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SABINE BÜSSING

Die nackte Wahrheit


hintenn Notenschlüsselloch
Was Sie niemals über unsere großen deutschen
Komponisten erfahren wollten

FRIELING
lmYerlag Frieling & Partner erschienen von Sabine Büssing bereits die Bücher
>Das deutsche Reiseschaudeöuch. Satiren< QSBN 3-8280-0617-5) und
>lruchthrm im Dschungel. Roman über das Leben des Schriftstellers
Robert Louis Stevenson< (ISBN 3 -8280 -07 59 -7 ).

Die Deutsche Bibliothek - ClP-Einheitsaufrrahme


Büssing, Sabine:
Die nackte Wahrheit hinterm Notenschlüsselloch : was Sie niemals über unsere
großen deutschen Komponisten erfalnen wollten /
Sabine Büssing. - Orig.-Ausg.,
l. Aufl. - Berlin : Frieling, 2üX)
rsBN 3-8280-r201-9

@ Frieling & Partner GmbH Berlin


Hünefeldzeile 18, D-12247 Berlin-Steglitz
Telefon: 0 30 I 76 69 99-0

ISBN 3-8280-1201-9
l. Auflage anno 2(XX)
Umschlaggestaltung: Michael Reichmuth
Strmtl iche Rechte vorbehalten
hintcd in Germany
Inhalt:

Dur oder Moll? 7

Vom Sachsen, der auszog, das Fürchten zu lehren


Georg Friedrich Händel 9

Der Fluch der Lämmerhirtin


Johann Sebastian Bach. . 24

Ein Kunstmensch in Kunsthausen


Joseph Haydn 35

Ungedopt sollst du nicht spielen geh'n


WolfgangAmadeusMozart ....... 48

Wurmstichig und turteltaub


LudwigvanBeethoven... ....,.. 66

Schwämmlein vor dem Fischgericht


Franz Schubert. .. . . 77

Der in der Wolfsschlucht tanzt


Carl Maria von Weber 87

Der Notenvampir
Robert Schumann 104

Rheingold ist besser als kein Gold


Richard Wagner 116

Schlafe, mein Hänschen


Johannes Brahms 134

Gustaverl, Gott und Heil'ger Geist


Gustav Matrler 146
Dur oder Molt?

Das ist die alles entscheidende Frage, der wir uns hier stellen müssen. Es geht
nicht etwa darum, ob uns bei der folgenden Lektüre traurig oder gar froh zumute
werden soll. Zwar bedeutet für den durchschnittlichen Musikliebhaber - also
unsereins - die Tonart Dur soviel wie Heiterkeit, Moll dagegen Wehmut, Schwer-
mut, Wermut. Doch das trifft nicht den Kem unseres Problems. Geht man vom
wörtlichen Sinn der beiden Begriffe aus, hat man sofort den Notenschlüssel bei
der Hand. >Dur< ist hart, >Moll< ist weich. Mit anderen Worten: Führen wir unse-
re Untersuchung auf die sanfte, butterweiche Tour durch, der Melodienseligkeit
gehorchend - oder schlagen wir, wo nötig, harte Töne an, den unbarmherzigen
Paukenklang des >Dies irae<, des Jüngsten Gerichts, bei dem ohne falsche Rück-
sicht jedes Ding ans reinigende Licht der Wahrheit kommt? Dies ist eine wahrhaft
schwierige Entscheidung.
Denn wir alle lieben unsere deutschen Komponisten doch aus tiefstem Herzen,
mit inbrünstiger Verehrung und untertänigster Demut im Angesicht jener großen
Schöpfergestalten. Wir sind uns natürlich der Tatsache bewußt, daß sie auch in
gewissem Grade Menschen waren, nicht ausschließlich Genies. Das ahnten man-
che von ihnen sogar selbst; zumindest wut3ten sie es genau von ihren Kollegen. Es
soll mithin nicht der plumpe, reißerische Versuch unternommen werden, das allzu
Menschliche in unseren großen Meistern herauszustreichen, um sie auf solch bil-
lige Art, die nur der Sensationspresse gebührt, mit Brachialgewalt zu uns herunter
in den Dreck profanen Alltagsffotts zu ziehen.Ihre kleinen Fehler und Schwächen
teilen wir schließlich zur Genüge; nur wer dergleichen Unzulänglichkeit nicht
kennt, werfe den ersten Stein auf hehre Denkmäler. Wer unter uns hat noch nie-
mals bis zur völligen Kapitulation der Leber dem Alkohol gefrönt? Wer noch nie
die Syphilis gehabt? Wer, frag'ich weiter, hätt'nicht gern seine Jugendzeit als Pia-
nist am Jungfemstieg verbringen wollen so wie Brahms; wer hat noch nie diverse
schwache Frauen velprügelt (Mahler) oder auch Kastraten (H?indel)? Wo gibt es
den oder die, welche nicht irgendwann im Ehebund zu dritt, viert oder sechst
gelebt hat (Haydn, Wagner, Weber)? Banale Dinge, die ein Leben nicht beschmut-
zen.
In der folgenden Untersuchung dagegen werden wir Geheimnisse lüften, die
weit tiefschürfenderer, ja transzendentalerer Natur sind: Es sind dies die Mysteri-
en der schicksalhaften Verknüpfung von Leben und Werk, die noch niemals zuvor
dermaßen schonungslos ausgelotet wurden. Im gleißenden Lichte reiner Erkennt-
nis soll ein jeder unserer deutschen Komponisten und mit ihm sein Werk aufs neue
dann erstrahlen. Der Leser sei jedoch eindringlichst vorgewarnt: Manch ein

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Bctachtcr dos Gorgonenhaupts ist durch den Anblick schon zu Stein erstarrt oder
vcntlckt gcworden. Andere kute können vielleicht die neuartige Beleuchtung
nicht vertagen, die plötzlich auf die Mamroöüsten ruuierer Lieblinge f?illt . ..
Vom Sachsen, der auszog, das Fürchten
zu lehren
Händel, Georg Friedrich (1685-17 59)

Nur die aller-, allerwenigsten Händelforscher zeigen sich angemessen über die
'l'atsache informiert, daß Georg F. bzw. George Frederic in erster Linie weniger als
Tonkünstler fungierte denn als Geheimagent im Auftrag Augusts II. von Sachsen,
nuch der Starke genamt. Die Musikwissenschaft leugnet seine Spionagetätigkeit
clurchaus nicht - sie nimmt sie nicht zur Kenntnis, was viel schwerer wiegt. Wenn
heispielsweise unser Finanzminister die Erhebung einer neuen Steuer noch vor
Bekanntwerdung der bloßen Möglichkeit einer solchen Steuer vehement demen-
tiert (man bedenke dabei, daß >dementia< Schwachsinn bedeutet), so weiß augen-
blicklich jeder Bundesbürger, daß ab dem nächsten Monat eine Abgabe mehr fäl-
lig ist. Würde gar nicht darüber geredet, könnte man zahlen, ohne es zu merken,
was zwar infam wäre, aber nervenschonend. So auch bei H2indel. Der Glorien-
schein des sächsischen Engländers strahlt über ganz Europa, und man würde bloß
unnötig ganz Europa verärgem, wenn man nachträglich-nachtragend seine (fär
Europa) unrühmliche, dreiste Spionagevergangenheit ausbuddelte. Da jedoch
andererseits nichts dagegen spricht, ganz Europa zu verärgern, alldieweil Europa
scheinbar nichts anderes zu tun hat, als uns zlr ärgern, soll im weiteren Verlauf
keine falsche Rücksicht mehr genommen werden.
Zwei Argumente vor allen anderen sind es, die den im ersten Moment gewagt
erscheinenden Vorwurf der geheimdienstlichen Tätigkeit Händels nicht nur unter-
mauern, sondem betonieren. Zum einen ist uns über eine diesbezügliche Abspra-
che zwischen August und Georg offiziell nicht das geringste bekannt. Wäre Hän-
del kein (zu allem) fähiger Geheimagent gewesen, hätte die Sache ans Licht kom-
men müssen, und wir wüßten jetzt davon. Händel und August machten sich hier-
bei den Umstand zunlutze, daß beide in völlig verschiedenen Sachsens wohnten,
denn es gab damals eine Menge davon. So fiel natürlich kein Verdacht auf die
z.wei, zumal sie sich auch nie so richtig trafen. Musiker standen zur damaligen
Zeit viel unmittelbarer und in des Wortes wahrster Bedeutung in diplomatischen
Diensten ihrer Brötchengeber; sie stellten nicht nur Botschafter der Musik dar,
sondem haften außerordentlich redefreudig und -gewandt zu sein. Man traute
ihnen zu, daß sie stets den richtigen Ton trafen, Takt zeigten und in jeder Situati-
on die angemessenen Akkorde anschlugen. Daß Künstler, bedingt durch ihre
angeborene Arroganz und Eitelkeit, oft Gelegenheit und Hang zur Spionage
haben, ist erwiesen (man denke allein an die Unmengen von Mitgliedern des Bol-
schoi-Theaters und -Balletts, die das Sowjetreich so schändlich verrieten, daß es
sich erst viel später, unter Jelzin, langsam von der Demokratie erholen konnte).
Einige konkrete Namen wurden im Laufe der Geschichte bekannt, wie etwa der
der Martha Haarig, die während ihres berühmten Eiertanzes einen falschen Schritt
tat und sich nicht nur politisch den Hals brach. So ungeschickt zeigte sich Freund
Händel mitnichten. Er und August waren fast gleichaltrig und, wichtiger noch,
gleich groß und bärenstark. Beide waren Sachsen, und so etwas verbindet trotz der
gleichen Sprache ungeheuer. Die Sprache übrigens stellte - abgesehen von Hän-
dels Grobheit, Dreistigkeit, Derbheit und anderen diplomatischen Qualitäten -
einen Hauptfaktor dar, den eigentlichen Grund dafür, daß Augusts Wahl auf ihn
fiel. Hätte nämlich tatsächlich irgend jemand Wind von der geheimen Staatsaffä-
re und den zersetzenden Umtrieben bekommen, wäre nicht einmal im äußersten
Notfall versucht worden, Georg F. unter der Folter zum Sprechen zu bringen -
eher endgültig zum Schweigen, galt doch seine Sprache bereits als eine Tortur für
die europäische Menschheit.
Der zweite unwiderlegbare Hinweis auf Händels subversivd Tätigkeit in Eng-
land und anderswo liegt in der fehlenden Existenz eines Motivs für eben diese
Tätigkeit. Das erscheint zunächst himrissig und erweist sich erst bei näherem Hin-
sehen als komplett idiotisch - womit wir am Ziel der Beweisführung angelangt
wären. Was einen guten Agententhriller von einem simplen Kriminalmachwerk
unterscheidet, ist schließlich, wie wir alle wissen, das Fehlen von Sinn und Ver-
stand, von Beweggründen, Freunden oder Feinden, Gut und Böse, Absicht,Zweck
wd Ziel. Hauptsache, alles bleibt geheim. Niemand weiß hinterher, wer gewon-
nen hat, auch der Agent nicht, welcher zum Schluß gar in Feindesland beerdigt
wird und dort noch ein Denkmal verpaßt bekommt, für treue Dienste an wem-
auch-immer. H2indels Fall schlägt in dieser Beziehung alles vor ihm und nach ihm
Dagewesene. Er gilt als der englischste aller Engländer, zumindest der Komponi-
sten unter ihnen.
Das mit dem fehlenden Motiv kann man jedoch so nicht im sächsischen
Sprachraum stehenlassen. Es gab nämlich durchaus eines für die beiden Fast-
Landsleute, den Georg aus Sachsen-Anhalt (welches zwischenzeitlich sogar ein
paar Jahre zu Brandenburg gehörte) und den August aus Kursachsen. Zwei solch
starke, urgewaltige Persönlichkeiten mußte es naturgemäß schmerzen, daß ihr
bzw. ihre Sachsenländer und ein halbes Dutzend weitere a) nicht miteinander ver-
einigt waren und b) trotz der sprichwörtlichen Genialität der Bewohner absolut
keine Anstalten machten, das sächsische Weltreich zu bilden, welches ihnen
zukam. Mit nostalgischer Sehnsucht gedachten August und Georg jener glorrei-
chen Zeit, des frühen Mittelalters, als Sachsen und Angeln und ein paar Jüten die
Kelten verhauen und Großbritannien zu dem gemacht hatten, was es nun nicht
mehr war. Die modernenAngelsachsen verdienten die zweite Hälfte ihres Namens

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nicht mehr. Ihre gemeinsame Sprache hatten sie völlig verhunzt; daran waren
zweifellos die Angeln, insbesondere die vielen Fußangeln schuld mit ihren Laut-
verschiebungen. August kriegte das mit der Geschichte und der englischen Spra-
che nicht hundertprozentig auf einen Nenner, aber er wußte, daß, wenn man schon
die Brieder in der Diaspora nicht mehr retten konnte, zumindest die Sachseninsel
nus den verdammten Angeln gehoben werden sollte. Das war denn auch Augusts
eigentlicher Plan, wenn man von einem direkten Plan sprechen will. Konkrete
Vlrstellungen besaß er nämlich keine. Georch Wriedrisch war sein Mann fürs
Grobe, der konnte die Angeln aufmischen, daß es nur so rauchte, und zwar in jeder
Beziehung: mit Brachialgewalt, mit der Überzeugungskraft seiner geftirchteten
slichsischen Zunge,ja sogar mit Musik, wenn es gar nicht anders grng. Konstruk-
li ve politische Vorschläge im strengen Sinne hatte August nicht aufzuweisen. Er
kannte aber schon seinen Trick mit dem Hufeisen und meinte: Uff Bieschen oder
Breschen. Der Händel sollte lediglich überall inAngelsachsen Verwimrng stiften,
ds agent provocateur bzw. >aschong browogadör<, während andere Spione unter
tlem Deckmantel seiner hünenhaften blonden Sachsengestalt friedlich am Unter-
gang Angliens werkeln konnten.
Schon der kleine Georg F. galt als vom Schicksal fiir die Diplomatie auser-
wählt. Er gehörte mütterlicherseits einem uralten, sagenumwobenen Geschlech-
le an, welches Richard Wagner, bekanntlich auch Sachse (aber kleiner von
Gestalt), in seinem Ring des Nibelungen extrem hervorhebt. Verdientermaßen
wohlgemerkt. Georgs Mama war die Tochter des Pfarrers von Giebichenstein,
und Georgs Papa lebte mit ihr zu Halle. Jetzt denkt man unwillkürlich an die
Halle der Gibichungen aus der Götterdämmerung, die sich zwar bei Wagner ohne
,e< schreiben, aber wer will schon so giebich sein, nisch wah. Immerhin waren
das in der gesamten Götterdämmerung die einzigen Leutchen, die den Untergang
tiberlebt haben. Alle anderen mußten ins Gras beißen: die Götter, die Riesen, die
Lindwürmer, die Nibelungen, sogar Brünhildens Gaul, der für nichts was korur-
te. Aber die Gibichen, die überlebten alles und jeden, zfi wie sie waren. Und aus
diesem Hartholz ward auch Georg Friedrich geschnitzt. Von des Vaters Seite
crbte er überdies eine Charaktereigenschaft, die ihn für geheimpolitische Dienste
über jedes Maß prädestinierte. Wie der Vater, Wundarzt und Chirurgus zu Giebi-
chenstein, verspürte Klein Georg früh den Drang, seine Finger tief in jede Wunde
zu stecken und es hinterher, nach dem Tod des Patienten, nicht gewesen sein zu
wollen.
Gemäß dem Status ihres Geschlechts lebten die Händels in einer bevorzugten
Gegend, >Großer Schlamm< genaffIt. Da Musikanten und andere Vagabunden
damals kein sonderlich hohes Ansehen genossen, soweit sie nicht von irgendwel-
chen Fürsten adoptiert wurden, suchte man Georg bereits im Krabbel- und Krähal-
ter das Musisch-Musikalische auszutreiben, ein Unterfangen, welches entgegen

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landläufigen Gerüchten erstaunlich gut gelang. Gewisse Engländer, die nicht
dabei gewesen sein können, wollen wissen, daß Georg früher singen als sprechen
gelernt habe. Ohne Frage konnte Georg früher sächsisch singen als deutsch spre-
chen. Zugegebenermaßen erlitt Georg im Halbwüchsigenalter einigen Unterricht
bei einem Menschen namens Friedrich Wilhelm Zachau, der sich statt der Land-
streicherei der sogenannten Stadtpfeiferei verschrieben hatte - ein Terminus, der
alles beinhaltet, was ein städtischer Musikus so brauchte, der im Zug seiner Tätig-
keiten auch mal Mäuse und andere Kleintiere wegschaffen mußte. (Vom Kam-
mermusiker zum Kammerjäger war es oft nur ein Sprung in der Pfeife.) Die
Orgel- und Klavierstunden korurte Georg erst durchsetzen, nachdem der füihreife,
mehr als halbstarke Knabe seinem Vater mit der garven Gewalt seiner körperli-
chen Argumente begreiflich gemacht hatte, wie sehr seine zarte, empfindsame,
scheue Seele nach dem ätherisch-fragilen, heiligen Odem der Musik lechzte, gott-
verdammt nochmal. Während der Musikstunden erwählte sich Klein-Händel die
Oboe zum ausdrücklichen Lieblingsinstrument. Die Oboe, welchä ihn und seine
Werke sein Leben lang begleiten sollte, spielt sogar eine äußerst wichtige Rolle in
seiner Spionagetätigkeit.
Als Georg elf Jahre zählte, wurde er am Berliner Hofe, wo ihn ein sehr obsku-
rer >Freund seines Vaters< eingeführt hatte (der in Wahrheit ein Strohmann
Augusts war und auch so aussah, wie eine Vogelscheuche nämlich), während sei-
nes Klavierspiels von allen bestaunt. Damit ist nicht etwa gemeint, daß sein musi-
kalischer Vortrag jemandem aufgefallen wdre; die Damen tuschelten sich zu, wie
es nw möglich sei, daß ein elfjähriges Kind aussehen körure wie ein ausgewach-
sener Baum von einem Kerl, und wie er dann wohl erst mit zwanzig Jahren ...? -
seine Dimensionen wagten sich die Damen nicht vorzustellen, taten es aber doch
recht gern. Ihre Spekulationen, welche das Geklimper völlig in den Hintergrund
treten ließen, verstummten übrigens für die nächsten sechs Jahrzehnte nicht mehr.
Der eigentliche Grund, warum der geheimnisvolle väterliche Freund den Riesen-
knaben in Berlin präsentierte, war das erste arrangierte Zusammentreffen Händels
mit seinen späteren Mittelsm:innern und Mitagenten, Ariosti und Buononcini.
Beide waren italienische Komponisten und standen bereits in Augusts Diensten,
jedoch in Geheimdiensten, weshalb sie weder Kenntnis von ihrer Funktion noch
Geld dafür erhielten. Erst später, in England, sollte die Zusammenarbeit des Drei-
Männer-Gespanns so richtig losgehen, wobei der Kleriker Ariosti den guten,
etwas dummen Freund in allen Lebenslagen zu markieren hatte und Buononcini
den bösen, >intriganten< Neidhammel. Dieses >Sie-küßten-und-sie-schlugen-ihn<-
Spielchen mit Händel in der Mitte erwies sich später als die schlechthin perfek-
te Tarnung des Triumvirats. In Ansätzen klappte es jedoch in Berlin schon recht
gut.
Vor Antritt seiner Diplomatenlaufbahn hatte Georg noch einige teilweise ermü-

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dende und unliebsame Dinge zu erledigen. Sein Jurastudium körmen wir geffost
vernachlässigen, denn Georg tat dies schließlich auch, und zwar gründlich und
gewissenhaft. Wichtiger im Hinblick auf seine politische Schulung und das für
seinen späteren Großauftrag nötige musikalische Hintergrundwissen erschien ihm
(zu Recht) ein längerer Aufenthalt in Hamburg inklusive einer intensiven
Bekanntschaft mit dem schon damals berühmt-berüchtigten Johann Mattheson.
Dieser Mattheson war ein mindestens ebenso begeisterter Diplomat wie Musiker
und brachte es in der ersten Funktion gar zum >interimistischen Residenten<, einer
wenig vertrauenerweckend klingenden Position, die uns bereits die Abgründe sei-
nes Wirkens vor Augen führt. Unter Matthesons dubioser Anleitung schuf Händel
1704 sein erstes größeres Machwerk, ein Oratorium nach dem Johannesevangeli-
um. Es war Fastenzeit, und das Fasten schlug dem Händel regelmäßig auf Gemüt
und Verstand (auch später sollten seine Oratorien praktisch ausschließlich unter
dem Eindruck der Fastenzeit entstehen). Dieses erste jedenfalls weist schon alle
wesentlichen Zutaten auf: haufenweise Sänger und Oboen und ein Riesenlärm,
der in einem vollendeten Durcheinander von Schlußchor gipfelt, welches sich
jedoch sehr mächtig und sehr fromm anhört, insbesondere in der Soprannummer
>Bebet ihr Berge< und der Baßarie >Erschüttre mit Krachen<. Das ist echt hän-
delsch. Der Mann hat zeitlebens versucht, einmal eine Kirche zum Einsturz zu
bringen, und besonders Westminster Abbey oder St. Paul's hätten ihm hervorra-
gend in seine Verwimrngsstrategie gepaßt; allein es sollte nicht sein.
Vor dem schmückenden Hintergrunde des Musikunterrichts velpaßte Matthe-
son Jung-Händel den letzten Schliff (französisch auch >demier pli< genannt) in
diplomatischen Umgangsformen, als da wdren: Fluchen, Tobsucht, Raserei, Belei-
digungen ober- und unterhalb der Gürtellinie und vieles mehr. Matthesons Kabi-
nettstückchen, der krönende Abschluß dieses Schnellkurses in Sachen Benimm,
erfreut sich eines ziemlich hohen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrades. Es ist dies
die legendäre Rauferei auf dem Hamburger Gänsemarkt, welche irrtümlich für ein
Duell gehalten wird. Im Gegenteil stellt diesenZweikampf< ein exakt choreogra-
phiertes, geradezu exemplarisches Meisterwerk einer Lehrbuchstreiterei dar, das
mit textlich unterlegtem Geheul beginnt, sich unter Einsatz von Standpauken,
Maulschellen und Backpfeifen zum musikalischen Crescendo entwickelt, um her-
nach in einem furiosen Streicherduett zu gipfeln. Handstreicher mit Degen wohl-
gemerkt. Den letzten Streich versetzte Mattheson seinem Schüler, indem er genau
Georgs großen Rockknopf traf - ein wahrhaft glorreiches Finale. Doch auch
Georg bekam eine Belohnung als gelehriger Schüler: eine eigens für ihn erdachte
Medaille, genannt >Ehrenhändel in Blankstahl am Seidenen Faden<. Oder so ähn-
lich.
Inzwischen hatte sich Georg genug Geld zusammengespart, um wie alle Musik-
schaffenden nach Italien reisen zu können. Immerhin bekam er eine Mark und

