und er weile gehört Wut zum Ge- runden grünen Stammtisch, wo wir, bei
marschiert dröhnend mit gu- schäft. Allerdings rennt Jae- einem guten Glas Leitungswasser, über
tem Beispiel voran. Jaenicke nicke weit offene Türen ein. „Merkel, Altmaier, Rösler und Konsorten“
Er weiß mit Konfuzius, Wir sind schon alle wütend. ablästern können.
dass jede lange Reise mit verspricht Rund um den Globus. Wir Ach so, eine Regel gibt es doch: keine
dem ersten Schritt beginnt, das richtige sind alle auf 180. Kritik an Grünen oder SPD, und wenn
und mit Gandhi, dass die Und Jaenicke liefert. Er die Braunkohle der Hannelore Kraft er-
ideale Gesellschaft in jedem Leben harkt noch mal alles zu- wähnt werden muss, dann nur murmelnd.
Einzelnen beginnt. Und im falschen. sammen, was die Verbands- Jaenicke verspricht das richtige Leben
jetzt mal im Ernst: Wer will und Parteimitteilungen von im falschen. Aber gibt es das für Konsu-
sich schon mit Konfuzius Greenpeace und Grünen an menten? Man muss höllisch aufpassen,
und Gandhi und Jaenicke gleichzeitig Schmutz – vorwiegend Umweltschmutz das ist die Grundsuggestion, also vertrau-
anlegen? – hervorkehren, natürlich auch die Kol- en wir uns dem Navigator Jaenicke an.
Jaenicke ernährt sich vegetarisch, er legen von „Monitor“ oder „Panorama“ „Konsumenten-Navi“ nennt er es in
wartet „auf das erste alltagstaugliche und die Faktenchecks von Plasberg. seinem Buch. Er verweist schon mal auf
E-Auto“ und trennt den Müll, und wenn Aber: Wussten wir denn nicht schon einen gleichgesinnten Blogger der Dort-
er zwischen seinen Wohnsitzen in Köln vorher, dass Bankberater (Kapitel: „Rien munder SPD, auch auf die Homepage des
und Los Angeles und sonst wo durch die ne va plus“) an den Produkten verdienen, Verbands der Automobilindustrie (lest
Welt fliegt, gleicht er seine Klimabilanz die sie uns andrehen? Dass die Plastiklob- selber nach, wie fies die sind) oder auf
aus, indem er einer Umweltorganisation by (Kapitel: „Ex und hopp“) dafür sorgt, Wikipedia.
einen CO2-Ausgleich stiftet. dass die Weltmeere verschmutzt sind? Also echt jetzt, eine große Hilfe ist das
Nehmt das, ihr stumpfen Malle-Trottel! Dass sogenannte Reality-Shows (Kapitel: nicht, und den Hinweis „Vorsicht vor ver-
Aber im Zweifel lesen genau die am „Volksdroge Glotze“) gescriptet sind? meintlichen Schlankmachern aus dem In-
Strand von Mallorca Jaenickes Buch. Es Doch Hannes Jaenicke ist ein guter ternet“ hatte man auch schon mal gehört.
Mensch, und er redet (schreiben kann Vielleicht einer der ersten Höhepunkte,
* Hannes Jaenicke: „Die große Volksverarsche“. Güters- man seine Stilblütensammlung kaum nen- wenn man so sagen darf, ist der Activia-
loher Verlagshaus; 192 Seiten; 17,99 Euro. nen), wie ihm der Schnabel gewachsen Becher von Danone. Da ist Jaenicke nicht
120 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
stattet sind, stoßen in erster Linie auf kul-
turelle Vorurteile, weil sie als „Frauen-
autos“ gelten. Während es der Benziner
knatternd liebt. Jaenicke: „Lärmend.
Sportlich. Dreckig. Männlich.“ Der grüne
Mann ist auch der neue Mann.
Die Pharmaindustrie! Will „abkassie-
ren“! Vor allem die aufwendige Langzeit-
forschung haben die CEOs „wegrationa-
lisiert“. Mittlerweile wird kaum noch in
Forschung investiert, stattdessen vor-
wiegend ins „Marketing, sprich Werbung
und Ärztebestechung“. Fiese Bande. Wut.
So geht das weiter: „Seit die neolibe-
rale Profitmaximierung das Ruder über-
nommen hat, ist für konzeptionelle For-
schung kein Platz mehr.“
Offenbar also hat die fette Profitmaxi-
mierung den Segelschein gemacht, und
wir jagen ihr hinterher, mit unserem
Navigator an Bord, und bestaunen wag-
halsigste Manöver.
Zwischen dem Wunsch der deutschen
Lobbyisten, das Heilmittelwerbegesetz
nach dem Vorbild der USA aufzuweichen,
und Michael Jacksons Tod und dem Mas-
saker im amerikanischen Cineplex liegen
gerade mal 20 Zeilen. Alles hängt mit
SPI EGEL-GESPRÄCH
Seit Juli 2009 ist Markus Gabriel, 33, In- sicher nicht bei einem endgültigen Sinn-
haber des Lehrstuhls für Erkenntnistheo- feld, das alles umfasst. Das Streben nach
rie und Philosophie der Neuzeit an der der absoluten Idee, dem universellen
Universität Bonn. In seinem jetzt erschie- Prinzip, sollten wir uns abgewöhnen.
nenen Buch „Warum es die Welt nicht SPIEGEL: Gehen wir dann nicht im Chaos
gibt“ (Ullstein Verlag, Berlin; 272 Seiten; der Erfahrungen unter?
18 Euro) entwickelt er Grundsätze eines Gabriel: Natürlich können wir die Orien-
neuen philosophischen Realismus, um zu tierung verlieren. Existenz ist immer re-
erklären, wie wir die Wirklichkeit erken- lativ, sie ist nicht identisch mit Wahrheit.
nen. Mit intellektuellem Witz und Lust Auch Einbildungen existieren, und vieles
an gedanklicher Provokation untersucht existiert nur in Einbildungen. Hexen gibt
er die ewigen Fragen der Menschheit: Wo- es nicht, und es gibt sie doch, etwa in
her kommen wir? Wo befinden wir uns? Goethes „Faust“, im Horrorfilm „Blair
Was ist Existenz? Und hat das mensch- Witch Project“, im Kölner Karneval.
liche Leben überhaupt einen Sinn? Das SPIEGEL: Oder in den Köpfen mittelalter-
Ergebnis ist eine ebenso spannende wie licher Hexenverfolger. Wir können doch
abgründige Exploration des Geistes. die Unterscheidung zwischen Außenwelt
und Innenwelt, zwischen realer und ein-
SPIEGEL: Herr Gabriel, was kann die THEODOR BARTH / DER SPIEGEL gebildeter Existenz nicht aufheben.
