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Hausmitteilung

1. Juli 2013 Betr.: Türkei, Bangladesch, Windkraft

B oyun Egme – Beugt euch nicht“, lautete die Zeile des zweisprachig erschienenen
SPIEGEL-Titels der vergangenen Woche. Er hat in Leserbriefen, Mails, Tweets
und in türkischen Medien heftige Reaktionen ausgelöst – sie reichten von Abscheu
bis zu Begeisterung. Glückwünsche zum gelungenen Integrationsprojekt waren eben-
so zu lesen wie der Vorwurf, die Zweisprachigkeit fördere das Bestehen einer türki-
schen Parallelwelt in Deutschland. In der Türkei registrierte SPIEGEL-Redakteur
Maximilian Popp, der die Reaktionen gemeinsam mit
seiner Kollegin Özlem Gezer auswertete, viel Empörung
bei Erdogan-Anhängern – und ein Aufblühen von Ver-
schwörungstheorien. Schon am vorvergangenen Samstag,
als nur das Titelbild, nicht aber der Text verbreitet war,
kursierten krude Thesen: Der SPIEGEL habe den Auftrag
der Bundesregierung, die Türkei zu spalten, zu schwächen
und von der EU fernzuhalten. Außerdem wolle er ver-
hindern, dass die Türkei den Konflikt mit den Kurden
löse. Das tatsächliche Motiv des SPIEGEL wurde anderer-
seits von vielen verstanden: ein Zeichen zu setzen, dass
die Ereignisse in Istanbul alle Menschen etwas angehen,
in Deutschland, in der Türkei, in Europa (Seite 6). SPIEGEL-Titel 26/2013

A m Sitz der Vereinigung der Textilfabrikanten und -exporteure, der wohl mäch-
tigsten Institution des Landes, empfing Vizepräsident Shahidullah Azim die
SPIEGEL-Redakteure Hauke Goos und Ralf Hoppe, um ihnen seine Sicht auf die
Textilproduktion in Bangladesch zu erklären. Azim, selbst Besitzer zweier Textil-
fabriken, beharrte darauf, dass die Tragödie
von Rana Plaza nur ein Einzelfall gewesen
sei – jener Einsturz eines Fabrikgebäudes
im April dieses Jahres, bei dem mehr als
tausend Menschen in den Trümmern star-
INDRANIL KISHOR/DRIK / AGENTUR FOCUS?

ben. Goos und Hoppe trafen außerdem


Opfer und Überlebende der Katastrophe,
sie sprachen mit Ermittlern, hatten Zugang
zu internen Berichten. Ein Einzelfall, fanden
sie heraus, war Rana Plaza mitnichten. „Es
ist eher Teil des Systems Bangladesch, als
Teil der globalen Produktionskette“, sagt
Hoppe in Dhaka Goos (Seite 48).

V or 18 Jahren durfte SPIEGEL-Redakteur Matthias Schulz die Versuchswind-


anlage „Aeolus II“ besteigen – bis auf 93 Meter Höhe, damals die größte
Anlage der Welt. Heute sind die Anlagen fast 200 Meter hoch, und sie wachsen
weiter. Rund 60 000 neue Windräder sollen in Deutschland gebaut werden, die
Kosten explodieren, die Bürger laufen Sturm. Schulz sprach mit Bauern und auf-
gebrachten Hausfrauen und traf auf „enorme Spannungen“ im Land. Einen neuen
Boom-Beruf entdeckten seine Kollegen Michael Fröhlingsdorf und Simone Kaiser:
den des Vogelzählers. Ornithologen sind sehr gefragt, seit die Protestierer den
Charme von Auerhühnern und Rotmilanen entdeckt haben. Geschützte Vögel
können den Bau von Rotoren verhindern, falls man sie am richtigen Ort finden
kann. Die beiden sprachen mit professionellen Vogelexperten und mit Amateuren,
die sich Bestimmungsbücher kaufen und Ornithologie-Kurse belegen, um den
Milan nicht zu verpassen – wenn er denn wirklich kreist (Seiten 100, 104).

Im Internet: www.spiegel.de D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 3
In diesem Heft
Titel
Der Computer-Nerd Edward Snowden narrt
die Supermacht USA ...................................... 72
Wie der US-Geheimdienst NSA deutsche
und europäische Institutionen abhört ............ 76
Der NSA-Aussteiger William Binney
über das Schleppnetz der Datensammler
und Snowdens Flucht ..................................... 78
Deutschland
Panorama: FDP ist empört über Abweichler
in der Union bei der Homo-Ehe / Rechnungshof
warnt Verteidigungsministerium vor
Hubschrauber-Deal / Länder machen mobil
gegen Philipp Röslers Glücksspielgesetz ........ 13
Bundesregierung: Wie Ministerin Schröder die
Bilanz ihrer Familienpolitik schönredet ......... 18
Männer: SPIEGEL-Gespräch mit SPD-
Generalsekretärin Andrea Nahles über Väter,
Politiker und Machos ..................................... 22
SPD: Bei den Sozialdemokraten wächst der
Widerstand gegen eine Große Koalition ........ 25
Debatte: Jürgen Trittin hält bewusstes Nicht-
wählen für undemokratische Arroganz .......... 26
Spionage: Erneut sind zwei russische Agenten
in Deutschland aufgeflogen ............................ 28
EU: Die Partner klagen über Merkels
Geschönte Bilanz Seite 18
WOLFGANG KUMM / DPA

Anti-Europa-Kurs ........................................... 31 Kritische Studien zur Familienpolitik – das passt der Regierung im Wahl-
Afghanistan: Millionenverschwendung beim kampf nicht. Ministerin Kristina Schröder setzt die Wissenschaftler unter
Abzug der Bundeswehr .................................. 32 Druck und verfälscht Resultate. Doch die Betroffenen wehren sich.
Hessen: Ministerpräsident Volker Bouffier
übt sich als Wahlkämpfer ............................... 34
Senioren: Eine Altenpflegerin erklärt, warum
sie eine Heimbewohnerin drangsalierte ......... 36
Kriminalität: Wie die Ermittler den Mann
erwischten, der 762-mal auf Lastwagen
geschossen haben soll .................................... 39
„Das große Spiel der Geschlechter“ Seite 22
Justiz: Warum Gustl Mollath Was ist ein moderner Mann? Im SPIEGEL-Gespräch plädiert SPD-General-
in die Psychiatrie eingewiesen wurde ............ 40 sekretärin Nahles dafür, dass sich Väter mehr Zeit für die Familie nehmen,
und erklärt, warum Frauen trotzdem Machos wie Gerhard Schröder mögen.
Gesellschaft
Szene: Behinderung verbindet Mensch
und Tier / Wie verhält man sich als deutscher
Whistleblower? .............................................. 45
Eine Meldung und ihre Geschichte –
ein Rentner fuhr mit dem Traktor von
Norddeutschland nach Mallorca ..................... 46
Euro-Retter in der Sackgasse Seite 58
Billigwaren: Der Einsturz einer Die Krisenländer in Südeuropa stöhnen unter den harten Sparmaßnahmen,
Textilfabrik in Bangladesch – die Geschichte doch ein Erfolg der Reformen lässt auf sich warten. Der Ruf nach einem
einer absehbaren Katastrophe ........................ 48 Strategiewechsel wird lauter – und nach mehr Geld von den Geberländern.
Homestory: Warum eine 16-Jährige in
der Schule keine Antworten auf die Fragen
unserer Zeit bekommt .................................... 55
Wirtschaft
Trends: OECD will Steueroasen trockenlegen /
Teure Niederlage für Gazprom /
Telekom-Branche beschwert sich bei Rösler ... 56
W-Lan ohne
Währungsunion: Südeuropa kommt nicht
aus der Krise .................................................. 58 Grenzen Seite 128
Globalisierung: Droht in China ein zweiter
Fall Lehman? .................................................. 64
In vielen Ländern kann man
Rohstoffe: Die Staatsbank KfW investiert in an jeder Straßenecke frei im
umstrittene Kohleprojekte in Serbien ............ 66 Internet surfen – in Deutsch-
Sozialstaat: Niedrige Zinsen zehren an den land nicht: Offene W-Lan-
Reserven der Rentenkasse ............................. 68 Netze sind hierzulande Man-
Genussmittel: Verbraucherschützer warnen gelware. Das liegt an der
vor hochkonzentrierten „Energy-Shots“ ........ 69 unsicheren Rechtslage: Der
Ausland Betreiber haftet für alles,
ALLOVER IMAGES / BAB.CH

Panorama: Burger-Krieg im Westjordanland /


was andere in seinem Funk-
Geheimdienstaffäre holt Luxemburgs Premier netz treiben. Doch jetzt wird
Juncker ein ..................................................... 70 die Abschaffung dieser soge-
Minderheiten: Wie sich die Homo-Ehe nannten Störerhaftung zum
im Westen durchsetzt ..................................... 83 Wahlkampfthema.
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Ägypten: Präsident Mursis düstere Bilanz ...... 84
Syrien: Deutsche Helfer im
Norden entführt .............................................. 86
Russland: Putins Attacke
gegen die Opposition ..................................... 88
Global Village: Hoffnung für
Indiens Henker ............................................... 92
Sport
Szene: Trainer Ewald Lienen über
die künftige Kommunikation bei Bayern
München / Ein nostalgischer Kinofilm
über Eishockey wird in Russland
zum Kassenschlager ....................................... 93
Fans: Anhänger von Beşiktaş Istanbul
führen die Proteste
gegen Premier Erdogan an ............................. 94
Formel 1: Wie moderne Hybridmotoren
die Rennserie verändern ................................ 96
Wissenschaft · Technik
Großbildschirm in Hongkong Prisma: Entspannte Fruchtfliegen leben
länger / Doppelmoral promisker Frauen ........ 98
Energie: Der Aufstand gegen den

Blamage für Obamas Schnüffler Seiten 72, 76, 78


Ausbau der Windkraft .................................. 100
Rotmilane und Fledermäuse – die Waffen
der Windkraftgegner .................................... 104

KIN CHEUNG / AP / DPA


Von Hongkong bis Berlin gilt Edward Snowden als Held, der den Über-
Geschichte: Wie ein Wiener Ingenieur
wachungsstaat USA bloßgestellt hat. Aus seinen Unterlagen geht auch im KZ Buchenwald den ersten
hervor, wie sehr Deutschland ins Visier des Geheimdienstes NSA geraten ist. Taschenrechner der Welt erfand ................... 106
Medizin: Warum die
Kinderkrankheit Masern immer häufiger
bei Erwachsenen ausbricht ............................ 107
Kultur
Putins Rache Seite 88 Szene: Ein TV-Film über Oberst Klein
und seine fatale Entscheidung in Kunduz /
Knast oder Kapitulation – vor diese Alternative stellt der Kreml die jungen
Die japanische Mädchenband Perfume
Wilden unter Russlands Oppositionellen. In einem Prozess drohen Moskaus kommt nach Deutschland ............................. 110
einflussreichstem Blogger Alexej Nawalny bis zu zehn Jahre Straflager. Städtebau: Der Dortmunder
Eckhard Gerber entwirft Großbauten
für Saudi-Arabien –
macht er sich damit zum Handlanger eines
absolutistischen Regimes? ............................. 112

Naturschützer gegen Windmühlen Seiten 100, 104


Filmindustrie: Der Schwabe Carl Laemmle
ist fast vergessen –
dabei hat er Hollywood erfunden ................. 117
Bis zu 60 00o neue Windkraftanlagen sollen in Deutschland errichtet
Bestseller ..................................................... 118
werden – in Wäldern, auf Wiesen und Berggipfeln. Naturschützer kämpfen
Autoren: Der Schauspieler Hannes Jaenicke
gegen die Verspargelung der Landschaft und die Bedrohung der Tierwelt. will mit Bestsellern die Welt retten ............... 120
Philosophie: SPIEGEL-Gespräch mit
Markus Gabriel über die Grenzen
der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und
die Frage nach dem Sinn .............................. 122
Literaturkritik: Eugen Ruges hinreißende
Bauen für den Novelle „Cabo de Gata“ ............................... 126
Medien
König Seite 112 Trends: NSA-Enthüllungen stärken
Google-Konkurrenz / ZDF castet Nachfolger
Der Dortmunder Architekt für die Sendung „Neues aus der Anstalt“ ..... 127
Eckhard Gerber hat für das Internet: Offene W-Lan-Netze sind in
Königreich Saudi-Arabien Deutschland Mangelware ............................. 128
die Nationalbibliothek gebaut, Unterhaltung: Videospieler präsentieren
er entwirft auch Bildungs- sich im Livestream ........................................ 131
zentren und eine U-Bahn-
Station. Er hofft, damit den Briefe ............................................................... 6
gesellschaftlichen Wandel Impressum, Leserservice .............................. 132
beschleunigen zu können. Register ........................................................ 134
CHRISTIAN RICHTERS

Aber sollten deutsche Bau- Personalien ................................................... 136


meister wie Gerber Repräsen- Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 138
Nationalbibliothek in Riad Titelbild: Fotos REUTERS / Glenn Greenwald / Laura Poitras /
tationsbauten für absolutisti- Courtesy of The Guardian / Handout via Reuters; Henning Schacht;
sche Herrscher entwerfen? APP PHOTO / Karen Bleier

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 5
Briefe

Was für eine Solidaritätsbekundung soll


das denn werden? Journalismus soll in-
„Ich habe heute wie jeden Montag formieren – und dann bilde ich mir selbst
meine Meinung! Und ich halte die Türkei
den SPIEGEL gekauft. Auf dem für immer weniger europakompatibel.
ULRIKE VON SPARR, KARLSRUHE
Heimweg treffe ich meinen Nachbarn,
er ist Türke, und er hat den SPIEGEL Wenn der SPIEGEL nüchtern Politik bi-
lanziert und Demokratie erklärt und dazu
in der Hand. Glückwunsch für Artikel in einer anderen Sprache inte-
griert, ist es genau das – gelebte Integra-
Ihre Integrationsbemühungen.“ tion. Danke für dieses starke Statement.
BESIM KARADENIZ, PFORZHEIM

SPIEGEL-Titel 26/2013 ANTON H. KRAH AUS BRÜSSEL Hier übertrifft der SPIEGEL die ganze
deutsche Presselandschaft. Ich bin begeis-
tert, auch wenn ich befürchte, dass Sie den
Nr. 26/2013, Beugt euch nicht – schwarze Türkei sein, sondern nur der Journalismus im engeren Sinne verlassen
Türkei: Der Aufstand gegen Erdogan – Versuch eines pluralistischen Miteinander. und gar selbst Politik machen wollen. Mit
10 Sonderseiten auf Türkisch DR. LUTZ ZWIOREK, LAHNTAL den besten völkerverbindenden Absichten.
Es kann uns nicht egal sein, was in der Tür-
Ein Stück Deutschland Wenn ich eine türkische Ausgabe möchte,
dann werde ich mir eine türkische Aus-
kei passiert, auch weil ein Stück Türkei
durch die 3 Millionen hier lebenden Men-
Was ist nur in Sie gefahren? Ich habe den gabe kaufen. Das betrifft alle Sprachen. schen mit türkischem Migrationshinter-
SPIEGEL abonniert, um mich in meiner Falls der SPIEGEL jetzt mehrsprachig er- grund ein Stück Deutschland ist.
Muttersprache zu informieren. Sollte ich scheint, werde ich mein Abo kündigen. AXEL GERHOLD, KÖLN
Türkisch lernen wollen, wende ich mich HORST-MICHEL RUDNIK, HERNE (NRW)
an die Firma Langenscheidt. Sie hätten Zehn Seiten auf Türkisch? Meine Frau ist
auch in französischer oder englischer Soll der SPIEGEL in Zukunft multilingual Migrantin der zweiten Generation, rechtes
Sprache drucken lassen können, meine herausgegeben werden? Demnächst Rus- Gedankengut weise ich ebenso von mir
Reaktion wäre dieselbe. sisch für die Demokratiebewegung, Por- wie Vorurteile. Aber es würde allen Be-
STEPHAN HAMACHER, DÜSSELDORF tugiesisch für die Brasilianer, Arabisch teiligten mehr helfen, die Betroffenen zur
für den dortigen Frühling, Chinesisch für Integration zu bewegen, anstatt die eh
Glückwunsch zu dieser großartigen Idee. die Menschenrechte, Koreanisch für die schon vorhandene Parallelisierung der Ge-
Ich habe immer wieder mal in die rechte darbende nordkoreanische Bevölkerung sellschaft weiter zu fördern. Es gibt hier
Spalte geschaut, um einige türkische und wer weiß in welcher Sprache noch? Türken, die fast kein Wort Deutsch spre-
Worte aufzuschnappen. Erdogan wird die Solche unsinnigen Gesten gehören nicht chen. Es geht hier nicht um Solidarität,
Geister, die er rief, nun nicht mehr los. in ein deutsches Wochenmagazin. sondern um die Identitätsfrage an sich.
Die Lösung kann keine weiße oder MANFRED BURGHARDT, GILCHING (BAYERN) DR. UWE-C. SCHILLING, BERLIN

Reaktionen in der türkischen Presse


Serdar Turgut, Kolumnist der regierungs- Das liberale Nachrichtenportal Avrupa Die Boulevard-Zeitung „Star“ titelt
nahen Tageszeitung „Haberturk“: Postasi: „Der SPIEGEL mag keine Muslime“:

„Dass ebendieses Magazin eine Frau „Die parteiischen Medien und die AKP- „Der SPIEGEL, der den Demonstranten
zeigt, cool und modern, mit einem Plakat Unterstützer erregten sich über den vom Gezi-Park das Signal gibt ,macht
in der Hand, auf dem ,Beugt euch nicht‘ SPIEGEL und kritisierten ihn, bevor weiter‘ …, hat in der Vergangenheit mit
steht, hat mich als Türken sehr stolz ge- Details des Titels überhaupt bekannt seinen Titelthemen der Türkei und der
macht … Ich möchte in einem Land leben, waren. Das zeigt nur, dass es sie wahn- islamischen Welt immer wieder gezeigt,
in dem unsere Mädchen, wenn es sein sinnig geärgert haben muss.“ wo er steht. Auch mit dem aktuellen Titel
muss, auf die Straße gehen können mit hat er den in Deutschland lebenden Tür-
einem ,Beugt euch nicht‘-Plakat … Wir Der Journalist Reha Muhtar in einem ken und Muslimen wieder seine islamo-
sind dem SPIEGEL zu Dank verpflichtet. Interview mit dem regierungsnahen phobe Sichtweise präsentiert.“
Mit der jungen Frau, die das ,Beugt euch Fernsehsender Haberturk:
nicht‘-Plakat trägt, hat er der Welt auch Das konservative Nachrichtenportal
das andere Gesicht der Türkei gezeigt.“„Der SPIEGEL agiert gemeinsam mit Rota Haber:
einem kriminellen politischen Netzwerk
Die regierungsnahe Zeitung „Sabah“: und will verhindern, dass die Türkei das „Bei den Berichten über die Proteste im
Kurden-Problem löst. Über den SPIE- Gezi-Park hatten die deutschen Medien
„Dem SPIEGEL waren die acht türki- GEL wollen die deutsche Bundeskanz- zunächst die Vorreiterrolle als Pro-
schen Opfer des NSU, die Brandanschlä- lerin und die Europäische Union uns sa- vokateur an den US-Sender CNN ver-
ge von Solingen und Mölln keine türki- gen, dass wir nie EU-Mitglied werden. loren. Nun versucht der SPIEGEL, die
sche Schlagzeile wert. Wohl aber die Sie wollen uns zeigen, dass sie uns aus- Lücke zu schließen, indem er erstmalig
Vorfälle im Gezi-Park.“ grenzen und isolieren können.“ mit einem türkischen Titel erscheint.“

6 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Briefe

Ich bin kein Erdoganist, aber habe einen Nr. 25/2013, Deutsche Kleinstaaterei
gewissen Respekt gegenüber dem Amt, verhindert effektiven Hochwasserschutz
in das er von 50 Prozent der Wähler ge-
wählt wurde. So zu tun, als ob es nur in
der Türkei so was gäbe und dass die
Zum Halali gegen die Biber
Mehrheit dort gegen Erdogan ist, finde Die Schutzmaßnahmen für die Flussland-
ich respekt- und verantwortungslos. schaften müssen bereits in den Gebieten
IBRAHIM TIRYAKI, MESCHEDE (NRW) der Zuflüsse beginnen, kurz nach deren
Quellen. Dort müssen Sperren an den
Sie heben hervor, dass die Ereignisse am Bachläufen vorgesehen werden, damit bei
Gezi-Park uns alle, das heißt „Deutsche, Bedarf die Wiesen geflutet werden kön-
Türken und Europäer“, angehen. Die Dar- nen. Ein Großteil der geteerten Feldwege
stellung legt den Fokus jedoch ausschließ- muss renaturiert werden, Uferbefestigun-
lich auf die AKP-Regierung. Die Versäum- gen und -begradigungen müssten zurück-
nisse und die Hinhaltetaktik der EU ge- genommen werden, um die Fließge-
genüber der Türkei als Beitrittskandidaten schwindigkeit zu reduzieren.
werden dabei ausgeklammert. Warum? GEORG TANDLER, SIMMOZHEIM (BAD.-WÜRTT.)
DR. TEOMAN OGUZHAN, BONN
Für einen effektiven Hochwasserschutz
der Elbanrainer, der – nach fünf „Jahr-
hunderthochwassern“ in elf Jahren allein
in meinem Heimatort – immer dringen-
der wird, müssen sofort ausreichende Pol-
derflächen geschaffen werden, deren Kos-
ten durch alle betroffenen Bundesländer
finanziert werden. Ein Rückschnitt oder
gar die Abholzung der Elbtalaue stellt
keine verantwortungsvolle Schutzmaß-

OZAN KOSE / AFP


nahme dar, sie ist vielmehr ein vorsätz-
licher Angriff auf die Sicherheit der nach-
folgenden Anwohner. Unter dem Deck-
Protest am Istanbuler Taksim-Platz am 15. Juni mantel des Hochwasserschutzes sollen
hier Partikularinteressen auf Kosten aller
Sie berichten von dem „Islamistenviertel durchgesetzt werden. Dieselben Leute
Fatih“. Fatih ist der Stadtbezirk, der blasen jetzt auch zum Halali gegen die
schon Konstantinopel oder Byzanz hieß Biber, die im Biosphärenreservat Elbe
und heute 450 000 Einwohner hat. Hier zum Abschuss freigegeben wurden.
wohnen ganz unterschiedliche Volksgrup- KLAUS KARNATZ, STIEPELSE (NIEDERS.)
pen, darunter auch fromme Muslime. Sie
zählen allerdings nicht unbedingt zu den
Anhängern von Erdogans islamisch-kon-
servativer Partei (AKP). Bei Wahlen hat
die regierende AKP in Fatih oft um zwei
Prozentpunkte schlechter abgeschnitten
als in den übrigen Stadtvierteln Istanbuls.

MARIUS BECKER / DPA


INGEBORG TOTH, PARTNERSCHAFTSVEREIN
WIESBADEN-ISTANBUL/FATIH E. V.

Seit Jahren findet in der Türkei ein schlei-


chender Prozess der Islamisierung statt. Hochwasser an der Elbe
Der Personalaustausch in der Regierung
und die Verhaftung ranghoher Militärs Die Aussage, dass jeder Bürgermeister
ebneten Erdogan den Weg, das Erbe Ata- und Gemeinderat nach Gutdünken be-
türks zu zerstören. Nun hat die Türkei eine schließen kann, Baugebiete auszuweisen,
Diktatur, die auf demokratischem Wege ist nicht korrekt. Vor dem Bauplanungs-
zustande kam. Durch Wahlen. Ein Türki- recht der Gemeinden stehen immer noch
scher Frühling würde mehr Tote mit sich die Landesplanung mit Entwicklungsplä-
bringen als der Konflikt mit den Kurden. nen und die regionalen Raumordnungs-
BUELENT KALMAN, DÜSSELDORF pläne mit hohem Bindungscharakter.
DIPL.-ING. THOMAS BREIER, BAD DÜRKHEIM
Religiöser Fanatismus dient nie dem Glau-
ben, sondern Machtinteressen, und schafft Unsere Bürgerinitiative nannte sich etwas
eine Atmosphäre, in der letztlich auch sperrig „für den Wiederaufbau der Pöp-
Ehrenmorde gedeihen können. Wohlstand pelmannbrücke und einen wirksamen
allein macht noch keine Demokratie – Hochwasserschutz für Grimma“. Beides
eine nach dem Geschmack eines Erdogan nicht trennen zu können, meinten wir. Wir
gelenkte ist keine im Westen akzeptable sehen uns nicht als Betonbauer, wohl aber
Staatsform, sondern eine Demokratur. als Leute mit kritischem Sachverstand.
DR. CARL-ROLAND RABL, BIELEFELD RUDOLF PRIEMER, GRIMMA (SACHSEN)

8 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Briefe

Nr. 25/2013, Wortmächtige Populisten Nr. 27/2013, Der Schauspieler Jan Josef
kämpfen in Deutschland gegen den Euro Liefers verteidigt seinen Hilfsbesuch in
Aleppo
Zwei mal drei sind doch sechs

CHRIS CLOSE / GALLERY STOCK / LAIF


Was Stefan Willeke den Euro-Kritikern
Auf die andere Seite
vorwirft: „Stimmungsmache“, prägt sei- Täglich müssen wir ohnmächtig ansehen,
nen Artikel, durchtränkt ihn förmlich. wie das syrische Volk von einem Diktator
Wie dürftig müssen seine Argumente als sinnfrei gemordet wird. Die Politik des
Befürworter des Euro sein, wenn er es Westens wartet ab. Russland liefert Waf-
nötig hat, die Euro-Kritiker so herabzu- fen. Dass Liefers seine Popularität hier-
würdigen. Eisberge vor Grönland zulande einbringt, um uns aufzurütteln,
ALFRED NAHRMANN, BREMEN ist ehrenwert. Liefers sagt nein zu dem,
Nr. 25/2013, SPIEGEL-Gespräch mit dem was keine Gesellschaft zulassen darf. Wi-
Was aber, wenn all diese „Taschenrech- Meteorologen Hans von Storch der Gleichgültigkeit und Tatenlosigkeit.
ner“ und „Professoren“ doch recht ha- Er versucht ein kleines Zeichen zu setzen
ben und zwei mal drei immer noch sechs
ist und nicht vier, wie Pippi Langstrumpf
Versemmelte Milliarden – und das ist auch gut so. Bravo!
GUIDO RADIG, BERGKIRCHEN (BAYERN)
behauptet? In Paris, Madrid und Athen Endlich gibt einer aus der Klimazunft zu,
wird nämlich sehr wohl gerechnet und dass in der Klimawissenschaft der „In- Diese Reise wird zwar Kritik hervorrufen,
längst nicht so leidenschaftlich die hüb- stinkt“ die Erderwärmung vorgibt. In den aber eher an den westlichen Regierungen,
sche Idee vom gemeinsamen Europa als Klimamodellen führen „Annahmen, die die einfach wegschauen. Liefers hat mit
Villa Kunterbunt heraufbeschworen, wie höchst subjektiv sind“, zu den gewünsch- dieser Aktion ein Zeichen gesetzt, so dass
das Berlin gern tut. Und auch wenn der ten Ergebnissen. Mein Instinkt sagt, dass sich nun der Westen hoffentlich mehr mit
Gedanke, dass der Norden den „armen“ wegen einer geringfügigen Verbreiterung dem Krieg auseinandersetzen wird.
Süden dauerhaft unterstützen könnte der Absorptionsbande die Erderwärmung LOTTA SCHÄFER, KARLSRUHE
und sollte, sicher sozialen Charme be- bei Verdopplung des Kohlendioxidgehalts
sitzt, ist er zugleich unfair jenen Nord- vielleicht 0,5 Celsius betragen könnte. Bei allem Respekt Herr Liefers, jetzt
europäern gegenüber, die sich von Monat PROF. EM. DR. WALTER JANSEN, FLENSBURG fahren Sie noch einmal nach Syrien, und
zu Monat hangeln und die Yachten je- zwar auf die andere Seite! Schauen in die
ner Griechen, deren Vermögen unantast- Allmählich wird der wohl größte Wissen- Augen derjenigen, deren Liebste von den
bar bleibt, nicht mal vor Ort bewundern schaftsschwindel der letzten drei Jahr- islamistischen Schlächtern grausam mas-
können. zehnte entlarvt – die Klimaerwärmung. sakriert wurden.
MARY LANGE, BERLIN Selten hat man so penetrant und oberleh- FRANK MEIER, BERLIN
rerhaft versucht, ein ganzes Volk zu ver-
Da Ihrem euromanti- dummen. Ganz abgesehen von den schon Nach der verlogen-selbstdarstellerischen
schen Redakteur die öko- versemmelten Milliarden falsch gesetzter Betroffenheitstour von Jan Josef Liefers
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL

nomischen und politi- Anreize durch fehlgelenkte Subventionen. könnte der SPIEGEL jetzt noch Atze
schen Argumente für ein DR. JÜRGEN PTUCHA, GOTHA Schröder in Begleitung von Cindy aus
Festhalten am Einheits- Marzahn durch Aleppo treiben. Der bei
euro offensichtlich ab- Storch hat recht: Wissenschaft ist auch ein Ihnen immer heftiger in Erscheinung tre-
handengekommen sind, sozialer Prozess. Der Mainstream sagt, tenden Kriegshetze gegen Assad täte das
meint er, die Euro-Kriti- wo’s langgeht, und wirkt auf die wissen- bestimmt keinen Abbruch.
ker verhöhnen zu müs- schaftliche Produktion und Resultate. KARL SCHMALLENBACH, JÜLICH (NRW)
sen. Nicht nur unterschlägt er dabei eine FREDY SIDLER, BIEL (SCHWEIZ)
Beschreibung der vorgeschlagenen Alter-
nativen, er wirft den Euro-Kritikern auch Storchs Rätsel, warum sich die Erde

CINEMA FOR PEACE / PICTURE ALLIANCE / DPA


noch das Schüren von Ängsten vor. Mit partout nicht nach den Modellen richten
seinen Hinweisen auf „Sarajewo“ und mag, die stur eine Erwärmung postulie-
Ähnlichem malt er für den Fall des Aus- ren, wäre schon gelöst, wenn er sich mal
stiegs aus dem Einheitseuro die Gefahr die Studien ansehen würde, nach denen
eines dritten Weltkrieges an die Wand. der Hauptantrieb für Klimaänderungen
Wie muss es um dieses „europäische Frie- die schwankende Sonnenaktivität ist.
densprojekt“ bestellt sein, wenn es nur Sein Bauchgefühl, das noch das CO² auf
noch mit solchen Methoden verteidigt der Rechnung hat, kann er getrost in den
werden kann? Mülleimer werfen! Trotzdem danke da-
HANS-OLAF HENKEL, BERLIN für, dass er die PIK-Scharlatane dorthin Schauspieler Liefers in Aleppo
platziert, wo sie hingehören, ganz sicher
Trostlosigkeit umgibt diese Euro-Debatte, nicht in kanzlerberatende Funktionen! Für mich ist Liefers einer mehr, der naive
da sie sich ausschließlich auf das Mone- DIPL. METEOROL. MARTIN PAESLER, AUGSBURG Lösungen anbietet. „Wir“ sind nämlich
täre beschränkt. Angesichts der Tatsache, gar nicht teilnahmslos, nur weniger naiv
dass die Bundesrepublik nach schwieri- als er. Und ganz sicher hätten „wir“ dieses
gen Anfangsjahren neben der ameri-
kanischen auch europäische Solidarität
Korrektur Massenmorden dort längst beendet, wenn
„wir“ eine Erfolgschance sähen.
erfahren hat, ist das Verhalten dieser zu Heft 26/2013 GERHARD RATH, STARNBERG (BAYERN)
Populisten, die die Unsicherheit der S. 36, „Vom Donner gerührt“: Walter
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit
Menschen aus selbstsüchtigen Motiven Ulbricht war nicht Regierungschef der Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elek-
ausnutzen, beschämend. DDR, sondern Staats- und Parteichef. tronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
GÜNTER PESLER, BAESWEILER (NRW) leserbriefe@spiegel.de

10 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Panorama Deutschland

KOA L I T I ON

Empörung über
Abweichler
Die zahlreichen Nein-Stimmen der Union bei
der Abstimmung über die steuerliche Gleichstel-
lung von Homo-Ehen sorgen für Ärger in der
schwarz-gelben Koalition. FDP-Generalsekretär
Patrick Döring kritisierte die Unionskollegen
scharf: „Das war stillos.“ Am Donnerstag hatten
rund 20 Abgeordnete von CDU und CSU gegen
ein Gesetz gestimmt, das das Ehegattensplitting
auf eingetragene Lebenspartnerschaften auswei- ALESSANDRA SCHELLNEGGER / SÜDDEUTSCHER VERLAG

tet. Auf die Neuregelung drängen die Liberalen


schon seit Jahren, zuletzt hatte sie aber auch das
Bundesverfassungsgericht verlangt. Döring sagte,
seine Partei habe immer Respekt gezeigt vor der
abwartenden Haltung der Union in Sachen
Homo-Ehe. „Diesen Respekt haben die 20 Kol-
legen der Union Donnerstagnacht leider vermis-
sen lassen. Nicht nur uns als liberalem Partner
gegenüber, sondern auch der eigenen Führung
und dem Bundesverfassungsgericht gegenüber.“ Homo-Paar auf dem Standesamt
Bei einer Probeabstimmung vor gut drei Wochen
hatten nur drei Abgeordnete gegen das neue Ge-
setz gestimmt. Unionsfraktionschef Volker Kauder sagte, es desverfassungsgerichts zu stimmen macht mich schon sprach-
gehe nicht an, dass seine Abgeordneten einen Spruch des los. Treue zum Rechtsstaat gilt auch dann, wenn es einem
höchsten deutschen Gerichts ignorierten. „In einem Rechts- persönlich einmal nicht passt.“ Unter den Abweichlern waren
staat müssen Urteile des Verfassungsgerichts umgesetzt wer- unter anderen die Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach
den, sonst kriegen wir ein Problem.“ Ähnlich äußerte sich und die konservativen Wirtschaftspolitiker Joachim Pfeiffer
auch der CDU-Abgeordnete Jens Spahn. Natürlich sei jeder und Thomas Bareiß. „In der Fraktion gibt es eine spürbare
Abgeordnete in seiner Entscheidung frei. „Aber im Bundes- Stimmung, die das Verfassungsgerichtsurteil nicht für richtig
tag gegen die Eins-zu-eins-Umsetzung eines Urteils des Bun- hält“, rechtfertigte Bareiß sein Votum.

H U B S C H RAU B E R
chen Zug einigte man sich per „Memo-
randum of Understanding“, dass der
Hersteller Eurocopter der Marine 18
Vergebliche Warnung modifizierte „NH90“-Helis für den
Seebetrieb liefert. Damit sollte der
Der vergangene Woche vom Haushalts- Konzern für die Reduzierung des Auf-
ausschuss genehmigte Hubschrauber- trags entschädigt werden. Der Rech-
Deal von Verteidigungsminister Tho- nungshof warnte, dass dieses Vorgehen
mas de Maizière (CDU) birgt erheblich „verhindert, dass andere Unternehmen
mehr vergaberechtliche Risiken als bis- die Möglichkeit zur Teilnahme an ei-
her bekannt. In einem Bericht („Ver- nem Vergabeverfahren“ für den Mari-
schlusssache – amtlich geheim gehal- ne-Auftrag hätten. Die Prüfer nennen
ten“) hatte der Bundesrechnungshof diesen eine „ursprünglich nicht vorge-
kurz vor der Entscheidung gewarnt: sehene Leistung“. „Zweifelhaft“ sei,
Das Ministerium vergebe im Rahmen ob das Gebot der Chancengleichheit
der Helikopter-Bestellung faktisch ei- „hinreichend beachtet wird“, mahnte
nen Großauftrag mit einem Volumen der Bericht und forderte, die Vereinba-
von 915 Millionen Euro „ohne Wett- rung mit der Industrie „neu zu verhan-
bewerb“ an den Hersteller Eurocopter. deln“, da es für einen möglichen Mari-
PASCAL ROSSIGNOL / REUTERS

Damit riskiere man Klagen von Kon- ne-Hubschrauber auch „andere Anbie-
kurrenzanbietern. De Maizière hatte ter“ gebe. Obwohl der Bericht dem
mit der Industrie vereinbart, eine be- Haushaltsausschuss vorlag, billigte die
stehende Bestellung von 202 Helikop- schwarz-gelbe Mehrheit eine entspre-
tern der Typen „NH90“ und „Tiger“ chende Vorlage über de Maizières
zu verkleinern. Nun soll das Heer nur Deal mit einem Gesamtbudget von
Hubschrauber vom Typ „Tiger“ noch 139 Fluggeräte erhalten. Im glei- knapp 8,1 Milliarden Euro.
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 13
Panorama

B U N D E S R AT
könnten. Die Länder fordern
auch eine weiterreichende
steuerliche „Aufzeichnungs-
Länder wollen Rösler pflicht“ der Geräte, um künf-

bremsen tig Geldwäsche und Steuerbe-


trug verhindern zu können.
Der Bundesrat will in dieser
Die von Bundeswirtschaftsminister MARIJAN MURAT / PICTURE ALLIANCE / DPA
Woche einen sogenannten
Philipp Rösler geplante Novelle der Maßgabebeschluss fassen, der
Spielverordnung wird vermutlich an strie zu weit entgegengekommen, zu- Rösler verpflichten würde, die Ände-
einem Streit zwischen Bund und Län- mal die FDP bis vor kurzem geschäftli- rungen in seine Novelle aufzunehmen.
dern scheitern. Der FDP-Politiker che Beziehungen zum Daddelkönig In einem Brief an die Wirtschaftsminis-
hatte im Frühjahr einen Entwurf vor- Paul Gauselmann unterhielt. Mehrere ter der Länder wies Röslers Staatsse-
gelegt, mit dem die Spielsucht in Bundesratsausschüsse forderten deutli- kretär Bernhard Heitzer die Länder
Spielhallen und Gaststätten stärker be- che Verschärfungen des Entwurfs. Un- aber nun darauf hin, dass ihre „erheb-
kämpft und der Spieler- und Jugend- ter anderem solle die zulässige Zahl lichen Verschärfungen“ teilweise „ver-
schutz verbessert werden sollte. Sucht- von Automaten in allen Gaststätten fassungsrechtlich sehr bedenklich“ sei-
experten bezeichneten das Vorhaben von drei auf einen gesenkt werden. en. Selbst die geforderten Regelungen,
aber als Placebo. Auch nach Meinung Zudem müsse das Punktespiel verbo- um die Automaten vor Manipulatio-
vieler Länderregierungen ist das Rös- ten werden, mit dem Gewinn- und nen zu schützen, hält Heitzer für ent-
ler-Ministerium der Automatenindu- Verlustgrenzen umgangen werden behrlich.

Joachim
Gauck
Merkel baut ihren Vorsprung aus
Das Drohnen-Desaster hat Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) offenkundig
Angela geschadet. Bundeskanzlerin Angela Merkel kann indes ihren Abstand zur SPD-Politikerin
Merkel Hannelore Kraft ausbauen. Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin liegt allerdings
im Ansehen der Wähler immer noch weit vor ihren männlichen Parteifreunden.
Hannelore
Kraft
Ursula
von der Frank-
Leyen Walter
Wolfgang Steinmeier Peer
Schäuble Steinbrück
Horst
Renate Seehofer Claudia Jürgen
Künast Roth Trittin Sigmar
Gabriel

77
72

61
59
57
52
49
43 43 42 42
40

+5 –7 –6

16 8 4 7 8 6 7
Veränderungen von bis zu drei Prozentpunkten liegen im Zufallsbereich, sie werden deshalb nicht ausgewiesen.

14 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Deutschland

E I E R - S KA N DA L
Fahnder gegen mehr als 200 konven-
tionelle und ökologische Legehennen-
betriebe. Sie sollen in ihren Ställen
Verdacht gegen systematisch mehr Tiere gehalten ha-

Öko-Kontrolleure ben als erlaubt (SPIEGEL 9/2013). Bei


den Untersuchungen habe sich erge-
ben, dass die IMO-Kontrolleure offen-
Die Staatsanwaltschaft Oldenburg ver- bar Betriebe zertifiziert hätten, ob-
dächtigt Kontrolleure des Instituts für wohl ihnen die Überbelegung bekannt
Marktökologie (IMO) der Beihilfe gewesen sei. Gegen 28 Agrarunterneh-
zum Betrug mit falsch deklarierten mer hat die Staatsanwaltschaft in dem
Bio-Eiern. Ermittler haben Verfahren inzwischen Straf-
die Zentrale des Marktfüh- befehle wegen gewerbsmä-
rers unter den Geflügelkon- ßigen Betrugs beantragt.
trolleuren in Konstanz so- Sie sollen, so die Ermittler,
wie Büros und Wohnhäuser mit Freiheitsstrafen von
von Prüfern in vier Bundes- sechs Monaten bis zu ei-
BILDWERK / IMAGO
ländern durchsucht und Un- nem Jahr zur Rechenschaft
terlagen beschlagnahmt. gezogen werden. Etliche
Seit zwei Jahren schon er- Verfahren sind noch nicht
mitteln niedersächsische abgeschlossen.

TNS Forschung nannte die Namen von Politikern.


BELIEBTHEIT Anteil der Befragten, Im März nicht auf der Liste
die angaben, dass der jeweilige Politiker
künftig „eine wichtige Rolle“ spielen solle „Dieser Politiker ist mir unbekannt.“
Veränderungen zur letzten Umfrage im
März 2013, in Prozentpunkten Angaben in Prozent

Thomas
de Maizière Peter Sabine
Altmaier Leutheusser- Guido Gregor
Schnarren- Westerwelle Gysi
berger Kristina
Schröder Rainer Philipp
Brüderle Rösler

39
36 35 35
33
31
28 28

–7

11 18 11 6 16 10 5
TNS Forschung für den SPIEGEL am 25. und 26. Juni; 1000 Befragte ab 18 Jahren

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 15
Deutschland Panorama

TERROR

Operation „Quax“
Der Hinweis eines amerikanischen Ge-
heimdienstes hat das Bundeskriminal-
amt (BKA) auf die Spur der Islamisten
geführt, die in Deutschland einen
Sprengstoffanschlag mittels Modell-
flugzeugen geplant haben sollen. Das
geht aus einem BKA-Vermerk zu den
in der vergangenen Woche durchge-
führten Razzien in Baden-Württem-
berg, Bayern, Sachsen und Belgien
hervor. In dem geheimen Bericht
warnten die US-Sicherheitsexperten
bereits im Februar 2012 vor zwei Tune-
siern und einem Deutschen. Das Lan-
deskriminalamt in Stuttgart leitete dar-
aufhin Ermittlungen im Fallkomplex
MICHAEL REICHEL / DPA

„Quax“ ein – benannt nach dem NS-


Film aus dem Jahr 1941 „Quax, der
Bruchpilot“. Zwei Monate später über-
nahm die Bundesanwaltschaft die Er-
mittlungen. Die Durchsuchungen rich-
Umzug von Verbindungsstudenten in Eisenach

RASSISMUS

Persilschein für rechte Burschen

FRANZISKA KRAUFMANN / DPA


Die Bundesregierung hält den weit nach tag. Die Deutsche Burschenschaft, die
rechts gerückten Dachverband der Deut- nach eigenen Angaben 10 000 Mitglieder
schen Burschenschaft (DB) nach wie vor vertritt, driftet seit Jahren nach rechts
nicht für verfassungsfeindlich. Forderun- außen. Wegen unverhohlen völkischer Verdächtiger in Fellbach
gen von Studentenverbindungen, eine und rassistischer Tendenzen haben seit
Art „Ariernachweis“ einzuführen und dem außerordentlichen Burschentag teten sich gegen die mutmaßlichen
alle Parteien – also auch die NPD – 2012 etliche Verbindungen den Dachver- Modellflugzeugbauer sowie eine Grup-
gleich zu behandeln, seien zwar Indi- band verlassen. Die linke Innenpolitike- pe von Islamisten, die mit ihnen in
zien für verfassungsfeindliche Bestre- rin Ulla Jelpke wirft der Koalition Igno- Verbindung stand und verdächtigt
bungen. „Zum jetzigen Zeitpunkt“ lä- ranz vor: „Muss die Deutsche Burschen- wird, Terroristen finanziell unterstützt
gen jedoch „keine hinreichenden An- schaft neben ihren bunten Mützen und zu haben. Insgesamt stellten die Beam-
haltspunkte“ für eine antidemokratische Schärpen erst noch Braunhemden ein- ten rund 16 000 Euro bei der Razzia si-
Gesinnung des Dachverbands vor, heißt führen, damit auch die Bundesregierung cher. Sprengstoff oder Belege für ei-
es in einem Schreiben des Innenminis- erkennt, welcher braune Ungeist dahin- nen unmittelbar bevorstehenden An-
teriums an die Linksfraktion im Bundes- tersteckt?“ schlag entdeckten die Beamten nicht.

KERNKRAFT
eine EU-Richtlinie Atommüll aus For-
schungseinrichtungen davon ausge-
nommen. Das Forschungsministerium
Durch die Hintertür als Haupteigentümer des ehemaligen
Komplexes in Jülich verhandelt derzeit
Mit einem juristischen Trick ist es der mit US-Behörden über den Export von
Bundesregierung gelungen, den Ex- abgebrannten Elementen. Passiert das
port von Atommüll aus dem For- Gesetz in der neuen Fassung am Frei-
WAZ FOTOPOOL / ACTION PRESS

schungszentrum Jülich in die USA zu tag den Bundesrat, würde ein Tabu ge-
ermöglichen. In letzter Minute wurde brochen. Vor zweieinhalb Jahren hatte
eine entsprechende Passage in den Ent- der damalige Umweltminister Norbert
wurf zum Endlagersuchgesetz aufge- Röttgen verhindert, dass Nuklearmüll
nommen. Darin wird die Ausfuhr von aus dem stillgelegten Forschungsreak-
radioaktivem Abfall zwar verboten. tor im sächsischen Rossendorf nach
Doch zugleich wurde mit Verweis auf Atommüll in Jülich Russland transportiert wurde.
16 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Deutschland

BUNDESREGIERUNG

Die Fälscher
Die Koalition will im Wahlkampf in der Familienpolitik punkten –
mit geschönten Gutachten. Ministerin Schröder setzte
kritische Wissenschaftler unter Druck. Doch die Experten wehren sich.

A
ls Professor Holger Bonin, 44,
am Montag vergangener Wo-
che die Treppen im Bun-
desfamilienministerium hinaufstieg,
trug er einen Schatz in seinem Ruck-
sack: die Antwort auf eine 200-
Milliarden-Euro-Frage. Bonin hatte
fünf Jahre lang geforscht und vier-
einhalb Stunden im Zug gesessen. Er
hatte 25 Folien vorbereitet und noch
auf der Fahrt nach Berlin letzte Än-
derungen an seiner Präsentation vor-
genommen. Jedes Komma sollte stim-
men.
Bonin, Ökonom am Zentrum für
Europäische Wirtschaftsforschung
(ZEW) in Mannheim, gehört zu den
Hauptautoren der bislang wohl auf-
wendigsten Untersuchung zur deut-
schen Familienpolitik. Wie wirkt das
Elterngeld, wie das Kindergeld? Ha-
ben öffentlich geförderte Kitas einen
Einfluss auf die Geburtenrate? Welche
der insgesamt 156 familienpolitischen
Leistungen sind sinnvoll, welche sinn-
los und welche sogar kontrapro-
duktiv?
Es sind Fragen, die in einem von
Geburtenrückgang und Überalterung
bedrohten Land über die Zukunft der
Gesellschaft entscheiden. Die For-
schungsergebnisse, die Bonin und sei-
ne Kollegen gewonnen haben, sind
alarmierend. Sie zeigen, dass aus-
gerechnet die teuren Leistungen nur
einen kleinen Nutzen stiften und
deshalb grundlegende Reformen nötig
wären, damit die Familienförderung
auch wirklich den Familien hilft.
Als Bonin den Konferenzsaal im
ersten Stockwerk des Ministeriums
betrat, warteten dort Abteilungsleiter
und Fachleute aus dem Finanz-
und dem Familienressort sowie Exper-
ten anderer Forschungsinstitute, es
gab belegte Brötchen mit Käse und
Schinken. Wer fehlte, war seine Auf-
traggeberin, Bundesfamilienministe-
rin. Kristina Schröders blieb der Run-
de fern.
Die Christdemokratin hatte ihre
Meinungsbildung zur Familienpolitik
bereits abgeschlossen. Vier Tage zuvor Minister Schäuble, Schröder: Die Ergebnisse der Gutachter werden dreist ins Gegenteil verkehrt

18 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
hatte Schröder auf einer gemeinsamen Expertisen in die Schublade gesteckt, fügung zu stellen. Seine Leute hatten
Pressekonferenz mit Finanzminister Wolf- mal wurde ein neuer Forschungsauftrag Schäuble vor allzu viel Nähe zur Famili-
gang Schäuble die Ergebnisse der Wissen- erteilt. Das Verfahren aber, das die enministerin gewarnt. Das Ressort, das
schaftler vorgestellt, nur mit einer ande- schwarz-gelbe Koalition gewählt hat, ist sonst in ganz Europa auf saubere Zahlen
ren Botschaft als die Professoren. Die Fa- besonders dreist: Die Regierung verkehrt drängt, wollte nicht in Verdacht geraten,
milienpolitik der Regierung zeichne sich die wissenschaftlichen Ergebnisse teils in wissenschaftliche Studien einzugreifen.
durch Effektivität und Zielorientierung ins glatte Gegenteil. Die Beamten von Ministerin Schröder
aus. Die schwarz-gelbe Koalition sei „auf Die Tatsache, dass die Forscher gerade hatten da erkennbar weniger Skrupel. Sie
dem richtigen Weg“ und „ausgesprochen milliardenschweren Geldleistungen wie veröffentlichten nicht nur Erklärungen,
erfolgreich“. dem Kindergeld und dem Ehegattensplit- in denen die Studienergebnisse in weiten
Deutschlands Mächtige waren selten ting schlechte Noten geben, passt nicht Teilen in ihr Gegenteil verkehrt wurden.
zimperlich, wenn es galt, die Ergebnisse zum Wahlkampf der Union, die genau Sie zensierten auch die einzelnen Veröf-
unliebsamer Regierungsstudien zu neu- diese Leistungen erhöhen will. Und so fentlichungen der Forschungseinrichtun-
tralisieren. Mal wurden unerwünschte griff die zuständige Ministerin wortgewal- gen, wie im Fall des Münchner Ifo-Insti-
tig in die Präsentation und Darstellung tuts.
der Forschungsergebnisse ein. Die Denkfabrik unter der Leitung des
Störende Aussagen der Wissen- liberalen Ökonomen Hans-Werner Sinn
schaftler drehte sie kurzerhand um. wollte darauf hinweisen, dass reine Geld-
Die beteiligten Institute mussten ihre leistungen in der Familienpolitik oft das
Presseerklärungen zur Genehmigung Gegenteil dessen bewirken, was beab-
vorlegen, missliebige Sätze wurden ge- sichtigt ist. „Die neue familienpolitische
strichen. Ganze Texte verschwanden Maßnahme des Betreuungsgeldes lässt
im Papierkorb, und am Ende erfanden dabei vergleichbare Effekte erwarten“,
Schröders Beamte einfach ein neues hieß es in der Ursprungsversion.
Kriterium, mit dem sich jede noch so Doch Kritik an einer der umstrittensten
unsinnige Geldleistung rechtfertigen Maßnahmen der Koalition war im Hause
lässt. Sie erhöhe die „Wahlfreiheit“. Schröder nicht erwünscht. Das Familien-
Die Regierung wollte ein unlieb- ministerium bestand darauf, den Satz zu
sames Gutachten aus dem Verkehr zie- streichen.
hen, doch nun ist das Thema lebendi-
ger denn je. Beteiligte Wissenschaftler
kündigen an, sich gegen die Verfäl- Der DIW-Chef spricht von
schungen wehren zu wollen. In der Propaganda: „So sollte
Koalition bekommen die Kritiker von
Schröders Familienpolitik Auftrieb, die Regierung nicht mit
und Merkels Regierungsbilanz erhält
einen neuen hässlichen Fleck: Ausge- Expertisen umgehen.“
rechnet im bürgerlichen Kabinett, in
dem bereits mehrere Minister wegen Bei den beteiligten Wissenschaftlern
unkorrekter Doktorarbeiten zurück- schwankt die Stimmung nun zwischen
treten mussten, werden wissenschaft- Frust und Empörung. „Wir erstellen keine
liche Ergebnisse umgedeutet und die Gefälligkeitsgutachten“, sagt ZEW-Öko-
beteiligten Forscher lächerlich ge- nom Bonin. Und auch die Chefs der gro-
macht. ßen Forschungsinstitute melden sich in-
„Man lädt doch nicht die Schüler zu zwischen mit offenem Protest zu Wort.
den Zeugniskonferenzen ein“, heißt „Die wissenschaftliche Expertise wurde
es im Familienministerium verächtlich. ignoriert und vom Ministerium politi-
Die Professoren dürften gern ihre siert“, sagt Marcel Fratzscher, Chef des
Zahlen abliefern. Aber die Bewertung Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor-
sollten sie gefälligst der Regierung schung (DIW): „Bei der bisherigen Prä-
überlassen. sentation handelt sich um politische Pro-
Dabei hatte die zunächst versucht, paganda – so sollte die Bundesregierung
die Veröffentlichung der Familienstu- nicht mit wissenschaftlicher Expertise
die nach erprobter Methode in die umgehen.“
nächste Wahlperiode zu verschieben. Clemens Fuest, Präsident des ZEW,
Doch weil ein wesentlicher Teil der sagt: „Bislang fehlt eine angemessene
Untersuchungsergebnisse bereits seit Auseinandersetzung mit den Ergebnis-
Monaten vorliegt und schließlich sogar sen.“ Und der frühere Chef des Sachver-
die Kanzlerin der Verschleierungs- ständigenrats, Bert Rürup, der ebenfalls
taktik beschuldigt wurde, änderte zur Regierungsstudie beigetragen hat, fin-
Schröder ihre Strategie: Sie ging in die det es „irritierend, dass die Bundesregie-
Offensive. rung bereits die Deutungshoheit über die
Finanzminister Schäuble ließ sich zahlreichen, keineswegs eindeutigen Er-
GONÇALO SILVA / DEMOTIX

breitschlagen, der Kollegin vom Fami- gebnisse beansprucht“.


lienressort zu assistieren, um der Prä- Bei dem Streit geht es nicht nur um
sentation zusätzliches Gewicht zu ver- Zensur und die Gängelung von Wissen-
leihen. Er ging allerdings nicht so weit, schaftlern, es geht auch ums Geld. Würde
das Logo des Finanzministeriums für die Regierung den Empfehlungen der For-
eine gemeinsame Erklärung zur Ver- scher folgen, müsste sie vor allem in den
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 19
Deutschland

des Mannes, im Alter droht Armut. „Im


Wenig Geld für Infrastruktur Familien- und ehebezogene Leistungen 2010 Hinblick auf das Ziel der besseren Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf finden
74,8 Mrd. € 125,5 Mrd. € sich bei einigen Leistungen sogar kontra-
Ehebezogene Leistungen Familienbezogene Leistungen produktive Effekte“, heißt es in einem
Papier des ZEW über das Ehegatten-
splitting.
Bei Schröder hört sich das ganz anders
Ste an. Sie weiß, dass es Ärger mit der CSU
13,3 ue
rlic verursachen würde, wenn das Ehegatten-
g Sonstiges he
un M splitting auf den Prüfstand gestellt würde.
er a
38,8 Also spricht sie davon, das Ehegatten-
ch

ßn
rsi

Kindergeld splitting fördere die „Wahlfreiheit“ der

ah
ve

me
Eltern.
ial

n
Soz

38,1 Die Regierung verkündet, gängige Vor-


Witwen- und urteile über familienpolitische Instrumen-
Witwerrente 45 te würden durch die Evaluation wider-
4 , legt. Woher die Koalition dieses Wissen
,

nimmt, bleibt ihr Geheimnis. In den

6
51

6,8 Studien der Wissenschaftler liest es sich


Sonstiges
anders.
insgesamt 11,6 Tatsächlich lautete der ursprüngliche
Auftrag an die Forscher, die Familien-
Geldleistungen 200,3 Beiträge für Kinder-
erziehungszeiten an politik an konkreten Zielen zu messen.
Wie können Mütter und Väter Karriere
2 5,1
3,2 Mrd. € Rentenversicherung

ngen
und Kinder vereinbaren? Was verhindert
2 0,

19,8 4,6 Armut? Gibt es Anreize, damit die Deut-

leistu
S te u e

Elterngeld schen mehr Kinder bekommen? Wie


3

Ehegatten-
kann der Staat dafür sorgen, dass Kinder

G eld
splitting
rlic h

3 8,9 die bestmögliche Förderung erhalten?


2 7, 4 2 7, Sonstiges
eM

Klare Vorgaben waren die Basis für die


0,5 Studie, denn das Drama der deutschen

21,7
na

Sonst. Familienpolitik liegt ja gerade darin be-


4,9 5,6
hm

Kranken- gründet, dass sie nicht weiß, was sie will.


en

Sonst. 6,3 Pflege-, Unfall-, versicherung


16,2 200 Milliarden Euro gibt Deutschland je-
Erziehungs- Tages- Arbeitslosen- des Jahr für die Förderung von Ehe und
hilfe betreuung und Renten- ng Familie aus, aber die Ergebnisse sind
versicherung ru
Rea he c mehr als bescheiden. Es herrscht ein
r si
l le is a lve Wirrwarr aus Kindergeld und Elterngeld,
tu n g
en S oz i
aus Geschwisterbonus und Waisengeld,
Quelle: BMFSFJ
aus Kinderzuschlag, Kindererziehungs-
zuschlag und Kindererziehungsergän-
Ausbau von Krippenplätzen investieren. ausfällt. Wenn es darum geht, die wirt- zungszuschlag. Selbst Experten blickten
Doch dafür hat die Koalition zuletzt ge- schaftliche Lage der Familien zu verbes- hier längst nicht mehr durch.
rade mal zusätzlich 580 Millionen Euro sern, sei der Effekt einer Kindergeld- Doch nun erklärt die Familienministe-
eingeplant. Stattdessen will die Union den erhöhung „nicht messbar“, schreibt das rin gerade das Chaos zum Leitgedanken
steuerlichen Kinderfreibetrag und das Kin- Ifo-Institut. Kanzlerin Merkel allerdings ihrer Politik: „Das wichtigste Ziel, das
dergeld erhöhen, was den Staat laut Be- mag solche Botschaften im Wahlkampf die Bundesregierung der Gesamtevalua-
rechnung des Finanzministers zusätzlich nicht hören. Denn sie will mit dem Ver- tion vorangestellt hat, war Wahlfreiheit,
etwa 7,5 Milliarden Euro pro Jahr kosten sprechen locken, dass der Staat den Fa- und daran müssen sich alle Expertisen
würde. milien künftig mehr Geld aufs Konto messen lassen.“
Nur kommt ausgerechnet das Kinder- überweist. Als die Wissenschaftler vor fünf Jahren
geld bei der Analyse der Wissenschaftler Also musste sich Familienministerin begannen, die deutsche Familienpolitik
nicht gut weg. Das Urteil der Experten Schröder daranmachen, Aussagen der Ex- unter die Lupe zu nehmen, war von dem
ist eindeutig: Das Kindergeld ist zwar perten umzudeuten, und zwar in das Ge- Kriterium der „Wahlfreiheit“ allerdings
enorm teuer, jedes Jahr belastet es den genteil. Glaubt man ihren Worten, ist das keine Rede. Es wurde erst eingefügt,
Bundeshaushalt mit etwa 39 Milliarden Kindergeld „besonders wirksam“, wenn nachdem Schröder im November 2009
Euro. Doch der Nutzen des Geldes ist be- es darum geht, die ökonomische Lage Ministerin wurde. „Mit der Wahlfreiheit
scheiden. von Familien zu verbessern. kann man alles und jedes rechtfertigen“,
Es trägt kaum dazu bei, dass Eltern in Ähnlich frech ging das Ministerium sagt ZEW-Forscher Bonin.
Deutschland Kinder und Beruf besser beim Thema Ehegattensplitting vor, das Genau das aber liegt im Interesse von
unter einen Hut bringen können. Und zu den Staat jedes Jahr etwa 20 Milliarden Merkel und Schröder. Als die CDU An-
allem Überfluss ist es auch noch unge- Euro kostet. Auch hier ist das Votum der fang Mai zu einem Diskussionsabend zur
recht. Denn während Topverdiener durch Experten negativ. Sie fanden heraus, dass Familienpolitik in die Berliner Parteizen-
den steuerlichen Freibetrag überpropor- das Instrument Frauen dazu ermuntert, trale geladen hatte, erklärte die Ministe-
tional profitieren, gehen Hartz-IV-Emp- zu Hause zu bleiben, statt sich einen Job rin, dass die Wissenschaft in ihrem Haus
fänger leer aus. zu suchen. bestenfalls eine dienende Funktion habe.
Dabei ist es nur konsequent, dass das Die Folgen liegen auf der Hand: Frauen „Aufgabe der Politik ist es, Ziele und
Urteil der Experten wenig schmeichelhaft machen sich abhängig vom Geldbeutel Werturteile vorzugeben“, sagte Schröder.
20 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
„Und es ist Aufgabe der Wissenschaft zu Der Parlamentarische Geschäftsführer
definieren, welche Mittel helfen, diese der CSU-Landesgruppe im Bundestag,
Werte zu erreichen. Und es kann nicht Stefan Müller, fordert die Ministerin zur
sein, dass an die Wissenschaft delegiert Nacharbeit auf: „Die Wirkungen von fa-
wird, welche Werte wir verfolgen.“ milienpolitischen Leistungen müssen re-
Aus Schröders Sicht war es ein Fehler gelmäßig überprüft werden.“ Und Nor-
ihrer Amtsvorgängerin Ursula von der bert Barthle, Chefhaushälter der Unions-
Leyen, die Studie überhaupt in Auftrag fraktion, hält weiter am Ziel der Gebur-
gegeben zu haben. Die beiden CDU-Po- tensteigerung fest: „Es muss das Ziel er-
litikerinnen haben keine hohe Meinung reicht werden – ein Schub, Kinder in die
voneinander. Sie verfolgen unterschied- Welt zu setzen.“
liche Ziele. Dass von der Leyen einst ver- Die in ihrer Ehre gekränkten Wissen-

HENNING SCHACHT
kündete, eine gute Familienpolitik müsse schaftler geben keine Ruhe. DIW-Chef
sich auch an steigenden Geburtenzahlen Fratzscher denkt darüber nach, die Er-
messen lassen, empfindet Schröder als gebnisse der Studie gemeinsam mit den
Zumutung. Sie kenne „keine seriöse Stu- anderen Forschungsinstituten vorzustel-
die“, die einen positiven Zusammenhang CDU-Politikerin von der Leyen len. „Es ist uns wichtig, dass die Unter-
herstelle zwischen staatlicher Unterstüt- Was verhindert Armut? suchungsergebnisse offen und zielgerich-
zung und Kinderzahl, sagte Schröder vor tet diskutiert werden“, sagt er. „Dies soll-
zwei Wochen. erhöhe die Zahl der Geburten um der- te auch unter Beteiligung aller Wissen-
Doch auch das stimmt so nicht. ZEW- zeit fünf Prozent – eine sehr interes- schaftler, die an der Evaluation beteiligt
Forscher Bonin hat herausgefunden, dass sante Information, wie Bonins Zuhörer waren, geschehen.“
es durchaus einen Zusammenhang zwi- fanden. Schade, dass die Ministerin nicht Das ZEW will sich ebenfalls nicht ein-
schen Familienpolitik und Fertilität gibt, da war. fach der politischen Willkür beugen. Eine
etwa beim insgesamt fünf Milliarden Fraglich ist, ob sich Schröders Strategie Pressemitteilung, die das Institut kürzlich
Euro teuren Elterngeld. „Gäbe es das im Wahlkampf auszahlt. Die eigenen dem Familienministerium zur Abstim-
Elterngeld nicht, würden die Frauen im Leute sind nicht überzeugt. „Angesichts mung vorlegte, sollte so stark verändert
Laufe ihres Lebens zehn Prozent weniger begrenzter Haushaltsmittel müssen wir werden, dass die Experten beschlossen:
Kinder bekommen“, erklärte er am ver- Prioritäten setzen. Ich finde den Ausbau Da machen wir nicht mehr mit.
gangenen Montag bei seiner Präsentation der Ganztagsbetreuung in den Kitas nach Man hätte sich dann, so das ZEW, auf
im Familienministerium. Effizient sei der Wahl erst einmal wichtiger als eine eine andere, „eher inhaltslose“ Mitteilung
freilich auch die subventionierte Kin- Erhöhung des Kindergelds“, sagt der Ge- geeinigt. NICOLA ABÉ, PETER MÜLLER,
derbetreuung in Kitas und Krippen. Sie sundheitspolitiker Jens Spahn. ALEXANDER NEUBACHER, CHRISTIAN REIERMANN
Deutschland

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Klar war der Gerd ein Macho“


SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, 43, spricht über die raue Männerwelt der Politik,
ihren Plan einer gesetzlichen Teilzeit für Väter und die erotische Wirkung der Macht.
SPIEGEL: Frau Nahles, im Grundsatzpro- Nahles: Ich nehme sie manchmal mit nach wissen Höchstverdienst abgeschmolzen –
gramm Ihrer Partei steht der schöne Satz: Berlin, vorletztes Wochenende zum ähnlich wie beim Elterngeld.
„Wer die menschliche Gesellschaft will, Beispiel. Da konnte ich nicht nach Hause SPIEGEL: Mit Ihrem Plan werden die Män-
muss die männliche überwinden.“ Was in die Eifel, weil wir Parteikonvent ner dazu verpflichtet, Arbeitszeit zu re-
hat die SPD eigentlich gegen Männer? hatten. Aber was, bitte, soll sie mit mir duzieren. Ansonsten gibt es kein Geld
Nahles: Nichts natürlich, wir wollen männ- in Besprechungen? Sie würde sich da vom Staat. Warum wollen Sie die Väter
lich geprägte Strukturen in Politik, Wirt- nach fünf Minuten langweilen und „Piel- aus dem Büro vertreiben?
schaft und Gesellschaft aufbrechen. Lange platz“ rufen. Ich will auch nicht offensiv Nahles: Wir verpflichten absolut nieman-
Zeit galt es als gottgegeben, dass der Mann austesten, wie viel Sitzungstauglichkeit den! Es ist doch anders: Im Moment re-
der Alleinernährer der Familie ist, dass er ein Kind mit zweieinhalb Jahren hat. duzieren viele Frauen nach der Geburt
Überstunden kloppt und die Frau zu Hau- Sie lebt glücklicher ohne, da bin ich des ersten Kindes ihre Arbeitszeit dras-
se auf die Kinder aufpasst. Das spiegelt sicher. tisch, viele steigen länger ganz aus dem
doch weder die Realität noch die Wünsche SPIEGEL: Ist es eigentlich Aufgabe der Po- Beruf aus. Völlig in Ordnung! Aber es
der Menschen wider. Das geht auch nicht litik, die Männer zu ändern? wird fatal, wenn diese Frauen später
gegen Männer, wir wollen andere Rollen- Nahles: Nein, wir wollen den Männern kaum noch Tritt fassen in ihrem Beruf.
bilder zulassen. Bei uns Sozialdemokraten nichts oktroyieren. Aber alle Umfragen Von Karriere ganz zu schweigen. Sie ge-
hat das sogar eine gewisse Tradition. Le- zeigen, dass sich die Mehrheit der Väter raten in die berühmte Teilzeitfalle. Wir
sen Sie zum Beispiel das Buch von August mehr Zeit für die Familie wünscht. Viele wollen daher den Familien Hilfe bieten,
Bebel „Die Frau und der Sozialismus“. Familien stehen total unter Druck und sich besser partnerschaftlich zu orientie-
Das ist 1879 erschienen, aber es liest sich zerreißen sich zwischen Job und Familie. ren. 38 Prozent der deutschen Familien
immer noch superaktuell. Wir wollen eine Möglichkeit schaffen, wünschen sich ein partnerschaftliches Mo-
SPIEGEL: Die SPD war aber auch die Partei dass Familien wieder durchatmen kön- dell, aber nur 6 Prozent der Familien ge-
der Supermachos. Gerhard Schröder zum nen. Bisher ist es ja eher so, dass die Ar- lingt das auch. Und 45 Prozent der Fami-
Beispiel war in Genderfragen nicht im- lien sagen, es liege am Geld, dass sie ihr
mer auf der Höhe der Zeit. Wunschmodell nicht umsetzen können.
Nahles: Klar war Gerd Schröder ein Ma- „Ich komme vom Land und SPIEGEL: Was soll Teilzeit kosten?
cho, aber einer, der bei den Frauen un- Nahles: Das DIW hat unseren Ansatz der
heimlich gut ankam. Es gibt das große
bin – wenn Sie so Familienarbeitszeit in einer Studie aktuell
Spiel der Geschlechter, und Frauen finden wollen – als ,klassische Frau‘ berechnet: Der Einstieg liegt zwischen 30
manchmal auch Männlichkeitsattribute und 60 Millionen Euro im Jahr, je nach
gut, die vom feministischen Standpunkt erzogen worden.“ Modell – unter Annahme eines Höchstver-
aus betrachtet eher fragwürdig sind. dienstes von 2700 Euro netto. Aber natür-
SPIEGEL: Mit einem Wort: Schröder ist ein beitszeit von Männern sogar ansteigt, so- lich wird es teurer werden, wenn es ein
Macho, aber ein Macho mit Charme. bald sie Kinder haben. Erfolg wird. Das Elterngeld haben am An-
Nahles: So ist das wohl. Allerdings bin ich SPIEGEL: Vielleicht finden sie es ganz fang auch nur wenige in Anspruch genom-
persönlich nie in den Genuss seines schön, im Büro ihre Ruhe zu haben, wenn men, inzwischen ist es ein Renner. Betei-
Charmes gekommen. Dafür lagen wir po- zu Hause die Kinder schreien. ligten sich vor der Einführung nur gut 3
litisch zu oft über Kreuz (lacht). Nahles: Das glaube ich nicht. Viele Män- Prozent der Väter, so gehen heute 27 Pro-
SPIEGEL: Wie würden Sie Ihren Kanzler- ner wünschen sich, dass sie mehr Zeit mit zent der Väter in Elternzeit. Es kostet aber
kandidaten Peer Steinbrück einsortieren: ihrer Familie verbringen können. Aber selbst im Erfolgsfall weniger als das Be-
Macho ohne Charme? sie arbeiten mehr, weil plötzlich das Ein- treuungsgeld und ist hundertmal sinnvoller.
Nahles: Ich finde Peer Steinbrück über- kommen der Frau ausfällt und sie das SPIEGEL: Warum ist es eigentlich Aufgabe
haupt nicht machohaft. Er ist ein sehr durch Mehrarbeit kompensieren wollen. der Politik, den Leuten zu erklären, wer
charmanter Norddeutscher. Deswegen schlägt die SPD ein Teilzeit- sich um die Kinder kümmern soll?
SPIEGEL: Kennen Sie die Geschichte, als modell vor, die sogenannte Familien- Nahles: Das wollen wir nicht! Wir wollen
er in einer Sitzung des Koalitionsaus- arbeitszeit. Familien nur die Freiheit bieten, die Ent-
schusses in Nordrhein-Westfalen die Grü- SPIEGEL: Wie soll das funktionieren? scheidung überhaupt selbst treffen zu
ne Barbara Steffens anpflaumte, weil die Nahles: Wir wollen, dass Eltern jeweils für können. Sie können natürlich der Mei-
ihr Baby mitgebracht hatte? bis zu drei Jahre ihre Arbeitszeit auf bis nung sein, der Staat solle sich raushalten.
Nahles: Davon habe ich gehört, aber das zu 30 Stunden pro Woche reduzieren kön- Aber das tut er schon jetzt nicht. Jedes
wird öffentlich gern sehr verkürzt dar- nen. Den Einkommensverlust, der da- Jahr geben wir Milliarden Euro für fami-
gestellt. Ich denke, das würde heute an- durch entsteht, möchten wir staatlich lienpolitische Anreize aus, die an den
ders laufen. abfedern. Wer wenig verdient, bekommt wirklichen Problemen der Familien vor-
SPIEGEL: Ihre Tochter ist inzwischen zwei- die Differenz zu fast hundert Prozent aus- beigehen und die für Frauen einen Stol-
einhalb Jahre alt. Hatten Sie Ella mal bei geglichen. Wer mehr verdient, bei dem perstein darstellen, beruflich wieder Tritt
einer Besprechung mit Steinbrück dabei? wird die Kompensation bis zu einem ge- zu fassen. Es fehlen Betreuungsplätze,
22 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
Politikerin Nahles

und jetzt kommt auch noch das Betreu- tionen ins Kanzleramt geladen, um über sische Frau“ erzogen worden. Da be-
ungsgeld hinzu. Wir wollen nicht hinneh- Gleichberechtigung zu diskutieren. Ir- kommt man natürlich emotionale Schwie-
men, dass Anreize nur einseitig in eine gendwann stand eine Frau auf und sagte rigkeiten, wenn ein Mann in deine Do-
Richtung gesetzt werden: Im Moment sinngemäß: Die wichtigste Entscheidung mäne einbricht (lacht).
werden junge Mütter vom Staat eher ent- für eine Frau ist, dass sie sich einen Part- SPIEGEL: Wird inzwischen von den Män-
mutigt, ihren Beruf weiter auszuüben. ner sucht, der ihre Karriere unterstützt. nern nicht ein bisschen viel verlangt? Sie
SPIEGEL: Das ist doch das Drama der deut- Sehen Sie das auch so? sollen liebevolle Väter sein, zärtliche
schen Familienpolitik: Wenn die Union Nahles: Ich kann da nur von mir selber re- Liebhaber, eine tolle Karriere machen
an der Regierung ist, wird ein Betreuungs- den. Ich habe den richtigen Mann gefun- und möglichst noch gut aussehen.
geld eingeführt, das junge Frauen dazu den, der gut damit klarkommt, eine star- Nahles: Ich bitte Sie! Das war doch schon
ermuntert, ihre Kinder zu Hause zu er- ke Frau an seiner Seite zu haben. immer das Anforderungsprofil an die
ziehen. Sollten Sie an die Regierung kom- SPIEGEL: Wie teilen Ihr Mann und Sie sich Frauen.
men, wollen Sie ein Teilzeitgesetz verab- die Betreuung Ihrer Tochter? SPIEGEL: Früher hat niemand verlangt,
schieden, das Mütter in den Betrieben Nahles: Mein Mann macht Elternteilzeit, dass Mütter Karriere machen.
halten soll. So wird Familienpolitik im- er kümmert sich unter der Woche zu Hau- Nahles: Es macht ja auch nicht jeder Mann
mer teurer und immer widersprüchlicher. se in der Eifel um unsere Tochter, wenn Karriere.
Nahles: Wir wollen die Widersprüche ich unterwegs bin oder in Berlin. SPIEGEL: Verändert es die Beziehung,
doch gerade aufheben, zum Beispiel SPIEGEL: Vielen Frauen, die Karriere ma- wenn der Mann sich vor allem um die
indem wir das Betreuungsgeld wieder ab- chen, fällt es schwer, die Erziehung ihres Familie kümmert? Ist er dann noch ge-
schaffen und auch das Ehegattensplitting Kindes so weitgehend aus der Hand zu ge- nauso attraktiv?
neu aufstellen als Partnerschaftstarif – für ben. Geht Ihnen das manchmal auch so? Nahles: Für mich gibt es da keinen Unter-
Paare, die neu heiraten. Nahles: Ich würde lügen, wenn ich jetzt schied.
SPIEGEL: Vor kurzem hat Angela Merkel sagen würde: nein. Ich komme vom Land SPIEGEL: „Erfolg macht sexy.“ Ist an die-
eine Runde von Frauen in Führungsposi- und bin – wenn Sie so wollen – als „klas- sem Spruch nichts dran?
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 23
Nahles: Ich fand den Brief im Stil ziemlich
daneben. Aber ich würde mich schon
freuen, wenn nicht nur ich als General-
sekretärin mit der Frage konfrontiert wer-
de, wie ich das mit einem kleinen Kind
vereinbare, sondern auch die vielen Väter
in Führungspositionen. Wenn man diese
Frage stellen muss, dann bitte allen. Män-
nern und Frauen. Aber es wird von einer
Mutter eben immer noch etwas anderes
erwartet als vom Vater.
SPIEGEL: Gabriel hat in seinen dreieinhalb
Monaten Babypause eine Sommertour
gemacht, ein Papier zur Bankenregulie-
rung verfasst und – wir haben nachge-
zählt – mindestens 27 Interviews gegeben.
Nahles: Wow. Das habe ich nie nachge-
zählt.
SPIEGEL: Und getwittert. Haben Sie Re-
spekt für sein Multitasking-Talent?
Nahles: Seine Tochter war so klein, die
schlief die halbe Zeit. Sicherlich ist das
die einfache Erklärung.
SPIEGEL: Von Ihnen hat man in Ihrer acht-
wöchigen Auszeit nichts gehört.
Nahles: Da gibt es einen kleinen, feinen
Unterschied: Ich hatte gerade erst die Ge-

WERNER SCHUERING
burt hinter mir, habe gestillt und mich
ganz mit meiner Tochter beschäftigt. Da
sind Sie erst mal fertig. Da haben Sie kei-
ne Zeit für anderes.
Braut Nahles mit Bräutigam Marcus Frings 2010: „Eine starke Frau an seiner Seite“ SPIEGEL: Gehört es nicht auch zur Wahr-
heit, dass Mütter ein engeres Verhältnis
Nahles: Für mich war das nie ein entschei- SPIEGEL: Haben Frauen und Männer un- zu ihren Kindern haben, gerade wenn sie
dendes Kriterium. Und es ist doch ein terschiedlich reagiert? noch klein sind?
sehr eindimensionales Verständnis von Nahles: Eindeutig. Ausnahmen bestätigen Nahles: Bei uns ist das nicht so. Mein
Erfolg. auch hier die Regel, aber viele Männer Mann hat ein ausgesprochen enges Ver-
SPIEGEL: Vor der Geburt Ihrer Tochter ha- haben negativ reagiert und viele Frauen hältnis zu meiner Tochter. Er macht sich
ben Sie von Ihrer Angst gesprochen, aus positiv. mindestens so viel Gedanken wie ich.
dem Beruf auszusteigen. Ein Job wie Ih- SPIEGEL: Sie haben den Männern unter- Aus meiner Erfahrung würde ich sagen:
rer wecke „Begehrlichkeiten“, sagten Sie stellt, dass sie es ausnutzen, wenn ihre Das ist nicht in erster Linie eine bio-
damals. Wie kamen Sie auf diese Idee? Konkurrentinnen im Job in Mutterschutz logische Frage, sondern eine Frage, wie
Nahles: Nein, von Angst habe ich nicht gehen. War das ein Tabubruch? intensiv man Zeit mit dem Kind ver-
gesprochen. Ich war in Sorge, wie sich Nahles: Vielleicht schon. Aber ich habe bringt.
meine Auszeit auf meine politische Ar- ihn ganz bewusst begangen. Weil es im- SPIEGEL: Könnten Sie sich vorstellen, eine
beit und Karriere auswirken wird. Wie mer noch ständig vorkommt in Deutsch- Zeitlang ganz auszusteigen, um sich um
viele hunderttausend andere Frauen auch. land. Es gibt keinen Grund, an dieser Ihre Tochter zu kümmern?
Am Ende ist alles viel besser gekommen, Front Entwarnung zu geben. Nahles: Nein.
als ich dachte. SPIEGEL: Bevor Sigmar Gabriel im Früh- SPIEGEL: Als Franz Müntefering sein Amt
SPIEGEL: Ihr Interview hat vor allem in der jahr 2012 Vater wurde, forderten ihn eini- als Vizekanzler aufgab, um seine Frau
SPD Empörung ausgelöst. ge SPD-Frauen in einem Brief auf, Eltern- zu pflegen, bekam er von allen Seiten
Nahles: Ich habe sehr viele Reaktionen er- zeit zu nehmen. Ist es richtig, in dieser Applaus. Wenn Familienministerin Kris-
halten – sowohl in der Partei als auch von Weise öffentlich Druck auf einen Politiker tina Schröder mit dem Gedanken spielt,
außerhalb. Meine Aussage traf offenbar auszuüben? ihr Ministeramt aufzugeben, um sich
direkt ins Herz einer aus meiner Sicht mehr um die Familie zu kümmern, wer-
nicht ausdiskutierten Frage: Wie halten fen ihr viele Verrat an der Sache der Frau
wir es mit Frauen, die Kind und Karriere vor. Können Sie Schröders Ärger ver-
vereinbaren wollen? Von manch einem stehen?
wird immer noch nicht akzeptiert, dass Nahles: Ja. Ich weiß, wie hart es ist, ein
eine Frau, die Mutter wird, überhaupt Spitzenamt in der Politik und eine Fami-
noch an Karriere denkt. Ich habe mich lie unter einen Hut zu bringen. Man
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL

sehr auf mein Kind gefreut und bin sehr braucht sehr viel Kraft, und man muss
glücklich. Aber ich hatte als Frau auch sich dabei wohl fühlen. Wenn jemand
noch Platz in meinem Kopf für den wahn- sagt, ich will das nicht, ich will jetzt mehr
sinnigen Gedanken, dass ich 20 Jahre in Zeit für meine Familie, dann ist das zwar
eine politische Laufbahn investiert habe nicht mein Weg. Aber ich kann es durch-
und mir mein Job großen Spaß macht. aus nachvollziehen.
Nahles, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Frau Nahles, wir danken Ihnen
* René Pfister und Christiane Hoffmann in Berlin. „Da gibt es einen kleinen Unterschied“ für dieses Gespräch.
24 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Deutschland