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ftinfzig für jede (von ihm) erteilte Unterrichtsstunde, und da er bei Mattheson trotz
seines jugendlich-sächsischen Appetits immer freie Verpflegung genoß, hatte er
das Reisegeld schnell beisammen. Nachdem Hannibal HZindel erst einmal die
Alpen überschritten bzw. überrannt hatte, war nichts und niemand vor dem großen
Jungen sicher (löste er doch mit nunmehr Anfang Zwanzig in der Tat die Verspre-
chen ein, die sein elfjähriger Riesenleib der Welt gemacht hatte). Alle bedeuten-
den italienischen Städte standen ihm offen, die Fürstenhöfe erst recht. Teilweise
hatten die Fürsten selbst rechtzeitig die Flucht vor dem lieben, lieben Sachsen
ergriffen. (Man nannte Händel allgemein nur >il caro Sassone<, weil bekanntlich
jede unbezwingliche, unberechenbare Naturgewalt von den schwachen Mensch-
lein einen beschwichtigenden Namen bekommt, etwa wie der Pazifik, der alles
andere als friedlich ist.) So lZißt sich auch der unvergleichliche Triumphzug
erkldren, den H2indels Musik in Italien antrat.Zum einen komponierte Händel für
seine südländischen Verehrer fast ausschließlich italienische Opern, und zwar in
richtigem Italienisch, nicht in sächsischem. Das hatte er von der Pike auf gelernt,
und das behielt er die kommenden Jahrzehnte bei - insgesamt Schusterte er fast
vierzig Stück von den Dingern zusammen, indem er eine Grundoper, Almira
genannt, persönlich verbrach, um fürderhin deren Versatzstücke immer und immer
wieder zu verwenden, manchmal mit zwei Oboen, mal mit zweiundzwanzig. Er
war ein sparsamer Mann, weshalb er nichts verderben oder in alten Opern venot-
ten ließ, und er wurde bald ein Meister im musikalischen Recyclen. Was diverse
andere Komponisten bereits zu Papier und Aufführung gebracht hatten und des-
halb nicht mehr brauchten, rettete er vor dem Verschimmeln, indem er es in seine
Collagen einbaute. Abgesehen von der Opemfreudigkeit der Italiener sorgten
nattirlich auch Händels nachdräcklich vorgebrachte Einladungen für einen gera-
dezu übereifügen Besuch seiner Aufführungen sowie für den unbeschreiblichen
Geldregen, der über ihn hereinbrach. Sogar Lire konnten den blonden Gott von
jenseits der Alpen besänftigen, das merkte das Volk geschwind. Besonders in
Venedig, das ohnehin vom Tod durch EinsturzundVersinken bedroht war, behan-
delte man den lieben Sassone wie ein rohes Ei. Als dort seine Agrippina aufge-
führt wurde, herrschte große Verwimrng ob der gänzlich ungewohnten Kombina-
tion Waldhorn/Gesang (es ist verdammt nicht leicht für einen Sänger, ein Wald-
hom zu übertönen, und schon die Versuche fielen sehr eigenartig aus). Als man
aber merkte, daß das bedenklich in der Lagune hin- und herschwappende Wasser
doch nicht über die Bordsteine trat, war man's zufrieden und huldigte dem blon-
den Gott, der Venedig noch einmal verschont hatte.
Aber dann ging es endgültig zur Sache, zur englischen nämlich, noch dazu über
einen hinterhältig ausgeklügelten >Umweg.. Georg hatte den Engländem sein
Kommen schon lange angedroht, und sie zeigten sich dementsprechend glücklich
über den bevorstehenden >dear, dear Saxon<. Nun trat Georg aber in die Dienste

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des Kufürsten von Hannover, jedoch nur, um nach seinem Einstand augenblick-
lich auf ausgedehntestem Urlaub zu bestehen, welchen er in England zu verbrin-
gen gedachte. All dies gehörte zu dem zwischen August und Georg ausgeheckten
Plan: Hannover war schließlich, wie praktisch ganz Mitteleuropa, einmal eindeu-
tig Sachsen gewesen, wenn auch ein niederes, aber immerhin. Der Kurfürst von
Hannover, zum Haus der Welfen gehörig, konnte nicht mal mehr vernünftiges
Sächsisch parlieren und zeigte sich auch sonst seines Stammeserbes gänzlich
unwürdig. Wenn so einer also später König von England werden sollte, was er
dann ja tatsächlich wurde, brauchte man keinerlei Rücksicht auf den nachge-
machten Niedersachsen zu nehmen, sondem durfte ihn behandeln wie die Angeln.
Sobald Händel in London eintraf, fing er mit dem Umkrempeln alles Engli-
schen sofort an, ohne Verschnaufpause, die der im vollen sächsischen Saft ste-
hende fänfundzwanzigträhige Herkules sowieso nicht nötig hatte.Ztnächst räum-
le er in seiner Funktion als Komponist den Ballast der >echt englischen< Musik aus
dem Wege, deren Haupt- und eigentlich einziger Vertreter Henry Purcell gewesen
wall-,etzterq hatte ein gutes Jahrzehnt zuvor den Löffel abgegeben (Taktstöcke
kannte man in England damals noch nicht), aber sein musikalischer Geist wehte
noch durch diverse alte Gemäuer. Verknöcherte Alt-Purcellisten trauerten ihm hin-
lerher, weil statt seiner englischen Musik die italienische Oper Einzug gehalten
hatte und sich festsetzte wie Unkraut. Ob Purcells Werke wirklich echt englisch
waren, sei dahingestellt (böse Zungen behaupten, er sei ein eingeschleuster Wech-
selbalg mit Namen Heinrich Purzel gewesen); jedenfalls waren sie in englischer
Sprache komponiert, besonders die Instrumentalstücke. Kaum hatte Purcell die
Engländer in den Besitz einer Art von Nationaloper gebracht, kam Händel und
unterstützte nach Kräften alles ltalienische, um Unfrieden zu stiften. Außerdem
konnte er bekanntlich nichts anderes. Mit einer einzigen Versatzstück-Oper, dem
Rinaldo, brachte er die treulosen, vaterlandslosen englischen Gesellen dazu, ihrem
nlten Purzelchen auf immer Lebewohl zu sagen.
Um die Engländer nicht sofort zu sehr zu verwöhnen, machte sich Händel ein
.lahr lang rar und reiste zurück nach Hannover, weil er wußte, daß die dortige Oper
gerade wegen Reparatur oder Einsturzgefalr geschlossen war und er selbst des-
halb nicht arbeiten mußte. Das war schon ein toller Job, diese Stelle in Hannover.
l{ändel vertrieb sich die Zeit rnit Kammermusik - hauptsächlich Zeugs für Oboe
rund Begleitung - und wartete den günstigsten Moment für die glorreiche Rück-
kchr nach England ab, welches bereits nach ihm, dem neuen Messias, dürstete.
17 l2 war er wieder zur Stelle, stärker und stolzer denn je. England hatte gerade
ilgendeinen Krieg gewonnen oder zumindest beendet, und es gab eine Friedens-
schlußfeier bzw. Kriegsschlußfeier im klotzigen, protzigen offiziellen Rahmen.
(ieorg, der Noch-Sachse, durfte eigentlich keine nationalen Feierliedchen bei-
sleuern und wollte doch so gern die Musik für die kirchliche Friedensparty ganz

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alleine gestalten. Flugs gab er der Königin Anna, die ein bißchen unbedarft war,
ein Geburtstagsständchen und pries sie nebenbei als Weltfriedensstifterin, und
hastdunichtgesehn besaß er auf einmal das Privileg, ein Tedeum, ein Jubilate und
diverses Kleinzeug für Utrecht zu fabrizieren. Dies kam sehr gut an; sogar Purzel
wurde noch einmal zu einem Vergleich aus der Versenkung gezogen, schnitt
schlecht dabei ab und ward prompt in die elysischen Gefilde zurückgeschickt, wo
er keinen Schaden anrichten konnte.
Händel übertrieb mit der Macht seiner Musik ein bißchen, denn er kannte kein
Maß. Er hatte während der Feierlichkeiten die Königin dermaßen über den grünen
Klee gelobt, daß sie darob kurze Zeit später ins Gras biß. Doch ist dies ein schö-
ner Tod für jede englische Königin, da seit jeher weibliche Mitglieder britischer
Königsfamilien ihren Pferden ausgesprochen ähnlich sehen und ihre Pferde über-
haupt in jeder Beziehung nachahmen. Nun trat Georg auf den Plan - der andere
Georg wohlgemerkt, Kurfürst von Hannover und itzo König von England und
Umgebung, der uns in diesem Stadium der Dinge dazu zwingt, Georg den bislang
Einzigen nur noch >Händel< zu nennen. Händel ließ sich diesen Akt der psycho-
logischen Verdrängung selbstredend nicht gefallen. Während König Georg seine
Klamotten in London auspackte und sich zumindest vorübergehend häuslich ein-
richtete, verkehrte Händel mit großen Geistern seiner Zeit wie Alexander Pope
und John Gay. Gay muß damals für die Sache des sächsischen Intrigenspiels
gewonnen worden sein (warum, weiß der Henker von London), denn an der
Behauptung, die später von ihm erfundene >Bettleroper< habe der >richtigen<, hän-
delschen Oper das Leben schwer gemacht, ist nichts Wahres. Erstens galt die ern-
ste, von Händel absichtlich zeßetzte Oper Jahre später bereits als so blödsinnig
und urkomisch, daß sie auf eigenen Füßen stehen konnte und keiner Persiflage
mehr bedurfte. Zweitens servierte Gay seinem Busenfreunde H2indel einen solch
flammenden Panegyrikos, daß kein Zweifel an Gays Loyalität bestehen kann -
zumal das obige griechische Wort >Lobrede< bedeutet und nicht etwa >eine Pfan-
ne Gyros<.
Händel beschloß nunmehr, sich voll und ganz und so ernsthaft wie möglich
dem Geheimdienst zu widmen. Er wußte, daß er dazu Unmengen von Noten brau-
chen würde, denn die Engländer waren ein äußerst zähes Seefahrervolk, welches
wahre Sturzfluten von Musik über sich ergehen lassen konnte, ohne Schaden zu
nehmen. Die berühmte >Wassermusik< allein wiüe allenfalls ein Tropfen im
Armelkanal, das wußte Händel. Da er aber persönlich beim besten Willen nicht so
viele Noten produzieren konnte, nicht einmal unter Zuhilfenahme von Recycling
und chortreien Bleichmitteln, mußte er sich nach einem Ghostwriter umsehen, der
ihm Stoff lieferte, ohne viel zu fragen. Sein Glück ftihrte ihn auf einem Trip nach
Hannover mit einem alten Kumpel aus der Studentenzeit zusammen, der erfolglos
Textildesign belegt hatte, um dann ein eigenes Wollwarengeschdft zu betreiben. Er

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hatte sich dabei finanziell so tief verstrickt, daß er geradezu darauf wartete, von
Händel mitgenommen zu werden. Das Sich-Sträuben war nur so eine Masche von
ihm, und als Händel ihm drohte, er habe sein Lebens- und Wollfädchen verwirkt,
wenn er nicht für ihn arbeiten wolle, schwor er seinem Herrn ewige Giebichun-
gentreue (allerdings unter dem Wollsiegel der Verschwiegenheit). Besagter Ex-
Studienkumpel wies mehrere Eigenschaften auf, die ihn auf sein weiteres Leben
als Spion womöglich noch besser vorbereiteten als seinen Meister und geheimen
Kadergruppenleiter: 1. Er hieß Schmidt und ließ sich in England stehenden Fußes
z,u Mr. Smith umstricken. Jeder halbwegs brauchbare Geheimagent benutzt unauf-
lällige, nichtssagende Namen wie Smith, Jones oder Mountbatten, und wer schon
so geboren ist, dem kann niemand mehr das geringste anhaben. 2. Als gelernter
Strickleiter wußte Schmidt/Smith die Angelegenheiten Händels in Kette und
Schuß zu halten; sobald er ftir andere tätig wurde, ging dieser in Gelddingen ver-
sierte Mensch nur noch auf ausdrücklichen Befehl bankrott (was mehrmals ge-
schah). 3. Mr. Smith schrieb nicht nur Rechnungen, sondern auch und hauptsäch-
lich Noten. Er war musikalisch durchaus begabt, mußte dies jedoch zeitlebens vor
der englischen Welt verschweigen. Um nicht andauernd mit Schmidt in die Wolle
zu geraten, gestand ihm der Chef zu, daß sein Filius, der kleine Smith, später
öfTentlich ein gestandener Komponist werden dürfe, was der dann auch tat.
Schmidt senior, perfekter Mann im Hintergrund und für alle Gelegenheiten (eine
graue Maus muß sich nicht tarnen), verknüpfte in Realität und wirklichem Opern-
leben die Handlungssfänge auf das zierlichste und undurchschaubarste - eine
Spinne mit Strickzeug sozusagen.
Der von Schmidt-Smith ausgehende rote Faden zieht sich wohl am deutlichsten
durch sein Werk >The Harmonious Blacksmith<, das hierzulande unter ,Grob-
schmied-Variationen< verhunzt wird, dabei jedoch kaum deutlicher auf seinen
wahren Schöpfer hinweisen könnte. Das Komponieren war damals eine schnelle
Sache, allzumal für einen Mann, der mit fünf parallelen Notenlinien viel mehr
anzufangen wußte als ein Nichtwollwirkender. Man schrieb damals nicht
annähemd so komplizierte Partituren nieder wie heute, sondern begnügte sich mit
cin paar Skizzen, dem sogenannten Generalbaßschlüssel, und einigen Kürzeln für
die jeweils beteiligten Musiker, die sich ihre Melodien dann mühsam selber her-
auspopeln mußten. Als halbwegs begabte Komponisten konnten sich Händel und
Schmidt darauf verlassen, daß die Musiker den Rest besorgten - im guten und im
schlechten, denn begabte Spione überlassen nicht gern etwas dem Zufall. Die
spektakulären Mißerfolge (und ihrer gab es nicht wenige) waren genauso Resul-
tate der Planung wie die durchschlagenden Erfolge. Wichtig war, daß man gute
bzw. sauschlechte Musiker engagierte. In England brauchte man merkwürdiger-
weise erstere für ein echtes Fiasko,letztere als Garanten absoluter Popularität.
Lange vor den Proben zu jeder Oper und jedem Oratorium kennzeichneten Hän-

T7
deVSchmidt gemeinsam das Werk, markierten es als zukünftigen Reinfall oder
Durchbruch. Hier taucht der Geheimcode >Oboe< das erste Mal auf, auf den
anfangs verwiesen ward. Oboe heißt englisch >hautboy< und wird ausgesprochen
wie >oh boy<. Oboen tauchten bei Händel immer auf. Wenn ein Stück zum Unter-
gang verdammt war, sprach der Meister das Codewort zu seinen Vertrauten,
während die Musiker dies lediglich als Auftakt zu einer neuen Fluchkanonade
>verstanden<. Und dementsprechend spielten. >Oh boy< stellte auch das mitAugust
verabredete Signal dar, welches in Briefen an den König als Anrede benutzt
wurde. Leider verbrannte August diese Briefe immer sofort und warf Diener, die
sich an der Asche zu schaffen machten, kurzerhand aus dem Palastfenster, so daß
uns heute nur noch der reine Kot überliefert ist.
Händel und sein Adlatus begannen nun ihr allumfassendes Werk der Zer-
störung, indem insbesondere der Chef selbst vor keinem Gebiet haltmachte: Es
galt, neben der Musik die Finanzwelt zu zerritten sowie das Königshaus, die eng-
lische Sprache, die Geistlichkeit und die Wissenschaften und garü nebenbei das
englische Brauchtum. Das Essen konnte man belassen, wie es wär, zumal Händel
es sich verschandelter nicht ausmalen konnte. Da Händel, von Natur aus ein sanf-
ter Riese, durch den bei Mattheson genossenen diplomatischen Unterricht mitt-
lerweile sehr, sehr böse werden konnte, funktionierte er z.B. den urenglischen
>Wunschknochenbrauch< um. Der geht eigentlich so: Das gabelförmige Brust-
knöchelchen eines Geflügels wird von zwei Leuten gleichzeitig zerbrochen, und
wer das längere Stück erwischt, darf sich was wünschen. Bei Händel war das
anders - der fragte seine Opfer vor dem Zerknicken, welchen Knochen sie denn
am liebsten hätten .. . Zu dem Weihnachtsbrauch, sich unter dem Mistelzweig zu
küssen, meinte er nur barsch: >Ach gißt misch doch am Misdelzweich, ihr Leise-
dreder!" Händel fluchte gern und ausgiebig, nichtsdestotrotz immer sehr fromm,
und die Geistlichkeit mißverstand sein sächsisches Englisch manchmal. Einst rief
er vor einem Konzert oder einer Mahlzeit zum allgemeinen Gebet auf mit den
(zugegeben) etwas unglücklichen Worten >Let us bray<, was leider bedeutet >Las-
set uns wiehern.< Da sich aus seinem Munde außerdem >pastorate< ähnlich anhör-
te wie >bastard<, machte sich Händel viele Feinde bei der Pastorenschaft - ob
ungewollt, sei dahingestellt. Direkt aufsässig verhielt er sich bei der Professoren-
schaft von Oxford, die ihm unbedingt einen Ehrendoktor aufs Blauauge zu
drücken wünschte. Händel machte den Trubel brav mit, bis er zum Schluß auf die
Würde verzichtete - die Professoren erholten sich von dieser Brüskierung erst
wieder, als später Haydn kam und das inzwischen verstaubte Hütchen dankbar
annahm. Händel selbst verschmähte nicht nur die Würden Oxfords, sondern nahm
der Sage nach prompt an der (damals noch sehr inoffrziellen) Regatta Oxford-
Cambridge teil. Er startete natürlich für Cambridge und ruderte ganz allein den
Achter ohne Steuermann, welchen er als Ballast über Bord geworfen hatte. Hän-

18
tlcl schwamm und ruderte stets gegen den Strom, davon behielt man einen gesun-
dcn Appetit.
Der erste schwere Schlag gegen die englische Finanzwelt hing untrennbar mit
lltlndels Musikschaffen zusilnmen. Im Jahre 1719 wwde Händel zum Chef eines
Opemuntemehmens (Akademie genannt), welches vorgeblich auf Anraten des
Adels an die Börse ging! Hat man so etwas Bescheuertes schon mal gehört? H?in-
tlel war begeistert von dieser (also mit Sicherheit seiner) Idee, wußte er doch rein
gur nichts von Dow-Jones-Index, Hausse oder Baisse oder Dividenden und ähnli-
chem Krempel. Es gab vielleicht mündelsichere Wertpapiere, aber keine vor Hän-
rlel sicheren. Mit der allgegenwärtigen Untersttitzung Smiths verstand Händel es,
rrnch achtjährigem Auf und Ab das Unternehmen in den Bankrott zu führen, und
rlns dauerte nur deswegen so lange, weil man während dieser Zeit ideale Bedin-
gungen schaffen konnte, noch zersetzender zu wirken als zuvor. Die erste in die-
rcm Rahmen aufgeführte händelsche Oper, Radamisf, war tatsächlich ein echter
solcher; trotzdem geriet das Publikum in eine Raserei des Entzückens, daß sich
insbesondere die feinen adligen Herrschaften auffiihrten wie die Hooligans, die
sie auch heute sind. Die Anwesenheit des Königshofes hinderte niemanden daran,
so laut zu kreischen, zu brüllen, zu schubsen und zu pupsen, daß etliche wegen
l-uftmangels in Ohnmacht fielen. Will man einem Mr. Mainwaring Glauben
schenken, haben jedoch neben der Königsfamilie noch ein paar Leute die Oper
llberlebt.
Wegen des beispiellosen Erfolges dieser nichtssagenden Oper mußte Händel
tlnfür sorgen, daß nicht mehr alles so reibungslos über die Bühne ging: Noch so
cin Erfolg, und alle Aktionäre wären mit einem Schlag reich und glücklich. Denn
tlie Musik kormte nicht schlechter werden, nur besser. Um das zu verhindem, ließ
llündel schleunigst den >Intriganten< Buononcini (siehe >H2indel mit 11<) herho-
lon und zum Neben- und Gegenchef berufen. Das Publikum damals liebte Wett-
kiimpfe zwischen jeweils zwei Komponisten, zwei Sängern, zwei Musikern usw.;
tla kam jemand (na wer schon?) auf die aberwitzige Idee, Händel und seinen
Widersacher zusammen eine Oper schreiben zu lassen - ausgerechnet mit dem
'l'itel Muzio Scaevola. Jeder sollte einen Akt komponieren. Wie man weiß, geht es
irr der Oper um den bekloppten Mucius, der seine rechte Hand so lange ins Feuer
hailt, bis sie weggekokelt ist und jeder Feind seinen >Mut< erkannt hat. Während
liuononcini also den Akt mit der linken Hand schreiben sollte (die nicht weiß, was
rlic rechte tut; außerdem heißt >left-handed< im Englischen so viel wie >fragwür-
rlig<), wartete Händel, dem der letzte Akt mit der rechten Hand >zugefallen< war,
gcduldig ab, bis nichts mehr übrig war von der rechten Hand. Und schon hatte er
SCWonnen.
Das Wichtigste bei diesem Zweikampf war jedoch, daß das Publikum in zwei
l.ager gespalten blieb. Spaltung ist das A und O der Anarchie, auf die H?indel

l9
abzielte, wie wir wissen. So kamen, um das Maß übervoll zu machen, zwei Diven
an die Aktienoper, die ein abgrundtief unterschiedliches Außeres und ein peinlich
identisches Inneres besaßen, so daß man die beiden nicht miteinander auftreten
lassen konnte, ohne ihnen einen Maulkorb zu verpassen, was wiederum der Sin-
gerei schadet. Besagte >Damen<, die häßliche Cuzzoni (in ihrer Blütezeit genannt
die >goldene Leier<, später wahrscheinlich die >alte Leier<) und die schöne Bor-
doni, hatten jeweils eine Unmenge schwachsinniger Fans. Die Frauen haßten sich
so sehr, daß sie oft das Singen völlig vergaßen. Am 6. Juli l'127 schließlich kam
es zur offenen Prügelei auf der Bühne (zwischen den Damen), auf der Galerie und
im Parkett (zwischen den hohen Herrschaften). Kronprinzessin Caroline soll mit
einem blauen und einem braunenAuge davongekommen sein. Zwei weitere Lager
bildeten sich für bzw. gegen den gefeierten Kastraten Senesino, den ein Lord in
der Oper verprügelt hatte (wahrscheinlich weil er derAufforderung >>Sei gefälligst
ein Mann<< nicht nachgekommen war). Einmal wurde er vom vomehmen Opern-
publikum fast mit Holzklötzen erschlagen, gerade als er die Worte >Caesar kennt
keine Furcht< in selbiges hineingeschmettert hatte. Es heißt belianntlich: Wie man
in den Wald ruft ... und die Londoner High Society benahm sich wie im allertief-
sten Wald, keine Frage. Davon abgesehen wurde Senesino auch von Händel ver-
prügelt, der allerdings keine geschlechtsspezifischen Vorurteile oder Bevorzugun-
gen kamte und die Cuzzoni einmal fast aus dem Fenster hätte plumpsen lassen,
weil sie ohne Hundehalsband singen wollte. All das besaß zwar ungeheuren
Unterhaltungswert, aber wenn man als Adliger die Zeit totschlagen wollte oder
andere Leute, konnte man für weniger Geld auf die Rennbahn gehen oder in die
Kneipe. Musik war bei dem Tohuwabohu sowieso nicht mehr zu vernehmen.
(Insofem läuft das heutzutage in Bayreuth doch etwas anders ab, im großen und
ganzen.)
Gott sei Dank starb dann der König, so daß sich Händel nicht ausschließlich mit
Idioten herumschlagen mußte, sondern Gelegenheit bekam, wieder offizielle Fei-
ermusik zu schreiben: ftir den Tod des einen Königs und die Krönung des näch-
sten. Den zweiten Georg aus der Serie. Händel brauchte nun, als Hofkomponist,
keine Schleichwege mehr; er hatte sich dazu eigens >naturalisieren< lassen, was
weniger schmerzhaft ist, als es sich anhört. Hinterher war noch alles dran, inklu-
sive der sächsischen Zunge. Das Fest wurde dann auch sehr schön, und an-
schließend meldete die Italienische Chaoten-Akademie Konkurs an. Aus dieser
Phase stammt das Stück >Kuckuck und Nachtigall< (Konzert für Orgel Nr. 13 F-
dur), in dem Händel a) Bezug auf Shakespeare nimmt (>Zum Kuckuck, es war
nicht die Lerche<) und b) die Ankunft des Gerichtsvollziehers in der Weihestätte
des Belcanto feiert.
Die Primadonnen-Zugpferdchen Cuzzoni und Bordoni hatten sich sogar halb-
wegs zusammengerauft, als ihr Geschäft in den letzten Zigenlag; nun mußten sie