Philosophie im Zeitalter der modernen Gabriel: Entscheidend ist, in welchem Sinn-
Naturwissenschaft überhaupt noch zur feld wir uns befinden. Trolle gibt es in
Erkenntnis der Welt beitragen? der nordischen Mythologie, aber damit
Gabriel: Interessanterweise das meiste. Die gibt es noch lange keine Trolle in Norwe-
Wissenschaft kann, entgegen ihrem oft gen. Das Problem liegt darin, dass die
behaupteten Anspruch, kein Weltbild ent- Frage nach dem Sinn übergangen wird.
werfen. Die Annahme, dass die Natur- Philosoph Gabriel Das Universum stellt keine Sinnfrage, es
wissenschaften die fundamentale Schicht „Der Mensch sucht sich selbst“ ist eine „kalte Heimat“, wie der Bonner
der Wirklichkeit, also die Welt an sich, Philosoph Wolfram Hogrebe dieses le-
erkennen, während alle anderen Erkennt- Der Beobachter bleibt in einer Perspek- bensweltfreie Dasein genannt hat. Das
nisansprüche immer auf physikalische, tive verortet. Den „Blick von nirgendwo“, ändert sich, wenn wir nach unserem Platz
biologische oder sonstige naturwissen- wie der amerikanische Philosoph Thomas darin fragen. Das Menschsein ist ohne
schaftliche Einsichten reduzierbar sein Nagel es genannt hat, können wir nicht Sinnfrage nicht denkbar. Die Menschen
werden oder sich jedenfalls an diesen erreichen. Deshalb zerbröselt das soge- sind nicht einfach nur Schweine im Welt-
messen lassen müssen, ist schlicht falsch. nannte wissenschaftliche Weltbild zwi- all, wie ein Programm in der „Muppet
SPIEGEL: Wieso? Ist die Wissenschaft ein- schen unseren Fingern. Show“ heißt, also nur fressende und ihren
fach noch nicht weit genug gekommen? SPIEGEL: Das klingt ziemlich verwirrend. Nutzen berechnende Wesen, die sich in
Gabriel: Selbst wenn so etwas wie die Welt- Gabriel: Wir sehen immer nur Ausschnitte den Weiten einer sinnlosen Galaxie ver-
formel gefunden wäre, würde sie nur ei- von etwas, das unendlich ist. Ein Über- lieren. Die Menschen wissen, dass sie exis-
nen Ausschnitt der Welt darstellen, zu- blick über das Ganze ist unmöglich, weil tieren und in der Welt vorkommen. Das
gegeben einen wichtigen. Das Universum das Ganze nicht einmal existiert. Wir be- ist der entscheidende Unterschied.
ist nur einer von vielen Gegenstands- wegen uns in einer unendlichen Vielfalt SPIEGEL: Wo ziehen Sie die Grenzen der
bereichen, ein Teil des Ganzen, nicht das von Feldern der Erkenntnis, von „Sinn- naturwissenschaftlichen Erkenntnis?
Ganze selbst. Es gibt viele Gegenstände, feldern“, wie ich es nenne, die alle von- Gabriel: Ich möchte sagen, dass sie am
die es nicht im Universum gibt. Die Welt einander unterschieden sind. Geist scheitert. Menschen bewegen sich
an sich gibt es gar nicht. Alle Weltbilder SPIEGEL: Die „Welt“ wäre demnach nur nun einmal im Geist. Ignoriert man den
sind falsch, weil sie unterstellen, dass es eine Redewendung, die wir der Einfach- Geist und betrachtet nur noch das Uni-
eine Welt gibt, auf die wir von außen heit halber benutzen? versum, verschwindet aller Sinn.
blicken können. Gabriel: Die Welt ist der Bereich aller Be- SPIEGEL: Es gibt Bereiche des Geistes, die
SPIEGEL: Wir bleiben notwendigerweise in reiche, so hat Heidegger es ausgedrückt. sich mit Methoden der Naturwissenschaf-
fragmentarischen Betrachtungen gefangen? Die Welt, in der wir leben, zeigt sich uns ten, der Psychologie, der Biologie oder
Gabriel: Wir schauen immer auf die Wirk- als ein unendlicher, stetiger Übergang der Neurologie, untersuchen lassen.
lichkeit von einem bestimmten Punkt aus. von Sinnfeld zu Sinnfeld, eine endlose Gabriel: Ja, aber entscheidende geistige
Verschmelzung und Verschachtelung, in Produkte wie Kunstwerke oder auch Staa-
Das Gespräch führte der Redakteur Romain Leick. der wir niemals ankommen, und ganz ten, Religionen, Institutionen lassen sich
122 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
nicht auf diese Weise untersuchen, am
wenigsten mit den Methoden der Gehirn-
forschung. Geist ist nicht bloß ein menta-
ler Prozess. Wie wir einen Roman, ein
Kunstwerk oder auch eine politische Ent-
scheidung verstehen, lässt sich nicht rein
biologisch oder mathematisch beschrei-
ben. Trotzdem ist das Verstehen nicht
völlig willkürlich oder eine Sache des
subjektiven Geschmacks. Der Vorgang
des Verstehens, etwa eines Kunstwerks,
das auf den ersten Blick unverständlich
anmutet, wie eine bloße Ansammlung
von Farbklecksen, eines von Jackson
Pollocks Action-Paintings zum Beispiel,
ist keineswegs beliebig, wohl aber frei.
Kunst konfrontiert uns mit reinem Sinn.
Sie ist weder bloßes Abbild noch simple
Unterhaltung.
SPIEGEL: Dem Geist oder dem Sinn kann
man sich nur mit den Mitteln der Inter-
pretation nähern, durch Sprache, Kom-
munikation und Argumentation, statt
durch experimentelle Beweise?
Gabriel: Argumente sind die Gedanken-
experimente der Philosophie. Es ist wich-
tig, den Geist wieder in sein Recht zu
setzen, nachdem die Postmoderne ver-
sucht hat, ihn als Illusion, als bloße Kon-
struktion zu entlarven. Dabei hat sie nur
Gabriel: Ja, man kann sagen, dass die Phi- Gabriel: Das ist er auch, wenn er Gott als ohne die Metaphysik niemals zu Wissen-
losophie eigentlich die Selbsterforschung allmächtigen Schöpfer und Regenten an schaft und ohne die Wissenschaft niemals
des Geistes ist. Wobei der Geist einen einem uns vorerst unzugänglichen Ort zu den Erkenntnissen gekommen, über
größeren Bereich darstellt als lediglich begreift. Das Denken erkennt nicht, dass die wir heute verfügen. Aufklärung, Wis-
das Denken, denn er umfasst auch Emo- es sich selbst untersucht, deswegen per- senschaft und Religion sind näher beiein-
tionen, Gefühle, Bewusstseinsinhalte, die sonalisiert es und legt diese Vorstellung ander, als man denkt. Die Moderne ist
nicht darauf reduziert werden können, nach außen. Das Bild, das wir uns von nicht durch den Abbau der Religion ge-
was wir kognitives Denken nennen. Gott oder den Göttern machen, ist meist kennzeichnet. Dem Menschen ist erst in
SPIEGEL: Ist der Geist so etwas wie der nur ein Bild, das wir uns von uns selbst der Moderne aufgegangen, dass er Geist
sechste Sinn des Menschen, um die Wirk- machen, um uns zu untersuchen. Wir kön- ist und dass dieser Geist eine Geschichte
lichkeit zu erschließen? nen dann Geschichten erzählen über die hat – also auch Entwicklungsstadien
Gabriel: In der indischen Philosophie sagt Entstehung des Geistes, als käme er von durchläuft und zu Fortschritten wie zu
man das schon lange. Uns im Abendland außen. Wir erkennen dabei nicht, dass Rückschritten fähig ist.
haben Platon und Aristoteles verwirrt, das Göttliche, das wir außer uns suchen, SPIEGEL: Dass es die eine Welt nicht gibt,
indem sie das Denken den fünf Sinnen der menschliche Geist selbst ist. Ich glau- dass es kein Prinzip gibt, das alles zusam-
Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und be, dass die Religion vor der Moderne menhält und orchestriert, dass es dem-
Riechen als rationales Ordnungsprinzip häufig sehr viel intelligenter war, als sie nach Gott nicht gibt – ist das nun für uns
entgegensetzten. Doch warum sollte das es heute ist. Die alten Griechen waren Menschen eher eine erfreuliche oder eine
Denken selbst eigentlich kein Sinn sein? imstande, ihre Götter auf dem Olymp als erschreckende Erkenntnis?
Andere Tiere haben auch noch andere Inszenierung zu durchschauen. So wie Gabriel: Auf jeden Fall eine befreiende.