Großkoalitionäre 2008*
„Was hat es uns gebracht? – Nichts“

gleich. Sie würden lieber in der Opposition


bleiben, als sich noch mal durch eine Ko-
alition mit der Union zu kompromittieren.
Das Wahldesaster von 2009 hinterließ
die Partei schwer traumatisiert. Ihre Mi-
nister hatten zwar nach allgemeiner Ein-
schätzung ordentliche Arbeit abgeliefert,
doch die SPD konnte nicht davon profi-
tieren. Mit demütigenden 23 Prozent ver-
trieben die Wähler sie aus der Regierung.
„Wir waren erfolgreich, wir haben das
Regierungsgeschäft im Wesentlichen ge-
tragen“, sagt ein damaliger Minister. Aus-
gezahlt habe es sich nicht. Daraus könne
man den Schluss ziehen: „Nie wieder.“
Deutlicher wird der Kölner Bundestags-
abgeordnete Rolf Mützenich: „Ich halte
die Große Koalition für ausgeschlossen
und unseren Mitgliedern nicht für vermit-
telbar.“ Die Angst vor dem Regieren mit

MARC-STEFFEN UNGER
Angela Merkel beschäftigt auch den Ab-
geordneten und Generalsekretär der Hes-
sen-SPD, Michael Roth. „Das würde kei-
ner mit Überzeugung machen“, sagt er.
„Im Gegenteil, es würde uns politisch in
nis mit der Union – das war die Botschaft. eine hochriskante Situation bringen.“
SPD Und dieses Mal assistierte ihm sogar sein Mützenich und Roth stehen für viele
Rivale. „Wir haben in der letzten Großen in der Partei. Es ist diese Stimmung, die

Angst vorm Koalition hart gearbeitet“, rief der Kanz-


lerkandidat ins Mikrofon, „und was hat
es uns gebracht? Gar nichts!“
Gabriel mit seiner Intervention in der
Fraktion zu dämpfen versuchte. „Wir wer-
den nicht die Partei opfern, um scheinbar

Regieren Der wohlkalkulierte Auftritt von Par-


teichef und Kandidat belegt, wie ernst
die SPD-Spitze inzwischen eine Debatte
dem Land zu helfen“, sagt er und weist
darauf hin, dass die Große Koalition am
Ende eher der Linkspartei als der SPD
Die Umfragen deuten darauf nimmt, die die Partei von ganz unten bis helfen könnte.
hin, dass es nach der Bundestags- nach ganz oben mit zunehmender Hef- Aber auch er weiß, dass er sich einer
wahl eine Große Koalition geben tigkeit umtreibt: Was tun, wenn nach der Großen Koalition womöglich kaum ver-
Wahl nur die Große Koalition als Macht- weigern könnte. Gabriel hätte dann den
könnte. Für viele Sozialdemo- option übrig bleibt und die SPD als Ju- schwierigsten Part. Er müsste seine Truppe
kraten wäre das die Höchststrafe. niorpartner der Kanzlerin zu ihrer dritten in die Verhandlungen mit der Union führen
Amtszeit verhelfen soll? und sich das Ergebnis von einem Parteitag

E
s kommt schon vor, dass sich der Mit dieser Frage ist eine zweite verbun- absegnen lassen. Es wäre eine Abstim-
Parteichef in der Sitzung der SPD- den: Wie soll man eine Partei in den Wahl- mung, von der ein Spitzengenosse sagt:
Bundestagsfraktion zu Wort meldet. kampf führen, wenn der eigene Kandidat „Wenn ich mir die Delegierten der letzten
Doch am vergangenen Montag merkten weit abgeschlagen zurückliegt? Denn die Parteitage anschaue, sehe ich die Mehrheit
die sozialdemokratischen Abgeordneten Chancen, dass mit Steinbrück ein Sozial- für einen Koalitionsvertrag noch nicht.“
schnell, dass Sigmar Gabriel ein beson- demokrat ins Kanzleramt einziehen könn- Die Parteilinken bringen sich bereits
deres Anliegen hatte. te, sind inzwischen auf ein Minimum ge- in Stellung. „Merkel hat die SPD schon
Die letzte Sitzungswoche vor der Som- sunken. Zu eindeutig sind die Umfragen. 2005 hinter die Fichte geführt“, sagt der
merpause war vorerst auch die letzte Ge- Die Forschungsgruppe Wahlen sah die Uni- Sprecher der Parlamentarischen Linken,
legenheit, den Genossen eine Botschaft on am vergangenen Freitag bei 43 Prozent, Ernst Dieter Rossmann. „Diesmal werden
mit auf den Weg zu geben. Zunächst ent- Sozialdemokraten und Grüne brachten es die Preise deutlich höher sein.“ Trickse-
schuldigte sich Gabriel umständlich, dass gemeinsam gerade mal auf 39 Prozent. reien könne es nicht mehr geben – es sei
er sich mit Peer Steinbrück in aller Öf- Damit liegt eine Neuauflage der denn um den Preis eines Koalitions-
fentlichkeit gestritten hatte. schwarz-gelben Koalition im Bereich des bruchs. Inhaltlich hat Rossmann schon
Dann wurde er konkret. „Es geht um Möglichen. Doch bei den Wählern ist eine konkrete Vorstellungen: „Zentrale Punk-
wesentlich mehr als um Personen oder andere Konstellation beliebter. 44 Pro- te wie Mindestlohn, Bürgerversicherung
uns beide“, sagte er. Die SPD-Niederlage zent der Deutschen fänden nach einer ak- oder Vermögensteuer sind wir unseren
bei der Bundestagswahl 2009 habe einen tuellen Umfrage von Infratest dimap eine Wählern schuldig. Ohne die geht nichts.“
Neuanfang bedeutet. Dieser Prozess sei Große Koalition von Union und SPD gut Die wendige Kanzlerin müsste den Ge-
noch nicht abgeschlossen. Deshalb gelte: für das Land. nossen weit entgegenkommen. Gabriel
„Wir werden bei dieser Bundestagswahl Für viele Sozialdemokraten käme ein ahnt, dass sie diesen Preis wohl zahlen
nicht für ein paar Regierungsämter die solches Bündnis einer Art Höchststrafe würde. Doch das Misstrauen bliebe. „Es
Seele der Partei verkaufen.“ wäre eine Koalition auf Zeit“, prophezeit
Es war der entscheidende Satz, den er * Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier und Peer der Abgeordnete Roth. „Das vorzeitige
loswerden wollte. Wir wollen kein Bünd- Steinbrück. Ende wäre einkalkuliert.“ HORAND KNAUP
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 25
Deutschland

D E B AT T E

Kämpfen oder schmollen


Wer bewusst nicht wählt, verhält sich undemokratisch arrogant – eine Antwort auf Harald Welzer.
Von Jürgen Trittin

I
m SPIEGEL 22/2013 ruft Harald Welzer dazu auf, nicht wäh- Doch eine klare Mehrheit der linken Mitte in der Gesellschaft
len zu gehen. Die Parteien seien alle gleich. Keine sei zu ir- führt nicht automatisch zu einer politischen Mehrheit in Bun-
gendeinem zukunftsfähigen Gedanken fähig. destag und Bundesrat. Die rechte Apo tut viel dafür, diese
Werfen wir einen Blick ins Land 90 Tage vor jener Wahl, Mehrheit zu verhindern.
die Harald Welzer zu boykottieren gedenkt. In dieser Situation eines Widerspruchs zwischen gesellschaft-
Gehen wir in Berlin an der Komischen Oper vorbei, warnt licher und politischer Mehrheit schlägt Harald Welzer vor, auf
ein turmhohes Plakat vor den Plänen der Grünen, Privatver- den Kampf um die politische Mehrheit zu verzichten. Mit
mögen zum Abbau der Staatsschulden heranzuziehen. Die einer Begründung so schlicht wie Stammtisch. Die Parteien
Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer, die sich heute seien alle gleich.
nett als „Familienunternehmer“ vermarktet, hält schon den Es ist schlechte deutsche Tradition, den Gegensatz zwischen
zweiten Kongress gegen eine drohende Vermögensabgabe ab. „guter Gesellschaft“ und „schlimmer Parteipolitik“ herauszu-
Mehrfache Milliardäre kostümieren
sich als der deutsche Mittelstand.
Ebenfalls Unter den Linden in
der Deutschen Bank findet der
Stahldialog 2013 statt. Die Stahl-
unternehmen kämpfen gegen die
Energiewende. Sie zahlen zwar fast
alle nichts für den Ausbau erneuer-
barer Energien und profitieren von
den gesunkenen Börsenpreisen. Sie
bekommen vielfach die Kilowatt-
stunde für 4 Cent, für die ein Mit-
telständler 26 berappen muss. Aber
das genügt ihnen nicht, sie wollen
nur 3 Cent zahlen, wie in Tennessee,
wo der Staat den Strompreis sub-
ventioniert.
Setzt man sich in den ICE nach
Hannover, prangt auf dem ausliegen-
den Zugbegleiter eine Anzeige des
Freien Verbands Deutscher Zahnärz-
te gegen die grüne Bürgerversiche-
rung. Dort in Hannover inszeniert
die Lobby der Chefärzte den Deut-
schen Ärztetag als Konvent gegen Berliner Regierungszentrale
die Bürgerversicherung – obwohl die
Mehrheit der Ärzte für ein Ende der
Zwei-Klassen-Medizin ist.
Die Klientel, für die Schwarz-Gelb regiert, ist politisiert, orga- stellen. Oft steckte hinter der Verachtung für die Politik die
nisiert und haut mächtig auf die Pauke. Man kennt seine Interes- Verachtung der Demokratie. Welzer wärmt diese Tradition auf.
sen. Unternehmensverbände, neoliberale Think-Tanks, konser- Positionen, die er für zukunftsweisend hält, stünden schließlich
vative Meinungseliten kämpfen gegen einen rot-grünen Wechsel. nicht zur Wahl. Er erklärt seine Standpunkte – etwa für ein
Diese rechte Apo ist fest davon überzeugt, dass der Ausgang der Wirtschaftssystem ohne Wachstum oder eine andere europäi-
Bundestagswahl über ihre Privilegien entscheidet. Sie hat recht. sche Wirtschaftspolitik – zu denen „des Souveräns“ und lastet
Sie weiß nämlich, dass sie die politische Hegemonie in der ihre mangelnde Durchsetzung „den Parteien“ an.
Gesellschaft verloren hat. Zwei Drittel bis drei Viertel der Ge-

A
sellschaft sind spätestens nach der Finanzkrise für einen ge- ber die Behauptung, alle Parteien wollten in diesen Fra-
setzlichen Mindestlohn, regulierte Banken, höhere Steuern für gen das Gleiche und das Volk das Gegenteil, ist doppelt
Besserverdienende und große Vermögen, mehr Frauen in Füh- abstrus. Die relevanten Konflikte verlaufen mitten
rungspositionen, mehr Geld für Kitas, Schulen und Universitä- durch die Gesellschaft, zwischen gesellschaftlichen Gruppen,
ten. Schon länger lehnen sie Atomenergie ab und wollen Kli- Interessen, Weltanschauungen. Diese Konflikte werden an allen
maschutz und gleiche Rechte für Schwule und Lesben. Die möglichen Orten dieser Republik ausgetragen, unter anderen
ideologische Hegemonie des Neoliberalismus ist vorbei. im Deutschen Bundestag.
26 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Welzer versteigt sich außerdem zu der Verleumdung, seine Reputation als ökologischer Vordenker in den Dienst
„keine der Parteien“, verschwende „auch nur einen der Gegner einer ökologischen Transformation und kon-
Gedanken“ darauf, wie man die Euro-Krise sozialver- WAHL terkariert das Engagement Hunderttausender Menschen
träglich und demokratisch überwinden könne oder wie 2013 in Deutschland für eine andere Politik. Keine Stimme ab-
die Zivilisierung des Kapitalismus angesichts der Wachs- zugeben ist eine Stimme für den Status quo.
tumsproblematik gelingen könne. Diese Fragen werden ständig Es ist für den Kampf um die soziale und ökologische Zivili-
diskutiert, ja dieser Bundestagswahlkampf dreht sich geradezu sierung des Kapitalismus zerstörerisch, wenn einflussreiche
um sie! Die Grünen etwa haben einen neuen Wohlstandsbe- Stimmen des linkskritischen Lagers dem im Kern rechten Dis-
griff zu einem ihrer neun Wahlkampfschwerpunkte per Mit- kurs der Politikverdrossenheit aufsitzen und sich die Unter-
gliederentscheid bestimmt. Doch nicht nur sie thematisieren scheidung zwischen „Bürgern“ auf der einen und „Politikern“
diese Fragen – siehe die von uns mitangestoßene Enquete- auf der anderen Seite als gesellschaftlichen Leitkonflikt auf-
kommission. Ein Problem aber bleibt: Die entsprechenden schwatzen lassen.
Vorschläge haben bisher keine handlungsfähige Mehrheit. Und Für manche Linke kommt eine grundlegende Skepsis gegen-
so was braucht man, um Gedanken Wirklichkeit werden zu über Regierungsmacht hinzu. Parteien streben Regierungsmacht
lassen. an, doch das ist bei ihnen verpönt und wird als Machtgeilheit
gesehen. Es geht aber darum, einen sozialen und ökologischen

D
enn ihnen stehen mächtige Einzelinteressen entgegen. Wandel, der aus der Gesellschaft kommt, in parlamentarischen
Man fragt sich, ob Welzer jemals hingehört hat, wie sich Einfluss und gesetzgebende Regierungsmacht umzusetzen und
Verbands- und Meinungsmacht in Deutschland gegen so Gesellschaft zu verändern. Eine gesellschaftliche Linke, die
ökologische und soziale Reformen formiert, sei es gegen die Fi- auf diesen entscheidenden Schritt verzichtet, degradiert sich
nanztransaktionsteuer, den Emissionshandel, einen gesetzlichen selbst zum Stichwortgeber für die Sonntagsreden einer auf ewig
Mindestlohn oder striktere CO²-Grenzwerte für Autos. von CDU und Wirtschaftseliten geführten Regierung. Sie zele-
Solche Politikziele mögen dem wortradikalen Vertreter der briert die eigene Unterlegenheit.
Postwachstumsgesellschaft als Kleinkram gelten, sie sind aller- Eine billige Ausrede für die linke Selbstentmachtung ist der
dings notwendige Schritte einer ökologisch-sozialen Trans- Verweis, dass es bei Rot-Grün neben dem Ausstieg aus der
formation. Und sie bergen zumindest die Chance, politische Atomenergie, der Energie- und der Agrarwende, den schwul-
lesbischen Partnerschaften und dem
liberalen Staatsbürgerrecht auch
Hartz IV und Steuersenkungen ge-
geben hat. Denn das unterstellt, aus
Fehlern und Niederlagen nicht ler-
nen zu können. Schmollen ist keine
politische Haltung, länger als zehn
Jahre Schmollen ist regressiv. Vor
allem wenn dadurch die Parteien
am Ruder bleiben, die keinen dieser
Fehler korrigieren werden.
Finanzkrise, Spaltung der Gesell-
schaft, die europäische Krise und das
gigantische Marktversagen beim Kli-
mawandel haben viele Menschen
überzeugt, dass demokratische Poli-
tik sich wieder trauen muss, den
Märkten zu sagen, wo es langgehen
JAN WOITAS / PICTURE-ALLIANCE / DPA

soll. Wir brauchen nicht Merkels


marktkonforme Demokratie sondern
demokratisch regulierte Märkte.
Die Abwesenheit des ideologi-
schen Furors der letzten Dekaden
sollte niemanden über die konkrete
Politik dieser Koalition hinwegtäu-
schen. In Angela Merkels Perspek-
tive sind hohe Löhne, Sozialstaat,
Umweltstandards und Steuern
Mehrheiten zu finden und damit in die Realität umgesetzt zu Hemmschuhe für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unter-
werden. nehmen. Für diese Politik wird sie von den mächtigsten Lobbys
Welzers Weigerung, den Kampf um die politische Mehrheit unseres Landes unterstützt. Diese Politik zwingt sie Europa
aufzunehmen, drückt eine undemokratische Arroganz gegenüber auf. Bei der Bundestagswahl hat Deutschland die Möglichkeit,
dem andersdenkenden Teil der Gesellschaft aus. Um die Über- das Zeitalter des Neoliberalismus auch in der Politik der Bun-
zeugung einer Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern kämpfen desregierung zu beenden.
die Parteien des sozialen und ökologischen Reformlagers. Der Es wird keine langfristig angelegte Zivilisierung des euro-
Frust darüber, dass sich eine Postwachstumsvision und eine Eu- päischen Kapitalismus, keine grüne Transformation unserer
ropapolitik, die Krisenländer nicht in Sozialabbau, Lohnsenkung Wirtschaft, keine strikte Regulierung des Finanzmarkts und
und Spar-Rezession schickt, noch nicht durchgesetzt haben, ist keine Bewahrung des europäischen Wohlfahrtsstaats geben
verständlich. Aber kein überzeugender Grund, den Kampf um ohne sozial-ökologische Reformregierungen in den wichtigsten
Regierungsmehrheiten für solche Veränderungen aufzugeben europäischen Staaten. Das gilt vor allem für Deutschland, das
und CSU und Grüne bei diesen Fragen für identisch zu erklären. Schlüsselland Europas.
Mit seinem Aufruf zum Schmollen macht sich Welzer zum Es zählt also jede Stimme. In der öffentlichen Debatte – und
nützlichen Narren von Merkels Demobilisierungstrick. Er stellt in der Wahlurne.

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 27
Deutschland

BERND WEISSBROD / DPA


Angeklagte Heidrun (l.) und Andreas (3. v. r.) Anschlag: Post von „Pit“ und „Tina“

SPIONAGE

Im Land des Gegners


In Stuttgart steht ein russisches Agentenpaar vor Gericht, das mehr als 20 Jahre lang in
Deutschland spioniert hat. Wladimir Putin persönlich führte die Verhandlungen
über einen Austausch – doch nun belastet ein neuer Fall die deutsch-russischen Beziehungen.

I
n der Asservatenkammer des Bundes- als Agenten in Deutschland gelebt hatten, Freundschaftsversprechen Deutschland
kriminalamts in Wiesbaden liegt ein mehr als 20 Jahre lang, bis sie im Oktober bis heute betrachten: als „Land des Geg-
Schatz, der unter den Geheimdiensten 2011 festgenommen wurden. Vor dem ners“, wie der KGB-Nachfolger SWR die
dieser Welt große Neugier entfacht hat. Oberlandesgericht Stuttgart endet nun Bundesrepublik in einem Funkspruch be-
Er mutet an wie eine gewöhnliche, schwar- der Prozess gegen die beiden, von deren zeichnete, der bei den Anschlags gefun-
ze Laptop-Tasche. Darin ist eine Siemens- wahrer Identität kaum etwas ans Licht den wurde. Die Öffnung des Eisernen
Festplatte eingebaut, jedenfalls sieht es so kam: Wahrscheinlich lauten ihre echten Vorhangs hat viel verändert – doch Mos-
aus. Nur eine Kerbe verrät, dass es sich Vornamen Alexander und Olga, die Nach- kau spioniert ungeniert weiter.
nicht um ein serienmäßiges Produkt han- namen sind unbekannt. Am Dienstag die- Die Bundesregierung hat das erst im
delt, sondern um einen Hochfrequenzsen- ser Woche soll das Urteil fallen. vergangenen Winter wieder neu erfahren
der für Satellitenfunk, dessen Antenne im Dann wird sich die Frage stellen, ob müssen. Zwei Agenten des russischen Mi-
Deckel der Laptop-Tasche versteckt ist. die russische Regierung doch noch einem litärgeheimdienstes GRU versuchten um
Das Gerät stelle moderne Militärtech- Agentenaustausch zustimmt, wie ihn die den Jahreswechsel, in Deutschland ein In-
nik dar, ein „geheimdienstliches Spitzen- Bundesregierung vor gut einem Jahr an- frarot-Zielfernrohr zu kaufen. Das Gerät
produkt allererster Güte“, schwärmt ein bot. Wladimir Putin persönlich empfing der amerikanischen Firma Raytheon un-
Sachverständiger. Seit vielen Jahren ha- damals einen deutschen Emissär im terliegt einem Ausfuhrverbot. Bei der Kon-
ben deutsche Behörden im Krieg der Kreml – und ließ die Deutschen abblitzen. taktaufnahme mit einem Waffenhändler
Spione nichts Wichtigeres in die Hände Dahinter steckte wohl das Kalkül, dass benahmen sich die beiden Russen, die als
bekommen, die Bedeutung des Hightech- man durch den Prozess erfahre, wie viel Diplomaten in Berlin akkreditiert waren,
Apparats reicht an die legendäre Codie- die Deutschen über russische Spionage- derart tapsig, dass sie auffielen und auf-
rungsmaschine Enigma aus dem Zweiten methoden herausgefunden haben. Jetzt, flogen. Die deutschen Behörden beschwer-
Weltkrieg heran. Beim Bundesamt für da der Fall rechtsstaatlich ausgefochten ten sich auf russischer Seite – es drohte
Verfassungsschutz in Köln wartet man ist, muss Putin neu abwägen: Lässt er zu, ein Eklat, der die Karriere der beiden als
sehnlichst darauf, das Gerät zu untersu- dass Heidrun und Andreas Anschlag wo- Kundschafter in der Bundesrepublik mit
chen. Auch die amerikanischen Geheim- möglich für viereinhalb beziehungsweise einem Krachen beendet hätte. Stattdessen
dienste CIA und NSA sowie der israeli- siebeneinhalb Jahre ins Gefängnis gehen, wurde Schweigen über die Aktion gelegt;
sche Mossad haben darum gebeten, das wie die Bundesanwaltschaft fordert? die beiden Agenten mussten gehen.
Wunderteil inspizieren zu dürfen. Die Agentenstory aus dem hessischen Auf welches Niveau die deutsch-russi-
Die Satellitenanlage diente Andreas Michelbach bei Marburg scheint aus der schen Beziehungen abgekühlt sind, wur-
und Heidrun Anschlag als Verbindung in Zeit zu stammen, in der die Mauer noch de zuletzt beim Empfang zum Jahrestag
die Heimat – jenen beiden russischen stand und der Ost-West-Konflikt schwelte. der Revolution in der Botschaft in Berlin
Spionen, die wie einst im Kalten Krieg Und sie zeigt, wie die Russen trotz aller deutlich. Wie Teilnehmer des diplomati-
28 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Mühselige Mitteilung Wie die russischen Agenten Nachrichten austauschten

Ein Kurzwellensender in Empfang mit Kurz- Das Programm „Kelchblatt“ Die bereinigte Tonfolge wird
Russland verschickt identische wellenradio: Per Audio- vergleicht jeweils drei empfangene in Ziffernkolonnen übersetzt und
Tonfolgen auf festgelegten, kabel werden die Signale Tonfolgen, um Übertragungsfehler anschließend durch „Kelchblatt“
wechselnden Frequenzen. auf einen Laptop überspielt. auszusieben. entschlüsselt.

Der Satellit empfängt Die Daten werden mit einem Das Pro- Im Klartext müssen
die Botschaft und leitet sie Hochfrequenzsender übermittelt, gramm „Parabola“ Übertragungsfehler
an die russische Nachrichten- dessen Antenne auf einen rus- verschlüsselt die manuell korrigiert
zentrale weiter. sischen Satelliten ausgerichtet ist. Antwort der Spione. werden.

schen Termins beobachteten, würdigte Mehrmals zog das Paar um, bis es 2010 in Obstbäume oder auf eine nahegelegene
Moskaus Geheimdienstrepräsentant Ser- Michelbach landete, einem idyllischen Anhöhe. Der Hügel unmittelbar hinter
gej Rachmanin seine deutschen Kollegen Vorort von Marburg. Zum Schein nahm dem Haus erwies sich als ungeeignet, weil
keines Blickes. Mütterchen Russland ver- Andreas Anschlag eine Stelle bei einem in der Nähe Windkraftanlagen stehen –
steht keinen Spaß bei seinen Agenten. 350 Kilometer entfernten Automobil- sie störten offenbar die Kommunikation
Erst recht nicht, wenn es um sogenannte zulieferer an und mietete dort eine Zweit- mit dem Satelliten.
illegale Agenten geht, die mit einer auf- wohnung – so ließen sich, etwa gegen- Was die Anschlags über den Äther sen-
wendig konstruierten Legende in ein über neugierigen Nachbarn, seine langen deten oder in toten Briefkästen deponier-
Land eingeschleust werden, um zu spio- Abwesenheiten erklären. „Am Montag ten, waren laut Anklage überwiegend In-
nieren. Es ist die Königsdisziplin der Spio- reist Pit zu seiner Tarntätigkeit“, funkte formationen und Dokumente eines nie-
nage, und kaum ein Geheimdienst ist Heidrun unverblümt an die Zentrale. derländischen Beamten. Dessen Rang im
darin so erfahren wie der KGB-Nachfol- „Pit“ und „Tina“, so nannten die Füh- Außenministerium war nicht allzu hoch,
ger SWR. „Wunderkinder“ nennen die rungsoffiziere im Direktorat S des SWR so dass die Russen die niederländische
Russen ihre Illegalen, deren Tarnung über die Anschlags in ihren Depeschen, für de- Spionageabwehr kaum fürchten mussten.
Jahre aufgebaut wird und fast perfekt ist, ren Empfang das Agentenpaar ein Kurz- Raymon Valentino Poeteray konnte aber
wie der Fall des Ehepaars Anschlag zeigt. wellenradio nutzte. Während einer Reise mit jeder Menge Material der Europäi-
Andreas Anschlags Weg in den Einsatz nach St. Petersburg und Moskau beka- schen Union und der Nato dienen. Aus
führte nach den Ermittlungen der Bun- men sie die hochmoderne Satellitenanlage Sicht der Bundesanwaltschaft bot er den
desanwaltschaft über die Gemeinde Wild- ausgehändigt, dazu gab es einen Kursus Russen „Zugriffe in phantastischer Band-
alpen in Österreich: Dort erschien im für den Umgang mit zwei Computerpro- breite“.
Oktober 1984 ein Jurist und meldete Poeteray drückte ein Berg Schulden,
Anschlag, angeblich 1959 in Argentinien seine Ehefrau war krank. Von seinem mo-
geboren, als neuen Bewohner des 500- Nun muss Putin natlichen Gehalt in Höhe von 2500 Euro
Seelen-Dörfchens an. Der Antrag wurde entscheiden, ob er seine netto blieben ihm nach Abzug der Fix-
genehmigt, obwohl alle beigefügten Un- kosten 650 Euro zum Leben. Glänzende
terlagen gefälscht waren. Der KGB be- Wunderkinder opfert Voraussetzungen für einen Anwerbever-
lohnte den zuständigen Gemeindebeam- such durch einen Geheimdienst.
ten für den Verwaltungsakt mit 3000 oder sie nach Hause holt. So stieg der Beamte ab 2009 zur Spit-
Schilling, gut 200 Euro. Anschlags Frau zenquelle des Agentenpaars auf. Etwa
Heidrun ließ eine Geburtsurkunde vor- grammen: „Kelchblatt“ zum Entschlüs- einmal im Monat fuhr Andreas Anschlag
legen, der zufolge sie 1965 in Lima, Peru, seln, „Parabola“ zum Verschlüsseln. von Michelbach nach Den Haag, immer
als Tochter einer Österreicherin geboren Damit konnten „Pit“ und „Tina“ eine samstags. Über die Jahre kassierte Poe-
worden war. Vieles spricht dafür, dass das sichere Verbindung nach Moskau aufbau- teray mindestens 72 000 Euro vom rus-
Agentenpaar bereits verheiratet war, als en. Sie mussten nur auf die Zeiten achten, sischen Geheimdienst; dafür musste er
es sich auf einem Standesamt in Öster- in denen einer der sechs bis acht Satelli- neben Hunderten Dokumenten selbst-
reich – ein zweites Mal – das Jawort gab. ten, die russische Geheimdienste für ihre verfasste „schriftliche Hausaufgaben“ ab-
Kurz nachdem sie ihre österreichischen Spionageaktivitäten ins All geschickt ha- liefern, Berichte über Kollegen, Einschät-
Pässe beantragt hatten, zogen die An- ben, in Reichweite kommt. Eine rote zungen über Fachthemen.
schlags nach Aachen. Andreas studierte Leuchte an ihrer Funkanlage signalisierte Der SWR war mit dem Agentenpaar
Maschinenbau, 1991 kam die gemeinsame den Anschlags das Herannahen des Sa- aus Hessen offenbar zufrieden. Er lobte
Tochter zur Welt. Offiziell kümmerte sich telliten, eine blaue die Übertragung der die „erfolgreiche und fruchtbare operati-
Heidrun nur um Haushalt und Tochter, verschlüsselten Nachrichten. ve Arbeit“ mehrmals, beförderte im De-
während der Ehemann einem bürgerli- Zuweilen versagte die Anlage jedoch zember 2010 Andreas Anschlag zum Ab-
chen Job nachging. In Wahrheit spionier- den Dienst. Die Anschlags stellten darauf- teilungsleiter und seine Frau Heidrun zur
ten die beiden längst für Moskau, wie ein hin die Sendestation unter eines ihrer stellvertretenden Abteilungleiterin. Auch
Funkspruch aus dem Jahr 1988 belegt. Dachfenster, in den Garten zwischen die wenn es sich nur um eine symbolische
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 29
Deutschland

Beförderung handelte – Anschlag leitete lassung eines Dolmetschers herausschla-


ja nichts und niemanden –, war er auf gen, der hier und da dem BND Infor-
den Titel stolz. Hatte er sich früher, etwa mationen geliefert hat. Die Bundesan-
im Gästebuch eines Hotels in Weißensee, waltschaft signalisierte, dass sie nach dem
als „Diplom-Ingenieur“ eingetragen, so Urteil keine Probleme hätte, einem Aus-
firmierte er fortan als „ABT.-LEITER“. tausch zuzustimmen. Nun muss Putin
Selbst Agenten, bei denen nicht einmal entscheiden, ob er seine Wunderkinder
der Vorname stimmt, können eitel sein, opfert sie oder nach Hause holt.
wenn es um Titel und Status geht. Für Moskau ist die Festnahme der bei-
Während dem niederländischen Au- den langwierig ausgebildeten Agenten
ßenministerium die Nebentätigkeit sei- nicht der einzige herbe Verlust in letzter
nes Beamten offenbar verborgen blieb, Zeit. Seit im Jahr 2000 der SWR-Agent
kamen die deutschen Behörden nach ei- Sergej Tretjakow alias „Kamerad J“ zu
nem Hinweis aus Österreich den An- den USA übergelaufen war, gingen den
schlags auf die Schliche. Dass die Ent- Abwehrbehörden im Westen eine Reihe
tarnung drohte, bekamen allerdings auch russischer Agenten und ihre Zuträger ins
die Russen mit und ordneten den Rück- Netz. Dazu gehört Herman Simm, Chef
zug des Paares an. Zuvor sollte es die der Nationalen Sicherheitsbehörde Est-
Satellitenanlage zerstückeln und in ein lands, der 2008 aufflog. Ein geheimer
tiefes Gewässer werfen. Die Agenten be- Nato-Bericht bezeichnet ihn als den
gannen mit der Fluchtvorbereitung, doch „schädlichsten Spion in der Geschichte
in der Nacht des 17. Oktober schlugen der Allianz“. Weltweit für Schlagzeilen
die Deutschen zu. Sie ergriffen Andreas sorgte auch die elfköpfige Gruppe um
Anschlag in seiner Zweitwohnung und Anna Chapman, die im Juni 2010 enttarnt
nahmen ihm den Schlüssel des Hauses wurde.
in Michelbach ab. Mit ihm öffnete ein Die Fahndungserfolge sind oft auf
Kommando der GSG 9 am frühen Mor- Überläufer aus den russischen Reihen zu-
gen die Haustür und schlich die Treppe rückzuführen. Der Mann, der Chapman
hinauf. Im Obergeschoss ertappten sie und Co. verriet, wies die Behörden auch
Heidrun Anschlag, als sie mit Moskau auf die Verwendung lateinamerikanischer
funkte. Sie fiel vor Schreck vom Stuhl. Legenden hin – wie im Fall des Ehepaars
Sie sei „nur für das Technische zustän- Anschlag aus Michelbach. Als dessen Ver-
dig“, entfuhr es ihr. teidiger vorige Woche vor Gericht das
Nach anfänglichem Leugnen schwieg Bild zweier Familienmenschen zeichnete,
sie wie ihr Mann – bis zum vorigen Diens- die im treuen Dienst für ihr Vaterland in
tag. Da gestanden beide über ihre Anwäl- ständiger Furcht vor Enttarnung lebten,
te immerhin das Offensichtliche ein: dass rang Heidrun Anschlag mit den Tränen.
sie Spione im Auftrag Moskaus waren. Immer wieder griff sie zu ihrem Taschen-
Auch die Russen haben dies unlängst ein- tuch, putzte sich die Nase. Den Worten
geräumt: Rachmanin, der Geheimdienst-
vertreter an der Botschaft, wollte sein

KONSTANTIN CHALABOV / PICTURE ALLIANCE / DPA


Agentenpaar im Gefängnis besuchen.
Den Verteidigern geht es nun nicht
mehr um die Frage, ob ihre Mandanten
schuldig sind, sondern nur noch darum,
wie lange diese ins Gefängnis müssen.
Andreas Anschlags Anwalt Horst-Dieter
Pötschke widersprach vor allem einer
Behauptung der Bundesanwaltschaft: Es
treffe nicht zu, dass sein Mandant die
Übernachtungskosten für ein Treffen mit
der Quelle Poeteray in Höhe von 83 Euro Ex-Spionin Chapman auf einer Messe 2011
sowohl dem SWR als auch seinem offi- Weltweite Schlagzeilen
ziellen Arbeitgeber in Rechnung gestellt
habe. „Das stellt ihn als trickreich und ihrer Anwälte wollte sie nichts hinzufü-
gierig dar, was er nicht ist“, sagte Pötsch- gen. „Es ist alles gesagt“, hauchte sie.
ke. Sein Mandant empfinde eine solche Das allerdings gilt nur für diesen Pro-
Behauptung als „diskriminierend“. zess. Die Wahrscheinlichkeit, dass „Pit“
Die deutsche Regierung möchte An- und „Tina“ nicht die letzten von Moskau
dreas und Heidrun Anschlag nach der Ur- geführten Agenten in Deutschland sind,
teilsverkündung gegen einen ehemaligen ist groß. Die Ermittlungen in Österreich
Obersten des russischen Inlandsgeheim- ergaben Hinweise auf Spione, die sich
dienstes FSB austauschen; Walerij Michai- freilich wieder abgesetzt haben könnten.
low hatte für die CIA spioniert. Nach der Und der Agentenfunk, ausgerichtet auf
Festnahme der Anschlags trug eine US- Westeuropa, geht weiter. Auch deswegen
Delegation im Kanzleramt den Wunsch nehmen die Sicherheitsbehörden an, dass
nach einem Deal vor. Die Bundesregie- noch eine zweistellige Zahl russischer
rung würde den Amerikanern gern den Spione unerkannt von deutschem Boden
Gefallen tun, zusätzlich jedoch die Frei- aus agiert. FIDELIUS SCHMID, HOLGER STARK
30 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
geführt werden. Auch die Eröffnung neu- doch davon ist mittlerweile nichts mehr
EU er Verhandlungskapitel mit dem Beitritts- zu hören. Selbst Christdemokraten in
kandidaten Türkei wurde vergangene Merkels Europäischer Volkspartei reagie-

Immer Ärger Woche auf deutsches Betreiben verscho-


ben. „Das ist nichts, was Gegenstand
kurzfristiger Launen sein sollte“, kriti-
ren enttäuscht. „Man darf die Reformen
nicht nur dann ansprechen, wenn die Kri-
se auf ihrem Höhepunkt ist, sondern man

mit Angela sierte Schwedens Außenminister Carl


Bildt.
Vertagen, verweigern, verwässern – so
nehmen die EU-Partner wenige Monate
muss sie konsequent in die Tat umset-
zen“, sagt der österreichische Vizekanzler
Michael Spindelegger.
Auch die Alpenrepublik befindet sich
Die EU-Partner werfen Kanzlerin
Merkel vor, auf Kosten vor der Bundestagswahl die deutsche im Wahlkampf, der Anteil der EU-Geg-
Europapolitik wahr. So torpedierte das ner unter den Wählern ist deutlich größer
Europas Wahlkampf zu betreiben. Kanzleramt in der vergangenen Woche als in Deutschland, trotzdem scheut sich
Selbst Parteifreunde fordern, einen mühsam ausgehandelten Kompro- der Vorsitzende der christdemokratischen
mehr Macht an Brüssel abzugeben. miss zu neuen Schadstoffgrenzwerten für ÖVP nicht, mehr Macht für Brüssel zu
die Automobilindustrie. Weil die von den fordern. „Die EU-Kommission ist für uns

D
ie Außenminister der EU mussten EU-Botschaftern getroffene Entscheidung der Motor, daher gehört ihre Kompetenz
sich am vergangenen Dienstag besonders Hersteller spritfressender Li- gestärkt“, sagt Spindelegger.
sichtlich zusammenreißen, als dermousinen wie Daimler oder BMW belas- Merkel dagegen hatte es jüngst im
deutsche Kollege das Wort ergriff. Guido tet, intervenierte die Kanzlerin kurz vor SPIEGEL-Gespräch abgelehnt, „noch
Westerwelle wandte sich dagegen, noch dem Brüsseler Gipfel persönlich bei Enda mehr Rechte an Brüssel abzugeben“ und
in diesem Jahr Verhandlungen den Kommissionspräsidenten
mit Serbien über einen EU- direkt zu wählen (SPIEGEL
Beitritt aufzunehmen. Etwas 23/2013). Eine Position, für
anderes sei mit dem Deut- die ihr österreichischer Par-
schen Bundestag nicht zu ma- teifreund kein Verständnis
chen, erklärte der FDP-Poli- hat. Eine Direktwahl würde
tiker und plädierte für einen Europa „ein Gesicht geben
Termin im Januar 2014. und etwas gegen die Entfrem-
Außerdem sollten, anders dung vieler Bürger von der
als üblich, die Staats- und Re- EU tun“, sagt Spindelegger.
gierungschefs das Thema über- Der Kanzlerin wird auch
nehmen. Dem Luxemburger vorgeworfen, in der Krise zu
Außenminister Jean Assel- viele Entscheidungen auf die
born platzte schließlich der Chefebene gezogen zu haben –
Kragen. „Wir sind doch nicht mit fatalen Folgen. So hatte
die Afrikanische Union“, Merkel mit dem damaligen
schimpfte er, „dann können französischen Präsidenten Ni-
wir ja gleich schreiben, der colas Sarkozy verabredet, die
Bundestag möge entscheiden.“ privaten Gläubiger an der
Die anderen Außenminister Griechenland-Rettung zu be-
grummelten zustimmend. teiligen. Die Märkte reagierten
Der Streit steht symptoma- nervös, der Kurs des Euro fiel
tisch für das Verhältnis zwi- bald darauf.
schen Berlin und den EU-Part- Vor dem jüngsten Gipfel hat-
nern. In Brüssel und den an- ten Berlin und Paris wieder ein
deren Hauptstädten wächst gemeinsames Papier vorgelegt,
der Unmut über den neuen zum Unwillen ihrer Partner.
Anti-Europa-Kurs, den die „Oft haben Deutschland und
Bundesregierung im Wahl- Frankreich vor Gipfeln ver-
kampf eingeschlagen hat. sucht, den anderen eine Rich-
„Noch nie hat eine nationale tung vorzugeben“, sagt Öster-
Wahl die Europapolitik so do- reichs Außenminister Spin-
miniert“, sagt ein hochrangi- delegger. „Das stößt bei vielen
JOHN THYS / AFP

ger Kommissionsbeamter. sauer auf.“


Auch beim Gipfel der Entsprechend ereignisarm
Staats- und Regierungschefs verlief der EU-Gipfel am ver-
Ende vergangener Woche in Politikerin Merkel: Entscheidungen mit fatalen Folgen gangenen Donnerstag. Selbst
Brüssel wurde Merkel mit langjährige EU-Diplomaten
dem Vorwurf konfrontiert. „Ich kenne Kenny, dem Ministerpräsidenten Irlands, vermochten nicht zu erklären, warum
keine einzige Entscheidung in Europa, das bis vergangene Woche die EU-Rats- sich die Staats- und Regierungschefs in
die durch den Tatbestand, dass wir im präsidentschaft innehatte. Nun wird die Brüssel treffen mussten. „Die häufigen
September Wahlen haben, verändert Entscheidung noch einmal verschoben, Treffen tragen nicht dazu bei, dass die
oder aufgehalten wurde“, konterte die wohl bis nach der Bundestagswahl. Zuversicht in das europäische Projekt
CDU-Vorsitzende. Auch Merkels Absage an eine Reform wächst“, stichelt Spindelegger.
Das allerdings nimmt ihr kaum ein EU- der EU führen viele Partner auf den Bun- Genauso wenig, so ließe sich ergänzen,
Partner ab. Die Berliner Blockade der destagswahlkampf zurück. Noch im ver- wie Merkels jüngste Kehrtwende in der
Serbien-Gespräche ist nur eines von vie- gangenen Jahr hatte die Kanzlerin für Europapolitik. CHRISTOPH PAULY,
len Beispielen, die gegen Merkel ins Feld „mehr Europa, nicht weniger“ plädiert, CHRISTOPH SCHULT

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 31
Verladung einer Panzerhaubitze in Masar-i-Scharif

A F G H A N I S TA N

Ein deutscher Rückzug


Beim Abzug aus Kunduz steht die Bundeswehr vor schwierigen
Fragen: Was darf zurückgelassen, was muss gesprengt werden?
BUNDESWEHR

B
loß keine Mauern mehr. Zumindest Gegenzug gehen sie dann respektvoll mit „Wenn wir das machen, machen wir das
keine, die Menschen trennen. Jörg dem deutschen Inventar um – hoffentlich. richtig, und zwar nach deutschen Richt-
Köhn hat bei der Nationalen Volks- Wenn die Deutschen Kunduz verlassen, linien“, sagt Behr. Die Wände sind lind-
armee der DDR gedient, seitdem ist er solle es danach nicht aussehen „wie in grün gestrichen, Türen öffnen sich auf
mit dem Thema durch. Doch nun hat es Wallensteins Lager“, sagt ein Offizier. Es Knopfdruck, die Temperatur ist auf frische
ihn erwischt. Köhn soll die Mauer zwi- ist ein hehres Ziel und allemal die 200 000 18 Grad Celsius gekühlt. Die modernen
schen Frankfurt und Hannover bauen, Euro Baukosten für die neue Mauer wert, Leuchten an den Teleskopträgern funk-
ausgerechnet er. findet man bei der Bundeswehr. tionieren tadellos, im Intensivraum und
Der Oberstleutnant aus Sachsen steht Dabei ist Köhns Bauwerk noch ver- in beiden Operationssälen. Das Ganze hat
auf einem Turm und beschreibt den Zick- gleichsweise günstig. Am Nordrand der etwa sechs Millionen Euro gekostet.
zackkurs der Demarkationslinie, die mit- Kaserne wurde schon eine Million Euro Zwei Jahre lang wurde in der Bundes-
ten durch das Lager führen soll. 800 Meter für eine neue Umfriedung verbuddelt, regierung gestritten. Sollte man so viel
lang und 3 Meter hoch wird die Mauer, eine weitere Million soll in Wege und Ent- Geld ausgeben für den Ausbau des Laza-
die die Wohnblöcke „Frankfurt“ und wässerung vergraben werden. Auf den retts, obwohl doch schon feststand, dass
„Hannover“ trennen wird. „So viele Zie- letzten Metern investiert die Bundeswehr man das Feldlager schließen würde? Das
gel müssen erst mal gebrannt werden“, in Kunduz gewaltige Summen. Manches Verteidigungsministerium bestand darauf,
sagt Köhn. Der Offizier ist bei der Bun- ist nötig, etliches übertrieben, einiges der wegen der Sicherheit der Soldaten.
deswehr im nordafghanischen Kunduz für reine Wahnsinn. Irgendwann war es dann zu spät, das
die Bauangelegenheiten zuständig. Die Af- Das Lazarett zum Beispiel. Oberfeld- Projekt zu stoppen, weil Vertragsstrafen
ghanen haben sich die Mauer gewünscht, arzt Oliver Behr kann sich noch gut an gedroht hätten. „Das System wird nicht
damit sie die Kaserne nutzen können, den 28. Mai 2011 erinnern. Da erfuhr der ans Netz gehen“, sagt Behr resigniert. Al-
wenn die Deutschen bis Ende Oktober ab- Leiter der Krankenstation in Kunduz, les ist fertig, alles ist perfekt, aber es ist zu
gerückt sind. Das Quartier soll getrennt dass in Talokan ein Anschlag auf deut- spät. Das Lazarett wird nicht eröffnet wer-
werden in einen Teil für die afghanische sche Soldaten verübt worden war. Zwei den, und ob die Afghanen es brauchen,
Armee und einen zweiten für die Polizei. Männer starben, ständig wurden neue ist zweifelhaft. Denn in Kunduz wird ge-
Fragt sich, warum die Bundeswehr die Verletzte nach Kunduz geflogen, am rade das örtliche Krankenhaus moderni-
Mauer bauen soll, denn mit Mauern ken- Abend waren es 17, darunter der Kom- siert – mit Hilfe des Auswärtigen Amts.
nen sich die Afghanen aus. Die meisten mandeur des Regionalkommandos Nord, Hinter Behr an der Pinnwand hängt
ihrer Wohnhäuser sind von hohen Mau- Generalmajor Markus Kneip. ein Foto von DDR-Staatsratschef Walter
ern umgeben, aber warum selbst bauen, Behr wusste kaum noch, wie er die vie- Ulbricht, darunter steht der Satz: „Nie-
wenn es die Deutschen machen? len Verwundeten versorgen und operie- mand hat die Absicht, in Kunduz eine
Köhn hat noch andere Aufgaben. Auf ren sollte. Nach Talokan fiel die Entschei- Mauer zu errichten“. Die Mauer, der OP-
Wunsch der Afghanen schließt er mit sei- dung, das Lazarett auszubauen. „Das war Trakt – manchmal können auch die Sol-
nen Leuten die Kaserne ans Stromnetz damals bitter nötig“, sagt er. daten nicht mehr alles ernst nehmen.
der Stadt an, er baut die moderne Feld- Heute ist Behr wieder in Kunduz auf In den nächsten Wochen muss die Trup-
küche aus und errichtet stattdessen lan- Posten. Der neue OP-Trakt, den er da- pe Fahrzeuge, Material und Mobiliar, das
destypische Feuerstellen. Dann muss er mals gebraucht hätte, ist jetzt fertig. Der sich in über zehn Jahren Afghanistan-Ein-
die Abwassersysteme für die afghanische Oberfeldarzt bittet die Besucher, die satz angesammelt hat, sortieren, verpa-
Armee und Polizei aufwendig trennen. Straßenschuhe in blaue Plastikhüllen zu cken und nach Deutschland verfrachten.
Die neuen Nutzer sollen sich schließlich stecken, der Neubau sei bereits sauber Es sind 5000 Kilometer Luftlinie nach
wohl fühlen in ihrem eigenen Land. Im an die Wehrverwaltung übergeben. Hause, und unterwegs durchläuft jeder
32 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Deutschland

Gefechtshelm, jeder Radpanzer, jedes terien sollen jetzt nach Hause, wo sie ord- len die letzten Einheiten das Feldlager in
Nachtsichtgerät die gleiche Prozedur. nungsgemäß entsorgt, zerlegt und recy- Kunduz räumen. Bis dahin rüstet die
In Kunduz wird das Gerät geprüft, ge- celt werden. „Wir sorgen dafür, dass wir Truppe auf das „operative Minimum“ ab,
zählt und verpackt. 13 Konvois sind nach alles nach deutschen Standards zurück- schrittweise wird in den letzten Wochen
Masar-i-Scharif gefahren, dem deutschen lassen“, sagt Brigadegeneral Michael Vet- das Lager abgebaut: Küche, Lazarett,
Hauptstützpunkt in Afghanistan, dazu et- ter, der den Rückzug organisiert. Feldpost, Kneipen. Am Ende gibt es nur
liche Lastwagen privater Spediteure. Billiger wäre es, Geräte zurückzulas- noch Epa, die bei den Soldaten berüch-
Von dort wird das meiste mit riesigen sen, die man nicht mehr braucht, aber tigten Einmannpackungen.
Antonow-Chartermaschinen nach Trab- das geht meist nicht. Aus ökologischen An einem geheim gehaltenen Tag be-
zon am Schwarzen Meer geflogen. In der Gründen nicht und wegen der Taliban ginnt der „Gefechtsmarsch“ nach Masar.
Türkei hat die Bundeswehr für den Abzug schon gar nicht. Kaum auszudenken, Ein langer Konvoi aus gepanzerten Fahr-
einen großen Umschlagplatz am Hafen wenn im Fernsehen gezeigt würde, wie zeugen, der sich auf die 280 Kilometer
eingerichtet; von dort geht es per Schiff die Islamisten nach einem deutschen lange Strecke begibt, gesichert von Heli-
nach Deutschland weiter. Militärisch sen- Rückzug auf Geländewagen vom Typ koptern aus der Luft. 90 Kilometer führen
sible Fracht wie die 50 Tonnen schweren „Wolf“ in Kunduz eindringen würden. durch den Baghlan-Korridor.
Panzerhaubitzen werden direkt nach Leip- Also verwenden die Bundeswehr-Lo- Das kann gefährlich werden. Gut mög-
zig geflogen. Die Bundeswehr rechnet mit gistiker einige Gründlichkeit darauf, ihr lich, dass die Taliban versuchen werden,
150 Millionen Euro allein für die Flugkos- altes militärisches Gerät zu entsorgen. Au- mit gezielten Angriffen einen letzten Pro-
ten bis Trabzon. tobleche werden in höchstens 80 mal 80 pagandaerfolg zu erzielen: den Eindruck
Das liegt auch daran, dass die Lager Zentimeter große Einzelteile gesägt, be- nämlich, dass die Bundeswehr fluchtartig
der Bundeswehr in Afghanistan zum vor sie an lokale Schrotthändler verkauft das Land verlässt.
Bersten voll sind. Jahrelang hat die Trup- werden. Das haben die Sicherheitsexper- Doch die deutschen Offiziere in Afgha-
pe in schönster Planwirtschaft gebunkert, ten vorgegeben. nistan beschwichtigen. „Wir rechnen nicht
was man nur bunkern konnte. Besonders schwierig war die Sache mit mit gezielten Angriffen“, sagt Brigade-
In Kunduz fanden die Soldaten bei der dem Tanklaster. Der war zu groß für die general Vetter. Einen Abzug unter Feuer,
Inventur sechs Schlauchboote im Maga- Säge. Die Militärs in Kunduz mussten län- der nach heilloser Flucht aussähe, werde
zin. In Masar-i-Scharif entdeckte man ger darüber nachdenken, was sie mit dem es „mit Sicherheit nicht“ geben, meint
einen Unimog mit Schneefräse, der of- olivgrünen Trumm anfangen sollten. Dann auch Oberst Thomas Schmidt, der die Si-
fenbar nie benutzt worden war. Im Mate- schossen sie das Fahrzeug mit der eigenen cherungszüge des Lagers kommandiert.
riallager stehen zahlreiche Paletten mit Artillerie in Stücke. So ist in Kunduz wie- Dabei warnen erfahrene Militärs seit
alten Autobatterien. der ein Tanklaster in die Luft gejagt wor- geraumer Zeit, solche Rückzüge seien so
Nebenan im Zelt türmen sich blaue Fäs- den. Hauptsache, gründlich und sicher. heikel, dass man eigentlich mehr Solda-
ser voller Haushaltsbatterien, alle sauber Nur wenn es um den Rückmarsch der ten brauche. Doch ausgerechnet in die-
gewogen und vermessen: 280 Tonnen, Truppe selbst geht, ist die Bundeswehr sem Punkt hat sich die Bundeswehr für
Luftfracht, wohlgemerkt. Denn die Bat- erstaunlich pragmatisch. Im Oktober wol- eine kostengünstige Variante entschieden.
Man sei schließlich nicht allein, beteu-
ern die Deutschen. Im Norden hätten
Berlin
HAUPTROUTE: knapp 50 000 Mann der afghanischen
85% der Bundeswehr- DEUTSCH- Streitkräfte die Kontrolle übernommen.
ausrüstung werden über LAND „Das ist eine richtige Armee, kein verlot-
Trabzon in der Türkei terter Haufen“, sagt Vetter, „die halten
abgewickelt; Dauer: NEBENROUTE LUFT:
ca. 3 Wochen Waffen werden direkt den Kopf für uns hin.“
nach Leipzig geflogen; Und alle beten, dass die Truppe nicht
Dauer: 13 Stunden am falschen Platz gespart hat. RALF BESTE

Schwarze NEBENROUTE NEBENROUTE STRASSE:


sM STRASSE / SCHIENE : über Tadschikistan,
ee
über Usbekistan; Kirgisien und Kasachstan;
r

Dauer: min. 35 Tage Dauer: ca. 30 Tage


Trabzon
TÜ RK E I USBEKISTAN KIRGISIEN

Mi
tt TADSCHIKISTAN
el HAUPTROUTE:
m
e bis zu 15 Transportflüge
e

pro Woche Masar-i- Kunduz


r

Scharif
Isaf-Regional-
Unternehmen insgesamt zu verladen:
Kabul kommando
Nord
4800 Container
Abzug 1200 Fahrzeuge
Routen aus Afghanistan,
Transportmittel AFGHANISTAN PAKISTAN
Schiff
NEBENROUTE
Flugzeug
STRASSE / SCHIFF:
Lkw/ Schiene über Pakistan;
Quelle: Bundeswehr Dauer: min. 8 Wochen

Karatschi
Deutschland

Jungen, auf einem winzigen Kindergar-


tenstühlchen sitzt. Ein freundlicher älte-
HESSEN rer Herr, der die Lesebrille ganz nach
vorn auf die Nasenspitze geschoben hat

Der Anti-Koch und aus einem Bilderbuch Sätze wie die-


sen vorliest: „Leider hab ich von Natur
eine komische Frisur.“
Der Auftritt erfüllte bei aller unfreiwil-
Im Alter von 61 Jahren muss Volker Bouffier im September erst- ligen Komik seinen Zweck: Bouffier gibt
mals eine Wahl als Ministerpräsident gewinnen. Der ewige den Anti-Koch. Seine Vorlesestimme
habe so einen „warmen, vollen Klang,
Kronprinz setzt auf die Attitüde des kumpeligen Landesvaters. ohne jede Schärfe“, schwärmte die „Süd-
deutsche Zeitung“ nach dem Kindergar-

E
s ist ein perfekter Wahlkampftag Früher, als Bouffier noch Innenminister ten-Termin. Der Regierungschef sei ein
für Volker Bouffier. Die Sonne in der Koch-Regierung war, hatte die Hes- „Landesvater vom alten Schlag“.
scheint, das Publikum ist in Feier- sen-CDU ein einfaches Rezept für solche Auf diese Rolle hat Bouffier lange ge-
laune und die Altstadt von Weilburg an Lagen. Wenn es eng wurde, bemühte wartet. Gut drei Jahrzehnte ist es her, er
der Lahn voller Schultern, auf die der Mi- Koch regelmäßig eine Kampfrhetorik, die war Landesvorsitzender der Jungen Uni-
nisterpräsident gleich klopfen darf. er selbst um die Wortschöpfung „brutalst- on, da stahl ihm plötzlich ein sechs Jahre
Bouffier hat gerade den „Hessischen möglich“ bereichert hatte. Er setzte auf jüngerer Emporkömmling die Schau. Ro-
Familientag“ eröffnet. Er hat die Man- harte Schlagzeilen und derbe Kampagnen land Koch kämpfte sich an Bouffier vor-
schetten am blau-weiß gestreiften Hemd gegen kriminelle Ausländer oder politi- bei bis an die Spitze der Hessen-CDU.
lässig hochgeschlagen und ein T-Shirt des sche Gegner mit fremdländisch klingen- Der Ältere ordnete sich unter, wohl
Veranstalters übergezogen. Kaum von dem Namen wie Ypsilanti oder Al-Wazir. nicht klaglos, aber loyal. Bouffier, der als
der Bühne heruntergestiegen, nimmt er Das sorgsam gepflegte Image des kon- ewiger Kronprinz galt, nannte den Kon-
schon Tuchfühlung auf zum Volk. servativen Hardliners sicherte Koch über kurrenten später mal „unseren Anfüh-
Einer jungen Familie mit Kinderwagen viele Jahre die Macht, aber es nutzte sich rer“. Koch revanchierte sich, indem er
erzählt Bouffier, dass er ja „auch drei ab. Zuletzt, bei der Wahl 2009, glänzte seinen Parteifreund nie fallenließ. Bouf-
Kinder und zwei Omas“ habe. Einem Schwarz-Gelb in Hessen nur noch dank fier durfte im Amt bleiben, als er 1999,
Mann mit Pickelhaube, der sich als Mit- eines Ausnahmeergebnisses von 16,2 Pro- nach seiner Ernennung zum Innenminis-
glied der „Weilburger Bürgergarde“ vor- zent für den Juniorpartner FDP. Aber da- ter, gleich ein Ermittlungsverfahren we-
stellt, gibt Bouffier einen Klaps auf den von sind die hessischen Liberalen heute gen Parteiverrats am Hals hatte. Er muss-
Oberarm. Und einer Helferin am Stand etwa so weit entfernt wie Roland Koch te damals 8000 Mark Geldauflage zahlen,
der türkischen Gemeinde, die ein Kopf- vom Friedensnobelpreis. weil er in seinem früheren Beruf als
tuch trägt, tätschelt der Politiker gleich Rechtsanwalt in einem Scheidungsverfah-
mit zwei Händen die Schultern. ren beide Seiten beraten haben soll.
Die Frau berichtet, dass alle Gemein- Er liebt die weichen, Dass Bouffier die Rolle als Kronprinz
demitglieder fleißig mitarbeiteten. „Don- betulichen Auftritte, bei akzeptierte, lag auch daran, dass er Kochs
nerwetter“, lobt der Regierungschef, „das politische Fähigkeiten immer ein wenig
kriegen wir in der CDU nicht hin.“ denen gewinkt bewunderte: gnadenlos polarisieren und
So geht es ohne Pause, fast zweieinhalb zuspitzen, bis es pikst, ohne Rücksicht
Stunden lang, eine Dauerprozession der und gelächelt wird. auf Wunden und Verluste.
Kumpelhaftigkeit. Bouffier posiert mit „Ich habe einen anderen Stil“, sagt
Omas, lässt sich bei Turnübungen foto- Bouffier versucht es nun anders. Die Bouffier über sich. Seine Ausführungen
grafieren, klopft jeden ab, den seine kräf- einprägsamsten Schlagzeilen seiner Re- beginnen oft damit, dass er sich einen Zi-
tigen Hände erreichen. Es hätte durchaus gierungszeit drehten sich bisher eher um garillo anzündet, mit dem Rauch des ers-
ein unbeschwerter Tag für den Minister- kosmetische als politische Stilfragen. Vor ten Zugs ein gemütliches „Aaalso“ aus-
präsidenten sein können – wenn nur die eineinhalb Jahren räumte er beispielswei- stößt und Anekdoten mäandernd anein-
Lage endlich besser wäre, knapp drei Mo- se gegenüber „Bild“ ein, seine damals als anderreiht. Ein Ende ist häufig erst einige
nate vor der Landtagswahl in Hessen. „Manta-Matte“ bespöttelte Mittelschei- Zigarillos später absehbar, wenn der Ge-
Am 22. September muss sich Bouffier tel-Frisur auf Anraten seiner Frau auf ein sprächspartner von Tabakqualm und Re-
zum ersten Mal als Regierungschef einer jugendliches Blond getrimmt zu haben. defluss komplett eingenebelt ist.
Wahl stellen. Das Amt übernahm er Bald darauf wechselte er dann auf ein se- Gefürchtet sind die „Bürgersprechstun-
2010, nachdem sich sein Vorgänger Ro- riöseres Grau mit Seitenscheitel. den“, zu denen der Regierungschef alle
land Koch zu einem deutlich besser be- Der Christdemokrat aus Gießen liebt paar Wochen einlädt. Bei einer dieser
zahlten Job in der Wirtschaft verabschie- die weichen, betulichen Auftritte, bei de- Veranstaltungen im südhessischen Die-
det hatte. Koch hinterließ seinem Nach- nen gewinkt und gelächelt wird. Als kürz- burg erkundigte sich ein Mann arglos, ob
folger allerdings auch so viele Altlasten lich das niederländische Königspaar zu eine der geplanten großen Stromleitun-
und gebrochene Versprechen, dass Bouf- einem Besuch nach Hessen kam, nahm gen für die Energiewende auch an seinem
fiers Erfolgsaussichten im Moment ziem- er sich fast zwei Tage Zeit, um ja keinen Ort vorbeiführen werde. Bouffier antwor-
lich mau sind. öffentlichen Repräsentationstermin an tete nicht mit Ja oder Nein, sondern mit
In sieben Meinungsumfragen, die seit der Seite der Hoheiten zu verpassen. einem weitschweifigen Referat über Ener-
Beginn seiner Amtszeit veröffentlicht Oder er lässt sich, wie vor einigen Wo- giepolitik und den Atomausstieg an sich.
wurden, erlangte Bouffiers schwarz-gelbe chen, einen ganzen Tag lang zu Familien- Als er nach einer guten halben Stunde
Koalition noch nie eine Mehrheit. Auch einrichtungen und Kindergärten in Hes- Monolog zum Schluss kam, beruhigte
in der aktuellsten Repräsentativ-Befra- sen chauffieren, begleitet von Journalis- sein Regierungssprecher das Publikum
gung, die vor wenigen Wochen von der ten und Kamerateams. Im Internet gibt mit feiner Ironie. Das sei jetzt nur die
CDU selbst in Auftrag gegeben wurde, es Filme davon, die zeigen, wie Bouffier, Kurzfassung des Vortrags gewesen, sagte
liegt Rot-Grün vorn. umringt von aufgeweckten Mädchen und er, „ich kenne auch die Langfassung.“
34 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
immer wieder mal zu Wort, um vor der
Weltherrschaft des Islam zu warnen, Ho-
mosexuellen eine „Therapie“ nahezulegen
oder einem deutschen EU-Kommissar, der
für den EU-Beitritt der Türkei eintritt,
„Hochverrat“ vorzuwerfen.
Heute, in der Post-Koch-Zeit, will
Bouffier als verständnisvoller Patron
wahrgenommen werden. Kürzlich durfte
Bouffiers Justizminister Jörg-Uwe Hahn
(FDP) sogar eine hessische Gesetzes-
initiative vorstellen, die ein Adoptions-
recht für gleichgeschlechtliche Lebens-
partnerschaften ermöglichen soll. Der
CDU-Chef habe nicht interveniert, be-
teuert Hahn: „Er hat nur gesagt, das ist
deine Auffassung, Jörg-Uwe.“
Noch hält der starke konservative Flü-
gel der Hessen-Union weitgehend still.
Nur vereinzelt murren Abgeordnete in
vertraulichen Gesprächen, dass Bouffier
es nicht zu weit treiben dürfe mit seiner
Landesvater-Attitüde. Bei Roland Koch
sind sie noch keifend gegen „Windkraft-
monster“ in den Wahlkampf gezogen.
Und jetzt sollen sie es gutheißen, wenn
Bouffier die verhasste Fraktion der Linken
zu einem „Energiegipfel“ einlädt, um den
Ausbau der Öko-Energie abzusprechen?

MAURIZIO GAMBARINI / DPA


Nicht mal über Angela Merkel dürfen
die Konservativen noch offen lästern. Da-
bei gehörte die gepflegte Spitze gegen
die angeblich prinzipienfrei regierende
Kanzlerin zu Kochs Zeiten zum beliebten
Regierungschef Bouffier*: „Donnerwetter, das kriegen wir in der CDU nicht hin“ Selbstvergewisserungsritual der Partei-
rechten. Bouffier aber hat sich jetzt an
Mehr noch als unter mangelnder Sprit- zwölf Oberbürgermeistern in Hessen den Erfolg der CDU-Chefin gebunden –
zigkeit leidet Bouffiers Wahlkampf unter stellt die Union nur noch zwei. indem er den Landtagswahltermin auf
den vielen Altlasten, die ihm sein Vorgän- Hessens beliebtester Landespolitiker den 22. September legte, an dem auch
ger hinterlassen hat. Die Privatisierung ei- ist laut Umfragen nicht der Ministerprä- der Bundestag gewählt wird. „Bouffier
ner Uni-Klinik in Gießen und Marburg sident, sondern der Grünen-Fraktions- kriecht unter Muttis Rettungsschirm“, läs-
zum Beispiel mündete in einem Dauer- chef Tarek Al-Wazir. Selbst der SPD-Vor- terte der hessische SPD-Generalsekretär
streit zwischen Land, Personal und Kli- sitzende Thorsten Schäfer-Gümbel, der Michael Roth.
nikbetreiber. Der Bau eines Provinzflug- nach dem Scheitern seiner Vorgängerin Einige Unionsleute trösten sich damit,
hafens in Kassel-Calden wurde mit 271 Andrea Ypsilanti 2009 mit einer zugrunde dass dieser Landtagswahlkampf nicht nur
Millionen Euro Steuergeld nicht nur um gerichteten Landespartei starten musste, der erste unter Bouffiers Führung ist, son-
ein Mehrfaches teurer als geplant, sondern rückt Bouffier nahe. dern wohl auch der letzte. Selbst wenn
mangels Nachfrage auch zur Lachnummer. Mit einer Charmeoffensive allein, das Bouffier gewinne, sei ein Ende abzuse-
Auch an Kochs kühnen Einfall, das hat Bouffier erkannt, ist es da nicht getan. hen: Er müsse dann zügig einen frische-
Bundesland bis 2015 zum „staufreien Manche Hinterlassenschaft aus der Koch- ren, jüngeren Nachfolger aufbauen. Beim
Hessen“ zu machen, wollen Bouffiers Ära räumte er deshalb ab. Den Streit um SPD-Mann Kurt Beck im Nachbarland
Leute am liebsten nicht erinnert werden. die Verkürzung der Schulzeit bis zum Rheinland-Pfalz habe man ja gesehen,
Zu viele Regierungsmitglieder hängen Abitur auf acht Jahre etwa befriedete er wie schnell potentielle Nachfolger Druck
selbst fast täglich im Dauerstau rund ums pragmatisch: Bouffier stellte den Gym- machen könnten, um einen flotten Füh-
Frankfurter Kreuz fest. nasien frei, ob sie zum neunjährigen Sys- rungswechsel zu erzwingen.
Am stärksten aber wirkt der Wort- tem zurückkehren wollen. Bouffier will davon nichts wissen. Beim
bruch nach, mit dem Koch den Ausbau Überhaupt präsentiert sich der Mann Familienfest in Weilburg beißt er am Mit-
des Frankfurter Flughafens durchdrückte. aus Mittelhessen inzwischen viel liberaler, tag, etwas ermattet vom Schulterklopfen,
Das fest versprochene Nachtflugverbot als die konservativ geprägte Mitgliedschaft in eine mit Blutwurst belegte Weißbrot-
musste schließlich von den Gerichten ge- der Landes-CDU es von ihren Vorleuten schnitte: „Ich gehe selbstverständlich da-
gen die hessische Landesregierung durch- gewohnt ist. Früher musste Koch den „här- von aus, dass ich mein Amt über die kom-
gesetzt werden. Die Folgen sind drama- testen Strafvollzug Deutschlands“ ankün- plette Legislaturperiode ausüben werde“,
tisch für Bouffier: In Frankfurt haben digen, um die Rechtsausleger in der Partei sagt er – und schiebt einen kleinen Nach-
fluglärmgeplagte Anwohner aus bürger- zufriedenzustellen. Dazu zählen etwa satz hinterher. „Vorausgesetzt natürlich,
lichen Vierteln demonstrativ einen SPD- Landtagsfraktionschef Christean Wagner, die Gesundheit macht mit.“ Es sind fast
Oberbürgermeister gewählt. Von den der in Sorge um das Parteiprofil den „Ber- die gleichen Sätze, die auch Kurt Beck
liner Kreis“ in der CDU mitbegründete, gebetsmühlenartig aufsagte – bis kurz vor
* Auf einem roten Hessen-Löwen beim Hessenfest im und der Landtagsabgeordnete Hans-Jür- seiner Rücktrittsankündigung im vorigen
Juni in Berlin. gen Irmer aus Wetzlar. Der meldet sich Herbst. MATTHIAS BARTSCH

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Deutschland

Pflegerin R., Bewohnerin Westphal (Szenen aus heimlich gedrehtem Video): „Ich dachte, das bist nicht du selber, das muss jemand anderes

SENIOREN

„Nimm mal die Flossen weg“


Eine Altenpflegerin, die eine Heimbewohnerin misshandelt und beleidigt haben soll,
kommt jetzt vor Gericht. Die Söhne des Opfers hatten die Übergriffe
heimlich gefilmt. Die Pflegerin beteuert: „Ich will Menschen helfen.“ Von Bruno Schrep

I
ch liebe meinen Beruf“, sagt die Alten- dokumentiert wurden solche Horrorsze- im Kühlschrank, der Küchenherd bleibt
pflegerin Doreen R., „ich möchte nen nie. schon mal die ganze Nacht eingeschaltet,
nichts anderes tun.“ Wie konnte es zu den Übergriffen kom- und die früher stets blitzsaubere Woh-
Die 42-jährige Frau, groß, kräftig, kur- men? nung verschmutzt nach und nach. Der
ze Haare, sitzt im T-Shirt auf einem Sessel Im Bremer Seniorenzentrum Forum Umzug ins Heim wird unausweichlich. Im
in ihrem Wohnzimmer und streichelt den Ellener Hof, idyllisch gelegen im grünen Ellener Hof, versichert die Heimleitung
Kater auf ihrem Schoß, neben ihr liegt Stadtteil Osterholz, ist die Heimleitung den Angehörigen, sei die Mutter bestens
ein brauner Stoffbär. Die Orchideen, die heilfroh, als sich im Sommer 2011 eine aufgehoben.
auf den ersten Blick echt aussehen, sind gestandene Altenpflegerin mit Examen Anfangs gibt es auch nichts zu rekla-
aus Plastik. Ein Sofakissen trägt die Auf- bewirbt. Zwar fehlen ein paar Zeugnisse, mieren. Meta Westphal findet Freundin-
schrift: „Wenn Du bei mir bist, fühle ich auch der Lebenslauf weist Lücken auf, nen, traut sich mit dem Rollator aus dem
mich himmlisch“. aber die Not ist groß. Fachkräfte sind rar, Zimmer, Pflegerinnen führen sie in den
Doreen R. erzählt von ihrer Art, mit und die Frau macht einen guten Eindruck. Speisesaal. Auch als sie nicht mehr auf-
alten Menschen umzugehen. Sie sei zwar Doreen R. wird engagiert, zunächst be- stehen mag, stattdessen auch tagsüber im
manchmal etwas forsch und laut, aber im- fristet für ein Jahr. Bett bleibt, lobt die Seniorin die Betreu-
mer herzlich, nie böse. Ihre Meinung sage In Zimmer 212 lebt seit Anfang 2010 ung. „Die Schwestern sind so lieb.“
sie stets offen und geradeaus, das fänden die pflegebedürftige Meta Westphal. Die Das ändert sich Ende 2011. Gegenüber
die Senioren prima. „So bin ich nun mal.“ inzwischen 85-Jährige, Mutter zweier Söh- den Söhnen, die sie abwechselnd fast je-
Das ist das Bild, das Doreen R. von ne und zweier Töchter, ist nach einem Le- den Tag besuchen, klagt die Mutter über
sich selbst zeichnet. Doch es gibt andere ben mit vielen Hindernissen und Entbeh- Misshandlungen. „Die haut mich immer“,
Bilder von ihr, heimlich aufgenommen rungen hinfällig und schwach. Nach dem beschwert sie sich oft, „auch gegen den
mit einer Videokamera. Zu sehen und zu Krieg musste sie aus dem Osten fliehen, Kopf.“ – „Wer denn, Mutter, wer?“ –
hören ist, dass die Pflegerin eine hilflose zunächst in die DDR, später in den Wes- „Schwester Doreen.“
Heimbewohnerin behandelt wie einen ten, ins Münsterland. Sie zog die vier Kin- Die Söhne sind skeptisch. Sie wissen,
Feind: sie roh anpackt, sie duzt und be- der auf, ging trotz einer Knochenkrank- dass die Mutter Menschen häufig nicht
leidigt. Ein Gruselfilm. heit nebenbei putzen, stellte eigene Wün- wiedererkennt, Namen und Ereignisse
Dass sich solche Exzesse hinter ver- sche immer zurück. „Sie lebte nur für die verwechselt, mehr und mehr in der Ver-
schlossenen Heimtüren abspielen, wird Familie“, erinnert sich Sohn Detlef. gangenheit lebt. Quälen sie womöglich
oft vermutet. Aber es ist fast nie zu be- Als ihr Mann stirbt, die Ehe dauerte Erinnerungen an ihre Kindheit, geprägt
weisen, die Dunkelziffer ist hoch. Nur 58 Jahre, ist auch sie mit ihren Kräften vom prügelnden Vater und dem Über-
wenn Kollegen das Gewissen drückt und am Ende. Sie kann kaum noch laufen, lebenskampf mit acht Geschwistern?
sie sich zur Zeugenaussage entschließen, das Gedächtnis funktioniert nicht mehr Kommen traumatische Erlebnisse aus der
werden die Vorfälle offenbar. Mit Bildern richtig. Die Söhne finden den Handbesen Kriegszeit hoch?
36 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
gewesen sein“

Die Pflegerin, von den Söhnen zur Das sei im Westen, wohin sie 2007 wegen Manchmal überkommt sie Wut: auf die
Rede gestellt, findet beruhigende Worte. einer Internetbekanntschaft umzog, ganz schlechten Arbeitsbedingungen, auf ihre
„Ihre Mutter schläft die meiste Zeit“, anders. Hier herrsche oft ein übersteiger- zerbrochenen Beziehungen, auf den Är-
erklärt sie, „dabei träumt sie oft ganz tes Anspruchsdenken nach dem Motto: ger mit den pubertierenden Kindern. Und
schlecht.“ „Ich bezahle Sie ja dafür.“ nicht immer gelingt es ihr, diese Wut zu
Niemand im Heim weiß, dass Doreen Sie dagegen habe gelernt, die Men- unterdrücken.
R. schon früher mit ähnlichen Vorwürfen schen nicht in Watte zu packen. Ihr Prin- Es kommt zu Abmahnungen und vor-
konfrontiert wurde. Die Neue aus dem zip sei Hilfe zur Selbsthilfe. „Wenn sich zeitigen Entlassungen. Beanstandet wird
sächsischen Hoyerswerda redet wenig jemand noch selbst waschen kann, unter- meist das Gleiche: lautes, oft respektloses
über ihre Vergangenheit. Dabei gäbe es stütze ich ihn dabei. Wenn sich jemand Auftreten, heftige Beschimpfung von Be-
viel zu berichten. noch selbst die Schnürsenkel zubinden wohnern, vereinzelt auch Verdacht auf
Wie bei so vielen Ostdeutschen hat die kann, ermuntere ich ihn, sich nicht auf Gewalt. Eine Vorgesetzte beschreibt Do-
Wende ihr Leben mit einem Schlag ver- meine Hilfe zu verlassen.“ Mit dieser Hal- reen R. als „schwierige und uneinsichtige
ändert. Die Ausbildung zur Maschinistin tung ecke sie oft an. In vielen Heimen Person“, die sich von der Welt benach-
im Gaskombinat Schwarze Pumpe ist gehe es schon aus Zeitmangel nur um die teiligt fühle und Verfehlungen stets zu
nach 1989 nichts mehr wert. Das Werk, berühmten „drei s“: sauber, satt, still. rechtfertigen versuche. Eine Heimleiterin
längst marode und unrentabel, wird still- Doreen R. hält es im Westen nirgends urteilt kurz und bündig: „Für die Pflege
gelegt, später neu gebaut. Doreen R., die lange aus, wechselt häufig den Arbeits- nicht geeignet.“
im Leitstand die Instrumente kontrollierte, platz. Jobbt mal in Linz am Rhein, mal in Auch in Bremen häufen sich bald nach
sieben Tage Nachtdienst, drei Tage frei, Diez an der Lahn, wechselt nach Limburg, Dienstantritt der Neuen die Beschwerden.
wird arbeitslos, lebt fortan von Sozialhilfe. pflegt in Katzenelnbogen. Überall fällt Mehrere Bewohner im Ellener Hof fühlen
Die junge Frau bekommt kurz hinter- auf, dass es ihr nach kurzer, meist ge- sich eingeschüchtert vom ruppigen Um-
einander ein Mädchen und einen Jungen, glückter Anfangsphase schnell an Geduld, gangston der Pflegerin, die Demente
die Väter lassen sie im Stich. Als der an Einfühlungsvermögen und manchmal grundsätzlich duzt, manche auf der Sta-
Nachwuchs in Kindergärten unterkommt, auch an Mitleid mangelt. tion haben sogar Angst. Die Tochter einer
muss sich die gelernte Maschinistin einen „Ich wollte alles richtig machen“, be- Russlanddeutschen beschuldigt Doreen
neuen Job suchen. Aber was? schreibt sie diese Phase im Rückblick. R., ihre Mutter geschlagen und gekniffen
Die Idee, alte Menschen zu versorgen, Doch der ständige Stress, ausgelöst durch zu haben, sie erstattet Strafanzeige. Die
sei ihr nach dem Siechtum ihrer Oma Personalmangel, zu viele Sonderschich- Pflegerin bestreitet die Vorwürfe, das
gekommen, erzählt Doreen R. „Diesen ten und viel zu wenig Freizeit, habe sie Verfahren wird eingestellt. Immerhin: Die
Entschluss habe ich nie bereut.“ Nach zermürbt und überfordert. „Das Leben Verwandten der Frau erreichen, dass
einem sozialen Jahr finanziert ihr das bestand nur noch aus Arbeiten, Essen Doreen R. den betreffenden Raum nicht
Arbeitsamt um die Jahrtausendwende die und Schlafen.“ mehr allein betreten darf.
Umschulung. In der Praxis kommt sie Die Angehörigen von Meta Westphal
spielend zurecht, sie ist kräftig, kann erfahren davon kein Wort, die Heimlei-
richtig zupacken, Patienten problemlos tung sorgt dafür, dass nichts nach außen
CARMEN JASPERSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA

hochwuchten und versorgen. Die münd- dringt. „Wir waren blind, niemand gab
liche Prüfung, in der viele Fragen zum uns einen Tipp“, empört sich Andreas
psychologischen Umgang gestellt werden, Westphal heute. Weil sich die Mutter wei-
schafft sie gerade noch mit der Note „aus- ter über Prügel beschwert, sogar weinend
reichend“. um Hilfe fleht, entschließen sich die Söh-
Einige Jahre jobbt sie in Hoyerswerda ne nach langem Zögern zu einem unge-
und Umgebung, springt häufig als Vertre- wöhnlichen Schritt.
tung ein, schwärmt bis heute von den An einem Juniabend, kurz bevor ihre
dankbaren Alten dort. „Es ist eine einfa- Mutter bettfertig gemacht wird, instal-
che Region mit einfachen Leuten“, erklärt Heim Forum Ellener Hof in Bremen lieren sie in Zimmer 212 eine versteckte
sie, „die Menschen sind sehr genügsam.“ „Nur noch arbeiten, essen und schlafen“ Kamera. Als sie sich am nächsten Tag die
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 37
Deutschland

Aufnahmen ansehen, packt sie der Zorn. Kamera gewesen, mittlerweile habe sie
Die Kamera hat ein schwer erträgliches sogar Verständnis: „Die hatten ja recht.“
Geschehen festgehalten. Die Staatsanwaltschaft klagte Doreen
Pflegerin R. betritt grußlos und mit R. wegen Misshandlung von Schutzbefoh-
grimmigem Gesicht den Raum. Dann lenen an, doch das Bremer Amtsgericht
zieht sie Meta Westphal mit groben Be- eröffnete das Verfahren lediglich wegen
wegungen den Pullover über den Kopf, einfacher Körperverletzung. Der Grund:
streift ihr später ebenso grob das Nacht- Die schärfere Strafvorschrift setzt eine
hemd über, zieht sie an der Unterhose „gefühllose, fremdes Leiden missachtende
unsanft übers Bett. Weil ihr die Patientin Gesinnung“ voraus – und eine solche Ge-
mit den Händen in die Quere kommt, sinnung mochte das Gericht der Beschul-
herrscht R. sie an: „Nimm doch mal die digten nicht unterstellen, auch wegen der
Flossen weg.“ Kürze des Übergriffs.
Als die gebrechliche Frau, die noch 45 Jennifer Jakobi, die Bremer Verteidige-
Kilogramm wiegt, kraftlos nach hinten rin der Pflegerin, bezweifelt indessen, dass
sinkt, wird sie von der Pflegerin an den einmaliges Haareziehen tatsächlich eine
Haaren gepackt und mit einem heftigen Körperverletzung darstelle. „Da kann man
Ruck nach vorn gerissen. Und als sie sich sehr verschiedener Meinung sein.“ Die Vor-
beschwert („Sie hauen mich jedes Mal“), gänge auf dem Video seien zwar schreck-
hagelt es Verwünschungen. lich, ohne Wenn und Aber. „Doch sind sie
„Ich hab Ihnen doch gar nichts getan“, auch strafbar?“ Und schließlich handle es
jammert die Bewohnerin leise. Antwort: sich um einen einmaligen Ausrutscher.
„Du sollst doch mal die Klappe halten. Die Anwältin will verhindern, dass der
Ist ja ganz schlimm heute.“ Zum Schluss Film bei der Hauptverhandlung als Be-
fasst die Schwester ihrer Patientin mit weismittel zugelassen und vorgeführt
der flachen Hand an die Stirn und beför- wird. Es handle sich um illegal entstan-
dene Aufnahmen, die Belange ihrer Man-
dantin seien grob missachtet worden. Ob
„Wir kämpfen darum, die Juristin damit Erfolg hat, ist fraglich.
dass diese Frau Bei der Abwägung zwischen der Auf-
klärung von Gesetzesverstößen und den
nie mehr alte Menschen Rechten am eigenen Bild entschieden Ge-
richte in der Vergangenheit meistens pro
betreuen darf.“ Strafverfolgung. Mit anderen Worten:
Der Zweck heiligte die Mittel.
dert sie mit einem Stoß in die Rücken- Im Prozess, der noch im Sommer statt-
lage. finden soll, droht Doreen R. nicht nur
Der Film löst vielfältige Reaktionen eine Geldstrafe oder Haft, sondern auch
aus. Eine Tochter von Meta Westphal die Verhängung eines Berufsverbots –
bricht zusammen, nachdem sie sich das eine Sanktion, die ihre Verteidigerin
Video angesehen hat, sie kommt mit unbedingt abwenden möchte. Was nicht
einem Schock ins Krankenhaus. Die ganz einfach werden dürfte: Die Söhne
Söhne zeigen Doreen R. an, engagieren von Meta Westphal und ihr Anwalt haben
einen Anwalt für die Nebenklage. Der ein Berufsverbot zum Hauptziel der Ne-
Heimleiter, dem die Familie die Auf- benklage erklärt. „Uns interessiert nicht
nahmen vorspielt, feuert seine Angestell- die Strafhöhe“, sagt Andreas Westphal.
te fristlos. „Wir kämpfen darum, dass diese Frau nie
Doreen R., die das Video bei der Poli- mehr alte Menschen betreuen darf.“
zei sieht, reagiert entsetzt. „Ich dachte, Doch Doreen R., die nach ihrem Raus-
das bist nicht du selber“, erinnert sie sich, schmiss mehrere Monate am Fließband
„das muss jemand anderes sein.“ einer Tierfutterfabrik gestanden hatte, zu-
Entschuldigen könne sie ihr Verhalten letzt Nachtdienste an der Kasse einer
nicht, nur erklären. Am fraglichen Tag Tankstelle schob, will nicht aufgeben. Seit
sei privat und dienstlich alles schiefgelau- kurzem hat sie wieder einen Job in einem
fen: Ihr Sohn habe seine Ausbildung ge- Pflegeheim. Diesmal, versichert sie, sei
schmissen, Kolleginnen hätten sich mit alles anders: genug Personal, ein nette
ihr gestritten, der Rüffel einer Vorgesetz- Chefin, die Schwestern eine verschwore-
ten sei völlig ungerecht gewesen. Und ne Gemeinschaft. Alles werde gut.
nach zehn Nachtschichten hintereinander „Warum tust du dir das bloß wieder an,
habe sie über keinerlei Reserven mehr nach all dem Ärger, nach all dem Stress?“,
verfügt, zudem auch noch gebangt, ob habe ihr Lebensgefährte kürzlich von ihr
ihr Arbeitsvertrag verlängert werde. wissen wollen. Ihre Antwort: „Weil ich
„Ich hätte nie in dieses Zimmer gehen Menschen helfen will.“
dürfen“, sagt sie inzwischen, „ich habe
mich überschätzt, meine Grenzen nicht
erkannt. Heute würde ich mich in so ei- Video: Ausschnitt aus dem
nem Zustand krankschreiben lassen.“ Beweisvideo
Kurz nach dem Vorfall sei sie noch voller spiegel.de/app272013altenheim
Zorn auf die Söhne Westphal mit ihrer oder in der App DER SPIEGEL

38 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Einschussloch in einer Autotür
100 Fahnder arbeiteten an dem Fall

dungsplakate drucken und lobten eine


Belohnung aus. Zeitweise schickte die
Polizei sogar einen Lastwagen voller
Überwachungselektronik auf die Auto-
bahn. Nichts half.
Als der Täter vor einem Jahr vom klei-
nen Kaliber .22 auf stärkere 9 Millimeter
umstieg, fürchteten die Ermittler, dass es
zu Todesopfern kommen könnte. Ein sol-

FREDRIK VON ERICHSEN / DPA


ches Projektil, abgefeuert auf der A 61,
durchschlug nicht nur eine Lärmschutz-
wand aus Aluminium, sondern auch das
doppelverglaste Fenster eines dahinter-
liegenden Wohnhauses.
Im September vorigen Jahres wurde die
„Besondere Aufbauorganisation Transpor-
Als der erste Schuss bemerkt wurde, ter“ im BKA eingerichtet. Die betroffenen
K R I M I N A L I TÄT im Juli 2008, ahnte niemand, dass eine Länder schickten ihre Ermittler nach Wies-
Serie folgen sollte, wie es sie auf deut- baden, zeitweise arbeiteten hundert Fahn-

Der Frust schen Straßen noch nicht gegeben hat.