20
rlle gmtliche Stätte verlassen. Auf den Rennplätzen zu Wakefield und Derby lebte
lltr Andenken jedoch munter fort, denn auch dort liefen Pferdchen unter ihrem
Nunten, die den adligen Besuchern bestimmt ähnlich viel Vergnügen bereiteten.
llnd sofort begab sich Händel an die Gründung einer neuen Opernakademie,
rtllerdings ohne Aktien, sondern mit versprochener finanzieller Unterstützung des
llol'cs: also unter noch weit windigeren und unberechenbareren Bedingungen als
l,uvrtr. Bei jeder Neugründung benützte Händel >Talentsuche< als Vorwand, Itali-
ett zu besuchen; diesmal brachte er eine Signora Strada mit, wahrscheinlich die-
relhc, die später in Fellinis >La Strada< verewigt wurde. Er schrieb eine seiner,
[w, interessantesten Opern, Orlqndo, den rasenden Roland. Als besonders ein-
rlrucksvoll gilt die Wahnsinnsszene am Schluß von Akt II, in der Roland sich in
cirrcm schmissigen Fünfachteltakt fih die Zwangsjacke vorbereitet. Das wirkt sehr
cthuulich. Nach diesem Wahnsinnsmachwerk versteifte sich HZindel immer mehr
ttul'seine Oratorien, die beim Publikum größtenteils gar nicht so gut ankamen,
wrts heute kein Schwein wahrhaben will. Die meisten schrieb er in voller Absicht
ttls glatte Reinfälle, und zwar aus geheimpolitischer Nonuendigkeil heraus. Klare
Arrhaltspunkte hierzu liefen uns eine Anekdote des Lord Chesterfield, welcher
cirtmal aus dem Theater getreten und auf einen Bekannten gestoßen sein soll, der
llrn liagte, ob denn kein Oratorium sei? Worauf der Lord geantwortet habe: >>O ja,
nie spielen schon; aber ich wollte den König nicht länger in seiner Einsamkeit
rl(iren.<< Der Lord wußte nattirlich nicht, daß Händel das Oratorium einzig hatte
uul'führen lassen, am unauffällig mit dem König allein zu sein! Bei Hofe hätten
tkrch die Schranzen sofort Wind von den Privatverhandlungen bekommen; also
trtl' Händel seinen Chef am eigenen Arbeitsplatz, wo er zudem den Heimvorteil
gcnoß. Das bedeutete nicht, daß er insgeheim für denKönig arbeitete - im Gegen-
lc i I . Er spaltete und zersetzte die königliche Familie, den Kern der Nation, indem
cr Papa und Mama Georg II. vollkommen für sich einnahm und ihnen gleichzei-
lig durch die scheußlichen Oratorien ihren Sohnemann gänzlich entfremdete. Der
Klonprinz stand mehr auf schmissige Musik und Damen mit Dekollet6 als auf das
vcrstaubte biblische Zeug. Das so von Händel provozierte Zerwürfnis fand denn
rrrrch seinen direkten musikalischen Niederschlag: Der Kronprinz himselfließ eine
( iogenoper gründen, weil er seine Eltern durch nichts auf der Welt mehr ärgem zu
kiinnen glaubte, diese Rabeneltern, die den importierten Händel mehr liebten als
iluen leiblichen Sohn, ilm gar behändelten wie ihresgleichen!
Der Prinz war mehr als ein bißchen bescheuert und merkte natürlich nicht, daß
cl wie sein Daddy von Händel schamlos ausgenutzt wurde. Die Gegenoper konn-
tc Händel nur recht sein, denn sie gab Anlaß zu noch größerem Blödsinn als die
hlnkrotte Aktienoper. Als die Gegenoper seiner eigenen sämtliche Musiker abge-
wrrrben hatte (außer La Strada), gründete Händel schon wieder eine neue Oper,
|uhr wieder nach Italien, um frisches Blut mitzubringen, schrieb wieder ein paar

21
Klamotten, trat wieder in erbitterten Wettstreit mit der Konkurrenz. Als sein Miet-
vertrag im Haymarket-Theater abgelaufen war, nistete sich die Gegenoper dort ein
- im Gegenzug besetzte Händels Sippe das leerstehende Hauptquartier der Auf-
ständischen in Lincolns-Inn-Fields. Der Kampf ging weiter. Unter Einsatz des
Kastraten Broschi (genannt >der Schelm<), welcher als ein erstklassiger Diplomat
galt (wahrscheinlich wegen seines mannhaft-leisen Auftretens), gelang der Ge-
genoper kwzzeitig ein Aufschwung, welcher im totalen Ruin endete. Händel da-
gegen, vom König finanziell unterstützt, war schon eine Woche vorher bankrott.
Nach diesem seinem Erfolge traf den Meister der Schlag, was seinem Schaffen
merkwürdigerweise förderlich war: Er kreierte keinen Geringeren als Xerxes,
seine wohl berühmteste Oper, deren >Largo< die Leute noch heute im Schlaf ver-
folgt. >Largo< heißt breit (und behäbig), und Xerxes war ja auch die meiste Zeit
ziemlich breit. Noch viel schöner und erbaulicher fanden die Londoner aber Hän-
dels Dieses ll48 zur Feier des Friedens vonAachen kompo-
'Feuerwerksmusik<.
nierte suitenartige Spektakelstückchen hätte eigentlich den Nanren >Feuerwehr-
musik< verdient, weil es - ähnlich wie Neros Gesang - das fröhliche Fast-Nieder-
brennen der königlichen Bibliothek begleitete. Selbstverständlich hatte auch hier-
bei der Meister höchstselbst seine Hand im Intrigenspiel. Nach dem Verklingen
der eigentlichen Musik nämlich sollten noch etliche Kanonenschüsse zu hören
sein, die Händel ohne Abstimmung mit dem Oberfeuerwerker direktemang in die
Partitur schrieb (wahrscheinlich jeweils mit einem >b< wie Böller davor). Hundert
Kanonenschläge, das wußte Händel, hätte die Bücherei mühelos ausgehalten - der
hunderterste gab ihr um ein Haar den Rest. Bei einer späteren Wiederholung der
Aufführung kam es leider zu keinem Brand, aber die Schaulustigen versperrten
drei Stunden lang die London Bridge, weil sie sich auf einen freuten. Trotzdem
war man sich einig, daß die Feuermusik schöner war als das schönste Oratorium.
So also schrieb Händel lange vor Edward Elgar (aber später als Guy Fawkes) sein
spezielles >Bomb & Circumstance<. Er konnte eine Menge Geld damit verdienen;
zu seiner Ehre sei jedoch gesagt, daß er das meiste den Armen schenkte. Seine
bevorzugte lnstitution war das Londoner Findelhaus, vielleicht, weil es prakti-
scherweise gartzin der Nähe seiner Wohnung lag, vielleicht auch, weil der stram-
me blonde Hüne zeitlebens eisemer Junggeselle blieb und sein Herz irgendwie mit
den ausgesetzten, aussätzigen Kleinen verbunden war ... Sein Ruf als sächsischer
Blähboy bezog sich sicher hauptsächlich auf die Nahrungsmittelaufnahme bzw.
deren Bewältigung.
Schließlich hatte dann doch noch eines seiner Oratorien einen Mega-Erfolg zu
verzeichnen, nämlich der >Messias<. Nicht etwa, weil er besser war als die ande-
ren oder mehr Oboen im Orchester mitmachten, sondem aus zwei Gründen: Vor
derAufführung war Händel schmollend nach Irland gezogen, weil er, wie gesagt,
immer mit dem König allein blieb und ihm das langsam aber sicher auf denZei-

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ger ging. Die Iren fanden den >Messias< gigantisch und wollten ihn und Händel
gleich behalten; natürlich verlangten ihn daraufhin die Engl2tnder, die ihn fast ver-
gc$$en hatten, wieder zurück. Zweitens hatte der Kronprinz geheiratet und durfte
rticht mehr tun, was er wollte - seine Frau war ein Händel-Fan reinsten Wassers
und befahl ihm augenblicklich, Händel zu lieben und zu ehren, bis der Tod sie
nchied. Darauftrin hörte der folgsame Prinz nur noch Oratorien: die händelschen
tund die seiner Frau.
Für seinen Lebensabend dachte sich Händel noch ein eindrucksvolles Finale
Iru$: Er stellte sich blind und blöd (letzteres mit Unterbrechungen). Daß er anfing,
rrril sich selbst zu reden und zu brüllen, störte niemanden, und die Blindheit war
ehcnfalls ganz praktisch: Wenn er nun jemanden aus dem Fenster werfen wollte,
rrrulJte der Betreffende ihm zuerst den Weg beschreiben. Auch im blinden Zustand
liclil sich der Meister das Orgeln nicht nehmen; er wurde dem Publikum vorge-
I'tlltrt, verbeugt und auf sein Schemelchen gesetzt. Das war ihm nicht peinlich,
th'ückte es doch auf die Tränendrüsen und die Geldbeutel. Seine Rente war auf
dicse Art sicherer als die Bank von England. Und niemandemfiel auf, dal3 er nicht
,ttlbst spielte. Händel hat nämlich niemals selbst gespielt, obgleich er für seine
Virtuosität berühmt war. Diese kaum bekannte Tatsache wird durch mehrere Vor-
l'lllle erhellt: Der wütende Maestro riß einst dem Geigerfürsten Corelli das Instru-
nlcnt aus der Hand und kratzte fürchterlich darauf herum, um die von ihm
gcwünschte Spielweise zu demonstrieren. Die Geige konnte man hinterher weg-
rchmeißen. Und Händels Zeitgenosse Dr. Carl Burney berichtet über sein Orgel-
ripiel: >Trotzdem seine Hand ... so fett und rund war, daß die Knöchel im Fleische
verschwanden, war sein Anschlag so sanft, ... daß seine Finger an die Tasten
rrnzuwachsen schienen. Sie waren so gebogen und dicht aneinander, wenn er
ripielte, daß man keine Bewegung, und kaum die Finger selbst, wahrnehmen konn-
lc,< Das von Bumey beschriebene Phänomen stellt nichts Geringeres dar als die
l lohe Schule des sächsischen Blähbäck.
Und als der Meister sich schließlich nicht nur blind, blöd, sondern auch tot-
slollte, ward er in Anerkennung seiner Dienste in der Westminsterabtei beigesetzt.
'liutz seines zersetzenden Einflusses auf jeden Bereich des englischen Lebens
rt:lriitzen ihn die Engländer und schmähen ihn die Sachsen, die er, wie sie glau-
lrcrr, ruchlos im Stich ließ. Wenn sie doch nur wüßten! Bis in unser Jahrhundert
sirrd sie knatschig geblieben. Nicht mal ein stinknormales Brathähnchen wollen
sic Händel nennen. Lieber benutzen sie den Ausdruck der englischen Rivalen und
sirgcn - >Broiler< ...

23
Der Fluch der Lämmerhirtin
Bach, Johann Sebastian (1685-1750)

Wir bekommen es hier mit einem Mann zu tun, der von Geburt an nie die leiseste
Chance hatte, seinem Schicksal - ob gottgegeben oder nicht - auch nur für einen
winzigen Augenblick zu entrinnen. Er war wie niemand sonst auf der weiten Welt
eingebettet in die Wurzeln, Arme und Klauen seiner ihn wenig liebenden Familie.
Die Ketten, die ihn mit seiner Sippe, besonders mit den Urahnen verbanden, ver-
mochte er nicht zu zerrelßen - waren sie doch genetischer Natur und unterlagen
Gesetzen, von denen der Armste überhaupt noch keine Ahnung besaß. Der biolo-
gische Fluch der Bachs lastete so stark auf ihm, daß er sein Leben lang kompo-
nieren mußte und doch niemals zur Ruhe kam - zumindest nichläu der Ruhe, die
seine Musik angeblich in so unvergleichlich vollendetem Maße aussffahlt. Das
besagte fluchbeladene Erbgut der Bachschen Sippe bestand jedoch nicht etwa in
der Musikalität der Familie, wie mancher spontan denken könnte. Das Musikali-
sche stellte lediglich ein Abfallprodukt der Familienabnormität dar, obgleich ein
für den unbeteiligten Hörer zweifellos sehr angenehmes. Das grausame dominan-
te Erbmerkmal, welches Johann Sebastian (zehnfach verstärkt durch widrige
Lebensumstände) von allen Bachs am meisten zu schaffen machte, war die außer-
ordentliche Fruchtbarkeir. Bei vielen Leuten liegt Kinderlosigkeit in der Familie;
bei den Bachs gab es Kinderreichtum im Quadrat. Nicht ohne Grund wird der
Bachsche Sippenstammbaum in jedem einschlägigen Lehrbuch der Genetik als
abschreckendes Beispiel aufgeführt, gleich neben der Gemeinen Fruchtfliege und
gegenüber der Falttafel mit den Mendelschen Erbsen.
Vom Vater, dem alten Bach, erbte Johann S. also die ausgeprägten Erbsen bzw.
die Anlage dazu. Die teuflischen Mächte verschworen sich jedoch gleich doppelt
gegen Junior, indem sie ihm als Mutter eine Frau zudachten, die ihr eigenes Fami-
lienunheil als Mitgift beisteuerte: Elisabeth geb. Lömmerhirt. Und der Name der
Mutter ward fortan Programm ... Johann S., Opfer sowohl des o.g. Defekts in sei-
nen Chromosomen als auch seines verkorksten sozialen Umfeldes, ein Mann, der
heute aufgrund seines Handicaps für jede Straftat auf mildemde Umstände plä-
dieren könnte, wird statt dessen seit Jahrhunderten von Ahnungslosen als Ausbund
an innerer Stdrke, Tugend und Seelenruhe gefeiert. Dabei hat der Mann gelitten
wie kein zweiter (abgesehen von sämtlichen Musikern in dieser Sammlung). Ihn,
den Mißverstandenen, gilt es zu rehabilitieren, denn mit Toccata, Fug und Recht
darf man behaupten, daß Johann S., prädestinien durch seinen Lebens- und Lei-
densweg hienieden, zu denAuserwählten gehört, zu jenen GroßenArmen Schwei-

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ncn, die am Jüngsten Tage mit Sicherheit das Himmelreich erben werden. Sein
Stembild steht schon jetzt am Firmament der Musikgeschichte, man muß es ledig-
lich ein wenig zurechtrücken. (Und wenn ein Stern herunterfrillt, ist er uns
Schnuppe.)
J.S. (dessen Initialen nicht mit einem gewissen J.H.S. verwechselt werden dür-
lbn, der rangmäßig höher am Himmel steht und dessen Leitstern Bach auf Erden
gewissenhaft zu folgen trachtete), Johann S. also galt zu seinen Lebzeiten als
llewahrer des Althergebrachten, der sich an Dinge klammerte, die man offiziell
schon auf den Müll geworfen hatte, und nicht nur auf den musikalischen. Gleich-
zeitig betrachteten ihn nicht wenige als einen schreckenverbreitenden, aufrühreri-
schen Neuerer - besonders der Musik -, der durch Mißachtung von Konventionen
tlie fromme, ohnehin protestantisch veranlagte Gemeinde zu neuerlichen Protest-
stürmen hinriß. Das alles mag gut und schön sein oder auch nicht; jedenfalls
crweist es sich im Endeffekt als hochgradig irrelevant. Genauso wie der private
Anstrich des Nüchtemen, Maßvollen, Geregelten, Harmonischen, den sich J.S. zu
verpassen wußte und der im hohen Norden, wo angeblich alle so waren, eine über-
lcbensnotwendige Tamfarbe darstellte, sozusagen eine Art Mimikry. (Er hat es ein
wenig übertrieben damit: ähnlich wie der weiße Birkenspanner, der sich auf Bir-
ken, die ursprünglich weiß waren, zuerst nicht vom Untergrund abhob, aber auf
heutigen - industriell geschwlirzten - Birken durch seine welße Tarnfarbe mehr
luff:illt als die anderen Spinner und Spanner.) Jedenfalls hat den Getarnten das
lJuschfeuer der Evolution ebenso übersprungen wie das der Revolution. Er hatte
zu Hause sowieso schon genug zu tun. J.S. hätte von Rechts wegen eigentlich ein
Katholik werden müssen, und sicherlich hat er die Leute im katholischen Süden
nuch lebenslänglich beneidet. Sein Kindersegen bzw. Kinderfluch nämlich mußte
im sich stets maßvoll gebenden Norden als extraordindr gelten, selbst wenn alle
'twanzig Blagen innerhalb der rechtmäßig geknüpften Ehebande gezevgt worden
waren. (Von außerordentlichem Nachwuchs ist nichts bekannt, aber wer will sich
tlafür freiwillig verbürgen?) Nur Katholiken durften sich damals so ungeniert fort-
ptlanzen, wie Bach das tat. So kommt es, daß der protestantisch-preußische Alte
F-ritz viel, viel weniger Kinder sein eigen nannte (eigentlich keine, die bekannt
sind) als seine Erzfeindin Maria Theresia, die über ein Dutzend ausbrütete - mit-
hin nicht einmal so viele wie J.S.!
Daß die ganze schöne Musik lediglich als ein Nebenprodukt des Bachschen
Zeugungstriebes gelten muß (ähnlich wie die gewöhnliche Teflonpfanne ein für
tlen Normalbürger höchst zweckmäßiger Abfall der Raumfahrt ist, die ja auch
irgendwie hoch hinaus will), wird sich im folgenden von selbst verstehen. Doch
tlie Vorstellung, daß sowohl Bachs Formenstrenge und mathematisch-logische
Komponierweise als auch seine unverschämten Neuerungen einschließlich des
wohltemperierten Klaviers letztendlich auf das unkontrollierte Anwachsen seiner

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Brut zurückgehen, mag sogar den fortschrittlichen Traditionalisten ein wenig
befremden. Der Gedanke ist in der Tat gewöhnungsbedürftig, aber das war die
Idee mit der kugeligen Erde schließlich auch. Bach, der große Stolperstein zwi-
schen zwei Epochen, letzter Wurmfortsatz der an sich ausgestorbenen polyphonen
Musik, Dinosaurier des konffapunktischen, imitatorischen Stils und so weiter,
gleichzeitigWegbereiter der echt barocken Harmonik (dem aber niemand so rich-
tig folgte) - dieser Bach tat irn Grunde nur das, was ein Mann tun muß: nicht ein
Mann wie John Wayne wohlgemerkt, der seinen moralischen Grundsätzen
gehorcht ohne Rücksicht auf Verluste, sondem wie ein armes Würstchen, dem
seine Libido und seine unerschöpfliche schöpferische Potenz im Nacken sitzen
(oder sonstwo). Kaum ein weibliches Wesen - vielleicht gar keines - vermag die
Qualen nachzuvollziehen oder andeutungsweise zu verstehen, die den erbärmli-
chen bzw. erbarmungswürdigen Mann befallen und nicht wieder loslassen, der
zeitlebens, von früh bis spät und nachts im Traume noch, nur an DAS EINE den-
ken kann. Dieses bitteremste Problem darf nicht auf die leichte' chulter genom-
men werden - deshalb ist auch jedwede frivole Behandlung desselben im folgen-
den gänzlich unangebracht, ja verdammenswert. Etwaige merkwürdige Verknüp-
fungen gewisser musikalischer Elemente, die aufgrund ihres Zusammenwirkens
und -treffens ein drastisch-symbolisches Eigenleben zu entwickeln scheinen,
können nur denjenigen Leser zweideutig anmuten, dem es an der gebührenden
sittlichen Reife, Feinfühligkeit und Pietät erheblich mangelt. Aber genug der War-
nung.
Es fing alles damit an, daß Johann Sebastian das Orgeln lernte. Schlimm gepug,
daß es ihm bereits im Blut oder besser in den Genen lag; man erzog Klein-Johan-
nes im Umgang mit dem für ihn übermächtig gewaltigen Instrument viel früher
als nötig, nämlich lange vor der Pubertät. Der Vater, einer der vier Erfurter Stadt-
musikanten, starb ein Jahr nach der Dame Lämmerhirt, als Johann S. zarte zehn
Jahre zählte, und so übemahm der viel dltere Bruder Johann die Erziehung. Nun
fällt uns auf, daß Joharurs Bruder ebenfalls Johann heißt, wenn auch mit einem
Christoph dahinter. Dieser Sachverhalt ist symptomatisch für die Bachs und fin-
det sich bei Johanns, also Sebastians, Kindem wieder: Als J.S. insbesondere
während der zweiten Ehe die Taufnamen ausgehen, nennt er alle Jungs nur noch
Johann, damit keine Mißverständnisse mehr aufkommen. (Die alten Römer pfleg-
ten bekanntlich ihre Knaben durchzunumerieren; da man häufiger von >Quintus<
oder >Septimus< liest als von Secundus usw., muß die Uberlebensrate für Fünft-
und Siebtgeborene relativ hoch gewesen sein, schon weil sie nicht dem Erbfolge-
streit zum Opfer fielen.) J.C. jedenfalls ist bereits ein gestandener Organist mit
eigener Orgel in Ohrdruf. Die Orgelei fällt bei J.S. auf den berüchtigt fruchtbaren
Boden, wie nicht anders zu erwarten. Er kriegt bald was Eigenes, eine Ausbil-
dungs-Freistelle in Lüneburg, freilich noch keine eigene Orgel. Deshalb macht

26
.1.S. mehrere Ausflüge nach Hamburg - zu Fuß wohlgemerkt! -, weil er gehört hat,
tluß dort die größten Pfeifen seiner Zeit zu finden seien. Die Herren Reinken und
l,übeck zeigen dem jungen Talent dann auch ihre Orgetn und spielen ihm sogar
dlwas vor, zur Erbauung und Unterweisung. Orgeln kann der Junge jetzt aus dem
Fll'l'eff und in jeder Tonart. Dummerweise bekommt er nach solch intensivem Stu-
tlium an den Tästen eine erste Anstellung ausgerechnet als Geiger. Die Fiedelei
schmeckt J.S. nicht, schon gar nicht, als man ihm seine erste eigene Orgel mit
Schemelchen anbietet. Er schmeißt die Violine hin und geht nach Arnstadt, wobei
,gehen< bei Bach immer durchaus wörtlich zu nehmen ist. Dauernd orgelt der
.junge Virtuose ganz allein. Bald verlangt es ihn nach angemessener Gesellschaft,
ttttd er macht zuerst >Ausflüge< nach Celle, später eine ausgesprochen lange
lrulJreise (1705-1706) nach Lübeck, um dort den absoluten Orgelguru der gesam-
lcn Provinz zu treffen, einen gewissen Buxtehude. (Also nochmal zum Mitschrei-
hcn: diesmal nicht nach Hamburg zu Herrn Lübeck, sondern nach Lübeck zu
f-lcrm Buxtehude.) Bei letzterer Gelegenheit muß sich J.S. sehr ungebührlich ver-
Irulten haben, denn es gab großen Arger mit seinen Vorgesetzten. Da man ihn im
l.nufe seines Lebens sogar dann und wann inhaftierte, kann man vermuten, daß
sich bereits der ganz junge Bach eines schlimmen Vergehens schuldig machte,
tttimlich des sogenannten Fremdorgelns. Mit anderen Worten des Traktierens
licmder Pfeifen ohne ausdrückliche Erlaubnis der Besitzer.
J.S. orgelt immer noch einsam vor sich hin, als im Jahre des Herrn 1707 das
(ilück ihm winkt und das Verhängnis über ihn hereinbricht. In Mühlhausen wird
e ine Organistenstelle frei
- ein gewisser Johann Georg Ahle hat sich dort zu Tode
gcorgelt. J.S. bekommt den Job und ist glücklich, nicht weil er zwei Groschen
rrrehr verdient und sich außer Brot nun auch Wasser leisten kann, sondern weil er
schon allein im Namen des Schutzpatrons seiner neuen Arbeitskirche ein wunder-
hares Omen erkennt: Welcher Heilige könnte seinem Orgelspiel gewogener sein
rrls ausgerechnet Sankt Blasius? Er hat ja recht, und seine Orgelei treibt ungeheu-
lc Blüten; allerdings eskaliert die Situation zusehends. Mit dem Alleinorgeln muß
errdlich Schluß sein, sonst zerreißt's ihm noch das lnstrument. In dieser verzwei-
l'clten, nervenzetfetzenden Lage trifft er - welch Zufall - auf seine Base Maria
lilrbara, Tochter von Johann Bach, letzterer auch Michael genarurt. Als Johann,
rlicsmal Sebastian, der Jungfer gewahr wird, hebt sich seine Stimmung ganz
gcwaltig, und nicht nur die. Er bietet ihr nun seinerseits an, ihr ausführlich seine
( )rgelpfeifensammlung zu zeigen, und Maria ist begeistert. Beide gelangen im