Sinne. Delphine oder Fledermäuse haben wir heute im Kino ja auch personalisierte Damit vermeiden wir die Alternative, un-
eine Echoorientierung, Menschen haben Bilder sehen, ohne zu glauben, dass diese ser Leben als Komödie oder als Tragödie
Denken. Es ist Teil unserer biologischen Personen außerhalb des Films existieren. zu begreifen. Die Depression, der exis-
Ausstattung. So gesehen kann man einen SPIEGEL: Demnach wäre das Ende der tentialistische Katzenjammer, befällt uns,
Sinn als einen wahrheitsfähigen und da- Menschheit das Ende des Göttlichen? wenn wir das Unmögliche erwarten, näm-
mit irrtumsanfälligen Zugang zur Realität lich Unsterblichkeit, ewige Glückseligkeit
verstehen. Unsere Sinne sind ebenso we- und eine Antwort auf alle Fragen. Die
nig subjektiv wie unser Denken. Sie „Der Sinn der Religion ist Komödie stellt sich ein, wenn wir glau-
stecken nicht in unserem Kopf, sondern die Einsicht, dass es ben, in eine Show über nichts geworfen
sie sind objektive Strukturen, in denen zu sein. Die dem Philosophen angemes-
wir uns vorfinden. Gott als Weltmonarchen sene Gemütsverfassung wäre demgegen-
SPIEGEL: Wenn das Denken ein angebore- über gelassene Heiterkeit. Wir bahnen
ner menschlicher Sinn ist, wird der tradi- nicht gibt.“ uns einen Weg durch das Unendliche, wir
tionelle Dualismus von Leib und Seele, stehen vor unendlichen Möglichkeiten,
Geist und Körper hinfällig. Erübrigt sich Gabriel: Die Menschen und die Götter wir produzieren unentwegt neue Sinn-
damit die Frage nach Gott? brauchen einander, während das Univer- felder, aber wir kommen nie an.
Gabriel: Wie in der Philosophie sucht auch sum natürlich ohne uns weiterexistieren SPIEGEL: Das Leben wäre wie eine „Star
in den Religionen der Geist sozusagen wird. Dem sind wir völlig egal. Trek“-Expedition durch die Galaxien?
sich selbst, wenn man so will, in einer SPIEGEL: Wenn das Göttliche die Konfron- Gabriel: Den Endpunkt werden wir nicht
magisch-narrativen statt in einer wissen- tation des menschlichen Geistes mit sich erreichen. Wir können den Überblick vor
schaftlich-argumentativen Form. Das selbst ist und Religion nur eine Form der lauter Sinn verlieren, nicht aber das
Göttliche würde ich als unendlichen Geist Sinnsuche, warum sind dann unsere mo- Gefühl für den Sinn einbüßen. Deshalb
beschreiben, der sich selbst sucht – und dernen Gesellschaften nicht längst völlig können wir an den Fortschritt in der
zwar in unserem Geist. säkularisiert? Warum kommen die Men- Geschichte glauben und ständig an der
SPIEGEL: Dann wäre die Frage, ob es Gott schen nicht ohne das Religiöse aus? Verbesserung unseres Menschseins arbei-
gibt, ziemlich unsinnig. Gabriel: Tatsächlich könnte man provo- ten. Das eigentlich Böse, der Rückfall in
Gabriel: Ja, das ist eine falsche Auffassung zierend sagen, dass der Sinn der Religion die Barbarei, ist die Zerstörung von Sinn.
von Religion, eine Fetischisierung des die Einsicht ist, dass es Gott nicht gibt, Die menschliche Reise ist eine Entfaltung
Göttlichen, weil man einen Gegenstand dass Gott kein absoluter Geist ist, der den von Freiheitsmöglichkeiten. Ein Politiker,
sucht, weil man sich Gott als Person, als Sinn unseres Lebens garantiert. Deswe- der nicht an den Sinn in der Geschichte
eine Art Weltmonarchen, vorstellt. gen ist aber die Religion selbst oder die glaubt, macht nur noch Klempnerarbeit.
SPIEGEL: Wäre dann der Monotheismus Rede von Gott nicht sinnlos. Ohne Reli- SPIEGEL: Herr Gabriel, wir danken Ihnen
die höchste Form des Fetischglaubens? gion wäre es niemals zu Metaphysik, für dieses Gespräch.
124 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Kultur
D
as verflixte zweite Buch. Davor ein Reiseführer verspricht). Dort will er Form. Selbst das gattungsspezifische
fürchtet sich jeder Schriftsteller. endlich in Ruhe seinen Roman schreiben. „Falkenmotiv“ am Wendepunkt der
Gerade dann, wenn das Debüt ein Doch das vermeintliche Paradies ent- Geschichte erscheint in Gestalt einer
Erfolg war. hüllt sich Anfang Januar als kalt und un- streunenden rotgetigerten Katze, die dem
Eugen Ruge hatte mit seinem Erstlings- freundlich. Ebenso begegnen dem Mann Leben des als Romancier scheiternden
werk „In Zeiten des abnehmenden auch die Bewohner des Orts. Und wenn Helden einen Dreh gibt.
Lichts“, das er mit Mitte fünfzig veröf- er etwas in sein Notizheft schreibt, ist er Das Buch lebt nicht zuletzt von seiner
fentlichte, auf Anhieb Erfolg. Das Fami- am nächsten Tag unzufrieden und reißt autobiografischen Suggestion. Der Ich-
lienepos, das sich über ein halbes Jahr- die Seite gleich wieder heraus. Der Traum Erzähler hat manche Lebensdaten mit
hundert erstreckt, erhielt im Oktober 2011 scheint ein Traum zu bleiben. dem realen Autor gemeinsam. Er ist in
den publikumswirksamen Deutschen Eine Schriftstellergeschichte. Deutlich der DDR groß geworden, hat in einem
Buchpreis und hat sich bis heute mehr steht Peter Handke Pate, dessen Er- Institut für Chemietechnik gearbeitet (bei
als 350 000-mal verkauft. zählung „Nachmittag eines Schriftstel- Ruge war es das Zentralinstitut für
Auf den umfangreichen Roman lässt er lers“ mit ähnlicher Genauigkeit vom Physik) und irgendwann gekündigt, um
jetzt, anderthalb Jahre später, eine auto- Glück und möglichen Scheitern eines nur noch zu schreiben, und er ist Sohn
biografisch gefärbte Erzählung folgen, die Schreibenden handelt. Und in Handkes eines der DDR immer noch nachtrauern-
es selbst bei großzügigem Satzspiegel „Versuch über die Jukebox“ wird der für den Publizisten, der in einer hinreißen-
gerade mal auf 200 Seiten bringt. Statt an das Schreiben geeignete Ort zum The- den Szene Kontur gewinnt.
wechselnden Orten und zu Und doch bleibt alles
verschiedenen Zeiten wie Erfindung, schon weil
im Roman – Mexiko, Mos- die Erinnerung trüge-
kau, Berlin zwischen 1952 risch ist. Das Gedächtnis
und 2001 – spielt sich nun erfinde „ja alle Erinne-
alles hauptsächlich an ei- rungen immer wieder
nem Ort ab, dem spa- neu“, wie es einmal ganz
nischen Fischerdorf Cabo im Einklang mit der
de Gata, das dem Buch neuesten Gedächtnisfor-
auch den Namen gegeben schung heißt.