Der Unbekannte feuerte meistens im Süd-
westen der Republik, auf verschiedenen
der an dem Fall. Sie mieteten mehrere Ge-
räte, die Kennzeichen erfassen können.
Die Belohnung wurde auf 100 000 Euro er-

des Fahrers Autobahnen. Das BKA wertete die An-


schläge zentral aus. Doch sämtliche Ver-
suche, ein Muster oder Motiv zu erken-
höht. BKA-Präsident Ziercke trat – erst-
mals in seiner Amtszeit – in der Sendung
„Aktenzeichen XY“ auf.
Er schoss mindestens 762-mal nen, schlugen fehl. Aber: Lange fiel kein Schuss. Im März
auf Lastwagen und Die Ermittler verstärkten den Aufwand wurde dann auf geparkte Autos in Köln
entkam immer wieder – nach jenem 10. November 2009, an dem geballert. Doch da stand keines der ge-
vier Kugeln in den Lkw mit den Baucon- mieteten Geräte. Die ballistische Unter-
dann schnappte die Falle der tainern einschlugen. Denn an diesem Tag suchung ergab, dass die Kugeln aus einer
Ermittler zu. traf ein Projektil eine Autofahrerin bei der gesuchten Waffen stammten. Hatte
Würzburg in den Hals; sie überlebte der Täter seinen Modus Operandi gewech-

D
ie Ermittler versuchten, den Täter schwer verletzt. Eine Sonderkommission selt, schoss er nun auf parkende Autos?
zu verstehen. Warum hatte er aus- übernahm den Fall. Mitte April schlug der Schütze wieder
gerechnet auf diesen Lastwagen Der Tatort wurde vermessen, der wie früher zu, auf freier Strecke: drei Tref-
geschossen, der mit Baucontainern bela- Schusswinkel berechnet. Dann war klar: fer auf der A 61 bei Bad Neuenahr-Ahr-
den auf der A 3 unterwegs war? Die Kugel war von oben eingeschlagen, weiler. Die Ermittler werteten die Fahr-
Dessen Fahrer berichtete den Fahn- offenbar abgefeuert aus einem hohen tenschreiber der getroffenen Lkw aus und
dern, dass die PS seines Lastwagens für Fahrzeug im Gegenverkehr. Die Ermittler grenzten den Tatzeitraum ein. In den frag-
die schwere Fracht nicht gereicht hätten. ließen alle Handys feststellen, die zur Tat- lichen 18 Minuten hatten die Geräte die
An jeder Steigung habe er im Schnecken- zeit in der Umgebung eingebucht waren. Kennzeichen von 50 Lastwagen fotogra-
tempo fahren müssen und andere Lkw Weitere Erkenntnisse erhofften sie sich fiert. In den folgenden Tagen schoss der
ausgebremst, bergab dann volle Fahrt auf- von Mautdaten. Die Firma Toll Collect Unbekannte erneut. Immer von hinten,
genommen und die anderen überholt. kann mit rund 300 Anlagen die Kennzei- wenn er überholt wurde. Wieder wurden
Die Ermittler besahen sich die Einschüsse, chen vorbeifahrender Lkw erfassen. Die Kennzeichen ausgewertet.
links, rechts, hinten; der Täter hatte vier- Daten dürfen aber nicht genutzt werden, Als die Daten verglichen wurden, blieb
mal getroffen. Hatte da ein anderer Lkw- um Verbrechen aufzuklären; Toll Collect genau ein Kennzeichen übrig. Der Lkw
Fahrer die Nerven verloren und aus Ver- wies die Ermittler ab. gehört einer Spedition aus der Eifel. Er
ärgerung seine Waffe gezückt? Die Serie setzte sich fort. Mal pausierte war 2012 im Ruhrgebiet gestoppt worden,
Die vier Schüsse fielen im November der Schütze wochenlang, mal feuerte er weil der Fahrer gedrängelt hatte. Die
2009. Es sollten Hunderte hinzukom- Dutzende Schüsse an einem Tag ab. Die Fahnder kannten nun einen Namen: Mi-
men – und mehrere Jahre vergehen, bis Ermittler ließen mehr als tausend Fahn- cha K. Der Mann besaß ein Mobiltelefon.
das Bundeskriminalamt (BKA) in der vo- Die Ermittler hatten Glück, dass der Pro-
rigen Woche meldete: Der Mann, der in vider ausnahmsweise die Verbindungsda-
fünf Jahren mindestens 762-mal auf deut- ten 90 Tage lang aufbewahrte, nicht nur
schen Autobahnen geschossen hatte, wur- die üblichen 7 Tage. Das ergab ein nahezu
de festgenommen. Ein Lkw-Fahrer aus lückenloses Bewegungsprofil.
NORBERT SCHWARZOTT / MAIN-POST

Nordrhein-Westfalen, 57 Jahre alt, ver- Das Amtsgericht Würzburg stellte am


heiratet, geständig; der Täter handelte 21. Juni den Haftbefehl aus. Zwei Tage
aus „Ärger und Frust im Straßenverkehr“, später, am Sonntagmorgen um Viertel
sagte BKA-Präsident Jörg Ziercke. nach sechs, sprengte das Mobile Einsatz-
Aus Gesprächen mit Ermittlern lässt kommando des BKA die Wohnungstür
sich schließen, wie schwer sich diese bei des Verdächtigen auf und nahm ihn fest.
der Jagd auf den Serientäter taten. „Uns Der sagte in seiner ersten Vernehmung:
fehlte lange jeder Ermittlungsansatz“, Mutmaßlicher Täter K. (r.), Ermittler „Auf Deutschlands Autobahnen herrscht
gibt einer aus dem Fahndungsteam zu. „Auf den Autobahnen herrscht Krieg“ Krieg.“ ANDREAS ULRICH

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 39
D. EBENER / PICTURE ALLIANCE / DPA
Patient Mollath vor einer Anhörung am Landgericht Bayreuth im April: Überwältigt von der Welle der Sympathie

JUSTIZ

„Ich trete aus dem Rechtsstaat aus“


Etliches spricht dafür, dass Gustl Mollath vor sieben Jahren zu Recht als
psychisch kranker Straftäter in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Doch er selbst
hält sich für ein Justizopfer, und viele glauben ihm. Von Beate Lakotta

E
s ist ein großer Auftritt für Gustl Fernsehinterviews. Das gleiche ordentlich aufs Bett geworfen und sie nicht gehen
Mollath an diesem 11. Juni. Im gescheitelte Haar, das schmale Oberlip- lassen, bis ihre Freundin gegen die Haus-
Bayerischen Landtag in München penbärtchen, das fränkisch gerollte R. tür pochte. Auch habe er Unbeteiligten
drängen sich Zuschauer im Flur, durch Mollath ist jetzt 56 Jahre alt, die letzten die Autoreifen auf eine Weise durchsto-
den er gleich kommen soll. Doch dann sieben hat er in der forensischen Psychia- chen, die deren Leben gefährdete. Ge-
führt man ihn von der anderen Seite in trie verbracht. Einen Augenblick scheint richte haben seine Unterbringung jährlich
den Saal hinein, in dem der Parlamenta- er überwältigt von der Welle der Sympa- überprüft. Drei forensische Psychiater ha-
rische Untersuchungsausschuss heute tagt, thie, die ihm hier entgegenschlägt. Dann ben die Wahndiagnose bestätigt, gestützt
es gibt ein Rennen und Schubsen, Kame- bahnt er sich den Weg zum Zeugenstuhl. auf Begegnungen, Gespräche, Akten.
raleute hasten durch die vollbesetzten Ein Gericht kam im Jahr 2006 zur Über- Mollaths Unterstützer hingegen glau-
Stuhlreihen. Alle wollen ihn von Nahem zeugung, dass der Nürnberger wahnkrank ben, er sei Opfer eines Komplotts seiner
sehen: Ist er nun verrückt oder nicht? und gefährlich sei. Er habe seine Frau Pe- Ex-Ehefrau und der Justiz. Sein Anwalt,
Mollath richtet seine braunen Augen tra im August 2001 geschlagen und bis zur der Hamburger Strafverteidiger Gerhard
fest auf den Pulk vor sich und grüßt Bewusstlosigkeit gewürgt. Im Mai 2002 Strate, fasste in einem Interview mit der
freundlich. Er ist eher klein, trägt ein ma- habe er sie im Haus, aus dem sie am Vor- „Süddeutschen Zeitung“ zum Thema
rineblaues Sweatshirt, aus dem ein roter tag ausgezogen und in das sie zurückge- „Wahrheit“ den Fall so zusammen: „Mol-
Kragen schaut, genau wie bei seinen kehrt war, um das Nötigste zu packen, lath sitzt seit sieben Jahren in der Psy-
40 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Deutschland

chiatrie, weil er seine damalige Frau, mit „Der Mann, der zu viel wusste“. Aber zug zueinander und für einen Anfangs-
der er einen Rosenkrieg führte, angezeigt hatte Mollath überhaupt Kenntnisse, mit verdacht nicht konkret genug, so haben
hat: Sie sei als Angestellte der HypoVer- denen er Reichen und Mächtigen hätte es Staatsanwälte im Ausschuss erklärt.
einsbank an Schwarzgeldgeschäften be- gefährlich werden können? Gab es Ma- Man habe das Mollath damals auch so
teiligt gewesen. Ein Gericht hielt ihn des- chenschaften, ihn kaltzustellen? Oder hat mitgeteilt, und selbst das Ergebnis des
halb 2006 für paranoid und ließ ihn ein- das Gericht nur allzu bereitwillig seiner mittlerweile bekannt gewordenen Prüf-
weisen – doch inzwischen haben sich sei- damaligen Frau geglaubt? berichts der HypoVereinbank aus dem
ne Vorwürfe als berechtigt erwiesen.“ Die Betrachtung seines Falls ist ver- Jahr 2003 hätte daran nichts geändert.
Welche Version der Wahrheit näher- trackt, weil er viele Wahrheiten enthält, Laut Bericht war nämlich vieles, was
kommt, könnte bald bei einem neu auf- die oft vermengt werden, obwohl sie ne- Mollath behauptete, nachprüfbar richtig –
gerollten Prozess zutage treten. Immer beneinander betrachtet werden müssen. aber nicht die Schwarzgeldvorwürfe. Das
mehr Fehler im Verfahren sind bekannt Wer die Sache bis in ihre Anfänge hinein Geldhaus spricht von arbeitsrechtlichen
geworden, auch schwere. Inzwischen sind zurückverfolgt, stellt fest: Diese Ge- Verstößen. Kundendepots, die an die Kon-
die Zweifel am Urteil so gewachsen, dass schichte, die die Republik verrückt macht, kurrenz transferiert wurden, Provisionen,
sowohl Verteidigung als auch Staatsan- begann anders als bisher bekannt. die Berater dafür erhielten. „Für eine Kün-
waltschaft die Wiederaufnahme des Ver- digung haben die Beschuldigungen nicht
fahrens beantragt haben. Ist Mollath ein Spinner? gereicht“, sagte der Revisor der Bank im
Gespannt blickt das halbe Land nach Im Ausschuss hat Mollath Platz genom- Ausschuss. Mollaths Ex-Frau verglich sich
Regensburg, wo ein Gericht den Fall noch men. Der Vorsitzende Florian Herrmann mit der Bank und bekam eine Abfindung.
prüft. Das Schicksal des aus der Bahn ge- (CSU) erklärt, die Abgeordneten wollten „Es sind Indizien, die Sie für zwingend
worfenen Ferrari-Restaurateurs eignet von ihm selbst hören, wie Behörden mit hielten, die Staatsanwaltschaft aber
sich als Projektionsfläche für tiefsitzende seinen Anzeigen umgegangen seien, die nicht“, hakt Herrmann ein. Ob er heute
Ängste: Opfer falscher Anschuldigungen er seit 2003 verschickte. Ein Vorwurf steht noch hieb- und stichfeste Beweise vorle-
in einem Scheidungskrieg zu werden oder im Raum: Wichtige Informationen seien gen könne? – „Hätte man nachgefragt,
versehentlich für verrückt erklärt und nicht beachtet worden, weil man ihn vor- hätte ich weitere Hinweise geben können,
weggesperrt. Dieser tragische Held zieht schnell als Irren abgestempelt habe. man wäre in ein Wespennest gestoßen.“
die Menschen an – darunter viele, die Mollath nickt bescheiden, sagt: „Da Warum er diese Beweise nicht beige-
sich selbst vom Leben ungerecht behan- muss ich etwas ausholen, wenn es mir ge- legt habe? – „Ich bin nicht davon ausge-
delt fühlen. Längst fragen sich weite Teile stattet ist.“ Er erzählt, wie er seine Frau gangen, dass das an diese Stellen über-
der Öffentlichkeit, ob es sein kann, dass kennenlernte, wie sie begonnen habe, in haupt gelangt.“ – „Es gibt aber doch für
„Justiz, Politik und Psychiatrie dabei ge- der Vermögensabteilung der HypoVer- alle Schreiben Eingangsbestätigungen.“
holfen haben, einen unbequemen Zeugen einsbank Schwarzgeldgeschäfte in gro- Mollath kommt ins Schlingern. Als Beleg
mundtot zu machen“, wie eine ARD-Do- ßem Stil mit einer Schweizer Bank abzu- für Insiderwissen erzählt er vom Kassen-
kumentation nahelegte. Egal was heraus- wickeln, wie er sie bekniet habe, damit raum der Bank Leu in Zürich, springt zu
kommen wird – der Fall Mollath erschüt- aufzuhören. „Da überzog sie mich mit seinem Prozess am Nürnberger Landge-
tert das Vertrauen vieler Bürger in die ihrer falschen Anzeige.“ Er selbst sei als richt: „Der Saal hatte die gleichen Ab-
Institutionen des Rechtsstaats. friedfertig bekannt: „Gewalttätigkeiten, messungen wie der, in dem 1945 die
Das Schicksal der bayerischen Justiz- das liegt mir fern.“ Mit den Reifensteche- Kriegsverbrecherprozesse stattfanden.“
ministerin Beate Merk (CSU) ist mit dem reien habe er nichts zu tun. „Ich hab bisher zu den konkreten Fra-
Mollaths verknüpft, die Opposition macht Nach fast einer Stunde spricht er über gen nichts gehört“, sagt Herrmann.
Wahlkampf mit dem Thema Justizversa- seine Strafanzeige wegen der „größten, Da verblüfft Mollath mit neuen Infor-
gen in Amigo-Bayern, und es ist noch Luft dreistesten Schwarzgeldverschiebung von mationen: Er habe Koffer voller Beweise
nach oben: Das Bundesverfassungsgericht Deutschland in die Schweiz“. Er hatte sie ins Ausland geschafft, nach Paris zur be-
und die Bundesanwaltschaft sind mit dem an Justizstellen in ganz Deutschland ge- rühmten Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld
Fall befasst. Mollath-Anhänger planen schickt, zusammen mit Flugblättern, Zei- und zum langjährigen Uno-Menschen-
eine Großdemonstration in Nürnberg. tungsberichten und Schreiben an Persön- rechtler Jean Ziegler in die Schweiz.
Ganz am Ende, das noch nicht abseh- lichkeiten wie Kofi Annan oder Günter Der „Nordbayerische Kurier“ hat bei
bar ist, wird man vielleicht einmal sehen, Beckstein. Dazwischen: Buchungsaufträ- Klarsfeld nachgefragt: Tatsächlich schrieb
inwiefern die „Affäre Mollath“ auch eine ge für Konten namens „Pythagoras“ oder Mollath ihr, weil er sie für das Bundes-
medial erzeugte ist. Ein Buch ist über den „Klavier“, Anlageverzeichnisse, Namens- verdienstkreuz vorgeschlagen hatte. Aber
Fall erschienen, es trägt den Untertitel: listen – alles ohne nachvollziehbaren Be- brisantes Beweismaterial? – „Das wäre
DAVID EBENER / PICTURE ALLIANCE / DPA (L.); PETER KNEFFEL / DPA (R.)

Verteidiger Strate, Ministerin Merk: Erschüttertes Vertrauen in die Institutionen

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 41
Deutschland

mir aufgefallen.“ Jean Ziegler erklärt: drei Tage nach der Auseinandersetzung zur HypoVereinsbank, die ihre Revi-
„Ich erinnere mich an so etwas nicht.“ vom August 2001 an ihr festgestellt hat: sionsabteilung einschaltet – was er seiner
Man kann sich nun aussuchen, was Hämatome, Würgemale unterhalb des Frau mitteilt. „Hunderte Male“, schreibt
man für wahrscheinlicher hält: Klarsfeld Kehlkopfes, eine Bisswunde am rechten er, habe er sie auf ihrem Handy zu errei-
und Ziegler haben brisante Post von Mol- Ellenbogen mit Abdruck der Zähne. Die chen versucht. Zwei Tage vor Silvester
lath vergessen, Mollath hat den Ausschuss Narben zeigt sie später bei Gericht vor. schreibt er an die Bank. Er will wissen,
belogen, oder die Koffer voller Material Mollath fühlt sich erpresst: „Du sagst, wo seine Frau ist.
existieren wirklich – in seinem Kopf. wenn ich Deine Machenschaften aufflie- „Mir hat das Angst eingejagt“, sagt sie.
gen lasse, bekomme ich keinen Unterhalt Es sei ihr eingefallen, dass ihr Mann eine
Die Geschichte der Petra M. … Du solltest einsehen, dass ich mich von Waffe habe. Um das mitzuteilen, habe
Ihr hat man öffentlich bisher die Hexen- Dir und Deinen Helfern NICHT EIN- sie am 2. Januar 2003 bei der Polizei an-
rolle zugedacht: Petra M., ehemals Mol- SCHÜCHTERN LASSE.“ gerufen. Bei einer Durchsuchung findet
lath. Besucht man sie heute und fragt Sie reagiert nicht. man ein Luftgewehr.
nach damals, fängt sie nicht bei den Petra Mollath schaut zu, wie ihr Mann Am 15. Januar geht Petra Mollath dann
Schlägen ihres Mannes an oder den sie verfolgt, bedroht und anschwärzt. Sie doch zur Wache. Sie habe ihren Bruder
Schwarzgeldvorwürfen, sondern sagt, wie läuft nicht zur Polizei. schützen wollen, sagt sie. „Ich wollte klar-
froh sie sei, dass sie es geschafft habe, machen: Mein Mann war der Aggressor,
sich zu befreien, nach 24 Jahren mit ihm. Mollaths Weg in die Psychiatrie nicht mein Bruder.“ Deswegen habe sie
Folgt man ihrer Erzählung, so lässt sie Es ist Gustl Mollath selbst, der die Ma- dort das Attest vorgelegt. Der Beamte
im Mai 2002 einen Mann in einem ver- schinerie in Gang setzt, die ihn am Ende sagt nach ihrer Erinnerung, das eine habe
müllten Haus zurück. Kein Jahr sei ver- in die Psychiatrie bringt, in einer Art Ne- mit dem anderen nichts zu tun, aber sie
gangen, ohne dass er einen Rechtsstreit benspiel, an dem Petra Mollath zunächst könne ja selbst Anzeige erstatten, wegen
führte. Überall hätten sich seine Beweis- nicht beteiligt ist. Sie ist zu der Zeit im Körperverletzung.
mittel für alles Mögliche getürmt: einen
Wasserschaden, die strittige Lackierung
eines Ferraris, den Hunger in der Welt.
Zum Essen hätten sie den Bügeltisch auf-
geklappt. „Wenn ich aus der Bank kam,
saß er bei runtergelassenen Rollos vor
dem Fernseher, sah immer nur Kriegs-
nachrichten, nächtelang. Dann kriegte er
seinen Trulli: Die Welt war schlecht, ich
war schlecht, und dann ging es los.“
Eine neue Zeugin, die sich vor kurzem
bei der Staatsanwaltschaft meldete, sagte
aus, Mollath habe seine Frau schon Mitte
der achtziger Jahre geschlagen, sie selbst
habe ihn einmal gewalttätig erlebt. Aber
Petra habe ihm immer wieder verziehen.
Es muss einmal die große Liebe gewesen
sein: Sie ist 18, er 22, als sie sich kennen-
lernen, sie haben tolle Jahre, reisen viel,
er fährt Rennen. Sie macht Karriere bei
der Bank, finanziert das gemeinsame Le-
ben. Er restauriert Oldtimer, doch das Ge-
schäft läuft nie. Bis zum Jahr 2000 steckt Ferrari-Fahrer Mollath, Rennsieger Braun 1993: Sie steckt ihr Geld in seine Firma
Petra Mollath laut Gerichtsurteilen umge-
rechnet 210 000 Euro in seine Firma, als sie Urlaub: Am 23. November 2002 ver- Das macht sie.
damit aufhört, muss er dichtmachen. Bei schafft sich Mollath Zutritt zu dem Haus, „Die Gerichts- und Verfahrensakten
der Trennung ist er hoch verschuldet. in dem sein Schwager lebt. Er sucht, so bestätigen diesen Ablauf der Ereignisse“,
In seinen Briefen fleht er sie an, zu- wird er es der Polizei sagen, nach Bewei- sagt auf Anfrage der Nürnberger Justiz-
rückzukommen. Wohl erst, als das nicht sen dafür, dass seine Frau sich hier vor sprecher Michael Hammer.
fruchtet, beginnt er mit den Schwarzgeld- ihm versteckt. Als er einen Brief aus dem Nun erst beginnt der eigentliche
vorwürfen. In der Wohnung ihres Bruders Kasten zieht, erwischt ihn die Freundin Hauptakt. Mollath wird wegen Körper-
seien nachts seine meterlangen Tiraden des Schwagers. Er drückt sie gegen die verletzung an seiner Frau angeklagt. Am
aus dem Faxgerät gequollen. Wand, der Schwager kommt hinzu, ein 25. September 2003 steht er vor dem
Am 8. August 2002 schickt er Petra ein Handgemenge folgt, Tritte, Faustschläge. Amtsrichter Alfred H. Der erinnert sich
Fax in die Bank: „Wie Du weist, werde Die Freundin ruft die Polizei. Der vor dem Ausschuss anhand der Akten:
ich mit diesen ,Machenschaften‘ nicht fer- Schwager zeigt Mollath an, wegen Kör- Von einer Unterbringung in der Psychia-
tig. Jeglicher Kraft bin ich beraubt. See- perverletzung. Dieser kündigt an, den trie sei da noch keine Rede gewesen.
lisch und körperlich bin ich schwer be- Schwager anzuzeigen. Was die Behörden Aber Richter H. kommt Mollaths Auftritt
lastet … Seit vielen Jahren musstest Du weiterverfolgen, ist der Briefdiebstahl. „komisch“ vor. Vom Angeklagten, meint
für mich alle finanziellen und viele sons- Weil der Brief an sie adressiert war, der Richter, hätte er erwartet, dass er bei-
tige Angelegenheiten, durchführen … Je- findet Petra Mollath bei ihrer Rückkehr spielsweise sage, die Sache sei ihm pas-
den Tag musst Du damit rechnen, dass einen Anhörungsbogen von der Polizei. siert, und sich bei seiner Frau entschuldi-
alles auffliegt … Bitte um Stellungnahme Darauf die Frage, ob mit ihrem Mann ge. Dann wäre Mollath wohl mit einer
bis heute Abend, 19 Uhr, Gruß Gustl.“ schon mal Ähnliches passiert sei. Doch Bewährungsstrafe nach Hause gegangen.
Da faxt sie ihm kommentarlos ein At- noch immer zögert sie, ihn zu belasten. Aber das habe er nicht gesagt. Auch
test, in dem festgehalten ist, was ihr Arzt Mollath schickt seine Anschuldigungen nicht: Meine Frau will mich mit einer fal-
42 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
schen Beschuldigung fertigmachen, weil Leute angreift. Er sagt: Es könnte Gefahr Am Silvestertag 2004 beginnen die Rei-
ich sie wegen Schwarzgeld angezeigt für unbeteiligte Dritte bestehen. fenstechereien. Die Polizei zählt 129 ka-
habe. „Dem hätte man ja nachgehen müs- Richter E. beschließt: Mollath soll in putte Reifen, bei den Autos einiger Opfer
sen“, sagt H. der Psychiatrie aufgenommen und begut- entweicht die Luft beim Fahren, manchen
Mollath streitet damals nicht ab, seine achtet werden. Mollath beschwert sich mehrfach, sie fürchten sich, ins Fahrzeug
Frau 2001 geschlagen und bis zur Be- brieflich bei ihm, beschreibt sich als Opfer zu steigen. Man kommt auf Mollath als
wusstlosigkeit gewürgt zu haben. Er gibt eines Komplotts: „Dann sprechen sich Täter, nachdem er einem Betroffenen ei-
dem Richter einen Hefter voller wirrer diese sogenannten Ordnungshüter, mit nen Brief schreibt, in dem er Namen an-
Schreiben und sagt, seine Frau sei auf ihn Kreisen der Schwarzgeldverschieber ab derer Opfer aufzählt.
losgegangen, er habe sich nur gewehrt. und nehmen mich unter skandalösen Um- Einer davon berichtet heute, Mollath
Und: „Mir ging es in den letzten Jahren ständen fest … Als Rechtsanwalt O. hör- habe ihn zuvor besucht, ihm einen scharf
nicht gut. Ich war in einer Grenzsituation, te, der Rüstungs-Familien Diehl-Clan geschliffenen Schraubenzieher gezeigt,
wie ich sie noch nie hatte. Ich kann mich spielt in meinem Fall eine Rolle sagte er ihm von seinem Hass auf die Banken er-
auch nicht so erinnern.“ Da seien ihm kreidebleich: ,Die schrecken ja auch vor zählt und dass er in Verbindung stehe mit
Zweifel an Mollaths Schuldfähigkeit ge- Mord nicht zurück‘, sprang auf und wollte Harald Schmidt; der gebe ihm im Fern-
kommen, sagt der Richter. „Dann musste gehen“. Und dann: „Bei solchen Zustän- sehen Handzeichen, er sei auf seiner Sei-
ich ja einen Gutachter dransetzen.“ den antwortet ein freier, gewissenhafter te. Andere erzählen, Mollath sei nachts
Petra Mollath hatte zur Verhandlung Nürnberger: Gerechtigkeit oder Tod, das auf ihrer Terrasse erschienen und habe
die Stellungnahme einer Psychiaterin vor- ist mein Angebot.“ durchs Fenster gestarrt. Alle Zeugen von
gelegt, wonach ihr Mann wahrscheinlich Ein Amtsrichter kann über die Unter- damals bitten, ihren Namen nicht zu nen-
psychisch krank sei – für seine Unterstüt- bringung in der Psychiatrie nicht ent- nen, aus Angst vor militanten Unterstüt-
zer ein Beweis ihres Plans, ihn in die scheiden, das Verfahren geht ans Land- zern Mollaths, die zurzeit Gutachter und
Psychiatrie zu bringen. Aber das Doku- gericht. Nach dem Geschäftsverteilungs- Justizangehörige bedrohen.
Ist das Urteil gegen Mollath also wirk-
lich „schreiendes Unrecht“, wie manche
Kommentatoren heute behaupten? Hät-
ten Gerichte längst seine Freilassung ver-
fügen müssen?
Aus Sicht der damaligen Richter und
Gutachter, so geht es aus Aussagen vor
dem Ausschuss und auch aus Akten hervor,
war die Sache Mollath ein trauriger Fall
von häuslicher Gewalt wie viele andere,
allerdings mit einem bedrohlich wirkenden
Angeklagten, der sich selbst als psychisch
zerrüttet beschrieb und sich entsprechend
verhielt. Und die Verschwörung? Mehr als
zwei Dutzend Zeugen sind vor dem Un-
tersuchungsausschuss aufgetreten, von der
Turnusregisterbeamtin bis zur Justizminis-
terin: Wer bekam wann und warum welche
DAVID EBENER / DPA

Akte in die Hand, wer setzte den Stempel?


Es schien, als sei jedes Löschblatt umge-
dreht worden, um zu klären, ob irgendje-
mand von höherer Stelle versucht haben
Forensische Klinik in Bayreuth: Verhakelt im Räderwerk der Psychiatrie könnte, Einfluss zu nehmen.
Tatsächlich gab es in ganz Nürnberg
ment, sagt der Richter, sei „bei dem Ge- plan landet es beim Vorsitzenden Richter keinen Menschen, der ein Interesse – und
samtbild“ Nebensache gewesen. Otto Brixner. die Möglichkeiten – gehabt hätte, Mollath
Mollath soll sich ambulant untersuchen Als der den Fall auf den Tisch be- durch die Einweisung in die Psychiatrie
lassen, von Psychiater Thomas L., aber kommt, ist auch schon aktenkundig, dass „mundtot zu machen“, wie dieser be-
er geht nicht hin. Er bekommt eine zweite Mollath mehrfach seinen Pflichtverteidi- hauptet. Die Staatsanwaltschaft, sagt Mi-
Chance sich zu erklären, vor einem neu- ger bedroht hat. Aus Angst vor ihm will nisterin Merk, hätte Mollaths Unterlagen
en Richter, in Gegenwart des Psychiaters. dieser sein Mandat niederlegen. schon 2004 den Steuerfahndern überge-
Er erscheint in schickem Sakko, aus der Mollath verfolgt seine Frau in der U- ben müssen. Dass dies nicht passiert sei,
Tasche fürs Einstecktuch schaut eine grün- Bahn, bedrängt sie lautstark und aggres- sei ein Fehler. Doch ob diese damit etwas
weiße Zahnbürste. Seinem Pflichtverteidi- siv, so erzählt sie es bei der Polizei. Ein hätten anfangen können, ist nicht sicher.
ger, den er zum ersten Mal sieht, erklärt er, anderes Mal schleicht er bei einer Feier, Bei den steuerlichen Ermittlungen, die
mit seiner sofortigen Verhaftung zu rech- an der seine Frau teilnimmt, um die Gäs- nun anhand von Mollaths Material ein-
nen. Er redet nicht mit dem Gericht. Statt- te, fotografiert und fixiert sie mit starrem geleitet wurden, fand man zwar nicht-
dessen breitet er auf dem Tisch vor sich Bü- Blick, bis die Polizei einschreitet. versteuerte Kapitalerträge, wie der zu-
cher und Prospekte über die Nürnberger Parallel dazu verschickt er Anzeigen ge- ständige Steuerfahnder im Ausschuss er-
Prozesse aus. Während die Anklageschrift gen Anwälte und Justizmitarbeiter. Immer klärte, es gehe aber um Kleinanleger:
verlesen wird, hält er sich ein Buch vors ungeheurer werden die Vorwürfe, immer „Wir bewegen uns im niedrigen Bereich.“
Gesicht und liest laut daraus vor. Er sagt: fehlerhafter wird die Orthografie. Im Ok-
„Ich trete jetzt aus dem Rechtsstaat aus.“ tober 2004 setzt Mollath dem Nürnberger Die Fehler
Der Psychiater, der diesen Auftritt mit- Oberstaatsanwalt ein Ultimatum: „Seit 2 Bleiben die unstrittigen Versäumnisse
erlebt, kennt die Akten und Mollaths Monaten ist kein Tätigwerden zu bemer- und Verfahrensfehler. Es sind viele.
Schreiben, in denen er alle möglichen ken … Noch 88 Tage bis Jahresende.“ Doch bringen sie das alte Urteil in der
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 43
Deutschland

Sache zu Fall? Die Richter in Regensburg, geldverschiebungen … gegeben hat“, Zeit abklingt. Sie machen Ausgänge in
die dies bewerten müssen, sind nicht heißt es im Urteil, „wahnhaft ist, dass der die Stadt, in vergleichbaren Fällen seien
zu beneiden. Der öffentliche Druck auf Angeklagte fast alle Personen, die mit ihm manche nach zwei Jahren wieder drau-
die Kammer ist gewaltig. Schon jetzt zu tun haben, z. B. den Gutachter Dr. W., ßen. Aber Mollath mache nicht mit.
kommen Drohbriefe an, für den Fall, … mit diesem Skandal in Verbindung Aus Sicht der Klinikmitarbeiter verha-
dass Mollath nicht bald freigelassen bringt und alle erdenklichen Beschuldi- kelt er sich mit kohlhaasscher Sturheit
wird. gungen gegen diese Personen äußert.“ immer wieder aufs Neue im Räderwerk
Die Patzer im Urteil reichen von einem Doch dieser Gutachter hat zuletzt gesagt, der Psychiatrie, auch durch sein chroni-
falschen Datum bis hin zum falsch dar- er könne verstehen, warum er aus Mol- sches Misstrauen.
gestellten Festnahmeszenario. Das wohl laths Sicht zum Komplott der Finanz- Sein Weg könnte trotz allem schnell in
gravierendste Versäumnis im Verfahren: schieber gehöre, auch wenn das natürlich die Freiheit führen, er müsste dafür keine
Als man Mollath vorläufig in die Psychia- nicht zutreffe. Das, argumentiert die Medikamente akzeptieren und auch kein
trie einwies, ließ man ihn Tage dort sit- Staatsanwaltschaft sinngemäß, könne die Geständnis ablegen. Er müsste nicht mal
zen, ohne ihn über die Gründe zu infor- Diagnose untergraben. einsehen, krank zu sein, sagt der Bayreu-
mieren – ein schwerer Grundrechtsver- Der dritte Wiederaufnahmegrund: Das ther Chefarzt Klaus Leipziger. „Nur reden
stoß. Attest, das Petra M. vorlegte, um ihre müssten wir mit ihm können, Vereinba-
Mollaths Verteidiger Gerhard Strate Verletzungen zu dokumentieren, gilt rungen treffen.“ Seit anderthalb Jahren,
wertet die Summe aller Fehler als Rechts- rechtlich als unecht. Der Arzt hat es auf sagt Leipziger, könnte Mollath jederzeit
beugung und strafbare Amtspflichtsver- dem Briefpapier seiner Mutter ausgestellt, allein auf dem parkähnlichen Klinikgelän-
letzung. Dafür müsste der Richter sie aber die er in deren Praxis offiziell vertrat, de spazieren gehen, ohne Fesseln. Es gibt
vorsätzlich begangen haben. ohne das ausreichend kenntlich zu ma- keinen Zaun. Bürger der Stadt nutzen die
Das hielt anfangs sogar die Staatsan- chen. Er hat den Inhalt des Attests bei Wege über das Gelände als Abkürzung.
waltschaft Regensburg für denkbar, jetzt der Staatsanwaltschaft bestätigt, in der Mollath dürfte auch selbst in die Stadt
aber nicht mehr. Ein Staatsanwalt erläu- Praxis existieren Unterlagen dazu. Doch gehen, erst in Begleitung eines Mitarbei-
terte den Sinneswandel im Ausschuss: Im womöglich hätte das Gericht dem Attest ters, später ohne. Doch Mollath weigert
Ministerium herrschte Furcht, eine mög- weniger getraut, wenn es gewusst hätte, sich, an der Pforte den Metalldetektor zu
liche Freiheitsberaubung könnte allein dass es von dem ärztlich weniger erfah- passieren wie alle anderen und sich dem
auf Betreiben des Verteidigers beendet renen Sohn der Ärztin kommt. Das Ar- obligatorischen Alkoholtest zu unterzie-
werden – und die Justiz in Gestalt der gument ist schwer zu widerlegen. hen. Lieber bleibe er auf seiner Station
bayerischen Ministerin stünde als Rechts- Für Mollath hängt viel davon ab, wie und gehe gar nicht raus.
brecherin da. Er sagt: „Mein Auftrag war: das Wiederaufnahmegericht dies bewer- Eine Unterbringung in der Psychiatrie,
Führe ein Wiederaufnahmeverfahren zu- tet – aber nicht alles. Hätte man ihn als darauf hat Ministerin Merk hingewiesen,
gunsten Gustl Mollaths“ – und zwar so gewöhnlichen Rechtsbrecher verurteilt, er ist keine Strafe. Sie soll die Allgemeinheit
schnell wie möglich. wäre längst frei. Das ist ein Umstand, der vor Menschen schützen, die wegen ihrer
Krankheit zur Gefahr werden.
Vor Gustl Mollath hat man die Gesell-
schaft schon sehr lange geschützt, wo-
möglich zu lange.
Eine weitere Ironie dieser Geschichte
ist, dass ausgerechnet Beate Merk für ihre
Forderungen nach längerem Wegsperren
bisher viel Beifall bekam. Seit Jahren
steigt in Deutschland die Unterbringungs-
dauer psychisch kranker Straftäter. Wenn
nun ausgerechnet Mollaths Fall Anlass
gäbe, darüber eine Debatte zu führen,
dann wäre das nach Ansicht vieler Fo-
INGA KJER / DPA

rensikexperten nicht verkehrt.


Sein letzter Gutachter, Friedemann
Pfäfflin, führt in seinem Gutachten von
Zeuge Mollath auf dem Weg zur Ausschussvernehmung: „Gewalttätigkeiten, das liegt mir fern“ 2011 aus, Mollath habe gesagt, er ginge
seiner Frau aus dem Weg, wenn er frei
Nach sorgfältiger Prüfung blieben aus von Monat zu Monat schwerer wiegt, auch käme. Und: „Insgesamt wirkte er sehr
Sicht der Staatsanwaltschaft drei Gründe für Gerichte. Die Strafvollstreckungskam- einsam.“ Heute hat er Menschen, die ihn
für eine Wiederaufnahme. mer hat zwar gerade Mollaths Unterbrin- stützen. Wahnstörungen können abklin-
Ein neuer Zeuge, der Zahnarzt Edward gung verlängert, weil sie ihn weiterhin für gen, vielleicht ist Mollath heute nicht
Braun aus Bad Pyrmont, brachte vor, Pe- gefährlich hält, aber er legte dagegen beim mehr so krank wie früher.
tra Mollath habe ihn im Jahr 2002 ange- Oberlandesgericht Bamberg Beschwerde Es ist vor diesem Hintergrund nicht un-
rufen: Gustl gehöre in die Psychiatrie, ein – denkbar, dass er damit Erfolg hat. realistisch, dass die Strafvollstreckungs-
wenn er sie anzeige, werde sie ihn fertig- kammer seine Unterbringung irgend-
machen, sie habe gute Beziehungen. Hal- Sieben lange Jahre wann zur Bewährung aussetzt. Er müsste
te er still, könne er 500 000 Euro von sei- Die Ironie in diesem Fall ist: Als das Ur- vielleicht vier, fünf Jahre überstehen,
nem Vermögen behalten. Das kratzt an teil fiel, hat niemand vorhergesehen und ohne sich etwas zuschulden kommen zu
der Glaubwürdigkeit von Petra M.; diese wohl auch nicht beabsichtigt, dass Gustl lassen, und die Sache wäre erledigt.
sagt, sie habe keine Erinnerung an ein Mollaths Psychiatrie-Aufenthalt so lange Mollath aber hat schon verkündet, er
solches Gespräch, und ihr Mann habe dauern würde. Fragt man im Bayreuther werde nur einer bedingungslosen Entlas-
doch gar kein Vermögen gehabt. Krankenhaus nach, so hört man, dass bei sung zustimmen. Er besteht darauf, dass
Der zweite Grund zielt auf die Wahn- vielen Menschen, die hier aufgenommen man ihn vollständig rehabilitiert und sei-
Diagnose: „Mag sein, dass es Schwarz- werden, der innere Aufruhr nach einiger ne Unschuld feststellt.
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Szene Gesellschaft

Was war da los, Herr Reinke?


John Reinke, 47, Tierpfleger in Oklaho- Bonedigger hat von Geburt an spröde mich der Parkdirektor, ob ich ehrenamt-
ma, USA, über gefährliche Liebschaften: Knochen, mir wurden beide Beine am- lich als Tierpfleger arbeiten und in den
„Ich habe Bonedigger mit der Flasche putiert. Sie sind bei einem Bungee-Jum- Park ziehen wolle. Bonedigger hat außer
aufgezogen. Er hat in meinem Bett ge- ping-Unfall zerschmettert worden. Den mit mir auch Freundschaft mit den Da-

BARCROFT USA / ANIMAL.PRESS


schlafen, bis er zu groß wurde. Vielleicht Tierpark lernte ich vor acht Jahren ken- ckeln im Park geschlossen, die sich um
spürt er, dass wir beide eine Gemein- nen. Ich spürte sofort eine Bindung zu ihn gekümmert hatten, als er ein Baby
samkeit haben, nämlich die, mit einer den Raubtieren und besuchte den Park war. Noch heute darf der Dackel Milo
körperlichen Einschränkung zu leben. jeden Sonntag. Nach einem Jahr fragte ihm die Zähne reinigen.“

Wie sicher leben Informanten, Herr Strack?


Guido Strack, 48, leitet Wenn man das nicht versucht, kann nicht offenlegen –, aber als Informant
TORSTEN SILZ / DDP IMAGES / DAPD

den Verein „Whistle- man arge Probleme bekommen. sollte man sich sicher sein, dass man
blower Netzwerk“. Er SPIEGEL: Was kann man tun, wenn man dem Journalisten vertrauen kann.
arbeitete im Amt für in der Firma nicht weiterkommt? SPIEGEL: Womit muss man rechnen,
Veröffentlichungen der Strack: Als Nächstes muss man ver- wenn man als Informant auffliegt?
EU und wies auf einen suchen, sich an eine Behörde zu wen- Strack: Damit, dass der Arbeitgeber
Korruptionsverdacht in den, aber nach unseren Erfahrungen alle Mittel einsetzt, um diesen Mit-
seiner Dienststelle hin. kommt man da oft auch nicht weit. In arbeiter loszuwerden. Angesichts der
jedem Fall sollte man alles dokumen- deutschen Rechtslage kann man nie-
SPIEGEL: Wie geht man am besten vor, tieren, was man probiert hat. Natür- mandem raten, zum Whistleblower zu
wenn man wie Edward Snowden beim lich kann man immer an die Medien werden. Es gibt kein Gesetz, das klar
US-amerikanischen Geheimdienst gehen, aber da wird es gefährlich. regelt, ob und wie man Missstände
NSA bemerkt, dass der Arbeitgeber SPIEGEL: Warum? öffentlich machen darf.
gegen Gesetze verstößt oder der Strack: Wenn man nicht versucht hat, SPIEGEL: Gibt es Länder, die Whistle-
Allgemeinheit schadet? die Sache in der Firma oder über eine blower besser schützen?
Strack: In Deutschland ist man in der Behörde zu klären, ist es in Deutsch- Strack: Eigentlich die USA. Der Schutz
Regel rechtlich verpflichtet, zunächst land nicht ohne weiteres erlaubt, inter- für Whistleblower in Unternehmen
im Unternehmen nach Hilfe zu suchen. ne Vorgänge öffentlich zu machen. Es wurde unter Präsident Obama erheb-
Gibt es jemanden, an den ich mich gibt zwar den Informantenschutz – das lich verbessert. Aber geheimdienst-
wenden kann, etwa den Betriebsrat? heißt, der Journalist muss seine Quelle liche Dokumente sind ausgenommen.
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 45
Gesellschaft Szene

Winfried weint
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Warum ein Rentner mit dem Traktor nach Mallorca fuhr

W
infried Langner, 77, hat ein Ge- hat ein Schild mit einem Reim auf dem von oben mitverfolgt. Er trägt keinen Ge-
sicht wie eine zerknitterte Land- Traktor angebracht: „Lass die Finger von hörschutz, er will den Motor rattern hören,
karte, und wenn die Tränen dar- Maschinen, die du selbst nicht kannst be- rund hundert Kilometer schafft er pro Tag.
überlaufen, gleichsam von Norden nach dienen.“ Diesem Motto gehorchend stieg Er schaut dem Auf und Ab der Landschaft
Süden, muss man einen Augenblick war- Langner niemals in Flugzeuge, weshalb zu, er kann beim Fahren die Risse erken-
ten. Seine Stimme versagt ihm dann den die Frau mehrmals ohne ihn in den Ur- nen im Asphalt, kann die Baumarten be-
Dienst, und sein Atem geht schwer. Lang- laub nach Mallorca flog, eine spanische stimmen. Joncherey, Saint-Loup, Cellieu,
ner hält sich mit der Rechten an seiner Insel voller Deutscher, die sie dem Mann Narbonne, von Norden nach Süden, Rich-
Kaffeetasse fest, in seiner Küche, in sei- als Paradies beschrieb, die Sonne, das tung Paradies. Robert braucht nur 15 Liter
nem Haus, hier, in Lauenförde an der We- Meer. Langner blieb am Boden und mach- Diesel jeden dritten Tag.
ser, wo der größte Teil seines Erlebnisse am Wegesrand:
Lebens dahinfloss wie ein Ein Winzer lädt ihn auf sei-
langer, ruhiger, freundlicher nen Hof ein; die Gendarmerie
Fluss. Sechs Kinder schenkte eskortiert ihn zum Camping-
ihm die Frau, immer abwech- platz; er fährt nachts ein paar
selnd Junge, Mädchen, Junge, Kilometer auf der Autobahn,
Mädchen, Junge, Mädchen, eine Abkürzung. Oft applau-
ein Wunder. Neun Enkel ka- dieren die Bürger, wenn er
men bisher dazu, eine Wand mit seinem Traktor und dem
des Wohnzimmers ist lücken- Mini-Wohnwagen im Schlepp-
los mit Dutzenden Familien- tau durch ihre Dörfer

CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL


fotos bedeckt.  schleicht, eine Schnecke mit
„Wird gleich wieder“, ruft ihrem Haus. „Viele liebe Leu-
Langner jetzt unter seiner te“ habe er kennengelernt,
Linken hervor, mit der er sein sagt Langner. Er spricht kein
Gesicht bedeckt. Fragen nach Französisch, kein Spanisch.
der Frau, Annemarie, oder Nach 21 Tagen und mehr
„Omma“, wie er sie manch- als 1800 Kilometern erreichen
mal auch nennt, oder „mein Langner mit seinem Traktor „Robert“ Mann und Maschine am 12.
Mädchen“, die verträgt der Mai Barcelona. Von hier soll
Mann noch nicht gut. Ist ja es mit der Fähre nach Palma
auch erst ein Jahr her. de Mallorca gehen. Aber die
Am 22. April hat er sich Bordsteine in Spanien sind hö-
aufgemacht, ihr hinterherzu- her als in Deutschland. Lang-
fahren.  ner stürzt und verletzt sich.
Nachdem er Rentner wur- Weil er seit einem Infarkt
de, vor 15 Jahren also, kaufte blutverdünnende Medika-
er sich einen alten Traktor, Aus der „Süddeutschen Zeitung“ mente nimmt, Marcumar, bil-
Modell Deutz D15, Baujahr den sich Hämatome, lebens-
1961, ein Zylinder, 15 PS, 1000 bedrohlich, er muss ins Kran-
Kilogramm, Spitzengeschwin- kenhaus. Eine Tochter, Sabi-
digkeit 18 Kilometer pro Stunde. Die Frau te 2006 erstmals eine große Treckertour, ne, Krankenschwester seit 30 Jahren, fliegt
fragte, was der Schrotthaufen solle, doch zum Oldtimertreffen am Großglockner, sofort hinterher, will ihn zurückholen, der
Langner sagte, „beruhig dich, mein Mäd- Österreich. 2008 fuhr er bis zum Gotthard, Vater weigert sich, am nächsten Tag soll
chen“, er brauche „nun mal was zum Schweiz, allein. Wenn der Mann unter- das Schiff ablegen. „So kurz vor dem
Schrauben“. Von Beruf war er Baumaschi- wegs war, zeichnete die Frau zu Hause Ziel“, sagt Langner, „gebe ich nicht auf.“ 
nenmonteur gewesen, gelernt bei Krupp mit einem Bleistift jeden Tag die Etappen Einen Tag nur verbringt er auf Mallor-
in Essen, nie was anderes gemacht. Die auf einer Landkarte nach, von Norden ca. Posiert mit Robert vor der Kathedrale
Frau lernte er kennen, da war sie 15, nach Süden. von Palma. Dann zum Flughafen, die
Hochzeit 1960, nie eine andere geliebt.  2010, die Frau wird krank, Demenz, Tochter hat Tickets gekauft, Palma–Han-
Seine Stimme geht jetzt wieder. Er sagt: der Mann pflegt sie zu Hause, bis es nicht nover, Reisezeit: zwei Stunden, 32 Minu-
„Es ist alles so verdammt eilig geworden mehr geht. Ein Krebs kommt dazu, Anne- ten. Der Traktor geht später per Spedi-
auf der Welt.“ marie Langner muss gehen, 21. Juli 2012.  tion zurück. Winfried Langner, 77 Jahre
Den Dieselschlepper nahm er ausein- Der Mann fährt mit 18 km/h, er hat Zeit. alt, Witwer, steigt zum ersten Mal in sei-
ander, baute ihn wieder zusammen, Einmal den Ort sehen, den die Frau so nem Leben in ein Flugzeug. Schwer zu
schmierte, schleifte, spritzte um, gab dem sehr liebte. Lauenförde, Fulda, Neckarge- sagen, wann er der Frau am nächsten war,
Gefährt einen Namen, „Robert“, die En- münd, Bad Herrenalb, tägliche Etappen- auf dem Traktor, auf der Insel, über den
keltochter, Anne-Sophie, wollte es so. Er siege, welche die Frau, so glaubt Langner, Wolken.  GUIDO MINGELS

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Gesellschaft

B I L L I G WA R E N

Made in Bangladesh
Am 24. April stürzt in Dhaka eine Textilfabrik ein und begräbt 3500 Menschen.
Ein staatlicher Ermittler hat dem SPIEGEL seine Ergebnisse vorgelegt. Sie erzählen
die Geschichte einer absehbaren Katastrophe. Von Hauke Goos und Ralf Hoppe

A
m Morgen des 24. April 2013, Ein „Basti“ ist eine wuchernde An- Ihrem Mann hat Shali sein Essen in einer
gegen 8.45 Uhr, stürzt in Dhaka, sammlung von einfachen Betonhäusern, Blechdose mitgegeben. Mittagspause ist
der Hauptstadt von Bangladesch, mit Blech- und Wellblechdächern, dazwi- um 13 Uhr, eine Stunde.
das Rana Plaza zusammen, ein neunstö- schen labyrinthische Pfade, halbnackte Die normale Schicht dauert oft bis 20
ckiges Fabrik- und Bürohaus. Mehr als Kinder spielen zwischen Pfützen und Tüm- Uhr. Häufig werden Überstunden ange-
3500 Menschen sind zu diesem Zeitpunkt peln, überall Verschläge mit Hühnern, eine ordnet, bis 22 Uhr. Auf dem Heimweg
in dem Gebäude, 1129 sterben in den Rotte kleiner Schweine durchstreift das kauft Shali noch ein, gegen 23 Uhr ist sie
Trümmern. Am Abend beginnt Mai- Basti Madjipur. Etwa 100 000 Menschen le- zu Hause. Ihr Sohn schläft dann schon.
nuddin Khandaker, hoher Beamter im ben hier. Alle arbeiten in den umliegenden In elf Jahren haben die beiden 20 000
Innenministerium, mit den Ermittlun- Textilfabriken, viele im Rana Plaza. Taka gespart, 200 Euro. Mohammed Ba-
gen. Es ist 5.30 Uhr an diesem Morgen, als dul träumt davon, eines Tages einen Fri-
Sechs Wochen später. Khandaker sitzt Mohammed Badul und seine Frau Shali seurladen zu eröffnen.
in seinem Wohnzimmer in einem holz- aufstehen. Badul arbeitet im Rana Plaza, Auch Fahima und ihr Mann Abu Said
geschnitzten Lehnstuhl, er ist ein Herr bei einer Firma namens Phantom Appa- wohnen im Basti Madjipur. Beide stam-
von Anfang sechzig, mit einer men aus dem Dorf Bodergond im
Goldrandbrille und einer leisen Norden von Bangladesch. Vor
Stimme. Sein Haus liegt im Regie- sechs Jahren kamen sie nach Dha-
rungsviertel von Dhaka. Draußen ka.
ist es längst Nacht geworden, das Sie mussten ihr Dorf verlassen,
Zimmer wird nur erhellt von einer Arbeit suchen, um ihre Schulden
Neonröhre, vor der Nachtfalter zurückzahlen zu können: Abu
flattern. Khandaker balanciert eine Said hatte sich Geld geliehen,
Schale mit blauschwarzen Beeren 50 000 Taka, 500 Euro, weil er eine
auf den Knien. eigene Farm aufbauen wollte.
Er hat in den vergangenen Jah- Zusammen verdienen sie etwa
ren mehr als 40 Fälle untersucht, in 12 000 Taka im Monat, 120 Euro.
denen eine Fabrik in Flammen auf- Etwa 500 Taka können sie im Mo-
INDRANIL KISHOR / AG. FOCUS / DER SPIEGEL

ging oder zusammenstürzte. Insge- nat zurücklegen, 5 Euro. Ein Bett


samt 40 Untersuchungen, 40 Berich- haben sie nicht, nicht mal eine
te. Doch kein Unfall war annähernd Matratze. Einen einzigen Luxus
so groß wie Rana Plaza – der größte gönnt sich Abu Said: Ab und an
Industrieunfall in der Geschichte kauft er eine Dose Kautabak, er
von Bangladesch. Der Report, den hat sie immer hinten in seiner
Khandaker schrieb, enthält Zeugen- Hosentasche.
aussagen, Fotos, Statikberechnun- Auch Fahima und Abu Said ha-
gen, er umfasst 493 Seiten und wird ben einen Sohn, Shahin, er ist fünf
wohl unter Verschluss bleiben. Ermittler Khandaker: „Termindruck, Skrupellosigkeit, Gier“ Jahre alt, eine Nachbarin passt
Noch nie, sagt er, sei in Bangla- auf, wenn Fahima und ihr Mann
desch ein Untersuchungsbericht über die rels Ltd., in der Verpackungsabteilung. in der Fabrik sind. Ihr Plan: aushalten.
Textilindustrie veröffentlicht worden. Seine Frau ist Näherin in einer anderen Ein paar Jahre noch, dann mit etwas Geld
Khandaker geht ins Nebenzimmer, Fabrik. zurückkehren in ihr Dorf. Eine Zukunft
kommt mit einem Papierstapel zurück. Sie bewohnen ein Zimmer von zwölf für Shahin, darum geht es. Das ist der
Die Zusammenfassung. Er nimmt eine Quadratmetern, Betonboden, sie haben Sinn ihres Lebens.
Beere vom Teller, vorsichtig spuckt er einen Sohn, Sabbir, neun Jahre alt. Sie In derselben Gasse, in einem Nachbar-
den Kern auf die Untertasse. „Termin- besitzen ein Bett, eine Kommode mit Ge- haus, wohnen zwei Schwestern: Shefali
druck, viel Geld, Skrupellosigkeit und schirr, etwas Kleidung, einen Fernseher. und Shirin Akter, 20 und 18 Jahre alt. Sie
Gier – an diesem Tag kam alles zusam- Wasserhahn, Dusche sind draußen. kamen schon als Kinder nach Dhaka, auf
men“, sagt er. Auch an diesem Morgen kocht Shali sich gestellt, mit nichts außer zwei Hosen
Reis mit etwas Öl und sehr wenig Gemü- und zwei Hemden. Ihren kleinen Bruder
Dhaka, Basti Madjipur, 24. April, 5.30 Uhr se, das Mittagessen für sie und ihren Nawshad holten sie später nach. Er ist
Im Basti Madjipur, im Nordwesten der Mann. Auf ein Frühstück verzichten sie. die Hoffnung der Schwestern, für seine
Hauptstadt Dhaka, Stadtteil Savar, be- Gegen 7 Uhr machen sie sich auf den Ausbildung arbeiten und sparen sie. Sie
ginnt der Tag früh. Weg zu ihrer jeweiligen Fabrik, zu Fuß. besitzen vier Tassen, ein Doppelbett,
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TASLIMA AKHTER

Umgekommene Fabrikarbeiter im Rana Plaza


Opfer Shefali, Hinterbliebene Sabbir, Shali: Sie leben mit einer Hoffnung und verhungern wenigstens nicht

einen Fernseher, zwei Stück Seife. Sie be- werke – nach deutscher Zählart – sind Khandaker, der Ermittler. Und also kaufte
sitzen einen Korb mit Kleidungsstücken, bereits bezogen, ein achtes ist seit kur- Rana Land.
drei Paar Flip-Flops, einen Topf, Besteck, zem im Bau. Über dem Eingang steht, Als Sohel Rana seine Karriere plante,
etwas Geschirr. in geschwungenen Buchstaben: „Rana war Dhaka bereits eine wuchernde Stadt.
Wie fast alle, die hier untergekommen Plaza“. Jedes Jahr kamen Hunderttausende aus
sind, bewohnen Shefali, Shirin und Im ersten Stock ist eine Filiale der Brac den Dörfern, jedes Jahr wurden neue Tex-
Nawshad zusammen nur ein Zimmer, Bank untergebracht, an der Eingangstür tilfabriken gebaut. Und die Menschen
2000 Taka Monatsmiete, 20 Euro. Viele hängt seit gestern ein Schild: closed, ge- brauchten Wohnungen, Häuser, die Fa-
dieser Häuser hat derselbe Mann bauen schlossen. Kein gutes Zeichen, denkt Fa- brikanten brauchten Produktionsflächen.
lassen, der auch Rana Plaza hochziehen hima. Ranas Vater hatte früh ein Stück Land
ließ: Sohel Rana, der Pate von Madjipur. Im Tresor der Bank liegen zehn Millio- gekauft, der Sohn kaufte dazu. Das Ge-
Rana ist ein Mann von Mitte dreißig, nen Taka. Die Bankbeamten hatten es so lände war sumpfig und deshalb billig.
klein, aufgeschwemmt. Er wohnt in der eilig, sich in Sicherheit zu bringen, dass Rana ließ den Sumpf mit Sand und Müll
Bazar Road, in einem fünfstöckigen Haus, sie das Geld zurückgelassen haben. auffüllen. 2007 begann er mit dem Bau
das am Ende einer Gasse steht, mit einem Am Eingang steht Sohel Rana, er redet eines mehrgeschossigen Gebäudes. Rana
Blechtor gegen Besucher geschützt. Wenn auf die Fabrikbesitzer ein. Man müsse Plaza sollte der Beginn einer großen Kar-
er das Haus verlässt, wird Rana von Body- keine Angst haben wegen der paar Risse. riere sein.
guards bewacht. Jemand werde sich um das Problem küm- Sechs Ämter müssen eigentlich zustim-
Er ist Mitglied in der Jugendorganisa- men, wenn es um den Bau einer Fabrik
tion der regierenden Awami-Partei. In sei- Ein Land, das so in Bangladesch geht: das Industrieminis-
nem Basti hat Rana in diesen Tagen Pla- terium, das Arbeitsministerium, das In-
kate von sich aufhängen lassen, es gibt schnell wächst, kann sich nenministerium, das Amt für Feuersicher-
Leute hier, die Rana schon als Parlaments- heit und Zivilschutz, das Umweltamt, das
abgeordneten sehen. nicht lange mit Board of Investment, außerdem die
Aber an diesem Morgen hat Sohel BGMEA, die Organisation der Textilpro-
Rana ein Problem. Im Rana Plaza sind Vorschriften aufhalten. duzenten und -exporteure. Rana umging
Risse aufgetreten, sie durchziehen die diese Auflagen, indem er das Plaza als
Wände wie auch die tragenden Pfeiler. mern. Gestern noch hatten die Manager Büro- und Ladengebäude deklarierte. Er
Und die Mieter, vor allem diese verdamm- alle fünf Textilfabriken geschlossen und bediente sich der Kontakte seines Vaters,
ten Fabrikbesitzer, machen sich Sorgen. die Arbeiter mitten am Tag nach Hause er unterstützte den Wahlkampf eines Par-
geschickt; 3500 Menschen, auch Fahima, lamentsabgeordneten mit Geld. So funk-
Dhaka, Madjipur Bazar Road, Mohammed Badul, Shefali und Shirin, tioniert das System Bangladesch.
Rana Plaza, 7.30 Uhr die beiden Schwestern. Dann waren zwei Ein Land, das so schnell wächst, kann
Ein paar hundert Menschen haben sich Fachleute gekommen und hatten die Ris- sich nicht lange mit Vorschriften aufhalten.
vor dem Rana Plaza versammelt. Auch se begutachtet. Wenn schließlich ein Gebäude dasteht,
Mohammed Badul, der Mann, der auf ei- Kann die Schicht beginnen? Oder ist mit Maschinen darin, wenn in ihm gear-
nen Friseurladen spart, ist unter ihnen, das Gebäude nicht mehr zu retten? beitet wird und Geld ins Land kommt,
ebenso wie Fahima und Abu Said, das Dass ausgerechnet Sohel Rana diese fragt keiner nach Genehmigungen.
Paar, das nicht mal eine Matratze besitzt. Entscheidung trifft, bedeutet Tod und Ver- Im Jahr 2008 feierte Rana die Eröff-
Sie haben Angst. Noch eine halbe Stunde, derben für viele. nung. Das Haus hatte zu dünne Zwischen-
bis die Schicht beginnt – falls die Schicht Sohel Rana ist schon in Dhaka geboren. decken, es war eilig hochgezogen worden;
beginnt. Sein Vater war Anfang der achtziger Jah- die Maurer, heißt es, hatten nie zuvor ein
Das Rana Plaza überragt die umliegen- re hergekommen, Sohel wuchs hier auf, so hohes Gebäude gebaut. Der Beton war
den Häuser, die unteren Geschosse hat besuchte die Adharchandra Highschool. mit zu viel Sand versetzt, der Boden
Rana mit einer blau spiegelnden Glas- „Er wollte vor allem Geld verdienen, nachgiebig. All dies würde Khandaker,
front verkleiden lassen. Sieben Stock- das war das Wichtigste für ihn“, sagt der Ermittler, später herausfinden.
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Gesellschaft

Rana baute in seinem Basti neue Un- stapelt Mohammed Badul Jeans in Kar-
terkünfte für Arbeiter, er stieg ins Dro- tons, Badul, der so gern Friseur wäre.
gengeschäft ein, vier Morde soll er in Auf- Dhaka, mit seinen 16 Millionen Ein-
trag gegeben haben. Khandaker, der wohnern, ist eine Stadt der Zuwanderer,
Ermittler, erzählt, dass Rana selbst dro- ein verhasster Sehnsuchtsort. Manche
genabhängig gewesen sei. Er trank, und kommen hierher, um später mit etwas Er-
vor allem konsumierte er Phensedyl, spartem wieder zurückzukehren in ihre
einen Hustensaft, der als „Purple Drank“ Dörfer, wie Fahima und Abu Said. Ande-
beliebt ist. re wollen hierbleiben und ein neues Le-
Don’t make my life miserable, das sagt ben aufbauen, wie Mohammed Badul.

FOTOS: INDRANIL KISHOR / AG. FOCUS / DER SPIEGEL


Rana den Fabrikanten, die um die Sicher- Für alle ist die Textilfabrik nur eine Sta-
heit im Gebäude fürchten. Fallt mir nicht tion, etwas, das ertragen werden muss.
auf die Nerven! Dann verschwindet Rana Weil man hier wenigstens eine Hoffnung
demonstrativ in seinem Büro in der Tief- hat und nicht verhungert.
garage, vielleicht gibt das den Ausschlag. Rana, dies lässt sich aus den Geschich-
ten über ihn zusammenfügen, war anders.
Dhaka, Rana Plaza, 8.00 Uhr Wo andere erdulden, legte er los. Ein
Die Schicht beginnt auch an diesem Mor- Spieler, dessen Einsatz das Leben von
gen des 24. April pünktlich. Fahima und 3500 Menschen ist.
ihr Mann Abu Said haben ihre Lochkar- Im Rana Plaza laufen Tausende Indu-
ten gestempelt, jetzt sind sie im zweiten strienähmaschinen. Die Stromversorgung
Stock, wo New Wave Bottoms fertigen in Dhaka ist jedoch notorisch unzuver-
lässt, hier kann man die Risse in Wänden lässig, es gibt Tage, an denen das Netz
Dhaka, Stadtteil Savar, Rana Plaza, 7.55 Uhr und Pfeilern deutlich erkennen. Fahima 50-mal zusammenbricht. Deshalb stehen
Um kurz vor acht Uhr streiten sich die Fa- näht Gürtelschlaufen, Abu Said arbeitet in den Fabriketagen insgesamt vier Die-
brikmanager immer noch mit Rana. in der Verpackungsabteilung. selgeneratoren. Jeder wiegt mehrere Ton-
Einerseits fürchten sie um ihr Leben. An- Ein Herrenhemd durchläuft folgende nen. Sie befinden sich auf den oberen
dererseits müssen sie Liefertermine einhal- Arbeitsschritte: Zuschnitt, Vorderseite Etagen. Ein Generator dieser Größe löst
ten. Wer einen Auftrag nicht vertragsge- und Rückseite werden vernäht, dann Kra- heftige Vibrationen aus, sobald er an-
mäß erledigt, riskiert, künftig nicht berück- gen, Knopfleiste, Brusttasche, Knopflö- springt.
sichtigt zu werden. In dem System Bangla- cher, Knöpfe, zuletzt die Ärmel. Dann ist Drei Etagen über Mohammed Badul,
desch sind Verspätungen nicht vorgesehen. das Hemd genäht, es kommt in die End- im sechsten Stock, arbeiten an diesem
Um kurz vor acht Uhr hat Rana es bei- fertigung. Hier wird es gebügelt, das La- Morgen Shefali und Shirin, die Schwes-
nahe geschafft. Er beruft sich auf zwei bel wird eingenäht, das Hemd wird mit tern, für die Firma New Wave Style, heu-
Fachleute, die er tags zuvor gerufen hatte, einem Stück Karton versteift, verpackt. te werden hier Herrenhemden genäht.
zwei Männer von der Distriktverwaltung, Ein Stockwerk höher, in der dritten Eta- Etwa 800 Menschen drängen sich auf
einer ein Bauingenieur. Ihr Urteil: Das ge, produziert Phantom Apparels. Hier dieser Etage, 80 Prozent sind Frauen. Sie
Gebäude hält noch mindestens hundert
Jahre. 7./8. Stock: ohne Genehmigung aufgestockt Stockwerkübersicht des
Rana hat die Beamten besto- ehemaligen Rana Plaza in Dhaka
chen, so steht es in Mainuddin
Khandakers Bericht.
In den Jahren nach der Eröffnung
hatte Rana das Gebäude um weitere
zwei Etagen aufgestockt, diesmal
machte er sich nicht einmal die Mühe,
Genehmigungen einzuholen. Die obe-
ren Etagen, jede etwa 3500 Quadrat- Treppen-
meter groß, vermietete er an Textil- haus
fabriken. Es gab im Rana Plaza ein Kel-
lergeschoss, dort war die Tiefgarage.
Rana richtete sich hier unten ein Büro
ein. Erdgeschoss und der erste Stock
des Rana Plaza waren an die Bank und
an kleine Läden vermietet. In den Etagen
darüber sind fünf Textilfabriken unterge-
bracht: New Wave Bottoms Ltd. und 6. Stock:
New Wave Style Ltd.
Ether Tex Ltd.; dann Phantom Apparels Hier arbeiteten Shefali
Ltd., Phantom Tac Ltd., schließlich New und Shirin Akter.
Wave Style Ltd. Rund 3500 Menschen nä-
hen hier für Textil-Discounter und Kauf- 4./5. Stock: weitere Textilfirmen
hausketten in Europa, den USA, Kanada. 3. Stock: Phantom Apparels Ltd, Ether Tex Ltd.
Auf jeder Etage stehen Hunderte elektri- Hier arbeitete Mohammed Badul.
sche Nähmaschinen, in langen Reihen.
Wahrscheinlich konnte Rana das Ge- 2. Stock: New Wave Bottoms Ltd.
bäude schon nach wenigen Jahren amor- Hier arbeiteten Fahima und Abu Said.
tisieren. Von da an brachte es, grob ge- 1. Stock: Haupteingang, Brac Bank, Läden
schätzt, eineinhalb Millionen Euro jähr-
lich an Mieteinnahmen. Erdgeschoss: Büros und Läden Kellergeschoss: Tiefgarage, Büro des Besitzers Sohel Rana

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 51
unternehmer abgeben zu müssen, um
nicht womöglich einen Auftrag zu verlie-
ren. Das führte zu ständigem Termin-
druck.
Das setzt auch die Arbeiter unter
Druck. Sie können sich kaum widerset-
zen. Ihr monatliches Einkommen ist so
knapp bemessen, dass Fahima und ihre
Kolleginnen es an jenem Morgen nicht
wagten, dem Fabrikbesitzer zu widerspre-
chen, als er sie an ihre Arbeitsplätze be-
fahl. Blieben für Fahima, die Schwestern
Shirin und Shefali, für Mohammed Badul
ein, zwei Monatslöhne aus, würde das
ihre Ersparnisse aufzehren.
Gegen 8.30 Uhr fällt im Rana Plaza der
Strom aus. Automatisch springen jetzt
die tonnenschweren Generatoren an.

ULLSTEIN BILD
Dhaka, Rana Plaza, circa 8.45 Uhr
Sechs bis zehn Minuten dauert es, bis in
Immobilienunternehmer Rana nach seiner Festnahme: „Fallt mir nicht auf die Nerven!“ der Südwestecke des Gebäudes der erste
Pfeiler einknickt.
arbeiten in fünf Reihen, 70 Industrienäh- mark, überall dort, wo ein T-Shirt verlo- Dann geht alles sehr schnell. Shefali
maschinen pro Reihe. Kein Ventilator, kei- ckend wenig kostet, 4,99 Euro, 3,99 Euro, spürt, wie unter ihr der Fußboden weich
ne Klimaanlage. Es wird nicht gern gese- fast nichts. Ein solcher Preis setzt voraus, wird, nachgibt. Ihr Blick sucht ihre
hen, wenn eine Arbeiterin ihren Platz ver- dass Käufer und Produzenten so wenig Schwester, in der Kragenabteilung. Aber
lässt. Dennoch geht Shefali manchmal auf wie möglich voneinander wissen. Von Shirin ist nicht da. Und dann ist der Bo-
die Toilette, nur um sich etwas Wasser ins den Bedingungen, unter denen das T-Shirt den weg, und Shefali fällt.
Gesicht zu spritzen. Shirin näht Kragen. entstanden ist, will der Kunde in London Vier Stockwerke tiefer, in der zweiten
Ganz unten in der Hierarchie einer oder München nicht wirklich hören. Er Etage, fühlt Fahima, die Näherin für Gür-
Nähetage stehen die „helper“, Leute, die will ein T-Shirt, kein Schicksal. telschlaufen, einen gewaltigen Schlag. Al-
Stoff anreichen, zwischen den Abteilun- Fahima und ihre Kolleginnen wieder- les versinkt in Staub und Dunkelheit. Sie
gen hin- und herwechseln. Darüber ste- um ahnen nicht, dass die Arbeit, an der rennt in Richtung Verpackungsabteilung,
hen die „sewing operators“, die Näherin- ihr Überleben hängt, in den Ländern des zu ihrem Mann, Abu Said. Sie hört den
nen, Frauen wie Shefali und Shirin. Über Westens so gut wie keinen Wert hat. Dass Supervisor schreien: Alle raus! Dann sind
eine Gruppe von Näherinnen wacht die ein T-Shirt ein Wegwerfartikel ist. sie in der Nähe des Treppenhauses. Über-
Supervisorin, sie achtet darauf, dass das In Läden wie H&M oder Zara ver- all Menschen, die schreien, weinen, wim-
Tempo gehalten wird. schwindet die Geschichte eines Produkts mern, sie drängen panisch zum Ausgang.
Darüber steht der „line chief“, der eine hinter lauter Musik und greller Marken- Warte! Sonst werden wir zertrampelt,
der fünf Reihen überwacht. Alle fünf inszenierung. Sichtblenden, hinter denen schreit Fahimas Mann. Dann werden sie
„line chiefs“ bei New Wave Style sind getrennt.
Männer. Für die ganze Etage ist der Ihr Blick sucht die Mohammed Badul, im dritten Stock,
„floor in charge“ verantwortlich. befindet sich, als das Gebäude zusam-
Zehn Hierarchiestufen gibt es insge- Schwester, aber dann ist menbricht, in der Mitte der Etage. Zum
samt, Shefali und Shirin stehen auf Stufe Treppenhaus ist es zu weit für ihn. Aber
zwei. Shefali hofft, eines Tages zum „line der Boden weg, er kann sich unter einen schweren Holz-
chief“ befördert zu werden, dann würde tisch retten.
sie 14 000 Taka verdienen. Damit wäre und Shefali fällt. Auch Sohel Rana ist in seinem Büro,
die Zukunft von Nawshad, ihrem Bruder, als das Gebäude zusammenstürzt. Die
gesichert. Agenten, Zwischenhändler und Vermitt- Garage erweist sich als verhältnismäßig
ler dafür sorgen, dass der globale Tausch- sicher, eine Art Luftschutzkeller. Rana
Dhaka, Rana Plaza, circa 8.30 Uhr handel funktioniert. Auch in Dhaka gibt wird verschüttet, er bleibt unverletzt.
Fahima, im zweiten Stock, kann sich an es solche Agenten. Bei ihnen laufen die Der Einsturz dauert kaum länger als
diesem Morgen schwer konzentrieren. Aufträge der großen Ketten ein, sie ver- 90 Sekunden. „Das Gebäude wurde zu-
Immer wieder blickt sie hinüber zu den mitteln die Bestellungen weiter an ein- sammengedrückt wie ein Sandwich“, sagt
Rissen. heimische Fabriken. Mainuddin Khandaker, der Ermittler.
Die Risse sind mittlerweile auch hinauf Es läuft so: Der Auftraggeber, etwa Das Rana Plaza war ein Gebäude, das
in den dritten Stock gewandert, wo Mo- H&M, schickt eine Designprobe nach es niemals hätte geben dürfen. Gebaut
hammed Badul Jeans verpackt. Dhaka. Der „middleman“, der Agent, auf sumpfigem Gelände, mit schlechtem
Etwa 3500 Menschen haben sich an die- kennt Fabrikanten und Produktionsstät- Material, ohne Know-how und ausrei-
sem Morgen im Rana Plaza an ihren Ar- ten. Er sucht eine geeignete aus. chende Prüfungen – aber kein Einzelfall.
beitsplatz begeben, obwohl die Einsturz- In den vergangenen Jahren hatten die Experten schätzen, dass von den 240 000
gefahr augenfällig war. meisten Fabrikbesitzer in Bangladesch industriell genutzten Gebäuden in und
Dennoch gingen sie hinein. mehr Aufträge angenommen, als sie ab- um Dhaka etwa ein Drittel in einem ähn-
Warum? arbeiten konnten. Denn sie müssen Löh- lich gefährlichen Zustand ist.
Ein Teil der Antwort findet sich nicht ne zahlen, Darlehen tilgen, Miete an Leu- Eigentlich müssten diese Fabriken so-
in Bangladesch, sondern in unseren Städ- te wie Rana entrichten. Sie nahmen in fort geschlossen werden. Aber das wird
ten, bei H&M, bei Zara, bei Next und Pri- Kauf, einen Teil der Bestellung an Sub- nicht passieren. Ohne diese lebensgefähr-
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Meter hoch. Sie wird noch am selben
Abend geborgen, mit einer schweren
Kopfverletzung. Ihr Mann Abu Said
kommt in den Trümmern um. Fahima
wird ihn 16 Tage nach dem Unglück an-
hand der Nummer auf seiner Lochkarte
identifizieren – und anhand der Dose Kau-
tabak, die in seiner Hosentasche steckt.
Sohel Rana ist zu diesem Zeitpunkt
schon auf der Flucht. Er war als einer der
Ersten gerettet worden – seine Body-
guards hatten ihn übers Handy-Klingeln

INDRANIL KISHOR / AG. FOCUS / DER SPIEGEL


geortet und aus den Trümmern gezogen.
Er wird vier Tage nach dem Unglück
gefasst, an der Grenze zu Indien. Mit dem
Hubschrauber wird er nach Dhaka ge-
bracht, ins Zentralgefängnis.
Khandaker wird ihn mehrmals verhö-
ren. Er wird auf einen bisher unbekann-
ten Rana treffen, einen gebrochenen, wei-
nenden Mann.
Ruine des Rana Plaza: Auf Sumpf gebaut Don’t make my life miserable, fallt mir
nicht auf die Nerven, mit diesen Worten
liche Art zu bauen, ohne Leute wie Rana, tastrophe zu fahren. Bevor er sich auf hatte Rana die Fabrikbesitzer dazu ge-
die die Regeln brechen, kann das System den Weg macht, stellt er ein Team zu- bracht, ihre Arbeiter in das Haus zu trei-
Bangladesch nicht überleben. Das System sammen. ben. Vielleicht enthält dieser eine Satz
produziert Typen wie Rana. Shefali, die ältere der beiden Schwes- das ganze moderne Bangladesch, die
Die Volkswirtschaft Bangladesch hat tern, liegt bereits im Enam Medical Col- Sorglosigkeit, die Ungeduld, das Wissen,
nur diese eine Karte: die niedrigsten Löh- lege. Gegen zehn Uhr hat man sie aus dass es keine Alternative gibt.
ne der Welt. Dazu 160 Millionen Men- den Trümmern geborgen. Sie hat kein Mainuddin Khandaker, der Ermittler,
schen, die sich duldsam ausbeuten lassen, Gefühl mehr in den Beinen, ihre Hüfte hat seine selbstgeernteten Beeren aufge-
weil es immer noch erträglicher ist, in ist angebrochen. Von ihrer Schwester gibt gessen, auf den Knien liegt die Zusam-
Dhaka zwölf Stunden am Tag Knochen- es keine Nachrichten. Erst 14 Tage nach menfassung des Untersuchungsberichts.
arbeit zu leisten, als landlos in einem dem Unglück wird Shefali erfahren, dass Offiziell sagt der Ermittler Khandaker:
halbüberschwemmten Dorf Hunger zu Shirin nicht überlebt hat. Die Katastrophe von Rana Plaza war ein
leiden. Rund 80 Prozent der Exporterlöse Mohammed Badul, der Mann, der gern Einzelfall, kein Systemfehler. Mit dieser
stammen aus der Textilindustrie. Wer so Friseur geworden wäre, steckt unter dem Erkenntnis kann Bangladesch weiterma-
aufgestellt ist wie Bangladesch, wer stän- schweren Holztisch, der ihn schützen soll- chen wie bisher, das System ist gerettet.
dig in der Angst leben muss, dass Aufträ- te, fest. Nicht weit von ihm hockt eine Das war Khandakers Job.
ge nach Kambodscha, Vietnam, Indone- Arbeitskollegin, sie wird später Moham- Inoffiziell, am Ende eines langen Ge-
sien abwandern, der kann den Nachfra- meds Frau Shali ausfindig machen und sprächs, sagt Khandaker: „Dieser Tag, die-
geüberhang, gestützt von der unstillbaren ser 24. April, war das zwangsläufige Er-
Konsumgier des Westens, nicht zu seinem In den Trümmern gebnis des globalen Markts.“
Vorteil nutzen. Shefali, Fahima und Shali leben immer
Darum bleibt die Produktion unschlag- liegen Garnrollen, Schuhe, noch im Basti Madjipur. Shefali liegt den
bar billig. Und darum sichert sich das ganzen Tag auf dem Bett, das sie mit ihrer
Land Bangladesch seine Rolle als Näh- Reißverschlüsse – Schwester teilte, sie kann sich nur für ein
maschine der Welt. Eine Textilfabrik in paar Minuten aufrichten. Sie hofft, dass
Form eines Staates, eine riesige Nähstube und Qualitätsprotokolle. irgendwann die Schmerzen in der Hüfte
mit eigener Nationalhymne und Sitz bei verschwinden und sie wieder arbeiten
der Uno. Und einer Wirtschaft, die sich, ihr von ihrem Mann berichten. Wenn ich kann. Shefali, Fahima und viele andere
kontrolliert von den Textilfabrikanten, hier nicht rauskomme, sag meiner Frau Überlebende haben dem SPIEGEL ihre
in einem permanent überhitzten Zustand und meinem Sohn, dass ich an sie ge- Geschichte erzählt.
befindet; das Wachstum mit knapp sie- dacht habe. In den Trümmern, dort, wo einst das
ben Prozent ist eines der höchsten der Mohammed Badul kann die Arbeitskol- Rana Plaza stand, liegen immer noch
Welt. legin nicht sehen, sie sind durch einen ge- Garnrollen, Schuhe, Reißverschlüsse,
Der Käufer im Westen empfindet Em- borstenen Pfeiler voneinander getrennt. Qualitätsprotokolle, man kann immer
pörung, Mitleid angesichts der dramati- Doch sie können miteinander sprechen, noch die Einträge entziffern, „Broken
schen Bilder des Einsturzes. Doch er ver- mehr nicht. Die Frau hat eine Flasche Was- Stitch“, „Top Stitch Uneven“, gebrochene
gisst schnell. Bei H&M, KiK und Wal-Mart ser dabei, Badul nicht. Vielleicht ist es die- Naht, Steppnaht unsauber.
greift er bald wieder nach dem billigsten se kleine Ration Wasser, die die Frau am Und daneben Etiketten, Hunderte. Joe
Produkt. Leben halten wird, bis man sie findet, Fresh, Mascot, Benetton, Wal-Mart, Pri-
während Badul in seinem Zufluchtsort mark, Bonmarché, The Children’s Place,
Dhaka, Rana Plaza, später Nachmittag stirbt, wahrscheinlich verdurstet, irgend- KiK.
Mainuddin Khandaker, der Ermittler, er- wann in den nächsten Tagen.
fährt am Nachmittag des 24. April von Fahima, die Frau, die für die Ausbil- Video: Ralf Hoppe über
dem Einsturz. Seit dem frühen Morgen dung ihres Sohnes arbeitete, überlebt, zu- die Katastrophe von Dhaka
hat er in Konferenzen gesessen; erst am sammengekauert in einem Hohlraum zwi- spiegel.de/app272013dhaka
Abend schafft er es, an den Ort der Ka- schen zwei Etagendecken, einen halben oder in der App DER SPIEGEL

54 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Gesellschaft

Nullstellen
HOMESTORY Die 16-jährige Mona Steininger
erwartet von ihrer Schule Antworten auf
Fragen unserer Zeit – und bekommt sie nicht.

THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL


I
n ein paar Wochen sind Ferien, ich habe dann die zehnte
Klasse am Gymnasium geschafft, und in diesen Tagen blicke
ich auf das Schuljahr zurück und überlege, auf welche gro-
ßen Fragen ich in der Schule in diesem Jahr Antworten gefun-
den habe. Ich habe gelernt, wie sich die Nullstellen von ganz-
rationalen Funktionen berechnen lassen. Ich weiß, um was es
in „Die Räuber“ geht. Und ich weiß, wie es sich anfühlt, zwei Wir bekommen die „Süddeutsche Zeitung“ nach Hause, aber
ganze Kapitel aus Ovids „Metamorphosen“ vom Lateinischen ich hab noch nicht einmal Zeit zum Frühstücken, wie soll ich
ins Deutsche zu übersetzen. dann die Zeitung lesen? Den SPIEGEL habe ich auch abonniert,
In diesen Tagen blicke ich auch auf das zurück, was im ver- aber da sind viele Geschichten oft ganz schön trocken. Manch-
gangenen Jahr außerhalb meiner Schule passiert ist, und ich mal laufe ich durchs Zimmer, wenn mein Vater die „Tages-
überlege, auf welche Fragen ich da Antworten gefunden habe. schau“ guckt, aber die „Tagesschau“ ist mir viel zu langsam,
Ein paar sind es schon, aber viele Fragen bleiben offen: Warum da würde ich am liebsten die Nachrichten nacheinander weg-
genau protestieren die Menschen in der Türkei? Was ist in Sy- klicken.
rien los? Gibt es Krieg im Nahen Osten? Wir haben auch die „Zeit“ im Abo. Meistens setze ich mich
Ich bin 16 Jahre alt, und ich bin keine Streberin. Ich schreibe am Sonntag mit einem Chai und der „Zeit“ ins Bett und ver-
auch mal eine Vier in Chemie, und es gibt eine Menge Dinge, suche, in zwei Stunden die Welt zu verstehen.
die mich mehr interessieren als Weltpolitik oder Schule. Aber Wie auch immer mich die Nachrichten finden, oft denke ich,
dennoch denke ich zurzeit darüber nach, ob Schule eigentlich dass mir die Zusammenhänge verborgen bleiben.
so sein muss, wie sie ist, und warum sie nicht besser sein kann. Andrea und ich saßen im Sozialkundeunterricht und disku-
Zwei Stunden in der Woche haben wir Sportunterricht. Wir tierten so laut über die Türkei, dass auch der Junge, der vor
spielen Spiele, deren Ziel es ist, einem anderen Schüler einen uns saß, sich einklinkte. Der Lehrer hat nichts mitbekommen.
Ball aus Gummi gegen den Kopf zu werfen. Wir rennen auch Als die Stunde vorbei war, hatte ich nichts über die Verab-
im Kreis oder versuchen, über eine Stange zu springen. schiedung von Gesetzen verstanden, aber wir Schüler saßen
zusammen und diskutierten über den Taksim-Platz. Jeder steu-
erte etwas von seinem Halbwissen bei. Sogar die Jungs redeten
Ich hole mir Fakten – mit, die sich sonst nur für Fußball interessieren.
Wir wollen die Welt verstehen. Das wäre doch super für
aber die Zusammenhänge einen Sozialkundelehrer, wenn er eine Klasse vor sich hätte,
die Lust hat auf das, was er erzählt. Aber viele Lehrer kleben
verstehe ich nicht. an ihrem Stoff und dem Lehrplan. Sie haben Angst wegen des
G 8, der verkürzten Schulzeit bis zum Abitur. Wir sind im Jahr
2013. Bringt mir etwas bei, was mir hilft, die Welt zu verstehen.
Eine Stunde in der Woche habe ich Unterricht im Fach So- Ich verstehe die Lehrer auch ein bisschen, weil sie Angst ha-
zialkunde. Wir beschäftigen uns in diesen Tagen mit der Frage, ben, dass sie ihren Stoff nicht schaffen. Aber ist das ein gutes
was notwendig ist, um ein Gesetz zu verabschieden. Signal, dass wir lernen, die falschen Entscheidungen zu treffen,
Vor kurzem saßen meine Banknachbarin und ich im Sozial- weil wir Angst haben?
kundeunterricht, und wir haben leise über die Proteste in der Ich bin 16. Ich will nicht so tun, als könnte ich einen neuen
Türkei diskutiert. Lehrplan aufstellen, der besser ist als der alte. Aber ich will
Es ging schon am Abend vorher über WhatsApp los. ein paar Fragen stellen und hoffe, dass es an meiner Schule
Andrea: Was zum Teufel geht denn eigentlich in der Türkei oder in irgendeinem Kultusministerium da draußen einen Leh-
ab? Was zum Teufel ist der Erdogan für ein Idiot! rer gibt, der sich berufen fühlt, mir die Antworten zu liefern.
Ich: habs bei der chrissi über facebook mitbekommen, die Warum gibt es „Aktuelle Politik“ nicht als Fach? Warum dür-
studiert gerade in istanbul … krass! fen Lehrer ihr ganzes Leben lang dasselbe unterrichten? Wieso
Andrea: Total! Da weiß man nicht, was man sagen soll! machen alle so einen Druck? Wieso müssen wir so viel Stoff
Genau das ist das Problem. Wir wissen nicht, was wir sagen lernen? Wieso nehmen wir viele Dinge einfach so hin? Wieso
sollen, weil wir nur halb verstehen, was da eigentlich los ist. gibt es in Bayern eine CSU und keine CDU? Was hat Russland
Die meisten Nachrichten erreichen mich über Facebook. Das mit Syrien zu tun? Soll Deutschland mehr tun im Syrien-Kon-
habe ich auf meinem Handy. Eine Bekannte von mir, Chrissi, flikt? Wie lösen wir den Streit um Palästina? Wieso reagiert Er-
die gerade in Istanbul studiert, war auf dem Taksim-Platz und dogan so hart? Wie spricht man den Mann eigentlich aus: Erdo-
hat geschrieben, dass dort die Polizei hart prügelt. Ich bin dann an oder Erdogan? Was ist jetzt mit dem EU-Beitritt der Türkei?
auf SPIEGEL ONLINE gegangen und habe mir angeguckt, was Was macht die Bundeswehr in Mali? Was will die FDP? Wer
die über die Türkei schreiben. Ich bin häufig bei SPIEGEL ON- will Peer Steinbrück? Kriege ich Ärger wegen dieses Textes?
LINE, hol mir ein paar Fakten, aber die Zusammenhänge ver- MONA STEININGER IST SCHÜLERIN
stehe ich da nicht. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich die AM RUPERTI-GYMNASIUM IN MÜHLDORF AM INN.
Geschichten nur scanne und eigentlich nie zu Ende lesen will. AUFGEZEICHNET VON TAKIS WÜRGER

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 55
Trends

T E L E KO M M U N I K AT I O N

Erboster Brief ans


Kanzleramt
Die deutsche Telekommunikations-
industrie wehrt sich gegen die von Bun-
deswirtschaftsminister Philipp Rösler
(FDP) geplante Verordnung zur Netz-
neutralität (SPIEGEL 25/2013). In ei-
nem erbosten Brief vom 27. Juni an das
Kanzleramt üben die sechs führenden
Telekommunikationsverbände unge-
wöhnlich harsche und offene Kritik an
dem Verordnungsentwurf aus dem Bun-
deswirtschaftsministerium. Das Werk,
heißt es in dem dreiseitigen Schreiben,
werde der „Komplexität der Thematik
nicht gerecht“ und stelle „eine erhebli-
RAINER WEISFLOG

che Gefahr für die Wettbewerbsfähig-


keit des Standortes dar“. Die Industrie
brauche die „Möglichkeit, Produkte Docklands in der irischen Hauptstadt Dublin
und Dienste nach Preis und Qualität zu
differenzieren“.
Genau das jedoch ST E U E ROA S E N
werde durch Rös-
lers Verordnung
eingeschränkt. Of-
fen drohen die Te-
lekommunikations-
Schädlicher Wettbewerb
verbände sogar Die Organisation der Industrieländer um ihre Steuerlast zu minimieren, heißt es
RAINER JENSEN / DPA

damit, die von der OECD macht Ernst mit ihrem Kampf ge- im vertraulichen Entwurf des Aktionsplans.
Bundesregierung gen Steueroasen. In der vergangenen Wo- Die Experten schlagen vor, dass die Staa-
gesteckten Breit- che verabschiedeten hochrangige Vertreter ten in ihren nationalen Steuergesetzen,
bandziele nicht von Finanzministerien im Steuerausschuss aber auch in internationalen Abkommen
Rösler mehr erreichen zu der Organisation einen Aktionsplan, mit untereinander solchen Praktiken einen Rie-
können, sollte der dem sie Ansprüche gegen notorische gel vorschieben. Der Aktionsplan richtet
Entwurf des Wirtschaftsministers wie Steuervermeider wie Google oder Apple sich zudem gegen „schädlichen Steuerwett-
geplant noch vor der Sommerpause im durchsetzen können. Die Experten wollen bewerb“, bei dem sich Länder mit immer
Kabinett verabschiedet werden. Rösler verhindern, dass international agierende niedrigeren Tarifen gegenseitig unter
hatte mit seiner Verordnung zur Netz- Unternehmen ihre Gewinne etwa durch Druck setzen. Ins Visier nimmt der Plan
neutralität auf die Pläne der Deutschen überhöhte Verrechnungspreise oder Li- nicht nur klassische Steueroasen, sondern
Telekom AG reagiert, bei bestimmten zenzgebühren von Hochsteuerländern in auch EU-Mitgliedstaaten wie Irland oder
Tarifen die Geschwindigkeit der Über- Standorte verlagern, in denen ein niedri- die Niederlande, die Unternehmen Steu-
tragung zu drosseln. Nach seinen Vorstel- gerer Tarif gilt oder auf bestimmte Einnah- ersparmodelle anbieten. Beim nächsten
lungen sollten alle Dienste im Internet men gar keine Steuern anfallen. Multi- Finanzministertreffen der führenden Indu-
unabhängig vom jeweiligen Anbieter nationale Konzerne hätten solche „Präfe- strie- und Schwellenländer (G 20) Mitte Juli
gleich behandelt, bezahlt und von den renzregime“ immer wieder missbraucht, soll der Aktionsplan vorgestellt werden.
Netzbetreibern transportiert werden.

GASMARKT
niert und sich mit seinen Forderungen
weitgehend durchgesetzt. So muss
Gazprom für den Zeitraum von drei
Teure Niederlage Jahren mehr als eine Milliarde Euro an
den Essener Konzern zurückzahlen.
Für den russischen Energiemulti Mit dem nicht mehr anfechtbaren
MAXIM SHIPENKOV / EPA / DPA

Gazprom könnte die Niederlage im Schiedsspruch ist die oft kritisierte


Schiedsgerichtsverfahren mit dem Es- Bindung des Gaspreises an den Öl-
sener Stromriesen RWE nach Einschät- preis nach Einschätzung von Experten
zung russischer Manager erhebliche endgültig nicht mehr zu halten. Die
Folgen haben. RWE hatte in dem Ver- Gazprom-Gaspreise dürften in Zu-
fahren die an den Ölpreis gekoppelten kunft signifikant fallen. Davon wird
Gaslieferkonditionen der Russen mo- Russische Gasstation auch der Strompreis profitieren.
56 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Wirtschaft

GESUNDHEIT

Bürgerversicherung verfassungswidrig?
Die Pläne der Grünen zur Einführung Zugleich will die Partei die beitrags-
einer Bürgerversicherung verstoßen freie Mitversicherung für Ehegatten
aus Sicht des Bundesgesundheitsminis- einschränken. Sie soll nur noch für

BEN BEHNKE / DER SPIEGEL


teriums gegen das Grundgesetz. „Das nichterwerbstätige Partner gelten, die
Grünen-Konzept ist verfassungsrecht- kleine Kinder betreuen oder Angehöri-
lich problematisch“, heißt es in einem ge pflegen. Außerdem soll die Bei-
Vermerk der Beamten von Ressortchef tragsbemessungsgrenze gesplittet wer-
Daniel Bahr (FDP). „Dies gilt sowohl den: „Die betroffenen Familien wer-
für die unmittelbare Abschaffung der den dadurch mit insgesamt rund fünf Schleuse im Nord-Ostsee-Kanal
privaten Krankenversicherung als auch Milliarden Euro belastet“, heißt es in
für die Einführung eines Beitragssplit- dem Ministeriumsvermerk. „Haushal- INFRASTRUKTUR
tings, bei dem Ehepaare gegenüber te des mittleren und oberen Mittelstan-
nichtverheirateten Paaren finanziell des“ müssten durch die Bürgerversi-
benachteiligt würden“, so das Papier.
In ihrem Wahlprogramm fordern die
cherung insgesamt mit Mehrlasten von
rund neun Milliarden Euro rechnen.
Programme verpuffen
Grünen, künftig auch Beamte, Selb- Der Vermerk dürfte Minister Bahr im Ein interner Bericht des Verkehrs-
ständige und Besserverdienende bei Wahljahr höchst gelegen kommen: ministeriums bringt Ressortchef Peter
gesetzlichen Kassen abzusichern. Fak- Der Liberale gehört zu den engagier- Ramsauer (CSU) in Bedrängnis. Die
tisch würde dies das Ende der privaten testen Verfechtern der privaten Kran- Auswertung der beiden sogenannten
Krankenvollversicherung bedeuten. kenversicherung. Infrastrukturbeschleunigungsprogram-
me der schwarz-gelben Regierung
zeigt, dass die Behörde zusätzliches
Geld für die Infrastruktur nur schlep-
pend investiert – obwohl Ramsauer
ständig die Unterfinanzierung von
Straßen und Schienen beklagt. Aus
dem ersten Programm, das die Koali-
tion im Herbst 2011 mit einer Milliarde
Euro ausgestattet hatte, floss bis Ende
März nicht einmal die Hälfte der Sum-
me ab. Besonders zäh kommt der Aus-
bau der Wasserstraßen voran. Von den
bereitgestellten 300 Millionen Euro
wurden gerade einmal 2,9 Millionen
verbaut. Auch bei der Schiene stehen
noch fast 70 Prozent der Mittel zur
Verfügung. Nicht viel besser läuft es
beim zweiten Programm, für das seit
Jahresbeginn 750 Millionen Euro vor-
handen sind. Im ersten Quartal wur-
den gerade einmal 20 Millionen Euro
HANNIBAL HANSCHKE / DPA

investiert. „Die miesen Ergebnisse zei-


gen, dass die bei Ramsauer beliebten
Strohfeuerprogramme nichts bringen“,
Bahr sagt Sören Bartol, verkehrspolitischer
Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.

KARRI EREN

Kabel-Deutschland-Chef wechselt zu Vodafone


Adrian von Hammerstein soll nach er- vergangene Woche für das Kabel-Un- mender Konkurrent der Deutschen
folgreicher Fusion mit Kabel Deutsch- ternehmen 10,7 Milliarden Euro inklu- Telekom. Denn Kabel Deutschland
land in die Geschäftsführung von sive aller Schulden geboten. Als des- verfügt in zahlreichen Metropolen wie
Vodafone Deutschland aufrücken. Das sen Chef hatte Hammerstein seinen Hamburg oder München über ein gut-
ist das Ergebnis der ersten Verhand- Aktionären geraten, das Angebot ausgebautes Glasfasernetz, auf dem
lungsrunden zwischen dem Kabelnetz- anzunehmen. Zusammen mit dem Internetdienste und Fernsehprogram-
betreiber und dem Mobilfunkunter- Kabelnetzbetreiber würde Mobilfunk- me in hoher Geschwindigkeit und
nehmen aus London. Vodafone hatte spezialist Vodafone ein ernstzuneh- Qualität übertragen werden können.
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 57
Wirtschaft

WÄ H R U N G S U N I O N

Spirale nach unten


Die Euro-Rettung kommt nicht voran. Der Erfolg der verordneten Reformen ist
überschaubar, die Krisenländer verharren in der Rezession.
Der Ruf nach einem Kurswechsel wird lauter. Ist Südeuropa noch zu retten?

Z
u Flamenco-Klängen stolzierten habe „die beste Bank der trotz aller Sanierungsanstren-
spanische Top-Models auf die Büh- Welt“, die meisten installier- gungen ungewiss ist. Und
ne. Sie trugen knapp sitzende Klei- ten Solarpanels und ein gro- trotz aller Reformen wachsen
der der angesehensten Designer ihres ßes Herz, heißt es in einem in Spanien noch immer vor
Landes und präsentierten Teller mit küh- Werbevideo. Auch bei der allem Staatsschulden und Ar-
nen Tapas-Kreationen spanischer Köche. Zahl der Organspender gebe beitslosigkeit, während die
Mit der Show inszenierten die Spanier, es kein Land, das die Iberer übertreffen Wirtschaft in der Rezession verharrt. Da-
mitten im Europäischen Parlament, im könne. bei gehört Spanien noch zu den hoff-
Juni eine Art Wiedergeburt. „Wir haben Doch ein paar reizende Models und nungsvolleren unter den europäischen
der Welt etwas zu bieten. Wir sind nicht das stolze Herz eines Stierkämpfers wer- Sorgenkindern. Seit vier Jahren frisst sich
nur das Land der Krise“, sagt der Außen- den nicht reichen, um Spanien und den die Staatsschuldenkrise durch den Konti-
minister José Manuel García-Margallo. Er Rest Südeuropas aus der Krise zu führen. nent. Ebenso lange doktern die Krisen-
will mit der Mischung aus Modenschau Neben der in dem Video gelobten Ban- manager in Brüssel, Berlin und bei der Eu-
und Köche-Event die „Marca España“ auf co Santander hat Spanien einen schwa- ropäischen Zentralbank (EZB) in Frank-
einer Welttournee präsentieren. Spanien chen Sparkassensektor, dessen Zukunft furt am Main an den Patienten herum.

Weiter in der Krise Wirtschaftsdaten der südlichen EU-Krisenländer (2013: Prognose)


Regierungschefs Merkel, Samaras (r.)
PORTUGAL SPANIEN
HAUSHALTSDEFIZIT in Prozent des BIP
2005 2013 2013

3
2005 3

5,5 9 6,5 9

WIRTSCHAFTSLEISTUNG Veränderung des BIP gegenüber dem Vorjahr, in Prozent

+3 +3

–3 –1,5 –3
–2,3

ARBEITSLOSIGKEIT Quote in Prozent 27,0


18,3 20
8,6 10
9,2 10

BERTRAND LANGLOIS / AFP


2005 2013 2005 2013

LOHNSTÜCKKOSTEN real, Veränderung gegenüber 2005, in Prozent 5

0 0

–5 –5

–10 10

2005 2010 2013 2005 2010 2013

Quelle: EU-Kommission

58
Nach der Ankündigung des EZB-Prä- men streiten sich, ob und, wenn ja, wie Doch der kommt bislang kaum voran.
sidenten Mario Draghi im vergangenen sie da wieder herauskommen. Und das, so glauben viele Politiker und
Sommer, alles zu tun, um den Euro zu Hans-Werner Sinn, Chef des Münch- Ökonomen in den Krisenländern, liegt
erhalten, entspannte sich zwar die Lage ner Ifo-Instituts, plädiert für einen zeit- vor allem an der strengen Austeritäts-
in der Euro-Zone. lich begrenzten Austritt von Krisenlän- politik, für die sie die deutsche Kanzlerin
Doch jetzt zeigt sich, wie trügerisch dern aus dem Euro. Ihre Produkte seien Angela Merkel verantwortlich machen.
diese Ruhe war. Seit US-Notenbankchef so teuer geworden, dass es für sie un- „Einen Großteil der Drecksarbeit hat
Ben Bernanke ankündigte, allmählich we- möglich sei, innerhalb der Währungs- Portugal gemacht, doch es bleiben die
niger Geld in die Finanzmärkte zu pum- union konkurrenzfähig zu werden, argu- hohen Schulden und die hohe Arbeitslo-
pen, sind auch in Europa die Marktzinsen mentiert der Ökonom. Nach einem sigkeit“, sagt Pedro Santa Clara, Professor
deutlich gestiegen. Austritt könnten die Krisenländer ihre an der Nova School of Business & Eco-
Nun, da die sedierende Wirkung des neue Währung abwerten, ihre Importe nomics in Lissabon. „Es gibt für unsere
billigen Geldes nachlässt, wird klar, wel- würden teurer, die Exporte billiger. Es Probleme nur eine Lösung: Wachstum
che Risiken in den europäischen Krisen- wäre eine Rosskur, aber am Ende, so die und Investitionen.“ Auch Portugals Wirt-
staaten noch immer lauern. Und dass vie- Theorie, wäre der Patient gesund, er schaftsminister Álvaro Santos Pereira
le Probleme ungelöst sind: Nicht nur in könnte sogar wieder in die Währungs- drängt auf neue Impulse im Krisenma-
Spanien, auch in Griechenland, Italien union einsteigen. nagement: „Europa muss zum Wachstum
und Portugal wachsen die Staatsschulden „Zynisch“ findet Thomas Straubhaar, zurückfinden, Vertrauen schaffen, um
rapide – trotz Sparpolitik und teils be- Chef des Hamburgischen Weltwirtschafts- Konsum und Investitionen anzukurbeln.“
achtlicher Reformanstrengungen. instituts (HWWI), das Gerede von der Doch die Bundesregierung will eisern
Denn die Regierungen kürzten auf „Abwertung, und dann wird alles gut“. am eingeschlagenen Kurs festhalten. „Die
Druck der EU-Kommission, der EZB und In welchen Bereichen, fragt er, soll denn schwache wirtschaftliche Lage in der
des Internationalen Währungsfonds Griechenland wettbewerbsfähig werden? Euro-Zone ist kein Grund, von der Doppel-
(IWF), der sogenannten Troika, zwar die Außer dem Tourismus und einigen Agrar- strategie nachhaltiger fiskalischer Konso-
Staatsausgaben, gleichzeitig brachen aber produkten gebe es da nichts. lidierung kombiniert mit Strukturrefor-
die Einnahmen infolge der Rezession weg. „Wer austritt, verliert“, sagt Straub- men abzuweichen“, heißt es in einer in-
Hinzu kommt, dass die verheerend hohe haar, und deshalb werde kein Land frei- ternen Vorlage des Finanzministeriums.
Arbeitslosigkeit auch höhere Staatsaus- willig die Währungsunion verlassen. Ein Der bisherige Kurs sei erfolgreich.
gaben verursacht. Aufbau einer Wirtschaftsstruktur sei in- Das strukturelle Defizit der Euro-Zone
Die Krisenstaaten sind in einer Ab- nerhalb eines Transfergebiets wesentlich habe sich seit 2009 mehr als halbiert, die
wärtsspirale gefangen. Und die Ökono- besser zu bewerkstelligen. Lohnstückkosten, ein wichtiger Indika-
tor für die Wettbewerbsfähigkeit, seien
„deutlich gesunken“. Die andauernde
Wachstumsschwäche im gemeinsamen
Währungsgebiet sei „Ausdruck des tief-
ITALIEN GRIECHENLAND
greifenden Anpassungsprozesses, den die
Euro-Zone momentan durchläuft, und
keineswegs monokausal auf die Haus-
2005 2013 2005 2013 haltskonsolidierung zurückzuführen“.
3 3 Diese Entwicklung sei „mittelfristig för-
2,9 3,8 derlich für das Wachstum“. Finanzmi-
9 9 nister Schäubles Beamte warnen ein-
dringlich davor, jetzt „den notwendigen
15 Anpassungsprozess“ zu bremsen. Eine
Abkehr vom Sparkurs würde „die posi-
+3 +3 tive Entwicklung der letzten Monate aufs
Spiel setzen“.
–1,3 –3 –3 Klaus Regling, Chef des Europäischen
–4,2 Rettungsfonds ESM, springt Schäuble bei.
„Die Euro-Programmländer erleben, was
27,0
vor einigen Jahren IWF-Programmländer
20 wie Brasilien, Südkorea oder die Türkei
11,8 9,9 erlebt haben.“ Die betroffenen Menschen
7,7 10 10 sollten daran denken, dass diese Länder
dank Strukturreformen und Geduld heute
2005 2013 2005 2013 beeindruckende Wachstumsraten aufwei-
sen, sagte Regling.
5 Auch Merkel bremste auf dem EU-
Gipfel in der vergangenen Woche jede
0 0
Initiative, schnell mehr Geld für Kon-
–5 –5 junkturprogramme lockerzumachen. „Wir
–10 –10
müssen erst einmal ein gemeinsames Ver-
ständnis dafür entwickeln, was für
Wachstum wichtig ist.“ Sie warb bei ihren
2005 2010 2013 2005
Kollegen Regierungschefs für eine inhalt-
liche Debatte auf dem nächsten Gipfel
im Oktober. Wachstum wolle ja jeder,
spottete sie nach dem Treffen. Für man-
che ihrer Kollegen sei das Wachstumsziel
59
NIKOLAS GIAKOUMIDIS / AP / DPA

Protest gegen die Schließung des griechischen Staatssenders ERT in Thessaloniki: „Symbol für Verschwendung und Korruption“

schon erreicht, wenn die staatlichen In- ben und damit in die Endrunde zu kom- ern, halten Skeptiker für ein statistisches
vestitionen hochgefahren werden. men. Wer im Finale das Rennen macht, Phänomen: In der Krise gehen unproduk-
Im Dezember sollen die Grundlagen für darf fortan als Bibliothekar im benach- tive Arbeitsplätze verloren, damit steigt
Verträge zwischen der EU-Kommission barten 10 000-Einwohner-Städtchen Pog- die Produktivität der verbliebenen – rein
und einzelnen EU-Ländern geschaffen wer- gio a Caiano arbeiten: 26 Stunden in der rechnerisch – automatisch.
den. Erst dann wird es eine Art Solidar- Woche, für 900 Euro netto im Monat. Die eigentlichen Probleme liegen in der
fonds zwischen den Euro-Ländern geben. Arbeit ist rar geworden in Italien, be- Wirtschaftsstruktur. So wuchs in den Jah-
Mehr Geld soll es, so sieht Merkels Plan sonders für junge Menschen. 40,5 Prozent ren vor der Krise in Spanien wegen der
aus, nur gegen völkerrechtlich bindende, der unter 25-Jährigen sind ohne Job, im niedrigen Zinsen vor allem das Baugewer-
fest vereinbarte Reformen geben. Die Bun- Süden sind es 50 Prozent. Und wer eine be. „Im Immobilienboom haben viele Ju-
deskanzlerin weigerte sich in Brüssel stand- Beschäftigung hat, hangelt sich meist von gendliche ihre Ausbildung abgebrochen
haft, vor einer solchen Verabredung über- einer Befristung zur nächsten. und sind in die Bauwirtschaft gegangen,
haupt über konkrete Summen zu reden. Noch schlimmer als in Italien ist die meist mit Zeitverträgen ausgestattet“, sagt
Immerhin beschlossen die Regierungs- Lage in den südeuropäischen Nachbar- Federico Steinberg, Professor am Real In-
chefs beim Gipfel, sechs Milliarden Euro ländern. Mehr als die Hälfte der unter 25- stituto Elcano in Madrid. Diese Leute ste-
zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosig- Jährigen hat in Spanien und Griechen- hen jetzt ohne Job und Ausbildung da.
keit auszugeben und die Kreditvergabe land keine Arbeit, 42,5 Prozent sind es Spaniens Wirtschaftsstaatssekretär Fer-
an kleinere Unternehmen zu fördern. in Portugal. Während Politiker in Deutsch- nando Jiménez Latorre gibt sich dennoch
Doch an den grundsätzlichen Proble- land die verheerenden Zahlen meist lapi- überzeugt, dass die angeschobenen Ar-
men ändert das wenig. Die Krise am Ar- dar damit erklären, die Volkswirtschaften beitsmarktreformen wirken. „Spanien
beitsmarkt und im Finanzsektor, die Re- am Rande Europas seien eben nicht wett- wird flexibler“, sagt er. „In Zukunft dürf-
zession und die politische Lähmung in ei- bewerbsfähig und müssten billiger wer- te schon ein Wachstum von einem Pro-
nigen südeuropäischen Staaten – all das den, halten die Südländer dagegen. zent reichen, um neue Jobs zu schaffen.“
ist mit ein paar zusätzlichen Milliarden „Zu Spanien gehört auch, dass wir län- Doch woher soll das Wachstum kom-
nicht zu lösen. ger als in den meisten Ländern Europas men? „Spanien hat eine sehr restriktive
arbeiten“, sagte Außenminister García- und damit konjunkturfeindliche Haus-
Die Job-Misere Margallo am Rande der Modenschau im haltspolitik. Das ist gut, um die Wettbe-
Im Sportpalast der nordtoskanischen Europaparlament. Und Paloma López, werbsfähigkeit zu erhöhen, aber zusam-
Stadt Prato, wo sonst Hallenfußball- zuständig für Arbeitsmarktpolitik bei der men mit einer nur mäßig expansiven
Pokale ausgespielt werden oder Fliegen- Gewerkschaft CCOO, betont: „60 Pro- Geldpolitik und einem starken Euro er-
fischer die beste Wurftechnik prämieren, zent der Spanier verdienen weniger als würgt das die spanische Wirtschaft“, dia-
kämpften kürzlich 700 junge Menschen 1000 Euro im Monat.“ gnostiziert Ökonom Steinberg.
aus ganz Italien um einen besonders kost- Zudem sind in Spanien und anderen
baren Preis: um einen Arbeitsplatz. Ländern in den vergangenen Jahren die Die Rezession
Mancher war sogar aus dem fernen Si- Lohnstückkosten gesunken, die Leistungs- „Basta de Exploração“ steht auf den Pla-
zilien angereist, um 30 möglichst gute bilanzdefizite wurden kleiner. Doch was katen an der Praça dos Restauradores in
Antworten auf 30 knifflige Fragen zu ge- die einen als Erfolg der Reformpolitik fei- Lissabon, genug der Ausbeutung. Mit
60 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Wirtschaft

dem Slogan hatten die beiden großen Ge- klopft. Sie hatten sich über Eckpunkte Rolle spielen, ebenso die Europäische
werkschaften Portugals zum General- für die europäische Bankenunion ge- Investitionsbank“, sagt Portugals Wirt-
streik aufgerufen. Und während die Re- einigt, die eine gemeinsame Aufsicht über schaftsminister Pereira.
gierungschefs vergangene Woche in Brüs- die Branche und ein Abwicklungsregime Die EZB aber hatte zwar die Möglich-
sel ihr Sechs-Milliarden-Euro-Pflaster für für marode Institute vorsieht. keit angedeutet, über Umwege auch Un-
die Heilung der Arbeitslosenepidemie fei- „Wir kommen weg davon, dass die ternehmenskredite aufzukaufen. Doch
erten, standen in Lissabons Altstadt Steuerzahler immer wieder für die Ban- weil ein solcher Schritt intern höchst um-
Trams und Busse still. Tausende Men- ken geradestehen sollen“, jubelte Merkel. stritten ist, gab EZB-Chef Mario Draghi
schen protestierten gegen die von der Als „wichtigen Schritt“ empfand Spa- den Plan wieder auf. Die Politik, fordert
Troika verordnete Sparpolitik. niens Wirtschaftsminister Luis de Guin- er stattdessen, müsse endlich mit den Re-
Die portugiesische Regierung trägt den dos die Einigung. Im Krisenland Irland formen Ernst machen.
Sparkurs zwar mit, doch inzwischen for- sprach man gar von einem Meilenstein.
dert Lissabon im Gegenzug ganz offen Das Problem ist nur, dass jeder Euro- Die überforderte Politik
Unterstützung aus Brüssel und Berlin. Politiker von der Bankenunion etwas an- Die Stimmung war explosiv, als der grie-
„Ohne solide Staatsfinanzen ist kein deres erwartet, weshalb sich jeder über chische Premierminister Antonis Samaras
Wachstum möglich“, sagt Wirtschaftsmi- etwas anderes freut und die entscheiden- neulich kurzerhand die Schließung des
nister Pereira. „Aber ohne Wachstum ist den Fragen offen sind. Staatsrundfunks ERT anordnete. Das staat-
es auch kaum möglich, den Haushalt ins Die Krisenländer erhoffen sich, dass liche Medienimperium sei ein „Symbol
Gleichgewicht zu bringen.“ künftig mehr Lasten maroder Banken ge- für Verschwendung und Korruption“ ge-
Der Minister kann auf die jüngste Dia- meinschaftlich vom ESM getragen wer- wesen, lautete seine schlichte Begründung.
gnose des IWF verweisen. „Der soziale den. Deutschland sähe es lieber, wenn Der eigenmächtige Akt des Minister-
und politische Konsens schwächt sich jedes Land weiterhin vor allem selbst für präsidenten führte zu einer Welle der
stark ab, die wirtschaftliche Erholung er- seine kranken Banken geradesteht. Und Empörung, die beinahe die Regierung
weist sich als schwer realisierbar“, kon- alle wollen zumindest suggerieren, dass mitgerissen hätte. Schließlich war es die
statierten die Experten des Währungs- künftig die Gläubiger und nicht mehr politische Klasse selbst, die die Vettern-
fonds Anfang Juni. Das Troika-Programm Steuerzahler für Verluste aufkommen wirtschaft bei dem Sender maßgeblich
entbehre weiterer Instrumente zur kurz- müssen – aber ohne die Geldgeber der betrieben hatte. In mehreren zähen
fristigen Steigerung der Wettbewerbsfä- Banken zu sehr zu verschrecken.
higkeit. Deshalb werde der Nachfrage- De facto ist in der Zukunft unklar, wer
rückgang sich fortsetzen, er könne nicht welche Lasten trägt und die Banken mit Rettungsmaßnahmen
durch mehr Exporte kompensiert werden. dringend notwendigem Kapital aufpäp- für ausgewählte Länder in der Euro-Krise,
Ähnlich wie den Portugiesen geht es pelt. Damit aber hemmen Europas Zom- Programmvolumina in Mrd. Euro
auch Spaniern, Griechen und Italienern. bie-Banken weiter die wirtschaftliche
Überall macht sich Frust darüber breit, Erholung. GRIECHENLAND
dass die Opfer nichts bringen, weil das Die Geldnot der Finanzkonzerne ver-
Erstes Rettungspaket
Wachstum fehlt. „Wir brauchen die Mit- schärft die Kreditklemme: Seit Jahren Euro-Zone und IWF
wirkung Europas, um die Krise zu bewäl- vergeben Banken in den Krisenländern 73
tigen“, sagt der spanische Wirtschafts- weniger Darlehen. Und wenn sie Geld
staatssekretär Latorre. verleihen, dann zu höheren Zinsen als
Mindestens 60 Milliarden Euro müssten Konkurrenten in Deutschland. Allein in
mobilisiert werden, um die aktuelle Italien ging das Kreditvolumen 2012 um 163,7 Zweites Rettungspaket
Wachstumsschwäche in Europa zu über- fast 50 Milliarden Euro zurück. EFSF und IWF
winden, meint Guntram Wolff, Chef des Das liegt auch daran, dass die Rezessi- Ankauf von Staatsanleihen
einflussreichen Brüsseler Forschungsinsti- on Firmen und Haushalte in die Insolvenz 30,8
durch die EZB*
tuts Bruegel. Auch in Deutschland würde stürzt. Die Kreditausfälle reißen neue Lö-
eine stärkere Binnennachfrage aus Sicht cher in die Bankbilanzen. Also halten die PORTUGAL
des Wissenschaftlers helfen. Die öffent- Geldhäuser ihre Mittel zusammen.
liche Hand müsse bei den Zukunftsinves- Besonders hart trifft das kleine und Rettungspaket
titionen, in der Forschung etwa oder bei mittlere Unternehmen, die wiederum in EFSF, EFSM und IWF
Kindertagesstätten, endlich mehr ausge- Ländern wie Portugal mehr als 90 Pro- 78
ben. „Ein Boom wäre gut für Deutsch- zent der Arbeitsplätze stellen. Ankauf von Staatsanleihen
land – und für Südeuropa“, sagt Wolff. Fragt man die Banken, warum sie knau- 21,6 durch die EZB*
Er fordert deshalb eine Veränderung der sern, verweisen sie nicht etwa darauf,
deutschen Schuldenbremse: Staatliche dass die Firmen in Spanien, Portugal oder SPANIEN
Investitionen sollten wieder mit einem Italien weniger wettbewerbsfähig wären.
Defizit finanziert werden können. Es sind vielmehr die allgemeine Unsicher-
Doch Brüssel und Berlin bügeln solche heit über die Zukunft der Euro-Zone und 43,7 Ankauf von Staatsanleihen
durch die EZB*
Forderungen ab. Der deutsche EU-Kom- mangelndes Vertrauen in die Konjunktur,
missar Günther Oettinger hält nichts wie es in einer Studie des europäischen
von zusätzlichen Konjunkturprogrammen. Finanzmarktverbands AFME heißt. Bankenrettungspaket
100 ESM
„Auch in diesem Jahr macht die EU Deswegen dürften auch die Versuche,
knapp 500 Milliarden Euro neue Schul- die Kreditklemme in Südeuropa mit Hilfe
den. Sollen wir jetzt 800 oder 1000 Mil- von Förderbanken wie der deutschen
liarden Euro Schulden machen?“, fragt er. KfW oder der Europäischen Investitions- ITALIEN
bank zu überwinden, nur begrenzt helfen.
Die Bankenkrise Südeuropäische Politiker setzen daher
99 Ankauf von Staatsanleihen
So ausgiebig wie vergangene Woche in auf die Hilfe der Europäischen Zentral- durch die EZB*
Brüssel haben sich Euro-Politiker schon bank. „Die EZB kann bei der Überwin- *Buchwert; Stand 31.Dez. 2012
lange nicht mehr auf die Schultern ge- dung der Kreditklemme eine wichtige Quellen: EZB, BMF, ESM, IWF

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 61
OLI SCARFF / GETTY IMAGES

IMAGO
Wohnblock bei Madrid, Italiens Regierungschef Letta: „Schulden steigen unausweichlich“

Krisensitzungen konnte Samaras einen noch zahlen kann, überfordert die Ämter. skeptisch. Und im Fall Griechenland
Koalitionsbruch abwenden. Etliche Euro- Auch die Justiz ist derart ineffizient, scheint ein neuerlicher Schuldenschnitt,
Partner atmeten auf, gilt Samaras doch dass der Gang vor Gericht oft weitgehend nach der deutschen Bundestagswahl, un-
als erster wirklich verlässlicher Partner sinnlos ist. Allein 150 000 Steuerstreitig- ausweichlich.
bei der Umsetzung der Reformprogram- keiten hängen dort fest. Kanzlerin Merkel und die Troika wer-
me. Einige fiskalische Ziele hat der kon- So ist es kein Wunder, dass Investoren den ihre Strategie deshalb notgedrungen
servative Premier sogar übererfüllt: Der nur mit Mühe ins Land gelockt werden ändern müssen. Bisher haben sie vor al-
Staat gibt 30 Prozent weniger aus als noch können und dass die Privatisierung von lem darauf gesetzt, dass die Krisenstaaten
2009, das Staatsdefizit dürfte Prognosen Staatseigentum stockt. Wieder tun sich sparen und zugleich ihre Wettbewerbsfä-
zufolge dieses Jahr bei knapp vier Prozent deshalb Finanzlöcher auf. Mehr als 200 higkeit erhöhen. Langfristig mag das wir-
des Bruttoinlandsprodukts landen und da- Milliarden Euro Hilfskredite haben die ken, doch bis dahin brauchen sie weitere
mit in die Nähe der europäischen Vorga- Euro-Partner Griechenland bereits ver- Unterstützung.
ben rücken. 2009 lag das Minus noch bei sprochen, und schon ist von einer erneu- Der Ökonom Steinberg kritisiert, dass
15,6 Prozent. ten Finanzierungslücke von fünf bis acht die Euro-Retter allen Ländern das gleiche
Das Problem aber ist: Sobald es an den Milliarden Euro im nächsten Jahr die Rede. Wirtschaftsmodell verpassen und kleine
Kampf gegen Vetternwirtschaft und Kor- Auch in Italien lahmt der Umbau, Exportweltmeister formen wollen. „Mer-
ruption und damit an die Sanierung des wenngleich Regierungschef Enrico Letta kels Strategie könnte aufgehen, wenn alle
völlig aufgeblähten und frustrierend in- vor ein paar Tagen wieder einmal ein Re- Euro-Länder nach China exportieren wür-
effizienten Staatsapparats geht, folgt auch formpaket präsentiert hat. Doch Ökono- den.“ Aber der Großteil des Handels fin-
die Regierung Samaras allenfalls zöger- men fehlt der Glaube, dass entscheidende de innerhalb der Euro-Zone statt. „Es
lich den Vorgaben der Troika. Eingriffe in verkrustete Strukturen jemals muss also auch hier Länder geben, die
So war die überstürzte Schließung des umgesetzt werden. konsumieren und importieren.“
2600 Mann starken Staatssenders keine Lettas Vorgänger Mario Monti, der das Reporter des SPIEGEL haben in den
Kurzschlussreaktion eines der Korruption Land im November 2011, mitten in der vergangenen Wochen die unterschied-
überdrüssigen Politikers. Sie war ein Akt Finanzkrise ein paar Millimeter vor dem lichen Probleme der Südländer vor Ort
der Verzweiflung. Samaras hatte der Troi- Abgrund von Silvio Berlusconi übernom- recherchiert. In den kommenden vier Wo-
ka versprochen, bis zum Sommer 2000 men hatte, bewährte sich zwar als Not- chen werden sie in einer Serie über ihre
Staatsbeamte zu entlassen. Doch bis zu- helfer, der die Märkte beruhigte. Aber Erkenntnisse in Griechenland, Spanien,
letzt war ein eigens für die Reform der die Strukturprobleme des Landes min- Italien und Portugal berichten.
Verwaltung zuständiger Minister eine ent- derte er kaum. Dazu gehören, neben der Eine Erkenntnis haben sie aus allen Kri-
sprechende Liste schuldig geblieben. drückenden Steuerlast, eine aufgeblähte, senstaaten mitgebracht: Es braucht einen
Dabei hätte er einen Großteil der Leute unfähige Bürokratie, die nahezu jede Stimmungsumschwung, damit Unterneh-
wohl schon zusammenbekommen, wenn wirtschaftliche Aktivität behindert oder men wieder bereit sind zu investieren
in den vergangenen Monaten einfach kon- erstickt; eine ineffiziente Justiz, die mit und Verbraucher wieder konsumieren.
sequent mutmaßliche Korruptions- und Jahrzehnte dauernden Prozessen poten- Konjunkturprogramme mögen dabei hel-
Betrugsfälle in Behörden und öffentlichen tielle Investoren verschreckt; eine man- fen, Wunder bewirken können sie nicht.
Unternehmen aufgearbeitet und entspre- gelhafte Infrastruktur – von löchrigen Und: Die Reformen, so schmerzhaft sie
chend sanktioniert worden wären. Eine Straßen, störanfälliger Energieversorgung, sind, müssen weitergehen.
Liste mit 2300 Fällen lag seit Februar vor. ständig verspäteten Zügen, veralteten Denn auf Dauer kann eine Währungs-
Es sind solche Zustände, die die Troi- Kommunikationsnetzen bis zu einem de- union mit so großen Unterschieden in
ka-Entsandten, aber auch die heimischen primierend niedrigen Ausbildungsniveau. den Kosten- und Wirtschaftsstrukturen
Vorkämpfer einer Grundsanierung des Ernstzunehmende Ökonomen gingen nicht bestehen. MARTIN HESSE,
Landes zuweilen zum Verzweifeln brin- inzwischen davon aus, so ZEW-Präsident CHRISTOPH PAULY, CHRISTIAN REIERMANN,
HANS-JÜRGEN SCHLAMP, ANNE SEITH
gen. Der ganze Staat gleicht einer Bau- Clemens Fuest, dass Italiens Staatsschul-
stelle: Die Fahnder kommen im Kampf denquote „unausweichlich immer weiter
gegen die Steuerhinterziehung schon des- ansteigen werde“. Lesen Sie im nächsten Heft:
halb nicht nach, weil viele überführte Mis- Auch mit Blick auf Portugals Chancen, Griechenland zwingt die Bürger zu drakoni-
setäter längst pleite oder nicht mehr auf- die Staatsschulden von mehr als 120 Pro- schem Sparen, saniert aber den korrupten
findbar sind. Schon die Aufgabe, heraus- zent der Wirtschaftsleistung auf ein trag- Staatsapparat nur zögerlich. Viele Griechen
zufinden, wer seine Strafe überhaupt bares Niveau zu senken, sind Ökonomen verlieren die Geduld mit ihrer Regierung.

62 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Chinesische Zentralbank in Peking
NG HAN GUAN / AP / DPA

net 2,5 Billionen Euro verschuldet. Die


Unternehmen des Landes haben sogar
GLOBALISI ERUNG fast 9 Billionen Euro Kredite offen. Ins-
gesamt beläuft sich die Verschuldung da-

Auf Pump gebaut mit auf weit mehr als 200 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts. Vor fünf Jahren
war es gerade einmal die Hälfte.
Etliche Firmen könnten schon jetzt
Auch in China geben Politiker und Unternehmer Geld aus, „weder ihren Zins- noch ihre Tilgungszah-
das sie nicht haben. Das Wachstum wurde mit hohen lungen leisten, deshalb müssen sie mehr
und mehr leihen“, sagt Yao Wei von der
Schulden erkauft. Die Angst vor einer neuen Finanzkrise geht um. französischen Bank Société Générale.
Als dann vor einigen Wochen eine chi-

D
er Schöpfer hat es gut gemeint mit Phoenix-Insel reicht da nicht aus“, sagt nesische Bank ins Gerede kam, breitete
den Bauherren auf der Tropen- er, statt eines Terminals brauche es min- sich Misstrauen unter den Instituten aus.
insel Hainan. Der natürliche Ha- destens fünf. Ihre Versorgung mit Geld stockte, die Zin-
fen der Stadt Sanya ist so tief, dass selbst Für deren Bau wird sein Unternehmen sen, zu denen sie sich untereinander Geld
die größten Schiffe mühelos hier ankern erneut Hunderte Millionen Euro Kredite liehen, schossen auf bis zu 28 Prozent.
können – und in der Mitte ragen bei Ebbe aufnehmen müssen. Plötzlich ging die Angst um, die Welt
einige Felsen aus dem Meer wie ein gött- Die Finanzierung sei solide, versichert könnte ein zweites Lehman erleben: eine
licher Fingerzeig. Wang sogleich. Manchmal liege er aller- Finanzkrise, wieder ausgelöst durch Ex-
So sahen es jedenfalls chinesische Un- dings schon nachts wach im Bett und fra- zesse an Immobilienmärkten und über-
ternehmer. Sie bauten eine Kaimauer ge sich: Haben wir uns übernommen? schuldete Banken, diesmal aber ausge-
rund um die Bucht und setzten fünf wind- So sensibel sind nicht viele, sonst wäre rechnet im Wirtschaftswunderland China.
schnittige Wolkenkratzer drauf. Im Jahr es um die Nachtruhe etlicher Provinz- Die Turbulenzen schreckten auch die
2006 legte das erste Kreuzfahrtschiff an. politiker, Parteigrößen und Unternehmer Mitglieder des internationalen Finanzsta-
Wang Wanmao, 67, managt das Projekt Chinas schlecht bestellt. Denn die Ver- bilitätsrates auf, in dem Notenbanker und
mit dem ehrgeizigen Namen „Phoenix Is- schuldung des Landes hat längst beängs- Bankaufseher aus aller Herren Länder
land, das Dubai des Fernen Ostens“, und tigende Ausmaße angenommen – zumin- über die Sicherheit des Weltfinanzsys-
das bedeutet wie so oft in China: Er küm- dest wenn man in die Bücher von Pro- tems wachen. Die Informationen, die
mert sich darum, dass es noch größer vinzpolitikern und Firmenlenkern blickt. man dort über das chinesische Finanzsys-
wird. 150 000 Kreuzfahrtgäste besuchen Allein die chinesischen Lokalregierun- tem hat, sind bislang dürftig. Bei einer
Sanya pro Saison, gut vier Millionen zählt gen sind nach Schätzungen eines ehe- Sitzung musste die chinesische Delega-
Wangs Vorbild Miami. „Eine einzige maligen Finanzministers mit umgerech- tion erst einmal Bericht erstatten.
64 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Wirtschaft

Erst eine Erklärung der chinesischen cial Times“, künftig weitere Schuldver- „Auch die staatlichen Banken mischen
Notenbank mit dem diskreten Hinweis schreibungen chinesischer Lokalregierun- über Spezialgesellschaften in dem lukrati-
auf die eigenen Möglichkeiten, veröffent- gen abzuzeichnen. Die meisten seien ven, aber gefährlichen Business mit“, sagt
licht erst fünf Tage nach dem Beginn des nämlich nicht abgesichert, ja die Lage sei Horst Löchel von der Frankfurt School of
Minibebens, beendete den Irrsinn. bereits „außer Kontrolle. Eine Krise ist Finance & Management, der lange in Chi-
Die großen Banken des Landes gehö- möglich. Aber da die Schulden immer na gelebt hat. „So umgehen die Manager
ren schließlich dem Staat, der sie schon weitergewälzt werden, ist der Zeitpunkt der Häuser die strengen Regeln, die ihnen
deshalb kaum pleitegehen lassen wird der Explosion unsicher“. die Regierung auferlegt, und können zu-
und auch die Notenbankpolitik bestimmt. Was die Regierung in Peking zusätzlich dem höhere Zinsen verlangen.“
China ist außerdem reich wie kaum ein besorgt: Ein großer Teil der Kredite wan- Kredite von rund drei Billionen Euro
anderes Land: Die Volksrepublik verfügt dert in einen Bereich ab, in dem sie nicht haben die Schattenbanken des Landes
über Devisenreserven in Höhe von um- Schätzungen zufolge vergeben, und ihr
gerechnet 2,6 Billionen Euro. Auch wenn Steigende Schulden, Anteil am Markt wird immer größer.
die sich nicht von einem Tag auf den an- Ein erheblicher Teil des Geldes fließt
deren in chinesisches Geld tauschen las- gebremstes Wachstum 140
dabei offensichtlich in den Immobilien-
sen, scheint eine unkontrollierte Finanz- Verschuldung von chinesischen sektor des Landes, der schon seit Jahren
krise angesichts solcher Schätze eher un- Unternehmen*, in Prozent des BIP 130 als überhitzt gilt. Zwischen 2000 und 2010
wahrscheinlich. haben sich die Preise verdoppelt, von
Doch die Machthaber in Peking wollen * ohne Finanzsektor; April 2012 bis April dieses Jahres stiegen
der zügellosen Freigebigkeit vieler Un- China ohne Hongkong;
Quelle: BIZ
120 sie in 70 Städten um weitere 4,3 Prozent.
ternehmer und Provinzpolitiker nicht Doch die zahlreichen Bauruinen im
mehr länger zusehen. Eine Kettenreak- Land lassen ahnen, dass der kollektive
tion von Firmen- und Finanzpleiten könn- 110 Wahn seine Grenzen erreicht hat, weil
te dem rasanten Wachstum des Landes den Konstrukteuren das Geld ausgeht
ein abruptes Ende bereiten – ein Szenario, oder die neuen Gebäude leer bleiben. Im
das die ganze Welt treffen würde. 100 milliardenteuren „Grachtenviertel“ in der
China, warnt die Vermögensverwal- Provinz Jiangsu etwa stehen bislang
Veränderung des Bruttoinlandsprodukts (BIP)
tung GMO, habe sich zu einem „Kredit- gegenüber dem Vorjahr, in Prozent
nichts als ein paar trostlose Windmühlen
Junkie“ entwickelt, der immer höhere Quelle: IWF
in der Einöde. In der Geisterstadt Yin Tan
Schulden brauche, um die gleiche Menge 15 am Strand des Gelben Meers brennt
Wachstum zu erzeugen. 12
selbst im Sommer höchstens in jedem
Hainan ist nur ein besonders drasti- zehnten Apartment ein Licht.
9
sches Beispiel, wie zügellos jenseits der Einfach verbieten will die Regierung
Regierungspaläste in der Hauptstadt dem 6 in Peking die undurchsichtigen Geschäfte
Leben auf Pump gefrönt wird. Vor 25 Jah- 3 der Schattenbanker trotzdem nicht. Sie
ren vom Reformer Deng Xiaoping zur steckt im Dilemma: Einerseits finanziert
Sonderwirtschaftszone erhoben, sollte 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 die Branche den heranwachsenden Mit-
die Provinz die boomende, von Peking telstand. Andererseits weiß niemand,
als abtrünnig betrachtete Nachbarinsel welche Risiken dabei in Kauf genommen
Taiwan in den Schatten stellen. Das prägt werden. Die verfügbaren Zahlen über Art
das Wirtschaftsleben bis heute. und Volumen der Geschäfte beruhen
Nicht weit entfernt vom Hafenprojekt größtenteils auf Schätzungen.
„Phoenix Island“ lässt sich deshalb die Der Ausfall von faulen Krediten im
nächste gigantische Baustelle besichtigen, großen Stil oder die Pleite zentraler Geld-
die den ehrgeizigen Namen „National geber auf dem Markt könnte aber auf die
Coast Haitang Bay“ trägt. gesamte Wirtschaft ausstrahlen, fürchten
BERNHARD ZAND / DER SPIEGEL

In ein paar Jahren sollen dort mehr als Experten. Allein die staatlichen Banken
30 Fünf-Sterne-Hotels die Küste zieren, sind direkt oder indirekt an drei Vierteln
außerdem ein Vergnügungspark, ein aller Schattenbank-Transaktionen betei-
Krankenhauskomplex und ein Finanzzen- ligt, glaubt die Rating-Agentur Fitch.
trum. Initiator ist hier kein Privatunter- Die jüngsten Turbulenzen an den chi-
nehmer, sondern die Stadt Sanya selbst: nesischen Finanzmärkten waren deshalb
Sie lässt schon Dutzende Straßen, Brü- Projektmanager Wang vor allem eines, sagt Volkswirt Löchel,
cken und Kanäle in das Sumpfgebiet bau- „Haben wir uns übernommen?“ „ein Zeichen dafür, dass die Regierung
en und siedelt 47 000 Menschen um. die Party beenden will“. Als bei den Ban-
Zwölf Milliarden Euro sind verplant. mehr zu kontrollieren sind. Denn weil ken die Mittel vorübergehend knapp wur-
Wären es nur Ökonomen aus den vor allem kleine und mittlere Firmen die den, verweigerte die Zentralbank deshalb
selbst hochverschuldeten Industriestaaten strengen Vorgaben der vier großen staat- über eine halbe Woche lang die sonst üb-
des Westens, die solch teure Wagnispro- lichen Banken nicht erfüllen, überneh- lichen Geldspritzen. Für Finanzmärkte
jekte kritisierten – man könnte es für ei- men immer mehr Schattenbanken das Ge- ist das eine halbe Ewigkeit.
nen Ablenkungsversuch halten, ver- schäft. Statt über Kundeneinlagen refi- Analysten sehen darin Zeichen einer
mischt mit einer makabren Schadenfreu- nanzieren sie sich unter anderem über Zeitenwende. China, der wichtigste
de, dass auch die fleißigen Chinesen zum kurzlaufende, hochverzinste Wertpapiere, Wachstumsmotor der Weltwirtschaft, will
Niedergang der Weltwirtschaft beitragen. die angesichts der mickrigen Sparzinsen es endlich langsamer angehen lassen.
Doch die schärfsten Warnungen kom- bei Chinesen beliebt sind. Auch wenn die Kurse sich inzwischen
men mittlerweile aus China selbst. Er wei- Besonders skurril daran ist: Zu der un- wieder erholt haben, sind die unsicheren
gere sich, sagte etwa Zhang Ke, Vizechef durchsichtigen Zunft der Schattenbanker Zeiten für den Rest der Welt deshalb
des chinesischen Wirtschaftsprüferver- gehören nicht nur Privatfinanziers, Ver- nicht vorbei: Sie haben erst begonnen.
bands, in einem Gespräch mit der „Finan- mögensverwalter oder Unternehmen. MARTIN HESSE, ANNE SEITH, BERNHARD ZAND

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 65
SVETLANA MILIC
Zerstörtes Haus im Braunkohleabbaugebiet Kolubara

Nevena Radivojevic wird wegen der


ROHSTOFFE Kohle nicht nur ihr Haus verlieren. Ihr
Mann hat Krebs. Über Jahre fuhr er

Renaissance des Rußes Braunkohle für EPS, er atmete die Luft in


den Kraftwerken ein, die zu den dreckigs-
ten in Europa zählen. 22 Millionen Ton-
nen CO2 stößt das Meiler-Konglomerat
Die staatliche KfW gilt als großer Förderer erneuerbarer südlich von Belgrad jährlich aus – so viel
Energien, investiert aber auch Milliarden in die Kohleindustrie. wie der gesamte Straßenverkehr Öster-
reichs. Eine moderne Rauchgasentschwe-
Das umstrittenste Projekt ist in Serbien zu besichtigen. felung gibt es nicht. Die sandhaltige Kohle
ist so schlecht, dass sie in den Kraftwerken

D
ie Kohle war für Nevena Radivo- sie nicht, die EPS lässt viele Bewohner erst angefeuert werden muss – mit über
jevic die große Hoffnung ihres Le- des Ortes Vreoci im Unklaren. 30 000 Tonnen Schweröl pro Jahr.
bens. Als sie vor 30 Jahren in die Der Abbau soll sogar noch forciert wer- Entsprechend wächst die Kritik am
Braunkohleregion südlich von Belgrad den – mit deutscher Hilfe. Die staatseige- Konzern und an der deutschen Förder-
zog, schien sie dem Elend ihrer bosni- ne KfW-Gruppe genehmigte EPS vor kur- bank: „Dass die vermeintliche Qualitäts-
schen Heimat entronnen. zem einen Kredit über 65 Millionen Euro. verbesserung erst die Voraussetzung ist,
Ihr Mann und ihr Sohn fanden Arbeit Weitere 80 Millionen Euro steuert die Eu- neue Braunkohlefelder zu erschließen,
in einem Kraftwerk, das inzwischen der ropäische Entwicklungsbank bei. blendet die KfW komplett aus“, kritisiert
serbische Stromgigant EPS betreibt. Koh- Mit dem Geld soll „umweltgerechtes Regine Richter von der Umweltorganisa-
le – das war die Zukunft. Und Familie Kohlequalitätsmanagement“ gefördert tion Urgewald. „Mit deutschem Steuergeld
Radivojevic war mittendrin: in einem werden, lässt die KfW wissen. Röntgen- wird so Serbiens Abhängigkeit von der
kleinen Dorf zwischen zwei riesigen Ab- geräte an den Baggern sollen zukünftig Braunkohle auf Jahrzehnte zementiert.“
raum-Arealen. die „Brennwertqualität der Kohle erken- Die Kohlefinanzierung ist die dunkle
Doch seit die Bagger vorrücken, wird nen“, erklärt Jürgen Welschof, Leiter des Seite der deutschen Staatsbank, die die
der Ort schmaler und schmaler. Der KfW-Büros in Belgrad. Durch die Mi- Bundesregierung gern als einen der
Staatskonzern EPS hat begonnen, Men- schung verschiedener Qualitäten würde „größten Förderer des Klimaschutzes“
schen umzusiedeln. Um die Radivojevics die Kohle „effizienter“ brennen. Der Ein- präsentiert. Mit fast 30 Milliarden Euro
herum stehen verfallene Geisterhäuser. satz von Schweröl, bisher eine Art Brand- habe das Institut im vergangenen Jahr
Wann sie selbst umziehen müssen, wissen beschleuniger, werde reduziert. weltweit energieeffizientes Bauen oder

MAZEDONIEN Kohlemine „Brod Gneotino“ SERBIEN Stromkonzern EPS


DEUTSCHLAND
3 Kraftwerke
16,6 Mio. € als Kredit 187 Mio. € beispielsweise für Kraftwerke,
Qualitätsmanagement und die Ent-
wicklung weiterer Braunkohlefelder

GRIECHENLAND Kraftwerk „Ptolemaida V“


THAILAND 1 Kraftwerk
200 Mio. € als Kredit (wird noch geprüft)
1000 Mio. € als Bürgschaft der Bundesregierung INDIEN „Sri Damodaram Sanjeevaiah“

263 Mio. € Kredit für das Kraftwerk


CHILE SÜDAFRIKA
2 Kraftwerke 2 Kraftwerke
AUSTRALIEN
Kohle von der KfW 2 Kohlehäfen
Wo die Staatsbank Abbau, Transport und Verbrennung von Kohle fördert
66 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Wirtschaft

erneuerbare Energien gefördert. Doch für lägen keine offiziellen Erhebungen vor.
die Renaissance des Rußes gab die KfW Es sei deshalb eine „environmental due
in den vergangenen Jahren ebenfalls ein dilligence“ durchgeführt worden, eine Art
paar Milliarden Euro aus. Öko-Check, ließ das Berliner Wirtschafts-
Die vermeintlich ökologische Schützen- ministerium auf eine Anfrage der Grünen
hilfe der Deutschen dürften die serbischen wissen. Außerdem gebe es jede Menge
Stromkunden bezahlen müssen. So offen „action plans“ zu Umwelt und Sozialem.
sagt das zwar kein Bank-Manager, aber Mit ähnlicher Wortakrobatik be-
was sonst meint KfW-Mann Welschof, wenn schwichtigte die EU-Kommission mehre-
er sagt: „Die Finanziers der EPS befür- re Abgeordnete, die die mangelnde Be-
worten eine Strompreisanpassung.“ Ob das teiligung von Betroffenen bei Energie-
investierte Geld auf so „fruchtbaren Bo- projekten in Südosteuropa kritisierten.
den“ fällt, wie Welschof behauptet, scheint Transparenz und Offenheit, so der
zweifelhaft. Ende 2011 wurden ein Dut- tschechische Erweiterungskommissar Šte-
zend EPS-Manager vorläufig festgenom- fan Füle, seien „building blocks“ der eu-
men. Wegen Zahlung überhöhter Preise ropäischen Politik. So weit die Theorie.
an Leasing-Firmen und Kickback-Provi- „Das sind die typischen Hülsen, wenn
sionen in Millionenhöhe wird weiter gegen die Kommission Offenheit suggeriert,
sie ermittelt. Zum laufenden Verfahren aber in Wirklichkeit ihre Linie durch-
wollte EPS sich nicht äußern. zieht“, sagt die Brüsseler Grünen-Abge-
Auch die Umsiedlung scheint nicht so ordnete Franziska Brantner.
harmonisch abzulaufen, wie KfW und EPS Ganz neu können die serbischen Pro-
es gern hätten. „Die ganze Prozedur ist ex- bleme für die KfW nicht gewesen sein.
trem undurchsichtig“, sagt Nikola Perusic, Seit dem Jahr 2000 unterstützt die „grüne“
serbischer Mitarbeiter bei Bankwatch. Die deutsche Bank den Stromriesen EPS mit
1995 gegründete Non-Profit-Organisation über hundert Millionen Euro. Zuerst fi-
nanzierte sie Stromimporte für das kriegs-
geschädigte Land. Später gab es Geld für
„Wir nehmen Schlaf- oft aus Deutschland besorgte Ausrüstung,
und Beruhigungsmittel mit der etwa die Braunkohle des Tamna-
va-West-Feldes abgebaut wurde. Aller-
und finden dings soll es laut Bankwatch auch bei Um-
siedlungen rund um diese Grube zu mas-
dennoch keine Ruhe.“ siven Problemen gekommen sein.
Und heute? Soll alles nach europäi-
prüft die Nachhaltigkeit von Investments schen Standards ablaufen. Wie das aus-
internationaler Finanzinstitute und kritisiert sieht, lässt sich an dem Dorf Junkovac
die EPS-Hilfe schon seit geraumer Zeit. ablesen, wo etwa 800 Menschen leben.
Auf Nachfrage konnte der Konzern Junkovac liegt am Fuß der Abraumhalde
nicht einmal sagen, wie viele Menschen in der Kolubara-Grube. Aus dem oberen
Vreoci von der Umsiedlung betroffen sein Teil des Dorfes wurden die Menschen
werden. Bankwatch liegen Dokumente 1992 schon einmal umgesiedelt. Damals
vor, die fürstliche Entschädigungen für Po- rutschte der Abraum immer näher an ihre
lit-Größen und Manager belegen, die dort Häuser heran, Straßen sackten einfach weg.
wohnten. Ein Ex-EPS-Verwaltungsrat soll Anfang Juni war es wieder so weit: Ei-
für sein auf unglaubliche 3,4 Millionen ne vier Meter hohe Wand aus Erde, Sand
Euro geschätztes Haus bereits 1,2 Millionen und Lehm schob sich langsam auf den
Euro bekommen haben. 99 Prozent der Rand des Dorfes zu. Bäume und Strom-
Bevölkerung seien mit der Umsiedlungs- masten knickte die Erdwalze einfach um.
politik einverstanden, behauptet EPS. EPS sieht sich auch dafür nicht verantwort-
Doch das glaubt offenbar nicht einmal lich. Das sei „höhere Gewalt“, heißt es.
mehr die serbische Energieministerin. Sie „Wir nehmen Schlaf- und Beruhigungs-
lässt die Vorgänge inzwischen überprüfen. mittel und finden dennoch keine Ruhe“,
Derweil nehmen die Kollateralschäden sagt Milena Vasiljevic Savkovic, die in
der Kohle kontinuierlich zu: Nevena Ra- Sichtweite des Erdrutsches wohnt. Durch
divojevic arbeitet als Krankenschwester die Wände ihres Hauses ziehen sich Risse,
in Vreoci. Von ihren zwei Tumoren und in den Keller dringt immer mehr Nässe,
den Allergien will sie gar nicht viel er- die nach Kohle stinkt. „EPS will damit
zählen, aber das Husten der Kinder lässt aber nichts zu tun haben.“
ihr keine Ruhe. „Von 100 Kindern haben Viele ihrer Nachbarn haben in ihren
hier 40 Asthma. Wegen der Kohle.“ Vorgärten bereits ihren Hausrat zusam-
Das Leitungswasser sei „seit Jahren un- mengepackt. Manchmal kämen Schätzer
genießbar“, sagt Zeljko Stojković von der von EPS und lachten sie aus, wenn sie an
örtlichen Umweltgruppe. Mitunter fahren ihren Häusern noch etwas reparierten.
deshalb Versorgungslaster mit Trinkwas- Am Ende der Straße steht der Onkel von
ser durch die Dörfer. EPS dagegen be- Milena Vasiljevic Savkovic. Sein Haus
hauptet, „kontinuierlich in die Lebens- war eines der ersten, die die Erdwalze
qualität zu investieren“. Zu schlechter zermalmte. Er hat Tränen in den Augen.
Wasserqualität und Gesundheitsschäden Er arbeitet für EPS. NILS KLAWITTER

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 67
Wirtschaft

Anlageprofi Reineke
Kein Zins ist auch keine Lösung

anlegen – „zum marktüblichen Zinssatz“,


so steht es in ihrer Anlagerichtlinie. Er-
laubt sind Termingelder, Staatsanleihen
oder Schuldverschreibungen privater Un-
ternehmen. Aktien sind tabu. Vor allem
eines müssen die Investments sein: abso-
lut sicher. „Unser Ziel ist nicht vorrangig
die Zinsoptimierung“, sagt Reineke. Kein
Zins ist allerdings auch keine Lösung.
Daher hat Reineke nun ein paar Neue-
rungen eingeführt. So gibt es eine neue
Liquiditätsdatenbank, mit der alle Geld-
händler der Rentenkasse bundesweit ihre

CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL


Bankkonditionen vergleichen. Staatsan-
leihen aus Krisenländern hat Reineke aus
dem Depot verbannt. Außerdem prüft
eine eigene Abteilung alle Abschlüsse.
Zwischenstand: Geld hat die Rentenkasse
in der Krise immerhin nicht verloren.
Und es gibt noch aus einem anderen
dern – der oft totgesagte Generationen- Grund Hoffnung: An den Finanzmärkten
S O Z I A L S TA AT vertrag erwies sich als krisenresistent. wird damit gerechnet, dass die Renditen
Weil inzwischen jedoch die Beitrags- langsam wieder steigen.