Zuge der Exkursion bis hinauf zur Empore, wo das Paar schließlich von einem
wlhrhaft erhebenden Gefühl emporgerissen wird. Sie befinden sich auf einmal
vicl näher bei Gott, wer weiß, woher das kommen mag. Maria Barbara haucht spä-
tcr ergriffen: >>So eine lange Pfeife habe ich noch nie gesehen ... che organo! che
rtrganista!< Die religiöse Verklärung erweist sich in der Tat als so stark, daß es

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beide nach einer Wiederholung verlangt, am besten dreimal täglich. Doch schon
beim ersten Male hat es Arger gegeben, denn man hat Bach mit der fremden Jung-
fer auf der Orgelgalerie erspäht. So hilft alles nichts: Um das gemeinsame Orgeln
zu legalisieren, heiratet J.S. seine Base. Übrigens nimmt es nicht wunder, daß das
Mädel eine Menge davon versteht; immerhin ist sie eine echte Bach, sozusagen
eine Bache. (Man möge das bitte nicht waidmännisch mißverstehen. Das
Mädchen war natürlich keine kleine wilde Sau. Wollte man in solch zwielichtige
Tiefen abgleiten, was unter unsererWürde ist, müßte man auch bedenken, daß das
Brunftgeschrei der Rothirsche >Orgeln< genannt wird ... doch Bach verstand sich
vortrefflich aufs Halleluja und weit weniger aufs Halali.) Das Mägdelein Maria
brachte übrigens nicht viel mit in die Ehe - außer ihrer eigenen Bachschen Frucht-
barkeit und einer winzigen Aussteuer, die hauptsächlich aus von ihr persönlich
angefertigten Pfeifenreinig em in zw anzig verschiedenen Größen bestand.
Dreizehn Jahre sollte diese Ehe dauem, bis Maria Barbara ganz ohne ihres Gat-
ten Einverständnis das Zeitliche segnete. Ihre letzten an den Gemahl gerichteten
Worte, nur wenigen überliefert und niemandem verbürgt, sollen gelautet haben:
>Du bist die größte Pfeife, die mir in meinem Leben über den Weg gelaufen ist.<
Zwischen o.g. zärtlichem Abschiedsgruß und ihrem ersten ekstatisch-frommen
Ausruf lag also ein gutes Dutzend Jahre. Was mochte sich in dieser Zeitspanne im
Hause Bach abgespielt haben?
Nun, vereinfacht gesagt machten beide Bachs ziemlich zeitig einen Prozeß der
Bewußtwerdung und Selbstfindung durch - d.h. sie hätten sich selbst sicher noch
gefunden, wenn nicht die vielen Kinder im Wege gewesen wdren. Einander fan-
den sie kurioserweise immer mühelos ... und siehe da, schon hatte J.S. wieder ein
Bächlein gemacht. Miteinander reden konnten die Eheleute selten. Zum einen
störte das Gepl2irr der Blagen. Zum anderen war da das allgegenwärtige Orgeln.
Das Instrument stand dauernd zwischen ihnen und ließ sie (bei aller Andacht) nie
zu einer richtigen ehelichen Aussprache finden. J.S. hatte inzwischen längst die
Tragweite des Bachschen Familienfluches erkannt, der ja von seiten Maria Bar-
baras verdoppelt wurde, sowie die Fesseln des Lämmerhirt-Clans, in die J.S. hilf-
los verstrickt war. Der Lieblings-Psalm aller Lämmerhirten war naturgemäß Nr.
23, >Der Herr ist mein Hirte<, und anfangs hatte J.S. ihn geliebt, denn die Sache
mit dem >frischen Wasser< bezog er auf seine (Bachsche) Person. Je mehr die Kin-
derzahl zunahm, desto weniger konnte J.S. mit der Stelle >Stecken und Stab trö-
sten mich< anfangen. Immer öfter ertappte er sich dabei, wie er statt dessen das
Buch Hiob aufschlug und sich mit dem armen Mann identifrzierte. Immerhin
jedoch hatte Gott dem Hiob ein paar Kinder freundlichst wieder abgenommen ...
Aber der göttliche Segen blieb weiter auf dem armen Bach sitzen wie eine ver-
maledeite Klette, und er ergoß sich über ihn, und der Quell des Lebens versiegte
nimmermehr. Die furchtbare Bachsche Fruchtbarkeit nahm geradezt alttestamen-

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lsrische Dimensionen an, worin wohl der Hauptursprung von Johanns ausgepräg-
ter Vorliebe für Jesus zu hnden ist. Seinem entzückenden Werk >Jesus bleibet
trreine Freude< kann man kaum noch die Umstände seiner Entstehung anmerken:
J,S. schrieb es in tiefster Depression und gelb vor Neid, denn Jesus, dieser sagen-
Itnlle Glückspilz, mußte bloß eines einzigen Todes sterben, durfte vorher keusch
lebcn und brauchte sich mit keinem einzigen Sprößling herumzuschlagen. Götter
wurcn halt immer schon privilegierte Menschen. Die bevorzugte Gruppe unter den
Slerblichen beneidete Bach ebenfalls zutiefst. Jedesmal, wenn er einem kastrier-
le tt Sopranisten oder Altisten begegnete, hätte er vor Schmerz laut auftreulen kön-
ilen.
Es wird oft gesagt, bei J.S. vermische sich das Religiöse mit dem Weltlichen so
vollkommen, daß man beide Faktoren nicht auseinanderdividieren könne (und
Zuhlen waren schließlich Bachs Steirke). Das stimmt. Besagter Sachverhalt wird
nirgendwo deutlicher als in seinen Passionen, von denen drei Sttick überliefert
w'urden und immerhin zwei vom Meister selbst stammen. Am berühmtesten ist
rindeutig die Matthäus-Passion, ein mächtig langer Schinken, der den Hörer völ-
lig aufwühlt und tagelang wirr im Schädel macht. Christi Leidensweg muß ja
irgendwie gebührend nachempfunden werden, und dieses Zielhat J.S. eindeutig
emeicht. Als weitaus wichtiger flir Bachs Eigenleben erweist sich jedoch die
,lohannes-Passion, wie der Name schon verrät - bedeutet doch das Wort >Passion<
plcichzeitig Leidensweg und Leidenschaft.Bei J.S. läßt sich eins nicht vom ande-
len trennen. Wenn den Johannes die große Passion überkam, konnte ihn nichts auf
tlicser Welt bremsen; dann beflügelten ihn buchstäblich göttliche Kräfte. Nach
jcder Offenbarung des Johannes, die regelmäßig in der Apokalypse gipfelte, ver-
itrrderte sich seine Frau innerlich (auch äußerlich alsbald sichtbar gezeichnet von
rlcr Macht des inbrünstigen Gebets, in welches der fromme Gatte sie genommen).
Aus jener Zeit des geistlichen Austausches stammt ein böser, gemeiner, ganz und
g,al unchristlicher Spottvers, dessen Ursprung fast in Vergessenheit geraten ist:
"An der Orgel eines Mannes erkennt man den -<< Nein, es ist zu furchtbar; solchen
Schmutz darf man nicht öffentlich wiederholen, sonst leistet man der Unmoral
wissentlich Vorschub. Letztendlich kann doch niemand etwas Lächerliches daran
l'inden, wenn sich zwei miteinander vermählte Eheleute gemeinsam ins Gebet ver-
ticf'en und zu diesem Zweck den Nachwuchs nach draußen zum Spielen schicken,
von wegen der Ernsthaftigkeit der Sache und so. Die Kinder wußten, daß Papa
rrrrd Mama in solchen Augenblicken beteten; Klein-Johannes (also jedenfalls einer
von ihnen) kriegte irgendwie heraus, daß, sobald die Mama >Ehre sei Gott in der
lliihe< sang, der Herr über sie gekommen war. Und daß bald ein neuer kleiner
llach fällig war.
Nach solchen Momenten der innerlichsten Einkehr wurde J.S. bald wieder
rrirchdenklich. Er war kein Krösus, und eine mathematische Überprüfung des

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Haushaltsbuches bewies ihm zudem, daß entgegen der landläufigen Meinung
nicht viele Dinge auf Erden im Dutzend billiger werden würden. Er mußte dem
Fluch Einhalt gebieten, bevor die Blagen, diese biblische Heuschreckenplage, ihm
die letzten Haare vom Kopf fraßen (sie schafften es nattirlich trotzdem, und zwar
ziemlich füih, denn er ward danach nie wieder ohne Rauscheperücke gesehen).
J.S. kannte zwar nicht die Wissenschaft der Genetik, wohl aber den Zusammen-
hang von Ursache und Wirkung, und wollte das Ubel an der Wurzel bekämpfen.
So versuchte er es mit kalten Duschen - doch so flehentlich er seine Frau darum
bat, er bekam niemals auch nur eine von ihr. Das Holzhacken im Hinterhof half
auch nicht viel. Als staatlich geprüfter Organist trug J.S. stets seinen Organspen-
derausweis bei sich, aber niemand wollte etwas Wesentliches von ihm. So blieb
ihm nur ein Ausweg, das einzig Anständige, was er außer dem Orgeln gelernt
hatte: Komponieren.
Sicher, er hatte schon früher viel und gern komponiert. Nun jedoch flüchtete
sich J.S. in die Welt seiner Noten, um der höchsten Not zu eRtkommen. Jeder
Hobby-Freudianer weiß heutzutage, daß die größten Schöpfungbn der Menschheit
lediglich einer Umleitung der Libido entspringen, einer Kanalisierung der Triebe,
die nicht auf gewohntem Wege ins Freie können, weil das Abwassersystem wegen
Bauarbeiten vorübergehend geschlossen ist oder so ähnlich. Bach wollte sich
unbewußt solch eine Umleiong schaffen. Es floß ihm dann auch eine Menge Libi-
do ins Gehirn, aber eine erschreckende Portion ging daneben, weil so ein reißen-
der Wildbach einfach nicht zu zähmen, geschweige denn aufzuhalten ist. Und die
Finanzen gingen langsam aber sicher mit den Bach hinunter. Längst hatte der
Sohn der Lämmerhirtin aufgehört, die Häupter seiner Schäfchen zu zählen,
obwohl er das des Abends vor dem Einschlafen vielleicht doch lieber hätte tun sol-
len, statt dauernd zu beten. Daß er sie sowieso nicht mehr alle ins trockene würde
bringen können, war ihm schmerzlich bewußt. Jede innige Vereinigung zu Ehren
des Oberhirten geriet ihm unweigerlich zum Schäferständchen.
Eines Nachts dann, beim Schweigen der Lämmer, kam J.S. die Erleuchtung -
dachte er. Wenn schon sein Gott ihm nicht so half, wie er sich das vorstellte, dann
mußte die Wissenschaft das erledigen, und zwar die exakteste: die Mathematik.
Ein gewisser Andreas Werkmeister hatte just im Jahre der Ersten Bachschen Ehe-
schließung ein Traktat herausgebracht, das J.S. weiterhelfen sollte, >Von der Zah-
len geheimen Bedeutung<. Darin ging es um die Symbolik der Zahlen, das zau-
bergleiche Wirken und Zusammenspiel der Zlffern und Zeichen, Quersummen
und Potenzen. Die Potenzen bzw. ihre Eindämmung interessierten J.S. natur-
gemäß besonders; aber schon die bloße Tatsache, daß die meisten der behandelten
Zahlen unter der Znlmlagen, ermutigte ihn sehr - das kleine Einmaleins traute er
sich zu. Unberechtigterweise, wie man leider hinzufügen muß. Der ganze ausge-
klügelte Zahlensalat konnte ihm nicht helfen, war er doch ein Dummerchen, wel-

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clrcs nach gar vielen Ehejahren das elementarste aller Zahlenspiele noch immer
rricht begriffen hatte - EINS UND EINS IST DREL
'frotzdem mühte er sich bis zum Ende seines Lebens mit dem Zahlen-Okkul-
lirmus ab, daß sich die Notenlinien bogen. Das dritte Brandenburgische Konzert
z,ll. gestaltete er zu einer einzigen riesengroßen Variation über die Drei: das Werk
rlreistimmig, das Thema dreiteilig, drei Gruppen von drei Instrumenten usw. Die
l)rei brachte ihn nicht weiter (siehe oben). J.S. machte Schüffelreime bzw -melo-
rlien aus seinen Initialen oder den Buchstaben seines eigenen Namens, doch die-
nes Mit-sich-selber-Spielen verbesserte die angespannte Lage nur vorübergehend.
l)ie Zahl Eins erwies sich als noch viel schlimmer. Die Eins galt als Zeichen für
rlen einen, alles beherrschenden Gott, ftir das All-Eine. Aber an das Eine dachte
J,S. doch sowieso pausenlos, da brauchte er keinerlei Gedächtnisstütze. Und trotz-
rlcm war die Mathematik J.S. irgendwo ein Trost und eine Hoffnung; sie bewahr-
le seinen angeknacksten Verstand vor dem Überschnappen und hielt Leib und
Seele notdürftig beieinandeq wenn er mal wieder aus dem letzten Loch pfrff.
Außerdem diente ihm die magische Dimension der Geheimmathematik in zwei-
erlei Hinsicht. J.S. bildete sich ein, ähnlich wie die Alchimisten und/oder die
Anhänger der Kabbala (die übrigens nichts mit der Entstehung von Schillers
'll'agödie >Kabale und Liebe< zu schaffen haben) aus Dreck Gold machen zu kön-
rrcn bzw aus Musiknoten Banknoten. Irtzteres Experiment, mit Noten Geld zu
hesorgen, gelang ihm weder mit noch ohne Magie, aber spielerisch machten die
lrchlschläge natürlich mehr Spaß. Dann verlegte sich J.S. darauf, mit Hilfe der
Zahlen einen Anti-Potenztrank herzustellen, erfand jedoch lediglich ein wirksa-
rrres Mittel gegen Ischias und Arithmetik. Auf der anderen Seite benutzte J.S. die
vcmotenschlüsselte Zahlensprache als verborgenen Kommunikationsweg, um mit
rrusländischen, der Geburtenkontrolle frönenden Magiem inVerbindung zu treten.
l)ieses Experiment schlug (nach allem, was wir wissen) vollkommen fehl. Nie-
rnand verstand Bachs Martyrium.
Was nur die wenigsten ahnen, ist der Umstand, daß die gepriesene mathema-
tisch-klare Konzeption, die Bachs Werke durchzieht, nicht allein auf seinem Mist
gcwachsen ist. Nicht einmal jene großartige Erfindung, das Wohltemperierte Kla-
vier geheißen, stammt von ihm persönlich. Es kommt zwar aus dem Hquse Bach,
rricht aus der Firma Steinweh oder Pechstein & Söhne, aber das ist auch alles. Im
( ilunde sind die Blagen schuld, und Maria, die zum Geburtstag ein neues Köchel-

vcrzeichnis bekommen hatte und >Händel im eigenen Saft< zubereiten wollte.


Selbstverständlich heißt das nicht, daß Maria Barbara besagtes Gericht auf dem
Klavier ihres Gatten zubereiten wollte; sie war zwar etwas willensschwach, aber
rricht total verblödet. Im Eifer der Vorbereitungen jedoch befahl sie einem der
Kleinen, schon mal ein schönes Feuer anzufachen, nur erwähnte sie das Wort
,l lerd< wohl nicht ausdrücklich genug. Bach junior brauchte Papier zum Feuer-

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machen sowie einen geeigneten Fidibus. Auf dem Klavier lag immer genug Mate-
rial herum. Daß es sich bei dem überflüssigen, weil schon beschriebenen Noten-
papier um den zweiten Satz des Dritten Brandenburgischen Konzerts handelte,
wußte der Kleine ja nicht; indem er es ankokelte, reduzierte Sohnemann das Zeug
derart, daß der 2. Satz auch heute noch nicht länger als vierzehn Sekunden dauert
- eine tolle Leistung, die mit Recht ihren Platz in der Musikgeschichte beanspru-
chen darf. Doch nicht genug damit. Der Bachsche Sproß zündelte gleich an Ort
und Stelle so erfolgreich, daß eines der Klavierbeine Feuer fing und langsam und
gemütlich vor sich hinschwelte, dabei andere Regionen des Instruments erhitzend.
Dieses Spiel gefiel dem Kleinen viel besser als des Vaters Spiel am Klavier, ende-
te aber abrupt mit dem Erscheinen Maria Barbaras auf dem Spielfeld. Diese
begritr die Situation sogleich und löschte den Brand, indem sie den dressierten
Zwergpinscher der Familie auf das Klavier losließ - wenn man dem Hund den
Befehl >>Faß!<< gab, machte er seine eigenen Bächlein an der gewünschten Stelle.
Das gute Stäck war nun gerettet, dachte Maria, zumindest bis ihr Gemahl aus
der Kirche eintraf. Was er beim Anblick des Instruments zu Wbib und Kind sagte,
ist Gott sei Dank nicht überliefert, wohl aber die weitere Geschichte. Den Kla-
vierstimmer hatte man fär Freitag, 18.30 Uh bestellt; er traf auftragsgemäß ein
und ergriff, ohne eine Sekunde zu lange z:uzögem, vor der Bachschen Brut inklu-
sive Zwergpinscher die Flucht. Das war also nichts. Vater Bach mußte selbst stim-
men. Um die langwierige Prozedur abzukürzen, ließ er eine zu diesem Zweck mit-
gebrachte, an die Orgelei gewöhnte Kirchenmaus über die Klaviersaiten laufen.
Diese Methode funktionierte erstaunlich gut. J.S. bemerkte dabei nisht nur, daß
das Teil noch zu benutzen war (zumindest zur Ehre Gottes), sondern auch, daß
sich irgend etwas mit den Halbtönen, diesen verdammten schwarzen Tasten, zum
Besseren verändert hatte. Halbtöne waren bekanntlich die Dinger, die zwischen
richtigen Tönen herumlagen und nie so ganz passen wollten, weil sie eben nicht
genau auf halber Strecke angesiedelt waren. Nun jedoch, durch Klein-Bachs er-
folgreiches Experiment und das Arbeiten mit der Maus (welches bei Informati-
kem wieder groß in Mode gekommen ist), zeigten sich die schwarzen Teufelsdin-
ger weit weniger widerspenstig. Alles, was J.S. noch zu tun blieb, war, das Ergeb-
nis des Versuches als Mathematik-orientierte neuartige Harmonielehre auszuge-
ben.
Überhaupt arbeiteten die Bachschen Kinderlein tatkräftig an der ihrem Vater
zugeschriebenen mathematisch-okkulten Notensprache mit. Sobald der Vater aus
dem Häuschen war, kamen die kleinen Quälgeister aus den Ritzen und Fugen
gekrochen, holten ihre Buntstifte und krakelten in Papis Notenblättem herum. J.S.
galt als berühmt-berüchtigt für die vielen Kreuzchen und die kleinen Bs, die er zu
Papier brachte (etzt um so mehr, als er ein wohltemperiertes Klavier sein eigen
nannte und praktisch nur noch Halbtöne benutzte). Die Kreuze hatten angeblich

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eitte religiöse Bedeutung, denn schon Jesus trug mit Vorliebe Kreuz; und kleine
Br machte Bach ja sowieso, wo er ging und stand. Doch auch die Kinderlein
konnten das - strenggenommen konnten sie sonst gar nichts. Schreiben hatten sie
noch nicht gelernt, abgesehen von ihren Initialen. Kreuzchen machen klappte.
lene merkwürdigen komplexen Kreuzesformen allerdings, die viele Bachforscher
ln den Manuskripten von jeher so irritieren und verblüffen, sind leider in Wirk-
lichkeit bloß Kinder-Käsekästchen. Enttäuschend, aber wahr. Bachs neue Harmo-
nik geht u.a. darauf zurück, daß seine Kinder mit Begeisterung das Innere ganzer
und halber Noten schwarz auszumalen pflegten, was der Eanzer. Sache ein etwas
ltnderes Tempo verlieh. Bach fielen diese Veränderungen zwar irgendwie auf,
wcnn er nach Hause kam; doch hielt er sie für das Wirken der göttlichen Kraft, die
turrdauernd seine Feder führte - offensichtlich auch in seiner Abwesenheit. Erst als
er in einer der ganzen Noten ein grinsendes kleines Gesicht erblickte, erkannte er
rlcn Ursprung der göttlichen Eingebung: >>Verdammt nochmal - warst du das,
,lohann? Oder du, Johann? Oder etwa Johann, dieser garstige Schlingel?<
So zogein eine Menge Schäfchenwolken ins Land und darüber hinweg, und J.S.
orgelte, bis sein treues Weib dahinschied. Da das Instrument ebenso wie das Kla-
vier regelmäßig gestimmt und gespielt werden mußte, beschloß der Vielbeschäf-
ligte, das Trauerjahr nicht abzuwarten und sofort Anna Magdalena zu heiraten, um
scinen Kindern eine Spielgefährtin im ungefähr gleichen Alter zu schenken. Anna
crwies sich als ein fast noch größeres Talent im Kinderwurf als ihre Vorgängerin.
Sie wurde sofort schwanger und behielt diesen Zustand die folgenden Jahrzehnte
konsequent bei. J.S. ward es langsam immer unheimlicher zumute, obwohl er, wie
wir wissen, nicht ganz unschuldig an dieser Schöpfungsgeschichte war. Apropos:
Zwei Wortschöpfungen haben wir dem Ehepaar zu verdanken. Die erstere, Kinder
tlcr Größe nach wie Orgelpfeifen zu ordnen, kennt man, jedoch kaum den
Ursprung derselben. Die zweite Erfrndung stammt von Ehefrau Nr. 2 - die soge-
nannte >Besuchsritze<. Diesen Ausdruck wählte sie ftir ihre Schutz- und Trutz-
rnaßnahme, das Ehebett zu zersägen und den Spalt dazwischen nur notdürftig zu
polstern. Erstens hielt so etwas J.S. nicht vom Abendgebet ab; zweitens mißver-
stand er die neue Bezeichnung völlig und belegte von da an sein junges Frauchen
rnit dem vermeintlichen Kosewort. Sie resignierte und sagte sich: >>Große Perücke
und nichts darunter.<< Dann kam der denkwürdige Tag, als J.S. überhaupt nicht
rrrehr an sich halten konnte und das erste Mal mit seiner Gattin >Toccata und Fuge<
spielte.
Im Gegensatz zu allem bisher Gesagten, welches man in aller Unschuld rein,
klar und unzweideutig verstehen mußte, ist es angebracht, Toccata und Fuge in
cinem anderen Lichte zu betrachten. Mittlerweile ist nämlich der gute geborene
Lämmerhirt gänzlich zu einem Opfer der Satyriasis geworden, sprich: zu einem
llock im Schafspelz. Das schlägt sich natürlich auch in seiner Musik nieder. >Toc-

-1 -1
cata< bedeutet >die Berührte< und repräsentiert nichts anderes als ein grobes Vor-
spiel zur sich nahtlos anschließenden Hauptsache. Also eine Möglichkeit, das
Tastinstrument aufzuwärmen, bis es wohltemperiert ist. Aber dann geht's zur
Sache. Denn >Fuge< kommt von >fuga<, und >fuga< heißt FLUCHT. Kaum berühr-
te J.S. die arme Anna (>Toccata<), da begann sie sofort die Flucht in drei Sätzen.
Leider war J.S. mit drei Bocksprüngen hinterher, und Anna mußte sich fugen. Die
Fuge ist nämlich immer mindestens zweistimmig. Die Haupttonart gab selbstver-
ständlich der Meister, auch Führer genannt, an. Wenn man sich die Definition der
Fuge zu Gemüte führt, kann einem schlecht werden: >>Das Hauptgesetz ... ist, daß
der Gefährte zur Dominante modulieren muß, wenn der Führer in der Hauptton-
art bleibt, und daß ihm die Rückmodulation zufdllt, wenn bereits der Führer die
Dominanttonart erreicht hat.<< Das ist egoistisch, erniedrigendwd ekelhaft, um es
milde auszudrücken. Und das Schönste war, daß J.S. nach jeder Fuge (manchmal
ließ er die Toccata weg) seine Frau für die gelungene Durchführung verantwort-
lich machte! War wieder ein kleiner Bach unterwegs, nannte 9i.r Anna einen Suc-
cubus, einen bösen Dämon, der harmlose, unschuldige Männer im Schlaf sexuell
heimsucht.
Zwischendurch wandte er sich immer wieder der Musik zu, d.h. dem Noten-
schreiben. Als letzten Ausweg hatte er >Ein' feste Burg ist unser Gott< komponiert,
was natürlich auch nichts bewirkte. In dieser Burg wollte der Heimgesuchte sich
verschanzen, und zwar vor der Versuchung des Gebets und vor seiner Frau, die-
sem Teufel. Im frühen Mittelalter hatten es die Ritter ja schon so gehalten und sich
beim drohenden Angriff ihrer Frauen und Kinder im Burgfried versteckt. Aber der
Versuch mißlang wie die anderen - zum Essen und Orgeln mußte J.S. die Zuflucht
regelmäßig verlassen, und wieder war's passiert.
Die Brut hat sich später, wie wir wissen, über ganz Europa verstreut wie die
Mafia. Es gibt den Berliner und Hamburger Bach, den Mail2inder und Londoner
Bach, sogar den Bückeburger Bach. Aber den Fluch des Großen Paten, der all
seine Kinder Johann nannte, erbte zum Glück keines. Und so wissen nur er und
seine beiden Frauen um die wahre Natur des Leidens Christi ... und um das Leid
des Simon von Kyrene, den man gezwungen hatte, jenem unter die Arme zu grei-
fen. Bach trug sein Kreuz ein Leben lang. Maria und Anna trugen die ihren, und
seines obendrauf.