hat. Und es sind genau Ruges Erzählprinzip ist
123 Tage, die der Ich-Er- fast so etwas wie eine
zähler dort verbringt. Versuchsanordnung. Er
Aber was spielt sich habe sich vorgenommen,
schon groß ab? Der lässt er seinen fiktiven
Charme des kleinen Ro- Erzähler formulieren,
mans „Cabo de Gata“ be- „bei dieser Niederschrift
steht gerade darin, dass keine früheren Aufzeich-
der Mangel an Handlung nungen zu benutzen,
CHRISTIAN THIEL
126 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Trends Medien
T V- U N T E R H A LT U N G
„Jeder Top-Spion
wird erblassen“
Entertainer Simon Gosejohann, 37,
über sein für August angekündigtes
ProSieben-Experiment „antisocial
network“
E
in lauer Sommerabend Mitte Juni Generation zwei neue Grundbedürfnisse: Für Besucher wie Teju Cole fallen mit-
in Berlin, im Haus der Kulturen der volle Akkus und schnelle Internetverbin- unter immer noch horrende Roaming-Ge-
Welt im Regierungsviertel nimmt dungen allerorten – zu Hause, an der Uni, bühren an. Und datenintensive Inhalte wie
Teju Cole den Internationalen Literatur- im Café, Bahnhof, Flughafen. Filme, Musik oder auch die Digitalausgabe
preis entgegen. Der 1975 geborene Ro- Die Sache mit den Akkus, Steckern des SPIEGEL lassen sich ohnehin besser
manautor wuchs in Nigeria auf und lebt und Ladegeräten ist kein Problem – es mit einem „Wireless Local Area Network“
in New York. Wo er sich denn zu Hause sei denn, man hat eines dieser verma- laden, also einem drahtlosen lokalen Funk-
fühle, fragt die Moderatorin. „Home is ledeiten Dinger mal wieder vergessen. netzwerk, kurz W-Lan oder Wifi.
where there’s good Wifi“, antwortet er. Aber das Bedürfnis nach dem schnellen Im internationalen Vergleich ist
Heimat sei für ihn überall dort, wo er ein Internetzugang unterwegs lässt sich hier- Deutschland selbst in den Metropolen
gutes Funknetz ins Internet finde. „Und zulande nicht so einfach befriedigen. noch ein Flickenteppich und W-Neuland,
wo kein gutes Funknetz ist, da fühle ich Denn viele Nutzer von Smartphones jedenfalls was öffentliche Hotspots für je-
mich auch nicht zu Hause.“ und Tablets haben zwar Mobilfunkverträ- dermann angeht. Das Thema „Potentiale
Der Autor bringt damit ein Lebensge- ge, mit denen sie auch surfen können. der W-Lan-Netze“ schaffte es jüngst bis
fühl auf den Punkt, denn es gibt für seine Doch meist ist das Volumen beschränkt. in den Bundestag, wo der als Sachver-
128 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Medien
den Hals, damit die Besucher nicht aufs Den weitreichendsten Vorstoß hat die
Netz verzichten müssen. Telekom angekündigt, die mit ihren bis-
Doch nun gibt es hierzulande Anstren- lang 12 000 Zugangspunkten schon heute
gungen, in Sachen Anschluss aufzuschlie- den Markt dominiert. Seit Juni kooperiert
ßen. Ein Teil davon ist kommerziell mo- sie beim Angebot „WLAN to go“ mit
tiviert, denn der Netzzugang via Hotspot dem spanischen Unternehmen Fon, so
entwickelt sich zu einem Wettbewerbs- sollen bis 2016 deutschlandweit 2,5 Mil-
faktor und für viele Betreiber auch zu ei- lionen neue Hotspots entstehen.
nem attraktiven Geschäftsmodell. Vorrei- Hinter Fon steckt nichts anderes als die
ter allerdings waren nichtkommerzielle Idee der Freifunker, Kapazitäten zu tei-
Initiativen: Bereits vor mehr als einem len, nur machte der Argentinier Martin
Jahrzehnt gründeten sich die ersten Frei- Varsavsky daraus 2005 eine Geschäfts-
funk-Clubs mit dem Ziel, offene Netz- idee. Die mittlerweile international mehr
zugänge für alle zu schaffen. Die Idee als acht Millionen „Foneras“ bauen über
dahinter entspricht der „Ökonomie des ihre Router parallel zwei W-Lan-Netze
Teilens“: Jeder Router-Besitzer stellt ei- auf – eines für sich selbst und ein davon
nen Teil seiner nichtgenutzten Bandbreite getrenntes für Gastnutzer. Mitglieder kön-
anderen zur Verfügung. nen unterwegs kostenlos über andere
Dass Deutschland nicht nur Vorreitern Foneras ins Netz, Nichtmitglieder können
wie Estland oder Israel hinterherhinkt, sich Zugangspässe kaufen. In Deutsch-
hat vor allem rechtliche Gründe: Die land teilen sich die Spanier die Erlöse mit
Rechtsprechung nimmt die Betreiber of- dem neuen Partner Telekom.
fener Hotspots auch für das in Haftung, Dass die Telekom mit Fon zusammen-
was andere darüber im Netz so alles arbeitet, hat in der Branche manchen über-
treiben. Es sei deshalb, so Buermeyer rascht, denn zunächst galt Varsavsky als
im Bundestagsunterausschuss, derzeit in Herausforderer der Großkonzerne. Doch
Deutschland „nur mit sehr guten Nerven die sind zunehmend vom Datenhunger
oder sehr solidem finanziellen Rückgrat der Handynutzer überfordert und wollen
möglich, ein W-Lan-Netz für die Öffent- ihre Netze mit Hilfe von W-Lan entlasten.
lichkeit anzubieten“.
Schon seit Jahren fordern Verbände Das Funknetz ist
und Betroffene, diese sogenannte Störer-
haftung abzuschaffen oder zumindest zu Reisenden wichtiger als
beschränken. Die Bundesregierung lehnt
das als „weder geeignet noch erforderlich“ kostenloses Frühstück
ab. Sie entspricht damit unter anderem oder ein Gratisparkplatz.
den Wünschen der Musikindustrie, die
illegale Downloads verhindern will. Das Telekom-Fon-Projekt konkurriert
Doch nun werden die offenen W-Lans mit einer Fülle regionaler Initiativen: In
zum Wahlkampfthema. „International Berlin hat der Kabelnetzbetreiber Kabel
liegt Deutschland zurück, was offene Net- Deutschland (KDG) gerade mehr als 80
ze angeht“, sagt Gesche Joost, Design- neue Hotspots in Betrieb genommen,
professorin an der Universität der Künste über die Einheimische und Touristen eine
in Berlin und netzpolitische Beraterin von halbe Stunde lang kostenlos surfen kön-
Peer Steinbrück. Sollte die SPD die Bun- nen; danach dürfen nur KDG-Kunden das
destagswahl gewinnen, will sie die Störer- Netz weiternutzen. In München haben
HILMAR SCHMUNDT / DER SPIEGEL
haftung in der jetzigen Form nach spätes- die Stadtwerke in Kooperation mit dem
tens hundert Tagen abschaffen. Im Gegen- Telekom-Anbieter M-Net gerade einen
satz zur Forderung von Netzaktivisten Hotspot auf dem Marienplatz freigeschal-
sollen sich Gäste in offenen W-Lans nach tet, zahlreiche weitere im Stadtgebiet sol-
Joosts Vorstellungen allerdings mit einem len noch dieses Jahr folgen.