Rostige Reserve einnahmen und Steuerzuschüsse alle Ren- Für Reinekes Reserve könnte das zu
tenausgaben weit übersteigen, muss Rei- spät sein, denn längst hat sich jene Be-
neke nun immense Summen verwalten: völkerungsgruppe des Themas bemäch-
Die Milliardenrücklagen der In der Rentenrücklage schlummern 27,9 tigt, die schon immer die größte Gefahr
gesetzlichen Rentenkasse sind in Milliarden Euro. Die Bundes- für die Rentenfinanzen darstell-
Gefahr: wegen niedriger regierung liebäugelt gar damit, Rücklage der te: die der Politiker.
im kommenden Januar den Da wäre zum einen die
Zinsen und der Begehrlichkeiten Beitragssatz von 18,9 auf 18,7 Rentenkasse Mehr-netto-vom-Brutto-Frak-
der Berliner Wahlkämpfer. Prozent zu senken. Bis dahin tion. So fordert der CDU-Wirt-
allerdings ist Reineke gefragt: schaftsflügel, dass der Renten-
Er muss die Milliarden sichern. 4,0 Anlagerendite beitragssatz gleich um 0,3 Pro-

A
ls Ulrich Reineke zum ersten Mal
Vater wurde, stellte ihn seine Frau Es klingt paradox: Weil die in Prozent zentpunkte sinken solle, und
vor die Wahl: entweder das Mo- gesetzliche Vorsorge so viele Quelle: Deutsche auch die Liberalen setzen auf
Rentenversicherung
torradfahren aufzugeben oder eine Le- Überschüsse angehäuft hat, 3,0 Entlastung. „Es wäre fair, das
bensversicherung abzuschließen. Reineke kämpft sie plötzlich mit ähnli- Geld den Beitragszahlern zu-
behielt die Honda – und unterschrieb des chen Problemen wie die private rückzugeben“, sagt FDP-Ren-
häuslichen Friedens wegen eine Police. Versicherung. „Die Geldanlage tenexperte Heinrich Kolb.
2,0
Es war kein schlechter Deal: Damals, ist nicht leichter geworden – „Warum sollten wir zusehen,
in den achtziger Jahren, versprachen Al- vor allem, seit die Europäische wie die Inflation die Rücklage
lianz und Co. noch Renditen von 3 Pro- Zentralbank die Geldschleusen entwertet?“
zent. In den Neunzigern waren es sogar geöffnet hat“, sagt Reineke. 1,0 Dagegen wollen die Vertei-
4. Heute ist der Garantiezins für neue Noch Mitte 2008, kurz vor lungsverfechter die Rücklagen
Verträge auf 1,75 Prozent zusammenge- der Lehman-Pleite, verbuchte in neue Leistungen umwan-
schnurrt. Erst an diesem Morgen hat der Volkswirt eine Anlage- deln. Die Rentenkassen seien
Reineke davon wieder in der Zeitung ge- rendite von mehr als 4,5 Pro- 2008 09 10 11 12 „krachvoll“, jubelte Sozialmi-
lesen. Etwas Genugtuung war auch dabei. zent pro Jahr. Bis Ende 2012 ist nisterin Ursula von der Leyen,
Nachhaltigkeits-
Schließlich sind private Lebensversiche- der Wert auf 0,5 Prozent ge- als CDU und CSU am vergan-
rücklage
rungen seine schärfste Konkurrenz. schrumpft. Für 2013 nennt die Mai 2013 genen Montag ihr Wahlpro-
in Mrd. Euro
Reineke ist Finanzchef der gesetzlichen Rentenkasse offiziell gar keine 28,0 gramm vorstellten. So will die
Rentenkasse mit Sitz in einem schmuck- Zahl mehr. Intern gehen die Ex- 30 Union die Mütterrente erhö-
losen Backsteinbau in Berlin-Wilmers- perten von weniger als 0,3 Pro- hen, was jährlich 6,5 Milliarden
dorf. Der Rentenexperte legt die Reser- zent aus. Bei einer Inflations- 25 Euro kosten könnte. Auch die
ven der Sozialversicherung an. Und er rate von 1,5 Prozent liegt die SPD umwirbt die Wähler mit
wird dafür bezahlt, jedes Risiko zu ver- reale Rendite längst im negati- 20 Milliardenversprechen.
meiden. Allerdings ist das derzeit nicht ven Bereich. Die eiserne Reser- Gut möglich, dass Reinekes
ganz einfach. ve rostet. Und dabei wird die 15 Reserve bald viel schneller
In der Euro-Krise erwies sich das Prin- Rentenversicherung Opfer ihres dahinschmilzt, als es die Nied-
zip der gesetzlichen Alterskasse, nach eigenen Sicherheitsstrebens. 10
rigzinsphase erfordert hätte.
dem die Beiträge der Jungen sofort an die Die Sozialkasse muss jeder- „Manchmal fragt man sich, was
Senioren ausgeschüttet werden, als be- zeit flüssig sein, um monatlich besser ist“, sagt er. „Zu viel
5
sonders sicher. Mochten die Aktienmärk- 24 Millionen Renten auszuzah- oder zu wenig Geld in der
te auch auf Talfahrt gehen und die priva- len. Sie darf ihre Reserven da- Rücklage zu haben.“
ten Versicherer mit den Niedrigzinsen ha- her nie länger als zwölf Monate 2008 10 12 CORNELIA SCHMERGAL

68 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
musstörungen, eine 19-jährige Frau wurde Zwar hat Aigner im Mai 2012 eine Än-
GENUSSMITTEL nach etwa sechs Mixgetränken aus Ener- derung der Fruchtsaft- und Erfrischungs-
gy-Drinks und Wodka morgens tot in ih- getränkeverordnung verkündet, die neue

Gefährliche rem Bett gefunden. Im November 2012


erklärte die amerikanische Lebensmittel-
behörde FDA, allein in den vergangenen
Grenzwerte für die relevanten Inhaltsstof-
fe bei Energy-Drinks vorsieht. Doch aus-
gerechnet die hochkonzentrierten Shots

Wachmacher vier Jahren 13 Meldungen zu Todesfällen


erhalten zu haben, und rief die Bevölke-
rung auf, weitere Fälle zu melden.
fallen gar nicht unter die Neuregelung.
Sie werden von den Herstellern als Nah-
rungsergänzungsmittel deklariert, womit
Hochkonzentrierte Energy-Drinks Das Bundesinstitut für Risikobewer- eine viel höhere Menge an Koffein und
sind bei Jugendlichen tung (BfR) kam bereits 2009 zu dem Taurin möglich ist. So erlaubt etwa die
beliebt. Wissenschaftler und Schluss, dass sich die unerwünschten Ef- Fruchtsaftverordnung 320 Milligramm
fekte von Koffein „durch Interaktionen Koffein und 4000 Milligramm Taurin pro
Verbraucherschützer aber mit anderen Inhaltsstoffen von Energy- Liter, im Energy-Shot von Red Bull fin-
warnen und fordern ein Verbot. Drinks oder aus begleitend konsumierten den sich nach Herstellerangaben aber
alkoholischen Getränken verstärken kön- 1330 Milligramm Koffein und 16 670 Mil-

A
uf den ersten Blick deutet ligramm Taurin pro Liter. Ledig-
die schlichte schwarze Dose lich die Empfehlung, nicht mehr
mit dem grünen „M“ nicht Kalkulierte als eine Portion täglich zu kon-
auf die Sensation hin, die sie angeb- sumieren, muss auf der Packung
lich enthält: „Monster Energy“ steht Überdosis enthalten sein.
darauf, mehr nicht. Dabei soll es Koffeingehalt Daran aber halten sich gerade
sich um nichts weniger handeln als von Energy- Kinder und Jugendliche nicht –
„das gewaltigste Energiepräparat auf Drinks wie Martin Hulpke-Wette jeden
diesem Planeten“. Tag in seiner Praxis beobachten
Um die vorgeschriebene Ober- kann. Bei dem auf Herzkrank-
grenze für den Koffeingehalt einzu- heiten spezialisierten Kinderarzt
halten, hatten die Macher des Ener- sitzen Acht- bis Zehnjährige mit
giegebräus ihr Produkt statt in die Herzrasen, zu hohem Blutdruck
üblichen 250-Milliliter-Dosen in oder massiven Herzmuskelwand-
Halbliterbehälter gefüllt, und diese verdickungen.
„Killermischung“, warben sie, kicke „Immer mehr Kinder konsumie-
deshalb doppelt so gut wie andere ren Energy-Drinks, ersetzen mit
Energy-Drinks. ihnen gar ganze Mahlzeiten –
Doch was Monster Energy in ohne zu wissen, wie sehr sie sich
Groß bietet, gibt es längst auch in damit schaden“, sagt der Arzt.
Klein: Immer häufiger finden sich Ihn erschrecken vor allem die
in den Regalen von Supermärkten, Mengen der konsumierten
Tankstellen und an den Theken von Drinks: „Ich hatte neulich einen
Bars und Discotheken sogenannte Jugendlichen, der mir sagte, dass
Energy-Shots – eine konzentrierte er mindestens einen Liter von
Form normaler Energy-Drinks. Für dem Zeug pro Tag trinkt – was
1,99 Euro etwa bietet der Marktfüh- neben der zielgerichteten Wer-
rer Red Bull seine 60-Milliliter-Dose Milligramm je Portion mg/100ml
bung auch am Geschmack liegt.“
an und verspricht bessere Konzen- Denn egal ob Energy-Drinks
trationsfähigkeit sowie die „Verrin- Red Bull Energy Shot (60 ml) 80 133 oder Energy-Shots, der Ge-
gerung von Müdigkeit und Erschöp-
fung“.
Monster Energy (500 ml) 160 32 –schmack ist zumeist ziemlich süß
und damit genau auf Kinder
zum Vergleich
Energy-Drinks, Getränke, die Kof- und Jugendliche als Zielgruppe
fein, Taurin, Glucuronolacton und Espresso (25 ml) 28 110 zugeschnitten.
Inosit enthalten, sind vor allem bei Coca-Cola (330 ml) 30 9 „Für Red Bull & Co. sind die
Jugendlichen beliebt, gute acht Pro- bei Jugendlichen beliebten Ener-
zent trinken mindestens vier- bis fünfmal nen“. Gleiches gelte im Zusammenhang gy-Shots ein Riesengeschäft, dabei stellen
in der Woche einen Liter oder mehr von mit ausgiebiger körperlicher Anstren- sie womöglich eine Riesengefahr dar“,
den süßen Wachmachern. gung oder sportlicher Betätigung. Die sagt Huizinga von Foodwatch. Die Ver-
Unter Wissenschaftlern und Verbrau- Behörde riet deshalb, „das Inverkehr- braucherorganisation fordert deshalb ein
cherschützern hat das Gebräu dagegen bringen von ,Energy Shot‘-Produkten zu generelles Verkaufsverbot der Shots. Her-
einen mehr als zweifelhaften Ruf. Denn untersagen“. kömmliche Energy-Drinks sollten zumin-
die leistungssteigernden Getränke wur- „Passiert ist seither aber wenig“, sagt dest deutliche Warnhinweise auf der Ver-
den in den vergangenen Jahren immer Armin Valet von der Verbraucherzentrale packung tragen und nur noch an Kunden
wieder mit Herzrhythmusstörungen, Hamburg. Vor allem die Hersteller hätten ab 18 Jahren verkauft werden dürfen.
Krampfanfällen und Nierenversagen in kein Interesse daran, sich das gute Ge- Damit müsste die Verbraucherschutz-
Zusammenhang gebracht, auch wenn schäft verderben zu lassen. „Bundesver- organisation übrigens auf einer Linie
eine kausale Verbindung bislang nicht braucherschutzministerin Ilse Aigner hat mit dem BfR liegen: Die dem Aigner-
bewiesen ist. die wissenschaftliche Untersuchung, die Ministerium unterstellte Behörde hat
So starb ein 18-jähriger Basketball- sie selbst in Auftrag gegeben hat, drei Anfang des Jahres schriftlich bestätigt,
spieler, der während eines Turniers ver- Jahre lang einfach ignoriert“, ergänzt dass sich an ihrer Einschätzung aus dem
mutlich bis zu drei Dosen eines Energy- Oliver Huizinga von der Verbraucher- Jahr 2009 „im Grundsatz nichts geändert
Drinks getrunken hatte, an Herzrhyth- organisation Foodwatch. hat“. SUSANNE AMANN

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 69
Panorama

LUXEMBURG
Dem Premierminister, oberster Dienst-
herr der Agenten, wird vorgeworfen,
Informationen zu der Affäre nicht an
Affäre bedroht Juncker Parlament und Ermittler weiterge-
geben zu haben. Junckers Büro wurde
Seit 18 Jahren führt Jean-Claude Jun- bereits zweimal von der Staatsanwalt-
cker das Großherzogtum, doch jetzt schaft durchsucht, auch vor einem
belastet eine Geheimdienstaffäre seine Untersuchungsausschuss musste der
Karriere. Auslöser ist eine Serie von Premier schon aussagen. Spätestens
Bombenanschlägen in den Jahren 1984 kommende Woche muss sich der Re-
bis 1986, unter anderem auf das Haupt- gierungschef vor dem Parlament ver-
quartier der Luxemburger Polizei, den antworten.
Justizpalast, den Flughafen und eine Bei der mitregierenden Arbeiterpartei
Ratssitzung der europäischen Staats- mehren sich die Stimmen, die ein
und Regierungschefs. Zwei Polizisten Ende der seit neun Jahren bestehen-
einer Eliteeinheit werden verdächtigt, den Koalition mit Junckers Christ-
damals die Sprengladungen aus noch sozialen fordern. Sollte er zurücktre-
ungeklärten Motiven gelegt zu haben, ten, müsste es innerhalb von drei Mo-

JOCK FISTICK
seit Februar stehen sie vor Gericht. Im naten Neuwahlen geben. Juncker: „Ich
Zentrum der Untersuchung steht der Juncker werde mich meiner Verantwortung
Luxemburger Geheimdienst. nicht entziehen.“

I TA L I E N
Demonstranten
in Rio de Janeiro
„Wir sind alle Huren“
Frauen sind Silvio Berlusconis Ver- lusconi-Partei „Volk der Freiheit“
hängnis – vielleicht aber auch seine nicht nur in Rom für die Rehabilita-
Rettung. Angeführt von seiner frühe- tion ihres Idols. „Wir sind alle Huren“,
ren Staatssekretärin Daniela Santan- lautet der Leitspruch der Berlusconi-
chè demonstrierten Anhänger der Ber- Aktivistinnen, die hinter dem Urteil
gegen den Cavaliere eine politi-
REUTERS

sche Verschwörung wittern. Am


vergangenen Montag hatten drei
Richterinnen in Mailand den Ex-
Premier in erster Instanz zu le- BRASILIEN
benslangem Politikverbot und
sieben Jahren Haft verurteilt, un-
ter anderem weil er eine Minder-
jährige für Sex bezahlt haben
Whisky-Spot zur Demo
soll. Nach Bekanntwerden der „Komm auf die Straße, komm!“, skan-
Affäre im Winter 2010 wurde die dieren die Demonstranten, die überall
Gespielin unter dem Namen im Land gegen Korruption und Miss-
Ruby zum Star des Boulevards. wirtschaft protestieren. Ihren Schlacht-
Im Prozess bestritt sie vehement ruf haben sie ausgerechnet der Groß-
jegliche Intimität mit Berlusconi, industrie zu verdanken. Mit dem
nicht jedoch Besuche in dessen Spruch warb bislang Fiat in Brasilien
Villa. Dort aber, so Santanchè, für seine Autos. Auch „Der Gigant ist
seien viele Frauen, auch sie selbst, erwacht“, ein weiterer beliebter Slo-
ein und aus gegangen, ohne sich gan, wurde von einer Werbeagentur
zu prostituieren. Ruby, vor 21 erfunden. Das Motto stammt aus einer
Jahren als Karima el-Marough in Kampagne für Whisky der Marke
Marokko geboren, lebt inzwi- Johnnie Walker. „Viele Demonstran-
schen in Genua, hat eine 18 Mo- ten haben keine Verbindung zu politi-
nate alte Tochter und angeblich schen Parteien“, so der Medienexperte
kein Interesse mehr am leichten Dennis de Oliveira von der Universität
Leben. Vater des Kindes ist ein São Paulo. „Sie haben ihre Botschaf-
Nachtclubbetreiber, der kürzlich ten der Welt des Konsums entliehen,
GIUSEPPE ARESU / AP / DPA

eine Bewährungsstrafe erhalten in der sie groß geworden sind.“ Partei-


hat. Auf seinem Computer waren en und deren Symbole sind in der Pro-
alte Videos gefunden worden. Sie testbewegung verpönt; in São Paulo
zeigten eine Fetisch-Party in sei- kam es zu Schlägereien, als einige
Karima „Ruby“ el-Marough nem Club. Hauptdarstellerin: die Demonstranten mit roten Flaggen für
minderjährige Ruby. die Regierungspartei PT antraten.
70 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Ausland

MOHAMMED AL-SHAIKH / AFP


Tränen und Gas in Bahrain Inspiriert vom Arabischen zählt Sajjid Umran Hamid, 26. Hunderte Schiiten kamen zur
Frühling wehrt sich die schiitische Bevölkerungsmehrheit im Trauerfeier in sein Dorf, südlich der Hauptstadt Manama.
Königreich am Golf gegen die sunnitische Herrscherfamilie Hamid war bei Protesten vor einigen Wochen unter Tränen-
Al Chalifa. Seit Ausbruch der Unruhen im Februar 2011 wur- gasbeschuss geraten und starb nach Aussagen seiner Ange-
den mindestens 80 Menschen getötet, zu den letzten Opfern hörigen im Krankenhaus an den Folgen der Vergiftung.

ISRAEL
Dass sie auf Big Macs verzichten müs-
sen, erzürnt die Siedler jedoch. McDo-
nald’s sei kein Unternehmen mehr,
Burger-Krieg mit Siedlern sondern gleiche einer ideologischen
Organisation mit antiisraelischer Agen-
McDonald’s legt sich mit jüdischen Kerngebiet. Die etwa 20 000 Einwoh- da, so einer ihrer Führer. Die Siedler
Siedlern an. Die Burger-Kette will kei- ner entbehren wenig. Hier steht seit sinnen nun auf Vergeltung und rufen
ne Filiale im besetzten Westjordanland kurzem sogar die erste israelische Uni- zum „gesamtisraelischen Boykott“ der
eröffnen. Seit 1993 gibt es die Hambur- versität auf palästinensischem Gebiet. Fast-Food-Kette auf.
ger-Läden in Israel, mittlerweile sind
es 180 Restaurants. Jedes Jahr kom-
men etwa 9 Filialen dazu. Das Ange-
bot, in einem neuen Einkaufszentrum
in der jüdischen Siedlung Ariel ein
Schnellrestaurant zu betreiben, lehnt
die Kette jedoch ab – mit einer politi-
schen Begründung: Seit es McDonald’s
URIEL SINAI / GETTY IMAGES

Israel gebe, gehöre es zur Unterneh-


menskultur, keine Filialen jenseits der
Grünen Linie zu unterhalten, sagte ein
Sprecher. Der Siedlungsblock Ariel
liegt mitten im Westjordanland, 19 Ki- Siedlung Ariel
lometer entfernt vom israelischen
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 71
Enthüller Snowden

Grenzenloser Informant
Der Whistleblower Edward Snowden ist auf der Flucht vor Amerika und hinterlässt
dabei eine Spur von Enthüllungen. Er wird zum Opfer einer globalen Treibjagd, die an
einen Thriller des Kalten Kriegs erinnert – mit der Technik des 21. Jahrhunderts.

GLENN GREENWALD / DPA (O.); SERGEI KARPUKHIN / REUTERS (U.)

Flughafen Moskau-Scheremetjewo
Titel

I
n Fort Meade, im Hauptquartier der weis beworben, er sei Buddhist und damit Pazifiks ein Mann gerade dabei ist, noch
NSA, jenes Geheimdienstes, der zu- eigentlich der Gewaltlosigkeit verpflich- weitere Geheimnisse publik zu machen.
ständig ist für Amerikas Sicherheit, tet. CIA und NSA haben ihn angeheuert, Zwölf Minuten und 35 Sekunden lang
steht eine riesige Gedenktafel aus Granit weil wenige mit Datennetzwerken so gut ist das Video, mit dem sich der bis dahin
mit den Namen der 171 im Dienst getöte- umzugehen wissen wie er. unbekannte Systemadministrator Edward
ten Agenten, darauf der Spruch: „Sie In Hongkong bezieht Snowden ein Snowden am 9. Juni aus der Anonymität
dienten in Stille.“ Es ist eine sehr ameri- Zimmer im Fünfsternehotel „The Mira“ in die Öffentlichkeit katapultiert, vom Je-
kanische Art, an die eigenen Helden zu im Stadtteil Kowloon. Dass Snowden dermann zu einem der meistgesuchten
erinnern. ausgerechnet die chinesische Sonderver- Menschen der Welt. Mehr als 1,7 Millio-
Er hat in Stille gedient – das wird man waltungszone als Rückzugsort wählt, ist nen Mal wird es in kurzer Zeit angeklickt.
über Edward Snowden nie sagen, den wohlkalkuliert. Er glaubt, hier sicher zu Zu sehen ist ein junger, blasser Mann
größten Whistleblower der jüngeren ame- sein – vor dem Zugriff Amerikas, aber mit eckiger Brille und Dreitagebart. Er
rikanischen Geschichte. Und trotzdem ist auch vor den Chinesen. Und er kennt die redet klar, langsam, souverän. Er sagt, er
auch er nun ein Held für viele, weil er Stadt, hat hier einen Bekannten. Hong- habe nicht vor, sich zu verstecken, denn
Amerikas Traum von der totalen Daten- kong ist der Ort, von dem aus er die Serie er habe nichts Falsches getan. Warum er
kontrolle zum Platzen gebracht hat. von Enthüllungen anstößt, die wenig spä- nicht anonym bleiben wollte? „Die Öf-
Mit vier Laptops voller Geheimdoku- ter Amerika und die Welt erschüttert. fentlichkeit verdient eine Erklärung.“
mente reist Edward Snowden seit Ende
Mai um die Welt, von Hawaii nach Hong- „Ich erlebte den Missbrauch regelmäßig. Aber
kong und weiter nach Moskau, dabei zieht
er einen Schweif globaler Enthüllungen mir wurde erzählt, das sei kein Problem.“
hinter sich her. Er hat das „Prism“-Pro-
gramm der NSA enttarnt, das Daten von Als Helfer hat er bereits zuvor Glenn Snowden beschreibt die NSA als Su-
Facebook, Google, Microsoft und Skype Greenwald gewählt, der für den briti- perbehörde, als riesigen Kraken, der welt-
nutzt; er hat die Zusammenarbeit mit dem schen „Guardian“ bloggt. Davor war weit gigantische Datenmengen abgreift.
britischen Nachrichtendienst GCHQ be- Greenwald Hobbypolitiker und Anwalt, Und er erklärt, wieso er zum Informanten
kanntgemacht, dessen Programm „Tem- jetzt lebt er zusammen mit seinem Part- wurde: „Ich erlebte den Missbrauch re-
pora“ Daten von Hunderten Glasfaser- ner und zehn Hunden in Rio de Janeiro. gelmäßig. Je mehr ich darüber reden woll-
kabeln abschöpft; und nun auch die Spio- Seit Jahren setzt er sich für die Veröffent- te, desto mehr wurde ich ignoriert, wurde
nage der NSA in Deutschland (siehe Sei- lichung von Regierungsgeheimnissen ein. mir erzählt, dass das kein Problem sei.“
te 76). Jeden Tag kommt Neues dazu. Er gilt als leidenschaftlicher Kämpfer für Die Treibjagd ist eröffnet.
Seitdem liefert sich Edward Snowden Transparenz, als einer, der keine Kom- Stunden später wird Snowdens Ver-
mit Amerika eine Hetzjagd um die Welt promisse eingeht. Greenwald ist der steck ausfindig gemacht, doch vorher
wie aus einem Thriller des Kalten Kriegs – Mann, den Snowden jetzt braucht; er bit- taucht er ab und versteckt sich in der
mit den technischen Mitteln des 21. Jahr- tet ihn, nach Hongkong zu kommen. Wohnung eines Hongkonger Bekannten.
hunderts. Verfolgt von Hunderten von Am 1. Juni treffen Greenwald, ein Inzwischen hat er Kontakt zu Journa-
Journalisten, Abermillionen von Zuschau- „Guardian“-Kollege sowie die Dokumen- listen der „South China Morning Post“.
ern und vermutlich nicht wenigen Agen- tarfilmerin Laura Poitras ein. Snowden Sie enthüllen nach einem Gespräch mit
ten. Kleine und größere diplomatische lotst sie zu sich ins Zimmer, als Erken- Snowden, dass die NSA auch in China
Erdbeben hat dieser 30-jährige System- nungszeichen dient ein Zauberwürfel. und Hongkong Server von Telefongesell-
administrator bereits ausgelöst, denn die Fast eine Woche lang befragen sie ihren schaften gehackt und Millionen von Text-
Enthüllungen zeigen auch, in welchem Informanten. Dann, am 5. Juni, veröffent- nachrichten gesammelt hat.
Umfang selbst befreundete Staaten aus- licht der „Guardian“ die erste Enthüllung, Snowden hofft wohl, eine Auslieferung
geforscht werden. Die Einblicke in seinen die Geschichte eines geheimen Gerichts- verhindern zu können, indem er den
Abhörapparat haben Amerika gegenüber beschlusses, aus dem hervorgeht, dass die Zorn der Chinesen auf Amerika anheizt.
China und Russland blamiert, Feinden ge- US-Regierung das Unternehmen Verizon Und das ist auch nötig, denn Washington
holfen und Freunde in Verlegenheit ge- zwang, Telefondaten von Millionen US- übt nun Druck aus. Es gibt zwar keinen
bracht, weil auch diese jetzt fürchten müs- Bürgern auszuhändigen. Am Tag darauf Auslieferungsvertrag mit China, aber
sen, dass ihre eigenen Lauschaktivitäten folgt die Enttarnung des Spähprogramms Hongkong ist weitgehend autonom, es
unter die Lupe genommen werden. „Prism“, später eines ähnlichen, weltweit hat 1996 ein eigenes Abkommen mit den
All das kann sich Edward Snowden ver- eingesetzten Programms namens „Bound- USA geschlossen. Die ersten US-Abge-
mutlich noch nicht vorstellen, als er am less Informant“, grenzenloser Informant. ordneten fordern, Snowden mit der „vol-
20. Mai seine Unterkunft auf Hawaii ver- Genau in diese Zeit fällt das erste Tref- len Härte des Gesetzes“ zu verfolgen.
lässt und ein Flugzeug nach Hongkong fen der beiden mächtigsten Männer der „Die Leute, die meinen, ich hätte einen
besteigt. Dabei hat er einen kleinen, Welt. Am 7. Juni lädt US-Präsident Ba- Fehler gemacht, als ich Hongkong aus-
schwarzen Koffer, darin die Laptops, dar- rack Obama den chinesischen Staatschef wählte, missverstehen meine Absichten“,
auf gespeichert tausend streng geheime Xi Jinping auf die Sunnylands-Ranch in sagt Snowden der „South China Morning
Dokumente. Seiner Freundin hat er ge- Kalifornien ein. Es ist heiß, 43 Grad, und Post“. Doch er ahnt, dass er in Hongkong
sagt, er werde bald zurück sein; seinem zum Ärger der Chinesen haben die Gast- nicht sicher ist. Nur, wohin kann er
Arbeitgeber hat er erzählt, er brauche geber kurzfristig das Thema Cyber-Sicher- reisen?
eine Auszeit. heit auf die Tagesordnung gehoben. Oba- Es ist der Moment, in dem zwei Män-
Seit fast drei Monaten arbeitet der ma mahnt, er wünsche sich eine Weltord- ner auftreten, die etwas vom Ruhm des
Computer-Nerd für die Sicherheitsfirma nung, in der sich alle an dieselben Regeln Enthüllers auf sich abfärben lassen wol-
Booz Allen Hamilton auf Hawaii, die Auf- halten. Eine Mahnung derjenigen, die sich len: Rafael Correa und Julian Assange.
gaben für die NSA erledigt – und er hat als Opfer fühlen, an die mutmaßlichen Ecuador gibt kurz darauf bekannt,
Zugang zu den größten Geheimnissen Missetäter im Cyber-Krieg – die Chinesen. über einen Asylantrag Snowdens zu be-
Amerikas. Snowden ist zwar Schulabbre- Die Amerikaner haben die Enthüllun- raten. Nicht, weil Ecuadors Präsident Cor-
cher, aber einer mit Ambitionen. Bei den gen im „Guardian“ zwar registriert, wissen rea ein Freund von Transparenz wäre,
US-Streitkräften hat er sich mit dem Hin- aber nicht, dass auf der anderen Seite des nein – zur gleichen Zeit tritt in seinem
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 73
Titel

Land ein restriktives Mediengesetz in Snowden in Sicherheit zu bringen. As- Pass ist nun ungültig, aber er reist ver-
Kraft. Doch Correa leidet darunter, dass sange aktiviert zudem sein globales Unter- mutlich mit dem Flüchtlingsausweis aus
Ecuador als Resonanzboden für seine poli- stützernetzwerk; sein Mitstreiter Kristinn London; begleitet wird er von der Wiki-
tischen Ambitionen zu unbedeutend ist. Hrafnsson stellt in Island einen Asylantrag Leaks-Aktivistin Sarah Harrison. Die
Und am 16. Juni steht Julian Assange für Snowden. Falls es in Ecuador nicht „South China Morning Post“ veröffent-
auf dem Balkon der ecuadorianischen klappt. Oder als Ablenkungsmanöver? licht am selben Tag die vorläufig letzte
Botschaft in London, diesmal zusammen Am 21. Juni wird Snowden 30 Jahre alt, Snowden-Enthüllung, darunter auch sei-
mit Außenminister Ricardo Patiño. Der und noch am selben Abend erfährt er, ne Aussage, er habe sich vor drei Mona-
WikiLeaks-Gründer sagt nichts, er winkt dass in Washington eine Klage wegen ten gezielt bei Booz Allen Hamilton an-
nur fröhlich seinen Unterstützern zu. Spionage gegen ihn eingereicht wurde stellen lassen, um an hochgeheime NSA-
Aber in Interviews nennt er Snowden und Justizminister Eric Holder nun per- Daten zu kommen. Snowden wirkt jetzt
wie ein Profi-Spion.
Snowden ist nervös, er will weg aus Chinas Regierende genießen unterdes-
sen still, dass nun die USA als großer Da-
Hongkong, aber er weiß nicht, wohin. tendieb dastehen, nicht China. Der Mili-
tärexperte Wang Changqin nennt die
einen Helden und empfiehlt, er solle nach sönlich Druck auf seinen Hongkonger USA ein „Imperium der Hacker“. Nun
Lateinamerika fliehen. Amtskollegen ausübt, ihn auszuweisen. sei erwiesen, dass China selbst ein Opfer
Seit über einem Jahr sitzt Assange jetzt Ein vorläufiger Haftbefehl wurde bereits ausländischer Hacker-Angriffe sei. Und
in London fest, draußen vor der Tür war- nach Hongkong überstellt, sein Pass an- dass nicht China, sondern Amerika das
ten Polizisten, um ihn festzunehmen und nulliert. Gleich am nächsten Morgen teilt intellektuelle Eigentum anderer plündere.
nach Schweden auszuliefern, wo er auf- ein Mittelsmann der Regierung in Hong- Der Fall Snowden ist für die chinesische
grund von Vergewaltigungsvorwürfen ge- kong Snowden mit, dass man nichts dage- Führung jedoch nicht ohne Risiko: Kurz
sucht wird. Sein Zimmer in der Botschaft gen hätte, wenn er demnächst verschwän- nachdem Snowden das Land verlassen
ist nicht viel größer als eine Gefängnis- de. Das ist eine eindeutige Aufforderung. hat, flammt die Debatte auf, wie es
zelle, darin haben ein Tisch, ein paar Spätestens seit den Enthüllungen über eigentlich die Regierung mit der Internet-
Stühle, ein Buchregal und ein Einzelbett die Spionage in China will die Führung sicherheit ihrer Bürger hält. Wie werden
Platz. Der Raum sei so düster, sagte As- in Peking Snowden offenbar nicht auslie- wir Chinesen gegen Übergriffe geschützt?
sange, dass er eine Lampe bestellt habe, fern, sondern zur Weiterreise bewegen. Wer bewilligt die Gesetze, nach denen
die den Himmel simuliert. Er hat ein Lauf- Die offizielle Begründung liest sich wie wir ausgehorcht werden? Wie läuft es ab,
band, ab und zu kommt ein Fitnesstrainer eine öffentliche Ohrfeige, schlimmer noch, wenn die Behörden einen chinesischen
vorbei, ansonsten schaut er „West Wing“ wie ein verbaler Mittelfinger an die Adres- Staatsbürger unter Beobachtung stellen?
und „Twilight Zone“. se Amerikas: Die Unterlagen seien nicht Diese Fragen richtet der Anwalt Xie
Von hier aus führt Assange die inzwi- vollständig gewesen. Die US-Regierung Yanyi an das Ministerium für Öffentliche
schen zerstrittene Organisation. Aber er hat in den Auslieferungspapieren einen Sicherheit, ein Novum in der Überwa-
hatte lange keinen Scoop mehr, der Strom falschen zweiten Vornamen für Snowden chungsrepublik China. Dass Xie auf seine
der Leaks ist versiegt. Und die Situation angegeben. Im Übrigen, heißt es, wünsche Fragen erschöpfende Antworten erhalten
in London wird langsam aussichtslos, eine man umgehend über die Spähaktionen der wird, ist unwahrscheinlich. Dass er sie
Flucht scheint unmöglich. Seit Snowdens Amerikaner aufgeklärt zu werden. überhaupt zu stellen wagte, ist neu.
Selbstenttarnung ist Assange klar, dass Snowden hat jetzt zu viel Angst, er Dutzende Journalisten und Geheim-
dies seine Chance ist, wieder ins Spiel zu fährt daher am 23. Juni zum Flughafen, dienstler erwarten Snowden bei seiner
kommen, auf sein Schicksal hinzuwei- passiert die normale Sicherheitskontrolle Landung in Moskau-Scheremetjewo.
sen – und Amerika eins auszuwischen. und fliegt mit Aeroflot nach Moskau. Sein Aber niemand bekommt den Gesuchten
Assange besorgt Snowden ein Reise-
papier aus Ecuador und sendet seine Mit-
arbeiterin Sarah Harrison nach Hongkong.
WikiLeaks soll Snowdens Fluchthelfer
werden, ihn an einen sicheren Ort brin-
gen. Wenn es den noch gibt.
Am 18. Juni verlässt Edward Snowden
zum ersten Mal wieder sein Versteck. Er
ist noch vorsichtiger geworden, zum Tref-
fen mit dem Anwalt Albert Ho und zwei
Kollegen kommt er mit Mütze und Son-
nenbrille, alle müssen ihre Mobiltelefone
in den Kühlschrank legen. Sie essen Pizza,
trinken Pepsi, dabei diskutieren sie zwei
Stunden lang. Die Anwälte warnen ihn:
Niemand könne garantieren, dass er wäh-
rend eines möglichen Auslieferungsver-
fahrens auf freiem Fuß bleiben werde. Er
wäre dann ohne Computer und Internet.
KIRSTY WIGGLESWORTH / AP

Snowden ist nervös, er will weg, aber er


weiß noch nicht, wohin.
Das ist die Situation, in der WikiLeaks
helfen kann. Ein befreundetes Unter-
nehmen, das eingehende Spenden für die
Organisation abrechnet, hat angeboten,
für einen Privatjet zu zahlen, um WikiLeaks-Gründer Assange in London: Ein Jahr fast wie in Haft
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zu Gesicht, nur mit dem ecuadoriani-
schen Botschafter spricht Snowden in der
Transitzone. Danach ist er verschwunden,
es verbreitet sich das Gerücht, er würde
am nächsten Tag nach Ecuador reisen.
Am Montag voriger Woche herrscht
Gedränge vor Gate 28, von wo aus der
Aeroflot-Flug SU 150 nach Havanna star-
tet. Zwei Dutzend Journalisten haben
Tickets gebucht. Doch Sitz 17A, angeblich
der Platz des Flüchtigen, bleibt leer. Das
Flugzeug hebt ab – ohne Snowden.
Ecuador spielt sich zwar als Fluchtha-
fen auf, doch die Hauptstadt erreicht man
von Europa aus nicht direkt. Von Moskau
gibt es nur vier Verbindungen mit einem
Zwischenstopp: via Madrid, Miami, Ams-
terdam oder Havanna. Die ersten drei
Flughäfen sind für Snowden tabu, doch
selbst Kuba hat ein Auslieferungsabkom-
men mit den USA – und arbeitet außer-
dem gerade daran, seine Beziehungen
zum Nachbarn zu verbessern. Anders als
in den siebziger Jahren ist Kuba kein Auf-
fangbecken mehr für Flüchtlinge.
Bleibt Snowden also in Moskau? Von
Anfang an schließt der Kreml die Auslie-
ferung des Whistleblowers aus. Moskaus
Machtelite sieht in seiner Anwesenheit
die Gelegenheit, es Amerika heimzuzah-
len. Der nationalistische Schriftsteller
Eduard Limonow ruft in der regierungs-
nahen Zeitung „Iswestija“ zur Rache auf: Netzwerkspezialist Snowden mit Freundin: „Die Öffentlichkeit verdient eine Erklärung“
„Lasst uns auf Amerika spucken und
Snowden Asyl anbieten, wo wir doch gang zu den Top-Secret-Dokumenten zu gen muss. Denn Ecuador ist wirtschaftlich
schon dem Säufer Gérard Depardieu ei- erhalten. Dieser Verdacht zumindest wird abhängig von den USA.
nen Pass gegeben haben.“ in Amerika laut geäußert. Der Held er- Drei Optionen scheint es Freitagabend
Auch Präsident Wladimir Putin meldet scheint vielen nun als Verräter, weil er vergangener Woche für Snowden noch zu
sich zu Wort. Der Flüchtige, sagt er, be- sich die falschen Freunde sucht. Mit je- geben. Die erste Möglichkeit: ein Privat-
finde sich im Transitbereich – und damit dem Tag, der vergeht, ist Snowden weni- flugzeug. Das würde wohl rund 200 000
nicht wirklich in Russland. Weshalb man ger der Jäger und mehr der Gejagte; Dollar für die Strecke Moskau–Quito kos-
ihn, leider, auch nicht ausliefern könne. scheint es nicht mehr sein Spiel zu sein, ten, die russischen Behörden müssten
Und Putin schiebt, fast lächelnd, eine sondern das anderer Mächte. Snowdens Ausreise genehmigen.
Frage hinterher: „Assange und Snowden Spätestens Mitte voriger Woche weiß Die zweite Option schlug auch Edward
sehen sich als Menschenrechtsaktivisten niemand mehr, wo der Whistleblower ist. Snowdens Vater Lonnie am Freitag vor:
und sagen, dass sie für die Verbreitung In einem abgeschotteten Bereich im Flug- Der Sohn stellt sich den amerikanischen
von Informationen kämpfen. Überlegen hafen? In einer Geheimdienstvilla im Um- Behörden. Anders als der WikiLeaks-In-
Sie selbst: Sollte man diese Menschen aus- land? Doch auf dem Weg nach Ecuador? formant Bradley Manning würde er nicht
liefern, wenn sie dann verhaftet werden?“ Am naheliegendsten jedoch ist, dass er vor einem Militär-, sondern einem Zivil-
Für Putin ist Snowdens Flucht nach noch länger in Moskau bleibt, vielleicht gericht angeklagt. Und das könnte ihn
Moskau ein Geschenk, die Enthüllungen beantragt er sogar Asyl. Sein Schicksal durchaus freisprechen, wenn es feststellt,
liefern Munition, um soziale Netzwerke hängt an zwei dünnen Fäden: dass ein dass Snowden keinen Landesverrat be-
wie Facebook und Twitter an die Kette Land ihn unbehelligt passieren lässt – und gangen hat. Der NSA-Whistleblower Tho-
zu legen. Schon heute verfolgen die Ge- er die nötigen Reisedokumente hat. mas Drake etwa erhielt für seine Enthül-
heimdienste in Russland die Online-Ak- In Quito rudert Rafael Correa unter- lungen eine einjährige Bewährungsstrafe.
tivitäten ihrer Bürger. Der stellvertreten- dessen zurück: „Technisch gesehen, kön- Als letzte Möglichkeit bliebe, in der
de Parlamentsvorsitzende will sogar ein nen wir das Asylgesuch nicht bearbeiten, ecuadorianischen Botschaft in Moskau
„souveränes Internet“ schaffen, frei von solange er nicht in Ecuador ist.“ Und Unterschlupf zu suchen, aber auch das
der Kontrolle ausländischer Mächte – und überhaupt könne die Entscheidung lang bedürfte einer russischen Erlaubnis. Und
umso besser kontrolliert von den eigenen dauern, twittert der Außenminister: „ei- dann? Säße Snowden fest. Wie Assange.
Diensten. Das wäre nicht unmöglich, von nen Tag, eine Woche oder zwei Monate“. JENS GLÜSING, MARC HUJER,
den 20 größten Internetunternehmen, die Nur solange er nicht wirklich kommt, JULIANE VON MITTELSTAEDT,
MATTHIAS SCHEPP, CHRISTOPH SCHEUERMANN,
in Europa arbeiten, sind 15 amerika- scheint Snowden in Ecuador willkommen. GREGOR PETER SCHMITZ
nisch – und 5 russisch. Je länger das diplomatische Tauziehen
Ist Snowden also wirklich freiwillig in dauert, desto besser für Correa. Er kann
Moskau geblieben? Musste er vielleicht sich als der David der Meinungsfreiheit Video:
bleiben, wird er verhört? Für die russi- aufspielen, der sich gegen den Goliath er- Wer ist Edward Snowden?
schen Geheimdienste ist Snowdens Auf- hebt – ohne dass er sich mit dem Problem spiegel.de/app272013snowden
enthalt eine einzigartige Gelegenheit, Zu- amerikanischer Sanktionen herumschla- oder in der App DER SPIEGEL

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MS-UNGER.DE
Verbündete Obama, Merkel am Brandenburger Tor

Angriff aus Amerika


Geheimdokumente zeigen, wie umfassend die USA in Deutschland und Europa spionieren.
Jeden Monat überwacht die NSA dabei eine halbe Milliarde Kommunikationsvorgänge, EU-
Gebäude werden verwanzt. Die Affäre bedroht die diplomatischen Beziehungen.

MICHAELA REHLE / REUTERS

Ehemalige NSA-Abhöreinrichtung in Bad Aibling

A
uf den ersten Blick scheint es im- chef beim früheren CIA-Direktor Leon dann auch noch die Milliarden Mails, die
mer dieselbe Geschichte zu sein: Panetta war. jeden Tag international verschickt wer-
Es geht um die Nadel, die im Heu- Einen gigantischen Heuhaufen. Einen, den – eine Welt voller unkontrollierter
haufen verschwunden ist, die eine Infor- der sich zusammensetzt aus Milliarden Kommunikation. Und also eine Welt vol-
mation, die sich hinter einem Wust von Minuten, die Menschen grenzüberschrei- ler potentieller Bedrohungen, jedenfalls
Informationen verborgen hält. tend täglich telefonieren. Dazu kommen aus der Berufsperspektive von Geheim-
Amerikas Geheimdienste haben, so die Datenströme in den modernen Hoch- diensten. Das sei die „Herausforderung“,
scheint es, das Problem längst von der leistungskabeln des Internets, die alle wie es in einer internen Darstellung des
anderen Seite aus in Angriff genommen: paar Sekunden Informationen vom Um- amerikanischen Abhörgeheimdienstes
„Wenn du nach einer Nadel im Heuhau- fang des gesamten in der Washingtoner National Security Agency (NSA) heißt.
fen suchst, brauchst du einen Heuhau- Kongressbibliothek gesammelten Wissens Diese Herausforderung hat der Vier-
fen“, sagt Jeremy Bash, der einmal Stabs- rund um den Erdball transportieren. Und Sterne-General Keith Alexander defi-
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Titel

niert, der heute NSA-Direktor und gleich- illegal wäre“, heißt es in einem „streng es mit den Informationen über die all-
zeitig Cyber-Kommandochef des US-Mi- geheim“ eingestuften Dokument. gemeine Überwachung von Kommunika-
litärs ist, also Amerikas oberster Cyber- Für alle anderen, auch jene Gruppe tion aus. Sie gefährden keine Menschen-
Krieger. Bei einem Besuch in Menwith von rund 30 Ländern, die als Partner drit- leben, sondern machen ein System
Hill, der großen Abhörstation der Briten ter Klasse („3rd party“) zählen, gilt dieser erfassbar, dessen Dimension jede Vorstel-
in der Nähe von Harrogate in Yorkshire, Schutz nicht. „Wir können die Signale lungskraft sprengt, was in einer Demo-
stellte er angesichts der geballten techni- der meisten ausländischen Partner dritter kratie diskutiert werden muss. Eine sol-
schen Abhörkapazität schon 2008 eine Klasse angreifen – und tun dies auch“, che weltweite Diskussion ist Snowdens
simple Frage: „Warum können wir eigent- brüstet sich die NSA in einer internen eigentliches Anliegen, die Motivation für
lich nicht alle Signale immer abfangen?“ Präsentation. Zu diesen Ländern, die im seinen Geheimnisbruch. Er sagt: „Die Öf-
Alle Signale zu jeder Zeit – das wäre Fokus der Überwachung stehen, zählt fentlichkeit muss entscheiden, ob diese
der ideale Heuhaufen, von dem die NSA laut der Auflistung auch Deutschland. Programme und Strategien richtig oder
träumt. Und was die Nadel ist, eine Spur Damit bestätigen die Unterlagen, was im falsch sind.“
des Terrornetzwerks al-Qaida etwa oder Berliner Regierungsviertel seit langem Die Fakten, die dank Snowden nun der
die Industrieanlagen eines gegnerischen vermutet wird: dass die US-Geheimdiens- Weltöffentlichkeit zugänglich werden, wi-
Staates, die Pläne internationaler Dro- te mit Billigung des Weißen Hauses ge- derlegen vor allem die Verteidigungslinie
genhändler, aber auch die Gipfelvor- zielt auch die Bundesregierung ausfor- des Weißen Hauses. Die Überwachung
bereitung von Spitzenpolitikern befreun- schen, wohl bis hinauf zur Kanzlerin. Da sei nötig, um Terroranschläge zu verhin-
deter Staaten, das wird von Fall zu Fall überrascht es kaum, dass auch die Wa- dern, argumentierte US-Präsident Barack
bestimmt – der Heuhaufen wird’s schon shingtoner Vertretung der Europäischen Obama auch bei seinem Besuch in Berlin.
liefern. Union nach allen Regeln der Kunst ver- Und NSA-Chef Alexander rechtfertigte
Wie nah Amerikas NSA, in trauter Zu- wanzt wird, wie ein Dokument zeigt, das sich, in den USA habe die NSA dazu bei-
sammenarbeit mit anderen westlichen der SPIEGEL eingesehen hat. getragen, zehn Anschläge zu verhindern.
Geheimdiensten, diesem Ideal gekom- Die neue Qualität der Enthüllungen ist Weltweit sollen sogar 50 Terrorplots mit
men ist, hat in den vergangenen Wochen aber nicht, dass Staaten sich gegenseitig NSA-Hilfe aufgeflogen sein. Das mag
ein junger Amerikaner enthüllt, der äu- auszuforschen versuchen, Minister aus- sein, ist aber nur schwer überprüfbar und
ßerlich so gar nichts von jenem Helden horchen und Wirtschaftsspionage be- bestenfalls ein Teil der Wahrheit.
hat, als der er jetzt in aller Welt von de- treiben. Recherchen in Berlin, Brüssel und Wa-
nen gefeiert wird, die sich von Amerikas Was die Dokumente enthüllen, ist vor shington und die Dokumente, die die Re-
gigantischer Überwachungsmaschinerie allem die Möglichkeit der Totalüberwa- daktion einsehen konnte, offenbaren, wie
bedroht fühlen. chung eigener und fremder Bürger, jen- allumfassend die Überwachung der USA
Es ist ein Fiasko für die NSA, die, an- seits jeder effektiven Kontrolle und Auf- angelegt ist.
ders als etwa der US-Auslandsgeheim- sicht. Unter den Geheimdiensten der Deutschland nimmt in diesem globalen
dienst CIA, lange Zeit weitgehend ohne westlichen Welt scheint es eine Aufga- Spionagesystem eine zentrale Rolle ein.
öffentliche Aufmerksamkeit lauschen benteilung und einen teilweise regen Aus- Die NSA hat für die einlaufenden Daten-
konnte. Snowden habe den USA „unwi- tausch zu geben. Denn der Grundsatz, ströme ein Programm entwickelt, das den
derruflichen, schweren Schaden zuge- ein Auslandsnachrichtendienst dürfe sei- Namen „Boundless Informant“, grenzen-
fügt“, klagte Direktor Alexander am ne Bürger nicht oder nur aufgrund indi- loser Informant, trägt und dessen Exis-
vorvergangenen Wochenende in einem vidueller Gerichtsbeschlüsse überwa- tenz der Londoner „Guardian“ enthüllt
Interview mit dem amerikanischen Fern- chen, ist in dieser Welt der globalisierten hat, mit dem Snowden kooperiert. Es ist
sehsender ABC. Kommunikation und Überwachung aus- dafür gedacht, die Verbindungsdaten aus
Snowdens NSA-Dokumente umfassen gehebelt. Der britische Dienst GCHQ sämtlichen einlaufenden Telefondaten
weit mehr als nur ein oder zwei Skandale.
Sie sind eine Art elektronischer Schnapp- Deutschland ist gelb ausgewiesen,
schuss der Arbeit des mächtigsten Ge-
heimdienstes der Welt aus rund zehn Jah- ein Zeichen beträchtlicher Ausspähung.
ren. Der SPIEGEL hat eine Reihe von
Dokumenten aus diesem Archiv einsehen darf alle Menschen bis auf Briten über- und der übrigen Kommunikation „nahe-
und auswerten können. wachen, die NSA alle bis auf Amerikaner, zu in Echtzeit“ aufzubereiten, wie es in
Die Unterlagen belegen, welche zen- der deutsche Bundesnachrichtendienst einer Beschreibung heißt. Erfasst werden
trale Rolle Deutschland im weltumspan- (BND) alle, nur keine Deutschen. So ent- nicht die Gesprächsinhalte, sondern die
nenden Überwachungsnetz der NSA steht die Matrix einer hemmungslosen Metadaten: also von welchem Anschluss
spielt – und wie die Deutschen selbst zum Rundumüberwachung, in der jeder dem mit welchem Anschluss eine Verbindung
Ziel der Angriffe aus Amerika werden. anderen mit verteilten Rollen behilflich bestand.
Jeden Monat speichert der US-Geheim- sein kann. Es sind jene Vorratsdaten, um deren
dienst die Daten von rund einer halben Dokumente zeigen, dass die Dienste Speicherung in Deutschland seit vielen
Milliarde Kommunikationsverbindungen das in dieser Situation Naheliegende und Jahren erbittert gerungen wird – und de-
aus Deutschland. in Deutschland gesetzlich verankerte tun: ren Erfassung das Bundesverfassungsge-
Vor der Spionagewut ist niemand si- Sie tauschen sich aus. Und sie kooperie- richt im Jahr 2010 untersagte.
cher, jedenfalls fast niemand. Nur eine ren intensiv miteinander. Das gilt, neben „Boundless Informant“ erzeugt Karten
handverlesene Gruppe von Staaten ist den Briten und den Amerikanern, für den der Länder, aus denen die von der NSA
davon ausgenommen, die die NSA als BND, der der NSA bei der Internetüber- gesammelten Daten stammen. Die am
enge Freunde definiert, Partner zweiter wachung assistiert. stärksten überwachten Regionen befin-
Klasse („2nd party“), wie es in einem in- Der SPIEGEL hat sich entschieden, den sich im Nahen Osten, dazu kommen
ternen Papier heißt: Großbritannien, vorliegende Details über Geheimopera- Afghanistan, Iran und Pakistan, die beide
Australien, Kanada und Neuseeland. Die- tionen, die das Leben von NSA-Mitar- auf der Weltkarte der NSA blutrot mar-
se Länder seien für die NSA „weder Zie- beitern gefährden könnten, nicht zu pu- kiert sind. Deutschland ist, als einziges
le, noch verlangt sie, dass diese Partner blizieren, ebenso wenig die entsprechen- Land Europas, gelb ausgewiesen, ein Zei-
irgendetwas tun, was auch für die NSA den internen Codewörter. Anders sieht chen beträchtlicher Ausspähung.
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Titel

Eine NSA-Tabelle, die der SPIEGEL


erstmals veröffentlicht (siehe Grafik), do-
kumentiert, wie massiv das Aufkommen
„Du sollst zerstört werden“ aus dem in Deutschland überwachten Da-
tenverkehr ist. Danach fing die Agency
im vergangenen Dezember die Metada-
Der NSA-Aussteiger William Binney über Snowdens Flucht ten von durchschnittlich rund 15 Millio-
nen Telefongesprächen täglich und etwa
Der Mathematiker William Binney, 69, 10 Millionen Internetverbindungen ab.

J. ERNST / NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF


stand mehr als 40 Jahre lang in den Am 24. Dezember waren es rund 13 Mil-
Diensten der amerikanischen Abhör- lionen Telefonverbindungen und halb so
agentur NSA, war unter anderem viele Internetverbindungen.
technischer Leiter und verantwortlich An Spitzentagen, wie etwa dem 7. Ja-
für 6000 Mitarbeiter. Zuletzt arbeitete nuar dieses Jahres, stieg das Aufkommen
er an einem weltweiten Datenerfas- auf fast 60 Millionen überwachte Kommu-
sungsprogramm namens ThinThread, nikationsvorgänge. Metadaten über bis zu
einem Vorläufer heutiger Überwa- eine halbe Milliarde Verbindungen sam-
chungsprogramme. meln die Amerikaner Monat für Monat
aus Deutschland. Aus der Bundesrepublik
SPIEGEL: Herr Binney, haben die Ent- Binney: Ich wurde von FBI-Agenten fließt damit einer der größten Ströme der
hüllungen von Edward Snowden Sie mit gezogenen Waffen unter der Welt in den gigantischen Datensee des
überrascht? Dusche überrascht. Ich weiß, was amerikanischen Geheimdienstes.
Binney: Nein, ich sage seit Jahren, dass Whistleblower durchmachen müssen. Eine weitere Übersicht aus dem NSA-
die NSA den weltweiten Datenver- Du sollst moralisch zerstört werden. Datenschatz zeigt, wie viel kleiner der
kehr beobachtet, aufzeichnet und auf Aber ich denke trotzdem, Snowden Umfang der Daten ist, die aus Ländern
Jahrzehnte speichert. Hier überrascht sollte in die USA zurückkehren, sich wie Frankreich und Italien fließen (siehe
das keinen. Ich war nur ein wenig ver- einem Gerichtsverfahren stellen und Grafik). Für Frankreich verzeichnen die
wundert über die Dokumentennum- eine komplette Aussage machen. Nur Amerikaner im selben Zeitraum täglich
mer einer gerichtlichen Anweisung, so kann es erneut zu einer öffentlichen im Durchschnitt gut zwei Millionen Ver-
mit der das Telefonunternehmen Veri- Diskussion über den Überwachungs- bindungsdaten, an Heiligabend sind es
zon zur Herausgabe von Daten auf- staat kommen. Er könnte immer noch knapp sieben Millionen. Für das ebenfalls
gefordert wurde. aus der Sache herauskommen. Straf- erfasste Polen schwanken die Werte in
SPIEGEL: Inwiefern? taten der Regierung öffentlich zu ma- den ersten drei Dezemberwochen zwi-
Binney: Das Dokument trug die Num- chen ist nicht strafbar – Spionage schen zwei und vier Millionen.
mer 13-80, also im Jahr 2013 die 80. schon. Wir müssen uns mehr mit Prism Mit klassischem Lauschen oder Abhö-
Anweisung an eine Firma, Daten her- beschäftigen. Aber zurzeit dreht die ren hat die Arbeit der NSA nur noch we-
auszurücken. Ich frage mich, wer die Regierung die Geschichte allein auf die nig zu tun, sie ähnelt eher einer struktu-
anderen 79 Firmen sind. Frage, ob Snowden ein Verräter ist. rellen Kompletterfassung. Zu glauben,
SPIEGEL: Sie selbst waren unter ande- SPIEGEL: Müsste Snowden bei einer aus den Metadaten lasse sich weniger ab-
rem für die Automatisierung der welt- Rückkehr nicht fürchten, Jahrzehnte leiten als aus abgefangenen Kommunika-
weiten Datenerfassung zuständig. ins Gefängnis zu wandern, wie viel- tionsinhalten, wäre freilich ein Irrtum.
Hilft die Masse der Informationen bei leicht Bradley Manning, der Daten an Für Ermittler sind sie eine Goldwährung,
der Suche nach Terroristen? WikiLeaks weitergegeben hat? denn sie zeigen nicht nur Kontaktnetz-
Binney: Nein, ich habe mein ganzes Binney: Manning ist Soldat, steht vor werke, sondern ermöglichen auch Bewe-
Berufsleben gegen die Datenflut ge- einem Militärgericht. Snowden käme gungsprofile und sogar Vorhersagen über
kämpft, in der wir nun zu ertrinken vor ein ziviles Gericht, wie mein Kol- das mögliche Verhalten erfasster Kommu-
drohen. Den Anschlag von Boston lege Thomas Drake, einer der wich- nikationsteilnehmer.
konnten wir so nicht verhindern. Was tigsten Whistleblower der letzten Jah- Glaubt man Insidern, die den deut-
wir brauchen, sind zielorientierte re. Am Ende kam er mit einem Jahr schen Teil des NSA-Programms kennen,
Programme, die im Einklang mit un- auf Bewährung davon. Was hat dann gilt das Interesse vor allem mehre-
serer Verfassung stehen, besonders Snowden davon, im Ausland zu blei- ren großen Internetknotenpunkten, die
dem 4. Zusatzartikel, der die Privat- ben? Er wird auf der ganzen Welt ge- in West- und Süddeutschland angesiedelt
sphäre schützt. Nur Terroristen, ihre sucht, muss ständig fürchten, entführt, sind. Aus den geheimen NSA-Unterlagen
Kontaktpersonen und deren Umfeld gefoltert oder ermordet zu werden. geht hervor, dass Frankfurt im weltum-
sollten in das Raster fallen, alle an- SPIEGEL: Sie selbst waren jahrelang für spannenden Netz eine wichtige Rolle ein-
deren müssen als unschuldig gelten. die Kommunikation zwischen deut- nimmt, die Stadt ist als Basis in Deutsch-
Wir können nicht die ganze Welt, schen und amerikanischen Geheim- land aufgeführt.
inklusive unserer eigenen Bevölke- dienstmitarbeitern verantwortlich, be- In der hessischen Metropole hat die
rung, unter Generalverdacht stellen. suchten Deutschland viele Male. Wel- NSA Zugang zu jenen Internetknoten-
Die USA entwickeln sich zu einem chen Eindruck hatten Sie von den punkten, die vor allem den Datenverkehr
totalitären Staat, wenn wir nichts da- deutschen Geheimdiensten? mit Ländern wie Mali oder Syrien regeln,
gegen tun. Binney: Sie waren immer hilfreich. aber auch mit Osteuropa. Vieles spricht
SPIEGEL: Sie waren selbst Whistle- Deutschland war ein starker Partner, wir dafür, dass die NSA diese Daten teils mit,
blower, haben vor der Macht der teilten dieselben Ziele. Heute kreuzen teils ohne Wissen der Deutschen absaugt;
Dienste gewarnt. Snowden hat Sie sich in dem Land mehrere der mäch- angeblich werden sogar die einzelnen Fil-
persönlich erwähnt. Was würden Sie tigsten Datenleitungen der Welt, dort tereinstellungen, nach denen die Daten
ihm jetzt raten? stehen einige der wichtigsten Server. gesiebt und sortiert werden, miteinander
besprochen. Daneben nimmt sich das Sys-
tem „Garlick“, mit dem die NSA jahre-
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landeten in der Nähe der Nummer, die
für die Fernwartung der Siemens-Tele-
fonanlage des Gebäudes bestimmt ist.
In Brüssel stellten sich die Behörden
daraufhin die Frage: Wie wahrscheinlich
ist es, dass ein Techniker oder ein War-
tungscomputer die Durchwahl für die
Fernwartung gleich mehrmals knapp ver-
fehlt?
Die Sicherheitsbehörden verfolgten die
Falschanrufer zurück, und die Überra-
schung war groß, als sich herausstellte,

PATRICK SEMANSKY / AP / DPA


wo der Anruf seinen Ursprung hatte: Er
kam von einem Anschluss nur ein paar
Kilometer Luftlinie in Richtung
Brüsseler Flughafen, aus dem
Vorort Evere. 50
Dort hat die Nato ihr Haupt-
NSA-Hauptquartier in Fort Meade: „Jederzeit jeden ins Visier nehmen“ quartier – und es gelang den
Sicherheitsexperten der EU-
lang aus Bad Aibling die Satellitenkom- Ländern habe, heißt es in einer geheim Behörden, den genauen Ort zu
munikation überwachte, vergleichsweise eingestuften Unterlage. lokalisieren: einen vom restli-
bescheiden aus. Diese internationale Arbeitsteilung chen Hauptquartier separier-
Das Verhältnis zwischen den Vereinig- durchlöchert das in Artikel 10 des Grund- ten Gebäudekomplex. Zur
ten Staaten und Deutschland sei traditio- gesetzes garantierte Post-, Brief- und Straße hin sieht man einen
nell „so eng, wie es nur sein konnte“, sag- Fernmeldegeheimnis. Das darf von deut- Flachdachbau mit Klinkerfas-
te der US-Journalist und NSA-Experte schen Behörden nur in eng definierten sade und einer großen Anten- 40
James Bamford der „Zeit“. „Wegen der Ausnahmefällen ausgehebelt werden. ne auf dem Dach. Das Gebäu-
Nähe zur Sowjetunion hatten wir wahr- Jeder amerikanische Analyst könne de ist durch hohe Zäune und
scheinlich mehr Horchposten in der Bun- „jederzeit jeden ins Visier nehmen“, sagt Sichtschutz von der Straße
desrepublik als irgendwo sonst.“ Edward Snowden in seinem Videointer- abgetrennt, überall wachen
Derlei Partnerschaften, heißt es in den view, „sogar einen US-Bundesrichter und Kameras. Im Innern arbeiten
Unterlagen, böten „einzigartige Zugänge den US-Präsidenten, sofern er dessen Telekommunikationsexper-
zu Zielen“. Nicht mit allen dieser Aus- Mail-Adresse kennt“. ten der Nato – und eine gan-
landspartner teile man das eigene Signal- Wie skrupellos die US-Regierung ihre ze Truppe von NSA-Agen-
aufkommen, heißt es weiter, in vielen Fäl- Nachrichtendienste vorgehen lässt, do- ten. In Sicherheitskreisen
len stelle man als Gegenleistung Ausrüs- kumentieren mehrere Lauschangriffe auf wird dieser Ort als eine Art 30
tung und technische Unterstützung zur die EU in Brüssel und Washington, bei Europa-Zentrale der NSA
Verfügung. Oft würde die Agency auch denen nun erstmals nachgewiesen ist, bezeichnet.
Geräte und Training anbieten, um Zu- dass die NSA dahintersteht. Eine Überprüfung der
gang zu erwünschten Zielen zu bekom- Vor etwas mehr als fünf Jahren fielen Fernwartungsanlage ergab,
men. Die „Arrangements“ seien typi- im Brüsseler Justus-Lipsius-Gebäude Si- dass sie mehrfach aus genau
scherweise bilateral und liefen außerhalb cherheitsexperten mehrere sonderbare, diesem Nato-Komplex an-
aller militärischen und zivilen Beziehun- fehlgeschlagene Anrufe im Umfeld einer gerufen und auch erreicht
gen, welche die USA mit den jeweiligen ganz bestimmten Durchwahl auf: Sie alle wurde. Das hatte potentiell

Deutschland Telefon Massenhafter Zugriff 20

Erfasste Telefon- und Internetdaten durch


das „Boundless Informant“-Programm der NSA, in Mio.

10
Deutschland Internet

Italien Telefon

Frankreich Telefon

10. Dez. 2012 15. 20. 25. 30. 1. Jan. 2013 5. 8.

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 79
Titel

gravierende Konsequenzen: Jeder EU- des Programms „Prism“ ist klar, dass die
Wie systematisch die Agency ihr glo-
Mitgliedstaat hat im Justus-Lipsius-Ge- Abhörspezialisten der NSA auch in gro-
bales Überwachungsnetz auslegt, zeigt
bäude Räume, in die sich die Minister zu- ßer Zahl Inhalte bei den wichtigen ame-
eine Übersicht aus Fort Meade, dem
rückziehen können, samt Telefon- und rikanischen Internetfirmen abgreifen.
NSA-Hauptquartier. Darin aufgeführt
Internetanschlüssen. Deren Chefs haben einen direkten Zu-
sind zahlreiche Geheimoperationen zur
Noch skrupelloser agiert die NSA auf griff des Dienstes energisch dementiert.
Überwachung des Internets und des in-
heimischem Boden, in Washington. In Doch es scheint Dutzende Konzerne zu
ternationalen Datenverkehrs. Die NSA
einem eleganten Bürogebäude an der K geben, die jenseits von „Prism“ wissent-
„schöpft im Informationszeitalter aggres-
Street residiert die Delegation der EU, lich mit der NSA zusammenarbeiten.
siv ausländische Signale ab, die durch
offiziell eine diplomatische Vertretung. Ein besonders guter Kooperationspart-
komplexe globale Netzwerke fließen“,
ner, so heißt es in den Dokumenten, sei
Die Europäer seien ein „Angriffsziel“, ein Konzern, der in den USA tätig sei
und an Informationen gelange, die Ame-
heißt es offiziell in einem NSA-Papier. rika durchquerten. Gleichzeitig bietet die
Firma durch ihre Beziehungen „einzigar-
Doch dieser Schutz hilft wenig. Wie ein heißt es in einer internen Selbstbeschrei- tigen Zugang zu anderen Telekommuni-
Dokument der NSA beschreibt, das der bung. kationsunternehmen und Internetprovi-
SPIEGEL in Teilen einsehen konnte, hat Was da geschieht, zeigt ein weiteres dern“. Das Unternehmen sei „aggressiv
die NSA das Bürogebäude nicht nur ver- bislang unveröffentlichtes Papier, das be- dabei, den Datenverkehr über unsere
wanzt, sondern auch das interne Com- schreibt, wie die NSA Zugang zu einem Bildschirme zu leiten“, heißt es in einem
puternetzwerk infiltriert – doppelt hält ganzen Bündel von Glasfaserkabeln er- Geheimpapier der NSA. Die Kooperation
besser. Das Gleiche gilt für die EU-Mis- halten hat, die mit einem Datendurchsatz bestehe schon seit 1985.
sion bei den Vereinten Nationen in New von mehreren Gigabit pro Sekunde ar- Dabei handelt es sich offenbar um kei-
York. Die Europäer seien ein „Angriffs- beiten und damit zu den größeren Ver- nen Einzelfall. Ein weiteres Dokument
ziel“, heißt es in dem Papier, Stand bindungslinien des Netzes zählen. Der belegt die Willfährigkeit diverser Kon-
September 2010, ganz offen. Eine An- Zugang sei neu und betreffe auch meh- zerne. Es gebe „Allianzen mit über 80
frage mit der Bitte um ein Gespräch lie- rere Kabel, „die den russischen Markt be- großen globalen Firmen, die beide Mis-
ßen NSA und Weißes Haus unbeant- dienen“, schwärmt die NSA darin. Die sionen unterstützen“, heißt es in dem Pa-
wortet. Techniker aus Fort Meade kommen da- pier, das „streng geheim“ eingestuft ist.
Nun soll eine hochrangige Experten- nach an „Tausende von Leitungsbündeln „Beide Missionen“ – das meint in der
kommission, auf die sich die EU-Justiz- weltweit“. Und in einer weiteren Opera- Sprache der NSA die Verteidigung eige-
kommissarin Viviane Reding und ihr US- tion überwacht der Nachrichtendienst ein ner, amerikanischer Netze, aber ebenso
Kollege Eric Holder verständigt haben, Datenkabel, durch das der Verkehr in den das Abhören ausländischer Netze, also:
das Ausmaß der routinemäßigen Daten- „Nahen Osten, Europa, Südamerika und die Abteilung Attacke. Zu diesen Part-
schnüffelei feststellen und die Recht- Asien geleitet wird“. nern gehören Telekommunikations-
schutzmöglichkeiten für EU-Bürger erör- Doch nicht nur die Geheimdienste be- unternehmen, Hersteller von Netzwerk-
tern. Im Oktober soll es einen Abschluss- freundeter Nationen sind willige Helfer Infrastruktur, Software- sowie Sicher-
bericht geben. der NSA. Spätestens seit der Enthüllung heitsfirmen.

Gläserne Leitungen Das unterseeische Kabelnetz

TAT-14
Das ringförmig angelegte Transatlantische Telefonkabel
(TAT) verbindet die USA mit Großbritannien, Frankreich,
den Niederlanden, Deutschland und Dänemark.
Kupfer- Paraffin Lichtwellenleiter
rohr

Norden/D
Ummantelung PET- verdrillte Wasserbarriere Poly-
aus Polyethylen Folie Stahlseile aus Aluminium carbonat

Bude /GB
New Jersey

1,9
Terabit an Daten
können pro Sekunde
auf beiden Routen von
TAT-14 insgesamt übertragen
werden. Das entspricht
dem Inhalt von 240 Stunden
Spielfilm.
80 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
könnte, dann wird es gerade in der
kleinen Stadt Bluffdale, in den Ber-
gen Utahs, errichtet. Dort, an der
Redwood Road, steht vor einer
frisch geteerten Straße ein Schild
mit schwarzen Lettern auf weißem
Grund: Militärisches Sperrgebiet,
Zutritt verboten. In Papieren des
Pentagons, Formblatt 1391, Seite
134, tragen die Gebäude dahinter
die Projektnummer 21078. Gemeint
ist das Utah Data Center, vier rie-
sige Serverhallen mit Gesamtkosten
von etwa 1,2 Milliarden Euro.
Erbaut von 11 000 Arbeitern, soll
die Anlage als Speicherzentrum all
dessen dienen, was sich in den Da-
tenschleppnetzen der NSA ver-
fängt. Gerechnet wird dann bald in
der Speichereinheit Yottabytes, wo-
bei ein Yottabyte eine Billion Tera-
byte oder eine Billiarde Gigabyte
sind. Heutige handelsübliche exter-

BOBBY YIP / REUTERS


ne Festplatten fassen etwa ein Te-
rabyte. 15 dieser Festplatten könn-
ten die komplette Kongressbiblio-
thek speichern.
Snowden-Sendung in einem Zug in Hongkong: Geheimnisvolles Labyrinth Der Mann, der als Erster Infor-
mationen über das Utah-Zentrum
Die Zusammenarbeit ist nicht nur für tarische Kontrollgremium des Bundestags öffentlich gemacht hat und vermutlich
den Nachrichtendienst, sondern auch für untersuchen müssen, das für die Aufsicht am meisten über die NSA weiß, ist James
die Unternehmen heikel, denn sie betrifft über die Geheimdienste zuständig ist. Die Bamford. Er sagt: „Die NSA ist der größ-
Firmen, die ihren Kunden in den Ge- Bundesregierung hat sich in Briefen an te, teuerste und einflussreichste Geheim-
schäftsbedingungen Zusicherungen ma- die Amerikaner gewandt und um Aufklä- dienst der Welt.“
chen, was die Sicherheit ihrer Daten an- rung gebeten. Kann es ein souveräner Seit den Terroranschlägen von 2001
geht. Diese Firmen sind zudem an die Ge- Staat hinnehmen, dass auf seinem Boden wird die Zahl der Mitarbeiter laufend
setze ihrer Heimatländer gebunden. Monat für Monat eine halbe Milliarde aufgestockt, die Budgets werden erhöht.
Die Abkommen zwischen den betreffen- Kommunikationsdaten gestohlen wer- Zumindest für das Jahr 2006 hat der
den Konzernen und der Behörde sind des- den – erst recht, wenn dieser Staat von SPIEGEL nun erstmals in interne Zahlen
halb streng geheim. Selbst in den internen seinem Gegenüber als Partner dritter der US-Regierung Einblick nehmen kön-
Unterlagen werden sie nur mit Codenamen Klasse bezeichnet wird, bei dem überdies, nen, die aus Snowdens Dokumenten
genannt. „Es gab lange sehr enge, streng ge- wie ausdrücklich festgestellt wird, jeder- stammen. Demnach arbeiteten 15 986 Mi-
heime Beziehungen zwischen vielen Tele- zeit abgehört werden kann. litärs und 19 335 Zivilisten bei der NSA,
kommunikationsfirmen und der NSA“, sagt Bislang hat sich die Bundesregierung der Jahresetat betrug 6,115 Milliarden
der Experte Bamford. „Jedes Mal, wenn entschieden, nicht mehr als höfliche Fra- Dollar; offiziell liegen die Zahlen unter
eine solche Kooperation doch auffliegt, wird gen zu stellen. Doch mit den nun bekann- Verschluss.
sie für kurze Zeit eingestellt, nur um dann ten Fakten steigt auch der Druck auf An- NSA-Chef Keith Alexander wird nicht
wieder von Neuem zu beginnen.“ gela Merkel und ihre schwarz-gelbe Ko- ohne Grund „Alexander der Große“ ge-
Die Bedeutung dieser besonderen Art alition, die im September wiedergewählt nannt. „Was auch immer Keith will, be-
öffentlich-privater Partnerschaften hat werden will und die Empfindlichkeit der kommt er“, sagt Bamford.
Trotzdem glaubt Bamford nicht, dass
Was immer Alexander der Große will, der Dienst seine eigentliche Aufgabe
wirklich zur Zufriedenheit seiner Auf-
bekommt er auch. traggeber erfüllt. „Ich sehe keine Anzei-
chen, dass die erhöhte Überwachung Ter-
NSA-Chef Alexander unlängst noch ein- Deutschen beim Thema Datenschutz nur roranschläge aufhält. Der Anschlag von
mal besonders hervorgehoben. Bei einem zu gut kennt. Boston wurde nicht verhindert.“
Technologie-Symposium in einem Vorort In den Geschichten des blinden Schrift- Eines allerdings hat die NSA genau
von Washington forderte er, Industrie und stellers Jorge Luis Borges ist die „Biblio- vorausgesehen – die Richtung, aus der
Regierung müssten eng zusammenarbeiten. thek von Babel“ vielleicht das geheim- ihr die größte Gefahr droht. In den Un-
„Wir könnten unsere Mission nicht ohne nisvollste aller Labyrinthe: ein Univer- terlagen, die jetzt erstmals ans Licht kom-
die Hilfe so vieler Menschen wie Ihnen ma- sum voller Bücherregale, verbunden men, bezeichnet sie Terroristen und Ha-
chen.“ Im Publikum saßen die Experten durch eine spiralförmige Treppe, dessen cker als die größten Gefahren. Noch be-
jener Firmen, die offenbar, glaubt man den Anfang oder Ende keiner findet. Wande- drohlicher sei es, heißt es da, wenn ein
Dokumenten, Kooperationsvereinbarun- rer irren in dieser Bibliothek umher, auf Insider auspacken sollte.
gen mit der NSA getroffen haben. der Suche nach dem Buch der Bücher Einer wie Edward Joseph Snowden.
Wie die Zusammenarbeit von BND und werden dort alt, ohne es zu finden. LAURA POITRAS, MARCEL ROSENBACH,
und NSA genau aussieht, wird in den Wenn je ein reales Bauwerk dieser FIDELIUS SCHMID, HOLGER STARK,
JONATHAN STOCK
kommenden Wochen nun das Parlamen- unmöglichen Bibliothek nahe kommen
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Ausland

JAMES LAWLER DUGGAN / REUTERS (L.); RAFAEL YAGHOBZADEH / SIPA (R.)


Homosexuelle nach dem Urteil in Washington, Protest gegen die Homo-Ehe in Paris: „Sieg für die Demokratie“

etwa doppelt so viele wie noch im August erst gut ein Jahr her, dass er bekanntgab,
MINDERHEITEN 2012. Und nur zwölf Jahre zuvor, zur Jahr- seine Ansichten hätten sich „entwickelt“,
tausendwende, gab es Schwulen-Ehen nir- er sei nun für die Homo-Ehe.

Rasanter Wandel gends auf der Welt.