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Ein Kunstmensch in Kunsthausen
Haydn, Joseph (17 32-1809)

Wie sein Name deutlich zum Ausdruck bringt, entstammt Joseph einer langen
l,inie von unverbesserlichen Heiden. Halt! werden bereits an dieser Stelle seine
Vcrehrer empört ausrufen: Das geht nicht an, einen Menschen nach seinem Fami-
licnnamen zu beurteilen, für den er nichts kann, und außerdem, der Haydn Joseph
wirr sein Leben lang ganz schrecklich fromm und hat die wunderbarste religiöse
Musik komponiert! Das scheint wohl wahr. Doch abgesehen von dem fast unmaß-
gcblichen Umstand, daß Haydn stets bestrebt war, echt >haydnische< Musik zu
lchreiben (diverse Kirchenfürsten schrieben das Wort übrigens >heidnisch<, völlig
turrbewußt natürlich), führte er sich unter dem Deckmäntelchen des Katholizismus
Bcnauso auf- heidnisch eben. Er hatte gute Gründe dafür, denn er war ein guter
Mensch (obwohl kein >guter Christ<), und gute Menschen müssen gute Gründe
tlrl'ür haben, wenn sie sich so benehmen wie Heiden bzw. Haydn.
Beispielsweise galt der allzeit freundliche >Papa< Haydn als ein vollendeter
Kavalier dem schönen Geschlecht gegenüber, tugendsam und vorbildlich in je-
rlcr Lebenslage. Er sprach auch immer sehr verehrungsvoll über Damen. Eines
rler Londoner Tagebücher des damals rund Sechzigjährigen legt davon Zeugnis
rrb; >In Frankreich als Mädchen tugendhaft, Hure als Weib, in Holland Hure
rrls Mädchen, tugendhaft als Weib, in England bleiben sie alle Zeit Huren.<< Die-
rer Ausspruch beweist deutlich, daß Haydn die Frauen niemals pauschal beur-
leilte, sondern ganz individuell nach Nationalität, daß er überdies ihre Tugend
rchätzte sowie ihren Charakter, den er als durchaus wandlungsfähig einstufte
(rrul3er in England, wo man ihn gerade auf das herzlichste empfangen hatte).
I lirydn hielt sich ausgesprochen gern in weiblicher Gesellschaft auf, bloß nicht bei
rcriner Frau, welche ein echtes Ekel war und fromm bis zum Geht-nicht-mehr.
l)nß er zeitlebens so furchtbar schleimen mußte, der Papa Haydn, muß auf seine
knrnke Nase zurückgeführt werden; von seiner Frau Mutter hatte er einen mords-
rrriilSigen Polypen geerbt und ihr auf dem Totenbett versprochen, sich persön-
lich um das Tierchen zu kümmern. Das tat er weisungsgemäß. War es demnach
scirre Schuld, wenn seine Vorgesetzten ab und an auf seiner Schleimspur aus-
lrrlschten?
Man kann leider nicht umhin, auf Josephs bedeutungsvollen Familiennamen
rrrr'ückzukommen, denn dieser enthält das Ah und Oh des berühmtesten heidni-
richen Machwerkes, der >Schöpfung<. Normalerweise rühren Nachnamen von
llclufsbezeichnungen her, siehe Müller, Meier, Schneider und besonders Schulze

35
und Co. Geht man von Hausnamen aus, hat jeder zweite Deutsche einen Bürger-
meister zum Vorfahren, wofür man sich nicht schämen muß: Schwarze Schafe gibt
es in jeder Sippe. (In Australien hat jeder Mensch einen Sträflingsurahn; in
Deutschland konnte man die Kommunalpolitiker jedoch nicht alle gleichzeitig
einsperren.) Folgt man der Berufs-Namensgebungstheorie, gerät man beim
Haydn-Klan unweigerlich in Verwimrng. Diese Haydn nämlich galten als ein
außerordentlich hartnäckiger und tiefverwurzelter Stamm von Wagenbauem. Uber
unzählige Generationen hinweg stellten sie alles her, was nicht niet- und nagelfest
war: Leiterwagen, Kutschen, Planwagen (auf Sonderwunsch auch ohne Plan),
Transportmittel jeder Art. Nach allen Regeln der Kunst hätte die Familie Wagner
heißen müssen. Es gibt nur eine einzige Erklärung für diese eklatante Abweichung
von der Regel, eine Abweichung übrigens, die wir mit Freude zur Kenntnis neh-
men, da sie uns von der lästigen Pflicht entbindet, uns mit noch einem Musiker
namens Wagner herumzuschlagen. (Natürlich hätte Joseph, der eine Zeitlang sehr
versucht war, in England zu bleiben, dann den Namen Joe Cartwright.annehmen
können, aber das hätte uns womöglich in noch tiefere Verwimrng gestürzt.) Der
unausrottbare heidnische Wesenszug ist es, der die Haydn somit davor bewahrte,
Wagner genannt zu werden. In der Tat waren diese Haydn ein gar sonderbares
Völkchen. Sie lebten in einer Gegend, welche den heidnischen Sippencharakter
im Laufe von Jahrhunderten weiter ausprägte, bis endlich Joseph ihn auf die höch-
ste und spitzeste Blüte trieb. Jenes an Ungarn grenzende österreichische Gebiet,
das heutige Burgenland, wurde damals pausenlos von feindlichen und freundli-
chen Truppen überrannt - keiner wußte, wer schlimmer war. Jedenfalls konnte
niemand die Türken leiden, die die unangenehme Gewohnheit besaßen, immer
alles abzufackeln, was sie bei anderen Leuten sahen, inklusive der Leute. Auch die
Kuruzzen galten als ziemlich üble Gesellen in dieser Hinsicht. Die Haydn begeg-
neten dieser Dauer-Invasion auf recht eigenartige Weise. Regelmäßig ließ sich der
jeweilige Oberheide Frau und Kinder metzeln und das Häuschen abbrennen, nur
um dann um so fleißiger alles wieder aufzubauen. Dann kamen die Kurzen zurück
und schlugen noch mal alles klein - egal, Frau und Kinder und Hof wurden neu
hergerichtet, sozusagen ohne Rücksicht auf Verluste. Dabei hatten ausgerechnet
die wagenbauenden Haydn jedesmal die beste Möglichkeit, viel schneller als ihre
Nachbam dem bösen Feind davonzurollen! Doch was taten sie? Sie, von Rechts
wegen Inbegriff der Mobilitöf, verkauften ihre fertigen Wagen an die herumlie-
genden Adligen, welche ihre Burg Burg sein ließen und nur eines suchten, näm-
lich das Weite. Und dann kamen zur Abwechslung die Türken und schlugen alles
kuruzz und klein. Eine solche >Reaktion< seitens der Haydn läßt nur zwei Rück-
schlüsse zu. Entweder waren sie ganz einfach saublöd - es mag ja schön sein, sich
mit der Heimaterde verwurzelt zu fühlen, aber der Spaß hört auf, wenn man
andauernd genauso plattgemacht wird wie die Scholle, auf der man ackert. Sicher,

36
tlie Haydn hatten nicht gerade das Pulver erfunden, auch nicht das Rad. Die ande-
le Erklärung für ihre eigenartige Apathie besagt, daß sie im Laufe der Jahrzehnte
tlurch ihre konsequent aufrechterhaltene Feindberührung von den Heiden etwas
Grundlegendes lernen wollten - sie wußten nur nicht recht, was das sein mochte.
rPapa< Joseph aber zog seine Lehren und seinen Nutzen aus diesem fragwürdigen
haydnischen Erbe.
Man darf die Leutchen nicht falsch einschätzen: Sie waren durchaus fromme
l-laydn. Einige von ihnen hielten sich sogar für ausnehmend gute Christen, wie
lrcispielsweise Josephs Vater Mathias, der einundzwanTig Jahre lang als Markt-
richter fungierte. Ihm oblag es, den tugendsamen Lebenswandel der Dorfbevöl-
kerung zu überwachen, insbesondere den Kirchenbesuch und die Einhaltung der
Sonntagsruhe und übermlißige Spielleidenschaft und Ehebruch. Mit all diesen
l)ingen mußte es seine geregelte höhere Ordnung haben, und darauf achtete
Mathias nach Kräften. Außerdem hatte er das Recht, unangemeldet die Feuerstel-
lcn der Dörfler zu untersuchen. (Wahrscheinlich durfte er zu diesem Zweck einen
Löffel mitbringen.) Mathias hatte sich aus der großen weiten Welt, also von einem
zehn Meilen entfemten Kaff, eine Harfe mitgebracht und harfte abends, was das
Zeug hielt. Den Harhnisten begleitete sein treues Eheweib mit andächtigem Ge-
sang. Schon früh bemerkte man so das Genie des kleinen Joseph, der (wohl aus
f)lotest gegen die ewigen Hamburger Harfenkonzete) dazu krähte und jaulte und
rnit Holzscheiten den Takt um sich schlug. Die stolze Mama, Maria geheißen,
wünschte sich nichts sehnlicher, als daß ihr Sepperl einmal ein Priester würde,
tulso kein Wagner wie die anderen Depperl in der Familie. Dies gab den Ausschlag
l'tir Sepperls Lebensweg. Ein haydnischer Priester - das konnte nicht gutgehen.
'lht es auch nicht.
Niemand wußte es zu jener Zeit: Joseph war der größte kleine Erzheide, den die
rnusikalische Welt je zu Gehör bekommen sollte. Zunächst einmal galt er jedoch
lodiglich als Genie und Wunderkind, und das auch nur im engsten Familienkrei-
sr:. Eines Tages, als Sepperl noch nicht sechs war, kam der Onkel Johann vorbei,
cin angeheirateter Verwandter, welcher deshalb Schulleiter und Kirchenchormei-
ster war und kein Wagner. Der erkannte denn auch sofort das Talent des Knaben,
tlcnn er verdiente seinen eigentlichen Lebensunterhalt mit der Beherbergung von
Wunderkindern, aus denen dann, o Wunder, nie etwas Rechtes wurde. Mutter
Maria, die wußte, daß sie den kleinen Heiden nie mehr wiedersehen würde, sobald
cr einen Radius von zwei Kilometem überschritten hätte, sandte ihn dennoch in
tlie Ferne, auf daß aus dem Sängerknaben ein echter Dompfaff werde. Bei Onkel
,klhann war es dann auch sehr schön. Es gab viele neue Eindrücke in der Weltstadt
llainburg; viel zu singen den ganzen Tag, viel zu arbeiten, viel hinter die Löffel,
kaum etwas darauf. Viel Dreck gab es auch und Ungeziefer, mit dem man spielen
konnte. Noch im hohen Alter dankte Haydn seinem ersten Lehrer, der ihm nichts

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beigebracht und damit sein Gehim für vernünftige Eindrücke freigehalten hatte
(was Haydn allerdings etwas verbrämter ausdrtickte). Wie der Teufel es wollte,
kam nach ein paar Monaten der Kapellmeister des Wiener Stephansdoms vorbei
auf der Suche nach neuen Rekruten. Mit acht Jahren landete Sepperl also in Wien;
die Familie war überzeugt, daß sein Glück gemacht sei. Und tatsächlich gab es
hier noch viel mehr schöne Arbeit, viel weniger überflüssiges Essen, überhaupt
keinen Unterricht (außer >zwey< Lektionen zu Anfang) und Ungeziefer, soviel das
Herz begehrte. Außerdem befand sich Klein-Haydn neun Jahre lang fast ununter-
brochen im Stephansdom, eine Erfahrung, die mit Gold oder Dampfnudeln über-
haupt nicht aufzuwiegen ist. Was soll man sagen - natärlich war er glücklich, so
glücklich, daß er diese Zeit seines Lebens später am liebsten gar nicht erwähnte
vor Rührung. Das buchstäblich einschneidendste Erlebnis, welches dem jungen
Joseph in Wien zuteil wurde, bestand in seiner nur mit Mühe verhinderten >Sopra-
nisierung<, auch Kastration genannt. Da man der Meinung war, daß seine wun-
derschöne Stimme zur Ehre Gottes konserviert werden müsse, benachrichtigte
man Vater Haydn. Schnell wie der Blitz verließ dieser die heimatliche Scholle
(und wir wissen, was das für ihn bedeutete). Er wollte einen Pfaffen zum Sohn,
aber keinen falsettierenden! Doch Joseph hatte sich seiner Haut gewehrt, und als
der Vater besorgt fragte, ob er ihn nun >Josephine< nennen müsse, konnte der
Knabe dies verneinen.
DerVorfall jedoch muß sich in des Knaben Seele verheerend ausgewirkt haben.
Zur Ehre Gottes durfte er das ganze Kirchenjahr über fasten und arbeiten; nun
hätte er Gott fast eines seiner edelsten Teile vermacht - völlig ungefragt! Da war's
genug der Ehre Gottes. Aus dem Sängerknaben wurde der Heide, der er war; aus
dem Haydn wurde ein echter Rebell, fast schon ein Antichrist. Gemäß seiner
Wesensart aber ging Joseph still-subversiv ans Werk. Die ersten Kompositions-
versuche des jungen Heiden waren als versteckte Gotteslästerungen konzipiert:
Ihm war hauptsächlich daran gelegen, daß die Notenblätter >hübsch voll< wurden,
ihr Inhalt schlichtweg unausführbar. Ein zwölfstimmiges Salve Regina, bei des-
sen Komposition ihn Reutter erwischte, stellte eine direkte Attacke auf die gesam-
te Kirchenmusik dar, was der Erwachsene nicht erkannte und lachend abtat.
Haydn sollte lediglich zehn der zwölf Stimmen streichen ...
Als >Jugendstreich< tat man auch Haydns frühen Versuch der Usurpation ab:
Schließlich galten Monarchen als Götter auf Erden, Ersatzgötter sozusagen, und
wenn man an ihrem Thrönchen rüttelte, beleidigte man Gott selbst. Wie anders
aber sollte Haydns Attentat in Schloß Schönbrunn zu bewerten sein, als er das
Baugerüst erklomm, welches zu der Kaiserin Gemächern hinaufführte? Gleich
einem Luzifer erklärte er sich selbst zum Rädelsführer der Aktion - und kriegte
prompt eins hintendrauf. Als dann der Stimmbruch kam, wurde Sepperl endgültig
zum Revoluzzer. Er schnitt einem Mitsänger den Zopf abt. Nur eingeschworene

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Anti-Freudianer können hier die Verarbeitung des haydnischen Kastrationstrau-
ntas ignorieren. ZumAusgleich mußte der aufmüpfige Heide anderen jungen Leu-
lcn die altenZöpfe abschneiden - ob die dann aber, zopflos wie sie waren, etwas
rnit ihrer neuen Freiheit anfingen, kümmerte ihn nicht. Haydn selbst erlangte
schon bald viel mehr Freiheit, als ihm lieb war, und zwar durch o.g. Stimmbruch,
rlcn keine Schere hatte auftralten dürfen. Nachdem er seinen eigenen leiblichen
llruder Michael hatte ausbilden müssen, damit dieser in seine, Josephs, stimmli-
chen Fußstapfen treten konnte, kriegte Joseph zum Abschied etliche zafiliche
Stockschläge auf die flache Hand (die er wohl ursprünglich zum Abkassieren des
wohlverdienten Neunjalreslohnes hingestreckt hatte). Er durfte nicht maulen:
Itttmerhin ließ man ihn behalten, was er auf dem Leibe trug, als die Herren Geist-
lichen ihn an die frische Luft setzten, und das ist zumal im Winter eine rührend-
rtrenschliche Geste.
Nun war der heidnische Jüngling weder von der Natur noch von den Eltem
rroch von seinen Vorsängem mit irgend etwas gesegnet worden, nicht einmal mit
(iottes Gnade, die doch angeblich ganz umsonst ist. Er war klein, häßlich, unge-
hildet und arm, wobei letzterc Eigenschaft die anderen extrem verstdrkte. Ganz
gcwiß wdre er verhungert, wenn ihn um die Weihnachtszeit herum nicht ein bit-
lerarmes Paar mit Kleinstkind in ihren Saustall von Dachkammer eingeladen
hlitle. Der junge Heide stutzte ein wenig, nicht weil er von Nafur aus ein Stutzer
wtr, sondern weil er die Weihnachtsgeschichte irgendwie andersherum in Erinne-
lung hatte. Was man ihn jedoch im Dom hatte singen lassen, stimmte offensicht-
lich sowieso nicht im wahren Leben von Wien. Nach nur wenigen Monaten im
Klimmerlein der gastfreundlichen Familie Spangler konnte sich Sepperl, der
irrz,wischen ein Sepp geworden war, etwas Eigenes leisten: Il4 Zimmer im fünf-
le n Stock, ohne BadAVC und ohne Dach, dafür mit öffentlicher Treppe und Papp-
wiinden, im Alten Michaelerhaus, welches mindestens so ... romantisch anmute-
lc, wie es klang. Aus Dankbarkeit und zum Gotteslob scbrieb Haydn darauftrin
rcine erste Oper Der krumme Teufel und, nachdem diese verboten wurde und sein
lhnk nicht versiegen wollte, die zweite Oper Der neue krumme Teufel. Beide
Wcrke bezeugen seine tiefempfundene Frömmigkeit, die ihn nie verlassen sollte:
Alr den Teufel glaubte er zeitlebens.
Da brach plötzlich die adlige, weltliche Welt in sein bis dahin von Heiliger Gei-
rilcrhand bestimmtes Leben hinein. Sie kam in Gestalt eines gewissen Signore Pie-
trrr Metastasio, der tatsächlich ansteckend auf seine Adelskollegen wirkte, denn
irrrrcrhalb weniger Jahre stieg Haydn vom musizierenden Faktotum zum dudeln-
rlcrr Diener, ja sogar zum dienernden Allzweck-Musikus auf. Seine Karriere war
gcladezu rasant, obwohl nicht ganz so rasant wie die seines Bruders Michael, den
rlic Geistlichkeit hätschelte und tätschelte, wo sie nur konnte. Dabei war auch
Michael ein Mann geworden und geblieben. Aber wer verstand schon die Pfaffen?

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Nichtsdestotrolz gtng es Joseph gut; er mußte nur noch 16 Stunden täglich arbei-
ten statt 18.
Als der Heiden-Sepp seine erste Stelle als Musikdirektor antrat beim Grafen
Morzin, mit richtigem Geld, das sogar manchmal ausbezahlt wurde, mit eßbarer
Kost und einem fast eigenen Zimmer (er war nun nämlich auch Kammerkompo-
nist und brauchte deshalb eine), da wurde er im Handumdrehen übermütig. Kaum
achtundzwanzig, und schon wollte er durch eine überstürzte Heirat seine
Unschuld verlieren! Dabei hatte er das Fräulein, welches er zu lieben meinte,
bereits an die Kirche verloren: Ihre Eltern bestanden darauf, die hübscheste ihrer
Töchter ins Kloster zu schicken. Trotzdem blieb das Mädel auf leicht perverse Art
mit dem Sepp verbunden. Als Therese eine Braut Christi wurde (was erstens eine
vermaledeite Verschwendung und zweitens kirchlich sanktionierte Bigamie dar-
stellte, weil Christus doch schon ganze Klöster voller Bräute hatte), da bekam sie
den Namen Josepha zugeteilt - und wie wir wissen, wdre das Sepperls Name
gewesen, falls man auch ihn zur Braut Christi gemacht hätte! So bliebihm The-
rese doch gewissermaßen erhalten, und Sepp heiratete ihre potthäßliche, doofe
Schwester. (Übrigens wurde die ganze Heiratsgeschichte durch einen schreckli-
chen Hormonstoß in die Wege geleitet, den ausgerechnet die schöne Gräfin Mor-
zin dem armen Heiden verpaßt hatte, noch dazu von hinten: Sie guckte ihm beim
Klavierspiel über die Schulter, und - schwupps! - fielen ihre Kleinodien, welche
gar so klein nicht waren, aus dem Halstüchlein heraus. Gott sei Dank konnte
Haydn sie rechtzeitig auffangen, aber mit seiner Gemütsruhe war's aus von da an.)
Thereses ältliche, für die Kirche offenbar ungeeignete Schwester entpuppte sich
schon bald als voller Reinfall. Joseph schnupperte nur ein paarmal an ihr und ließ
sie links liegen, zumal sie keine Kinder bekommen konnte. Woher Joseph das
wußte? Nun ja, so etwas merkt ein Mann eben, nicht wahr.
Wenn bisher noch nicht von Haydns Werken die Rede war, spiegelt das genau
seine Lage wider: Es gab noch nichts Bedeutendes zu vermelden. Haydn, von
Natur aus ein Spätzünder, brauchte lange, um sich voll zu entwickeln. Aber diese
seine Entwicklung gipfelte dann auch im Erhabensten überhaupt, dem Oratorium
Die Schöpfung. Alles vorher ist mehr oder weniger Kokolores. Die der Frau
Haydn zugeschriebene Bosheit, die darin bestand, seine handgeschriebenen
Notenblätter absichtlich als Haarwickel und/oder Pastetenunterlagen zu mißbrau-
chen, darf man im allgemeinen nicht als tragisch werten. Die Schöpfung dagegen
entspringt direkt Haydns Schicksal, mit dem sie untrennbar verwoben ist. Man
sollte nun hinter der haydnischen Schöpfung nichts Göttlich-Biblisches erblicken,
obwohl der Heide selbst für diese gelungene Tarnung gesorgt hat. Seine Schöp-
fung bringt des Haydn Emanzipation zum Ausdruck, seinen Weg von der kirch-
lich gequälten Kreatur zum Spielball der gottgleichen Adligen und dann, hallelu-
jah!, zum nahezu unabhängigen Self-made-Haydn mit eigenem Oratoium, eige-

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trcr Kreation Zunächst jedoch, als Vorbedingung sozusagen, mußte Haydn per-
sönlich noch einmal die gesamte Schöpfungsgeschichte durchlaufen, von Adam
nn. Buchstäblich.
Im Anfang nämlich war Fürst Nikolaus von Esterhäzy, der Prachtliebende. Der
Fürst sah, daß an einem Fleck seines Reiches, nahe dem Neusiedler See, die offi-
ziell-göttliche Schöpfung mir nichts, dir nichts vorbeigewandert war. Dort gab es
ttusschließlich Sümpfe, Mücken, Wasser, Nebel und schlechte Luft, auch Malaria
ßcnannt. Er beschloß, daß es so gar nicht gut war und er selbst aus dem von Gott
g:roduzierten Schandfleckchen Erde etwas unendlich Schöneres gestalten könne.
(icwagt, getan. Fürst Nikolaus ließ alle trockenlegen, besonders die Sümpfe, auf
tluß sie das Fundament seines nagelneuen Superanwesens bildeten, welches
luunkvoller als Versailles, atemberaubender als Disneyland werden sollte. Und so
wud getrocknet, gerodet und gebaut Monat um Monat, Jahr um Jahr, bis der Fürst
zuliieden war ob der ganzen Pracht und des Prunkes und des Protzes und er
crkannte, daß der liebe Gott (mit Verlaub) bloß ein armer Stümper war gegen ihn.
Auf einer Fläche von nicht weniger als sechzehn Quadratmeilen lag die soge-
nunnte >Natur< nicht nur besiegt, sondem in Grund und Boden gerammt und in
l{cih und Glied geordnet. Der Neusiedler See verdiente endlich seinen Namen;
nun galt es nur mehr die neuen Menschen auszuwählen, die das künstliche Para-
rlics zu bevölkern die einzigartige Ehre genießen sollten. Der Fürst verehrte die
Kunst ganz außerordentlich, insbesondere die eigene. Einerseits suchte er Men-
lchenmaterial, welches roh genug war, nach seinem Bilde geformt zu werden,
rrrrdererseits mußte dieses menschliche Knetgummi künstlerische Begabung mit-
hringen, mit der man schön spielen konnte.
Wie der ideale Kunstmensch, von Nikolaus runderneuert und profiliert, auszu-
lehen hatte, ist wahrlich nicht schwer zt efiaten. Was gab es Besseres auf der von
e irrem anderen Gott erschaffenen weiten Welt als einen echten, unverbildeten jun-

pen Haydn? Obendrein einen, der sehr nett musizierte und schon mehrere Stellen
ttls Kammerdiener bzw. -virtuose bekleidet hatte! Den Heiden schleppte Nikolaus
rrril in seinen Garten Eden, in sein >hochfrirstliches Schloß Esterhaß im Königrei-
llrc Ungem<, wie es in einer Touristenbroschüre der damaligenZeitrecht ominös
lricll. Den Haydn hatte der Prachtliebende gern; der Mann mußte der gastlichen
Stiitte erhalten bleiben, wenn dies auch bedeutete, daß der Heide praktisch als ein-
zig,cr Einwohner sein getreues Fratichen mitbringen durfte. Alle anderen Musiker
rrntl Künstler hatten ihr Ehegespons oder -gespenst am Eingang abzugeben. Gera-
rle der arme, unglücklich beweibte Haydn hätte dem Fürsten gern klargemacht,
rlttl3 er keine Extrawurst gebraten kriegen wollte - umsonst. Er bekam sein eige-
ttcs Opernhaus, in dem er dirigieren, sein eigenes Marionettentheater, wo er die
I'rrlrpen tanzen lassen durfte. Allerdings wurde auch er selbst mit zum Inventar
p.cziihlt ...