Freifunker-Treffen im C-Base in Berlin persönlichen Passwort anmelden. Viele Unternehmen sehen ihre Inves-
Die SPD-Wahlkämpferin ist mit ihrem titionen vor allem als Werbung und fol-
Vorstoß für offene Netze nicht allein: Die gen damit prominenten Vorbildern: In
ständige geladene Berliner Richter und Linke im Bundestag hat bereits einen ent- den USA hat Google jenes New Yorker
IT-Experte Ulf Buermeyer klagte: „Die sprechenden Gesetzesvorschlag vorgelegt, Stadtviertel mit kostenlosen öffentlichen
meisten westlichen Länder, aber auch vie- auch Piraten und Grüne setzen sich dafür Hotspots versorgt, in dem es seine
le Entwicklungsländer sind hier viel wei- ein, die Störerhaftung in Paragraf 8 im Firmenniederlassung hat. Bürgermeister
ter: Wenn Sie dort durch die Stadt gehen, Telemediengesetz einzuschränken. Michael Bloomberg pries das Unterneh-
können Sie quasi an jeder Ecke ein offe- Seine Motive seien nicht ganz uneigen- men öffentlichkeitswirksam dafür, die
nes W-Lan nutzen.“ Er selbst habe das nützig, sagt Konstantin von Notz, Spre- Stadt weiter zur Digital-Metropole zu
in Luxor und Kairo erlebt, in Washington cher für Innen- und Netzpolitik der Grü- entwickeln. Für den Internetgiganten
und Paris sowieso. „Anders bei uns, hier nen. Im Bundestag gebe es bis heute kein war das eine vergleichsweise günstige
herrscht weitgehend Funkstille auf dem W-Lan: „Heute Morgen konnte ich daher Werbung: Der Aufbau des Netzes beläuft
Bürgersteig.“ meinen Redeentwurf stundenlang nicht sich auf kaum mehr als 100 000 Dollar,
Tatsächlich lassen sich andere Länder abschicken.“ die jährlichen Betriebskosten liegen un-
einiges einfallen, um eine Vollversorgung Trotz der unsicheren Rechtslage ver- ter 50 000 Dollar.
zu erreichen: In einem historischen Park suchen einige Firmen bereits, das Funk- Hotelbetreiber können es sich inzwi-
in Israel tragen sogar die Esel Router um vakuum zu füllen, um Kunden zu binden. schen gar nicht mehr leisten, keinen frei-
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 129
Medien
en Netzzugang anzubieten. Laut einer wegian ist das schnelle Wifi auf inner- Auch die Vorreiter des nahtlosen Netz-
Umfrage unter weltweit 8600 Reisenden europäischen Flügen kostenlos. empfangs sehen in der Störerhaftung das
vom Februar finden drei Viertel der Be- Die Visionäre dieser Entwicklung tref- größte Hindernis für einen flächende-
fragten, der kabellose Internetempfang fen sich an einem Mittwochabend Mitte ckenden Funkteppich. „Das ist ungefähr
gehöre zur Grundausstattung eines Ho- Juni an einem Ufergrundstück an der so, als wenn das Straßenbauunternehmen
tels. Das Funknetz ist ihnen wichtiger als Spree im Club namens C-Base. Unter dafür haftet, wenn ein Autofahrer einen
kostenloses Frühstück oder ein Gratis- Bäumen glimmen bläulich die Bildschir- Unfall baut“, sagt Paufler.
parkplatz. me, der Freifunker-Verein hält seine wö-
Sogar die Deutsche Bahn bietet mitt- chentliche Sitzung ab. „Offene Funknetze
lerweile in rund 90 von 255 ICE-Zügen sind so wichtig wie Straßen oder Strom- Oma Ilona hat angeblich
W-Lan an, bis Ende 2014 soll es dann end- leitungen, das gehört zu einer funktionie-
lich in allen sein. Kostenlos ist die Nut- renden Stadt dazu“, sagt Daniel Paufler.
illegal einen Film her-
zung allerdings nur in den Lounges in den Vor zehn Jahren setzten sich die idealis- untergeladen. Sie besitzt
Bahnhöfen. In den Zügen müssen die tischen Bastler das erste Mal zusammen,
Bahnfahrer fürs W-Lan bezahlen – an die heute betreiben Freiwillige in Berlin über aber gar keinen Rechner.
Telekom. Der gerade deregulierte Fern- 250 offene W-Lan-Hotspots.
busmarkt ist da schon weiter. Fast alle An- Um Geld zu sparen, buchen sie nur Und die Gefahr ist keineswegs abstrakt,
bieter haben W-Lan an Bord – vielleicht wenige Leitungen und verteilen den In- wie die Rentnerin Ilona A. feststellen
auch als Trost für die längere Fahrzeit. ternetanschluss mit Hilfe von Richtfunk- musste. Im Februar 2010 erhielt die 65-
Die Lufthansa hat inzwischen nach ei- antennen auf Kirchtürmen und Platten- Jährige ein Mahnschreiben: Sie habe ille-
genen Aussagen mehr als 90 Prozent ihrer bauten weiträumig über die Stadt. Von gal einen Hooligan-Film aus dem Netz
Langstreckenflotte mit Internetzugang den Dächern werden die Daten dann geladen und solle 651,80 Euro Strafe zah-
nachgerüstet, den sie sich allerdings gut über Kabel in die Nachbarschaft ge- len. Das wunderte sie, denn sie besitzt
bezahlen lässt: Eine Tages-Flatrate kostet schickt. zwar einen Anschluss, aber gar keinen
an Bord 19,95 Euro. Vorreiter beim W- Früher stand das offene Bürgernetz für Computer. Seitdem klagt sie sich durch
Lan in der Luft waren vor allem die Golf- eine antikapitalistische Utopie, heute be- die Instanzen, derzeit ist ihr Prozess beim
Airlines, auch im US-Luftraum ist die letz- grüßen die klammen Stadtväter die Frei- Bundesgerichtshof in Karlsruhe anhängig.
te netz- und handyfreie Bastion längst funker als Ersthelfer in Sachen Infrastruk- Da es noch keinen Entscheid gebe, müsse
gefallen, Delta bietet Reisenden eine Jah- tur, die Medienanstalt Berlin-Branden- sie die Strafe abstottern, erzählt Oma Ilo-
res-Flatrate für 469,95 Dollar an. Bei Nor- burg fördert sie mit 30 000 Euro. na: pro Monat 75 Euro.
„Die Rechtslage ist surreal“, sagt Ansgar
Oberholz. Er steht an der Bar des Cafés
St. Oberholz in Berlin, hinter ihm etliche
Freie Netze Kunden mit aufgeklapptem Notebook.
Kostenlose Wireless- Das Café ist auch durch sein schnelles W-
Lan-Zugänge in Lan und seine Lage an der Torstraße in
Rostock Berlin-Mitte zu einem Treffpunkt für die
Deutschland
digitale Boheme geworden.
Hamburg „Bis 2011 haben wir meist eine Abmah-
nung pro Jahr bekommen“, sagt Ober-
holz, „dann plötzlich acht in drei Mona-
Bremen ten.“ Der Vorwurf war stets derselbe: An-
Berlin geblich hatten Gäste sein W-Lan genutzt,
Hannover um urheberrechtlich geschützes Material
Magdeburg herunterzuladen oder ins Netz zu stellen.
Um den Abmahnungen spezialisierter
Kanzleien zu entgehen, leitet er den
Datenverkehr zum Provider Hotsplots
Dortmund Leipzig um. Der wirbt damit, dass seine Kunden
Düsseldorf nicht identifiziert werden können.
Erfurt
Köln Dresden Der Freinetz-Verein sah sich zwischen-
zeitlich sogar zu noch drastischeren Ver-
renkungen gezwungen: Er schickte sei-
nen lokalen Datenverkehr aus Berlin
Frankfurt über eine verschlüsselte Verbindung nach
Schweden. Vergangenes Jahr verteilte er
an Cafés und Bars Hunderte sogenannter
„Freedom Fighter Boxes“, W-Lan-Router,
Nürnberg
in deren Firmware der Umweg über
Saarbrücken Schweden bereits programmiert ist.