Mehrere Länder haben ihre Gesetze
im vergangenen Halbjahr geändert, etwa
In vielen Ländern hat sich in wenigen
Jahren die Ansicht gesellschaftlich durch-
gesetzt, das Recht Homosexueller auf
Ein Urteil des Obersten Frankreich, das die „Ehe für alle“ im Mai Heirat mitsamt den daran gekoppelten
Gerichtshofs der USA steht für trotz massiven Protests von Konserva- finanziellen Vorteilen sei ein universelles
einen Megatrend im Westen: tiven eingeführt hat. Auch drei US-Bun- Bürgerrecht. Und so erhielt der lange be-
desstaaten sowie Neuseeland und Uru- lächelte Kampf für die Rechte von Schwu-
Immer mehr Länder erlauben die guay stoßen 2013 neu dazu. Der größte len und Lesben eine Kraft wie einst jener
Ehe für Homosexuelle. Brocken ist aber Brasilien mit seinen über für die Rechte der Schwarzen.
190 Millionen Einwohnern – zwar könnte Ausgerechnet am Tag vor der Homo-

D
ie Trennlinie zwischen dem Wes- eine entsprechende Entscheidung des Na- Entscheidung hatte das Oberste Gericht
ten und dem Rest der Welt ver- tionalen Justizrates vom Mai womöglich ein wichtiges Wahlgesetz für ungültig er-
lief am vergangenen Donnerstag noch angefochten werden, sie ist aller- klärt: Es sollte bis dahin die Diskriminie-
ziemlich genau zwischen US-Präsident dings bereits in Kraft. rung von Schwarzen bei Wahlen in den
Barack Obama und dem senegalesischen Dazu passt das Urteil des Obersten Ge- Südstaaten verhindern. Die Richter fan-
Präsidenten Macky Sall. Lächelnd stan- richtshofs in Washington: Mit fünf zu vier den aber, das Gesetz werde in dieser
den die beiden in Dakar vor der Presse, Stimmen erklärten die US-Richter den Form nicht mehr benötigt. Während das
doch dann stellte jemand eine Frage nach „Defense of Marriage Act“ teilweise für Gericht Schwarze als nicht mehr so
der Homo-Ehe. verfassungswidrig. Dieses Gesetz zur schutzbedürftig ansieht wie in den sech-
Obama pries die Entscheidung des „Verteidigung der Ehe“ legte fest, dass ziger Jahren, stellt es mit den Homo-
Obersten Gerichtshofs in Washington, Homo-Ehen vor Bundesbehörden wie sexuellen eine andere Minderheit unter
der am Vortag in einer historischen Ent- dem Steueramt keine Geltung haben, den Schutz der Verfassung.
scheidung die Ehe für Schwule und Les- selbst wenn sie in einem Bundesstaat le- Verlierer des Trends sind in allen Län-
ben auch auf Bundesebene anerkannt gal sind. Nun aber erhalten auch schwule dern die religiösen Kräfte. In Frankreich
hatte. Das sei ein „Sieg für die amerika- und lesbische Ehepartner Steuererleich- waren es die seit Jahrhunderten starken
nische Demokratie“, sagte Obama und terungen und sind gegenseitig erbberech- katholisch-konservativen Milieus, die ge-
forderte die afrikanischen Staaten auf, tigt – ein bürokratischer Vorgang mit gro- gen Präsident François Hollandes Gesetz
Homosexuellen ebenfalls gleiche Rechte ßen Auswirkungen. zur Homo-Ehe marschierten. Doch der
zu gewähren. Kaum war die Entscheidung verkündet, Widerstand in Frankreich richtet sich ge-
Sall widersprach Obama umgehend – meldete sich als einer der Ersten der frü- gen weit mehr als nur die Homo-Ehe. Es
im Senegal ist es Schwulen nicht nur ver- here US-Präsident Bill Clinton zu Wort, ging darum, die Legitimität des sozialis-
wehrt zu heiraten, Sex zwischen Män- in einem gemeinsamen Statement mit sei- tischen Präsidenten grundsätzlich in Fra-
nern ist hier gar strafbar, wie in rund 30 ner Frau Hillary. Beide priesen das Ende ge zu stellen. Nur damit ist zu erklären,
afrikanischen Ländern. „Der Senegal ist der „Diskriminierung“ – vergaßen aller- dass der Protest eine solche Wucht ent-
ein tolerantes Land“, sagte Sall. „Aber dings zu erwähnen, dass Clinton selbst faltete. Auch in Frankreich stimmen in
wir sind nicht bereit, Homosexualität zu 1996 den „Defense of Marriage Act“ mit Umfragen bis zu zwei Drittel der Bürger
legalisieren.“ seiner Unterschrift in Kraft gesetzt hatte. für die Homo-Ehe.
Das Treffen der beiden Präsidenten war Selten hat sich die öffentliche Meinung Überall in Europa und Amerika sind
ein Zusammenprall der Kulturen, und er in einer Frage so schnell gewandelt wie die Gegner in der Defensive. Der Bap-
fiel umso heftiger aus, weil in Europa und bei der gleichgeschlechtlichen Ehe. Wäh- tistenprediger und einstige republika-
Amerika gerade ein schneller gesellschaft- rend 2005 noch 60 Prozent der Amerika- nische Präsidentschaftsbewerber Mike
licher Wandel stattfindet. Eine Zahl ver- ner dagegen waren, sind heute 55 Prozent Huckabee kommentierte das US-Urteil
deutlicht, wie rasant er voranschreitet: dafür. Die Politiker kamen bei diesem mit den Worten: „Jesus weinte.“ Und
Von August an werden weltweit 585 Mil- Sinneswandel kaum hinterher. selbst der ultrarechte Radio-Talker Rush
lionen Menschen in Regionen leben, in Barack Obama hatte noch im Wahl- Limbaugh gestand Anfang des Jahres ein,
denen die echte Homo-Ehe existiert – kampf 2008 gesagt: „Ich glaube daran, die Bewegung werde nicht aufzuhalten
nicht nur juristisch besiegelte gleichge- dass die Ehe eine Verbindung zwischen sein: „Die Sache ist verloren.“
schlechtliche Partnerschaften. Das sind einem Mann und einer Frau ist.“ Es ist MATHIEU VON ROHR

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AMR ABDALLAH DALSH / REUTERS
Anti-Mursi-Graffito vor dem Präsidentenpalast, Mursi-Anhänger bei einer Kundgebung in Kairo am vergangenen Freitag: „Der Präsident und seine

meine Heimat so zerrissen, so frustriert


ÄGYPTEN und so radikalisiert wie in diesen Tagen.“
Mit hauchdünnem Vorsprung hatte sich

„Moralisch bankrott“ Mursi im vergangenen Juni gegen einen


Getreuen des gestürzten Autokraten Hus-
ni Mubarak durchgesetzt. Viele Ägypter,
die keine Sympathien für Mursis Islamis-
Seit einem Jahr regiert der Muslimbruder Mohammed Mursi ten hegten, sich aber noch weniger eine
das Land, seine Bilanz ist desaströs: Die Wirtschaft Rückkehr in Mubarak-Zeiten wünschten,
gaben ihm eine Chance.
bricht zusammen, radikale Islamisten werden hoffähig. Jetzt sollen nach einer Umfrage nur
noch 28 Prozent der Bevölkerung zu Mur-

A
m Nachmittag des 23. Juni be- oben: Acht Tage zuvor hatte es eine Mas- si halten. Und nicht wenige trauern sogar
schlossen die Männer des Dorfs senveranstaltung in einem Kairoer Sta- Mubarak hinterher. „Es ging uns besser
Abu Musallam bei Kairo, dass es dion gegeben, sie wurde auch im Fern- unter ihm“, sagt der Besitzer eines Sou-
an der Zeit sei, die „Ungläubigen“ in ih- sehen übertragen. Salafistische Hasspre- venirgeschäfts in Gizeh, „wir hatten ein
rer Nachbarschaft abzuschlachten. diger hatten Schiiten als „schmutzig“ und geregeltes Einkommen, das Land war si-
Ein schiitischer Geistlicher hatte den „ungläubig“ beschimpft, und auch Ägyp- cher, die Touristen kamen.“
mehrheitlich sunnitischen Ort betreten, tens Staatsoberhaupt Mohammed Mursi Nicht alle Probleme hat Mursi selbst
er wollte mit ein paar Glaubensbrüdern sprach. Vor 20 000 Anhängern verkündete zu verantworten, schon vor seinem Amts-
einen islamischen Feiertag begehen. der Präsident den Abbruch der Beziehun- antritt ging es mit der Wirtschaft bergab.
Kaum hatten die Männer und die Halb- gen seines Landes zum Assad-Regime in Doch der Präsident, klagt der Kairoer
starken von Abu Musallam davon erfah- Syrien. Weil Damaskus ein Verbündeter Wirtschaftsjournalist Saad Hagras, habe
ren, rotteten sie sich zusammen. Irans ist, schien es Mursi nicht zu stören, weder Ideen noch Konzepte. Mursi beließ
Mit Steinen und Molotow-Cocktails dass nach ihm Prediger zu Wort kamen, es bislang bei vagen Versprechungen wie
griffen sie die Häuser der Schiiten an, die fanatisch gegen Iraner und andere jener, innerhalb von hundert Tagen für
zerrten ihre Opfer grölend auf die Stra- Schiiten hetzten. Stabilität und Aufschwung zu sorgen.
ße, stachen mit Messern und Säbeln zu. Der Muslimbruder Mursi, Ägyptens Von beidem ist die alte Führungsmacht
„Tötet sie!“, riefen die Peiniger. Vier erster demokratisch gewählter Präsident, des Nahen Ostens heute weiter denn je
Schiiten verloren ihr Leben, Dutzende ist seit einem Jahr an der Macht – und entfernt.
Männer lagen blutend im Staub. Einige seine Bilanz ist desaströs. Statt sein Land Mit geringer Mehrheit und niedriger
Polizisten schauten dem Treiben zu. Sie aus der politischen und wirtschaftlichen Wahlbeteiligung hatte die regierende Mus-
griffen nicht ein, sie bargen lediglich die Dauerkrise zu befreien, führt Mursi es limbruderschaft im vergangenen Jahr eine
Leichen. nur noch tiefer hinein. Statt Ägypten zu Verfassung durchgedrückt, die den Stem-
Was trieb den Mob an? Warum wüte- versöhnen, sät er Zwietracht. Massenpro- pel der Islamisten trägt und von weiten
ten die Menschen von Abu Musallam ge- teste zeigen immer wieder, wie polarisiert Teilen der Ägypter rigoros abgelehnt wird.
gen ihre schiitischen Nachbarn, die sie das bevölkerungsreichste Land der arabi- Um kurzerhand noch mehr Macht an sich
seit Jahrzehnten kannten? schen Welt mittlerweile ist. zu reißen, sicherte sich Mursi Ende 2012
Auf jeden Fall konnten sich die Angrei- „Noch nie“, sagt der deutsch-ägypti- präsidiale Sonderbefugnisse, woraufhin es
fer ermutigt fühlen, und zwar von ganz sche Autor Hamed Abdel-Samad, „war im ganzen Land zu Ausschreitungen kam.
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Ausland

und seine Muslimbrüder haben noch


nicht verstanden, wie ernst die Lage ist“,
sagt der Kairoer Unternehmer Salah Hi-
gasi. „Sie kümmern sich nicht um das
Land, nur um die Ausweitung ihrer
Macht. Und sie verlassen sich blind auf
ihre Geldgeber aus den Golfstaaten.“
Mit großzügigen Krediten, vor allem
aus Saudi-Arabien und Katar, kann Mursi
immer wieder Luft holen. In den vergan-
genen Monaten gewährten ihm die sun-
nitischen Bruderstaaten mehrere Milliar-
den Euro. Und so bleibt dem Muslimbru-
der Zeit für anderes. Etwa für die Suche
nach neuen Alliierten, weil ihm immer
mehr Bürger den Rücken zukehren.
Wie sehr sich Mursi inzwischen auf die
Seite radikaler Islamisten geschlagen hat,
zeigt ein Videoausschnitt von der Syrien-
Veranstaltung am 15. Juni. Da filmte eine

MOHAMED ABD EL GHANY / REUTERS


Kamera mit, wie Mursi einen bärtigen
Mann namens Assim Abd al-Magid
umarmt, einen Führer der Gruppe „al-
Gamaa al-Islamija“. Abd al-Maged war
mitverantwortlich für das Touristenmas-
saker von Luxor 1997, bei dem 62 Men-
schen starben. Und er war einer der Hin-
Muslimbrüder haben noch nicht verstanden, wie ernst die Lage ist“ termänner bei der Ermordung von Präsi-
dent Anwar al-Sadat 1981.
Und die Gewalt hält an: Straßenkämp- Tag. Während die Bevölkerung und mit Ägyptens heutiger Präsident hat die
fe zwischen Islamisten und Regierungs- ihr die Zahl der Schulabgänger wächst, Terroristengruppe hoffähig gemacht. Vor
gegnern sind an der Tagesordnung, auch fehlen neue Jobs und Perspektiven. Um drei Wochen ernannte er ein Mitglied der
die Zusammenstöße zwischen den Reli- ausreichend Arbeitsplätze zu schaffen, Gamaa al-Islamija zum Gouverneur von
gionsgruppen nehmen wieder zu. Die müsste die Wirtschaft jedes Jahr um min- Luxor. Immerhin: Als dort protestiert
Polizei wirkt heillos überfordert. destens acht Prozent wachsen. Zuletzt wurde, trat der Mann wieder zurück.
Um den Präsidenten zu vorgezogenen waren es weniger als zwei Prozent. Und auch für Abd al-Maged fand sich
Neuwahlen zu drängen, begann eine Vor allem der Tourismussektor, die Arbeit: Er organisierte eine Unterschrif-
Plattform der Opposition Ende April Un- wichtigste Einnahmequelle des Landes, tenaktion, die Mursi als „legitimen Herr-
terschriften zu sammeln. Sie nennt sich verzeichnet Einbußen. Kamen 2010 noch scher“ bestätigen soll – eine Reaktion auf
„Tamarud“ (Rebell) und ist eine Vereini- 14,7 Millionen Urlauber, waren es 2012 die Unterschriftenliste von Tamarud.
gung aller Unzufriedenen: Liberale sind nicht einmal 10 Millionen. „Es ist der pure Der Extremist Abd al-Maged ist ein
dabei, Christen, Mubarak-Nostalgiker, Alptraum“, sagt Iman Garhi, Besitzerin wichtiger Vertrauter des Präsidenten. Das
enttäuschte Anhänger der Muslimbrüder. eines Hotels am Roten Meer. „Um über- erklärt, warum Mursi eine Morddrohung
Über 15 Millionen Unterschriften soll Ta- haupt noch Gäste anzulocken, müssen von ihm toleriert. In einem Fernsehsen-
marud beisammenhaben. Für den Jah- wir mit Dumpingpreisen arbeiten. Aber der hatte Abd al-Maged nämlich den Pu-
restag von Mursis Amtsantritt am 30. Juni so verdiene ich kein Geld und kann mei- blizisten Abdel-Samad für vogelfrei er-
rief die Organisation zu einer Massen- nen Kredit bei der Bank nicht abbezah- klärt, weil dieser angeblich den Islam be-
demonstration auf dem Tahrir-Platz auf. len. Ich werde wohl pleitegehen.“ leidigt habe. Der deutsche Außenminister
Vor allem die miserable Wirtschafts- Zu den größten Problemen Mursis aber Guido Westerwelle forderte die ägypti-
lage erzürnt das Volk: Immer teurer wer- gehören die explodierenden Staatsschul- sche Regierung auf, sich von dem Mord-
den Brot, Benzin und Gas, trotz üppiger den. Seit Monaten verhandelt der Präsi- aufruf zu distanzieren. Doch Mursi
Subventionen. Das ägyp- dent mit dem Internationa- schweigt beharrlich.
tische Pfund befindet sich len Währungsfonds über „Die Verbrüderung mit einem ehema-
im freien Fall. Und häufig einen Milliardenkredit. Al- ligen Terroristen zeigt, wie moralisch
kommt es zu Stromaus- lerdings verlangt der IWF bankrott das ägyptische Regime ist“, sagt
fällen, weil der Regierung im Gegenzug Maßnahmen Abdel-Samad, der inzwischen unter
das Geld für Energie- zur Sanierung der Staats- Polizeischutz in Deutschland lebt.
importe fehlt. finanzen; es geht darum, Mit einer langatmigen Rede, die im
Die offizielle Arbeitslo- Subventionen etwa für Staatsfernsehen übertragen wurde, ver-
senquote, sagt Wirtschafts- Treibstoff zu kürzen. suchte Mursi am vergangenen Mittwoch
experte Hagras, liege zwar Das würde vor allem die die Nation zu vertrösten. Gleichmütig
bei nur zwölf Prozent, Armen treffen, deshalb gab er zu, Fehler gemacht zu haben – und
doch das sage wenig aus, schreckt Mursi vor harten beschuldigte im selben Atemzug seine
weil die meisten Ägypter Einschnitten zurück, es Gegner als Feinde der Demokratie.
MADS NISSEN

sowieso in der Schatten- droht der Verlust seiner Zu dem Massaker an den vier Schii-
wirtschaft arbeiteten. Fast sozialen Basis. Doch je ten in Abu Musallam, deren einziges
jeder zweite Ägypter lebt länger er Reformen auf- Verbrechen es war, der falschen Konfes-
unterhalb der Armutsgren- Autor Abdel-Samad schiebt, desto schwieriger sion anzugehören, sagte der Präsident
ze von zwei Dollar pro Polizeischutz in Deutschland wird es. „Der Präsident nichts. DANIEL STEINVORTH

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„Grünhelm“-Helfer in Harim*
„47 Tage ohne jedes Lebenszeichen“

auch die Organisation „Ärzte ohne Gren-


zen“ die Grünhelme: Man würde eben-
falls erwägen, nach Harim zu gehen.
Das Haus mitten in Harim, in dem die
Deutschen wohnten, gehört Bürgermeis-
ter Abu Abdu. „Die Leute hier mochten
die Deutschen“, sagt Nachbar Rafian
Schaichu, „die haben mit uns Fußball ge-
spielt, wir haben für die gekocht und wa-
ren froh, dass Hilfe kommt.“ Dass die
Gäste auch in der verhängnisvollen Nacht
die Türen nicht abgeschlossen hatten, sei
normal gewesen – „aber im Nachhinein
betrachtet war es ein Fehler“.
Harim war ruhig und trotzdem auf eine
tückische Art unsicher. Anders als in
Asas, dessen Bewohner früh gegen die
Assad-Diktatur protestierten, hatten sich
die Menschen in Harim herausgehalten.
Es gibt zwar eine Rebelleneinheit der

GRÜNHELME
Freien Syrischen Armee (FSA), sie wird
vom Stadtrat versorgt und soll für Sicher-
heit sorgen. Aber die FSA-Männer sind
und Schulen wieder auf. „Doch nachdem vor allem mit dem Treibstoffschmuggel
SYRIEN alle Versuche fehlgeschlagen sind, appel- über die türkische Grenze beschäftigt. Ein
lieren wir an die Bundesregierung, die Graffito im Zentrum parodiert die Revo-

Verschwunden Uno, die EU, Einfluss auszuüben auf die


Freie Syrische Armee und die Exilopposi-
tion, damit die sich bemühen, unsere drei
lutionsparolen: „Diesel bis zum Sieg!“
Noch in der Nacht der Entführung fuhr
der alarmierte Bürgermeister Abu Abdu

im Norden wieder freizubekommen.“


Die Verwandten der Entführten wollen
nach zermürbenden Wochen der Hoff-
zu den beiden Checkpoints der FSA –
aber die waren unbesetzt. Der Dorfchef
fragte Nachbarn, telefonierte FSA-Kom-
Drei deutsche Nothelfer nungen und Enttäuschungen ebenfalls mandeure in den umliegenden Dörfern
der Organisation „Grünhelme“ nicht länger warten: „Wir hatten und ha- ab. Ein Junge sagte, er habe gegen drei
sind entführt worden – ben volles Vertrauen in die deutschen Be- Uhr einen silberfarbenen Pick-up in Rich-
hörden, aber leider erfahren wir so gut tung Zentrum fahren sehen, von wo aus
Rebellen und Kollegen versuchen, wie nichts, was denn getan wird“, sagt Straßen in andere Richtungen abgehen.
sie zu finden. Sarah Nouri, die Tochter des Kranken- Wochenlang suchten die syrischen Kol-
haus-Experten Ziad Nouri, der gerade in legen der drei Helfer nach ihnen, ebenso

D
ie Entführer kamen nachts um Syrien angekommen war und eigentlich Kommandeure der lokalen Rebellengrup-
kurz vor drei. Sie kamen leise, nur für wenige Wochen in Harim bleiben pen. Der Schlupfwinkel einer Schmugg-
und offenbar bedrohten sie ihre sollte: „Wir hoffen, wir appellieren, aber lergruppe in den Bergen wurde durch-
Opfer, die drei Männer der deutschen wir fühlen uns als Angehörige sehr hilflos, sucht, erfolglos. Eine Gruppe ausländi-
Hilfsorganisation „Grünhelme“; denn die wenn wir gar nicht wissen, welche Maß- scher Dschihadisten wurde verdächtigt,
blieben ebenfalls vollkommen still. nahmen ergriffen werden.“ Aus dem Aus- doch zwei Aussteiger gaben an, der An-
Und so bekam fast niemand etwas mit, wärtigen Amt heißt es, „der Krisenstab führer dort sei zwar brutal, halte aber
als die drei Deutschen Bernd Blech- ist mit dem Fall intensiv befasst“. keine ausländischen Geiseln fest.
schmidt, Simon Sauer und Ziad Nouri am Schon im Herbst vergangenen Jahres Die Kidnapper wussten offenbar sehr
15. Mai aus einer Erdgeschosswohnung wagten sich die ersten Grünhelme in jene genau, wo die Deutschen wohnten, ob-
in der nordsyrischen Stadt Harim entführt verwüsteten Gebiete Nordsyriens, aus de- wohl die erst einen Monat zuvor in das
wurden. nen Rebellen die Truppen des Regimes Haus gezogen waren und kein Schild auf
Nur einen Zeugen hatten die Geisel- vertrieben hatten. In der Kleinstadt Asas die Grünhelme hinwies. Seit vergange-
nehmer übersehen: Amr al-Mraiati, syri- richteten sie ein Krankenhaus wieder her. nem Herbst sind mehrfach Ausländer im
scher Kollege der drei, hörte verängstigt Mitte März 2013 zogen sie weiter nach Norden nach exakt dem gleichen Muster
aus einem Nebenzimmer alles mit. Ir- Harim, direkt an der türkischen Grenze. verschleppt worden: Immer gab es wohl
gendjemand drückte mal die Klinke zu Sie errichteten einen Kindergarten, dann lokale Informanten, dann einen raschen
seiner Tür herunter, brach aber dabei den fingen sie damit an, ein Krankenhaus auf- Zugriff – und anschließend verschwanden
Plastikgriff ab. Er habe die Täter nur ein- zubauen. die Opfer spurlos. Eine Macht, die Aus-
mal reden hören, so al-Mraiati, „als einer „Alle dachten, Harim wäre relativ si- länder an ganz verschiedenen Orten nach
sagte: ,Ich muss jetzt los!‘ und ein anderer cher, weit entfernt von den Kämpfen“, so demselben Muster verschleppen lassen
erwiderte, ,gut, dann geh!‘“ Neudeck. Die irische Hilfsorganisation könnte, ist das Regime in Damaskus.
„Bislang hatten wir gehofft, unsere Mit- „Goal“ hatte dort ein Büro eröffnet. Tage Aber dafür fehlen Beweise.
arbeiter zu finden und freizubekommen“, vor der Entführung kontaktierte dann „Jetzt sind wir seit 47 Tagen ohne jedes
sagt Rupert Neudeck, Gründer des Ver- Lebenszeichen von den dreien“, sagt
eins „Grünhelme e. V.“. Seine Nothelfer * Gründer Rupert Neudeck (vorn l.), Helfer Simon Sauer Rupert Neudeck, „ich bin entsetzlich be-
bauen in Krisengebieten Krankenhäuser (2. v. r.), Bernd Blechschmidt (r.). sorgt.“ HUBERT GUDE, CHRISTOPH REUTER

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ANATOLY MALTSEV / PICTURE ALLIANCE / DPA

Blogger Nawalny vor Gerichtsverhandlung in Kirow: „Putin ist ein Dieb“

RUSSLAND

Das Ende der jungen Wilden


Wladimir Putins Justiz versucht, die stärkste Figur
der Opposition kaltzustellen: Wenn das Gericht den Blogger Alexej Nawalny
verurteilt, wäre Russlands Protestbewegung gescheitert.

S
chwarzer Wald zieht am Fenster von umgerechnet 2,9 Milliarden Euro von Moskau. Es ist eine unfreiwillige Rei-
vorbei, der Zug rumpelt durch die beim Bau einer Pipeline zum Pazifik auf se und eine, die für ihn mit bis zu zehn
Nacht, von Moskau Richtung Sibi- und brandmarkte den Putin-Wahlverein Jahren Lagerhaft enden kann. Denn in
rien – so fährt sie dahin, die große Hoff- „Einiges Russland“ als „Partei der Gauner Kirow wartet auf den Oppositionsführer
nung der Opposition in Russland. und Diebe“. Die Losung ist heute in ganz ein Gerichtspräsident, der sich rühmt,
Alexej Nawalny sitzt im Polohemd in Russland bekannt. „im Leben noch nicht einen einzigen Frei-
seinem Abteil. Vor ihm liegt sein iPhone, Das machte Nawalny, 37, zum popu- spruch gefällt“ zu haben.
er hat einen Aufkleber auf die Rückseite lärsten Anführer der Massenproteste, die Auf seinem Laptop klickt sich Nawalny
gepappt. „Putin ist ein Dieb“ steht dar- vor einem Jahr Putins Rückkehr in den durch die Ermittlungsakten, 10 000 Seiten
auf. Nawalny, gelernter Jurist, hat Staats- Kreml begleiteten. Der Blogger kann sind es insgesamt. Vor vier Jahren soll er,
konzerne und Vertraute des Kreml-Herrn mitreißend reden, bis hin zur Demagogie, so die Anklage, als Berater des liberalen
Wladimir Putin der Korruption bezichtigt auf Twitter folgen ihm 360 000 Menschen. Gouverneurs von Kirow beim Verkauf
und die Vorwürfe in seinem Blog mit in- Nun aber schlägt die Staatsmacht zurück. von Holz aus dem Staatswald umgerech-
ternen Berichten des Rechnungshofs un- Nawalny ist unterwegs nach Kirow; die net 370 000 Euro unterschlagen haben,
termauert. Er deckte Unterschlagungen Provinzstadt liegt 13 Zugstunden östlich was Nawalny bestreitet. Der Kreml will
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Ausland

Der Straßenkämpfer
Ilja Jaschin sitzt auf der Rückfahrt nach
Moskau im Speisewagen. Er war Nawal-
nys Sekundant in zahllosen Schlachten.
Meistens verloren sie. Beide hatten ihre
Karriere vor mehr als einem Jahrzehnt
in der sozial-liberalen Partei Jabloko be-
gonnen.
Später radikalisierten sich die Jung-
politiker. Nawalny fordert heute, Putin
vor Gericht zu stellen. Jaschin schaffte
es im September 2007 mit einer Protest-
aktion in die Schlagzeilen der Weltpresse:
Mit einem Benzinkanister marschierte er
auf den Roten Platz, in der Hand hielt er
ein Plakat mit einer Botschaft an Putin:
„Brenn in der Hölle“. Dann steckte sich
Jaschin selbst an – allerdings trug er einen
feuerfesten Anzug.
Schon damals symbolisierte die Tat die
schwierige Lage der Putin-Gegner: Gin-
gen in Moskau oder St. Petersburg De-
monstranten auf die Straße, knüppelten
Polizisten sie nieder. In der Wolgastadt
Nischni Nowgorod schickte die Staats-
macht im März 2007 bis zu 20 000 Polizis-
ten gegen wenige hundert Demonstran-
ten ins Feld.
Einige Probleme der Putin-Gegner
aber sind hausgemacht. Eitelkeiten und
Streitigkeiten schwächen die Opposition
von jeher.
Als Chef der Moskauer Jabloko-Ju-
gendorganisation hatte Jaschin 2002 einen
Schreibtisch im Keller der Parteizentrale,
AFP

ihm gegenüber saß Nawalny, der bis zum


Oppositionsaufkleber mit Protestspruch*: Kapitulation oder Knast Chef des Moskauer Jabloko-Wahlkampf-
stabs aufstieg. Erreichte ein Laster mit
Nawalny, den Saubermann, in einem über. Wie zu Sowjetzeiten trägt das Ge- Plakaten die Stadt, klingelte Nawalny Ja-
Schauprozess in den Dreck ziehen, das richt den Namen des kommunistischen schin aus dem Schlaf, der fuhr los, entlud
Urteil soll im Juli fallen. Revolutionsführers Lenin, wie zu Sowjet- die Plakate, wenn nötig nachts um drei.
Es wäre der symbolträchtige Sieg über zeiten rechnen alle mit einem Schuld- Während Jabloko 2003 mit 4,3 Prozent
eine ganze Generation junger Wilder, die spruch. den Einzug ins Parlament knapp verpass-
Anfang des Jahrtausends ihre Karrieren Das wäre das vorläufige Ende der poli- te und vier Jahre später nur noch auf
begannen. In einem offenen politischen tischen Karriere Nawalnys. Der Blogger kümmerliche 1,6 Prozent kam, machten
System hätten sie sich wohl über die Ju- will zwar im September Moskaus Ober- Jaschin und Nawalny Front gegen den Ja-
gendorganisationen großer Parteien auf bürgermeister herausfordern. Und mit bloko-Patriarchen, den auch im Westen
den Weg ins Zentrum der Macht begeben. ihm als Spitzenkandidaten stünden die angesehenen Reformpolitiker Grigorij
Wladimir Putins „gelenkte Demokratie“ Chancen der Putin-Gegner nicht schlecht, Jawlinski. Nawalny, aufgewachsen in ei-
aber stempelt sie zu Außenseitern. Es im nächsten Jahr ins Moskauer Stadtpar- ner Garnisonsstadt, wollte die Partei für
sind Leute wie die Ex-Regionalministerin lament einzuziehen. Nawalny selbst hat gemäßigte Nationalisten öffnen, die in
Marija Gaidar, der Straßenkämpfer Ilja ein noch größeres Ziel verkündet: Er will Russland zahlreicher sind als Liberale
Jaschin und der Parlamentsrebell Dmitrij Präsident werden. Wenn er allerdings westlichen Schlags.
Gudkow. Alexej Nawalny ist ihr promi- verurteilt werden würde, dürfte er nach Jaschin plädierte für drastische Aktio-
nentester Vertreter, eine Verurteilung russischem Recht nicht mehr bei Wahlen nen und einen eisernen Konfrontations-
würde allen anderen klarmachen, dass antreten. Der Blogger hält den Prozess kurs gegen den Kreml. Bei einer Demon-
sie keine Chance mehr haben. in Kirow deshalb für „politische Rache“. stration für Pressefreiheit rief Jaschin:
Nawalny springt am Bahnhof in Kirow Vor dem Gerichtsgebäude hängt eine „Den Fernsehturm Ostankino, dieses
in ein wartendes Auto. Seine Anhänger verwitterte Holztafel. Sie erinnert an Sprachrohr der Regierung, werden wir
haben eine Partei gegründet, aber das Offiziere des Zaren, die 1825 gegen Leib- den Kreml-Leuten früher oder später in
Radio meldet an diesem Tag, dass seiner eigenschaft und Zensur aufbegehrten. ihre Ärsche schieben.“ Jaschin und Na-
„Volksallianz“ die Registrierung durch das Nikolai I. schickte sie dafür nach Sibirien, walny waren die jungen Wilden unter
Justizministerium verwehrt werde. Im die Kolonne der Verbannten zog durch Russlands Demokraten.
Gerichtssaal dann sitzen Nawalny zwei Kirow. Am Umgang Russlands mit Dissi- Dem Parteichef, der sie lange gefördert
Staatsanwälte in blauer Uniform gegen- denten hat sich zwei Jahrhunderte später hatte, wurden sie zu wild. Jawlinski hoffte
wenig geändert. Davon zeugen die Schick- darauf, mit dem Segen des Kreml wieder
* „Soll dieser Dieb in den Kreml? Oder ins Gefängnis? sale von Kampfgenossen und Freunden zurück in die Duma zu kommen – und
Das musst du am 4. März entscheiden.“ Nawalnys aus den frühen Putin-Jahren. schmiss Jaschin und Nawalny aus der Par-
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YEVGENY KONDAKOV
NIKOLAJ DANILOW
Putin-Gegner Jaschin bei inszenierter Selbstverbrennung 2007, Politikerin Gaidar 2010: „Gebt dem Volk die Wahlen zurück“

tei. So steht Jawlinski exemplarisch für ei- me, aber ein kleines Budget“, klagt sie die Partei schon fünf Jahre zuvor gründen
nes der Probleme des neuen Russland: Es heute. Die Schlangen der Patienten, die lassen, um den Kommunisten Stimmen
fällt schwer, eine Demokratie aufzubauen, auf einen Termin warteten, reduzierte sie, abzujagen. Gudkow hoffte, aus dem Re-
wenn es an echten Demokraten fehlt. indem sie Anmeldungen im Internet ein- tortenprojekt eine sozialdemokratische
führte. Die Löcher im Haushalt aber Partei formen zu können. Nach 70 Jahren
Die Ex-Ministerin konnte sie nicht stopfen. Zwei Jahre Kommunismus ticke die Seele Russlands
Wenn es in Russland überhaupt so etwas später trat Gaidar zurück. Um ein Jahr eher links, glaubte Gudkow.
wie Familien mit demokratischer Tradi- in Amerika zu studieren, wie sie sagt. Aber er scheiterte. Die Partei Gerech-
tion gibt, dann kommt Marija Gaidar aus Weil sie gescheitert ist, heißt es in Kirow. tes Russland zog zwar mit Nawalnys
der bekanntesten. Ihr Vater diente als Gaidar sitzt in einem Café unweit des Schlachtruf gegen die „Gauner und Die-
Premierminister unter Boris Jelzin: Jegor Radiosenders Echo Moskwy. Dort darf be“ in den Parlamentswahlkampf und
Gaidar war der Mann, der mit liberalen sie nun eine politische Radioshow mode- verdoppelte so fast die Zahl ihrer Man-
Wirtschaftsreformen Anfang der neunzi- rieren. Der Sender wettert täglich gegen date. Dann aber ließ sich die Truppe vom
ger Jahre die Planwirtschaft beerdigte. die Regierung, gehört aber dem staat- Kreml wieder an die Kette legen. Und
Die Anhänger der Kommunisten hassen lichen Energieriesen Gazprom. die Parteiführung schloss Gudkow im
ihn deshalb noch heute. Aus dem Kabinett ist Gaidar wieder März wegen seiner Putin-Kritik aus der
Vor acht Jahren tauchte seine Tochter auf eine vom Kreml gerade noch tolerier- Partei aus.
Marija in der Moskauer Polit-Szene auf. te Insel der Kritik zurückgekehrt. Ihr In Deutschland wäre Gudkow viel-
Zusammen mit Nawalny organisierte sie Marsch durch die Institutionen ist geschei- leicht Chef der Jusos,  Ilja Jaschin wohl
Debatten in Kneipen. Im Gegensatz zu tert. Das hat sie mit einem anderen Nach- bei den Grünen, Marija Gaidar die Nach-
den feinorchestrierten Talkshows im wuchsstar gemeinsam, mit dem jungen wuchshoffnung der Liberalen, und Alexej
Staatsfernsehen waren sie frei und mit- Sozialdemokraten Dmitrij Gudkow. Nawalny würde bei der CSU um die Stim-
reißend. men der Jugend werben. In Russland aber
Mit Ilja Jaschin, dem ewigen Straßen- Der Parlamentsrebell sieht es so aus, als bliebe der Opposition
kämpfer, seilte sich Mascha Gaidar von Dmitrij Gudkow hat sein Büro im zwölf- nur die Wahl zwischen Kapitulation oder
einer Brücke ab und spannte in Sichtwei- ten Stock des russischen Parlaments, Knast.
te des Kreml ein Transparent über die noch, denn die breite Putin-Mehrheit wür- Am Ende des Verhandlungstags tritt
Moskwa: „Gebt dem Volk die Wahlen de den unbequemen Politiker lieber heu- Alexej Nawalny aus dem Kirower
zurück, ihr Scheusale“ stand darauf. Das te als morgen aus der Duma werfen. Gericht. Vor dem Gebäude hängen
war ihr Protest gegen die notorischen Ein Kühlschrank brummt in der Ecke, Transparente seiner Unterstützer, es geht
Wahlfälschungen und die Abschaffung auf dem Boden steht ein Wasserkocher. um Korruption, Verschwendung und
direkter Gouverneurswahlen. Fünf Schreibtische zwängen sich auf 20 Diebstahl bei den Vorbereitungen für
Vor vier Jahren dann wechselte Gaidar Quadratmetern, vier für die Mitarbeiter, die Olympischen Winterspiele 2014 in
auf einen Ministersessel: Putins Kreml- einer für Gudkow. Der 33-Jährige hat die Sotschi. Putins Prestigeprojekt wird
Statthalter Medwedew – schwach, aber Statur eines Basketballprofis, Abteilung Russland mehr als 50 Milliarden Dollar
Reformen nicht abgeneigt – hatte in Ki- Attacke. kosten, das Doppelte dessen, was die
row den Kreml-Gegner Nikita Belych als Zusammen mit Gaidar und Nawalny vergangenen sieben Olympischen Win-
Gouverneur eingesetzt. In der Stadt, in hat er 2006 eine „Jugend-Gesellschafts- terspiele zusammen gekostet haben. „Ki-
der Nawalny heute vor Gericht steht, kammer“ gegründet. Sie war als Platt- row könnte davon hundert Jahre leben“,
begann ein Feldversuch, Medwedew er- form für die Opposition gedacht und als ruft Nawalny.
öffnete der Opposition eine Nische. Die Gegenpol zur „Gesellschaftskammer“, ei- Anhänger umringen ihn. Ehefrau Julija
Regierungsgegner sollten beweisen, dass nem von Putin ersonnenen, willfährigen hält die Hand ihres Mannes. Jeder weiß:
sie selbst regieren können. Beratungsorgan aus Stars und Sternchen. Je lauter Nawalny schreit, desto länger
Gaidar wurde Ministerin für Gesund- 2011 zog Gudkow für „Gerechtes Russ- wird der Kreml ihren Mann wegsperren
heit und Soziales in Kirow. „Viele Proble- land“ ins Parlament ein. Der Kreml hatte lassen. BENJAMIN BIDDER

90 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Ausland

MEERUT
Ein ruhiges Herz
GLOBAL VILLAGE: Warum eine indische Henkersdynastie wieder Hoffnung schöpft

S
eit früher Kindheit hatte Pawan dien selbst setzten viele tausend Demon- Denn offenbar sollte alles ganz schnell
Singh jenen Tag herbeigesehnt: stranten eine Gesetzesverschärfung gehen: Mit Blick auf die nächste Parla-
Zum ersten Mal durfte er seinem durch: Künftig droht auch Vergewaltigern mentswahl, die spätestens 2014 stattfin-
Großvater bei einer Hinrichtung assistie- der Galgen. den muss, wollte die Obrigkeit Hand-
ren. Ganz allein fesselte er die Füße des Aber was Singh und sein 19-jähriger lungsfähigkeit beweisen und auch inter-
Häftlings, bevor der Großvater begann, Sohn Aman – er möchte auch Henker national Stärke zeigen.
sein Handwerk zu verrichten. Er stülpte werden – als tiefe Verletzung der Famili- Indiens Wirtschaft lahmt, Reformen
eine schwarze Kappe über den Kopf des enehre empfinden, ist ein anderer Punkt: kommen nicht voran, da sollen wenigs-
Todgeweihten und legte ihm den Strick Bereits im November vergangenen Jahres tens Verbrecher sterben, auch wenn die
um den Hals. Dann zog er den Hebel, der ließ die Obrigkeit den Pakistaner Ajmal Todesstrafe in den meisten zivilisierten
ruckartig die Falltür unter den Fü- Ländern als barbarisch und ineffi-
ßen des Mannes öffnete. zient gilt.
Das war vor über zwei Jahrzehn- Doch bald wird auch er selbst zu
ten, und für Singh begann damals tun bekommen, da ist sich Henker
eine lange Lehre. „Mein Großvater Singh sicher. Feierlich zieht er ein
brachte mir bei, den Strick so zu Schreiben aus einem braunen Ku-
knoten, dass Verurteilte blitzschnell vert, darin erneuert die Justiz seine
getötet werden“, sagt Singh. Lizenz zum Töten. 3000 Rupien
Von Generation zu Generation Grundgehalt – das sind etwa 38
wurde in seiner Familie der Beruf Euro – soll er demnach schon bald
des Henkers schon vererbt, auch wieder monatlich erhalten, und pro
sein Vater übte ihn aus, sagt Singh. Hinrichtung 2000 Rupien extra.
Doch der Großvater sei der Meister Um zu beweisen, dass er sein
des Fachs gewesen, berühmt in Handwerk noch beherrscht, legte
ganz Indien: Er hängte 1989 zum Singh vor einigen Monaten im
Beispiel einen Attentäter, der gut Gefängnis von Meerut eine Art
vier Jahre zuvor die Ministerprä- Prüfung ab: An einem Sandsack, 45
sidentin Indira Gandhi ermordet Kilogramm schwer, führte er den
hatte. Beamten vor, was ihm sein Groß-
Inzwischen ist Singh 52 Jahre alt vater beigebracht hat: „Um den
und darf hoffen, dass auch er die Strick richtig zu knüpfen, muss
Familientradition fortsetzen kann. man das individuelle Gewicht des
Noch allerdings fährt er mit seiner Häftlings berücksichtigen“, sagt er.
Fahrradrikscha durch das Markt- „Und das Herz des Henkers darf
viertel von Meerut, einer Millionen- nie aus der Ruhe geraten.“
EYEVINE / INTERTOPICS

stadt nordöstlich von Neu-Delhi. Er Theoretisch gäbe es für Singh


muss hier Kleidung transportieren, eine Menge zu tun. Alle drei Tage
um sein Geld zu verdienen. Eine sprechen indische Richter im
Schande, so sieht er das. Durchschnitt ein neues Todesurteil.
„Der Staat hat meine Familie In den Todeszellen des Subkonti-
lange hingehalten“, klagt Singh, „er Henker Singh: 38 Euro fürs Töten nents sitzen Hunderte Häftlinge,
darf uns nicht länger um unser an- die meisten seit vielen Jahren.
gestammtes Recht auf Hinrichtun- Indiens neuer Präsident Pranab
gen betrügen.“ Mukherjee, seit Juli 2012 im Amt,
Acht Jahre lang hatte Indien keine Kasab hängen, den einzigen überleben- macht vor allem dadurch von sich reden,
Todesstrafen vollstreckt. Was sollte Singh den Attentäter des Terroranschlags von dass er Gnadengesuche von Todeskandi-
schon machen, wenn sich selbst Sonia Mumbai 2008. Doch nicht von Singh. „Da- daten ablehnt.
Gandhi, die Chefin der regierenden Kon- bei war es der letzte Wille meines 2011 Schon bald könnten so viele Urteile
gresspartei, gegen die Hinrichtung von verstorbenen Vaters, dass ich Kasab hin- vollstreckt werden, dass Singh bereits
vier Hinterleuten des Attentats auf ihren richten solle“, sagt er. erwägt, auch seinen jüngeren Bruder als
1991 ermordeten Ehemann, Ex-Premier Stattdessen legten irgendwelche Justiz- Henker anzulernen.
Rajiv Gandhi, aussprach? beamte Kasab den Strick um den Hals. Er zieht ein großes, gebrauchtes Stoff-
Doch die Stimmung im Land hat sich Und auch Afzal Guru aus Kaschmir, der taschentuch aus seiner Hose und wedelt
gründlich gewandelt, jetzt wird wieder angebliche Drahtzieher eines Attentats auf damit ruckartig durch die Luft – das sei
vollstreckt: Nach der brutalen Gruppen- das indische Parlament 2001, wurde an ei- das Zeichen, auf das er seit vielen Jahren
vergewaltigung einer 23-jährigen Studen- nem Morgen Anfang Februar hingerichtet, warte: „So gibt der Aufseher der Exeku-
tin im vergangenen Dezember war die ohne dass Singh mit der für ihn ehren- tion mir dann das Signal, den Hebel der
Empörung in aller Welt gewaltig, in In- vollen Aufgabe beauftragt worden wäre. Falltür zu ziehen.“ WIELAND WAGNER

92 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Szene Sport

SPIEGEL: Warum führt man dann nicht


TRAINER
gleich die Amtssprache Englisch ein?
Würde das nicht auch den Markt für
„Eine Frage des Respekts“ ausländische Trainer öffnen?
Lienen: Bisher kamen ja eher Trainer aus
Holland, Österreich, der Schweiz in die
Fußballlehrer Ewald Lie- bestand der Großteil des Teams nicht Bundesliga. Ich finde aber, es ist eine
nen, 59, ehemals Coach aus Griechen. Man sprach Englisch. Selbstverständlichkeit, dass man ver-
in Spanien und Grie- SPIEGEL: Verliert ein Trainer an Autorität sucht, die Sprache des Landes zu lernen,
chenland, über Trainer- und Überzeugungskraft, wenn er in ei- eine Frage des Respekts. Soviel ich weiß,
arbeit in fremder Spra- ner fremden Sprache lehrt? ist es bei den meisten Clubs auch für die
che und die künftige Lienen: Könnte Pep Guardiola jede Trai- Spieler Pflicht, dass sie Deutsch lernen.
Kommunikation bei Bay- ningsübung in einem unfallfreien, gram- Darüber hinaus sollte man vielleicht in
ern München matikalisch perfekten Deutsch leiten, der Ausbildung darauf achten, dass deut-
würden es Spieler wie Franck Ribéry, sche Nachwuchsspieler Englisch können.
SPIEGEL: Pep Guardiola hat sich am ers- Dante, Luiz Gustavo vermutlich nicht Dann können sie sich schneller mit aus-
ten Arbeitstag bei Bayern München be- mal bemerken. ländischen Zugängen verständigen.
müht, die Journalistenfragen möglichst
auf Deutsch zu beantworten. Kann man
als Fußballtrainer ständig in fremder
Sprache kommunizieren?
Lienen: Einem Perfektionisten wie Guar-
diola sieht man an, dass er sich unwohl
fühlt, wenn ihm Wörter fehlen. Er ist
nicht der Typ, der zwei Jahre lang
Deutsch radebrecht. Entweder er wird
sich weiter verbessern, davon gehe ich
bei einem Mann seiner Intelligenz aus,
oder er wird öfter ins Spanische verfal-
len. Es wird dauern, bis er flüssig
Deutsch spricht, für Südländer ist das
nicht leicht. Aber es war ein guter Be-
ginn. Guardiola hatte ja auch ein halbes
Jahr Zeit.

FIRO SPORTPHOTO (L.); UWE KRAFT / IMAGO (O.L.)


SPIEGEL: Wie viel Zeit hatten Sie zur
Vorbereitung Ihrer Auslandsengage-
ments?
Lienen: Als ich mit Jupp Heynckes 1995
zu CD Teneriffa ging, hatte ich drei Mo-
nate. Ich habe intensiv gelernt, so dass
ich den Spielern am ersten Tag alle An-
weisungen auf Spanisch geben konnte.
Das gehört sich auch so. In Griechen- Guardiola
land war es anders. Bei Panionios Athen

EISHOCKEY
zwischen der UdSSR und Kanada 1972
berauscht. In diesem ersten Ost-West-
Vergleich mit den Cracks aus der
Die wilde 17 National Hockey League hatte Char-
lamow, der Angreifer von ZSKA
Ein Kinofilm hat sieben Monate vor Moskau mit der Trikotnummer 17, die
den Olympischen Winterspielen in Sowjetunion mit zwei Toren zum
Sotschi das Eishockeyfieber in Russ- 7:3-Erfolg geführt. Charlamow gewann
land angeheizt. „Legend No. 17“, so mit dem Wunderteam acht WM-Titel
heißt der Spielfilm, der von Russlands und zweimal, 1972 und 1976, Gold
Eishockeylegende Walerij Charlamow bei Olympischen Spielen. Produziert
GOLOVANOV + KIVRIN / IMAGO

und der erfolgreichen sowjetischen wurde der 13-Millionen-Dollar-Film


Mannschaft in den siebziger Jahren unter anderen von Oscar-Preisträger
erzählt. Der Film hat in den vergange- Nikita Michalkow. Der 67-Jährige ist
nen elf Wochen bereits rund 30 Mil- ein Freund des russischen Präsidenten
lionen Dollar eingespielt. Ganze Schul- Wladimir Putin und teilt dessen nost-
klassen haben sich an Szenen aus dem algische Begeisterung für die einstige
Auftaktspiel der Acht-Partien-Serie Charlamow (r.) um 1976 Supermacht Sowjetunion.
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 93
Demonstranten auf dem Taksim-Platz

FA N S

„Pfeffergas ist unser Parfum“


Anhänger des Fußballclubs Beşiktaş führen in Istanbul die Proteste
gegen Premier Erdogan an. Sie mobilisieren die Massen
und lassen sich auch von harten Polizeieinsätzen nicht einschüchtern.
Sport

I
n wenigen Stunden wird der Kampf Erlaubnis bitten. Immer wieder wurde Beschneidungsfeier brachte. Die Profis
auf den Straßen Istanbuls wieder los- er verhört: Hast du in deinen Tweets die schenkten ihm ihre verschwitzen Trikots.
gehen. Während die türkischen Polizis- Polizisten Hurensöhne genannt? Warum Sie blieben den ganzen Abend, schrieben
ten ihre Wasserwerfer auffahren und ihre wolltest du Erdogans Residenz in Istan- Autogramme. Im selben Jahr, 1991, wurde
Pfeffergasgranaten laden, versteckt sich bul angreifen? Okan, wolltest du die Re- Beşiktaş türkischer Meister. Okan sah von
Okan in einem Café am Taksim-Platz. gierung stürzen? nun an alles in den Farben seines neuen
Er nimmt den Akku aus seinem Handy, Okan sagt, Erdogan sei größenwahn- Clubs: siyah, beyaz, Schwarz und Weiß,
aus Angst, das Gespräch könnte abgehört sinnig. Er wolle alles bestimmen: wie vie- der Adler auf dem Wappen wurde sein
werden, er dreht sich nach Zivilpolizisten le Kinder Frauen bekommen sollen, ob Lieblingstier. Sein Vater, ein fanatischer
um, zieht hastig an seiner Zigarette. Er in Istanbul eine neue Brücke gebaut wer- Fenerbahçe-Fan, musste hinnehmen, dass
möchte am liebsten weg, nach Hause, doch de oder ein Einkaufszentrum. Okan, der er seinen Sohn an die Çarşi im Viertel
zuvor will er erklären, warum er an diesem selbst nicht trinkt, versteht nicht, warum verloren hatte.
Abend nicht bei seinen Freunden auf dem Erdogan gegen das türkische Volksge- Çarşi bedeutet so viel wie „Markt“.
Taksim-Platz sein wird – zum ersten Mal tränk Raki, einen Anisschnaps, hetzt. Die Bewohner von Beşiktaş, einem Stadt-
seit Beginn des türkischen Aufruhrs. Okan sagt, er sei für die Demokratie auf teil auf der europäischen Seite Istanbuls
Okan, Ende zwanzig, ein schmächtiger die Straße gegangen – und für Çarşi. nicht weit vom Taksim-Platz entfernt,
Mann mit blassem Gesicht und Adler-Tat- Es gibt die Redewendung, wonach Fuß- nennen so die zentrale Gasse in ihrem
too auf der Schulter, ist Mitglied von Çarşi, ball mehr ist als nur ein Spiel. Dieser Satz Viertel. Hier treffen sich die Çarşi, hier
der Ultra-Fangruppe des Istanbuler Fuß-
ballclubs Beşiktaş. Er hat in den vergan-
genen vier Wochen für Çarşi gegen die
Polizei gekämpft, hat Barrikaden errichtet,
Demonstranten über Twitter durch die
Stadt gelotst. „Ich habe in diesem Kampf
genug Tränengas gefressen“, sagt er.
Die Anhänger von Beşiktaş Istanbul
gelten als die lautesten Fußballfans der
Welt, 141 Dezibel wurden bei einem Liga-
spiel im Mai im Stadion gemessen, ein
Rekord. Nun unterstützen sie den Auf-
stand der türkischen Zivilgesellschaft ge-
gen die autoritäre Regierung von Minis-
terpräsident Recep Tayyip Erdogan. Viele
Türken halten sie seither für die mutigs-
ten Fans überhaupt.
Die Beşiktaş-Ultras haben die Revolte,
die mit der Demonstration gegen die Ab-
SEDATMEHDER.COM

holzung eines Istanbuler Parks begann,


nicht initiiert, aber ihre Beteiligung trug
entscheidend dazu bei, dass aus den Pro-
testen ein Volksaufstand wurde. Çarşi mo-
bilisierte die Massen; mit den Ultras zog Türkische Fußballfans: Auf der Seite der Unterdrückten
auch der Witz in das Lager der Opposi-
tion ein. Ihre Gesänge: „Pfeffergas olé!“ gilt in der Türkei wie in kaum einem an- haben viele ihre Läden, im Café Adler
und „Los, schieß das Gas / Los, schieß deren Land. Die Identifikation der Men- sitzen die „Amigos“, die Anführer der
das Gas / Wirf den Knüppel weg / Zieh schen mit ihrer Mannschaft ist enorm. Ultragruppe, die 1982 von Schulfreunden
den Helm aus / Zeig, dass du dich traust“, Und das, obwohl der Fußball in der Türkei gegründet wurde, und spielen Karten.  
gehören zu den wenigen Parolen, auf die notorisch korrupt ist. Vergangene Woche Okan läuft jetzt durch die engen Gas-
sich alle Demonstranten einigen können. erst wurde Beşiktaş Istanbul von der Uefa sen seines Viertels. Jugendliche tragen
Die Regierung Erdogan geht hart gegen in Folge eines Manipulationsskandals für Beşiktaş-Trikots. Aus den Fenstern hän-
Çarşi vor. 22 Mitglieder wurden vorüber- ein Jahr aus dem europäischen Wettbe- gen Beşiktaş-Fahnen. Okan grüßt die Kell-
gehend festgenommen. Ihnen wird vor- werb verbannt, Lokalrivale Fenerbahçe ner im Shisha-Café, die Händler am Fisch-
geworfen, eine terroristische Vereinigung wurde gar für drei Spielzeiten gesperrt. markt, die Verkäufer im Plattenladen.
gegründet zu haben, die die Regierung Die drei großen Istanbuler Vereine, zu „Beşiktaş ist mein Zuhause“, sagt er. Sei-
stürzen wolle. Zwei sitzen noch immer denen neben Fenerbahçe und Beşiktaş ne Eltern sind geschieden. Çarşi hat die
im Gefängnis. Sollten sie schuldig gespro- noch Galatasaray zählt, vertreten jeweils Familie ersetzt. Die Amigos besorgen ihm
chen werden, droht ihnen eine lebens- verschiedene soziale Schichten: Fener gilt Jobs. Okan sprüht ihre Fanplakate.
lange Freiheitsstrafe. als der Club der Neureichen und der Na- Çarşi sei auf der Seite der Unterdrück-
Okan möchte seinen vollen Namen tionalisten und wird unter anderem von ten, der Schwachen, das gefalle ihm, sagt
nicht veröffentlicht sehen, denn auch er Ministerpräsident Erdogan unterstützt, Okan. Das Prinzip der Gruppe lautet:
war für vier Tage im Knast. Die Polizis- während sich hinter Galatasaray die Istan- Çarşi her şeye karşi – Çarşi ist gegen alles.
GUILLAUME DARRIBAU / FRACTURES / LAIF

ten holten ihn im Morgengrauen aus buler Bourgeoisie versammelt. Beşiktaş Die Ultras von Beşiktaş waren schon lange
seiner Einzimmerwohnung im Stadtteil ist das Team der Arbeiter und Linksintel- vor dem Aufstand vom Taksim-Platz poli-
Beşiktaş. Er hatte gerade noch Zeit, sich lektuellen. Der Club verfügt über kein gro- tisch engagiert. Sie demonstrierten gegen
anzuziehen und seinem Anwalt eine ßes Budget, der Deutsche Bernd Schuster den Irak-Krieg und den Bau eines Atom-
SMS zu schreiben: „Es geht los.“ Zwei- hat hier einmal als Trainer gearbeitet, aber kraftwerks; sie sammelten Geld für Erd-
mal am Tag bekam Okan eine Schüssel Stars laufen eher für andere Vereine auf. bebenopfer und spenden regelmäßig Blut.
Reis zu essen. Wenn er auf die Toilette Okan war sechs Jahre alt, als sein On- Einer ihrer Anführer ist Armenier, und
gehen wollte, musste er die Wärter um kel Spieler von Beşiktaş mit auf seine das in einem Land, das den Massenmord
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 95
Sport

an den Armeniern im Ersten Weltkrieg ße, mehrere Menschen kamen dabei ums
bis heute nicht als Genozid anerkennt. Als Leben. Ein Abkommen zwischen den FORMEL 1
ein schwarzer Beşiktaş-Spieler von gegne- Fan-Anführern in den Neunzigern dämm-
rischen Fans rassistisch beleidigt wurde,
entrollten Anhänger im Stadion ein Ban-
ner: „Wir sind alle schwarz“.
te die Gewalt ein, verhinderte sie jedoch
nie ganz. Dass Unterstützer der Clubs
nun gemeinsam gegen Erdogan demon-
Ein bisschen öko
Es ist nicht überraschend, dass sich die strieren, sagt Okan, sei allein schon eine Die Einführung moderner
Beşiktaş-Ultras auch an den Protesten Revolution. Hybridmotoren bedeutet für die
gegen die Regierung Erdogan beteiligen. Die Regierung hat das Camp Gezi in- Rennserie eine Zeitenwende.
Çarşi kämpft seit 30 Jahren gegen Des- zwischen von der Polizei räumen lassen.
potismus und Staatswillkür. Die Gruppe Viele Çarşi setzen den Protest trotzdem Künftig gilt: Sieger wird, wer am
hat auf Twitter fast 300 000 Follower. Als fort. Im einem Park in Beşiktaş treffen schnellsten langsam fährt.
die Demonstrationen begannen, genügte sich am Abend Hunderte Demonstranten

I
ein Wort: „Geliyoruz“ – wir kommen. zu einem „offenen Forum“. Die Veran- m Chaos eine innere Ordnung zu
Am 1. Juni, einem Samstag, zogen dar- staltung wird von Çarşi organisiert, Ultras entdecken, das ist der Job von Alex-
aufhin mehrere zehntausend Beşiktaş- bewachen das Gelände. Die Menschen ander Wurz. Seit fünf Jahren kom-
Anhänger in Richtung Taksim-Platz. Sie haben sich in einem Amphitheater zwi- mentiert der Österreicher die Formel-1-
trugen schwarz-weiße Fanschals bei sich, schen Statuen von Schriftstellern und Rennen für das heimische Fernsehen, den
Trommeln, bengalische Feuer. Sie liefer- Journalisten versammelt. Redner wech- ORF. Anfangs war das eine eher unkom-
ten sich Straßenkämpfe mit der Polizei, seln sich am Mikrofon ab. Einer ruft dazu plizierte Sache, weshalb ihm an den
kaperten einen Bagger und vertrieben auf, Burger King zu boykottieren, die Rennwochenenden genug Zeit blieb, um
damit einen Wasserwerfer. Das Video ist Fast-Food-Kette hatte offenbar Schutz- auf Partys zu gehen. Auch mit Schlaf-
bei YouTube ein Hit. Im Gegensatz zu suchenden während der Proteste den mangel und Restalkohol blickte er tags-
Zugang zu ihren Restaurants verweigert. über durch, was alles auf der Strecke so
Ein anderer kündigt eine Kundgebung vor sich ging.
für den folgenden Tag an. Inzwischen meidet Wurz das Nacht-
Einige hundert Meter weiter, in der leben. „Ich muss mich zu stark konzen-
Kneipe eines Çarşi-Anführers, laufen im trieren, um den Rennen zu folgen“, sagt
Fernsehen wieder Bilder von Straßen- er. „Die Erklärungen dafür, was passiert,
schlachten zwischen Demonstranten und kann ich nicht mehr aus dem Handgelenk
der Polizei. Barrikaden brennen, Sicher- schütteln.“
heitskräfte schießen mit Tränengasgrana- 69 Grands Prix ist Wurz, 39, einst als
ten in die Menschenmenge. Vor der Knei- Rennfahrer unter anderem für Williams
pe sitzen die Gäste, rauchen, trinken Bier. und Benetton gefahren, er gilt als klug
EREN AYTUG / NARPHOTOS / LAIF

Sie singen Anti-Regierungs-Slogans und und kompetent, kann Rennverläufe deu-


Beşiktaş-Fanlieder: „Wir werden sonnige ten. Aus der Reihenfolge der Autos, den
Tage sehen, Kinder, wir werden schöne Abständen untereinander, der Reifenwahl
Tage sehen.“ und den Rundenzeiten versucht Wurz,
Drei junge Beşiktaş-Ultras sind gerade Schlüsse zu ziehen, den Blick der Zu-
von der Demonstration am Taksim-Platz schauer auf entscheidende Momente zu
zurückgekehrt. Sie sind erschöpft von der lenken und Vorhersagen zu treffen.
Polizeieinsatz in Istanbul Flucht vor der Polizei. Sie setzen sich auf Aber selbst ein Experte wie er durch-
Kampf gegen Staatswillkür den Boden vor der Adler-Statue. Hunde schaut die Formel 1 nur noch mit Mühe.
streunen durch die Straße. Klebstoff- Die Rennen wirken überspannt wie Blitz-
vielen anderen Demonstranten sind die schnüffler lehnen an Häuserwänden. Die schachturniere, bei denen alle Teilnehmer
Çarşi Auseinandersetzungen mit der Frau aus der Gruppe erzählt, sie habe seit an einem einzigen Brett säßen.
Polizei gewohnt. Bei fast jedem Beşiktaş- vier Wochen kaum mehr als zwei Stun- Vor allem die Inflation der Boxen-
Heimspiel kommt es zu Prügeleien mit den am Tag geschlafen. Trotzdem wolle stopps verwischt das Bild auf der Strecke.
Sicherheitskräften. „Pfeffergas ist unser sie so lange weiterprotestieren, bis Erdo- Um die Rennen spannender zu machen,
Parfum“, sagt Okan. gan zurücktritt. liefert Pirelli den Teams Reifen, die
Er verbrachte viele Tage und Nächte Okan hockt auf einem Metallstuhl am schnell überhitzen oder plötzlich abküh-
im Protestcamp im Gezi-Park am Tak- Straßenrand. Er ist erleichtert, dass seine len, dadurch abrupt an Haftung verlieren
sim-Platz. Okan fuhr mit seinem Moped Freunde vom Taksim-Platz zurück sind. und Fahrern und Ingenieuren Rätsel auf-
durch die Straßen rund um den Platz, Keiner wurde festgenommen, keiner ver- geben. Die hochsensiblen und verschleiß-
sammelte in den Restaurants belegte letzt. Okan sagt, die Zeit der Straßen- freudigen Pneus zwingen die Piloten zu
Brote für die Demonstranten. Er besorgte schlachten mit der Polizei müsse enden. verhaltener Fahrweise – und die Renn-
Helme als Schutz vor Angriffen der Poli- Es müsse eine Partei her, eine „Gezi-Par- ställe zu aberwitzigen Serien von Rad-
zei, warf Gasgranaten mit der bloßen tei“, die Erdogan beweist, dass er ernst- wechseln. Im Mai zum Beispiel, beim
Hand zurück. Während er betete, fünf- zunehmende Gegner vor sich hat. Erdo- Grand Prix in Barcelona, hielten die 22
mal am Tag, denn Okan ist gläubiger gan solle nicht denken, dass der Kampf Fahrer in 66 Runden 79-mal vor den
Muslim, standen Kommunisten und Na- vorbei sei. Okan glaubt, das Volk werde Schlagschraubern. Die Monteure benöti-
tionalisten vor dem Zelt Wache. Im Gezi- nicht mehr schweigen. „Wir gehen jetzt gen für den Service nur wenige Sekun-
Park, erzählt Okan, fanden Menschen in die zweite Halbzeit.“ ÖZLEM GEZER, den. Räder runter, Räder rauf, bis gleich.
zusammen, die sich zuvor nicht gegrüßt MAXIMILIAN POPP Irgendjemand parkt immer gerade bei
hätten: Selbst Anhänger von Galatasaray seinen Mechanikern.
und Fenerbahçe marschierten gemein- Video: Schlachtrufe Die Formel 1 ist ein Fernsehsport, ein
sam mit Çarşi. gegen Tränengas Videospiel, dessen Software aus Wirk-
In den achtziger Jahren bekriegten sich spiegel.de/app272013tuerkei lichkeit besteht. Doch diese Wirklichkeit
die Fans der drei Vereine auf offener Stra- oder in der App DER SPIEGEL wird immer komplizierter.
96 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
wird künftig, außer beim Bremsen, auch
an der rotierenden Welle des Turboladers
gewonnen.
„Wer die Spritmenge am effizientesten
nutzt“, sagt Cowell, „hat die meiste Leis-
tung im Auto. Das ist die große Heraus-
forderung.“ Es schlägt die Stunde der
Motoreningenieure. Nachdem jahrelang
kaum etwas an den Triebwerken ver-
ändert werden durfte, müssen Spezialis-
ten wie Cowell jetzt eine Technologie in
den Griff bekommen, die bald über Sieg
und Niederlage entscheiden wird. Und
über die Zukunft der Formel 1.
Es geht darum, dass sich das Gesicht
der Rennserie wandelt. „Die Mentalität
darf nicht darauf beschränkt bleiben, ein-
fach nur immer schneller fahren zu wol-
len“, sagt Martin Whitmarsh, Rennchef

SUTTON IMAGES / CORBIS


bei McLaren, einem Unternehmen, das
nicht nur ein Formel-1-Team betreibt,
sondern auch Straßensportwagen baut.
„Wir müssen fortschrittlich, relevant, un-
terhaltsam und unterscheidbar sein.“
Mechaniker beim Boxenstopp: Räder runter, Räder rauf, bis gleich Hersteller wie Mercedes oder Renault
wollen der Welt in der Formel 1 zeigen,
Manche Reifensätze halten keine hun- stehen zwei Flachbauten mit dezent ge- dass Fahrzeuge mit Hybridantrieb nicht
dert Kilometer durch, so empfindlich sind wellten Dächern. Hier in Brixworth wird unbedingt kreuzbrave Familienkutschen
sie. In mehreren Fällen lösten sich an den der neue Rennmotor von Mercedes-Benz sein müssen, die geräuschlos einparken.
Hinterreifen die Laufflächen ab. In Monte entwickelt. Im ersten Stock sitzt Andy Der Grand-Prix-Zirkus soll zur Öko-
Carlo schlugen die Mercedes an der Spit- Cowell, 44, Geschäftsführer von Merce- Show werden, ein bisschen wenigstens.
ze des Feldes vorsorglich ein derart ge- des AMG High Performance Powertrains. Die Kunst für Ingenieure wie Cowell
mächliches Tempo an, dass Verfolger Se- Dutzende Ingenieure in Großraumbüros liegt nun darin, Rennwagen zu erschaf-
bastian Vettel lästerte, die beiden Silber- blicken auf Bildschirme, auf denen per fen, die deutlich weniger verbrauchen,
pfeil-Piloten befänden sich offenbar „auf Mausklick bunte Bilder von Triebwerks- aber mindestens genauso schnell sind,
einer Busreise nach Südfrankreich“. teilen erscheinen. Es ist fast still, nur die andernfalls droht der Formel 1 ein Lah-
Von der nächsten Saison an müssen die Klimaanlage säuselt. Cowell verwendet me-Ente-Image. Der Druck lastet ge-
Piloten ihre Lust am Vollgas noch stärker ungern den Begriff Motor für das, was waltig auf den Technikern. Chefver-
zügeln. Dann werden neuentwickelte Hy- sie hier erschaffen, sondern spricht lieber markter Bernie Ecclestone, 82, sieht
bridantriebe in die Autos eingebaut, eine von „Antriebseinheit“. Die Formel 1, sagt die Neuerungen eher skeptisch. Er fürch-
Kombination aus Benzin- und Elektro- er, erlebe gerade „einen fundamentalen tet, dass der klassische Motorsportfan
motor. Die bislang verwendeten Acht- Wechsel“. mit der fortschrittlichen Technik frem-
Zylinder-Motoren dürfen Sprit in belie- Zwar können die Autos schon heute deln könnte. Hybridautos sind eher leise,
biger Menge verbrennen, die neuen beim Bremsen freiwerdende Energie in und was in der Großstadt von Vorteil
Sechs-Zylinder-Turbos müssen im Ren- Akkus speichern und die Fahrer kurz per ist, gilt bei einem Rennwagen als Zei-
nen mit etwa 140 Litern haushalten – de Knopfdruck 81 zusätzliche PS mobili- chen von Kraftlosigkeit. Ecclestone mag
facto ein Drittel weniger. sieren, aber das ist kaum mehr als ein seine Rennautos nur, wenn sie richtig
Die moderne Hybridtechnik bedeutet Gimmick zum Überholen. Künftig wird laut sind.
für die Formel 1 eine Zeitenwende. Wer die doppelte Leistung erlaubt sein, 33,3 Andy Cowell im Entwicklungszentrum
wie gewohnt die Drehzahlen hochjubelt, Sekunden sind pro Runde abrufbar. Weil in Brixworth lächelt. Er greift sich die
der wird mit leerem Tank am Strecken- gleichzeitig die Kraft der Benzinmotoren Fernbedienung und drückt ein paar Tas-
rand ausrollen. Künftig gilt: Sieger wird von 750 auf 600 PS sinkt, steigt er Anteil ten. Auf dem Fernsehschirm seines Büros
sein, wer am schnellsten langsam fährt. der Elektroenergie ra- erscheint eine Animation der Renn-
Für die Rennstrategen der Teams pide. Der Strom dafür strecke von Monza, der Blick geht
ändern die neuen Motoren alles. Außer Motor: aus einer Bordkamera über den
Reifenverschleiß entscheidet vor allem Zylinder Asphalt.
6
der Verbrauch über den Er- Hubraum
1,6 Liter,
Nach einem weiteren Knopf-
folg. Der Funkverkehr zwi- Leistung T u rb o druck erfüllt Lärm den Raum,
schen Boxenmauer und ca. 600 das Bild bewegt sich. Gut eine
Motor: Verbrauc P S
8
Cockpit dürfte ausgelastet Zylinder h max.
100 K Minute, eine Monza-Runde lang,
L ite r pro Renn ilo Sprit
sein wie eine Hotline. Und u m 2 ,4 kreischt es aus den Lautsprechern.
Hubra e
140 Liter) n (etwa
vermutlich wird nichts so
n g c a . 750 PS , re a l ca.
So wird sich der neue Antrieb auf
häufig erwähnt werden wie Leistu er Ver- 45 Liter
auf 100 der Piste anhören, weil die hoch-
nlimitiert km
der Hinweis an den Mann am Verbrauch ubrauch, real ca. km Hybrid-
E le k tro
gezüchteten Aggregate nicht schall-
auf 100 antrieb: mo
Lenkrad, sich Tempobolzerei 70 Liter mit 163 tor gedämpft sind wie Motoren für den
PS
zu verkneifen, wolle er das Ziel max. 33 Straßenverkehr.
,3
erreichen.
Elektrom
otor pro Rund Sekunden Dann ist es wieder still. Wortlos
Mitten zwischen den Wiesen H y b ri d - S e abrufb legt Cowell die Fernbedienung bei-
m it 81 P a r
von Northamptonshire, England, antrieb: nden seite.
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DETLEF HACKE
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Prisma

INFEKTIONEN

Erreger auf Luftreise


Klinikkeime können auf Luftströmen
surfen. Selbst Bakterien wie Staphylo-
kokken oder Clostridien, die eigent-
lich nur durch direkten Kontakt von
Mensch zu Mensch übertragen werden,
breiten sich auf dem Luftweg in Kran-
kenzimmern und womöglich auf gan-
zen Stationen aus, wie britische Medi-
ziner von der University of Leeds bei

HUBERT MICHAEL BOESL / AFP


Experimenten festgestellt haben. Nach
Erkenntnissen der Forscher reiche
schon Niesen, Husten oder Betten-
schütteln aus, um den Bakterien die
Brennende Türme des World Trade Center nach dem Anschlag 2001 Reise durch die Lüfte zu ermöglichen.
„Direkt um das Bett von Infizierten
herum hatten wir eine hohe Bakterien-
RAUC H E N
dem 11. September 2001 landesweit belastung erwartet“, erklärt Team-
sprunghaft um 2,3 Prozent. Besonders mitglied Cath Noakes. Doch auch
hoch waren die Rückfallraten überall noch meterweit im Raum entdeckten
Rückfällig nach 9/11 dort, wo viele aktive Militärangehörige
und Reservisten lebten, aber auch in
die Forscher „erhebliche Bakterien-
mengen“ – vor allem entlang den We-
Der Schock nach dem Terroranschlag Schichten mit höherem Bildungsniveau, gen, welche die Luftströme nahmen.
auf das World Trade Center hat in Ame- wie die Forscher im Fachblatt „Contem- In Deutschland sterben jährlich rund
rika offenbar rund eine Million ehema- porary Economic Policy“ berichten. 20 000 Patienten an Infektionen, die
lige Raucher wieder süchtig werden las- „Ich war wirklich überrascht, dass Ex- sie sich im Krankenhaus zugezogen ha-
sen. Einer Untersuchung zufolge, für die Raucher nach 9/11 im ganzen Land ben. Computersimulationen der Luft-
Mediziner vom Weill Cornell Medical wieder zu den Zigaretten griffen“, sagt bewegungen könnten nach Ansicht
College in New York City Gesundheits- Studienautor Michael Pesko. „Ich hätte der Forscher helfen, sicherere Kliniken
und Verhaltensdaten von US-Bürgern einen so eindeutigen Effekt nur für New zu bauen – mit Zimmern und Fluren,
statistisch ausgewertet haben, stieg die York City oder höchstens für die angren- in denen die Mikroben weniger leicht
Zahl der erwachsenen Raucher nach zenden Bundesstaaten angenommen.“ abheben können.

Kopulierende Fruchtfliegen
TIERE

Entspannte Fliegen-Väter leben länger


Fruchtfliegenmännchen, die unter mehr Nachwuchs produzieren. Doch
dem Druck von Mitbewerbern um der Vorteil der Frühstarter hält nicht
die Gunst der Weibchen buhlen müs- lange an, wie die Forscher im Fachblatt
sen, verlieren schneller ihre Fort- „Evolution“ ausführen: Schon nach der
pflanzungskräfte. Bei einer Studie dritten Begattung wurde ihre Bilanz
mit den Insekten haben Biologen magerer. Männchen ohne Rivalen hin-
von der University of East Anglia gegen blieben bei den Weibchen
erkannt, dass vom Konkurrenz- erfolgreich – und lebten länger: Nach
kampf getriebene Männchen Abschluss der zweieinhalb Monate
zwar früher im Leben dauernden Beobachtung lagen sämtli-
che Jungbegatter tot am Boden – von
den Fliegenmännchen, die es ohne den
dauernden Konkurrenzkampf langsa-
mer angehen lassen konnten, war da-
SOLVIN ZANKL / VISUALS UNLIMITED / CORBIS

gegen noch jedes vierte aktiv. „Wir


wissen nicht, ob es ähnliche Querver-
bindungen von Konkurrenzdruck, Re-
produktionsverhalten und Lebensspan-
ne auch beim Menschen gibt, aber es
wäre interessant, in Lebensgeschichten
einmal gezielt danach zu fahnden“,
sagt Studienleiterin Tracey Chapman.

98 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Wissenschaft · Technik

NICOLO LANFRANCHI
Giftige Kunstwerke Heftige Regenfälle haben aus dem Schlammmassen entstehen, wenn die Böden der abgeholz-
Schlamm einer brasilianischen Goldmine bizarre Skulpturen ten Regenwälder mit Wasser aus Hochdruckkanonen auf-
geformt. Die Blätter verhinderten, dass die darunterliegende geschlämmt werden, um an den darin enthaltenen Goldstaub
Schicht ausgewaschen wurde. Für die in der Nähe lebenden zu kommen. Die Dreckbrühe ist verseucht mit giftigen
Menschen sind die Minilandschaften weniger zauberhaft: Die Chemikalien, die ins Grundwasser und in die Flüsse gelangen.

ARCHÄOLOGI E
lung präsentiert wird. Weitere Objek- PSYCHOLOGI E
te, die vom gewaltdurchtränkten All-
tag der Wikinger erzählen, sind eine
Grausame Wikinger Vielzahl an Waffen, eiserne Sklaven-
halsringe aus Dublin sowie der konser-
Weibliche Doppelmoral
Waren Wikinger zivilisierte Händler vierte Schädel eines Kriegers aus Got- Frauen suchen sich lieber sexuell zu-
mit Hang zu den schönen Künsten land, der zu Lebzeiten nicht nur zahl- rückhaltende „beste Freundinnen“ –
oder doch eher blutrünstige Haudegen reiche Schwerthiebe auf den Kopf auch wenn sie selbst eher promisk
und Eroberer? Während Archäologen überstand, sondern sich auch Zier- leben. Zu diesem Ergebnis kommt
und Historiker in den vergangenen rillen in die Zähne feilen ließ. eine Studie, für die US-Psychologen
Jahren dazu tendierten, ein friedliches von der Cornell University über 750
Bild der nordischen Seefahrer zu Studentinnen und Studenten befragt
JOHN LEE / THE NATIONAL MUSEUM OF DENMARK

zeichnen, rückt die neueröffnete Aus- haben. Die männlichen Teilnehmer


stellung „Viking“ im Dänischen Natio- hingegen hatten gegen sexuell aktive
nalmuseum in Kopenhagen wieder Kumpel weit weniger Vorbehalte.
die Brutalität und Abenteuerlust der „Wie sehr promiske Frauen andere
mittelalterlichen Skandinavier in den Frauen mit lockerem Lebenswandel
Mittelpunkt. Die Schau vereint Expo- als Freundinnen ablehnten, hat uns er-
nate aus zwölf europäischen Ländern, staunt – dabei wären doch gerade das
von denen einige noch nie öffentlich Vertraute, von denen sie sich wegen
gezeigt wurden. Glanzstück ist das 36 des gleichen Erfahrungshintergrunds
Meter lange Kriegsschiff „Roskilde 6“, Beistand erhoffen könnten“, erklärt
das zum ersten Mal in einer Ausstel- Exponate der „Viking“-Ausstellung Studienleiterin Zhana Vrangalova.
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Technik

ENERGIE

Aufstand in der Rotorsteppe


In Deutschland sind 60000 neue Windräder geplant: in Wäldern, auf Gipfeln
der Voralpen und sogar in Schutzgebieten. Bürger laufen Sturm gegen die Verschan-
delung der Landschaft. Kosten explodieren – die Energiewende gerät in Gefahr.

D
er Husarenhof nördlich von Stutt- Schützenverein mit ihren Flinten in die auf Berggipfeln überdimensionale Luft-
gart, malerisch gelegen zwischen Luft. Der Pfarrer sprach salbungsvolle schrauben zu errichten. Ziel ist, die Wind-
Obstwiesen und Weinbergen, ist Worte über die Bewahrung der Schöp- kraft in Deutschland in den nächsten sie-
ein gemütlicher Weiler. Das Haus von Pe- fung. ben Jahren von 31 000 Megawatt auf
ter Hitzker steht in einer scharfen Links- Andere dagegen sind sauer, sie ärgern 45 000 Megawatt zu steigern. Bis zur Mitte
kurve. „Morgens liegen manchmal kaput- sich über die Verhunzung jener Land- des Jahrhunderts sollen es dann 85 000
te Autos im Vordergarten“, erzählt er. schaft, die schon Hölderlin und Eduard Megawatt sein.
„aber irgendwas ist ja immer.“ Mörike besangen. Die Gegner haben ein Weil die Filetstücke an der Waterkant
Nur mit dem Windmast hinter seinem Bild vom Schnitter Tod gemalt, wie man schon alle weg sind, drängen die Betrei-
Gartenzaun kommt der Mann nicht klar. ihn aus mittelalterlichen Chroniken ber nun verstärkt ins Binnenland. Mosel-
Der Turm ist 180 Meter hoch. „Flapp, kennt. Statt der Sense hält er einen Ro- tal, Allgäu, Voralpenland – auch touris-
flapp“ machen die Flügel, man hört die tormast in der Hand. tisch wertvolle Gegenden sollen geopfert
Stellmotoren: „grrrrhhhnn“. So wie im Husarenhof gärt es überall. werden. Selbst im Gebiet des Bodensees
„Wenn ich im 15 Kilometer entfernten Nach dem Atomunglück von Fukushima und nahe Starnberg, wo Bayernkönig
Heilbronn aus meiner Stammkneipe und der hastig ausgerufenen Energiewen- Ludwig II. ertrank, wurden Flächen aus-
komm, seh ich das Rädle gleich am Hori- de sind die Bundesländer in eine Art gewiesen.
zont und weiß, wo’s langgeht“, erklärt Übereifer geraten. Brandenburg will in Noch geht es vor allem um Pläne, Be-
der humorige Schwabe. Zukunft fast zwei Prozent Landesfläche richte, Anträge. Aktenordner voller Ge-
Mehr Vorteile fallen ihm allerdings für Windmühlen bereitstellen. Rheinland- nehmigungspapiere und Windhöffigkeits-
nicht ein – im Gegenteil. Das Ding sei Pfalz möchte seinen Windstrom mehr als messungen quellen aus den Schubladen
„schrecklich“, sagt er. „Es hat die Gemein- verdoppeln, Nordrhein-Westfalen sogar der Behörden. Rund 60 000 neue Strom-
de gespalten. Hier herrscht Krieg.“ über 300 Prozent drauflegen. mühlen sollen her. Sie werden das Antlitz
Seit über einem Jahr schon dreht sich Deutschland dreht durch. der Republik verändern.
die Enercon „E-82“ über den Hängen der Tieflader, beladen mit Turmsegmenten, Was geschieht da eigentlich? Schaffen
Neckarschleife. Am Tag der Einweihung quälen sich über morastige Äcker. Kräne besonnene Politiker gerade das Instru-
schossen die „Schwarzen Jäger“ vom kriechen schmale Forstwege empor, um mentarium zur Verhinderung des Welt-
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Rotorenrepublik Enercon mit seinen Flügeln ab. Rotor-
Regionale Verteilung von Onshore- kränze moderner Anlagen wiegen bis zu
320 Tonnen. Nahe Ribbeck im Havelland
Windanlagen, Leistungsdichte in Megawatt
stehen 83 dreiarmige Banditen: Deutsch-
je Quadratkilometer, 2012 lands größter Windpark.
0,05 0,1 0,5 1 5 und Tolerant gestimmte Städter, die derlei
mehr Stangenwälder mit ihren SUV durch-
fahren, wundern sich zuweilen, wie
hässlich der Osten geworden ist. Andere
gewinnen den Drehschrauben – zu-
mindest im Vorbeieilen – visuelle Rei-
ze ab.
Die Nimbys vor Ort jedoch („Nim-
by“ für: not in my backyard) sind da-
gegen ungehalten – schon deshalb,
weil der Wert ihrer Häuser ins Bo-
denlose sinkt.
Selbst demografisch ausgedünn-
te Provinzen besinnen sich des-
halb auf Gegenwehr, wie die Be-
wegung „Rettet Brandenburg“
beweist. Über 3100 Windkraft-
anlagen gibt es dort. In keinem
Bundesland stehen die Roto-
ren dichter.
Doch erst jetzt, wo die Re-
gierenden weitere 3000 dazu-
pflastern wollen, regt sich Zorn. Eine
„Volksinitiative“ hat sich gebildet. Bei ei-
nem Aktionstag Ende Mai schimpften die
Macher gegen „Windraffkes“ und Müh-
lenmonster.
Den Hang zur Übergröße werden die
Empörer damit kaum stoppen. Um
den Schwachwind, der im Binnen-
land weht, auf lohnende Weise zu
ernten, müssen die Strommüller
immer höher in die Atmosphäre vor-
stoßen.
Raus aus den bodennahen Turbulen-
Windkraftanlagen bei Freiburg zen, empor ins ewige Geblase der Ekman-
ROLF HAID / DPA
schicht, die in 100 Metern beginnt – das
Quelle: IWET ist das Ziel. Nur dort oben wogen jene
untergangs? Oder verschandeln sie nur Bei den Grünen greift das Gezerre mitt- terrawattstarken Urgewalten, mit denen
die Heimat? lerweile tief ins Selbstverständnis. Weil sich der gesamte Energiebedarf der
Über 700 Bürgerinitiativen sind mitt- der Umweltclub BUND die Windkraft be- Menschheit hundertfach stillen ließe.
lerweile im Land aktiv. Sie wehren sich fürwortet, trat sein Gründungsmitglied, Theoretisch.
gegen „Mastenwälder“, „optische Emis- Enoch zu Guttenberg, im vergangenen An Land sei der „technische Trend“ zu
sionen“ und eine „flächendeckende Ver- Jahr mit lautem Gepolter aus dem Verein größeren Anlagen „ungebrochen“, heißt
heerung unserer Mittelgebirgskuppen“. aus. Er verspürt seitdem das „panische es in einer soeben erschienenen Unter-
Gegner tragen Särge, die den Natur- Bedürfnis“, die Menschheit vor den „Rie- suchung des Fraunhofer Instituts für Wind-
schutz symbolisieren, zu Grabe. Kaum sentotems eines Kults der unbegrenzten energie und Energiesystemtechnik (IWES).
ein Tag vergeht ohne Unterschriften- Energie“ zu warnen. Was da noch alles aufs Stromvolk zu-
aktionen oder dem Einreichen von Peti- Auch Deutschlands „Moorpapst“, Mi- kommt, lässt ein Besuch beim IWES-Test-
tionen. Anwohner vom Starnberger See chael Succow, Träger des Alternativen zentrum in Bremerhaven ahnen. Dort
haben Verfassungsklage erhoben. Nobelpreises, droht, von der Fahne zu liegt ein Rotorblatt der nächsten Gene-
Keine Frage: Da tobt unversöhnlich ein gehen. Er hat Angst vor seelenlosen Flu- ration. Es ist biegsam, fast wabbelig, 30
Grundsatzstreit. Naturschützer, Tierfreun- ren und dem Verlust der Stille. Tonnen schwer und hat eine Länge von
de und Baumromantiker, die den Erho- Die Furcht ist nicht unbegründet. Die 83,5 Metern.
lungsraum Natur verteidigen, stehen Zeiten, als Ökofreaks in den achtziger Zurzeit durchläuft das monumentale
einer fortschrittlich gesinnten Kaste von Jahren klapprige Windräder vom Typ Werkstück ein Prüfverfahren. Hydrau-
Ressourcenschonern und Klimarettern ge- „Aeroman“ in den Vorgarten stellten, sind lische Stempel und Seile drücken, biegen
genüber, die sich um die Zukunft des Pla- vorbei. Heute bauen die Hersteller Türme und knuffen den Flügel millionenfach. So
neten sorgt. mit Nabenhöhen bis zu 160 Metern. Im lässt sich die Belastung durch Sturm und
Nur: Wie viele Haine müssen weichen, Betrieb erschlagen die wirbelnden Ma- Böen simulieren.
wie viele Horizonte verspargelt werden, schinen so viele Insekten, dass die klebri- Der IWES-Meteorologe Paul Kühn ver-
um die Energiewende zu schaffen? Und ge Masse die Rotoren bremst. mutet, dass die Türme noch auf Naben-
wo fängt der Übereifer an – und das Ver- Eine Fläche von sieben Fußballfeldern höhen von 200 Meter anwachsen. Erst
plempern von Steuergeldern? streicht das Modell „E-126“ der Firma danach greife das „Kubische Massen-
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 101
PAUL LANGROCK / ZENIT
Rotorblattproduktion in Rostock: Im Betrieb erschlagen die Flügel so viele Insekten, dass die klebrige Masse die Anlage bremst

wachstumsgesetz“, das jedes weitere Ver- Rotmilan sagt Lippert eine „fürchterliche Doch nun nörgelt auch der Norden.
größern ökonomisch unsinnig mache. Zukunft“ voraus. Viele Altanlagen werden dort derzeit ge-
Mahnmale des Atomausstiegs, deren Um die gewaltigen Ziele der Windwen- gen neue, leistungsstärkere Turbinen aus-
Flügelspitzen fast 300 Meter in die Wol- de zu erfüllen, muss auch der Bürger Op- getauscht (Stichwort: „Repowering“). Die
ken reichen? Das erscheint selbst hippen fer bringen. In England stehen große sind statt 50 nun mehr als 150 Meter hoch,
Ökostromern, die im Asphaltdschungel Strommühlen mindestens 3000 Meter von haben Blinklichter, damit keine Flugzeu-
wohnen, gewöhnungsbedürftig. Wohnhäusern entfernt. ge reinsausen, und durchwirbeln lärmend
Wie brutal die Riesenquirle die Luft Im engen Deutschland, wo sich Heim die Luft.
zerhacken, belegen neue Studien der Vo- an Hütte drängt, packen die Kommunal- Die Folge: Überall ertönen Klagen we-
gelschützer. „Goldregenpfeifer meiden planer die Gondeln viel dichter zusam- gen des Krachs.
die Anlagen“, erklärt der Potsdamer Or- men. Bayern erlaubt eine Distanz von Mit leeren Augen und zitternder Stim-
nithologe Jörg Lippert. Schwalben und 500 Metern, in Sachsen sind es sogar nur me – so treten die Schallopfer an. Es sind
Störche düsen voll rein. Der Mopsfleder- 300 Meter. die Märtyrer der Bewegung. Auch Klaus
maus reißt schon beim Vorbeiflug der In der Pionierzeit, als sich alle noch Zeltwanger gehört dazu. Der Bauer
Lungensack. Dem Schreiadler und dem freuten über die saubere Windkraft, lie- wohnt nur 370 Meter vom Rotor beim
ßen manche Küstenbauern die Masten Husarenhof entfernt. „Es patscht und
Berlin 2 bis auf 250 Meter an ihre Katen heran- rauscht“, erzählt er, „dann wieder
Hamburg 48 bauen. Für Stampeden im Schweinestall, brummt es wie beim Flugzeugstart.“
Bremen 137 91 ausgelöst durch die Rotorgeräusche, er- Derlei Klagen wiesen die Gerichte bis-
hielten sie satte Entschädigungen. lang meist ab. Windräder genießen Son-
Saarland 142 558 derrechte. Sie juristisch zu bekämpfen ist
Sachsen 1029 624 schwer.
Hessen 807 2616 Kräftiger Aufwind Immerhin: Bereits im Jahr 2006 erfocht
Meckl.-Vorpommern 1925 1873 Installierte Windkraft-Leistung eine Frau vor einem Gericht in Münster
geplanter Zuwachs der Länder einen Sieg. Sie wohnte nur 270 Meter von
Baden-Württemberg 504 3514 einem Rotor entfernt und pochte auf das
bis 2020, in Megawatt
Bayern 852 3616 „Gebot der Rücksichtnahme“, wonach kei-
Rheinland-Pfalz 2076 2837 Quellen: DEWI, Bundesnetzagentur, Fraunhofer IWES ne technische Anlage so nah am Haus ste-
4599
hen darf, dass sie eine „optisch bedrängen-
Thüringen 889
de Wirkung“ ausübt. Die Fachleute spre-
Sachsen-Anhalt 3808 2358 chen intern vom „Verzwergungsgefühl“.
Brandenburg 4898 2899 Nach langem Streit bekam die Klägerin
Nordrhein-Westfalen 3245 7233 Recht. Der Riese wurde abgerissen.
Es gibt noch einen weiteren juristischen
Schleswig-Holstein 3600 9724
Hebel. Laut Bundesimmissionsschutz-
Niedersachsen 7413 7162 gesetz darf der Lärm in Wohnmischge-
102 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Technik

bieten nachts nicht über 45 Dezibel lie- ser Land“ sei. De facto aber wird alles Ein gewaltiges Vorhaben. Um es auf
gen. Was das in Meterabstand bedeutet, teurer. An der Strombörse in Leipzig kos- den Weg zu bringen, beschloss die
wusste lange niemand. tet die Kilowattstunde unter 3,5 Cent. Der Bundesregierung bereits im Jahr 2006 das
Nun liegt auch hier ein Urteil vor, das Verbraucher zahlt mittlerweile etwa 27 Infrastrukturplanungsbeschleunigungsge-
die gesamte Energiewende erschüttern Cent. Der Preis ist mit Steuern und Öko- setz. 2009 folgte das Energieleitungs-
könnte. Gefällt wurde es vom Oberlan- abgaben überfrachtet. ausbaugesetz, vor vier Wochen verab-
desgericht München. Geklagt hatte eine Gründe dafür gibt es viele. So ist die schiedete der Bundestag das Bundes-
Hausfrau aus Marxheim nahe der Donau, Stromklempnerei auf dem Meer viel auf- bedarfsplangesetz.
deren blumengeschmücktes Bauernhaus wendiger als gedacht. Die Akrobaten auf Was für lange Wörter! Die Leitung da-
850 Meter vor einer Enercon „E-82“ ent- hoher See betreten pannenträchtiges gegen ist noch erstaunlich kurz. Erst 268
fernt steht. Mit Wucht seien die Schall- Neuland. Kilometer des geplanten Elektronetzes
wellen „über Wald und Senke“ herange- Doch anstatt die elegante Offshore- sind fertig.
rauscht, erzählt sie. Technologie in Ruhe zu entwickeln, hat Schuld an der Verzögerung ist nicht zu-
In den Akten ist von „Fauchen“, „Zi- sich die Politik durch ihre Atom-Deadline letzt jene vieltausendfache Truppe von
schen“ und „Pfft-Geräuschen“ die Rede. im Jahr 2020 selbst unter Druck gesetzt. Elektrosmog-Hysterikern, die jede neue
Ein Akustiker ermittelte eine Stärke von Nun neigen alle zu Hektik. Resultat: 110-Kilovolt-Strippe bekämpft, als wäre
42,8 Dezibel. Wegen der „Impulshaltig- Kaum steigen auf hoher See die Kosten, sie ein Werk des Teufels. Der Windpark
keit“ des Lärms schlug er noch mal 3 De- stürzen sich die Luftschrauber wie im kommt stets mit seinem hässlichen Bru-
zibel drauf. Taumel wieder aufs Binnenland. der daher, dem Freileitungsmast.
Ergebnis: Das Windrad darf zwischen Billiger wird es aber auch dort kaum. Also Erdkabel? Das zumindest fordern
22 und 6 Uhr nur noch gebremst laufen. Riesige Stromautobahnen müssen her, die Empörer. Sie übersehen allerdings da-
Damit ist es unrentabel. um die Energie der Tüddelmasten von bei, dass im Boden verlegte 380-Kilovolt-
Zwar bemüht sich die Firma Enercon der Waterkant Richtung Süden zu leiten. Trassen armdicke Kupferstränge brau-
zurzeit um eine Revision des Urteils beim Das komplette Netz muss dafür umgestal- chen, um nicht heiß zu laufen. Das kostet
Bundesverwaltungsgericht. Doch die Aus- tet werden. enorm viel Geld. Insgesamt sind Erdkabel
sichten stehen schlecht. Hunderte Propel- „Wir planen hier nichts weniger als bis zu zehnmal teurer als solche, die in
ler drehen sich in der neudefinierten Ver- eine technische Revolution“, erklärt ein der Luft baumeln.
botszone. Kommt jetzt der große Abriss? Sprecher des Umweltministeriums in Oft sind die Engpässe bei den Netzen
Der Rechtsanwalt Armin Brauns aus Hannover. „Bislang führte das dünnste bereits so groß, dass sich die Stromräder
Dießen in Bayern rechnet zumindest mit Kabel nach Kleinkleckersdorf. Heute vergebens drehen. Bei steifer Brise müs-
einer „Klagewelle“. In seiner Kanzlei tür- brauchen wir dort das dickste, weil die sen sie abgeregelt werden, im Jahr 2010
men sich die Prozessakten. „Denn auch Windparks in der Ödnis stehen.“ waren das 127 Gigawattstunden. Das ent-
beim Landschaftschutz“, so der Fach- Etwa 2800 Kilometer neue Höchstspan- spricht dem Jahresbedarf von 100 000
mann, „verhalten sich manche Kommu- nungsleitungen werden benötigt, dazu Deutschen.
nen unfair und umgehen die bestehenden 7000 Kilometer Verteilungsnetze. Die Doch bange machen gilt nicht. Kostet
Gesetze.“ Kosten dafür schätzt man auf 10 bis 20 die Entsorgung des Atommülls nicht auch
Der Windbranche kommt das Gerangel Milliarden Euro. Unsummen? Und wer mag jene Mond-
äußerst ungelegen. Zwar sollen sich im landschaften, die die Braunkohlege-
Land bald Abertausende neue Turbinen winnung in der Flur hinterlässt?
drehen. Doch aktuell hapert es an Auf- Rotor- Zwar steigen die Bedenken.
trägen. durchmesser: Sachsen hat seine Ausbaupläne
Größenentwicklung 89 m
Lange mästeten sich die Unternehmen von Onshore- bereits eingedampft, Thürin-
prächtig an der Vergütung, die der Staat gen mag keine Windräder im
ihnen für den Windstrom garantiert. Ein Windenergie- Wald.
ganzer Industriezweig entwickelte sich anlagen Doch insgesamt steht die
so zum Subventionskoloss. Die Folge: auf- Nabenhöhe: Phalanx noch ziemlich ge-
geblähte Firmen mit Überkapazitäten. Quelle: 115 m schlossen. Es sind kühne Po-
Erschwerend kommt hinzu, dass der Fraunhofer IWES litiker mit Retterblick, die
Zunft nun auch international die Märkte furchtlos und parteiübergrei-
wegbrechen. Die beiden wichtigsten fend an der Utopie einer vor-
Windstrom-Länder zögern mit dem Wei- 58 m bildlichen Öko-Nation fest-
terbau. Die USA bevorzugen das billigere halten.
„Fracking“, das umstrittene Herauspres- Schleswig-Holsteins grüner Um-
sen von Erdgas aus Schiefergestein. China weltminister Robert Habeck fühlt
hat Probleme mit den Netzen, auch dort 71 m sich gar als Agent eines „Jahrhun-
erlahmt die Lust an den Luftquirlen. dertwerks“. Um seiner Entschlossenheit
„10 000 Arbeitsplätze“ seien hierzulan- Ausdruck zu verleihen, nennt er sich
de in Gefahr, warnte vor kurzem Nieder- „Minister für Energiewende“. Heute,
sachsens Ministerpräsident Stephan Weil sagt er, werde jene Infrastruktur geschaf-
(SPD). Der dänische Hersteller Vestas fen, die dafür sorge, „dass für unsere
musste bereits etwa 1400 seiner Stellen 23 m Kinder der Rohstoff Strom fast kosten-
streichen. zum Vergleich: los ist“.
Entsprechend gereizt ist die Stimmung. 31 m Kölner Dom, Wie er das rechnet, ist ziemlich rätsel-
Überall fehle die „ordnende Hand“, Höhe: 157 m haft. Aktuell jedenfalls muss der Ver-
schimpft der Firmenleiter von Weser- braucher immer mehr löhnen – und
Wind, „es herrscht das totale Chaos“. andere machen den Reibach: Mit
Zwar schwört der Grünen-Chef Cem Nennleistung: Renditen von sechs bis neun Prozent
Özdemir, dass der Klimaschutz „auch 172 kW 1115 kW 2523 kW werden die Mitglieder von Bürger-
wirtschaftlich eine große Chance für un- 1990 2000 2013 windparks gelockt. Gespeist werden
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Technik

Kreisende Schutzengel
Die Gegner der Windenergie entdecken den Artenschutz.