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Dort also, in der Kunstwelt von Esterhflz, spielte Nikolaus Gott und Haydn Kla-
vier und Geige. Nikolaus fühlte sich in seinem Kulturzentrum so wohlig und erha-
ben, daß er überhaupt nicht mehr nach Schloß Eisenstadt, dem eigentlichen Sitz
der Familie, zurück mochte. Er konnte sich.auch beim besten Willen nicht vor-
stellen, daß einer seiner Kunstmenschen sich freiwillig von Esterhäz entfemen
wollte. So blieb denn der Heiden-Joseph dreißig Jahre lang in dem früheren
Sumpf hocken und fabrizierte wunderschöne Musik am Fließband. Das ihm auf-
erlegte Arbeits- und Produktionspensum war enorm; andauernd wollte Nikolaus
Musik hören, von morgens bis abends und am Wochenende erst recht. Haydn
schrieb und schrieb, dirigierte seine trutzigen Mannen vom Schützengraben des
Orchesters aus und blieb ansonsten sittsam und bescheiden, wie es ihm als fürst-
licher Kreatur zukam. Man hatte ihn und seine zölibatierenden Mitbewohner in
feine fürstliche Livreen und Wämschen gesteckt, passend zum nichtatmenden
Ambiente. 1773 kam die Kaiserin Maria Theresia in die Sumpfoase und wollte
fortan nur noch haydnische Musik hören. Auch sonst gab's viel Besugh; die mei-
sten brachten dem menschlichen Spielzeug Haydn goldene Tabatierert mit. Keiner
weiß heute, ob Haydns Nasenpolyp Schnupftabak überhaupt vertrug. Seine
Dosensammlung muß jedenfalls riesig gewesen sein.
Außer güldenen Dosen sammelte Joseph italienische Sängerinnen. Da er musi-
kalisch immer brav alles Geforderte leistete, noch weit übertraf und so den Ruhm
seines neuen Schöpfers in der Welt mehrte, durfte sich Haydn einige heidnische
Eigenheiten herausnehmen, die der restlichen Bevölkerung nicht anstanden. Er
wollte eine richtige Frau haben, keine fromme wie seine eigene, sondem eine mit
Dekollet6 und echtem Tremolo, nicht nur in der Singstimme. In einer gewissen
Luigia Polzelli fand er die Gesuchte. Es störte ihn nicht, daß die Polzelli ihren
Mann mitbrachte, welcher ebenfalls in fürstlichen Diensten stand. Beide Musiker
erwiesen sich als herzlich unbegabt, was dem ansonsten auf Qualität achtenden
Haydn schnurz war. Die Polzelli hatte ihre Qualitäten anderswo, und der Fürst gab
sie seinem Heiden, wie weiland der liebe Gott dem Adam seine Eva geschenkt
hatte. Der Fürst bemerkte nämlich sehr wohl, daß der nunmehr 4J Lenze zählen-
de Kapellmeister in letzter Zeittraunger und trauriger wurde. Das wdre nicht wei-
ter störend aufgefallen, wenn sich Haydns Zustand nicht so fatal auf seine Musik
ausgewirkt hätte. Die Begleitmusik zum Essen war mittlerweile so schleppend,
daß die Suppe im Löffel auf dem langen, trostlosen Wege zum fürstlichen Munde
eisekalt zu werden pflegte - gar nicht zu reden von der einschläfernden Wirkung
auf die fürstliche Verdauung. Es stimmte zwar, daß Haydns Genius sich in der
Einsamkeit wie eine Sumpfblüte entfaltet hatte und daß der pathetische Schmerz
seiner Werke in der Außenwelt mächtig geschätzt wurde, aber Nikolaus kriegte
davon Blähungen.
So also schenkte der Fürst seinem sehnsuchtskranken Haydn eine passende

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llcidin, und fortan schwebte das Paar durch die fürstlichen Parkanlagen wie der
Hlf'enkönig Oberon mit Gemahlin, losgelöst von der Welt, sogar ihrer künstlichen.
l:s fiel ihnen erstaunlich leicht auf ihren Höhenflügen, Herm Polzelli und Frau
llaydn völlig zu übersehen. (Allerdings litt Polzelli an Schwindsucht und wurde
von Täg zuTag weniger, bis er sowieso nicht mehr wahrzunehmen war.) Vielleicht
lrlieb die Geschichte dann doch nicht ganz so ätherisch. Es gab da den kleinen
Antonio, der auf Esterhäz das Licht der künstlichen Welt erblickte und dessen
Nachwuchs Haydn später >Opa< nannte, was natürlich gar nichts besagen muß.
Als das Paar l79l nach zwölf Jahren gemeinsamen Musizierens auseinanderging
(riler die Polzelli allein auseinanderging, denn sie war keine neunzehn mehr wie
zu Anfang der fruchtbaren Beziehung), da war der Haydn Sepp wieder allein und
rloch recht zufrieden. Er legte mittlerweile mehr Wert auf gutes Essen als auf Sex
nrit alten Einunddreißigjährigen. Sein Revoluzzerherz schlug nach wie vor laut
rund vernehmlich; jedoch achtete er darauf, daß der Fürst es nicht pochen hörte.
l)arum schrieb er lieber Briefe an seinen Herm, selbstbewußt, mannhaft und auf-
lccht, wie etwa: >>Durchleuchtig Hochgebohmer Reichsfürst. Gnädigst Hochge-
hiettender Herr Herr! Blahbtah...blah...blahblahblah .... Der mich zu ferneren
hochfürstlichen hulden und gnaden unterthänigst gehorsamst reccommendire und
rrrit aller Submissesten Respect ersterbe. Euer Hochfürstlichen Durchlaucht
urrterthänigst gehorsamster Josephus Haydn..< Dem hatte er es aber gezeigt, die-
scm hergelaufenen Fürsten! (Nebenbei bemerkt muß allein Haydns umfangreiche
Korrespondenz den unmittelbaren Auslöser für alle Rechtschreibreformen des 18.
.llhrhunderts dargestellt haben.) In der innersten Kammer seines Herzens fühlte
tlcr Kammermusikus schmerzlich, daß er mehr >Capell-diener< derm >Capell-mei-
sler< war, denn er durfte trotz seiner Erfolge und seiner ins Unheimliche wach-
senden Beliebtheit in der Außenwelt (d.h. Schnupftabakdosen von sämtlichen
Kiinigen Europas; er hatte inzwischen so viele davon, daß er sie nach einmaligem
I lineinschnupfen wegwarf) nicht das Esterhaß-Wolkenkuckucksheim in Ungem
vcrlassen. Die einzige Genugtuung bestand in dem Wissen, daß seinem Brüder-
clrcn Michael immer noch die kirchliche Gunst nachschlich, und zwar auf sehr
pcnetrante Weise: Der Arme mußte bis zu seinem unseligen Ende Kapellmeister
boim Bischof von Salzburg bleiben, der 1. keinen Sinn ftir Musik und 2. noch
wcniger Sinn für Gehaltserhöhungen besaß. Joseph beschloß, als Zeichen seiner
cigenen tief-katholischen Frömmigkeit den Freimaurern beizutreten, denn dort
wirren Frauen nicht zugelassen, und es gab Logenplätze auch für Unterprivile-
gicrte wie ihn.
Ausgerechnet eine Frau war es dann, die ihm sein Eingesperrtsein so unerträg-
lich machte, daß er beinahe gekündigt hätte. Sie hieß Marianne von Genzinger,
witr die Gattin des Leibarztes von Fürst Nikolaus und hatte nur einen großen Feh-
lcr': Sie lebte in Wien. Im Gegensatz zur Affäre Polzelli spielte sich ihrer beider

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Beziehung (der Gatte wurde wieder mal übersehen, aber Haydn ließ ihn immer
herzlich grüßen) auf rein spirituell-ästhetischer Ebene ab, wie man aus dem Brief-
wechsel ersehen kann. Haydn schreibt nie über Sex, auch nicht verbrämt; statt
dessen ergeht er sich in feinsinnigen Betrachtungen über Rinderbraten, Ragout
mit kleinen Knöderln, böhmischen Fasan, delicate Pomeranzen, Cioccolate mit
Sahne, Gefrornes mit Vanille oder Ananas, Parmesankäse. Das Musische schlug
halt stets durch bei ihm, besonders da er auf Esterhi{z von seiner Gattin bekocht
wurde, die ihn am liebsten mit schwarzen Nudeln verwöhnte (weiß der Himmel,
wie die Gute das angestellt hat). Nach eigener Aussage konnte Haydn durch die
eheliche Verköstigung binnen drei Tagen um zwanzig Pfund >mägerer< werden,
und das nicht einmal wäihrend der offrziellen Fastenzeit.
Diese künstlerische Identitätskrise also bewog ihn um ein Haar dazu, seinen
Job als Oberkunstmensch in Oberkunsthausen hinzuschmeißen. Es lagen so viele
Einladungen aus dem Ausland vor von unzähligen Verehrern und -innen seines
Schaffens, die bestimmt alle wunderbar kochen konnten. Haydn fählte den Ruf
der Ferne, hörte das Jammem seiner eingesperrten Seele und das Kriurren seines
darbenden Magens und wußte plötzlich, daß er der gastlichen Stätte musikalisch-
schöpferisch nunmehr vollends entwachsen war. Er spielte emsthaft mit dem
Gedanken, die Koffer zu packen, als Fürst Nikolaus der Prachtliebende freundli-
cherweise den ersten Schritt tat und verblich. Dessen Sohnemann Anton hatte kein
Interesse für Gedudel und entließ die meisten Musiker; den Haydn behielt er pro
forma, weil der irgendwie ein Relikt aus Kindertagen darstellte, welches schon
immer livriert in Esterhäz herumgestanden hatte und Musik machte, wenn man
auf den obersten Knopf drückte. Aber Papas altes Lieblingsspielzeug durfte rei-
sen, wohin es wollte, Hauptsache, es schickte ab und zu eine Ansichtskarte. Das
ließ Haydn sich nicht zweimal sagen. Fluchtartig düste er ab - ausgerechnet nach
England. Unter den unzähligen Freunden seiner Kunst mußte sich mindestens ein
Intimfeind befunden haben, der ihm von der guten englischen Küche berichtet
hatte ...
Nach seiner inhaltsschwangeren Ankunft zu Engeland am Neujahrstage I79I
begann Haydn prompt ein ganz neues Leben. Das schlägt sich wiederum in seiner
Post nieder: Bereits nach einer Woche fern von Esterhäz mag er plötzlich keine
Fürsten mehr küssen, zumindest nicht unterhalb der Gürtellinie (also Füße oder
Röckchen). Er suhlt sich in der mordsmäßigen Verehrung, die ihm die Engländer
entgegenbringen und die einen beinahe glauben macht, sie verwechselten ihn mit
dem toten Händel. Der Prinz von Wales läßt ihn persönlich auf Händen tragen und
betet ihn an. Beim Prinzen kriegt er sogar manierliches Essen aufgetischt. Er wird
herumgereicht wie ein Wanderpokal. An jeder Ecke, in jedem Heim und Konzert-
saal spielt man haydnische Musik, bis sie sogar Haydn manchmal zu den Ohren
herauskommt. Die musikliebende Menge verfällt in Raserei, sobald sie seiner

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ünsiichtig oder anhörig wird. Die anderen Massen rasen einfach mit, weil's Spaß
ntucht. Kleine und große Mädchen und sogar große Jungs binden sich Schleifchen
mit Haydns Namen ins Haar. Die alten Knaben in Oxford dräcken ihm einen
Ehrendoktortitel aufs Auge und wollen nicht auftrören, mit ihm zu feiem. Haydn
lindet das toll, ist nur ein bißchen knatschig, als er den Professoren Freibier bzw.
Frei-Ale ausgeben muß. Die Fürsten gehen entweder bei ihm ein und aus oder
rlrticken ihm ihre Klinke ftirmlich in die Hand. Jeder wünscht sich eine Locke sei-
nes verehrungswürdigen Haares oder wenigstens einen Reliefabdruck seiner
;rrachtvollen Blatternarben. Er behält wohlweislich beides, Haare und Narben,
denn die sind sein wahres Kapital (1796 beantragt er in Wien folgenden Kredit:
,rlch nehme mir die freyheit gehorsamst zu bitten, mir auf mein blattermasigtes
Cesicht 100 Gulden in Bankopapier zu leihen<<). Als nun Haydn erkennt, daß man
sogar diejenigen seiner Teile anbetet, die ihm früher eher zum Spott gereichten,
kommt ihm die Erleuchtung. Er selbst, Haydn, ist keine Kreatur mehr - er ist ein
Gott geworden.
In diesem neuen Bewußtsein seiner göttlichen Größe springt er von nun an auch
mit dem ihm hinterherlaufenden Hochadel um: >>Ich bin mit Kaisem, Königen und
vielen großen Herren umgegangen und habe manches Schmeichelhafte von ihnen
gehört; aber auf einem vertraulichen Fuss will ich mit solchen Personen nicht
leben ...< Schließlich hat er doch sich selbst als besten Umgang. Haydn ist nicht
nur umgänglich, sondem mittlerweile geradezu unumgänglicft. Schon nach neun-
zehn Monaten fährt er >heim<, aber nur, um kurz beim Esterhäzy vorbeizusehen,
ihm diverse Ratschläge für seine Regentschaft zu erteilen und schnurstracks nach
England zurückzukehren. Plötzlich gibt es einen neuen Esterhäzy, der nicht nur
Nikolaus heißt, sondem seinem Großpapa alle Ehre zu machen droht: Auch er ist
ein großer Musikliebhaber und möchte den Heiden wiederhaben. Na gut, denkt
sich der Haydn, jetzt, wo ich als Gott der Musik das Sagen habe, kann ich ihm ja
tlie Gunst meiner Kunst erweisen - und weil er sich in England Tag und Nacht vor
adeligen Lockenräubern schützen muß, kommt er ganz gern wieder nach Ungern.
Atsch - reingefallen.In Österreich ist er kein Oxford-Doktor mehr, nur noch ein
Musikus in ungarischen Diensten. Sein neuer Chef, ein Bürschchen noch, hat bloß
lnteresse an uralter Kirchenmusik (igitt!), ist obendrein ein Knauser und, schlim-
rner, ein glühender Fan von Haydn-Bruder Michael, der immer noch einsam und
unkastriert in seinem Dom sitzt und für Gotteslob komponiert, dieser Dussel.
Nikolaus Zwei will Haydn wiederhaben, weil jeder Haydn haben will, er selbst
irber das ererbte Vorzugsrecht genießt. Haydnische Musik kann er nicht ausstehen.
Andererseits erweist sich die Mißachtung von Haydns Musikschaffen als
Segen, denn nun hat der GottZeit genug, in Ruhe seine Schöpfung zu schöpfen,
tlie er schon in England fest ins Auge gefaßt hatte und deren Tantiemen er bereits
cbenso fest in seine Taschengeldberechnung einbezieht. Da setzt er sich also hin,

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der neue Ubermensch, und zückt den Gänsekiel (den Hesekiel und überhaupt die
Bibel braucht er nicht für das kühne, große Unterfangen). Berge von Notenpapier
liegen bereit, vom Meister vollgemacht zu werden. So eine Schöpfung dauert
lange, wenn man sich nicht mit Schlamperei begnügen will wie jener Andere. Der
Heide weiß, daß er eine Haydnarbeit vor sich hat, doch das schreckt ihn nicht. Er
kann sogar bei der Erschaffung singen wie einst als Domesknäblein - nun weiß
er: diese Schöpfung wird ein Oratorium! (So etwas ist in England ohnehin viel
beliebter. Schon Händel, den er niemals kopieren würde, hatte damit einen Mords-
erfolg.) Während er seine Noten zu Papier bringt, fein säuberlich und sogar leser-
lich, rekapituliert er den langen, dornenvollen Weg, der ihn letztendlich zum
Olymp der Heidengötter führte. Wie man weiß, zieht vor dem geistigen Auge von
Ertrinkenden, Fallschirmspringern und Größenwahnsinnigen immer wieder ihr
Leben vorbei, in Technicolor und Stereo. So auch beim Haydn. Die scheinbar bib-
lischen Elemente seines Werkes sind die Etappen seines eigenen Werdegangs.
Engel Luzifer mit der schönen Stimme, den man aus der Kirche wirft o die Zeit
als Mitesser bei der Krippenfamilie - diverse Krumme Teufel - das Paradies, in
dem man zuerst die Nebel verjagen und die Wasser teilen muß -Adam und Eva -
Adam allein - Adam in insula angelorum, im Land der Engel, die endlich ihren
rechtmäßigen Führer preisen und anbeten. Eine kurze, doch eindrucksvolle
Geschichte mit vielen Nöten, in vielen Noten, wunderbar zu singen. Beim Auf-
schreiben seiner Autobiographie läßt Joseph des öfteren einen Seufzer, später
jedoch manchen Triller fahren, denn er singt die gesamte Schöpfung mit, versteht
sich. Seine Feder huscht immer beschwingter über das Notenpapier, je mehr er
sich der Apotheose nähert, der Gottwerdung des Heiden-Menschen. Als das Werk
fast vollbracht ist, hört des Haydn Diener seinen Herm ganz seltsame Laute aus-
stoßen - ein Hecheln und Keuchen und Röcheln, welches nicht von dieser Welt
stammt oder zumindest von keinem vemünftigen Komponisten. Er lugt durch eine
Spalte in der Tür: Da schwebt der Heiden-Joseph über seinem Schreibpult, gött-
lich verklärl, ganz durchsichtig wie ein Astral-Leib oder eine Tiefseequalle! Die
Augen sind nicht himmelwärts verdreht, sondem nach innen, wie sich's in diesem
Fall gehörfi den Federkiel hat der Heide fahren lassen nach dem letzten Strich
übers Papier. Er ist entrtickt und kehrt so bald nicht wieder.
Es versteht sich von selbst, daß ein solches Werk die übrige popelige, nicht-
göttliche Menschheit vom Hocker bzw vom Thron reißt. Zwar weiß niemand
Bescheid über die recht unkatholische, unchristliche Erschaffung der Schöpfung,
doch das stört den Haydn nicht, bezieht sich doch allebezeigte Verehrung auf den
Hohepriester des musikalischenWerkes, nicht auf den Anderen, der vorher schon
den unwesentlichen Rest übemommen hatte. Doch jener Nebenbuhler vom
Christlichen Verein scheint ein recht eifersüchtiger Gott zu sein, der keine Haydn
neben sich dulden will. Den Ruhm für seine Schöpfung kann der Joseph noch voll

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rubkassieren, doch dann ist's langsam aus: Mit dem nächsten Oratorium, nach dem
u.a. das Hotel und diePizza Vier Jahreszeiten benannt sind, verausgabt sich der
neue Gott der Musik so fürchterlich, daß er fast über Nacht zum greinenden Tat-
lergreise wird. Ein Jahrzehnt lang quält er sich dahin, umsonst - alle Schaffens-
kraft ist endgültig versiegt. Das schmeckt nicht nur nach Gottes Rache, das ist sie,
klar und deutlich. Wenn nun noch Besucher kommen, setzt man Papa Haydn in
sein Stühlchen, geschniegelt wie Mamas Liebling, geteert, gefedert und gepudert,
inmitten seiner Tabakdosensammlung. Alle sind gerührt, wie gerührt der Alte
immer ist. Er weint, wenn man >seinen Mozart< erwähnt, er heult, wenn er seinen
l,ieblingspudding vorgesetzt bekommt, er vergießt heiße Tränen, wenn er ihn
rricht bekommt. Ganz besonders schmerzt es ihn, daß er für eines seiner letzten
brauchbaren Liedchen, >Gott erhalte Franz den Kaiser<, von Beckenbauers Hof-
staat keinen Orden erhalten hat.
Der alte Heide blieb bis zum Ende unverbesserlich. Als kurz vor seinem Tode
clie Franzosen Wien einnahmen und auch sein Häuschen beschossen, daß es bebte,
lröstete er die Dienstboten mit den wahrhaft erhabenen Worten: >>Kinder, fürchtet
cuch nicht, wo Haydn ist, kann euch kein Unglück treffen.< Es irritierte ihn etwas,
claß dies die Dienerschaft nicht augenblicklich beruhigte. Bevor er den Federkiel
ganz abgab, wollte er noch ein Oratorium schreiben, in dem er mit dem anderen
(iott schwer in >Das Jüngste Gericht< zu gehen plante. Daraus wurde nichts mehr.
Er starb dann inmitten so vieler Kriegswirren, daß man ihn zeitweilig, also ein
paar Jahrzehnte, völlig vergaß, javerschwitzfe. Seine Beerdigung war nicht Erster
Klasse mit IC-Zuschlag, wie er es ausdrticklich bestimmt hatte; außerdem kam
kein Schwein, zumindest kein Komponist oder Kapellmeister. Das Tollste war die
Sache mit dem Schädel. Nikolaus Zweihatte erst Lust, Haydn zu überführen, als
ihm jemand schmeichelte, er habe den Meister lebend besessen und nun auch
noch die Reste. Da erst f,rel dem Fürsten ein, was er in der Eile in Wien liegenge-
ltssen hatte. Als man Haydn ausbuddelte, fehlte der Kopf - nur die Perücke war
da, sauber gepudert. Es stimmt schon, daß Haydn immer seinen eigenen Kopf
hatte in solchen Dingen, aber seit 1954 trägt er ihn wieder unterm Arm, wo er hin-
gehört.
Zuletzt pflegte Haydn eine komponierte Visitenkarte benutzen, molto ada-
^r
ist alle meine Kraft/Alt und schwach bin ich.< Nicht
,gio, mit dem Lamento >Hin
rrur Fans der Minimalkunst halten dieses Dutzend Noten für Haydns größtes
Werk.