Stuttgart So ähnlich machen es Dissidenten, um
in autoritären Staaten der Zensur zu ent-
gehen. MARCEL ROSENBACH,
HILMAR SCHMUNDT
130 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
U N T E R H A LT U N G
Einfach
nur krass
Videospielen ist für viele
ein Hobby – und für
manche harte Arbeit: Sie lassen
sich per Livestream
beim Zocken beobachten.
J
eden Vormittag gegen zehn schüttet
Jayson Love ein paar Tassen Kaffee
in sich hinein. Dann nimmt er Platz
in seinem Keller in einer 100 000-Einwoh-
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 131
Impressum Service
Leserbriefe
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) E-Mail spiegel@spiegel.de SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg
Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: leserbriefe@spiegel.de
HERAUSGEBER Rudolf Augstein (1923 – 2002) DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4, 01097 Dresden, Tel. (0351) Fragen zu SPIEGEL-Artikeln / Recherche
26620-0, Fax 26620-20 Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966
ST ELLV. CHEFREDAKTEURE Klaus Brinkbäumer,
Dr. Martin Doerry (V. i. S. d. P.) DÜSSELDORF Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara Schmid, Fide- E-Mail: artikel@spiegel.de
lius Schmid, Benrather Straße 8, 40213 Düsseldorf, Tel. (0211) 86679-
ART DIRECT ION Uwe C. Beyer 01, Fax 86679-11 Nachdruckgenehmigungen für Texte und Grafiken:
Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schrift-
FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Martin Hesse, Simone Kaiser,
Politischer Autor: Dirk Kurbjuweit
Anne Seith, An der Welle 5, 60322 Frankfurt am Main, Tel. (069) licher Genehmigung des Verlags. Das gilt auch für die
DEUTSCHE POLITIK · HAUPTSTADTBÜRO Leitung: Konstantin von Ham- 9712680, Fax 97126820 Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mail-
merstein, Christiane Hoffmann (stellv.), René Pfister (stellv.). Redaktion boxen sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
Politik: Nicola Abé, Dr. Melanie Amann, Ralf Beste, Horand Knaup, Pe- KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721)
ter Müller, Ralf Neukirch, Gordon Repinski, Merlind Theile. Autor: Mar- 22737, Fax 9204449 Deutschland, Österreich, Schweiz:
kus Feldenkirchen M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Conny Neumann, Rosental 10, 80331 Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966
Redaktion Wirtschaft: Sven Böll, Markus Dettmer, Cornelia Schmergal, München, Tel. (089) 4545950, Fax 45459525 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de
Gerald Traufetter. Reporter: Alexander Neubacher, Christian Reier- ST U T TGA RT Eberhardstraße 73, 70173 Stuttgart, Tel. (0711) 664749-20,
mann übriges Ausland:
Fax 664749-22
Meinung: Dr. Gerhard Spörl New York Times News Service/Syndicate
REDA KT IONSVERT RE TUNGEN AUSL AND E-Mail: nytsyn-paris@nytimes.com
D E U T S C H L A N D Leitung: Alfred Weinzierl, Cordula Meyer (stellv.), ABU DHABI Alexander Smoltczyk, P. O. Box 35 290, Abu Dhabi
Dr. Markus Verbeet (stellv.); Hans-Ulrich Stoldt (Panorama). Redak- Telefon: (00331) 41439757
tion: Felix Bohr, Jan Friedmann, Michael Fröhlingsdorf, Hubert Gude, BOSTON Johann Grolle, 25 Gray Street, 02138 Cambridge, Massachus-
setts, Tel. (001617) 9452531 für Fotos:
Carsten Holm, Anna Kistner, Charlotte Klein, Petra Kleinau, Guido
Kleinhubbert, Bernd Kühnl, Gunther Latsch, Udo Ludwig, Maximilian Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966
B RÜ S S E L Christoph Pauly, Christoph Schult, Bd. Charlemagne 45,
Popp, Andreas Ulrich, Antje Windmann. Autoren, Reporter: Jürgen 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436
E-Mail: nachdrucke@spiegel.de
Dahlkamp, Dr. Thomas Darnstädt, Gisela Friedrichsen, Beate Lakotta,
Bruno Schrep, Katja Thimm, Dr. Klaus Wiegrefe KAIRO Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Muhandisin, Kairo, Nachbestellungen
Berliner Büro Leitung: Holger Stark, Frank Hornig (stellv.). Redaktion: Tel. (00202) 37604944, Fax 37607655 SPIEGEL-Ausgaben der letzten Jahre sowie
Sven Becker, Markus Deggerich, Özlem Gezer, Sven Röbel, Jörg K A P STA DT Bartholomäus Grill, P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kap- alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE
Schindler, Michael Sontheimer, Andreas Wassermann, Peter Wensier- stadt, Tel. (002721) 4261191 und SPIEGEL WISSEN können unter
ski. Autoren: Stefan Berg, Jan Fleischhauer
LON DON Christoph Scheuermann, P. O. Box 64199, London WC1A
www.amazon.de/spiegel versandkostenfrei
W I R T S C H A F T Leitung: Armin Mahler, Michael Sauga (Berlin), 9FP, Fax (004420) 34902948 innerhalb Deutschlands nachbestellt werden.
Thomas Tuma, Marcel Rosenbach (stellv., Medien und Internet).
Redaktion: Susanne Amann, Markus Brauck, Isabell Hülsen, Alexan- MADRID Apartado Postal Número 100 64, 28080 Madrid, Tel. (0034) Historische Ausgaben
der Jung, Nils Klawitter, Alexander Kühn, Martin U. Müller, Ann- 650652889 Historische Magazine Bonn
Kathrin Nezik, Jörg Schmitt, Janko Tietz. Autoren, Reporter: Markus MOSKAU Matthias Schepp, Ul. Bol. Dmitrowka 7/5, Haus 2, 125009 www.spiegel-antiquariat.de
Grill, Dietmar Hawranek, Michaela Schießl Moskau, Tel. (007495) 96020-95, Fax 96020-97 Telefon: (0228) 9296984
AUS L A N D Leitung: Clemens Höges, Britta Sandberg, Juliane von Mit-
telstaedt (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Manfred Ertel, Jan Puhl, NEU-DELHI Dr. Wieland Wagner, 210 Jor Bagh, 2F, Neu-Delhi 110003, Kundenservice
Sandra Schulz, Daniel Steinvorth, Thilo Thielke, Helene Zuber. Auto- Tel. (009111) 41524103 Persönlich erreichbar Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr,
ren, Reporter: Ralf Hoppe, Hans Hoyng, Susanne Koelbl, Walter Mayr, NEW YORK 10 E 40th Street, Suite 3400, New York, NY 10016, Tel. Sa. 10.00 – 16.00 Uhr
Dr. Christian Neef, Christoph Reuter (001212) 2217583, Fax 3026258 SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg
Diplomatischer Korrespondent: Dr. Erich Follath PA R I S Mathieu von Rohr, 12, Rue de Castiglione, 75001 Paris, Tel. Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-3070
WISSENSCHAF T UND TECHNIK Leitung: Rafaela von Bredow, Olaf (00331) 58625120, Fax 42960822 E-Mail: aboservice@spiegel.de
Stampf. Redaktion: Dr. Philip Bethge, Jörg Blech, Manfred Dworschak,
PEKING Bernhard Zand, P. O. Box 170, Peking 100101, Tel. (008610)
Marco Evers, Dr. Veronika Hackenbroch, Laura Höflinger, Julia Koch,
65323541, Fax 65325453
Abonnement für Blinde
Kerstin Kullmann, Hilmar Schmundt, Matthias Schulz, Samiha Shafy, Audio Version, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V.