E
s hat viel geregnet auf der Schwä- Kurse zur Vogelbeobachtung oder über aus vereinbar“, sagt der baden-württem-
bischen Alb, der Boden ist weich, bedrohte Fledermäuse sind gefragt wie bergische Umweltminister Franz Unter-
überall stehen Pfützen. Doch Edi nie zuvor. Beliebt sind auch Waldfeste, steller. Der Grünen-Politiker macht zu-
Biener sorgt sich jetzt nicht um nasse gern mit Diavortrag oder Filmvorfüh- gleich klar: „Mit mir kann man nicht
Füße. Er ist am Waldrand auf eine inter- rungen über Rotmilan, Schwarzstorch den ganzen Schwarzwald zum Auer-
essante Spur gestoßen. Weiße Flecken und Auerhuhn. Die Tierschützer werden huhn-Erwartungsland machen.“
auf grünem Waldmeister – eindeutig Vo- nicht mehr als „Fröschlezähler“ belä- Bei den Investoren haben die Gegner
gelmist. chelt. „Wir haben in unseren Fluren und einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Der Rentner aus dem Dorf Ketten- Waldrändern einen Milan-Tourismus“, „Wir haben ein großes Windenergie-
acker begutachtet das verschmutzte spottet Karlheinz Fahlbusch, Sprecher potential in Süddeutschland, aber rund
Pflänzchen. Dann zeigt er auf die Krone des Landratsamts Sigmaringen. zwei Drittel der Projekte scheitern“,
einer alten Buche. „Da oben ist jetzt Le- Mancher Dorfbewohner hat sich auto- sagt Immo Müller, ein erfahrener Planer
ben“, sagt er. Zu sehen ist nicht viel. In didaktisch zum Ornithologen weiterge- aus dem norddeutschen Wangerland.
einer Astgabel, 25 Meter über dem Bo- bildet. Margret Bures lebt 45 Kilometer Angeblich kämpfen auch Investoren
den, schaukelt ein Knäuel im Wind, ein südlich von Kettenacker in einem Weiler mit allen Mitteln. Windkraftgegner wer-
Greifvogelhorst. Seit Biener und seine bei Ostrach. Die „schöne Natur“ habe fen einigen von ihnen vor, vor illegalen
Mitstreiter von der „Bürgerinitiative Für
Mensch und Natur“ vor ein paar Wo-
chen das Vogelnest entdeckt haben, pa-
trouillieren sie unter dem Baum, um
herauszufinden, wem der Horst gehört.
Der Hauptgewinn für Biener und die
anderen Windkraftgegner wäre Milvus
milvus, der Rotmilan. Er ist zwar auf
der Schwäbischen Alb keine Seltenheit,
trotzdem ist er streng geschützt. Wo er

GOTTFRIED STOPPEL / DER SPIEGEL


brütet, dürfen im Umkreis von tausend
Metern keine Windräder gebaut werden.
„Der Rotmilan ist unser Schutzengel“,
BLICKWINKEL / IMAGO

sagt Biener.
Tierkunde ist derzeit nicht nur auf Gefährdeter Tierschützerin
der Schwäbischen Alb angesagt. Denn Rotmilan Steinhart
seltene Spezies können zu wirksamen
Waffen werden, wenn unliebsame Pläne
gestoppt werden sollen. Schon manches sie schon immer interessiert, sagt sie. Maßnahmen nicht zurückzuschrecken.
Getier erlangte auf diese Weise plötzlich Sie hatte nichts gegen Windenergie – Auf der Schwäbischen Alb sollen näch-
Berühmtheit. Der Juchtenkäfer hätte bis die Gemeinde im vergangenen Jahr tens Waldarbeiter durch den Forst ge-
beinahe den Bau des Bahn-Projekts begann, zwei Dutzend Standorte für laufen sein, um brütende Greifvögel
Stuttgart 21 verhindert. Und die Kleine „Monsterräder“ im Wald vor ihrem aufzuscheuchen und zu vertreiben. Be-
Hufeisennase bewirkte einen zwischen- Haus zu prüfen. weise gibt es nicht.
zeitlichen Baustopp der Waldschlöss- Seither hat sie nicht nur ihre Meinung In der Vulkaneifel verdächtigen Wind-
chenbrücke in Dresden. geändert. Sie hat auch ein 800 Seiten di- energiegegner und der Bund für Umwelt
Da kann es nicht verwundern, dass ckes Buch studiert, um zu lernen, wie und Naturschutz Deutschland (BUND)
die Windkraftgegner nach allerlei Tier- man Brutvögel erfasst. Immer wenn sie gar die staatliche Forstverwaltung,
arten suchen, die ihnen in ihrem Kampf nun am Himmel einen der Rotmilane durch unsachgemäße Arbeiten in der
nutzen könnten. sieht, notiert sie die Flugbewegungen. Nähe von Brutplätzen geschützte Vögel
Tatsächlich stellen die Rotoren gerade Auch bei der Horstsuche war Bures absichtlich gestört zu haben. Die Behör-
für Greifvögel eine Gefahr dar. Die schon erfolgreich. „Sieben Stück, min- de räumte ein, einen Schwarzstorch-
schärfsten Augen und die größte Wen- destens“, habe sie gefunden. Horst freigeschnitten zu haben; es hand-
digkeit schützen nicht davor, von den Das Resultat der Bemühungen: 60 bis le sich um ein Versehen.
Flügeln der Anlagen erfasst zu werden. 70 E-Mails mit ihren Beobachtungen, Der BUND-Landesvorsitzende von
Wissenschaftler erforschen die Ursa- die sie an Naturschutzbehörden ge- Rheinland-Pfalz Harry Neumann stellte
chen, während Vogelschützer die Kolli- schickt hat. Strafanzeige, weil in Hausbay und Has-
sionsleichen zählen – und auf wachsen- Selbst Umweltfreunde sehen die Ak- selbach in diesem Frühjahr zwei Horste
des Interesse stoßen. tivitäten der neuen Tierschützer nicht fehlten, in denen noch im vergangenen
Naturschutzverbände berichten über nur positiv. Artenschutz und Windkraft- Jahr Rotmilane gesichtet worden waren.
ungeahnten Zulauf neuer Mitglieder, ausbau seien „beide wichtig und durch- „Solche Horste verschwinden nicht über

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die Gewinne vor allem durch Subventio- Einige Pionierprojekte laufen bereits,
nen, die man dem Bürger vorher abge- zum Beispiel bei Ellern im Hunsrück, wo
Nacht“, sagt Neumann, „außerdem ha- zwackt hat. sich seit kurzem ein Weltrekord-Windrad
ben wir Kletterspuren an den Stämmen Auch die Landwirte verdienen nicht von 200 Meter Höhe über den Baumkro-
entdeckt.“ schlecht beim Umstieg auf die Windkraft. nen dreht.
Im Landkreis Aurich stießen Kartierer Gute Mühlenstandorte bringen in Bayern Sattelschlepper haben riesige Gondeln
für einen geplanten Windpark im ver- über 50 000 Euro Pacht im Jahr. Wer wäre samt Trafostationen die engen Forstwege
gangenen Jahr auf Schlagfallen, mit de- da nicht gern bereit, der guten Energie emporgezogen. Ein 1000-Tonnen-Kran
nen offenbar der geschützten Wiesen- zum Sieg zu verhelfen. gelangte über die glitschigen Steigungen
weihe der Garaus gemacht werden sollte. Baron Götz von Berlichingen aus auf den Gipfel. In den Kurven musste
Windanlagenbetreiber bestreiten, davon Jagsthausen, ein Nachfahr des goethe- Gehölz gefällt werden. Oben sorgten
gewusst zu haben. Der Landkreis ließ schen Ritters in der 18. Generation, ist Motorsägen für Kahlschlag, um die
die Fläche vorsorglich mit Drohnen soeben dabei, mit dem Energiekonzern Fundamente aus Beton in die Erde zu
absuchen, um weitere Schlagfallen zu EnBW auf seinen Latifundien elf Wind- bringen.
finden. parks zu entwickeln. Als Acker brächte Wie sich derlei Taten auf die Fauna
Auch das Dorf Kettenacker erschüt- ihm der Hektar höchstens 700 Euro. Als und Flora auswirken, weiß niemand. Der
terte unlängst ein Kriminalfall. Zwei Stellplatz für Propeller springt ein Viel- Vormarsch im Hunsrück erfolge „ohne
Rotmilan-Horste sollen verschwunden faches heraus. Prüfung“, entrüstet sich der Natur-
sein, kaum dass die Bürgerinitiative sie Deswegen werde genehmigt, was das schutzbund. Im Übrigen sei die Wind-
entdeckt, fotografiert und den Behörden Zeug hält, meinen Windkraftgegner und stromerei im Wald „grundsätzlich abzu-
gemeldet hatte. schimpfen über ideologisierte Klimaapos- lehnen“.
Über Monate ermittelte die Polizei- tel, Flurverräter und gierige Stromzocker, Es ist nicht nur die Ökologie – wo-
direktion Sigmaringen. Kriminaltechni- die noch das letzte Fleckchen Heimat der möglich entpuppt sich die Abkehr von
ker inspizierten die Baumstämme auf Energiewende opfern. der Offshore-Windenergie auch wirt-
Spuren von Steigeisen. Auch die Bürger- Richtig ist, dass Wildwuchs herrscht. schaftlich als Irrweg: Auf dem Meer
initiative geriet unter Verdacht, die ört- 35 Prozent Ökostrom wollte die Regie- kann ein Rotor 4500 Volllaststunden im
Jahr schaffen. An der Küste sind es 3000.
Übers Ziel hinaus 85 Im Binnenland gilt ein Standort schon
80 80 dann als gut, wenn er 1800 Stunden
Installierte Windkraft-Leistung bringt.
in Deutschland, in Gigawatt Aktuelle Die Anlagen, die man jetzt vom Erz-
Planungen
der Länder 60
gebirge bis zum Bodensee errichtet, sind
noch schlapper. Statistiken zeigen, dass
die Rotoren im Süden deutlich weniger
45
Strom erzeugen als prognostiziert. Der
40 größte Windpark Baden-Württembergs,
31,2 850 Meter hoch im Nordschwarzwald ge-
legen, floppt seit Jahren.
18,3 20 Ein „Riesenschwindel“ sei da im Gan-
Zielvorgabe ge, meint der Besigheimer Wirtschafts-
6,1 der Bundes-
prüfer Walter Müller, 65, der früher für
regierung
0 die Treuhand die Bilanzwerte ostdeut-
2000 2005 2012 2020 2050 scher Pleitekombinate ermittelte. Heute
sieht sich der 150-Kilo-Mann mit dersel-
liche Polizei schaltete das Bundeskrimi- rung bis zum Jahr 2020 erreichen. Doch ben Härte die Geschäftsabschlüsse der
nalamt ein. In Wiesbaden untersuchten die Länder haben im Übereifer schon so Windparkbetreiber an.
die Beamten, ob die Fotos von dem viele Flächen ausgewiesen, dass man auf Sein Urteil: alles Lug und Trug. Die
Horst nur Montagen seien. Dafür fand 80 Prozent käme. von den Betreibern beauftragten Wind-
sich ebenfalls kein Beleg. Anstatt die Brummer auf Industriebra- gutachter würden Gegenden mit lauer
Die Windkraftgegner von Ketten- chen zu verbannen oder sie entlang von Brise zuweilen zu „windhöffigen“ Topla-
acker haben inzwischen eine weitere ge- Autobahnen aufzustellen, werden sie kle- gen aufhübschen. Und: „Kleinanleger
schützte Spezies gefunden, um die sie ckerweise über anmutige Bergpanoramen werden scharenweise mit Gewinnverspre-
sich nun liebevoll kümmern: Fledermäu- oder an Seenplatten verteilt. Das ist we- chen in geschlossene Windparkfonds ge-
se. In den vergangenen Wochen sam- nig durchdacht. lockt, die nicht genug Energie erzeugen“,
melten die Mitglieder im Dorf Spenden Was die Gegner aber am meisten meint er. „Am Ende ist das eingezahlte
für spezielle Kästen. „Die ersten zehn schockt, ist der großflächige Angriff auf Kapital aufgezehrt.“
hängen schon im Wald“, sagt die Vor- den Wald. Der nordische Tann, der große Keine Frage: Die großen Räder, die ge-
sitzende Birgit Steinhart, „bald können Zauberort und Gemütsraum der Roman- dreht werden, um das Klima zu schützen,
wir weitere bestellen.“ Die neuen Quar- tik, die Heimstatt von Esche und Eiche – laufen nicht rund. Das größte Infrastruk-
tiere könnten nun Fledermäusen eine all das ist durch das Lockern der Vor- turprojekt der Republik steckt im Schla-
Heimat bieten. schriften in Gefahr. massel. Alle wollen weg vom Atom. Nur,
Wenn diese nachtaktiven Säugetiere Vom Odenwald bis zu den Birkenhai- um welchen Preis?
erst einmal sesshaft geworden sind, dürf- nen Mecklenburgs drängen Monster- Selbst Baden-Württembergs grüner
ten Windräder nur noch unter strengen trucks ins Gehölz vor. Nordrhein-Westfa- Landesvater Winfried Kretschmann gibt
Auflagen genehmigt werden – wenn lens Umweltminister Johannes Remmel sich zerknirscht. Aber er bleibt entschlos-
überhaupt. MICHAEL FRÖHLINGSDORF, (Grüne) hat angekündigt, dass er gern sen: „Es führt kein Weg daran vorbei, die
SIMONE KAISER rund 2000 Rotoren in die Wälder stellen Landschaft auf diese Weise zu verschan-
möchte. Auch Hessen will Tausende deln.“
Hektar abholzen. Ob er richtigliegt? MATTHIAS SCHULZ

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 105
Technik

schenrechner, der aussah wie die Kreu-


zung aus einer Pfeffermühle und einer
Handgranate, patentieren.
Nun hätte eigentlich eine Erfolgsstory
beginnen können, doch wenige Monate
nach dem Gang zum Patentamt mar-
GESCHICHTE schierten die Nazis in Österreich ein und
annektierten die Alpenrepublik. Herz-

Vergessener stark durfte sein Wiener Unternehmen


nur behalten, weil seine Mutter Katholi-
kin war. Doch seine Firma musste von

Meister nun an Präzisionsinstrumente für deut-


sche Panzer bauen; der Minirechner blieb
zunächst nur Theorie.
Im KZ tüftelte ein Wiener Dann geriet er mit einem hochrangigen
Ingenieur an dem ersten Gestapo-Mann in Streit, der zwei seiner
Taschenrechner der Welt. Nach Mitarbeiter wegen angeblicher Spionage
verhaften ließ – mit dem Ergebnis, dass
dem Krieg profitierten Herzstark ins KZ kam. Ausgerechnet un-
andere von seiner Erfindung. ter den unmenschlichen Bedingungen des
Lagers in Buchenwald nahm der mecha-
nische Taschenrechner ab 1943 konkre-
tere Gestalt an. Doch die Befreiung von
der Nazi-Diktatur – von den geschunde-
nen Inhaftierten herbeigesehnt – beende-
te auch diese Bemühungen.
Nach Kriegsende zurück in Wien, muss-
te Herzstark erst einmal feststellen, dass
während seiner Lagerhaft sein Bruder
Ernst im Familienbetrieb das Kommando
übernommen hatte. Der war in den drei-
ßiger Jahren vor allem als veritabler
Tontaubenschütze und Besitzer repräsen-
tativer Automobile in Erscheinung ge-
treten.
„Er war nicht besonders kenntnisreich“,
Erfinder Herzstark mit Rechenmaschine „Curta“ 1952 urteilte Herzstark über seinen jüngeren
Bruder. Mit ihm mochte der begnadete
Ingenieur sein wertvolles Patent deshalb

S
ein Schicksal schien besiegelt. 1943 revolutionäres Design: Zu einer Zeit, als nicht teilen. Bei der Auswahl seiner künf-
wurde der Ingenieur Curt Herzstark Buchhalter und Kontorbesitzer monströ- tigen Geschäftspartner zeigte Herzstark
von den Nazis in das Konzentra- se Zahlenkolonnen mit kiloschweren dann aber auch keine glückliche Hand.
tionslager Buchenwald verschleppt. Doch Büromaschinen oder dem Bleistift bewäl- 1948 ging der kleinste mechanische Rech-
dann bot sich dem Sohn eines jüdischen tigen mussten, überraschte er die Fach- ner zwar tatsächlich unter dem Namen
Fabrikanten unverhofft die Möglichkeit, welt mit einem kleinen, eleganten Appa- „Curta“ in Serie – nur für Herzstark war
ein Arier zu werden. rat, der die vier Grundrechenarten be- das kein Grund zum Feiern.
„Sehen Sie mal, Herzstark“, sagte einer herrschte und in jede Kitteltasche passte. Geschäftsleute, die mit dem Fürsten-
der Lagerleiter zu ihm, „wir wissen, dass Tatsächlich aber wurde der Hochbegab- haus in Liechtenstein kooperierten, hat-
Sie an einer Rechenmaschine arbeiten. te zu einem der größten Pechvögel der ten den arglosen und zeitweilig schwer
Wir erlauben Ihnen, Zeichnungen anzu- Technikgeschichte. Nun will Herbert Bru- von Tuberkulose Geschwächten nach al-
fertigen. Wenn das Ding etwas taugt, derer, ein Experte für die Geschichte der len Regeln der Kunst über den Tisch ge-
schenken wir es dem Führer nach dem Informatik an der ETH Zürich, den ge- zogen. Statt gleichberechtigter Mitinha-
Endsieg. Dafür macht er Sie sicher zum nialen Herzstark aus dem Vergessen ho- ber der Rechenmaschinen-Fabrik zu wer-
Arier.“ len. Der Historiker hat sich im Laufe sei- den, durfte der Ingenieur alsbald kaum
Tatsächlich ging der Ingenieur den Pakt ner Forschungsarbeit tief hineingegraben mehr in die Produktion eingreifen.
mit dem Teufel ein. Nacht für Nacht fer- „in dieses traurige Leben“. Nach zermürbenden Grabenkämpfen
tigte Herzstark nach der täglichen Dabei hatte alles recht hoffnungsvoll ließ sich Herzstark 1952 mit einer lächer-
Zwangsarbeit im Lager detaillierte Kon- angefangen. Herzstark gelang, woran vie- lich geringen Summe ausbezahlen. Der
struktionspläne für die kleinste mechani- le Techniker vor ihm gescheitert waren: mechanische Taschenrechner blieb sein
sche Rechenmaschine der Welt an. Zur Er löste das Rätsel, wie man die unter- Opus magnum, ein weiterer großer Wurf
Motivation erhielt er Sonderrationen – schiedlichen Staffelwalzen für die einzel- gelang ihm bis zu seinem Tod 1988 nicht
und überlebte schließlich das KZ. Der nen Rechenarten in einem winzigen Ge- mehr.
Endsieg indes blieb aus, Hitler kam nicht häuse unterbringen kann. Der Tüftler be- Das Ende der „Curta“ kam ziemlich
mehr in den Genuss der Erfindung. half sich mit radikaler Vereinfachung. abrupt mit dem Beginn einer neuen Ära:
Nach Kriegsende hätte Herzstarks Le- Ihm glückte eine Konstruktion, in der Als im Jahr 1972 auf den ersten elektro-
ben eigentlich in Ruhm und Reichtum etwa die Walze für die Additionen auch nischen Taschenrechnern die roten und
münden müssen, denn der Tüftler aus die Subtraktionen rechnen konnte, wenn grünen LED-Ziffern aufleuchteten, wurde
Wien war eine Art Steve Jobs des Mecha- man nur einen Hebel verstellte. 1938 ließ der mechanische Minicomputer aus Wien
nikzeitalters. Seine Schöpfung hatte ein sich Herzstark seinen mechanischen Ta- nicht mehr gebraucht. FRANK THADEUSZ

106 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Wissenschaft

bereits gemeldet worden – mehr als die den dem Berliner Landesamt für Gesund-
MEDIZIN Hälfte der Erkrankten war über 20 Jahre heit drei Masernfälle gemeldet; das Alter
alt. Jeder dritte musste sogar ins Kran- der Betroffenen: 20, 41 und 45 Jahre.

Tage ohne kenhaus. Weltweit sterben an den Masern


jedes Jahr 140 000 Menschen.
„Wenn wir bundesweit eine Durchimp-
„Da wurden wir sehr aufmerksam“,
sagt Jörg Bätzing-Feigenbaum, Leiter der
Fachgruppe Infektionsschutz/Infektions-

Bewusstsein fungsrate von über 95 Prozent hätten“,


sagt die Virologin Annette Mankertz, Lei-
terin des Nationalen Referenzzentrums
epidemiologie. Einer seiner Mitarbeiter
ging den Fällen nach: Alle drei waren
Messebesucher gewesen. Auch Mitarbei-
Die Kinderkrankheit Masern, Mumps, Röteln am Berliner ter der umliegenden Hotels hatten sich
Masern bricht immer häufiger bei Robert Koch-Institut, „dann würde die In- angesteckt – und gaben die Viren an ihre
Erwachsenen aus – die fektionskette automatisch nach einigen we- Familien weiter. Die Zahl der Fälle schoss
nigen Ansteckungsfällen abbrechen. Aber in die Höhe. „Diese Art von Ausbrei-
Eindämmung der gefährlichen weil in Deutschland zu wenige Menschen tung“, warnt Bätzing-Feigenbaum, „stellt
Viren wird damit erschwert. geimpft sind, schaffen wir es einfach nicht, eine neue Dimension dar.“
die Ausbrüche in den Griff zu bekommen.“ 28 der in Berlin Erkrankten sind sogar

M
uskeln wie aus Pudding, die Stim- Dass das Virus zunehmend unter Er- vor 1970 geboren – und gehören damit
me tief und rau, fünf Kilo weni- wachsenen grassiert, macht die Eindäm- zu jenen Jahrgängen, die nach Experten-
ger auf der Waage: Julian Ko- mung noch schwieriger, wie der aktuelle meinung die Masern als Kinder durchge-
watsch hat gerade eine schwere Infektion Ausbruch in Berlin zeigt: Bis vorigen Frei- macht haben und deshalb immun sind.
überstanden. Zunächst recht harmlos hat- tag waren bereits 403 Fälle gemeldet – Weil das jetzt als zweifelhaft erscheint,
ten sich die Viren in sein Leben geschli- über das gesamte Stadtgebiet verstreut. hat die Berliner Senatsverwaltung die
chen. „Vor drei Wochen hatte ich plötz- Zwei Ausbrüche 2010 und 2011 unter weit- Empfehlung der Ständigen Impfkommis-
lich leichte Gliederschmerzen, am nächs- gehend ungeimpften Kindern an Waldorf- sion, alle nach 1970 Geborenen mit un-
ten Tag fing das Halsweh an“, erzählt er. schulen in Steglitz-Zehlendorf und Rei- klarem Masernschutz zu impfen, sogar
Es folgten Tage mit über noch einmal ausgeweitet: Ab
40 Grad Fieber, Hustenanfälle sofort rät sie allen Berlinern
wie bei einer Lungenentzün- mit unklarem Impfstatus zur
dung, Ausschlag am ganzen Immunisierung.
Körper, Nächte ohne Schlaf, Eine hohe Impfquote, die
Tage ohne Bewusstsein. „Dar- die Ausbreitung der Krank-
an, dass ich mich eine ganze heit verhindern kann, ist
Nacht lang übergeben musste, dabei vor allem auch zum
kann ich mich gar nicht mehr Schutz der Schwächsten
erinnern“, sagt er. Seine Mut- wichtig: der Säuglinge. Ge-
ter hat es ihm erzählt. impft werden sollen sie erst
Weil früher nur die Klei- mit elf Monaten, bis dahin
nen daran erkrankten, gelten muss der immunologische
Masern als Kinderkrankheit. „Nestschutz“ der Mutter rei-
CENTRE FOR INFECTIONS / PUBLIC HEALTH ENGLAND / SPL / AGENTUR FOCUS

Doch Julian Kowatsch ist chen. Doch weil die Mütter


schon lange kein Kind mehr – oft selbst nicht immunisiert
und hat sich trotzdem infi- sind, wird dieser Schutz im-
ziert. Der 23-Jährige studiert mer löchriger.
Wirtschaftsingenieurwesen in Auch Kinderarztpraxen
München. Angesteckt hat er und Krankenhäuser gelten
sich beim Freund seiner älte- deshalb inzwischen für Säug-
ren Schwester. Und die hat linge als Masern-Risikogebie-
es sogar noch schwerer er- te. Erst kürzlich starb ein
wischt als Julian. Junge, der sich in einer Kin-
Erwachsene, die an Ma- derarztpraxis angesteckt hat-
sern erkranken – das ist hier- te, an einer Spätfolge seiner
zulande keine medizinische Masernerkrankung. Und an
Rarität mehr. Während bei der Berliner Charité sorgte
den heute eingeschulten Jahr- der Fall eines Kindes für Auf-
gängen die Durchimpfungs- sehen, das sich bei einem
raten immerhin bei rund 93 Masernvirus*: Neue Dimension der Ausbreitung Arzt angesteckt hatte. Erste
Prozent liegen, stecken sich Experten fordern deshalb
andererseits vermehrt Jugendliche und nickendorf hingegen ließen sich noch mit jetzt einen Impfzwang für bestimmte Me-
junge Erwachsene an: Es sind die Spröss- Quarantänemaßnahmen wie vorüberge- diziner.
linge fanatischer Impfgegner oder gleich- henden Schulverboten nach rund 60 Fäl- Die wichtigste Maßnahme zur Virenab-
gültiger Impfmuffel früherer Jahre, die len stoppen. wehr bestünde jedoch darin, alle unge-
häufig die wichtige Zweitimpfung bei Wie eine Virenschleuder wirkte jetzt impften Jugendlichen und jungen Erwach-
ihren Kindern versäumten. Und es trifft jedoch Anfang Februar die Obst- und senen dazu zu bewegen, sich nachträglich
Menschen wie Julian, die als starke Aller- Gemüsehändler-Messe Fruit Logistica. immunisieren zu lassen. Die Kinderärztin
giker nicht geimpft werden konnten. Mehr als 58 000 Besucher aus 130 Ländern Brigitte Dietz aus München hat dafür ein
So breitet sich in ganz Deutschland der- drängten sich auf dem Messegelände pragmatisches Modell gefunden: Sie impft
zeit das aus Südostasien stammende Ma- in Charlottenburg. Kurz danach wur- die Eltern ihrer kleinen Patienten am liebs-
sernvirus vom Typ D8 aus. Über 900 Fälle ten gleich mit. VERONIKA HACKENBROCH,
sind dem Robert Koch-Institut dieses Jahr * Kolorierte Elektronenmikroskopaufnahme. ANNA KISTNER

D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 107
Szene

FERNSEHEN

Der zaudernde Oberst


Es war die wohl schwierigste Entscheidung, die ein deut-
scher Offizier seit dem Zweiten Weltkrieg zu treffen hatte,
und sie kostete weit über hundert Menschen, darunter
viele Kinder, das Leben. In der Nacht vom 3. auf den
4. September 2009 gab Oberst Georg Klein nahe der nord-
afghanischen Stadt Kunduz den Befehl, zwei Tanklast-
züge zu bombardieren, die von Taliban-Kämpfern entführt
worden waren. Der Fernsehfilm
„Eine mörderische Entscheidung“,
der in dieser Woche auf dem Film-
fest München Premiere hat, rekon-
struiert die Ereignisse in Form eines
Doku-Dramas (Sendetermine: 30.
August, Arte; 4. September, ARD).
Regisseur Raymond Ley hat mit
Hinterbliebenen der Opfer, mit
NDR

Eltern eines gefallenen deutschen


Brandt als Oberst Klein Soldaten sowie mit Politikern und
Journalisten gesprochen. Die bewe-
genden Schilderungen der Zeitzeugen schneidet Ley gegen
eine Spielhandlung, in der Matthias Brandt den Oberst
als farblosen, überforderten Befehlshaber spielt. Die nach-
gestellten Szenen basieren teilweise auf Gesprächsproto-
kollen, im angestrengten Bestreben um Authentizität wir-
ken sie ganz besonders künstlich. Immer in Gefahr, sich
in seiner Materialfülle zu verlieren, zeigt Ley, wie Klein
durch Fehleinschätzungen seiner Berater und den Willen,
Stärke zu demonstrieren, zu der fatalen Entscheidung ver-
leitet wurde. Sein Versagen erscheint eher tragisch als
mörderisch, wie der Titel des Films behauptet. Ein Inter-
view hat Klein für den Film nicht gegeben. Ende März
Szene aus „Eine mörderische Entscheidung“
NDR

wurde er zum Brigadegeneral befördert.

KINO IN KÜRZE Notlandung gezwungenen Interkontinentalfliegers erzählt. Die


Billigpassagiere werden mit Schlafmitteln betäubt, während
„Fliegende Liebende“. Knallbonbonbunter Schwuchtel- im Cockpit und in der Business-Class diverse Männer (und ver-
kino-Spaß des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar, der einzelt auch Frauen) Hemmungen und Kleider ablegen, Drogen
hier in grellen Pappkulissen von einer total verrückten Flugzeug- einwerfen, absurde Tänze aufführen und per Telefon ihre
besatzung an Bord eines wegen technischer Probleme zur Lieben zu Hause in Aufregung versetzen. In Nebenrollen sind
Penélope Cruz und Antonio Banderas dabei. Die wirklichen
Stars in diesem Klamauk aber sind die drei Schauspieler Carlos
Areces, Javier Cámara und Raúl Arévalo, die hier die Herren
Stewards spielen: drei Saftschubsen am Rande des Nerven-
zusammenbruchs.

„Taffe Mädels“ handelt von zwei Frauen, die sich durch


eine Männerwelt kämpfen, ist aber weniger ein Plädoyer pro
Quote als pro Zote. Regisseur Paul Feig („Brautalarm“) zeigt
Sandra Bullock und Melissa McCarthy als Ermittlerinnen, die
gegen ein Drogensyndikat vorgehen und dabei auf Schritt und
Tritt Kastrationsängste auslösen. Scherze wie Waffen zielen
vor allem auf den männlichen Unterleib, die Hand-
lung ist gespickt mit kleinen Gemeinheiten. Derb,
geschmacklos und oft amüsant zeigt die Komödie,
TOBIS

wie ihre Heldinnen triumphierend über das wenige


Cámara, Arévalo, Areces in „Fliegende Liebende“ hinwegsteigen, was vom Manne übrig blieb.

110 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Kultur

T H E AT E R
Perfume-Auftritt

Ruinöse Steuer?
Wessen Arbeit ist künstlerisch wertvol-
ler, die eines Regisseurs oder die sei-
nes Bühnenbildners? Theaterregisseu-
re sind nach deutschem Steuerrecht
vollwertige Künstler und dürfen ihr
Honorar zum ermäßigten Umsatzsteu-
ersatz von 7 Prozent versteuern; Büh-
nenbildner aber nicht, sie gelten vieler-
orts als Dienstleistende und müssen
19 Prozent Steuern auf ihr Honorar be-
zahlen. Weil einige Finanzämter in
Deutschland nach genau dieser Maßga-

CHRISTOPHER JUE / AFLO / NIPPON NEWS / CORBIS


be ihre Bescheide verschicken, haben
sich 130 freischaffende Bühnen- und
Kostümbildner unter dem Motto „Auf-
tauchen und Szene zeigen“ versam-
melt und einen Appell an die deut-
schen Finanzbehörden verfasst, die in
manchen Fällen bis zu sechs Jahre
rückwirkende Nachforderungen gegen
Angehörige ihres Berufsstands ver-
schickt haben. Die Nachbesteuerung
auf 19 statt 7 Prozent wird, so heißt es
im Papier, als „ruinös und existenz- POP
bedrohend“ angesehen. Das Vorgehen
hält auch Klaus Staeck, Präsident der
Berliner Akademie der Künste, für un-
gerecht und hat deshalb gemeinsam
Neues aus der Parallelwelt
mit dem Schauspieler Ulrich Matthes, Ausgerechnet in der Welt des Pop funktioniert die Globalisierung nicht immer
dem Chef der Akademie-Sektion für reibungslos. Oder kennt jemand die Mädchengruppe Perfume? Nein, niemand?
Darstellende Kunst, einen Brief an Millionen Japaner schon. Perfume ist laut Werbung der Plattenfirma „eine der
den Hamburger Finanzsenator Peter populärsten Bands in Japan“. In ihrer Heimat sind die drei jungen Frauen von Per-
Tschentscher geschrieben. „Mit großer fume schon im ausverkauften Tokyo Dome aufgetreten, vor 50 000 kreischenden
Sorge“ stellen die beiden fest, dass Zuschauern. Natürlich moderieren sie auch eine Fernsehshow. Und sie machen,
gerade von den Hamburger Finanzäm- was in Japan als Qualitätsmerkmal gilt, Werbung für Konzerne wie Sega, Nintendo,
tern freischaffende Bühnen- und Kos- Sharp, Nissan und Pepsi. Als die Mädchen Kashiyuka, Nocchi und A-chan mit ih-
tümbildner „nicht als Künstler aner- rer Band in Hiroshima anfingen, waren sie noch Kinder, der Durchbruch kam im
kannt werden“ – und bitten um eine Jahr 2007. Ach so, die Musik: aufgekratzter, sehr japanisch klingender Techno-Pop,
verbindliche Zusicherung des günstige- die Live-Auftritte sollen spektakulär sein und nichts mit dem zu tun haben, was
ren Steuersatzes für ihre Klientel mit man in der westlichen Popwelt unter Konzert versteht. Am Mittwoch dieser Woche
dem Argument: „Es geht um den wird man sich davon bei einem von drei Europakonzerten in Köln überzeugen
Schutz der international herausragen- können. Die Show ist übrigens ausverkauft, was bedeutet, dass rund tausend Deut-
den deutschen Theaterlandschaft.“ sche Perfume doch schon kennen.

AU S ST E L LU N GE N
gesucht, die eine Gemeinsamkeit
aufweisen: Die Gesichter auf
den Werken sind nicht zu erken-
Gesichtsverlust nen. Mal drehen sich die Mo-
delle vom Betrachter weg, mal
Zum Schutz, zur Tarnung oder verstecken sie ihren Kopf hinter
bloß zum Vergnügen – es gibt Schleiern, Helm oder Mütze.
viele Gründe, warum jemand Der deutsche Fotograf Thorsten
sein Gesicht hinter einer Maske Brinkmann spielt in seinen
verbirgt. Der Künstler Bogomir Selbstporträts mit dem Thema
Doringer hat für die Ausstellung Gesichtsverlust; andere Werke
„Faceless part 1“, die am Don- zeigen, wie Burkas und Kopf-
NEZAKET EKICI

nerstag dieser Woche im Muse- tücher die Persönlichkeit der


umsquartier in Wien beginnt, Trägerinnen beinahe zum Ver-
rund hundert zeitgenössische schwinden bringen können.
Werke aus Kunst und Mode aus- Videokunst „Gravity“ von Nezaket Ekici, 2007 (Bis 1. September.)
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S TÄ D T E B AU

Pinguine in der Wüste


Der Dortmunder Architekt Eckhard Gerber entwirft für Saudi-Arabien repräsentative
Gebäude. Macht er sich damit zum Handlanger eines absolutistischen
und frauenfeindlichen Regimes? Eine Reise unterm Schleier. Von Susanne Beyer

Neue Nationalbibliothek in Riad

D
ie Lufthansa-Maschine ist im Sink- „Haben Sie einen schwarzen Umhang, baut, zwei Bildungszentren sind noch
flug, noch 43 Minuten bis zur eine Abaja?“ im Bau, eine U-Bahn-Station und ein
Landung, wir fliegen auf 9296 Me- „Fährst du nach Saudi-Arabien? Da „Schmetterlingsdom“: eine begehbare
ter Höhe. brauchst du mehr.“ Glasblase mit tropischem Klima, in der
Ich hole die schwarze Kleidung aus mei- Der Marokkaner kramte in seinen Kör- Schmetterlinge herumfliegen.
ner Tasche und schließe mich auf der ben: Kopftuch, schwarzer Schal und Stul- Architekten, die große Büros betreiben,
Bordtoilette ein. Das Licht ist kalt und pen für die Unterarme – „die Menschen versuchen im Ausland zu bauen. Das hat
hart. Ich ziehe den bodenlangen Umhang dort freuen sich, wenn du Respekt zeigst“. viele Gründe. Die Baubranche war in den
an, streife eine schwarze Mütze über den Viel Kleidung, viel Respekt. Jahren nach der Wiedervereinigung zu
Kopf, die Haare und Hals verdeckt und „Und nicht schminken, und kein Par- groß geworden, vor etwa 15 Jahren bra-
nur das Gesicht freilässt. Dann lege ich füm, es wäre nicht höflich. Und schon im chen die Aufträge weg, im Nahen und
das Tuch um. Flugzeug umziehen. Geh in die Toilette, Fernen Osten aber gibt es viel zu tun.
Die Kleidung habe ich vor ein paar Ta- und werde ein anderer Mensch.“ Und in Deutschland sitzen Wutbürger auf
gen in Hamburg gekauft, in der Nähe des Vorn in der Business-Class sitzt der Bäumen über den Baustellen, und Politi-
Hauptbahnhofs. Prostituierte standen auf Mann, um den es in dieser Geschichte ker sprechen bei öffentlichen Bauprojek-
dem Gehweg, an Sex-Bars blinkten Neon- geht. Er ist Architekt, heißt Eckhard ten sehr viel mit.
lichtherzen, schräg gegenüber einer Mo- Gerber, 74 Jahre alt, betreibt Büros in Aber sind das Gründe, Repräsenta-
schee liegt das Geschäft, das von einem Dortmund, Berlin und Hamburg, 120 Mit- tionsbauten in Ländern zu errichten, die
Marokkaner betrieben wird, der seine arbeiter. keine Demokratien sind?
Kundinnen duzt. In Riad, der Hauptstadt Saudi-Ara- Die Leute in seiner Firma sagen,
„Was hast du im Herzen?“, fragte er. biens, hat er die Nationalbibliothek ge- Gerber sei ein besonders fairer Arbeit-
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Kultur

geber, und in Saudi-Arabien habe er eine Auch die Architektin wirkt durch die
Frau als Bauleiterin zweier Projekte ein- Abaja verändert. Vor ein paar Stunden,
gesetzt. als wir in Frankfurt ins Flugzeug stiegen,
Gerber hat das deutsche Ringen um hatte sie einen kurzen Rock an, schön
die Demokratie erlebt, geboren 1938 in und schlicht war sie gekleidet, und das
der Nazi-Zeit, aufgewachsen in der DDR, ließ Rückschlüsse zu, für welche Art von
Abitur im thüringischen Apolda 1957, Stil sie steht. In ihrem Beruf nicht ganz
Abitur in West-Berlin 1958. Gelitten, sagt unwichtig.
Gerber, habe er an der Unfreiheit, und Es gibt sie bestimmt auch hier in Riad,
seit seiner Flucht empfinde er die Freiheit die Zeichen, mit denen Menschen zeigen,
als Geschenk, jeden Tag. wer sie sind oder sein wollen. Aber wel-
Ausgerechnet Gerber, Demokrat, Frei- che sind das? In der Ankunftshalle tragen
heitspatriot, Frauenförderer, baut für eine ein paar Frauen Chanel-Taschen, eine hat
absolute Monarchie, für ein frauenfeind- Rüschen an der Abaja: schwarze Rüschen
liches Regime, für eine Politik, die Kultur auf schwarzem Grund.
offenbar als Bedrohung empfindet: In Wir reihen uns ein in das schwarzweiße
Saudi-Arabien sind Kino und Konzerte Meer. Männer weiß, Frauen schwarz, ein
verboten. Das Auswärtige Amt meldet paar Europäer in ihrer üblichen Kleidung.
auf seiner Website, die Saudi-Araber ver- Männliche Gäste müssen sich nicht um-
weigerten den Frauen „wesentliche Men- ziehen.
schenrechte“. Die Schlange, in der die Frauen stehen,
Das Flugzeug ist gelandet. Aussteigen bewegt sich schneller vorwärts. Die Män-
mit der Abaja, mit einem Kopftuch, das ner in unserer Reisegruppe erklären, wor-
rutscht, aussteigen als anderer Mensch. an das liegt: Damit wollten die Saudi-
Es ist eine komplizierte Reise. Journalis- Araber zeigen, dass Frauen geschützt
ten sollten versuchen, ihren Gesprächs- würden. Auch der Schleier gelte in dieser
partnern auf Augenhöhe zu begegnen, Kultur als Schutz. Gerber sagt: „Ich weiß,
wie wird das gehen – verschleiert? Es gibt wir können das kaum verstehen.“
kaum Touristenvisa und nur einge- Nach der Kontrolle würde ich norma-
schränkt Visa für Geschäftsreisende, für lerweise einen Mietwagen holen, doch in
Journalisten und erst recht weibliche ist Saudi-Arabien dürfen Frauen kein Auto
es besonders schwer, ins Land zu kom- lenken. Ein Architekt aus Gerbers Team
men. Ich habe allerdings ein Regierungs- fährt uns durchs nächtliche Riad, Wüsten-
visum, es fühlt sich fast an wie ein Staats- wind, Sand in der Luft. Rechts liegt die
besuch. Sind Gäste einer Regierung frei erste Frauenuniversität des Landes. Der
zu sagen, was sie denken? Campus ist von einer hohen Mauer um-
In der Ankunftshalle steht Eckhard schlossen.
Gerber und sagt: „Habe Sie gar nicht er- König Abdullah versucht, mehr Rechte
kannt.“ für Frauen durchzusetzen. Er versucht
Gerber hat zwei Kollegen aus seinem gleichzeitig, die religiösen Fundamen-
Berliner Büro mitgebracht, eine Frau, ei- talisten nicht gegen sich aufzubringen.
nen Mann, Architektin und Architekt, die Abdullah kam im selben Jahr an die
Frau ist jetzt auch verschleiert. Sie hat Regierung wie Merkel, 2005. Deutsch-
CHRISTIAN RICHTERS

ihre Abaja in der Berliner Sonnenallee land und Saudi-Arabien sind wichtige
gekauft, erzählt sie. Die Sonnenallee Handelspartner. Es gibt ein Foto von Mer-
wurde zu DDR-Zeiten durch die Mauer kel, Gerber und dem König bei einem
geteilt. Empfang.
Wenn die Bundeskanzlerin und der
König den Handel wollen, ist es dann be-
rechtigt zu fragen, ob Architekten hier
bauen sollten? Gerber findet, Kritik sei
unberechtigt. Er sagt: „Ich komme aus
der DDR und will Saudi-Arabien nicht
mit der DDR gleichsetzen, ich will nur
sagen, was mich geprägt hat: Willy
Brandts Ostpolitik, Wandel durch An-
näherung.“
Wir fahren zur Nationalbibliothek. Ein
Palästinenser führt durchs Gebäude, er
ist Bauleiter und Angestellter der Saudi
Binladin Group, eines Baukonzerns, den
der Vater des Terroristen Osama Bin
Laden gegründet hat.
Der Palästinenser spricht englisch mit
den Bauarbeitern in der Bibliothek, die
Arbeiter kommen aus Pakistan, Sri Lanka
DER SPIEGEL

und Indien. Englisch ist überall in der


Stadt zu hören. Es gibt auch Shopping-
Architektin Jasmin Dieterle, Bürochef Gerber, Redakteurin Beyer: Im schwarzweißen Meer malls und McDonald’s-Filialen. Das Ver-
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 113
hältnis Saudi-Arabiens zu den USA gilt
als ambivalent.
Die Fassade der Bibliothek ist schön.
Tausend weiße Segel sind um ein Glasge-
bäude gespannt. Die Segel sollen im In-
nern Schatten spenden, sie sind auch eine
Anspielung auf die Beduinenkultur.
Im Innern des quadratischen Neubaus
steht ein älteres Gebäude, es ist die frü-
here Nationalbibliothek, die vor 40 Jah-
ren mit traditionellen Elementen gebaut
worden ist und erhalten bleiben soll. Die
Gerber-Leute haben bei ihrem Entwurf
an die verschleierten Frauen gedacht, an
diese Idee, die im arabischen Raum ver-
breitet ist, dass ein Schleier etwas Wert-
volles schützt und aufwertet. Sie haben
den Neubau um den Altbau herumge-
ARABIANEYE / AGENTUR FOCUS

baut, haben ihn umhüllt.


Wie ist das gemeint: ein Schleier als
Aufwertung? Hinter dem Schleier werden
Frauen zum Typus. Die Architektin und
ich sind, wohin wir auch gehen, die ein-
zigen Frauen. Ständig werden wir ver-
wechselt. In unserer Reisegruppe haben Metropole Riad: Der Sprung in die Zukunft und die Suche nach der Vergangenheit
wir einen Spitznamen: Pinguine. Wir la-
chen darüber, es ist ja nicht für immer.
Für uns ist es nicht für immer.
Wir sind durch den Haupteingang in
die Bibliothek gegangen. Im November,
wenn die Bibliothek eröffnet sein wird,
darf ich hier nicht mehr durchgehen. Dies
ist der Eingang für die Männer. Der Ein-
gang für die Frauen liegt auf der anderen
Seite des Gebäudes. Dort liegen auch die
Lesesäle für die Frauen. Frauentrakt,
GERBER ARCHITEKTEN

GERBER ARCHITEKTEN

Männertrakt.
Gerber sagt, es sei ein Fortschritt, dass
jetzt viel für die Bildung von Frauen ge- Geplanter Schmetterlingsdom Entwurf U-Bahn-Station
tan werde. „Das wird viel bewirken, das
geht doch gar nicht anders.“ König Ab-
dullah gibt fast ein Viertel des Staatshaus-
halts für Schulen und Universitäten aus,
zurzeit studieren 120 000 Männer und
Frauen mit einem Stipendium des Königs
im Ausland. Aber reicht eine Hoffnung
aus, um das hinzunehmen – Frauentrakt,
Männertrakt?
Eigentlich werden Häuser in Riad wie
Höhlen gebaut, sie sollen das Licht und
die Hitze abhalten. Deutsche Architekten
aber lieben Glas und Helligkeit des Bau-
hauses: klare Formen, Transparenz. Die
Transparenz des Bauhauses war immer
auch politisch gemeint, sie steht für die
Öffnung einer erstarrten Gesellschaft, das
Bauhaus entstand in Deutschland gleich-
zeitig mit der Weimarer Republik. Seit-
dem sehen sich Architekten als Antreiber
gesellschaftlichen Wandels. Gerber sagt:
„Wir entwerfen Bilder einer Gesellschaft.“
Neben der Bibliothek liegt ein Hoch-
haus, das der britische Architekt Norman
Foster im Jahr 2000 fertiggestellt hat, es
CHRISTIAN RICHTERS

gilt als der erste Wolkenkratzer Saudi-


Arabiens. Wir fahren auf die Aussichts-
plattform, um die Bibliothek von oben Nationalbibliothek
anzusehen. Der Fahrstuhl braucht 27 Se-
kunden. Gerber-Projekte in Riad: „Wir entwerfen Bilder einer Gesellschaft“

114 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Kultur

Auf der Plattform ist es windig, das darunter auch gewaltlose


schwarze Tuch weht ins Gesicht. Riad hat politische Gefangene, wur-
von hier oben eine Farbe, ein helles den geheim gehalten. Fol-
Ocker, die Farbe vieler Häuser und die ter und grob unfaire Ge-
des Sandes. Wird Riad diese Farbe richtsverfahren waren noch
verlieren, wenn überall Glasbauten ent- immer an der Tagesord-
stehen? nung. Gerichte verhängten
Im Nordwesten Riads wächst der erneut grausame, un-
King Abdullah Financial District, eine menschliche und erniedri-
gigantische Baustelle. Auf über andert- gende Strafen, die auch
halb Millionen Quadratmetern sollen, so vollstreckt wurden, vor al-
sagt einer der Bauleiter dort, in nur lem Auspeitschungen. Frau-
wenigen Jahren fast 100 Wolkenkratzer en und Mädchen wurden
entstehen, Büros für 45 000 Angestellte weiterhin sowohl durch
und Wohnungen für 12 000 Bewohner, die Gesetzgebung als auch
Fitnessstudios, Fünf-Sterne-Hotels und im täglichen Leben sehr
eine große Moschee, 40 internationale stark diskriminiert und er-

QUELLE: AMNESTY.ORG
Architekten sind beauftragt. Wenn das litten Gewalt. Eine Kam-
Viertel fertig sei, werde eine Sicherheits- pagne für Frauenrechte
firma es mit über 10 000 Kameras be- konnte sich etwas Gehör
wachen. verschaffen, was zu Fest-
Gerber hat hier ein Bildungszentrum nahmen führte, aber auch Enthauptung in Saudi-Arabien: Gesetz der Scharia
geplant und das Schmetterlingshaus. Die zu kleinen Fortschritten.
Bauherren vom saudi-arabischen Pen- Ausländische Arbeitsmigranten waren Gebäck. Die Teilnehmer verhandeln die
sionsfonds haben ihm keine Vorgaben ge- nach wie vor Ausbeutung und Misshand- Kosten, es scheint schwierig zu sein, sie
macht. „Machen Sie es, wie es am besten lungen durch ihre Arbeitgeber ausgesetzt, sind sich nicht einig.
ist“, so habe der Auftrag gelautet. Beim die in der Regel ungestraft blieben. Min- Hinterher wird Gerber sagen, dass es
Schmetterlingshaus bestand die Aufgabe destens 82 Gefangene wurden hingerich- das sei, woran er glaube: an die Ausein-
darin, einen Raum zur Erholung zu schaf- tet. Dies bedeutete einen drastischen An- andersetzung. Auseinandersetzung be-
fen. Gerbers fünfjähriger Sohn hat Freude stieg der Hinrichtungen gegenüber den deute Entwicklung auf beiden Seiten:
an hübschen Insekten, und so kam der beiden vorangegangenen Jahren.“ „Gebäude sind immer Ergebnis gemein-
Architekt auf die Idee. Es geht mit dem Auto durch die Stadt, samen Arbeitens.“
Bauherren in Deutschland gehen an- die Straßen sind voll. Gerber wird in Riad In einer Pause gehen die beiden ein-
ders vor: „Sie dürfen einen Architekten eine U-Bahn-Station bauen, sie soll ein heimischen Architekten in den Gebets-
nie frei laufen lassen, Sie müssen seine geschwungenes Dach mit Palmen bekom- raum, wir betrachten so lange in einem
Träume einfangen“, sagte Hartmut Meh- men. Die U-Bahn-Station ist eine der Vorraum Modelle der Bauprojekte, die
dorn, heute Chef des Berliner Skandal- ersten in der Fünf-Millionen-Einwohner- gerade in Riad entstehen. Eines davon
flughafens, in einem SPIEGEL-Gespräch. Stadt, bisher gibt es so gut wie keinen wirkt hermetisch, ein fast geschlossener
Hier oben vom Turm lässt sich die öffentlichen Nahverkehr. Quader.
Stadt überblicken, nordwestlich liegt an Die Fahrt geht ins Diplomatenviertel „Es soll das Gerichtsgebäude werden“,
einem Wadi, einem Flusslauf, der nur zu einem Treffen für den Bau der sagt Gerber, „wir haben uns am Wett-
manchmal Wasser führt, eine Siedlung U-Bahn-Station. Das Viertel wurde in den bewerb beteiligt, aber nicht gewonnen.“
mit alten Lehmhäusern. Die Siedlung siebziger Jahren angelegt, den Master- „Wer hat gewonnen?“
heißt Dirija, es war die Hauptstadt des plan hat der Frankfurter Stadtplaner „Albert Speer.“
ersten saudischen Staates, der 1744 ent- Albert Speer gemacht, das schönste Ge- Albert Speer hat vor 14 Jahren in ei-
stand. Baufachleute aus der ganzen Welt bäude des Viertels, den Tuwaiq-Palast, nem SPIEGEL-Gespräch über sich und
rekonstruieren mit Unterstützung der seinen Vater, Hitlers Architekten und
Unesco die alten Häuser mit Ziegeln aus Rüstungsminister, gesprochen. Speer hat
Stroh und Lehm. Die Frage, ob ein deutscher erzählt, wie es sei, ein Leben lang mit
Hier die Suche nach der Vergangenheit, Architekt ein Gericht den Verbrechen des Vaters in Verbindung
dort der Sprung in die Zukunft, Gerber gebracht zu werden, dass er einsehe,
wird in den nächsten Tagen auf beiden in Riad bauen sollte, ist dass es nun mal so sei, aber leicht sei das
Baustellen zu Gast sein, überall wird er nicht. Das kann man nachempfinden:
herzlich empfangen werden, er ist ein leicht zu beantworten. Niemand darf Kinder für die Taten der
gerngesehener Gast. Sie zeigen ihm das Eltern verantwortlich machen. Und doch
Gute, den Fortschritt. Gerber weiß, dass baute 1985 der Deutsche Frei Otto in Zelt- tragen nachfolgende Generationen Ver-
es nur ein Ausschnitt ist: „Von der an- form. Albert Speer und Frei Otto waren antwortung.
deren Seite Saudi-Arabiens hören wir Pioniere hier. Das Diplomatenviertel Zu der gehört auch, sich die Frage zu
immer nur.“ trägt die Farbe Riads. stellen, ob ein deutscher fortschrittlich
Amnesty International sammelt Fakten Am Tisch treffen die Architekten, In- denkender Architekt für Saudi-Arabien
über diese andere Seite, Jahr für Jahr. Im genieure und Finanzplaner, die an der Gerichtsgebäude entwerfen sollte. In Sau-
Saudi-Arabien-Report 2012 heißt es: „Ge- U-Bahn-Station arbeiten, auf zwei Ver- di-Arabien gilt das Gesetz der Scharia.
plante Demonstrationen wurden rück- treter des Bauherrn – eine Regierungsab- Homosexuellen droht die Hinrichtung,
sichtslos unterdrückt. Hunderte von Men- teilung, die für Architektur zuständig ist. Ehebrechern auch. Gerber sagt, auch in
schen, die sich an Protestaktionen betei- Zwei Saudi-Araber, ein Pole, ein Asiate, den USA werde die Todesstrafe vollzo-
ligten oder es wagten, sich für Reformen drei Engländer, ein Ire, drei Deutsche. gen. Niemand würde deutschen Architek-
auszusprechen, wurden festgenommen. Eine Uno in Kleinformat. ten vorwerfen, in den USA zu bauen.
Das Justizwesen war weiterhin undurch- Die Sitzung dauert Stunden, ein Paki- Die Vereinigten Staaten sind seit über
sichtig; Informationen über Häftlinge, staner serviert Tee und orientalisches 200 Jahren eine Demokratie. Ein Ver-
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 115
Kultur

gleich mit Saudi-Arabien führt zu nichts.


Die Frage, ob ein deutscher Architekt in
Saudi-Arabien ein Gerichtsgebäude bau-
en sollte, ist viel leichter zu beantworten.
Mit einem Nein.
Die Architekten im Sitzungsraum rech-
nen jetzt, in Dollar, in Euro, in Saudi-
Rial. Gerber sagt, dass Architekten immer
Unternehmer seien, 600 000 Euro müsse
er jeden Monat aufbringen, um seinen
Betrieb am Laufen zu halten. Es gehe ihm
aber beim Bauen um mehr als um das,
auch um den Wandel.
Es ist warm im Sitzungsraum, trotz Kli-
maanlage. Gerbers Architektin sagt, die
Saudi-Araber seien einverstanden, wenn
wir die Schleier jetzt ablegten, hier im
Gebäude sei das erlaubt.
Auf der Straße werden wir uns wieder
unter den Tüchern verstecken. Draußen
patrouilliert die Religionspolizei und ach-
tet auf die Kleiderordnung.
Später fahren wir noch einmal zur Bi-
bliothek. Wir wollen nachschauen, ob
schon etwas vom Wandel zu sehen ist.
Vor der Bibliothek haben Gerber und
seine Leute einen Platz geschaffen, 150
mal 150 Meter, ungewöhnlich für Riad,
wegen der Hitze flüchten alle immer in
Häuser, öffentliche Räume gibt es kaum.
Plätze aber eignen sich für Vergnügun-
gen – und für Proteste.
Tagsüber war der Platz leer, es herrsch-
ten 41 Grad. Nun, am Abend, ist es vier
Grad kühler, die Bibliothek ist voll er-
leuchtet, der Platz hübsch: zwei Rasen-
flächen, Palmen, ein ebenerdiger Spring-
brunnen, ebenfalls beleuchtet. Kinder
könnten darin spielen.
Es ist niemand da. Plötzlich tauchen
zwei Männer in weißen Gewändern auf,
einer der Architekten läuft los, um sie zu
fotografieren, doch sie verschwinden wie-
der. Vielleicht ist der Platz noch zu neu,
vielleicht sind alle auf dem Weg zum Ge-
bet, der Muezzin ruft schon.
Weil wir allein sind, ziehe ich meine
Schuhe aus. Der Marokkaner in Hamburg
hatte geschlossenes Schuhwerk empfoh-
len, auch das sei ein Zeichen von Respekt.
Geschlossene Schuhe sind unangenehm
bei der Hitze. Armstulpen übrigens auch,
ich habe sie nie getragen. Ich steige in
den Brunnen und schaue auf die Biblio-
thek. Von hier aus ist der Eingang für die
Männer zu sehen.
Es seien nur ein paar Handgriffe, „ganz
einfach“, so haben die Architekten er-
klärt, um den Frauentrakt und den Män-
nertrakt zusammenzulegen.
Weit weg weht die grüne Flagge Saudi-
Arabiens mit dem Glaubensbekenntnis
des Islam. Darunter ist ein Schwert ab-
gebildet, es soll Gerechtigkeit symboli-
sieren.
„Ganz einfach“ sei eine Zusammen-
legung der Trakte.
Die einfachen Dinge waren schon im-
mer die schwersten.
116 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
1912 fusionierte Laemmles Firma mit
einem guten Dutzend kleinerer Produ-
zenten. Das neue Unternehmen, in dem
er bald allein das Sagen hatte, nannte sich
seinem künftigen Anspruch gemäß „Uni-
versal“. Firmensitz war New York, die Ate-
liers lagen in New Jersey. Doch Laemmle
entschied sich für einen Umzug nach Los
Angeles und erwarb 1914 das Areal einer
Geflügelfarm im Hinter-
land des San Fernando
Valley, in einem Ort na-
mens Hollywood.
„Wir sind das größte
Filmunternehmen der
Welt. Und wir geben gern
AKG / ALBUM (L.); GETTY IMAGES ( R.)

Geld aus.“ Auf knapp


einem Quadratkilometer
ließ er einen Komplex mit
Ateliers, Büros, Labors,
Restaurants und Außen-
dekorationen zur serien-
mäßigen Herstellung von
Filmen errichten, wie ihn
Filmproduzent Laemmle*, Werbeplakat um 1920: Reicher Onkel in Amerika sich niemand sonst hätte
vorstellen können. Die Hüh-
nerfarm blieb erhalten, ein
FILMINDUSTRIE veritabler Zoo kam dazu.
Nicht nur der Ort war Laemmles

Hollywoods erster König Schöpfung, sondern auch die zukunftwei-


sende Organisationsform. Zur Einwei-
hung der (noch heute bestehenden und
florierenden) „Universal City“ im März
Ein Auswanderer aus dem Schwabenland wurde in den USA 1915 brachte ein Extrazug in zehntägiger
zu einem der mächtigsten Filmpioniere. Fahrt den großen Macher und seine Eh-
rengäste aus New York an die Westküste.
Endlich erinnern zwei Biografien an Carl Laemmle. Es war ein Siegeszug ohnegleichen: Nur
neun Jahre nach dem Start seines ersten

D
er Siegeszug des Unterhaltungs- ständig zu machen. Er geriet in Chicago Nickelodeon in Chicago war Laemmle
mediums Film begann, denkbar zufällig in ein Nickelodeon und beschloss ein Weltherrscher des Showbusiness, Er-
unspektakulär, Anfang des vori- auf der Stelle, dort selbst einen solchen finder und König von Hollywood. Im
gen Jahrhunderts in den Großstädten des Laden zu eröffnen. Lauf weniger Jahre siedelten sich seine
amerikanischen Ostens. Leerstehende Lä- Laemmle hatte im Textilbusiness durch Konkurrenten in der Nachbarschaft an.
den in den Geschäftsstraßen wurden mit auffällige Werbeaktionen Erfolg gehabt, Universal City war sogar größer als der
einer Leinwand, Stuhlreihen, einem Pro- und auffällig ging er, im Februar 1906, schwäbische Ort Laupheim, wo Karl
jektor und einem Klavierspieler zu Vor- auch mit der eigenen Unternehmung an Lämmle 1867 geboren worden war, eines
führräumen umgerüstet, wo die Lauf- den Start: Er ließ Fassade, Innenraum und von 13 Kindern eines jüdischen Viehhänd-
kundschaft für einen „Nickel“ (fünf Cent) Mobiliar seines Ladens knallweiß strei- lers. Als er 17 Jahre alt war, ein eher
ein Potpourri aus komischen Sketchen, chen, um sich von der oft etwas schmud- schmächtiges Kerlchen, hielt ihn nichts
Aktualitäten und Kurzdramen zu sehen deligen Konkurrenz abzuheben. mehr in der Heimat. Er beantragte, wie
bekam. Ein pfiffiger Unternehmer, 1905 Der Effekt wirkte, und weil er rasch das damals notwendig war, die Ent-
in Pittsburgh, nannte seinen Laden hoch- erkannt hatte, dass die jungen Film-Ver- lassung aus der deutschen Staatsbürger-
trabend „Nickelodeon“. triebsfirmen dilettantisch agierten, grün- schaft, schiffte sich mit dem großen
Der Begriff gefiel und verbreitete sich dete er noch im selben Jahr selbst einen Auswandererheer in Bremerhaven ein
so rasant wie die Läden selbst. Schon 1908 Verleih. 1908 war er der größte Verleiher und kam über New York nach Chicago,
gab es 8000 bis 10 000 Nickelodeons im in den USA und posierte in Anzeigen mit einer Stadt, die damals mehr deutsch-
ganzen Land. Skeptiker hielten den dem Slogan „I Am the Moving Pictures sprachige Einwohner hatte als zum Bei-
Boom für kurzlebig. Wer würde sich, Man“. Im folgenden Jahr, logisch, kam spiel Stuttgart.
wenn er es einmal gesehen hatte, das stets eine eigene Spielfilmproduktion dazu. Anders als viele Einwanderer, die ihrer
ähnliche holprige Bildergewimmel ein Seine Filme begannen stets mit dem Heimat für immer den Rücken gekehrt
zweites Mal anschauen wollen? Doch es Vorspann „Carl Laemmle presents“ und hatten, pflegte Laemmle die Verbindung
gab früh Begeisterte. warben mit einer sensationell wirkenden zum Ort seiner Kindheit. Schon als armer
Einer von ihnen muss Carl Laemmle Neuigkeit: Während bei der Konkurrenz Staatenloser war er zweimal zu Besuch
gewesen sein, damals 39, Geschäftsführer die Darsteller ungenannt blieben, setzte heimgekehrt, und in der sprichwörtlichen
einer Konfektionsfirma in der Kleinstadt seine Werbung plakativ auf die Namen Rolle des reichen Onkels aus Amerika tat
Oshkosh in Wisconsin, der entschlossen der Schauspieler – so wurde er zum er es dann fast jeden Sommer. Er finan-
war, sich vor seinem 40. Geburtstag selb- Erfinder des Star-Prinzips, das für die zierte in Laupheim eine neue Schule,
Kinogeschichte entscheidender werden später ein Schwimmbad, er unterstützte
* Auf dem Set von „Uncle Tom’s Cabin“ 1927. sollte als jede technische Novität. die jüdische Gemeinde, aber auch das
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 117
Kultur

Waisenhaus – so muss es dem geselligen,


friedliebenden Schwaben gelungen sein,
sich gleichermaßen als guter Deutscher
Bestseller
und als guter Amerikaner zu fühlen.
Bis auch die USA in den Krieg zogen.
Belletristik
Da forderte der Zeitgeist von den Studios 1 (1) Dan Brown
Inferno
patriotische Gesten. Die Universal pro- Lübbe; 26 Euro
duzierte 1917/18 ein paar deutliche Filme: 2 (2) Timur Vermes
Einer charakterisierte Kaiser Wilhelm II. Er ist wieder da
als Kriegshetzer, ein anderer porträtierte Eichborn; 19,33 Euro
die teutonische Bestie, wie sie mordet 3 (3) Donna Leon
und vergewaltigt – mit diesem Monster- Tierische Profite
Auftritt begann die Karriere des Schau- Diogenes; 22,90 Euro
spielers Erich von Stroheim. 4 (9) Stephen King
Als Laemmle im Sommer 1919 erstmals Joyland
wieder nach Europa reiste, musste er ei- Heyne; 19,99 Euro
nen Bogen um Laupheim machen: Man 5 (12) Nina George
hatte ihn vor öffentlichen Schmähungen Das Lavendelzimmer
Knaur; 14,99 Euro
und einem Mordanschlag gewarnt.
Im Wesentlichen war, was die Univer- 6 (10) Eugen Ruge
Cabo de Gata
sal unter dem Gütesiegel „Carl Laemmle Rowohlt; 19,95 Euro
presents“ ihrem Publikum lieferte, ge-
7 (7) Anne Gesthuysen
pflegte Familienunterhaltung, pünktlich Wir sind doch Schwestern
und professionell produziert. Nur einmal Kiepenheuer & Witsch; 19,99 Euro
ließ Laemmle sich durch einen unbere- 8 (4) Dora Heldt
chenbaren Außenseiter zu Extravaganzen Herzlichen Glückwunsch, Sie haben
hinreißen: Er produzierte von 1919 bis gewonnen! dtv; 17,90 Euro
1922 Erich von Stroheims ersten drei 9 (6) Martin Walker
Spielfilme, obwohl dieser genialische Mo- Femme fatale
nomane sich als Regisseur an keine Stu- Diogenes; 22,90 Euro
diodisziplin hielt. Fortan setzte Laemm- 10 (5) Tess Gerritsen
le auf Profis, bei denen man sich auf die Abendruh
Limes; 19,99 Euro
Einhaltung von Budget und Drehplan ver-
lassen konnte. Zwei ihrer größten Treffer 11 (11) Volker Klüpfel / Michael Kobr
Herzblut
hatte die Universal in den „stummen“ Droemer; 19,99 Euro
zwanziger Jahren mit dem „Glöckner
12 (13) John Green
von Notre Dame“ und dem „Phantom Das Schicksal ist ein mieser Verräter
der Oper“ – beide wiesen durch die Be- Hanser; 16,90 Euro
tonung der Horror-Elemente voraus auf 13 (8) Douglas Preston / Lincoln Child
die Universal-Hits der frühen Tonfilmjah- Fear – Grab des Schreckens
re: „Dracula“, „Frankenstein“, „Franken- Droemer; 19,99 Euro
steins Braut“ und „Die Mumie“. 14 (18) Suzanne Collins
1929 erwarb Laemmle rasch entschlos- Die Tribute von Panem –
sen die Rechte an Erich Maria Remarques Gefährliche Liebe Oetinger; 18,95 Euro
umstrittenem, von den Deutschnationa- 15 (15) Jussi Adler-Olsen
len als schändliches Machwerk geschmäh- Das Washington-Dekret
dtv; 19,90 Euro
tem Kriegsroman „Im Westen nichts Neu-
es“. Selten lag ihm persönlich so viel an 16 (17) Suzanne Collins
einem Stoff. Die Universal-Produktion, Die Tribute von Panem –
Flammender Zorn Oetinger; 18,95 Euro
1930 mit dem Oscar ausgezeichnet, wurde
ein internationaler Erfolg – in Deutsch- 17 (14) Sabine Ebert
1813 – Kriegsfeuer
land aber fanden die lauter und mächtiger Knaur; 24,99 Euro
werdenden Nazis darin den erwünschten 18 (20) Kerstin Gier
Anlass zu einer kulturkämpferischen Saphirblau – Liebe geht durch
Machtprobe: Von der Berliner Premiere alle Zeiten Arena; 16,99 Euro
Ende 1930 an sabotierten gewalttätige SA- 19 (–) Martin Suter
Trupps alle Vorführungen, bis sie ein Ver- Allmen und
bot des Films erzwungen hatten. 1933 die Dahlien
wurde in Laupheim die Carl-Laemmle- Diogenes; 18,90 Euro
Straße nach einem Nazi-Helden in Schla-
geter-Straße umbenannt. Der gute Deut-
sche war zur Unperson geworden. Im Labyrinth eines herun-
Schwer zu begreifen, dass – außer in tergekommenen Luxus-
hotels sucht der Schwei-
Laupheim, wo der Name des Gymna- zer Detektiv ein ver-
siums und ein kleines Museum an ihn schwundenes Gemälde
erinnern – nirgends in Deutschland die
20 (–) Paulo Coelho
öffentliche Erinnerung an den Erfinder Die Schriften von Accra
Hollywoods lebendig gehalten wird. Lan- Diogenes; 17,90 Euro
ge hat sich auch kein Biograf für seine
118 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Lebensspuren interessiert. Nun aber,
Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- 101 Jahre nach der Gründung der Univer-
kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
sal, sind zur selben Zeit zwei fundierte,
umfangreiche Biografien erschienen: Die
Sachbücher eine, von Cristina Stanca-Mustea, ent-
1 (1) Hannes Jaenicke stand aus einer Heidelberger filmhisto-
Die große Volksverarsche
Gütersloher Verlagshaus; 17,99 Euro rischen Dissertation, die andere, von Udo
Bayer, wurzelt in der Laupheimer Stadt-
2 (2) Florian Illies
1913 – Der Sommer des geschichte*.
Jahrhunderts S. Fischer; 19,99 Euro Bayer zitiert auch entlegene Quellen,
3 (3) Richard David Precht Stanca-Mustea ist die gewandtere, lebhaf-
Anna, die Schule und der liebe Gott tere Erzählerin, beide aber deuten aus
Goldmann; 19,99 Euro Respekt nur vorsichtig an, wie sich der
4 (4) Dieter Nuhr Familiensinn des Patriarchen in Betriebs-
Das Geheimnis des perfekten Tages blindheit verwandelte. „Uncle Carl
Bastei Lübbe; 14,99 Euro Laemmle / has a very large faemmle“,
5 (6) Rolf Dobelli dichtete ein Humorist in den zwanziger
Die Kunst des klaren Denkens Jahren. In der Tat: Die Universal beschäf-
Hanser; 14,90 Euro
tigte seit langem einen Laemmle-Bruder
6 (5) Meike Winnemuth und zwei Schwäger, dazu eine wachsende
Das große Los Knaus; 19,99 Euro
Schar von Neffen und Nichten.
7 (7) Eben Alexander 1929 hat er in einem abenteuerlichen
Blick in die Ewigkeit
Ansata; 19,99 Euro
Entschluss Universal City seinem Sohn
zu dessen 21. Geburtstag geschenkt. Sei-
8 (8) Bronnie Ware
5 Dinge, die Sterbende am meisten nen einzigen Schwiegersohn stellte er
bereuen Arkana; 19,99 Euro ihm als Vertreter zur Seite. Die beiden
9 (9) Dirk Müller Sonnyboys hatten Ehrgeiz, doch als Chefs
Showdown weder Erfahrung noch Begabung für das
Droemer; 19,99 Euro feinverzahnte Geschäft und konnten ein-
10 (11) Rolf Dobelli ander nicht leiden. Als die Zeiten in der
Die Kunst des klugen Handelns Weltwirtschaftskrise so rau wurden, dass
Hanser; 14,90 Euro man einen kapitalkräftigen Teilhaber auf-
11 (16) Andreas Englisch nehmen musste, hatte der Alte schon
Franziskus – Zeichen der Hoffnung längst wieder das Kommando übernom-
C. Bertelsmann; 17,99 Euro
men. Doch 1936 riss jener vermeintlich
12 (13) Guillem Balagué stille Teilhaber die Macht an sich: Er
Pep Guardiola zwang Vater und Sohn, ihm die Universal
C. Bertelsmann; 19,99 Euro
mit allem Drum und Dran zu verkaufen.
13 (10) Margot Käßmann Carl Laemmle hatte sich zu diesem
Mehr als Ja und Amen
Adeo; 17,99 Euro Zeitpunkt längst einer anderen Sache zu-
14 (15) Helmut Schmidt
gewendet: als Exilhelfer. Der Skandal um
Ein letzter Besuch Siedler; 19,99 Euro „Im Westen nichts Neues“ hatte ihn ge-
15 (12) Jürgen von der
lehrt, dass er kein guter Deutscher mehr
Lippe / Gaby sein durfte, nun besann er sich darauf,
Sonnenberg ein guter Jude zu sein. Aus seinen herz-
Der Krankentröster lichen Einladungen an die Laupheimer
Knaus; 16,99 Euro Juden wurden immer dringendere Appel-
le, sich in Sicherheit zu bringen.
Lebenshilfe mit Witzen: Als die USA Emigranten aus Deutsch-
Mail-Dialog zwischen land nur noch mit der persönlichen Bürg-
dem Entertainer und
einer leukämiekranken schaft eines Amerikaners einwandern lie-
Freundin ßen, wandte sich Laemmle in Bittbriefen
an die jüdische Prominenz Hollywoods,
16 (19) Frank Schirrmacher
Ego – Das Spiel des Lebens möglichst großzügig solche Bürgschaften
Blessing; 19,99 Euro („Affidavits“) zu leisten. Das Werben da-
17 (14) Egon Bahr für verstand er als Hauptaufgabe seiner
„Das musst du erzählen“ – letzten Jahre. Als er 1939 starb, hatte er
Erinnerungen an Willy Brandt als Bürge etwa 300 Emigranten zur Ret-
Propyläen; 19,99 Euro tung in die USA verholfen.
18 (–) Robert Skidelsky Natürlich erinnert auf dem „Holly-
Wie viel ist genug? wood Walk of Fame“ ein Stern an Carl
Kunstmann; 19,95 Euro Laemmle. Eigentlich müsste auch in Ber-
19 (–) Gerald Hüther / Uli Hauser lin Platz für einen zu finden sein.
Jedes Kind ist hoch begabt URS JENNY
Knaus; 19,99 Euro
20 (–) Gerd Gigerenzer * Cristina Stanca-Mustea: „Carl Laemmle. Der Mann,
Risiko – Wie man die richtigen der Hollywood erfand“. Osburg Verlag, Hamburg;
Entscheidungen trifft 248 Seiten; 24,90 Euro. – Udo Bayer: „Carl Laemmle
C. Bertelsmann; 19,99 Euro und die Universal“. Königshausen & Neumann Verlag,
Würzburg; 298 Seiten; 29,80 Euro.