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Ungedopt sollst du nicht spielen geh'n
Mozart, Wolfgang Amadeus (1 75 6-17 9I)

Es gibt mit Sicherheit keinen einzigen anderen Musikus in der westlichen Hemi-
sphäre, der Zweiten und Dritten Welt und sogar im Ostblock, der sich solch kolos-
sal verspäteter, doch dafür um so herzlicherer Zuneigung erfreuen darfwie oben-
genannter Johannes Chrisostomus Wolfgang Gottlieb, den wir als seine künftigen
Intimfreunde kurz Wolfgang nennen wollen. >Amadeus< nannte er sich selbst,
wenn überhaupt, nur zum Zwecke der Verulkung seines Namens, so wie er in
Briefen auch gern mit >Ritter von Sauschwanz< unterschrieb - doch was kann uns
femer liegen, als dieses unbestreitbar größte aller menschlichen Genies (sofern er
denn ein Mensch war) oder auch nur seinen hehren Namen zu verspqtten! Das
steht uns hundsgemeinen Sterblichen wahrlich nicht an. So sei eines vorangestellt:
Die allseits bekannte und verehrte wunderschöne lkone, welche die verklärten,
himmelwärts strebenden Züge des ewig jungen Meisters wiedergibt, soll auch hier
keiner Befleckung, keiner Beschmierung durch böse Narrenhände ausgesetztwer-
den: Da sei Gott vor, und zwar höchstpersönlich! Obgleich wir es im folgenden
wagen, einigen Ungereimtheiten in Leben und Werk Mozarts recht nachdrücklich
auf den Zahnz:u fühlen, gleichsam den Schleier des Großen Geheimnisses zu lup-
fen, welches Wolfgang in höchster Vollendung, Asthetik usw. verkörpert, halten
wir dabei doch immer devot den Kopf gesenkt und fallen auch ein paarmal auf die
Knie, wenn die Pietät es erfordert. Im Endeffekt nämlich, quasi als Dank für die
einmaligen Offenbarungen, die uns gewährt sein mögen, wird Wolfgangs Bildnis
durch unsere hinterfragenden Bemühungen womöglich noch heller erstrahlen als
jetzt, auch wenn dies kaum faßbar erscheint. Wo profane Neugier obwaltet, ent-
stehen nur ekle Gerüchte; doch uns, die wir uns dem Helden als schlichte Pilger
nähem, wird es im Gegenteil gelingen, einige Flecken zu tilgen, die böse Forscher
und sonstige Neider ihm auf die Weste kleckerten bzw. darunterjubelten, ohne
sich ein Gewissen aus ihrem fürchterlichen Sakrileg zu machen! Das Heiligenbild
Mozarts wird von uns mit Stahlwolle so blankgeputzt werden, daß darunter zwar
ein anderes, aber gleichzeitig ein viel schöneres zum Vorschein kommen muß.
Also frisch ans Werk.
Daß das Phänomen Mozart überirdischen, ja himmlischen Gefilden entstammt,
demnach nicht von dieser Welt ist, muß eigentlich nicht erst bewiesen werden;
und doch existieren in dieser Hinsicht noch immer Skeptiker, die - gegen alle Ver-
nunft - auf Wolfgangs ordindres Menschsein verweisen, gar daratf beharren.Yer-
trauen wir ruhig auf Theologen wie Karl Barth, der vermutet, daß die Englein

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Mozart spielen, wenn sie unter sich sind, und daß ihnen der liebe Gott dann beson-
ders gern zuhört. Oder auf Joseph Krips, der einräumt, daß auch andere Musiker
den Himmel kurzfristig erreichen - >>Mozart aber, der kommt von dort!<< Albert
Einstein hat mathematisch bewiesen, daß Wolfgang >nur ein Gast auf dieser Erde<
gewesen ist. Der Philosoph Kierkegaard plante das einzig Folgerichtige, nämlich
die Gründung einer Sekte, die ausschließlich Mozan verehren sollte. Angesichts
dieser überwältigenden Beweise für des Meisters transzendentale Natur könnten
wir eigentlich nur schweigen; doch wäre es eher angebracht, die Zweifler zur Rai-
$on zu bringen, d.h. zum alleinseligmachenden Glauben zu bekehren. Mozart
wandelte hienieden als Mensch, soviel darf man einräumen; er genoß jedoch
regelmäßigen Kontakt zum Himmelreich und befand sich mindestens so oft dort
droben wie hier unten. Und doch war er kein Gott im Sinne etwa Gustav Mahlers,
kein alttestamentarischer Herrscher, der anderen seinen Willen oder ihr Glück auf-
zwingen wollte. Mozart ward zu Fleisch und Blut, um uns Mtihsalbeladenen Freu-
den zu spenden und Erlösung zu bringen: ein Heiland eben, nicht mehr, nicht
weniger. Solange er Mensch war, durften wir auf ihm herumtrampeln, daß es
krachte, denn das war seine Bestimmung, während er unsere Luft atmete und auch
sonst einiges mit uns teilte. Aus dem Zwiespalt seiner Gott-Mensch-Existenz
resultiert der Zwiespalt imVerständnis der von ihm erschaffenen Musik: Während
die einen, die Erleuchteten, den ätherischen, jenseitigen Charakter seines Werks
intuitiv erkennen, gibt es andere, die seine schier unerschöpflichen Ergüsse als
ultra-seichtes, langweiliges Fließbandgedudel empfinden, bei welchem dem
geplagten Hörer nur eines übrigblelbt: ganz schnell einschlafenl Ist dies aber ein
Widerspruch bei näherer Betrachtung? Mitnichten. Mozarts Musik soll den Lei-
denden zum Trost gereichen, und tatsächlich spendet sie sogar den Ungläubigen
solchen, ob sie wollen oder nicht. Moribunde Patienten sterben nachweislich
schneller und vergnügter bei Mozartscher Musik, wobei man allerdings nicht
nachweisen kann, ob sie nur hurtig dem Dideldumdei entfliehen möchten (nicht
bedenkend, daß die Fortsetzung sie im Jenseits bereits erwartet). Depressive
Zwangsjackenträger kann man mit Mozart ganz ohne Chemie in völlige Starre
verfallen lassen, was für die behandelnden Arzte erheblich kostengünstiger aus-
tällt. Die Frauenklinik im schwedischen Halmstad spielt im Kreißsaal ausschließ-
lich das Klavierkonzert KV. 467,um die Mütter zu entspannen und den Noch-
nicht-Geborenen jede Möglichkeit zu nehmen, sich die Sache noch einmal zu
überlegen. In Fahrsttihlen und Supermärkten hält Mozart die Benutzerfl(unden
davon ab, sich an Ort und Stelle zu übergeben. Außerdem geben Mozart-beriesel-
te Kühe fröhlichere Milch und fühlen sich beinahe wie freilaufende.
Wir sind uns mithin einig und im klaren, was die Doppelnatur Mozarts angeht.
Um die Skeptiker zu überzeugen, scheint es aber angebracht, die Entstehung dre-
ses Wesens genauestens zu beleuchten - denn wie heißt es im Volksmund so tref-

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fend: Von nichts kommt nichts, nicht einmal ein Heiland. Gewisse (meta-)physi-
sche Gesetzmäßigkeiten birgt auch die Genese eines Himmelskörpers in sich, wie
Mozaft einen besaß. [n seinem Fall wirken sie zunächst sogar eigenartigprofan ...
Da Mozart im zarten Knabenalter von fünfunddreißig Jahren verstarb, kommen
wir Heutigen, Langlebigen, leicht auf die ldee, ihn als >allzu Frühvollendeten< ein-
zustufen. Das ist so nicht richtig. Dreieinhalb Jahrzehnte galten damals schon als
ganz schön lange Z,eit, zumal für Komponisten, deren Lebensspanne sprichwört-
lich unterdurchschnittlich ist. Philosophen und sogar Düsenjägerpiloten weilen in
der Regel viel länger auf Erden, obwohl sie doch meistens in den Lüften schwe-
ben. Mozart überlebte immerhin fünf seiner sechs Geschwister und vier seiner
sechs eigenen Ableger, wobei von letzteren kaum jemand Notiz genommen hat,
doch das tat der Erzeuger, welcher, wo er ging und stand, menschenseelenretten-
de Musik komponierte, schließlich auch nur flüchtig. Um den ersten Knaben trau-
erte er aber noch zutiefst: >>Wegen den armen dicken fetten und lieben Büberl ist
uns beyden recht leid..< Zw Zeit des herzzeneißenden Ausspruchs wargn schon
Wochen ins Land gegangen. Insgesamt schafften es bloß zwei Leute, ihn so rich-
tig deutlich zu überleben, seine Schwester Nannerl und seine Gattin Constanze,
welche beide nur knapp die Achtziger-Hürde verfehlten; doch sind Frauen, wie
man weiß, von vornherein ganz anders konstruiert. Apropos >fetten und lieben
Büberl< - der Mozart Wolfgang entsprach nicht völlig dem großen feschen
Manns-Bild, das uns Filme wie Amadeus vorgaukeln wollen, maß er doch nicht
mehr als 1,50 m; außerdem erreichte er nach der Pubertät, welche bei ihm nur kör-
perlich einsetzte, jene kugelige Leibesfülle, die etwas später gewisse Schokola-
denkreationen nachhaltig beeinflussen sollte. Doch abgesehen davon, daß man als
kleiner Dicker oft leichter durchs Leben kugelt, haben noch ganz andere, eindeu-
tig transzendentale Einflüsse seiner Langlebigkeit Vorschub geleistet - zvm
Schluß gar gegen seinen Willen.
Wir, die wir seine grausam frühen Wanderjatne kennen, diese strapaziösen
Odysseen in des Vatersfimpresarios unerbittlichem Schlepptau, die unzähligen
Kutschfahrten, die erbärmlichen Gasthöfe, die hyänischen sanilären Bedingun-
gen, die Plumpsklos, die dem Wort >Durchfall< damals noch eine andere, ganz-
heitliche Bedeutung verliehen, die wanzengefüllten Strohmatratzen, die ständige
Begleitung der doofen Schwester - wir haben uns gewiß schon oft gefragt, wie der
winzige Knabe das überhaupt hat lebend überstehen können. Nun, erstens war er
ein Wunderkind, sogar das Wunderkind schlechthin, mehr noch im harten Uber-
lebenstraining als in der Kleinknabenklimperei. Daß die Schwester angesichts
derselben Strapazen nicht den Geist aufgab, versteht sicft sie war etwas älter und
- halt nur ein Mädchen, dessen Klagen und vielleicht Sterben niemandem ernst-
lich aufgefallen wäre, weshalb sie es vernünftigerweise auch bleiben ließ. Wir fra-
gen uns also, wie hat der Junge das verkrafteq und dabei kennen die meisten nicht

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einmal sein größtes Handicap, welches bereits seit seiner Geburt nachhaltig gegen
sein Weiterleben auf Erden sprach. Vater kopold berichtet, daß man der Mutter
schweren Herzens dre Nachgeburt hat wegnehmen müssen, an der sie scheinbar
ebenso hing wie an Chrisostomus selbst; folglich konnte man sich nur mühsam
cntscheiden, welches von beiden Erzeugnissen a) hübscher aussah und b) mehr
Chancen im bevorstehenden Lebenskampf haben würde ...
All diese Umstände bilden nicht gerade die ideale Grundlage für eine pumperl-
gesunde, rotwangig-pausbäckige Knabenkindheit, die Wolfgang folglich auch
nicht genoß. Er war sehr oft schwer krank, was uns kaum zu verwundern vermag;
was uns irritiert, ist viel eher die Tatsache, daß er trotz der zahlreichen Leiden, ja
sogar Seuchen, in die er hineinschlitterte, alldieweil er sich bei soviel ungesundem
Königspack herumtrieb und ansteckte, niemals verblich. Neben unwichtigen
Unpäßlichkeiten wie Dauer-Katarrh, Gelenkschmerzen, schwerer Angina und
allerlei Kleinzeug fing er sich immerhin die Pocken, Blattern, Scharlach und einen
ausgewachsenen Bauchtyphus ein, was wahrscheinlich auch ein reisegestreßtes,
ungeimpftes neunjähriges Kind von heute nicht völlig unbeeindruckt lassen
würde. Wolferl kam augenscheinlich extrem gut zurecht mit den Bakterien und
Bazillen, selbst wenn er manchesmal auf allen Vren krauchte. Doch dieser beinah
spielerisch zu nennende Umgang mit den Viecherln täuscht den ahnungslosen
Leser medizinischer Berichte. Es ist wohl wahr, daß Wolfgang schnell wieder auf
den Beinchen war, wdhrend sein Schwesterlein ums Haar an dieser Typhusge-
schichte krepiert wäre. Jedoch liegt das in den äußerst speziellen Mitteln begrün-
det, welche Vater Leopold in derartigen Situationen dem Sohnemann zu verabrei-
chen pflegte, derweil das Nannerl mit dem bißchen Ol auszukommen hatte, das
der Pfarrer des öfteren mitbrachte, um ihr ordnungsgemäß den letzten Rest zu
geben. Immer kriegte sie bloß eine geschmiert von dem frommen Mann, und es
war nicht mal gute Butter.
An dieser Stelle müssen wir uns der ungeschminktenWahrheit stellen, daß Leo-
pold Mozart seinem Sohne regelmäßig und in stetig anwachsenden Dosen
Dopingmittel zuführte. Nach dem anf?inglichen Schock, den uns diese Offenba-
rung versetzt, ist unser erster Gedanke: >>Ha! ausbeuterischer Lumpenhund! Der
ging sowieso über Leichen. Dem war alles zuzutrauen!<< Jedoch wdre eine solche
Einstellung dem Manne gegenüber, den die Geschichtsschreibung längst mit dem
Etikett >jugendmißbrauchend< versehen hat, in höchstem Maße ungerecht. Leo-
pold plante zeitlebens das Beste für seine Kinder und nur das Allerbeste für Wolf-
gang. Anders als etwa Beethovens Erzeuger wollte er nicht bloß mit dem Filius
strunzen. Er war sich der von Geburt an zarten Konstitution Wolferls bewußt und
heabsichtigte, nicht nur das nackte kben desselben, sondern die für die geknech-
tete Menschheit so eminent wichtige Musik zu bewahren, so lange es eben ging.
Der heilige Zweck findet immer die passenden Mittel; viel Geld verdiente der

5l
fromme Vater eh nicht mit seinen Kinderlein, die er oft fast zum Selbstkostenpreis
verschleudern mußte. Denken wir hierbei nur an dte Z,eit im schönen London,
genauer gesagt in einem Gasthof in der Brewer Street, wo die beiden Kleinen,
neun bzw. dreizehn Jahre alt, täglich von zwölf bis drei Uhr auf Kommando vier-
händig zu klimpem hatten, was wie folgt vonstatten ging: Leopold stand als
Schaffner am Cembalo, und sobald ein Gast eine Münze in den Schlitz in seinem
Jäckchen steckte, fingen die Blagen an zu spielen. Wieviel Minuten doppelten
Mozart man damals für einen Penny bekam, ist leider nicht bekannt. Nein, das
große Geld ließ sich mit den kleinen Weltwundern wahrlich nicht verdienen, trotz
aller Strapazen; und so gestehen wir es ruhig ein: Leopold untemahm die Kon-
zertreisen aus Gott-, nicht Selbstgefälligkeit, und er plagte seine Kinderlein nicht
um des schnöden Mammons noch der eitlen Ehren willen. Er war - sagen wir's
gradheraus: ein Heiliger wie Mütterlein Teresa.
Unter diesem Aspekt >Alles zur Ehre Gottes< müssen wir auch die Doping-Ver-
stöße des liebenden Vaters betrachten. Wir heutigen Menschen, Sportler allesamt
zumindest vor dem Fernsehschirm, leben in tiefem Zwiespalt angesichtS dieses für
unmoralisch, gar kriminell erklärten Phänomens. Doch abgesehen davon, daß die
Einnahme von Aufputschmitteln zum Zwecke der konstanten Höchstleistung bei
Musikern absolut nicht verpönt, sondern (wortwörtlich) zum guten Ton gehörig
erscheint, blieb Leopold Mozart praktisch keine Wahl, wenn er die kränkliche
Beinahe-Nachgeburt Wolfgang zur Erbauung seiner Umwelt auf Trab bringen
wollte. Bei Nannerl brauchte er keine künstlichen Hilfsmittel, auch nicht auf dem
Krankenbett; Nannerl als weibliches Wesen konnte sich selbst helfen, und wenn
nicht, stand das allein in Gottes ungründlichem Ratschluß. Außerdem erbaute sie
die Leute mit ihrem Spiel nicht mehl so, wie es ein Neunjähriger zu tun imstande
war, andererseits noch nicht so, wie es eine hübsche Fünfzehnjährige zu tun ver-
mochte. Wolfgang galt es in Schuß zu halten, koste es was es wolle, und Leopold
nahm dies durchaus wörtlich. Was genau verabreichte er ihm aber auf dem Sie-
chenlager, das der Junge sonst mit Sicherheit kaum mehr verlassen hätte? Die For-
schung weiß von der exzellent bestückten Haus- und Reiseapotheke zu berichten,
welche derVater unter keinen Umständen mitzunehmen vergaß - während er recht
bereitwillig Nannerl und seine Gattin in einer blattemverseuchten Gaststube
zurückließ und mit Wolfgang unterm Arm von ebendort flüchtete. Die Weiber ver-
standen es schließlich, sich überall durchzubeißen.
Die Medizin von heute weiß, was Leopold dem Sohne gab; doch kann sie mit
diesem Wissen ganz offenbar nicht das geringste anfangen. Wir hingegen sehen
uns bald in der Lage, a) eine Hauptspielart des Mozartschen Dopings zu definie-
ren und b) eine furchtbare, Wolfgang aufs entsetzlichste diskriminierende Lüge
endgültig aus derWelt zu schaffen, wo sie hingehört. Wichtig ist hierbei, daß Leo-
pold alle Medizin mit Vorliebe in Form des Suppositoriums, auch Zäpfchen

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genannt, anwandte. Das bedeutet, er schob Sohnemann jegliche Tinktur, Paste,
Pille, Kugel usw. genau an jenen Ort, wo niemals die Sonne scheint. Zwei sol-
chermaßen zerstoßene und angerührte Pulver pflegte der Vater anzuwenden, Mix-
turen, deren Ingredienzen der Wissenschaft durchaus bekannt sind. Das eine nann-
te sich Markgrafenpulver und setzte sich zusiunmen aus: Eichenmistel, Pfingstro-
senwurzel, geraspeltem Elfenbein, Froschherzen, Regenwürmem und Blattgold
(wobei wir im nachhinein froh für den armen Wolfgang sein müssen, daß das Gute
in diesem Fall nicht von oben, sondem von hinten kam). Aber das andere Mittel
... Der Vater steckte auch dies dem Kleinen wir-wissen-schon-wohin und benutz-
te zudem Schwefelhölzchen ... Ich getraue mich kaum, es auszusprechen - es war
... Schwarzpulver! Ietzt ist es heraus, das grause Wort. Unter Todesverachtung
deponierte Vater Leopold regelm?ißig eine Ladung Schwarzpulver in Wolfgangs
Allerwertestem, zündete das Zeug an und puff! schoß der Junge ab wie eine Rake-
te. Es hätte doch wahrlich gereicht, dem Knaben Feuer unterm Hintern zu
machen, anstatt mittendrin in seinem zarten Podex. Nimmt es uns da noch wun-
der, daß das Wunderkind augenblicklich sein Genie nur so versprühte, wie eine
menschliche Leuchtkugel oder ein veritables Bengalisches Feuer? Eine solche
Behandlung kriegt auch den Siechsten wieder auf die Beine, das versteht sich von
selbst. Doch Leopold war nicht gar so kurzsichtig, wie wir vielleicht denken
mögen. Ihn störte eine - leider unvermeidbare - Nebenerscheinung. Gemeint sind
nicht die Knaller, Kracher und Böllerschüsse, denn die stellten natürliche Begleit-
umstände der Prozedur dar und waren kaum lauter als die Folgen eines Erbsen-
suppen-Einlaufs. Nein, weit schlimmer: Leopold war sich der Tatsache bewußt,
daß eine solche Rakete aus Fleisch und Blut, eine Sternschnuppe am Himmel des
Kunstschaffens, in ihrem Zeritzwat für kurze Zeit schier unerträgliche Helligkeit
an die freudlose, unterbelichtete Menschheit verstrahlt, doch dann als umso leere-
re und ausgebranntere Hülle wieder auf der Erde landet. Die Dosis mußte jedes-
mal um ein Vielfaches erhöht werden, um denselben Effekt zu erzielen wie das
Mal zuvor. Ewig konnte das natärlich nicht weitergehen - ohne im Detail schwel-
gen zu wollen, muß man konstatieren, daß beispielsweise habituelle Kokain-
schnupfer nach kurzer Znit um eine neue, goldene Nasenscheidewand sich zu
bemühen gezwungen sind. (Hier half auch das Blattgold aus dem Markgrafenpul-
ver nicht viel.) Es galt nun abzuwägen, was wichtiger war: Sollte man Wolfgang
als Untätigen so lange wie möglich am Leben erhalten oder lieber das Genie stän-
dig unter Höchstspannung setzen, bis es, noch jung an Jahren, tot zusammen-
brach? Leopolds Entscheidungzeriß ihm fast das Herz - aber durfte er sich dem
Höheren Willen widersetzen, der aus Wolferl ein gottverdammtes Genie gemacht
hatte ohne den dazu passenden perfekten Kö.p"t, jenem Willen, dem alles Mittel-
mal3 zutiefst zuwider sein mußte? Und Leopold ging hin und opferte sich auf.
Die regelmäßige Verabreichung obengenannter >Medikamente< durch den
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Anal- und Darmtrakt des Patienten, eine konventionelle, durchaus ehrenhafte und
keinesfalls geruchlose Methode, hat zu unserem tiefsten Leidwesen den armen
Dulder unverschuldet in übelsten Mißkredit gebracht. Wie jeder weiß, glauben
Psychologen und andere Quacksalber Mozart eindeutigst der sogenannten
Koprolalie bzw. Skatologie überführt zu haben. Wir unschuldigen Hascherln, die
wir uns nie etwas Böses denken, wo nichts Böses ist (und meist nicht einmal dort),
wissen mit diesen Begriffen gar nichts anzufangen - ich fiir mein Teil kannte sie
vor meiner intimen Bekanntschaft mit dem Meister überhaupt nicht. Tatsächlich
meinen einige bekannt windige Herrschaften wie beispielsweise Stefan Zweig
oder Sigmund Freud, Wolfgang sei lebenslänglich von dem Zwang beherrscht
gewesen, Fäkalbegriffe niederzuschreiben, auszusprechen und womöglich gar -
auszuleben ... daß er sich erotisch mit nichts so leidenschaftlich befaßte wie mit
seiner besseren, also hinteren Hälfte. Im widerwärtigen Bestreben, diese im übri-
gen unhaltbare Deutung um jeden Preis durchzusetzen, nehmen die Scharlatane
zu den sogenannten Bäsle-Briefen Zuflucht sowie zu anderen scbriftlichen
>Beweisen<. Zugegeben, in acht der neun Briefe an das >Bäsle<, Tochtei von Leo-
polds Bruder und vermutlich erste Liebschaft des Meisters, spielt der Kleine aus-
giebig im Dreck - doch er zählt zu dieser Zeit doch erst zweiundzwaruigLenze,
ist mithin noch ein halber Säugling, mit irgendwelcher ausgeklügelter Erotik
sicher nicht vertraut. Abgesehen davon wurde im Hause Mozart die Fäkalsprache
von alters her als eine Art Brauchtum geradezu gepflegt (Papa Leopold und Mama
Anna Maria zeigten viel Fantasie und wenig Zurückhaltung in dieser Hinsicht),
was in dem Kindeneim künstlerischen Niederschlag fand, welcher bereits in den
Gassen rund um das Geburtshaus des Komponisten gesungen ward: >Bei Mozart,
bei Mozart / sind alle Leut' am Po zart!<
Uns obliegt es mithin (und zudem mit Vergnügen), den Meister von allen Vor-
würfen reinzuwaschen, besonders hinten, und ihm im triiben, trügerischen Lichte
obiger Anschuldigungen sozusagen den A...llerwertesten zu retten. Wir wissen,
welch unbefleckter Natur die Erleichterung war, die Mozart empfand, wenn sich
der Vater oder später andere Heilkundige an seinem Hinterteil zu schaffen mach-
ten. Wir kennen auch die seelisch-geistig erhebende Wirkung, welche aus der
scheinbar so abgrundtief profanen Behandlung resultierte: per qspera ad astra,
durch die ew'ge Nacht des Dickdarms zum Stemenlicht des genialischen Gehims!
Das war nicht nur eine absolut lautere Methode, sondern angewandte Philosophie.
Doch erwartet man von Leuten wie Freud vergeblich das angemessene Verständ-
nis für derlei transzendentale Vorgänge. Andererseits mißdeuteten nicht nur Freud
und Konsorten, sondern schon Mozarts Zeitgenossen wie etwa seine Verleger
Breitkopf und Härtel den porentief reinen Hintergrund gewisser Niederschriften
Wolfgangs. Seine Lob- und Preislieder auf die von kopold ersonnene wundersa-
me Stärkungs- und Genesungskur betitelte der junge Mann mit naivem, jugendli-