Frank Thadeusz, Christian Wüst R I O D E JA N E I R O Jens Glüsing, Caixa Postal 56071, AC Urca, Telefon: (06421) 606265
KU LT U R Leitung: Lothar Gorris, Dr. Joachim Kronsbein (stellv.). 22290-970 Rio de Janeiro-RJ, Tel. (005521) 2275-1204, Fax 2543-9011
Elektronische Version, Frankfurter Stiftung für Blinde
Redaktion: Lars-Olav Beier, Susanne Beyer, Dr. Volker Hage, Ulrike ROM Fiona Ehlers, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) 6797522,
Knöfel, Philipp Oehmke, Tobias Rapp, Katharina Stegelmann, Claudia
Telefon: (069) 955124-0
Fax 6797768
Voigt, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Georg Diez, Wolfgang Höbel, Abonnementspreise
Thomas Hüetlin, Dr. Romain Leick, Matthias Matussek, Elke Schmitter, SAN FRANCISCO Thomas Schulz, P. O. Box 330119, San Francisco, CA
Dr. Susanne Weingarten 94133, Tel. (001212) 2217583 Inland: zwölf Monate € 208,00
Studenten Inland: 52 Ausgaben € 153,40 inkl.
KulturSPIEGEL: Marianne Wellershoff (verantwortlich). Tobias TEL AVIV Julia Amalia Heyer, P. O. Box 8387, Tel Aviv-Jaffa 61083,
Becker, Anke Dürr, Maren Keller, Daniel Sander Tel. (009723) 6810998, Fax 6810999
sechsmal UniSPIEGEL
GESELLSCHAF T Leitung: Matthias Geyer, Dr. Stefan Willeke, Barbara
Österreich: zwölf Monate € 234,00
WA RS C H AU P. O. Box 31, ul. Waszyngtona 26, PL- 03-912 Warschau, Schweiz: zwölf Monate sfr 361,40
Supp (stellv.). Redaktion: Hauke Goos, Barbara Hardinghaus, Wiebke Tel. (004822) 6179295, Fax 6179365
Hollersen, Ansbert Kneip, Dialika Neufeld, Bettina Stiekel, Jonathan Europa: zwölf Monate € 262,60
Stock, Takis Würger. Reporter: Uwe Buse, Ullrich Fichtner, Jochen- WAS H I N GTON Marc Hujer, Dr. Gregor Peter Schmitz, 1202 National Außerhalb Europas: zwölf Monate € 340,60
Martin Gutsch, Guido Mingels, Alexander Osang, Cordt Schnibben Press Building, Washington, D. C. 20045, Tel. (001202) 3475222, Fax
3473194
Der digitale SPIEGEL: zwölf Monate € 197,60
S P O RT Leitung: Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger. Redaktion: Lukas Befristete Abonnements werden anteilig berechnet.
Eberle, Maik Großekathöfer, Detlef Hacke, Jörg Kramer DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Cordelia Freiwald (stellv.), Axel
S O N D E RT H E M E N Leitung: Dietmar Pieper, Annette Großbongardt Pult (stellv.), Peter Wahle (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Susmita
Arp, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Booms, Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Abonnementsbestellung
(stellv.), Norbert F. Pötzl (stellv.). Redaktion: Annette Bruhns, Angela
Gatterburg, Uwe Klußmann, Joachim Mohr, Bettina Musall, Dr. Dr. Heiko Buschke, Andrea Curtaz-Wilkens, Johannes Eltzschig, Jo- bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an
Johannes Saltzwedel, Dr. Eva-Maria Schnurr, Dr. Rainer Traub hannes Erasmus, Klaus Falkenberg, Catrin Fandja, Anne-Sophie Fröh- SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service,
lich, Dr. André Geicke, Silke Geister, Thorsten Hapke, Susanne Heitker,
M U LT I M E D I A Jens Radü; Roman Höfner, Marco Kasang, Bernhard Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Joachim Im- 20637 Hamburg – oder per Fax: (040) 3007-3070,
Riedmann misch, Kurt Jansson, Michael Jürgens, Tobias Kaiser, Renate Kemper- www.spiegel.de/abo
C H E F V O M D I E N ST Thomas Schäfer, Katharina Lüken (stellv.), Gussek, Jessica Kensicki, Ulrich Klötzer, Ines Köster, Anna Kovac, Pe-
Holger Wolters (stellv.) ter Lakemeier, Dr. Walter Lehmann-Wiesner, Michael Lindner, Dr. Ich bestelle den SPIEGEL
S C H LU S S R E DA KT I O N Anke Jensen; Christian Albrecht, Gesine Block, Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Markwaldt- ❏ für € 4,00 pro Ausgabe
Buchhorn, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann,
Regine Brandt, Lutz Diedrichs, Bianca Hunekuhl, Sylke Kruse, Maika
Tobias Mulot, Bernd Musa, Nicola Naber, Margret Nitsche, Malte ❏ für € 3,80 pro digitale Ausgabe
Kunze, Stefan Moos, Reimer Nagel, Manfred Petersen, Fred Schlotter-
beck, Sebastian Schulin, Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels Nohrn, Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Dr. Vassilios Papadopoulos, ❏ für € 0,50 pro digitale Ausgabe zusätzlich zur
Axel Rentsch, Thomas Riedel, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Normallieferung. Eilbotenzustellung auf Anfrage.
P RO D U KT I O N Solveig Binroth, Christiane Stauder, Petra Thormann; Marko Scharlow, Rolf G. Schierhorn, Mirjam Schlossarek, Dr. Regina
Christel Basilon, Petra Gronau, Martina Treumann Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann- Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Hefte
B I L D R E DA KT I O N Michaela Herold (Ltg.), Claudia Jeczawitz, Claus- Eckert, Ulla Siegenthaler, Jil Sörensen, Rainer Staudhammer, Tuisko bekomme ich zurück. Bitte liefern Sie den SPIEGEL an:
Dieter Schmidt; Sabine Döttling, Susanne Döttling, Torsten Feldstein, Steinhoff, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Eckart
Thorsten Gerke, Andrea Huss, Antje Klein, Elisabeth Kolb, Matthias Teichert, Nina Ulrich, Ursula Wamser, Peter Wetter, Kirsten Wiedner,
Krug, Parvin Nazemi, Peer Peters, Karin Weinberg, Anke Wellnitz Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller
E-Mail: bildred@spiegel.de Name, Vorname des neuen Abonnenten
LESER-SERVICE Catherine Stockinger
SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Tel. (001212) 3075948
N AC H R I C H T E N D I E N ST E AFP, AP, dpa, Los Angeles Times / Washing-
GRAFIK Martin Brinker, Johannes Unselt (stellv.); Cornelia Baumer-
ton Post, New York Times, Reuters, sid Straße, Hausnummer oder Postfach
mann, Ludger Bollen, Thomas Hammer, Anna-Lena Kornfeld, Gernot
Matzke, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Michael Walter SPIEGEL-VERL AG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG
L AYO U T Wolfgang Busching, Jens Kuppi, Reinhilde Wurst (stellv.); Verantwortlich für Anzeigen: Norbert Facklam
Michael Abke, Katrin Bollmann, Fabian Eschkötter, Claudia Franke, PLZ, Ort
Bettina Fuhrmann, Ralf Geilhufe, Kristian Heuer, Nils Küppers, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 67 vom 1. Januar 2013
Sebastian Raulf, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm Mediaunterlagen und Tarife: Tel. (040) 3007-2540, www.spiegel-qc.de Ich zahle
Besondere Aufgaben: Michael Rabanus Commerzbank AG Hamburg, Konto-Nr. 6181986, BLZ 200 400 00 ❏ bequem und bargeldlos per Bankeinzug (1/4-jährl.)