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Kultur

AU TO R E N

Indiana Jones der Mülltrenner


In Hannes Jaenicke, dem Mann für den Dschungel, hat die grüne
Bewegung ihr telegenes Rollenmodell gefunden: Selbstgerecht
und wütend stürmt er die Bestsellerliste. Von Matthias Matussek

E
ndlich! Endlich krempelt mal einer ist ein einfaches Buch, es teilt die Welt in
die Ärmel hoch in unserer ewigen Gut und Böse, und seine Leser möchten
Laberrunde. Einer, der die Welt ge- zu den Guten gehören, sie sind gegen die
sehen hat und unseren Politikern und ih- da oben, und den Hannes Jaenicke ken-
ren Spezialisten und den Konzernfürsten, nen sie aus der Glotze.
die unseren Planeten in eine Kloake ver- Als Schauspieler („Abwärts“, „Schlaf-
wandeln, zeigt, wo der Hammer hängt. los in Oldenburg“, „Tatort“) ist er einer
Da steht er nun, wie im Khakihemd und der besseren. Als Dokumentarfilmer über
mit diesem Dings, diesem Buch unterm bedrohte Tierarten wie Orang-Utans,
Arm. Es heißt: „Die große Volksverarsche. Haie oder Eisbären ist er beeindruckend.
Wie Industrie und Medien uns zum Narren Geht mittenrein, arbeitet mit versteckten
halten“*. Klartext also. Hat im Nu die Kameras, liefert dramatische, fast schon
Spitze der Bestsellerliste erobert. Ach was, gepimpt wirkende Reporterstücke.
erobert, der Mann hat einfach die Tür ein- „Wut allein reicht nicht“ hieß sein ers-
getreten, Tropenbräune im Gesicht und ter grüner Bestseller. Sein jetziger aber
in den Augen das Abenteuer. zeigt: Die Wut reicht wohl doch.
Es mag zunächst unfair sein, aber in Jaenicke nimmt sich die große Verschwö-
diesem Moment wirkt er da oben wie ein rung vor, der wir alle auf den Leim gehen,
Guttenberg, der auf einer Berliner Party also das, was Horkheimer/Adorno den
in seinen Kampfboots erscheint, den „Verblendungszusammenhang“ genannt ha-
Staub der afghanischen Wüste noch auf ben. Der allerdings bezog sich auf die
den Stiefelkappen, der Mann der Tat, der Kulturindustrie, deren Teil, wenn wir streng
allen anderen klarmacht, dass sie doch sind, auch Jaenicke ist. Aber so was von:
nur Sesselfurzer sind. Er ist der Indiana Jones der grünen Agenda,
Aber: Man muss sich Hannes Jaenicke der mit Hutkrempe und Nilpferdpeitsche Buchverfasser Jaenicke mit Orang-Utan auf Borneo:
als guten Menschen vorstellen. Er ist in die Verhältnisse zum Tanzen bringt.
den grünen achtziger Jahren politisch Jaenicke ist der Aufklärer mit Wut. ist. Am Beispiel irgendeiner EU-Ver-
sozialisiert worden, und das sitzt tief. Er Man könnte auch sagen: Nie war Wut te- ordnung: „Diese Pokerrunde ging an die
will alles richtig machen. Er will die Welt legener. Man könnte auch sagen, mittler- Lobby.“ Ja, Jaenicke lädt uns ein an den
retten, mindestens, und er weile gehört Wut zum Ge- runden grünen Stammtisch, wo wir, bei
marschiert dröhnend mit gu- schäft. Allerdings rennt Jae- einem guten Glas Leitungswasser, über
tem Beispiel voran. Jaenicke nicke weit offene Türen ein. „Merkel, Altmaier, Rösler und Konsorten“
Er weiß mit Konfuzius, Wir sind schon alle wütend. ablästern können.
dass jede lange Reise mit verspricht Rund um den Globus. Wir Ach so, eine Regel gibt es doch: keine
dem ersten Schritt beginnt, das richtige sind alle auf 180. Kritik an Grünen oder SPD, und wenn
und mit Gandhi, dass die Und Jaenicke liefert. Er die Braunkohle der Hannelore Kraft er-
ideale Gesellschaft in jedem Leben harkt noch mal alles zu- wähnt werden muss, dann nur murmelnd.
Einzelnen beginnt. Und im falschen. sammen, was die Verbands- Jaenicke verspricht das richtige Leben
jetzt mal im Ernst: Wer will und Parteimitteilungen von im falschen. Aber gibt es das für Konsu-
sich schon mit Konfuzius Greenpeace und Grünen an menten? Man muss höllisch aufpassen,
und Gandhi und Jaenicke gleichzeitig Schmutz – vorwiegend Umweltschmutz das ist die Grundsuggestion, also vertrau-
anlegen? – hervorkehren, natürlich auch die Kol- en wir uns dem Navigator Jaenicke an.
Jaenicke ernährt sich vegetarisch, er legen von „Monitor“ oder „Panorama“ „Konsumenten-Navi“ nennt er es in
wartet „auf das erste alltagstaugliche und die Faktenchecks von Plasberg. seinem Buch. Er verweist schon mal auf
E-Auto“ und trennt den Müll, und wenn Aber: Wussten wir denn nicht schon einen gleichgesinnten Blogger der Dort-
er zwischen seinen Wohnsitzen in Köln vorher, dass Bankberater (Kapitel: „Rien munder SPD, auch auf die Homepage des
und Los Angeles und sonst wo durch die ne va plus“) an den Produkten verdienen, Verbands der Automobilindustrie (lest
Welt fliegt, gleicht er seine Klimabilanz die sie uns andrehen? Dass die Plastiklob- selber nach, wie fies die sind) oder auf
aus, indem er einer Umweltorganisation by (Kapitel: „Ex und hopp“) dafür sorgt, Wikipedia.
einen CO2-Ausgleich stiftet. dass die Weltmeere verschmutzt sind? Also echt jetzt, eine große Hilfe ist das
Nehmt das, ihr stumpfen Malle-Trottel! Dass sogenannte Reality-Shows (Kapitel: nicht, und den Hinweis „Vorsicht vor ver-
Aber im Zweifel lesen genau die am „Volksdroge Glotze“) gescriptet sind? meintlichen Schlankmachern aus dem In-
Strand von Mallorca Jaenickes Buch. Es Doch Hannes Jaenicke ist ein guter ternet“ hatte man auch schon mal gehört.
Mensch, und er redet (schreiben kann Vielleicht einer der ersten Höhepunkte,
* Hannes Jaenicke: „Die große Volksverarsche“. Güters- man seine Stilblütensammlung kaum nen- wenn man so sagen darf, ist der Activia-
loher Verlagshaus; 192 Seiten; 17,99 Euro. nen), wie ihm der Schnabel gewachsen Becher von Danone. Da ist Jaenicke nicht
120 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
stattet sind, stoßen in erster Linie auf kul-
turelle Vorurteile, weil sie als „Frauen-
autos“ gelten. Während es der Benziner
knatternd liebt. Jaenicke: „Lärmend.
Sportlich. Dreckig. Männlich.“ Der grüne
Mann ist auch der neue Mann.
Die Pharmaindustrie! Will „abkassie-
ren“! Vor allem die aufwendige Langzeit-
forschung haben die CEOs „wegrationa-
lisiert“. Mittlerweile wird kaum noch in
Forschung investiert, stattdessen vor-
wiegend ins „Marketing, sprich Werbung
und Ärztebestechung“. Fiese Bande. Wut.
So geht das weiter: „Seit die neolibe-
rale Profitmaximierung das Ruder über-
nommen hat, ist für konzeptionelle For-
schung kein Platz mehr.“
Offenbar also hat die fette Profitmaxi-
mierung den Segelschein gemacht, und
wir jagen ihr hinterher, mit unserem
Navigator an Bord, und bestaunen wag-
halsigste Manöver.
Zwischen dem Wunsch der deutschen
Lobbyisten, das Heilmittelwerbegesetz
nach dem Vorbild der USA aufzuweichen,
und Michael Jacksons Tod und dem Mas-
saker im amerikanischen Cineplex liegen
gerade mal 20 Zeilen. Alles hängt mit

SVEN BENDER / ZDF / PICTURE-ALLIANCE/ DPA


allem zusammen. Und zwar abwärts.
Natürlich sind die Banken dran, natür-
lich wieder mit wichtigem Navi-Hinweis:
„Je höher das Renditeversprechen, desto
höher das Verlustrisiko.“ Ehrlich? Und
das erfährt man erst jetzt. Wo war Jae-
nicke, als man ihn gebraucht hätte?
Seine Tirade beendet Jaenicke mit
einer Vielzahl von nützlichen Internet-
Tropenbräune im Gesicht und in den Augen das Abenteuer adressen wie www.klimaretter.info oder
www.sauberekleidung.de sowie einer
nur wütend – den hasst er regelrecht. Be- und noch während er zu Boden plumpst, ganz persönlichen Konsumentenbera-
steht aus einem Biokunststoff, der aus der Vogel, behauptet Jaenicke, dass die tung. Einer Art Musterbogen für das
dem nachwachsenden Rohstoff Mais her- mobilen Kliniken, die Lidl irgendwo auf grüne Model.
gestellt wurde. Gute Sache? Pustekuchen, dem Gipfel des Zynismus angesiedelt Jaenicke empfiehlt: für Sportbeklei-
denn erst mal kennt ja wohl jeder die haben muss, in Bangladesch (Gibt es da dung Adidas (ohne Begründung), für Dro-
Umweltbelastungen durch Pestizide oder Hügel? Bitte googeln!), kaum mehr getan gerie-Artikel dm (wegen Sozialprojekten
Überdüngung. hätten, als erschöpften Arbeiterinnen Vita- wie den „Singenden Kindergärten“), Au-
Und dann, so Jaenicke, der „Klopper“. minpillen zu verabreichen, damit diese Nä- tos: natürlich hybrid, Lebensmittel: bio,
Bioplastik nämlich hat ein „gravierendes herinnen „besser und schneller arbeiten“ Milch aus der Andechser Meierei, weil
Recyclingproblem“: in welche Tonne da- können. die nicht zu Müllermilch gehört.
mit? In die gelbe zum Verpackungsmüll? „Greenwashing vom Feinsten“, bilan- Schuhe? Am besten die spanischen
Tja, die Scanner erkennen das nicht als ziert da Jaenicke, oder auch „Fairarsche“. Snipe aus Recycle-Material ohne Chrom-
recycelbaren Kunststoff an, weil es eben Das ist der Tonfall, der dann im Laufe Gerbung, und ans Handgelenk kommt
Bioplastik ist. So, und jetzt kommst du! der Zeit doch irgendwo voll auf die Ner- ihm nur eine Jaeger-LeCoultre, es war
Kurz: Der Activia-Becher, der erst bei ven geht. schon immer teurer, einen grünen Ge-
60 Grad und viel Feuchtigkeit allmählich Jaenickes Überdruck sorgt für Über- schmack zu haben. Glotze? Am besten
kompostiert, wird vorerst als ganz nor- betonungen, die dem Verständnis nicht das ZDF, der Sender seiner Dokus, wegen
maler Restmüll verbrannt, was zu den immer guttun, etwa wenn die Not der Pa- der „hervorragend gestalteten“ Mediathek.
schädlichsten Entsorgungsformen gehört. tienten „schamlos zum Geschäftemachen Hannes Jaenicke ist ein guter Mensch.
Das ist die bittere Wahrheit über den Acti- benutzt wird, um sich selbst zu berei- Wirklich. Er achtet die Schöpfung. Mein
via-Becher von Danone! Sogar ein Film- chern“, und man zweifelt zunehmend Gott, er rettet Orang-Utan-Babys. Er
chen hat er darüber ins Netz gestellt. Jae- daran, ob das, was da vielleicht auf einer meint es gut. Dennoch: Dieses Potpourri
nicke sieht eine Verarsche, wenn er sie Fahrt im offenen Jeep ins iPhone diktiert aus Medienberichten, Internethinweisen
trifft – Beschiss also auch bei Empfehlun- wurde, noch mal gegengelesen werden und kapitalismuskritischen Binsen, dar-
gen von Öko-Freunden. konnte, im Zweifel nicht, denn es ist geboten in einem Schwall an Selbstge-
Oder nehmen wir den Fairtrade in der schließlich 5 nach 12, die Zeit drängt. rechtigkeit, einer Diarrhö an richtiger Ge-
Textilindustrie (Bangladesch, Ausbeutung, Ab und zu biegt Navigator Jaenicke sinnung, als eigenes Buch zu verkaufen
Brandkatastrophen) und achten mal nicht unversehens ab in die Geschlechter-Are- ist, wenn nicht gerade eine Guttenberg-
auf Stil und so ’n Zeug: „Den Vogel des na. Also: Elektroautos, die umweltfreund- Nummer, so doch – eine ziemlich große
Zynismus aber hat Lidl abgeschossen …“, lich und bedienungsleicht und gut ausge- Volksverarsche. 
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 121
Kultur

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Eine Reise durch das Unendliche“


Markus Gabriel ist der jüngste Philosophieprofessor Deutschlands.
In seinem neuen Buch erklärt er, warum es die Welt nicht gibt und warum
die Menschen ständig fragen, was das Ganze eigentlich soll.

Seit Juli 2009 ist Markus Gabriel, 33, In- sicher nicht bei einem endgültigen Sinn-
haber des Lehrstuhls für Erkenntnistheo- feld, das alles umfasst. Das Streben nach
rie und Philosophie der Neuzeit an der der absoluten Idee, dem universellen
Universität Bonn. In seinem jetzt erschie- Prinzip, sollten wir uns abgewöhnen.
nenen Buch „Warum es die Welt nicht SPIEGEL: Gehen wir dann nicht im Chaos
gibt“ (Ullstein Verlag, Berlin; 272 Seiten; der Erfahrungen unter?
18 Euro) entwickelt er Grundsätze eines Gabriel: Natürlich können wir die Orien-
neuen philosophischen Realismus, um zu tierung verlieren. Existenz ist immer re-
erklären, wie wir die Wirklichkeit erken- lativ, sie ist nicht identisch mit Wahrheit.
nen. Mit intellektuellem Witz und Lust Auch Einbildungen existieren, und vieles
an gedanklicher Provokation untersucht existiert nur in Einbildungen. Hexen gibt
er die ewigen Fragen der Menschheit: Wo- es nicht, und es gibt sie doch, etwa in
her kommen wir? Wo befinden wir uns? Goethes „Faust“, im Horrorfilm „Blair
Was ist Existenz? Und hat das mensch- Witch Project“, im Kölner Karneval.
liche Leben überhaupt einen Sinn? Das SPIEGEL: Oder in den Köpfen mittelalter-
Ergebnis ist eine ebenso spannende wie licher Hexenverfolger. Wir können doch
abgründige Exploration des Geistes. die Unterscheidung zwischen Außenwelt
und Innenwelt, zwischen realer und ein-
SPIEGEL: Herr Gabriel, was kann die THEODOR BARTH / DER SPIEGEL gebildeter Existenz nicht aufheben.
Philosophie im Zeitalter der modernen Gabriel: Entscheidend ist, in welchem Sinn-
Naturwissenschaft überhaupt noch zur feld wir uns befinden. Trolle gibt es in
Erkenntnis der Welt beitragen? der nordischen Mythologie, aber damit
Gabriel: Interessanterweise das meiste. Die gibt es noch lange keine Trolle in Norwe-
Wissenschaft kann, entgegen ihrem oft gen. Das Problem liegt darin, dass die
behaupteten Anspruch, kein Weltbild ent- Frage nach dem Sinn übergangen wird.
werfen. Die Annahme, dass die Natur- Philosoph Gabriel Das Universum stellt keine Sinnfrage, es
wissenschaften die fundamentale Schicht „Der Mensch sucht sich selbst“ ist eine „kalte Heimat“, wie der Bonner
der Wirklichkeit, also die Welt an sich, Philosoph Wolfram Hogrebe dieses le-
erkennen, während alle anderen Erkennt- Der Beobachter bleibt in einer Perspek- bensweltfreie Dasein genannt hat. Das
nisansprüche immer auf physikalische, tive verortet. Den „Blick von nirgendwo“, ändert sich, wenn wir nach unserem Platz
biologische oder sonstige naturwissen- wie der amerikanische Philosoph Thomas darin fragen. Das Menschsein ist ohne
schaftliche Einsichten reduzierbar sein Nagel es genannt hat, können wir nicht Sinnfrage nicht denkbar. Die Menschen
werden oder sich jedenfalls an diesen erreichen. Deshalb zerbröselt das soge- sind nicht einfach nur Schweine im Welt-
messen lassen müssen, ist schlicht falsch. nannte wissenschaftliche Weltbild zwi- all, wie ein Programm in der „Muppet
SPIEGEL: Wieso? Ist die Wissenschaft ein- schen unseren Fingern. Show“ heißt, also nur fressende und ihren
fach noch nicht weit genug gekommen? SPIEGEL: Das klingt ziemlich verwirrend. Nutzen berechnende Wesen, die sich in
Gabriel: Selbst wenn so etwas wie die Welt- Gabriel: Wir sehen immer nur Ausschnitte den Weiten einer sinnlosen Galaxie ver-
formel gefunden wäre, würde sie nur ei- von etwas, das unendlich ist. Ein Über- lieren. Die Menschen wissen, dass sie exis-
nen Ausschnitt der Welt darstellen, zu- blick über das Ganze ist unmöglich, weil tieren und in der Welt vorkommen. Das
gegeben einen wichtigen. Das Universum das Ganze nicht einmal existiert. Wir be- ist der entscheidende Unterschied.
ist nur einer von vielen Gegenstands- wegen uns in einer unendlichen Vielfalt SPIEGEL: Wo ziehen Sie die Grenzen der
bereichen, ein Teil des Ganzen, nicht das von Feldern der Erkenntnis, von „Sinn- naturwissenschaftlichen Erkenntnis?
Ganze selbst. Es gibt viele Gegenstände, feldern“, wie ich es nenne, die alle von- Gabriel: Ich möchte sagen, dass sie am
die es nicht im Universum gibt. Die Welt einander unterschieden sind. Geist scheitert. Menschen bewegen sich
an sich gibt es gar nicht. Alle Weltbilder SPIEGEL: Die „Welt“ wäre demnach nur nun einmal im Geist. Ignoriert man den
sind falsch, weil sie unterstellen, dass es eine Redewendung, die wir der Einfach- Geist und betrachtet nur noch das Uni-
eine Welt gibt, auf die wir von außen heit halber benutzen? versum, verschwindet aller Sinn.
blicken können. Gabriel: Die Welt ist der Bereich aller Be- SPIEGEL: Es gibt Bereiche des Geistes, die
SPIEGEL: Wir bleiben notwendigerweise in reiche, so hat Heidegger es ausgedrückt. sich mit Methoden der Naturwissenschaf-
fragmentarischen Betrachtungen gefangen? Die Welt, in der wir leben, zeigt sich uns ten, der Psychologie, der Biologie oder
Gabriel: Wir schauen immer auf die Wirk- als ein unendlicher, stetiger Übergang der Neurologie, untersuchen lassen.
lichkeit von einem bestimmten Punkt aus. von Sinnfeld zu Sinnfeld, eine endlose Gabriel: Ja, aber entscheidende geistige
Verschmelzung und Verschachtelung, in Produkte wie Kunstwerke oder auch Staa-
Das Gespräch führte der Redakteur Romain Leick. der wir niemals ankommen, und ganz ten, Religionen, Institutionen lassen sich
122 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
nicht auf diese Weise untersuchen, am
wenigsten mit den Methoden der Gehirn-
forschung. Geist ist nicht bloß ein menta-
ler Prozess. Wie wir einen Roman, ein
Kunstwerk oder auch eine politische Ent-
scheidung verstehen, lässt sich nicht rein
biologisch oder mathematisch beschrei-
ben. Trotzdem ist das Verstehen nicht
völlig willkürlich oder eine Sache des
subjektiven Geschmacks. Der Vorgang
des Verstehens, etwa eines Kunstwerks,
das auf den ersten Blick unverständlich
anmutet, wie eine bloße Ansammlung
von Farbklecksen, eines von Jackson
Pollocks Action-Paintings zum Beispiel,
ist keineswegs beliebig, wohl aber frei.
Kunst konfrontiert uns mit reinem Sinn.
Sie ist weder bloßes Abbild noch simple
Unterhaltung.
SPIEGEL: Dem Geist oder dem Sinn kann
man sich nur mit den Mitteln der Inter-
pretation nähern, durch Sprache, Kom-
munikation und Argumentation, statt
durch experimentelle Beweise?
Gabriel: Argumente sind die Gedanken-
experimente der Philosophie. Es ist wich-
tig, den Geist wieder in sein Recht zu
setzen, nachdem die Postmoderne ver-
sucht hat, ihn als Illusion, als bloße Kon-
struktion zu entlarven. Dabei hat sie nur

NASA / ESA / DPA


neue Illusionen erzeugt, nämlich die, dass
wir in unseren Illusionen feststecken. Die
Deutung, das Verstehen der mensch-
Sternenhaufen im Weltraum, Gemälde von Jackson Pollock, 1950: „Felder des Sinns“ lichen Welt, ist von ganz anderer Art als
unser Naturverständnis. Deswegen ist sie
nicht unwissenschaftlich, noch machen
wir uns einfach etwas vor.
SPIEGEL: Woher kommt dieser metaphysi-
sche Trieb des Menschen, die Frage nach
dem Sinn des Lebens und des Ganzen zu
stellen? Ist es das, was wir ziemlich nebu-
lös als Seele bezeichnen?
Gabriel: Umgangssprachlich ist das gar
nicht so falsch. Man könnte sagen, dass
die Seele oder das, was früher gern so
genannt wurde, unser Organ der Kontakt-
aufnahme mit Sinn ist. Seelen wären dem-
nach Verwalter des Sinns, sie sind in den
Sinn hineingehalten wie Antennen.
SPIEGEL: Die Fähigkeit des Menschen, über
sich selbst nachzudenken, ein Bewusst-
sein seiner selbst zu entwickeln, kann die
Wissenschaft nicht mehr erklären?
Gabriel: Das ist die absolute Grenze. Die
Frage nach dem Ursprung des Geistes ist
irritierend. Vielleicht werden wir nie her-
ausfinden, wo und wie diese Geburt statt-
gefunden hat. Sicher ist: Unsere Erkennt-
nis der Wirklichkeit ist geistig, auch die
Naturwissenschaften haben den Geist
sozusagen immer schon im Rücken, sonst
würden sie gar nichts erkennen. Denk-
AKG / VG BILD-KUNST, BONN 2013

prozesse mögen sich zwar als Gehirn-


aktivitäten beobachten und beschreiben
lassen, aber das erklärt den Denkgehalt,
den Gedanken als solchen, nicht.
SPIEGEL: Das ist der Punkt, an dem sich
das Tor der philosophischen Erkenntnis-
theorie öffnet?
123
SCIENCE PHOTO LIBRARY / AGENTUR FOCUS
CINETEXT
Raumschiffe im Film „Star Trek II“ 1982, Teilchendetektor am Forschungszentrum Cern in Genf: „Alle Weltbilder sind falsch“

Gabriel: Ja, man kann sagen, dass die Phi- Gabriel: Das ist er auch, wenn er Gott als ohne die Metaphysik niemals zu Wissen-
losophie eigentlich die Selbsterforschung allmächtigen Schöpfer und Regenten an schaft und ohne die Wissenschaft niemals
des Geistes ist. Wobei der Geist einen einem uns vorerst unzugänglichen Ort zu den Erkenntnissen gekommen, über
größeren Bereich darstellt als lediglich begreift. Das Denken erkennt nicht, dass die wir heute verfügen. Aufklärung, Wis-
das Denken, denn er umfasst auch Emo- es sich selbst untersucht, deswegen per- senschaft und Religion sind näher beiein-
tionen, Gefühle, Bewusstseinsinhalte, die sonalisiert es und legt diese Vorstellung ander, als man denkt. Die Moderne ist
nicht darauf reduziert werden können, nach außen. Das Bild, das wir uns von nicht durch den Abbau der Religion ge-
was wir kognitives Denken nennen. Gott oder den Göttern machen, ist meist kennzeichnet. Dem Menschen ist erst in
SPIEGEL: Ist der Geist so etwas wie der nur ein Bild, das wir uns von uns selbst der Moderne aufgegangen, dass er Geist
sechste Sinn des Menschen, um die Wirk- machen, um uns zu untersuchen. Wir kön- ist und dass dieser Geist eine Geschichte
lichkeit zu erschließen? nen dann Geschichten erzählen über die hat – also auch Entwicklungsstadien
Gabriel: In der indischen Philosophie sagt Entstehung des Geistes, als käme er von durchläuft und zu Fortschritten wie zu
man das schon lange. Uns im Abendland außen. Wir erkennen dabei nicht, dass Rückschritten fähig ist.
haben Platon und Aristoteles verwirrt, das Göttliche, das wir außer uns suchen, SPIEGEL: Dass es die eine Welt nicht gibt,
indem sie das Denken den fünf Sinnen der menschliche Geist selbst ist. Ich glau- dass es kein Prinzip gibt, das alles zusam-
Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und be, dass die Religion vor der Moderne menhält und orchestriert, dass es dem-
Riechen als rationales Ordnungsprinzip häufig sehr viel intelligenter war, als sie nach Gott nicht gibt – ist das nun für uns
entgegensetzten. Doch warum sollte das es heute ist. Die alten Griechen waren Menschen eher eine erfreuliche oder eine
Denken selbst eigentlich kein Sinn sein? imstande, ihre Götter auf dem Olymp als erschreckende Erkenntnis?
Andere Tiere haben auch noch andere Inszenierung zu durchschauen. So wie Gabriel: Auf jeden Fall eine befreiende.
Sinne. Delphine oder Fledermäuse haben wir heute im Kino ja auch personalisierte Damit vermeiden wir die Alternative, un-
eine Echoorientierung, Menschen haben Bilder sehen, ohne zu glauben, dass diese ser Leben als Komödie oder als Tragödie
Denken. Es ist Teil unserer biologischen Personen außerhalb des Films existieren. zu begreifen. Die Depression, der exis-
Ausstattung. So gesehen kann man einen SPIEGEL: Demnach wäre das Ende der tentialistische Katzenjammer, befällt uns,
Sinn als einen wahrheitsfähigen und da- Menschheit das Ende des Göttlichen? wenn wir das Unmögliche erwarten, näm-
mit irrtumsanfälligen Zugang zur Realität lich Unsterblichkeit, ewige Glückseligkeit
verstehen. Unsere Sinne sind ebenso we- und eine Antwort auf alle Fragen. Die
nig subjektiv wie unser Denken. Sie „Der Sinn der Religion ist Komödie stellt sich ein, wenn wir glau-
stecken nicht in unserem Kopf, sondern die Einsicht, dass es ben, in eine Show über nichts geworfen
sie sind objektive Strukturen, in denen zu sein. Die dem Philosophen angemes-
wir uns vorfinden. Gott als Weltmonarchen sene Gemütsverfassung wäre demgegen-
SPIEGEL: Wenn das Denken ein angebore- über gelassene Heiterkeit. Wir bahnen
ner menschlicher Sinn ist, wird der tradi- nicht gibt.“ uns einen Weg durch das Unendliche, wir
tionelle Dualismus von Leib und Seele, stehen vor unendlichen Möglichkeiten,
Geist und Körper hinfällig. Erübrigt sich Gabriel: Die Menschen und die Götter wir produzieren unentwegt neue Sinn-
damit die Frage nach Gott? brauchen einander, während das Univer- felder, aber wir kommen nie an.
Gabriel: Wie in der Philosophie sucht auch sum natürlich ohne uns weiterexistieren SPIEGEL: Das Leben wäre wie eine „Star
in den Religionen der Geist sozusagen wird. Dem sind wir völlig egal. Trek“-Expedition durch die Galaxien?
sich selbst, wenn man so will, in einer SPIEGEL: Wenn das Göttliche die Konfron- Gabriel: Den Endpunkt werden wir nicht
magisch-narrativen statt in einer wissen- tation des menschlichen Geistes mit sich erreichen. Wir können den Überblick vor
schaftlich-argumentativen Form. Das selbst ist und Religion nur eine Form der lauter Sinn verlieren, nicht aber das
Göttliche würde ich als unendlichen Geist Sinnsuche, warum sind dann unsere mo- Gefühl für den Sinn einbüßen. Deshalb
beschreiben, der sich selbst sucht – und dernen Gesellschaften nicht längst völlig können wir an den Fortschritt in der
zwar in unserem Geist. säkularisiert? Warum kommen die Men- Geschichte glauben und ständig an der
SPIEGEL: Dann wäre die Frage, ob es Gott schen nicht ohne das Religiöse aus? Verbesserung unseres Menschseins arbei-
gibt, ziemlich unsinnig. Gabriel: Tatsächlich könnte man provo- ten. Das eigentlich Böse, der Rückfall in
Gabriel: Ja, das ist eine falsche Auffassung zierend sagen, dass der Sinn der Religion die Barbarei, ist die Zerstörung von Sinn.
von Religion, eine Fetischisierung des die Einsicht ist, dass es Gott nicht gibt, Die menschliche Reise ist eine Entfaltung
Göttlichen, weil man einen Gegenstand dass Gott kein absoluter Geist ist, der den von Freiheitsmöglichkeiten. Ein Politiker,
sucht, weil man sich Gott als Person, als Sinn unseres Lebens garantiert. Deswe- der nicht an den Sinn in der Geschichte
eine Art Weltmonarchen, vorstellt. gen ist aber die Religion selbst oder die glaubt, macht nur noch Klempnerarbeit.
SPIEGEL: Wäre dann der Monotheismus Rede von Gott nicht sinnlos. Ohne Reli- SPIEGEL: Herr Gabriel, wir danken Ihnen
die höchste Form des Fetischglaubens? gion wäre es niemals zu Metaphysik, für dieses Gespräch.
124 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Kultur

Peter vom Prenzlauer Berg


LITERATURKRITIK: Eugen Ruge lässt auf seinen Bestsellerroman die
hinreißende Novelle „Cabo de Gata“ folgen.

D
as verflixte zweite Buch. Davor ein Reiseführer verspricht). Dort will er Form. Selbst das gattungsspezifische
fürchtet sich jeder Schriftsteller. endlich in Ruhe seinen Roman schreiben. „Falkenmotiv“ am Wendepunkt der
Gerade dann, wenn das Debüt ein Doch das vermeintliche Paradies ent- Geschichte erscheint in Gestalt einer
Erfolg war. hüllt sich Anfang Januar als kalt und un- streunenden rotgetigerten Katze, die dem
Eugen Ruge hatte mit seinem Erstlings- freundlich. Ebenso begegnen dem Mann Leben des als Romancier scheiternden
werk „In Zeiten des abnehmenden auch die Bewohner des Orts. Und wenn Helden einen Dreh gibt.
Lichts“, das er mit Mitte fünfzig veröf- er etwas in sein Notizheft schreibt, ist er Das Buch lebt nicht zuletzt von seiner
fentlichte, auf Anhieb Erfolg. Das Fami- am nächsten Tag unzufrieden und reißt autobiografischen Suggestion. Der Ich-
lienepos, das sich über ein halbes Jahr- die Seite gleich wieder heraus. Der Traum Erzähler hat manche Lebensdaten mit
hundert erstreckt, erhielt im Oktober 2011 scheint ein Traum zu bleiben. dem realen Autor gemeinsam. Er ist in
den publikumswirksamen Deutschen Eine Schriftstellergeschichte. Deutlich der DDR groß geworden, hat in einem
Buchpreis und hat sich bis heute mehr steht Peter Handke Pate, dessen Er- Institut für Chemietechnik gearbeitet (bei
als 350 000-mal verkauft. zählung „Nachmittag eines Schriftstel- Ruge war es das Zentralinstitut für
Auf den umfangreichen Roman lässt er lers“ mit ähnlicher Genauigkeit vom Physik) und irgendwann gekündigt, um
jetzt, anderthalb Jahre später, eine auto- Glück und möglichen Scheitern eines nur noch zu schreiben, und er ist Sohn
biografisch gefärbte Erzählung folgen, die Schreibenden handelt. Und in Handkes eines der DDR immer noch nachtrauern-
es selbst bei großzügigem Satzspiegel „Versuch über die Jukebox“ wird der für den Publizisten, der in einer hinreißen-
gerade mal auf 200 Seiten bringt. Statt an das Schreiben geeignete Ort zum The- den Szene Kontur gewinnt.
wechselnden Orten und zu Und doch bleibt alles
verschiedenen Zeiten wie Erfindung, schon weil
im Roman – Mexiko, Mos- die Erinnerung trüge-
kau, Berlin zwischen 1952 risch ist. Das Gedächtnis
und 2001 – spielt sich nun erfinde „ja alle Erinne-
alles hauptsächlich an ei- rungen immer wieder
nem Ort ab, dem spa- neu“, wie es einmal ganz
nischen Fischerdorf Cabo im Einklang mit der
de Gata, das dem Buch neuesten Gedächtnisfor-
auch den Namen gegeben schung heißt.
hat. Und es sind genau Ruges Erzählprinzip ist
123 Tage, die der Ich-Er- fast so etwas wie eine
zähler dort verbringt. Versuchsanordnung. Er
Aber was spielt sich habe sich vorgenommen,
schon groß ab? Der lässt er seinen fiktiven
Charme des kleinen Ro- Erzähler formulieren,
mans „Cabo de Gata“ be- „bei dieser Niederschrift
steht gerade darin, dass keine früheren Aufzeich-
der Mangel an Handlung nungen zu benutzen,
CHRISTIAN THIEL

durch eine enorme nichts, was meine Erin-


sprachliche Eleganz und Autor Ruge nerung auffrischen oder
Wahrnehmungsgenauig- beflügeln könnte, auch
keit wettgemacht wird, nicht bei Google oder
durch Beobachtungen und bei Wikipedia nachzu-
Reflexionen, prägnante, schlagen“.
knappe Porträts. Und alles fügt sich der ma – der in der spanischen Stadt Soria Das gibt der Rückschau Ruges auf sei-
Geschichte wie selbstverständlich ein. gefunden wird. ne Anfänge, ob nun authentisch oder
Der Ich-Erzähler – sein Vorname ist of- Ruge, 59, bekennt sich auf amüsante nicht, etwas Spielerisches und Unbe-
fenbar Peter – will alles hinter sich lassen, Weise zu seinem Vorbild. Als ein durch- schwertes. Damals in Andalusien mag es
will den tristen Alltag als Bewohner des reisender Engländer, dem der Held von tatsächlich ein quälendes Scheitern ge-
neureichen Prenzlauer Bergs vergessen seinen Schreibversuchen erzählt, mehr geben haben. Nachdem sich der große
und nicht weiter einer verlorenen Liebe erfahren will als nur den Vornamen des Erfolg eingestellt hat, hebt sich alles auf
nachtrauern. Kurz: Er möchte raus aus verhinderten Dichters, gibt der sich als und lässt sich nun wie befreit erzählen.
dem Berlin der Nachwendezeit. So setzt „Peter Handke“ aus. Eugen Ruge beendet seine spanische
er sich in den Zug, später in den Bus und Deutlich ist der Wunsch Ruges, nicht Exkursion genau in dem Moment, da die
reist ins südliche Europa, dorthin, wo ein als Erzähler opulenter Romane festgelegt Geschichte zu stagnieren beginnt.
„Hauch von Afrika“ zu spüren ist (wie zu werden. Zwar trägt auch „Cabo de Das alles ist wahrhaft geglückt. Elegan-
Gata“ die Gattungsbezeichnung Roman, ter und entspannter kann ein zweites
Eugen Ruge: „Cabo de Gata“. Rowohlt Verlag, Reinbek; doch im Grunde ist das Buch eine Novelle Buch eigentlich kaum daherkommen.
208 Seiten; 19,95 Euro. und erfüllt auch die Voraussetzungen der VOLKER HAGE

126 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Trends Medien

T V- U N T E R H A LT U N G

„Jeder Top-Spion
wird erblassen“
Entertainer Simon Gosejohann, 37,
über sein für August angekündigtes
ProSieben-Experiment „antisocial
network“

SPIEGEL: Für Ihre neue Sendung wollen


Sie sich in den Facebook-Zugang von
Zuschauern einloggen. Werden Sie

TOBIAS HASE / ZDF


damit zum Hacker?
Gosejohann: Nein, die Kandidaten hän-
Priol, Barwasser digen uns ihre Daten ja freiwillig aus.
In der ersten Folge ist das ein junger
Mann, den wir fünf Tage lang beglei-
ZDF
ten. Täglich schreiben wir Nachrichten
in seine Facebook-Statuszeile. Für sei-
ne virtuellen Freunde sieht es so aus,
Nachwuchs für die Anstalt als habe er sie selbst verfasst.
SPIEGEL: Wie unterhaltsam ist es, Inter-
netseiten im Fernsehen zu zeigen?
Nachdem die Kabarettisten Urban thias Egersdörfer, Nico Semsrott, Simo- Gosejohann: Gar nicht, deswegen kündi-
Priol und Frank-Markus Barwasser ih- ne Solga, Tobias Mann, Andreas Re- gen wir in den Statusmeldungen des
ren Ausstieg aus der Show „Neues aus bers und Christoph Sieber. Während Kandidaten irrwitzige
der Anstalt“ angekündigt haben, sucht den Künstlern mitgeteilt wurde, dass Aktionen an: dass er
das ZDF nun Nachfolger für die im es sich um ein Bewerbungsverfahren sich als Aktmodell zur
Herbst scheidenden Gastgeber. Vom handele, werden die Veranstaltungen Verfügung stellt, einen
21. Juli an sollen sich mehrere Künstler im Kartenverkauf lediglich als „ZDF Salsa-Kurs absolviert
an vier Abenden im Münchner Lust- Sommer Special“ und „hochklassiger oder in der Stadthalle
spielhaus vor Kamera und Publikum Kabarettabend“ beworben. Aufge- seiner Heimatstadt
beweisen. Dazu zählen die Humoristen zeichnet wird in den Kulissen von Olpe ein Klavierkon-
Max Uthoff, Claus von Wagner, Mat- „Neues aus der Anstalt“. zert gibt, obwohl er
ein lausiger Pianist ist.
Das Gemeine ist:

GUIDO OHLENBOSTEL / ACTION PRESS


Diese Aufgaben, die
SUCHMASCHINEN
wir ihm stellen, muss
er auch ausführen.
Welche das sind, er-
Rekorde in der dritten Reihe fährt er selbst erst über
Facebook.
Die Enthüllungen rund um das amerika- funden hat. Auch die Finanzierung läuft SPIEGEL: Haben Sie sich
nische Internetüberwachungsprogramm ohne persönliche Daten ab. „Es ist ein bei den Dreharbeiten
„Prism“ und das britische Pendant „Tem- Mythos, dass Suchmaschinen jemanden auch vom US-Geheim- Gosejohann
pora“ treiben viele Nutzer zu bisher tracken müssen, um Geld zu verdienen“, dienst NSA inspirie-
kaum bekannten Suchmaschinen. An- so Pappis. „Sucht jemand nach dem Be- ren lassen, der weltweit die Daten von
ders als etwa Google speichern Anbieter griff ,Auto‘, kann man schlicht eine Auto- Internetnutzern ausgespäht hat?
wie die US-Suchmaschine DuckDuck- werbung einblenden.“ Dazu benötige Gosejohann: Ich sehe mich weniger in
Go, das deutsche MetaGer oder das nie- man kein Tracking, es gehe nicht um die der Tradition amerikanischer Geheim-
derländische Ixquick keine Person. Sollten Vermutun- agenten, sondern eher in der Nachfol-
persönlichen Daten. „Wir Suchanfragen 3,3 gen über „Tempora“ stim- ge von Kurt Felix. Wir filmen nämlich
brechen gerade alle Rekor- bei DuckDuckGo 3,0 men, wonach der gesamte alles mit versteckter Kamera. Nur dass
de. Unsere Zugriffe haben pro Tag, in Millionen durch eine Fernleitung ich keine Paola an meiner Seite habe,
sich um 90 Prozent er- laufende Internetverkehr sondern meinen Bruder Thilo, der ei-
höht“, so Zac Pappis, ver- für bis zu 72 Stunden auf- gentlich Regisseur ist und nun zum ers-
2,0
antwortlich für Marketing gezeichnet wird, würde ten Mal vor der Kamera steht. Ange-
bei DuckDuckGo. Die selbst die Nutzung von sichts unserer technischen Mittel aber
Anonymisierung bei Duck- solchen auf Datenschutz wird jeder Top-Spion erblassen: Thilo
DuckGo geht so weit, dass 1,0 bedachten Suchalterna- und ich sitzen nämlich in einem Über-
Anbieter von Websites tiven wenig nützen. Alles wachungswagen, der mit einer sensa-
nicht einmal die Suchbe- Tun im Netz, das diesen tionellen Abhörmechanik ausgestattet
griffe sehen können, über 0 Knotenpunkt durchläuft, ist. Damit könnten wir sogar die Dialo-
die jemand die Seite ge- 2010 2011 2012 2013 wäre damit dokumentiert. ge der Wale am Kap Hoorn belauschen.
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INTERNET

Funkstille auf dem Bürgersteig


Freie W-Lan-Netze sind in Deutschland Mangelware: Die Betreiber
begeben sich in eine riskante rechtliche Grauzone, sie haften für alles, was andere
in ihrem Netz treiben. Nach der Bundestagswahl könnte sich das ändern.

E
in lauer Sommerabend Mitte Juni Generation zwei neue Grundbedürfnisse: Für Besucher wie Teju Cole fallen mit-
in Berlin, im Haus der Kulturen der volle Akkus und schnelle Internetverbin- unter immer noch horrende Roaming-Ge-
Welt im Regierungsviertel nimmt dungen allerorten – zu Hause, an der Uni, bühren an. Und datenintensive Inhalte wie
Teju Cole den Internationalen Literatur- im Café, Bahnhof, Flughafen. Filme, Musik oder auch die Digitalausgabe
preis entgegen. Der 1975 geborene Ro- Die Sache mit den Akkus, Steckern des SPIEGEL lassen sich ohnehin besser
manautor wuchs in Nigeria auf und lebt und Ladegeräten ist kein Problem – es mit einem „Wireless Local Area Network“
in New York. Wo er sich denn zu Hause sei denn, man hat eines dieser verma- laden, also einem drahtlosen lokalen Funk-
fühle, fragt die Moderatorin. „Home is ledeiten Dinger mal wieder vergessen. netzwerk, kurz W-Lan oder Wifi.
where there’s good Wifi“, antwortet er. Aber das Bedürfnis nach dem schnellen Im internationalen Vergleich ist
Heimat sei für ihn überall dort, wo er ein Internetzugang unterwegs lässt sich hier- Deutschland selbst in den Metropolen
gutes Funknetz ins Internet finde. „Und zulande nicht so einfach befriedigen. noch ein Flickenteppich und W-Neuland,
wo kein gutes Funknetz ist, da fühle ich Denn viele Nutzer von Smartphones jedenfalls was öffentliche Hotspots für je-
mich auch nicht zu Hause.“ und Tablets haben zwar Mobilfunkverträ- dermann angeht. Das Thema „Potentiale
Der Autor bringt damit ein Lebensge- ge, mit denen sie auch surfen können. der W-Lan-Netze“ schaffte es jüngst bis
fühl auf den Punkt, denn es gibt für seine Doch meist ist das Volumen beschränkt. in den Bundestag, wo der als Sachver-
128 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Medien

den Hals, damit die Besucher nicht aufs Den weitreichendsten Vorstoß hat die
Netz verzichten müssen. Telekom angekündigt, die mit ihren bis-
Doch nun gibt es hierzulande Anstren- lang 12 000 Zugangspunkten schon heute
gungen, in Sachen Anschluss aufzuschlie- den Markt dominiert. Seit Juni kooperiert
ßen. Ein Teil davon ist kommerziell mo- sie beim Angebot „WLAN to go“ mit
tiviert, denn der Netzzugang via Hotspot dem spanischen Unternehmen Fon, so
entwickelt sich zu einem Wettbewerbs- sollen bis 2016 deutschlandweit 2,5 Mil-
faktor und für viele Betreiber auch zu ei- lionen neue Hotspots entstehen.
nem attraktiven Geschäftsmodell. Vorrei- Hinter Fon steckt nichts anderes als die
ter allerdings waren nichtkommerzielle Idee der Freifunker, Kapazitäten zu tei-
Initiativen: Bereits vor mehr als einem len, nur machte der Argentinier Martin
Jahrzehnt gründeten sich die ersten Frei- Varsavsky daraus 2005 eine Geschäfts-
funk-Clubs mit dem Ziel, offene Netz- idee. Die mittlerweile international mehr
zugänge für alle zu schaffen. Die Idee als acht Millionen „Foneras“ bauen über
dahinter entspricht der „Ökonomie des ihre Router parallel zwei W-Lan-Netze
Teilens“: Jeder Router-Besitzer stellt ei- auf – eines für sich selbst und ein davon
nen Teil seiner nichtgenutzten Bandbreite getrenntes für Gastnutzer. Mitglieder kön-
anderen zur Verfügung. nen unterwegs kostenlos über andere
Dass Deutschland nicht nur Vorreitern Foneras ins Netz, Nichtmitglieder können
wie Estland oder Israel hinterherhinkt, sich Zugangspässe kaufen. In Deutsch-
hat vor allem rechtliche Gründe: Die land teilen sich die Spanier die Erlöse mit
Rechtsprechung nimmt die Betreiber of- dem neuen Partner Telekom.
fener Hotspots auch für das in Haftung, Dass die Telekom mit Fon zusammen-
was andere darüber im Netz so alles arbeitet, hat in der Branche manchen über-
treiben. Es sei deshalb, so Buermeyer rascht, denn zunächst galt Varsavsky als
im Bundestagsunterausschuss, derzeit in Herausforderer der Großkonzerne. Doch
Deutschland „nur mit sehr guten Nerven die sind zunehmend vom Datenhunger
oder sehr solidem finanziellen Rückgrat der Handynutzer überfordert und wollen
möglich, ein W-Lan-Netz für die Öffent- ihre Netze mit Hilfe von W-Lan entlasten.
lichkeit anzubieten“.
Schon seit Jahren fordern Verbände Das Funknetz ist
und Betroffene, diese sogenannte Störer-
haftung abzuschaffen oder zumindest zu Reisenden wichtiger als
beschränken. Die Bundesregierung lehnt
das als „weder geeignet noch erforderlich“ kostenloses Frühstück
ab. Sie entspricht damit unter anderem oder ein Gratisparkplatz.
den Wünschen der Musikindustrie, die
illegale Downloads verhindern will. Das Telekom-Fon-Projekt konkurriert
Doch nun werden die offenen W-Lans mit einer Fülle regionaler Initiativen: In
zum Wahlkampfthema. „International Berlin hat der Kabelnetzbetreiber Kabel
liegt Deutschland zurück, was offene Net- Deutschland (KDG) gerade mehr als 80
ze angeht“, sagt Gesche Joost, Design- neue Hotspots in Betrieb genommen,
professorin an der Universität der Künste über die Einheimische und Touristen eine
in Berlin und netzpolitische Beraterin von halbe Stunde lang kostenlos surfen kön-
Peer Steinbrück. Sollte die SPD die Bun- nen; danach dürfen nur KDG-Kunden das
destagswahl gewinnen, will sie die Störer- Netz weiternutzen. In München haben
HILMAR SCHMUNDT / DER SPIEGEL

haftung in der jetzigen Form nach spätes- die Stadtwerke in Kooperation mit dem
tens hundert Tagen abschaffen. Im Gegen- Telekom-Anbieter M-Net gerade einen
satz zur Forderung von Netzaktivisten Hotspot auf dem Marienplatz freigeschal-
sollen sich Gäste in offenen W-Lans nach tet, zahlreiche weitere im Stadtgebiet sol-
Joosts Vorstellungen allerdings mit einem len noch dieses Jahr folgen.
Freifunker-Treffen im C-Base in Berlin persönlichen Passwort anmelden. Viele Unternehmen sehen ihre Inves-
Die SPD-Wahlkämpferin ist mit ihrem titionen vor allem als Werbung und fol-
Vorstoß für offene Netze nicht allein: Die gen damit prominenten Vorbildern: In
ständige geladene Berliner Richter und Linke im Bundestag hat bereits einen ent- den USA hat Google jenes New Yorker
IT-Experte Ulf Buermeyer klagte: „Die sprechenden Gesetzesvorschlag vorgelegt, Stadtviertel mit kostenlosen öffentlichen
meisten westlichen Länder, aber auch vie- auch Piraten und Grüne setzen sich dafür Hotspots versorgt, in dem es seine
le Entwicklungsländer sind hier viel wei- ein, die Störerhaftung in Paragraf 8 im Firmenniederlassung hat. Bürgermeister
ter: Wenn Sie dort durch die Stadt gehen, Telemediengesetz einzuschränken. Michael Bloomberg pries das Unterneh-
können Sie quasi an jeder Ecke ein offe- Seine Motive seien nicht ganz uneigen- men öffentlichkeitswirksam dafür, die
nes W-Lan nutzen.“ Er selbst habe das nützig, sagt Konstantin von Notz, Spre- Stadt weiter zur Digital-Metropole zu
in Luxor und Kairo erlebt, in Washington cher für Innen- und Netzpolitik der Grü- entwickeln. Für den Internetgiganten
und Paris sowieso. „Anders bei uns, hier nen. Im Bundestag gebe es bis heute kein war das eine vergleichsweise günstige
herrscht weitgehend Funkstille auf dem W-Lan: „Heute Morgen konnte ich daher Werbung: Der Aufbau des Netzes beläuft
Bürgersteig.“ meinen Redeentwurf stundenlang nicht sich auf kaum mehr als 100 000 Dollar,
Tatsächlich lassen sich andere Länder abschicken.“ die jährlichen Betriebskosten liegen un-
einiges einfallen, um eine Vollversorgung Trotz der unsicheren Rechtslage ver- ter 50 000 Dollar.
zu erreichen: In einem historischen Park suchen einige Firmen bereits, das Funk- Hotelbetreiber können es sich inzwi-
in Israel tragen sogar die Esel Router um vakuum zu füllen, um Kunden zu binden. schen gar nicht mehr leisten, keinen frei-
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Medien

en Netzzugang anzubieten. Laut einer wegian ist das schnelle Wifi auf inner- Auch die Vorreiter des nahtlosen Netz-
Umfrage unter weltweit 8600 Reisenden europäischen Flügen kostenlos. empfangs sehen in der Störerhaftung das
vom Februar finden drei Viertel der Be- Die Visionäre dieser Entwicklung tref- größte Hindernis für einen flächende-
fragten, der kabellose Internetempfang fen sich an einem Mittwochabend Mitte ckenden Funkteppich. „Das ist ungefähr
gehöre zur Grundausstattung eines Ho- Juni an einem Ufergrundstück an der so, als wenn das Straßenbauunternehmen
tels. Das Funknetz ist ihnen wichtiger als Spree im Club namens C-Base. Unter dafür haftet, wenn ein Autofahrer einen
kostenloses Frühstück oder ein Gratis- Bäumen glimmen bläulich die Bildschir- Unfall baut“, sagt Paufler.
parkplatz. me, der Freifunker-Verein hält seine wö-
Sogar die Deutsche Bahn bietet mitt- chentliche Sitzung ab. „Offene Funknetze
lerweile in rund 90 von 255 ICE-Zügen sind so wichtig wie Straßen oder Strom- Oma Ilona hat angeblich
W-Lan an, bis Ende 2014 soll es dann end- leitungen, das gehört zu einer funktionie-
lich in allen sein. Kostenlos ist die Nut- renden Stadt dazu“, sagt Daniel Paufler.
illegal einen Film her-
zung allerdings nur in den Lounges in den Vor zehn Jahren setzten sich die idealis- untergeladen. Sie besitzt
Bahnhöfen. In den Zügen müssen die tischen Bastler das erste Mal zusammen,
Bahnfahrer fürs W-Lan bezahlen – an die heute betreiben Freiwillige in Berlin über aber gar keinen Rechner.
Telekom. Der gerade deregulierte Fern- 250 offene W-Lan-Hotspots.
busmarkt ist da schon weiter. Fast alle An- Um Geld zu sparen, buchen sie nur Und die Gefahr ist keineswegs abstrakt,
bieter haben W-Lan an Bord – vielleicht wenige Leitungen und verteilen den In- wie die Rentnerin Ilona A. feststellen
auch als Trost für die längere Fahrzeit. ternetanschluss mit Hilfe von Richtfunk- musste. Im Februar 2010 erhielt die 65-
Die Lufthansa hat inzwischen nach ei- antennen auf Kirchtürmen und Platten- Jährige ein Mahnschreiben: Sie habe ille-
genen Aussagen mehr als 90 Prozent ihrer bauten weiträumig über die Stadt. Von gal einen Hooligan-Film aus dem Netz
Langstreckenflotte mit Internetzugang den Dächern werden die Daten dann geladen und solle 651,80 Euro Strafe zah-
nachgerüstet, den sie sich allerdings gut über Kabel in die Nachbarschaft ge- len. Das wunderte sie, denn sie besitzt
bezahlen lässt: Eine Tages-Flatrate kostet schickt. zwar einen Anschluss, aber gar keinen
an Bord 19,95 Euro. Vorreiter beim W- Früher stand das offene Bürgernetz für Computer. Seitdem klagt sie sich durch
Lan in der Luft waren vor allem die Golf- eine antikapitalistische Utopie, heute be- die Instanzen, derzeit ist ihr Prozess beim
Airlines, auch im US-Luftraum ist die letz- grüßen die klammen Stadtväter die Frei- Bundesgerichtshof in Karlsruhe anhängig.
te netz- und handyfreie Bastion längst funker als Ersthelfer in Sachen Infrastruk- Da es noch keinen Entscheid gebe, müsse
gefallen, Delta bietet Reisenden eine Jah- tur, die Medienanstalt Berlin-Branden- sie die Strafe abstottern, erzählt Oma Ilo-
res-Flatrate für 469,95 Dollar an. Bei Nor- burg fördert sie mit 30 000 Euro. na: pro Monat 75 Euro.
„Die Rechtslage ist surreal“, sagt Ansgar
Oberholz. Er steht an der Bar des Cafés
St. Oberholz in Berlin, hinter ihm etliche
Freie Netze Kunden mit aufgeklapptem Notebook.
Kostenlose Wireless- Das Café ist auch durch sein schnelles W-
Lan-Zugänge in Lan und seine Lage an der Torstraße in
Rostock Berlin-Mitte zu einem Treffpunkt für die
Deutschland
digitale Boheme geworden.
Hamburg „Bis 2011 haben wir meist eine Abmah-
nung pro Jahr bekommen“, sagt Ober-
holz, „dann plötzlich acht in drei Mona-
Bremen ten.“ Der Vorwurf war stets derselbe: An-
Berlin geblich hatten Gäste sein W-Lan genutzt,
Hannover um urheberrechtlich geschützes Material
Magdeburg herunterzuladen oder ins Netz zu stellen.
Um den Abmahnungen spezialisierter
Kanzleien zu entgehen, leitet er den
Datenverkehr zum Provider Hotsplots
Dortmund Leipzig um. Der wirbt damit, dass seine Kunden
Düsseldorf nicht identifiziert werden können.
Erfurt
Köln Dresden Der Freinetz-Verein sah sich zwischen-
zeitlich sogar zu noch drastischeren Ver-
renkungen gezwungen: Er schickte sei-
nen lokalen Datenverkehr aus Berlin
Frankfurt über eine verschlüsselte Verbindung nach
Schweden. Vergangenes Jahr verteilte er
an Cafés und Bars Hunderte sogenannter
„Freedom Fighter Boxes“, W-Lan-Router,
Nürnberg
in deren Firmware der Umweg über
Saarbrücken Schweden bereits programmiert ist.
Stuttgart So ähnlich machen es Dissidenten, um
in autoritären Staaten der Zensur zu ent-
gehen. MARCEL ROSENBACH,
HILMAR SCHMUNDT

München Video: Ein W-Lan-Café


Quelle:
www.freie-hotspots.de in Berlin
Stand: 21. Juni
http://www.spiegel.de/app272013wlan
oder in der App DER SPIEGEL

130 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
U N T E R H A LT U N G

Einfach
nur krass
Videospielen ist für viele
ein Hobby – und für
manche harte Arbeit: Sie lassen
sich per Livestream
beim Zocken beobachten.

J
eden Vormittag gegen zehn schüttet
Jayson Love ein paar Tassen Kaffee
in sich hinein. Dann nimmt er Platz
in seinem Keller in einer 100 000-Einwoh-

GORDONWELTERS.COM / DER SPIEGEL


ner-Stadt in Montana, schaltet die beiden
Computer an, richtet sein Headset – und
los geht die Show.
Sobald die Webcam läuft, verschwindet
der perspektivlose College-Absolvent,
und hervor tritt MAN, ein quasselnder
und fluchender Videospiel-Junkie, der
sich mal als Spider-Man, mal als Donkey
Kong durch virtuelle Welten kämpft. Bis Gäste der Berliner Kneipe Meltdown: Öffentlicher Kampf gegen Aliens und Orks
zu zehn Stunden am Tag sendet Love, 33,
live ins Internet, wie er Videospiele zockt len zuzuschauen. Heute reichen ein paar 4,99 Dollar fürs werbefreie Gucken und
und lautstark kommentiert. Tausende Be- Klicks im Netz. Aber nicht nur passio- die Chat-Funktion zahlen.
sucher folgen ihm in Echtzeit. Knapp 22 nierte E-Sports-Fans schätzen das Live- Die Streaming-Plattform Twitch betei-
Millionen Abrufe hat sein Kanal auf der streaming. Die meisten Nutzer wollen ligt Spieler mit hoher Reichweite zudem
Streaming-Plattform Twitch. sich einfach ein paar Tricks abschauen an den Werbeeinnahmen. Wie viel sie ge-
Anstatt allein vor Konsole oder Laptop oder vorm Bildschirm entspannen. Sie nau bekommen, darüber schweigen beide
zu hocken, gucken Fans lieber anderen lassen die Streams nebenbei laufen, wäh- Seiten. YouTube zahlt seinen Partnern
Spielern per Livestream zu, die geschick- rend sie auf Facebook unterwegs sind Schätzungen zufolge einen Dollar pro
ter sind als sie selbst oder ihren Kampf oder die Wohnung putzen. Mitunter die- 1000 Abrufe. Bei Twitch sei die Summe
gegen Aliens und Orks besonders unter- nen Spieler mit sonorer Stimme sogar als „wesentlich höher“, sagt Matthew DiPie-
haltsam kommentieren. Die letzte Meis- Einschlafhilfe. tro, Vizechef der Marketingabteilung.
terschaft im Strategiespiel „League of Le- Viele, die jetzt zu Hause vor dem Lap- „Locker mehr als ein Dutzend“ Partner
gends“ schauten zu Spitzenzeiten bis zu top sitzen, haben früher ihren Kumpels der Seite zockten inzwischen hauptberuf-
1,2 Millionen online an. im Kinderzimmer beim Spielen zuge- lich fürs Internetpublikum – auch wenn
Zentrum der deutschen Zocker-Ge- guckt. Wie Blogger oder YouTube-Stars sie davon wohl nicht reich werden.
meinde ist die Kneipe Meltdown in Ber- sind die Vorspieler für sie wie Freunde, Twitch dominiert den Markt. Pro Monat
lin-Kreuzberg. Hier treffen sich die meist die ein bisschen lustiger oder geschickter schauen mehr als 35 Millionen Besucher
männlichen Anhänger von Titeln wie sind als sie selbst. vorbei, das kalifornische Unternehmen
„StarCraft II“ oder „Dota 2“ zum kollek- Jayson Love alias MAN ist kein beson- beschäftigt nach eigenen Angaben 80 Mit-
tiven Gucken. An den Wänden hängen ders talentierter Spieler, das sagt er von arbeiter. Kürzlich hat es bekanntgegeben,
breite Flachbildschirme, man trinkt Ber- sich. Trotzdem kann er inzwischen von dass Besitzer der neuen Xbox in Zukunft
liner Pilsner oder fritz-kola. Es läuft das seinem Kanal auf Twitch leben, auf die- ihre Spiele von der Konsole live über
Finale eines großen „StarCraft II“-Turniers, ser Seite kann jeder seine Spiele live ins Twitch streamen können.
Preisgeld für den Sieger: 40 000 Dollar. Netz senden. Love sieht sich als Enter- Für Spielehersteller sind die Live-
Betreiber David Krause, Leinenschlap- tainer, zwischen den Levels chattet er streams kostenlose Werbung. Deshalb tole-
pen und Schnurrbart, fachsimpelt mit mit Zuschauern oder erzählt von seinem rieren die meisten, dass das Urheberrecht
zwei Gästen: „Soulkey ist einfach nur bedenklichen Kaffeekonsum. Ansonsten grundsätzlich verletzt wird, wenn ganze
krass.“ Soulkey, ein schmächtiger Süd- bestehen seine Kommentare vor allem Spieldurchläufe ins Netz gestellt werden.
koreaner, hat gerade das Viertelfinale ge- aus Flüchen und Grunzlauten. Er ist Mo- Manche lassen erfolgreiche Vorspieler so-
wonnen. Die Südkoreaner dominieren derator, Regisseur und Manager in einem. gar neue Titel vorab ausprobieren, andere
die „StarCraft II“-Szene, alle Europäer Loves Job ist harte Arbeit. Zeit für Es- betreiben auf Streaming-Seiten eigene
und Amerikaner sind gestern ausgeschie- sen und Trinken oder den Gang aufs Klo Kanäle.
den. Deshalb sei es heute leerer als sonst, bleibt Love während der stundenlangen Der japanische Hersteller Nintendo hat
sagt Krause. Sitzungen kaum. „Wenn ich spiele, bin jedoch die Szene gegen sich aufgebracht,
Manche Besucher der Kneipe fiebern ich wie ein Kamel, ich bin wie in Hypno- er will auf Kanälen mit Nintendo-Inhal-
mit den E-Sportlern wie Fußballfans mit se“, sagt er. Jede Stunde schaltet Love ei- ten eigene Werbung schalten – und den
ihrer Mannschaft. Vor ein paar Jahren nen dreiminütigen Werbeblock in seinen Spielern damit Werbeeinnahmen weg-
mussten sie noch zu Computerspiele-Mes- Stream. Haupteinnahmequelle sind aber schnappen. Die Szene ist empört und
sen oder Turnieren pilgern, um ihren Ido- seine 1600 Abonnenten, die monatlich droht mit Boykott. ANN-KATHRIN NEZIK

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132 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Register
GESTORBEN stand. Sein aggressives Geschäftsgebaren
brachte ihm wiederholt Ärger mit der Jus-
SONNTAG, 7. 7., 21.50 – 22.35 UHR | RTL Hans Hass, 94. Er sollte Anwalt werden tiz ein. 1983 klagten ihn die US-Behörden
SPIEGEL TV MAGAZIN wie sein Vater, doch als Student beobach- wegen Steuerhinterziehung und illegaler
tete der in Wien geborene Hass Ende der Iran-Geschäfte an. Rich drohten 325 Jahre
Wohin mit Oma? – Pflegeheime in dreißiger Jahre Taucher an der Mittel- Haft. Er galt als Staatsfeind Nummer eins.
Osteuropa als bezahlbare Alternative; meerküste: Für die Im Jahre 1985 wollten ihn US-Fahnder,
Zu Gast bei Fremdenfeinden – Böller auf Juristerei war er von trotz einer Steuerrückzahlung von mehr
Güstrower Asylbewerberunterkunft; da an verloren. Es als 150 Millionen Dollar, sogar aus seinem
Kostbare Karpfen – Schwimmende folgte ein Forscher- Schweizer Unterschlupf entführen, um
Geldanlage in deutschen Teichen leben ohne Beispiel – ihn vor Gericht zu bringen. Die Aktion
meist unter Wasser: scheiterte. Erst 2001 begnadigte ihn der
Vieles, was er für sei- damalige US-Präsident Bill Clinton an sei-
SONNTAG, 7. 7., 17.35 – 18.30 UHR | SKY ne Expeditionen in nem letzten Tag im Amt. Marc Rich starb
SPIEGEL GESCHICHTE die Tiefen der Ozeane am 26. Juni in Luzern.

KEYSTONE
brauchte, erfand der
Apokalypse in Le Mans Österreicher selbst, Henning Larsen, 87. Der dänische Archi-
Das Unglück von Le Mans ist ein etwa ein Schwimm- tekt und seine über hundert Mitarbeiter
Datum der Geschichte, das weit über tauchgerät, mit dem er sich autonom in sind vor allem für Kulturbauten bekannt:
die Welt des Rennsports hinausgeht. bis zu 20 Meter Tiefe bewegen konnte, für das Konzerthaus in Reykjavík etwa
Beim Unfall eines Mercedes-Silber- spezielle Gehäuse für Unterwasserkame- oder das Opernhaus in Kopenhagen. Ty-
pfeils am 11. Juni 1955 starben mehr ras mit und ohne Blitz oder die „Hans- pisches in seinem Werk lässt sich auch an
als 80 Menschen. Der Film schildert Hass-Flosse“. Seine Assistentin und spä- einem Bürobau erklären – dem Haus der
das Ereignis vor dem Hintergrund der tere Ehefrau Lotte Baierl machte er zum SPIEGEL-Gruppe an der Ericusspitze in
wirtschaftlichen und politischen Bezie- Unterwasser-Fotomodell. Hass publizierte Hamburg. 2007 hatte das Büro Larsen
hungen der europäischen Staaten in mehr als 30 Bücher („Welt unter Wasser“), den Wettbewerb gewonnen, vor zwei Jah-
den fünfziger Jahren. er drehte über 70 Filme („Unternehmen ren wurde das Gebäu-
Xarifa“). Zeitlebens setzte er sich für den de fertiggestellt. Es
FREITAG, 5. 7., 20.15 – 21.00 UHR | PAY TV Schutz der Haie ein. Sowohl eine Kegel- nimmt die Form des
BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN schnecke als auch ein Röhrenaal wurden Grundstücks auf: die
SPIEGEL TV WISSEN nach ihm benannt. Über viele Jahre war nordöstliche Spitze
der Meeresforscher ein gefragter Unter- der HafenCity. Trotz
Probewohnen im Haus von morgen nehmensberater. Hans Hass starb am 16. AGNETE SCHLICHTKRULL
einer Geschossfläche
Das Ehepaar Simone Wiechers und Juni in Wien. von 30 000 Quadrat-
Jörg Welke lebt mit seinen zwei Kin- metern und einer Ge-
dern schon heute in der Welt von Marc Rich, 78. Das FBI führte ihn auf sei- bäudehöhe von 61
morgen. Seit Frühjahr 2012 wohnt die ner „Most-wanted-Liste“ jahrelang ganz Metern folgt der Ent-
Testfamilie im zukunftsweisenden oben, genau wie das US-Wirtschaftsmaga- wurf dem Prinzip
Effizienzhaus Plus. In Berlin, ganz in zin „Forbes“ in seinem Ranking der welt- Leichtigkeit. Die Fassade ist gläsern, im
weit reichsten Menschen. Der langjährige Inneren herrschen viel Weiß und helles
Herrscher über Glencore, den wohl mäch- Holz. Larsen studierte Architektur in Lon-
tigsten Rohstoffkonzern der Welt, galt als don und Kopenhagen und arbeitete ab
Pionier der Globalisierung. Als ein Ma- 1951 bei seinem Landsmann Arne Jacob-
cher, der den internationalen Handel re- sen. 1959 gründete er sein eigenes Archi-
volutionierte, und zugleich als Sinnbild tekturbüro. Derzeit baut „Henning Lar-
des skrupellosen Geschäftsmanns, der be- sen Architects“ die Konzernzentrale von
stach, Wirtschaftsembargos brach und Ge- Siemens in München. Henning Larsen
schäfte mit Diktatoren machte. „Richs Er- starb am 22. Juni in Kopenhagen.
folgsgeheimnis war seine Verschwiegen-
heit“, resümierte sein Henning Ritter, 69. Lektor, Übersetzer
Biograf Daniel Am- und Feuilletonist wurde er nur, weil man
SPIEGEL TV

mann. Jahrelang exis- ja von etwas leben muss; am liebsten hätte


tierten nicht mal Fo- der schlagfertige, endlos belesene Sohn ei-
Testfamilie im Effizienzhaus Plus tos von ihm. Rich nes Philosophieprofessors unmittelbar an
HELMUT WACHTER / 13PHOTO

wurde in Antwerpen den Debatten seiner geliebten französi-


der Nähe von Kurfürstendamm und geboren, seine Eltern schen Aufklärer Rousseau und Diderot
Bahnhof Zoo. Der vom Bundesminis- waren aus Deutsch- teilgenommen. In der Beilage „Geisteswis-
terium für Verkehr, Bau und Stadtent- land vor den Nazis senschaften“ der „Frankfurter Allgemei-
wicklung finanzierte Neubau erzeugt nach Belgien geflo- nen“ schuf er von 1985 an tatsächlich eine
durch Photovoltaikanlagen sowie Wär- hen. Über Marokko Art Salon für kluge Köpfe – sogar der Phi-
mepumpe und -tauscher doppelt so kam die Familie losoph Hans Blumenberg lieferte ihm Lek-
viel Energie, wie die Bewohner ver- schließlich 1941 in die USA. In den fünf- türefunde und Diagnosen. Ritters vielge-
brauchen. Was die Testfamilie im All- ziger Jahren begann Richs schneller Auf- rühmte „Notizhefte“ bündelten 2010 in
tag erlebt und wie selbstproduzierter stieg bei dem deutschstämmigen US-Roh- Buchform ausgewählte Einfälle und Apho-
Strom in eine energiegeladene Party stoffhändler Philipp Brothers. 1974 grün- rismen aus dem geistigen Kosmos dieses
umgeleitet wird, zeigt der Film von dete Rich dann seine eigene Firma in der erzliberalen Intellektuellen. Henning Rit-
Thomas Schaefer. Schweiz, aus der später Glencore ent- ter starb am 23. Juni in Berlin an Krebs.
134 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
Personalien

Pilot und Papa Shimon Peres, 89, israelischer Präsi-


dent, musste für die vorgezogenen
In ungefähr drei Wo- Feierlichkeiten seines 90. Geburtstags
chen soll Kate, 31, Her- manch bissige Bemerkung einstecken.
zogin von Cambridge, Kommentatoren israelischer Zeitun-
ihr erstes Kind zur gen geißelten die Inszenierung der
Welt bringen. Die zweistündigen Gala am 18. Juni im
Nation fiebert mit, International Convention Center von
erst recht seit bekannt Jerusalem als „kitschig“. Ex-US-Präsi-
wurde, dass Ehemann dent Bill Clinton, Hollywood-Ikone
William, 31, bei der Ge- Barbra Streisand und Stars wie Robert
burt möglicherweise De Niro hatten an der Feier teilgenom-
nicht anwesend sein men. Das Übermaß an Personenkult
kann. So berichtet es um den Friedensnobelpreisträger, der
das Online-Portal am 2. August 1923 in Polen geboren
Female First, das sich wurde, erinnere an Nordkorea, hieß
auf eine nicht nament- es gar. Uri Misgav, Journalist der gro-

MAX MUMBY / INDIGO / GETTY IMAGES


lich genannte „Quelle“ ßen linksliberalen Zeitung „Haaretz“,
beruft. Der „beschei- empfahl dem Präsidenten nun: „Versu-
dene“ Prinz habe auch chen Sie doch, Ihren 91. Geburtstag zu
erst vor kurzem be- Hause auf dem Rasen Ihrer Residenz
tont, dass er „niemals zu feiern, mit einem Kuchen und ein
eine Sonderbehand- paar Salaten.“
lung“ seitens seines
Arbeitgebers, der Martin Amis, 63, britischer Literat,
Royal Air Force, ak- bearbeitet zurzeit ein heikles Thema.
zeptieren würde. Der Zweite in der Thronfolge der britischen Monarchie ist Sein Roman, der kommendes Jahr
Rettungshubschrauberpilot und hat entsprechend unregelmäßige Arbeitszeiten. erscheinen soll, erzählt die Liebesge-
Dass William einige Wochen Elternzeit nehmen wird, steht aber bereits fest. schichte zwischen der Ehefrau des
Auschwitz-Kommandanten und einem
erfundenen Neffen von Hitlers Privat-
sekretär Martin Bormann. Amis erwar-
Animierter Zeitzeuge tet Kritik: „Ich respektiere die Ansicht,
dass man über Auschwitz nicht schrei-
Der polnische Reporter Ryszard achtete. Er begab sich dann auf eine ben sollte, aber ich teile sie nicht.“ Be-
Kapuściński (1932 bis 2007) war, auch tollkühne Reise an der Frontlinie des reits 1991 veröffentlichte Amis „Pfeil
wegen seiner Berichterstattung aus Bürgerkriegs entlang, traf Rebellen- der Zeit“, eine fiktive Autobiografie
Afrika, schon zu Lebzeiten eine Legen- führer und wurde Zeuge von Massa- eines Assistenten des SS-Arztes Josef
de. Jetzt wird sein Buch „Wieder ein kern. „Im animierten Teil erzählen wir Mengele. Das Buch wurde hoch gelobt
Tag Leben. Innenansichten eines Bür- den Krieg nach, subjektiv, aus dem und scharf kritisiert. Er fürchte, der
gerkriegs“ verfilmt, als Kombination Blickwinkel Kapuścińskis“, sagt Regis- Holocaust könne in Vergessenheit ge-
aus Zeichentrick und Realfilm. Ka- seur Raúl de la Fuente. Im dokumenta- raten, so Amis. Auch das sei ein
puściński beschreibt, wie er sich 1975 rischen Teil kommen Bekannte Kapu- Grund, dieses neue Buch zu schreiben.
in Angolas Hauptstadt Luanda einquar- ścińskis und andere Zeugen des Krieges
tiert hatte und aus dem Fenster seines zu Wort. Der Film, eine polnisch- Ursula von der Leyen, 54, Bundesar-
Zimmers im Hotel Tivoli die Flucht der belgisch-deutsch-spanische Co-Produk- beitsministerin (CDU), nervt auch die
portugiesischen Kolonialherren beob- tion, soll 2015 in die Kinos kommen. Großen der Weltpolitik. Anlässlich des
90. Geburtstags des ehemaligen US-
Außenministers Henry Kissinger hatte
der amerikanische Botschafter Philip
Murphy in seine Berliner Residenz
geladen. Kissinger wollte von den Gäs-
ten wissen, wie sie die Lage in Syrien
einschätzen und welches für sie die
Top-Prioritäten in der Weltpolitik sei-
en. Von der Leyen antwortete umge-
hend: „Unser wichtigstes Problem ist
die Bekämpfung der Jugendarbeits-
losigkeit.“ Kissinger, so berichten Teil-
nehmer, glaubte sich verhört zu haben.
„Meinen Sie wirklich, das ist das größ-
te weltpolitische Problem?“, fragte er
zurück. Von der Leyen bestätigte dies
ungerührt. Andere Gäste, darunter
PLATIGE FILMS

Gesundheitsminister Daniel Bahr und


andere Bundestagsabgeordnete, schie-
nen peinlich berührt.
136 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3
DUSAN RELIN / MAO
Inspirierte Direktorin sche Schauspielerin, gründete ein Inter- ihre Position als „Oberste Direktorin
netunternehmen, über das sie giftstoff- für Inspiration“ ließ ihr Zeit, ein Buch
Nach der Goldenen Himbeere als freie Windeln, Babypflegeprodukte zu schreiben. In „The Honest Life“ be-
schlechteste Nebendarstellerin in vier oder Putzmittel vertreibt. Alba war richtet Alba von potentiell giftigen Che-
verschiedenen Filmen allein im Jahr selbst gerade Mutter geworden, die Ge- mikalien, die in Alltagsgegenständen
2011 war es wohl an der Zeit, sich nach schäfte ihrer Firma The Honest Com- vorkommen können, von Alternativen
einem neuen Betätigungsfeld umzu- pany florierten von Anfang an. Inzwi- zu chemischen Putzmitteln und von
sehen. Jessica Alba, 32, US-amerikani- schen hat sie eine zweite Tochter, und den Vorzügen der Öko-Kosmetik.

Sensible Technik Heute Pirat, morgen privat


Seit das Bundesverfassungsgericht Die US-Ausgabe des „Rolling
wegen Umbauarbeiten ein Aus- Stone“ widmet Johnny Depp,
weichquartier bezogen hat, gibt es seit dem 9. Juni 50 Jahre alt,
Ärger mit der Technik: Sprechen eine Titelgeschichte. Enfant
Richter oder Verfahrensbeteiligte zu terrible, Sexsymbol, Vater –
leise, bleibt die sensible Anlage Depp hat auch im wahren Le-
aus – und die Zuhörer hören: nichts. ben schon viele Rollen erfüllt.
Verfassungsgerichtspräsident An- Nun denke er „jeden Tag“ an
dreas Voßkuhle, 49, versuchte die Ruhestand, sagte Depp dem
laut murrenden Beteiligten bei der Magazin. Ausgereifte Pläne
jüngsten Verhandlung zur Euro- für Rentner Depp liegen aber
Rettung zu besänftigen: „Es ist, wie nicht vor. Er weiß auch nicht,
ULI DECK / DPA

man uns gesagt hat, eine sehr gute wie das gehen soll. Wenn er
Anlage“, erklärte er, „sie erfüllt nur nichts zu tun habe, werde er
ihren Zweck nicht so ganz.“ nämlich ganz „kribbelig“.
D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3 137
Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der „Rhein-Zeitung“: „Mit seinen Zitat


großformatigen Skulpturen, kleinen Torsi,
Bildern und Zeichnungen gibt der Aus- Die „Leseranalyse Entscheidungsträger
nahmekünstler, der bereits zu Lebzeiten in Wirtschaft und Verwaltung“ zur Reich-
als Einzelgänger galt, Empfindungen und weite des SPIEGEL:
körperliche Ausdrucksformen sensibel
wieder.“ Der SPIEGEL erzielt die höchste Reich-
weite aller erhobenen Print-Medien. Sie
stieg um acht Prozent auf 30,2 Prozent.
Aus der „Berliner Zeitung“: „Der Chef- Mit 819 000 Lesern bleibt der SPIEGEL
aufseher Platzeck musste wiederholt führend. „Focus“ und „Stern“ haben da-
Brandherde austreten, auch weil der neue gegen an Reichweite in der wichtigen Ziel-
Geschäftsführer Hartmut Mehdorn sein gruppe der Entscheidungsträger verloren:
Feuerwerk der Ideen zündete.“ „Focus“ minus fünf Prozent auf 21,1 Pro-
zent (573 000 Leser), „Stern“ minus sechs
Prozent auf 20,8 Prozent (563 000 Leser).
Unter den Online-Angeboten führt SPIE-
GEL ONLINE mit 806 000 Nutzern pro
Woche mit Abstand das Ranking der er-
hobenen Entscheidermedien im Internet
Aus der „WAZ“ an. Einen deutlichen Abstand auf die
Wettbewerber haben auch die SPIEGEL-
Apps für Smartphone und Tablet-Compu-
Aus dem Celler „Markt“: „Von den Berg- ter. Sie sind die meistgenutzten unter den
völkern in Sibirien über marokkanische beobachteten Applikationen.
Tuareg-Stämme bis hin zu den australi-
schen Aboriginals, ,da ist ein gewaltiges
universelles Wissen …‘, erklärt er.“ Der SPIEGEL berichtete …
… in Nummer 26/2013 „Mit allen Mitteln“
Aus der „Westfalenpost“ über die Kultur- über Manipulationen bei der Bundesagen-
geschichte der Liebe in den Fünfzigern: tur für Arbeit.
„Schon gar nicht in Filmen mit Traumlie-
bespaaren wie Sonja Zietlow und Rudolf Vergangenen Dienstag schrieb der Chef
Prack …“ der Regionaldirektion Niedersachsen-Bre-
men allen Mitarbeitern der ihm unterstell-
ten 16 Arbeitsagenturen: „Die Bundes-
agentur für Arbeit steht seit dem Wochen-
ende durch einen Artikel im SPIEGEL in
der öffentlichen Kritik … Sollte es
Schwachstellen geben, werden wir daran
Aus der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ arbeiten, diese abzustellen. Bei uns wird
nicht geschummelt. Manipulation wird
nicht toleriert und zieht Konsequenzen
Aus dem „Bündner Tagblatt“: „Gestern nach sich.“ Darauf kam am nächsten Tag
befanden sich nach Angaben der ,Tages- mit gleichem Verteiler die Antwort-Mail
schau‘ noch zwei Personen in fünf ver- eines Mitarbeiters aus der Agentur Bre-
schiedenen Spitälern.“ men/Bremerhaven: „Ich verstehe diese
Aussage so, dass Sie davon ausgehen,
dass die Mitarbeiter/innen vor Ort für die
fehlerhafte Erfassung verantwortlich sein
sollen. Ist es nicht vielmehr so, dass sie
auf Anweisung gehandelt haben?“
Aus der „Mittelbadischen Presse“
… in Nummer 25/2013 „Mogadischu in
Apulien“ über in Italien gestrandete afri-
Aus der Arzt-Kolumne von Professor Diet- kanische Flüchtlinge.
rich Grönemeyer in der TV-Beilage „Pris-
ma“ über Demenz: „Weiß ich doch aus Das Verwaltungsgericht Stade stoppte
eigener Erfahrung, wie unbegreiflich für jetzt die Abschiebung eines Flüchtlings
den Betroffenen selbst dieser schleichen- nach Italien. In dem Urteil heißt es: „Ins-
de Krankheitsverlauf ist! Nicht vergessen besondere der aktuelle Bericht des Men-
zu werden wäre auch mein Wunsch.“ schenrechtskommissars des Europarats
Nils Muižnieks weist nach wie vor beste-
hende systemische Mängel des Asylver-
Aus dem „Tagesspiegel“: „Die Unesco fahrens und der Aufnahmebedingungen
nimmt Marx in die Welterbe-Liste auf – nach. Dies wird gestützt durch aktuelle
jetzt will Gysi die Kanzlerin an seinem Presseberichte, zuletzt im SPIEGEL
Grab sehen.“ 25/2013, „Mogadischu in Apulien“.
138 D E R S P I E G E L 2 7 / 2 0 1 3

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