Sonderhefte: Rainer Sennewald
Verantwortlich für Vertrieb: Thomas Hass
TITELBILD Suze Barrett, Arne Vogt; Iris Kuhlmann, Gershom Schwal-
fenberg Druck: Prinovis, Dresden / Prinovis, Itzehoe Bankleitzahl Konto-Nr.
Besondere Aufgaben: Stefan Kiefer DER SPIEGEL wird auf Papier aus
REDA KT IONSVERT RE TUNGEN DEUTSCHL AND verantwortungsvollen Quellen gedruckt. Geldinstitut
B E R L I N Pariser Platz 4a, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft
Tel. (030) 886688-100, Fax 886688-111; Deutschland, Wissenschaft,
VERL AGSLEITUNG Matthias Schmolz, Rolf-Dieter Schulz ❏ nach Erhalt der Jahresrechnung. Eine Belehrung
Kultur, Gesellschaft Tel. (030) 886688-200, Fax 886688-222 G E S C H Ä F TS F Ü H RUN G Ove Saffe über Ihr Widerrufsrecht erhalten Sie unter:
www.spiegel.de/widerrufsrecht
INTERNE T www.spiegel.de DER SPIEGEL (USPS No. 0154520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Subscription
REDAKTIONSBLOG spiegel.de/spiegelblog price for USA is $ 350 per annum. K.O.P.: German Language Pub., 153 S Dean St, Englewood, Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten SP13-001
TWIT TER @derspiegel NJ 07631. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and additional mailing offices. SD13-006
FACEBOOK facebook.com/derspiegel Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, GLP, P.O. Box 9868, Englewood, NJ 07631. SD13-008 (Upgrade)
132 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Register
GESTORBEN stand. Sein aggressives Geschäftsgebaren
brachte ihm wiederholt Ärger mit der Jus-
SONNTAG, 7. 7., 21.50 – 22.35 UHR | RTL Hans Hass, 94. Er sollte Anwalt werden tiz ein. 1983 klagten ihn die US-Behörden
SPIEGEL TV MAGAZIN wie sein Vater, doch als Student beobach- wegen Steuerhinterziehung und illegaler
tete der in Wien geborene Hass Ende der Iran-Geschäfte an. Rich drohten 325 Jahre
Wohin mit Oma? – Pflegeheime in dreißiger Jahre Taucher an der Mittel- Haft. Er galt als Staatsfeind Nummer eins.
Osteuropa als bezahlbare Alternative; meerküste: Für die Im Jahre 1985 wollten ihn US-Fahnder,
Zu Gast bei Fremdenfeinden – Böller auf Juristerei war er von trotz einer Steuerrückzahlung von mehr
Güstrower Asylbewerberunterkunft; da an verloren. Es als 150 Millionen Dollar, sogar aus seinem
Kostbare Karpfen – Schwimmende folgte ein Forscher- Schweizer Unterschlupf entführen, um
Geldanlage in deutschen Teichen leben ohne Beispiel – ihn vor Gericht zu bringen. Die Aktion
meist unter Wasser: scheiterte. Erst 2001 begnadigte ihn der
Vieles, was er für sei- damalige US-Präsident Bill Clinton an sei-
SONNTAG, 7. 7., 17.35 – 18.30 UHR | SKY ne Expeditionen in nem letzten Tag im Amt. Marc Rich starb
SPIEGEL GESCHICHTE die Tiefen der Ozeane am 26. Juni in Luzern.
KEYSTONE
brauchte, erfand der
Apokalypse in Le Mans Österreicher selbst, Henning Larsen, 87. Der dänische Archi-
Das Unglück von Le Mans ist ein etwa ein Schwimm- tekt und seine über hundert Mitarbeiter
Datum der Geschichte, das weit über tauchgerät, mit dem er sich autonom in sind vor allem für Kulturbauten bekannt:
die Welt des Rennsports hinausgeht. bis zu 20 Meter Tiefe bewegen konnte, für das Konzerthaus in Reykjavík etwa
Beim Unfall eines Mercedes-Silber- spezielle Gehäuse für Unterwasserkame- oder das Opernhaus in Kopenhagen. Ty-
pfeils am 11. Juni 1955 starben mehr ras mit und ohne Blitz oder die „Hans- pisches in seinem Werk lässt sich auch an
als 80 Menschen. Der Film schildert Hass-Flosse“. Seine Assistentin und spä- einem Bürobau erklären – dem Haus der
das Ereignis vor dem Hintergrund der tere Ehefrau Lotte Baierl machte er zum SPIEGEL-Gruppe an der Ericusspitze in
wirtschaftlichen und politischen Bezie- Unterwasser-Fotomodell. Hass publizierte Hamburg. 2007 hatte das Büro Larsen
hungen der europäischen Staaten in mehr als 30 Bücher („Welt unter Wasser“), den Wettbewerb gewonnen, vor zwei Jah-
den fünfziger Jahren. er drehte über 70 Filme („Unternehmen ren wurde das Gebäu-
Xarifa“). Zeitlebens setzte er sich für den de fertiggestellt. Es
FREITAG, 5. 7., 20.15 – 21.00 UHR | PAY TV Schutz der Haie ein. Sowohl eine Kegel- nimmt die Form des
BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN schnecke als auch ein Röhrenaal wurden Grundstücks auf: die
SPIEGEL TV WISSEN nach ihm benannt. Über viele Jahre war nordöstliche Spitze
der Meeresforscher ein gefragter Unter- der HafenCity. Trotz
Probewohnen im Haus von morgen nehmensberater. Hans Hass starb am 16. AGNETE SCHLICHTKRULL
einer Geschossfläche
Das Ehepaar Simone Wiechers und Juni in Wien. von 30 000 Quadrat-
Jörg Welke lebt mit seinen zwei Kin- metern und einer Ge-
dern schon heute in der Welt von Marc Rich, 78. Das FBI führte ihn auf sei- bäudehöhe von 61
morgen. Seit Frühjahr 2012 wohnt die ner „Most-wanted-Liste“ jahrelang ganz Metern folgt der Ent-
Testfamilie im zukunftsweisenden oben, genau wie das US-Wirtschaftsmaga- wurf dem Prinzip
Effizienzhaus Plus. In Berlin, ganz in zin „Forbes“ in seinem Ranking der welt- Leichtigkeit. Die Fassade ist gläsern, im
weit reichsten Menschen. Der langjährige Inneren herrschen viel Weiß und helles
Herrscher über Glencore, den wohl mäch- Holz. Larsen studierte Architektur in Lon-
tigsten Rohstoffkonzern der Welt, galt als don und Kopenhagen und arbeitete ab
Pionier der Globalisierung. Als ein Ma- 1951 bei seinem Landsmann Arne Jacob-
cher, der den internationalen Handel re- sen. 1959 gründete er sein eigenes Archi-
volutionierte, und zugleich als Sinnbild tekturbüro. Derzeit baut „Henning Lar-
des skrupellosen Geschäftsmanns, der be- sen Architects“ die Konzernzentrale von
stach, Wirtschaftsembargos brach und Ge- Siemens in München. Henning Larsen
schäfte mit Diktatoren machte. „Richs Er- starb am 22. Juni in Kopenhagen.
folgsgeheimnis war seine Verschwiegen-
heit“, resümierte sein Henning Ritter, 69. Lektor, Übersetzer
Biograf Daniel Am- und Feuilletonist wurde er nur, weil man
SPIEGEL TV
man uns gesagt hat, eine sehr gute wie das gehen soll. Wenn er
Anlage“, erklärte er, „sie erfüllt nur nichts zu tun habe, werde er
ihren Zweck nicht so ganz.“ nämlich ganz „kribbelig“.
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 137
Hohlspiegel Rückspiegel