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chem Freimut, welchen die schmutzigen alten Männer prompt in den falschen
Hals kriegten. Durch ihre mißlungenen >Korrekturyersuche< erhielten einige in
sich hehre Musikwerke den Anstrich des Vemrcht-Schmutzigen. Beispielsweise
der Kanon >Leck mich im Arsch<, was eine denkbar einfache Aufforderung dar-
stellt und nicht etwa einen >fäkal-immanenten Imperativ< (Hildesheimer); er
wurde durch Breitkopfs Version >Laßt froh uns sein< zu einer zumindest zweideu-
tigen Angelegenheit. Schlimmer noch steht es mit einem anderen erhabenen Werk,
Köchel-Verzeichnis 382d aus dem Iahre 1782: Hier macht Härtel aus >Leck mir
den Arsch fein recht schön sauber< - mithin dem sublimen Ausdruck des profun-
den Strebens nach vollkommener Reinheit! - das peinliche Substitut >Nichts labt
mich mehr<<. Diese von Ignorantenhand vorgenommenen Verschlimmbesserungen
brachten den Meister automatisch in Vemrf, den wir an dieser Stelle gänzlich aus-
zuräumen die Ehre haben.
Doch ausgeräumt oder nicht - Mozarts rückwärtiger Bereich ist von einem
exakt zu datierenden Punkt seiner Kindheit an unglücklicherweise kaum noch von
Belang, was das Doping oder besser die künstliche Stimulation seines vegetativen
Systems zu künstlerischen Zwecken betrifft. Unter Verwendung von Schwarzpul-
ver hatte Leopold den zwölfjährigen Wolfgang schon unzählige Male vom Kran-
kenlager hochgejagt; vom Totenbett aber vermochten selbst er und eine Stange
Dynamit den Sohn nicht mehr aufzurütteln. Ganz recht, vom Totenbett: Was prak-
tisch niemand weiß, nicht einmal die Arz@, ist die grundlegende sowie erschüt-
ternde Tatsache, daß Wolfgang Mozart mit zwölf Jahren zum ersten Male das Zeit-
liche segnete. Moment mql, werden nun viele erstaunt ausrufen, was soll denn das
bedeuten? Erstens ist er anno 1791 gestorben und nicht vorher, schon gar nicht vor
Erschaffung seiner Opern; oder falls doch, was hanebüchener Quatsch wäre, was
zum Henker hieße dann >zum erstenmal<? Nun gut, schon damals gab es Lazaret-
te, und derlei Institutionen haben ihren Namen immerhin vom biblischen Lazarus,
der mir nichts, dir nichts von den Toten auferwecket ward. Zudem heißt es von
manchen Kranken, sie seien >plötzlich wiederhergestellt<. Daß dies nicht wütlich
aufzufassen sei, behauptenjetzt so manche - und sie haben völlig recht, im allge-
meinen wenigstens. Als Wolfgang mit zwölf Jahren starb, genoß er das Glück,
einen Vater zu besitzen, welcher sich durch a) überdurchschnittliche geistige Reg-
samkeit, b) Skrupellosigkeit zur Ehre Gottes und c) einen faszinierenden Bekann-
tenkreis hervortat. Innerhalb dieses Zirkels von Musikliebhabern, denen durchaus
einiges am Leben des Wunderkindes gelegen war, befand sich der allseits berühm-
te Dr. Franz Anton Mesmer - gefeiert und illuster weniger aufgrund seines Tees
denn wegen seiner Reputation als Magnetiseur und experimentierfreudiger Physi-
kus.
Was genau dieser Magnetmensch mit dem jungen Mozart bzw. seiner noch tau-
frischen Leiche anstellte, kann heute kaum widerspruchsfrei rekonstruiert werden;

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doch daß der Arzt ihn ins irdische Irben zurückholte, bleibt im Ergebnis unbe-
stritten - schließlich hatMozm ja anstandslos weitergelebt, nicht wahr. Der nach
dem Mediziner benannte Mesmerismus bewegte zahllose dichterische wie prosai-
sche Gemüter: Allerlei Hexerei und unheilige Dinge hängte man dem Manne an,
ohne seine Methoden nur ansatzweise zu kennen, geschweige denn zu verstehen.
Die Schöpferin des Frqnkenstein ward von den verhunzten und völlig übertriebe-
nen Pseudo-Beschreibungen ebenso fasziniert wie - später noch - Edgar Allan
Poe in seiner Gruselgeschichte >Der Fall Valdemar<, in welcher ein todgeweihter
Patient in mesmerischen Schlaf versetzt wird, darin stirbt, nach sieben Monaten
geweckt wird und sich darob flugs in einen glibbernden Verwesungsbrei verwan-
delt. Das trifft den Kem der mesmerischen Kunst nun absolut nicht: Wenn er auch
>Körperströme< im weitesten Sinne verwendet haben soll, arbeitete er doch mit
Sicherheit nicht bei nächtlichem Gewitter im Dachstuhl seines Burgfurms, einzig
in Gesellschaft Igors, seines treuen buckligen Faktotums, um wiederbelebende
Blitze einzufartgen! All das ist Schnickschnack, Humbug, billiger Theaterdonner,
den Mesmer ganz gewiß nicht nötig hatte. Daß er weit mehr am toten Körper
Wolfgangs ausführte als nur die üblichen magnetischen >Striche<, scheint aller-
dings unausweichlich, da er üblicherweise am lebenden Objekt praktizierte.
Jedoch erwies sich die Versuchung, ausgerechnet jenen verehrten und genialen
Knaben aus den Gefilden zurückzuholen, in welchen er die Englein hatte singen
hören könnerz, als übermächtige Triebfeder für dieses - vielleicht erste, vielleicht
einzige - Experiment am mausetoten Menschen. Wir wissen nur, daß der Philo-
soph und Wundarzt Mesmer den Körper Wolferls hat öffnen müssen, denn nach
der Behandlung fehlten offenkundig verschiedene innere Organe. Ahnlich wie die
alten Agypter bei der Mumifizierung ihrer Pharaonen scheint auch der Chirurg
einiges entnommen zu haben, um den revitalisierten Knaben auf Dauer frisch zu
erhalten. So fehlte Wolfgang hernach das Herz, ein Umstand, den er selbst später
im Brief an einen Herrn von Puchberg beklagt: >>Schon letztens als ich bei Ihnen
war wollte ich mein Herz ausleeren - allein ich hatte das Herz nicht!<< Von ande-
ren Organen jedoch schweigt er.
Außer dem Verdienst, das größte musikalische Genie der Weltgeschichte retten
zu dürfen, was er aber auf Geheiß Leopolds verschweigen mußte, erbat sich Mes-
mer etwas durchaus Konkretes vom Erzeuger des verblichenen Wunderkindes. Er
wollte Wolfgangs erste richtige Oper für sich haben, Bastien und Bastienne
geheißen. Leopold versprach das auch im Handumdrehn; erstens hatte er nichts zu
verlieren, zweitens galt es, des Knaben Körperströme wieder in Fluß zu bringen,
bevor dieser noch strenger zu riechen anhng. Nun werden wieder einige Musik-
wissenschaftler aufschreien: >>Das ist aber doch mitnichten Wolfgangs erste
Oper!< Sie sind derselben Verschleierung aufgesessen wie Mozarts Zeitgenossen.
Um nämlich den plötzlichen Tod des Kleinen zu vertuschen, lieferte Leopold ter-

56
mingerecht die komische Oper bei Maria Theresia ab, welche die Kaiserin in Auf-
lrag gegeben hatte. Natürlich stammte sie nicht von dem toten Kinde, was irgend-
wo verständlich ist; aus Gründen der Pietät und der Ehrlichkeit trug der gebeugte
Vater diesem Umstand der Täuschung im Titel Rechnung: La finta semplice, von
.jedermann als (wörtlich) >Die vermeintliche Einfache< mißdeutet, heißt umge-
dreht >Die einfache List<, was sie ja letztendlich auch darstellte. Sobald das Volk
ersl Die Heuchlerin aus Liebe daraus machte, war der (allzu verständliche) Betrug
kaum noch aufzudecken. Nur Mesmer hat's gewußt und brav geschwiegen in der
geheimen Bestätigung, das erste Opemwerk des Kleinen besitzen zu dürfen. Denn
cin Singspiel galt ihm als die einzig angemessene Belohnung für die dem Knaben
ermöglichte Rückkehr aus den Gefilden der Seligen: Menuette, Sonaten fürVioli-
ne und Klavier, Kompositionen für Klavier zu zwei, vier, sechs oder acht Händen,
ganze Sinfonien gar - all das hatte der Junge llingst verbrochen. Mehrere
Tonkünstler schon hatten (zumeist im Suff) leise und undeutlich die Harfen der
Englein im Himmel vemommen und in ihrer Instrumentalmusik nachzuahmen
versucht, doch der erfolgreich zurückgekehrte Wolfgang würde unweigerlich
einen messerscharfen Eindruck von den Singstimmen der Putten, obendrein von
denen auf Wolke Sieben, mit ins Diesseits bringen! Den exakten Widerschein
himmlischer Freuden als erster zu genießen - dies sollte dem Medicus für seine
göttergleiche Tat vergönnt sein. Was scherte es ihn da, daß nach der Rückführung
Wolfgang bei der Niederschrift der Engelsweisen kein Herz im Leibe tragen
würde. Ein eigenes Herz benötigte er für das Notieren dessen, was seine Ohren
gehört hatten, doch überhaupt nicht, da er strenggenommen lediglich nach Diktat
schrieb und nicht im herkömmlichen Sinne komponierte, sondem fremde, jensei-
tige Weisen transportierte, transponierte. Und so kommt es, daß beide Parteien,
sowohl Wolfgangs Anbeter als auch seine Gegner, mit ihren Argumenten und
Gefühlen völlig richtig liegen: Wolfgangs Musik rsr Himmelsmusik; Wolfgangs
Musik liegt keinerlei menschliches Herz zugrunde.
Nun ist wahrlich nichts Abtraghches oder gar Ehrenrühriges darin zu erblicken,
daß Wolfgang nach seinerWiederauferstehung (wie immer diese vor sich ging) als
herzloses Instrument der himmlischen Mächte fungierte bzw. funktionierte. Die
größten und weisesten Menschen haben sich von alters her glücklich geschätzt,
bloße Gefäße für göttliche Energie abgeben zu dürfen, Werkzeuge ohne eigenes
Bewußtsein, Katalysatoren, die nicht einmal entfemt begriffen, was mit ihnen
oder durch sie vor sich ging. Wolfgang stellt den Prototyp, die höchste Vollendung
dieserAuserwählten dar. Geeignet durch den physischen >Verlust<, bar jedes Her-
zens, war Mozart aufs vollkommenste gewappnet gegen jedwede unwillkommene
Einmischung einer niederen, weil mensch- und erdverbundenen, Regung des
durchschnittlichen homo sapiens. Manche Mystiker und Phantasten sehen im Her-
zen den Sitz der Seele, was bedeuten würde, Wolferl hätte nach der Transition

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keine mehr besessen. Das ist natürlich Blödsinn, doch selbst wenn: Auch die
benötigte er nicht bei seiner Apollo-007-Mission, die ihn in Galaxien entrückte,
die nie ein humanoides Wesen vor ihm gesehen und, wichtiger noch, gehört hatte.
Er stellte das absolut perfekte Aufnahmegerät dar, das die kosmisch-seismischen
Schwingungen des Himmelreichs registrierte, sie vermittels seines mit neuartigem
mesmerischen Strom erfüllten Leibes speicherte und nach und nach wieder aus-
schied, ohne davon Rechenschaft ablegen zu wollen oder können. Kein Zweifel:
Mozarts einstens profan-menschlicher Leib war zu einem veritablen Himmels-
körper herangereift.
Schon kurz nach der einschneidenden Veränderung legte Wolfgang eindrucks-
voll Zeugnis von seiner neuerworbenen Gabe ab. Er, der die wirklichen Englein
singen hören konnte, wirkte ein vergleichsweise bescheidenes Wunder (denn der
Iunge war sehr bescheiden) in der Sixtinischen Kapelle zu Rom. Zwar gab er
keine Wein-Wasser-Wandlung oder Brot-und-Fisch-Vermehrung zum besten,
denn solcherlei war seine Sache nicht, doch verblüffte er die Anweserden durch
eine Kostprobe seiner Funktion als lebender Tonträger/-fänger. Am Karmittwoch
des Jahres 1770 führte man das Miserere eines gewissen Gregorio Allegri auf,
welches aus unerfindlichen Gründen so glühend verehrt wurde, daß das Anferti-
gen einer Kopie der Partitur bei Androhung der Exkommunikation verboten war.
Dieses für fünf- und vierstimmigen Chor und einen neunstimmigen Schlußchor
gesetzte Werk, dessen Stimmen man über hundert Jahre langhatte geheimhalten
können, schrieb Wolfgang nach einmaligem Hören in der Sixtina nieder - völlig
fehlerlos zunächst, doch auf Anraten des weisen Leopold arbeitete er zwei, drei
mindere Schnitzer ein, da dem Vater, einem guten Katholiken, das mit der Exkom-
munikation nicht so gut gefallen hätte. Wolfgang war natürlich auch ein guter
Katholik, bloß dachte er, daß seine Art der Kommunikation ihm sowieso keiner
mehr nehmen konnte. Ubrigens schwankte der damals zuständige Papst Clemens
XIV. so sehr zwischen Bewunderung und Pflichterfüllung, daß auch er seinerseits
das Papier, durch das Wolfgang getadelt werden sollte, mit zwei, drei Federstri-
chen retuschierte, insbesondere aus Versehen ein >t< wegstrich, so daß Wolferl sich
plötzlich geadelt fand. Nicht daß ihn das irgendwie berührt hätte. So ein Papst war
schließlich nur ein Mensch.
Leider schlug sich die Prozedur der mesmerischen Reanimation allmählich in
Mozarts körperlichen Merkmalen nieder, was nicht zu vermeiden war, da sein
Leib vor der Behandlung zwfi noch frisch, jedoch bereits gänzlich tot gewesen
war. Die auffallende Leichenblässe beispielsweise schien sein Lebtag nicht mehr
weichen zu wollen. Daß sie sogar noch zunahm, bestätigt Schwester Nannerl, die
an zuviel südländische Sonneneinstrahlung glaubte: >>... wie er von Italien
zurückgekommen, bekam er die welsche gelbe Farbe, die ihn ganz unkenntlich
machte<<. Seine blasse, merkwürdig/alrle Gesichtsfarbe fiel auch anderen Zeitge-

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nossen auf, die zudem eine gravierende physische Reaktion seitens Wolferls Ner-
vensystems registrierten. Das scheint wenig verwunderlich, da wir heute wissen,
daß gerade Nerven auf der Basis von Körperströmen arbeiten. Ludwig Tieck
heschreibt Mozart als >klein, rasch, beweglich und blöden Auges<, wobei letzterer
Ausdruck Wolfgangs unsteten Blick bezeichnen soll, und ftihrt fort: >>Es besteht
eine ständig ausgeprägte Nervosität.<< Außerdem kam es zu Schädelveränderun-
gen mit Stirnhöckern und zu Knochendeformationen, welche auch die Hände mit
erfaßten. In den Konversationsheften Beethovens berichtet dessen Neffe Carl:
>Mozarts Finger waren von dem unablässigen Spielen so gebogen, daß er das
Fleisch nicht selbst schneiden konnte.<< Obgleich Carl van Beethoven somit die
Ursache verkennt - wie sollte er sie kennen? -, gibt er die Symptome richtig wie-
der, wie überdies die entsprechende Briefnotiz eines HermZ.eltet an einen Herrn
Goethe bestätigt. Gekrtimmt durch die galvanischen Ströme, welche sie ständig
durchliefen, waren Mozartens Hände gerade mal zum Klavierspiel zu gebrauchen;
aber schließlich reichte das für ein Genie wie ihn.
Ein übermenschliches Wesen blieb Mozart zeitlebens bzw. zeit seiner unzähli-
gen Leben, doch ein Wunderkind konnte selbst er nicht ewig sein. Das erkannte
recht widerstrebend auch Vater Leopold und trachtete darob, dem Sohnemann
eine geordnete Dauerstellung zu organisieren, die es ihm ermöglichen sollte, von
einem festen Punkte aus die ganze Welt glücklich zu machen. Merkwürdigerwei-
se gelang es dem eifügen Vater nicht, den Jungen als Kapellmeister in irgendeiner
der vielen schönen Städte unterzubringen, die seine glorreiche Gegenwart bereits
genossen hatten; sein Ruf war zwar wie Donnerhall, fand jedoch offensichtlich gar
kein Echo. Die gleiche fehlende Resonanz begegnete dem Sohnemann später
selbst, als er auf eigene Faust auf Jobsuche ging: Immer mußte er vor lauter Elend
zurück ins ungeliebte Salzburg, zum Brotherrn seines Vaters obendrein, demErz-
bischof Colloredo, welcher ein fieser kirchlicher Despot war, doch scheinbar der
einzige, der den Wolfgang überhaupt haben wollte. Mitte 1777 knndigte Wolf-
gang, was reibungslos klappte, reiste mit Seiner Mama nach Paris, ließ sie tot und
begraben dort zurück, ging sich eine Stellung in der Welt erobem und fand sie
prompt 1779 als Organist des - Salzburger Erzbischofs Colloredo. Zwar verlief
sämtlicher Verkehr zwischen dem Fürsten bzw. dessen Kämmerer Graf Arco und
dem Hoforgler Wolfgang auf unverändert höflicher Ebene, doch ein unglückliches
Mißverständnis trieb Mozart junior 1781 endgültig fort nach Wien: Daß der Graf
Arco unserm Wolferl zum Abschied den üblichen zärtlichen Fußtritt in den Aller-
wertesten verpaßte, nahm dieser dem guten Manne sicherlich nicht übel; allein der
Graf traf mit seiner Huldbezeigung ausgerechnet Mozarts empfindlichsten Nerv
sowie jene Hämorrhoiden, die sich als Spätwirkung der väterlichen Schwarzpul-
verbehandlung eingestellt hatten. Diesem Risiko auch fürderhin ausgesetzt zu
sein, konnte der ohnehin durchs Hoforgeln geplagte Wolfgang sich nicht leisten,

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wollte er nicht aller körperlichen Kräfte wieder verlustig gehen, die man so müh-
sam wiederhergestellt hatte. Also blieb Mozart junior in Wien hocken, und zwar
direkt im Hause seiner zukünftigen Ehefrau Constanze Weber, deren Schwester
Aloysia er genauso wenig hatte kriegen können wie eine ordentliche Anstellung,
obwohl er sich auch bei ihr stets ordentlich angestellt hatte. Von nun an arbeitete
er als freischaffender Künstler, und seine Karriere ging im folgenden Jalrzehnt
steil bergan und wieder bergab. Sein notgedrungen äußerst aufwendiger Lebens-
stil änderte sich durch solche Fährnisse nicht, nur daß er zuerst dafür mit schnö-
dem Geld bezahlte, später jedoch den Gläubigern ein beinah herzliches >Vergelt's
Gott< schenkte. Die Legende, welche von Brotrinden und Wasser spricht, stimmt
nicht so ganz; doch die aus Champagner und Pastetchen zusammengesetzte Hun-
gerdiät war sicher auch nicht immer angenehm.
Ein anderes Volksmärchen besagt, daß Vater Leopold und Schwiegertochter
Constanze sich niemals so richtig grün waren. Ein Körnchen Wahrheit liegt darin,
welches sich aber bloß auf den Anfang der Bekanntschaft bezieht. Hierzu muß
erläutert werden, daß es mit einer einmaligen mesmerischen Operation bei Wol-
ferl nicht getan sein kormte: Schließlich galt es doch, ihn in regelmäißigen Abstän-
den aufs neue ins Jenseits zu schicken und zurückzuholen, um den Notenvorrat
aufzufüllen, mit dem der junge Mann zugegeben ziemlichen Raubbau trieb. Stän-
dig hatte er sich zu diesem Zweck weiteren Sitzungen zu unterziehen. Da Dr.
Mesmer nicht andauemd verfügbar war, hatte Vater Leopold als Impresario,
Coach und Physiotherapeut des Genies sich frühzeitig die Grundlagen der mes-
merischen Massage angeeignet, um im Bedarfsfall den Jungen auf transzendenta-
le Botengänge zu entsenden. Da Wolfgang mrn nicht davon abzubringen war, fem
vom väterlichen Salzburg zu wohnen, mußte Leopold sein Wissen an die Schwie-
gertochter weitergeben. Die leichtfertige Constanze lernte ungern und war unauf-
merksam, weshalb sie bei den gemeinsamen Ubungen an Wolfgangs Körper dem
Vater oftmals gegen den mesmerischen Strich ging - sie bestrich ihren Gatten
nicht von unten nach oben, sondem von links nach schräg, ganz wie es ihrer Natur
entsprach. Sie verstand halt nichts von der Akutinktur, und Leopold sah mit
Schrecken, daß, bedingt durch die seitenverkehrte Behandlung, bei der sich
sowohl Vater als auch Sohn die vom Strom vibrierenden Nackenhaare sträubten,
der junge Spund plötzlich recht widerborstig wurde. Doch diese Phase ging vor-
bei; Constanze hatte bald den Dreh 'raus (gegen den Uhrzeigersinn). Sie ersann
sogar eine zusätzliche Form des Dopings, welche dem ansonsten widerstrebenden
Wolfgang auf so angenehme Weise verabreicht werden konnte, daß Leopold der
Erfinderin auf ewig dankbar blieb - egal, was andere darüber gehört haben wol-
len. Constanze fand Geschmack am Experimentieren mit der Unendlichkeit und
las u.a. einige Bücher über die alten Agypter, die auch schon Mesmer von Nutzen
gewesen waren. Der Skarabäus, jener Käfeq der jeden Tag von neuem die Son-

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nenkugel über das Firmament rollt, hatte es ihr angetan. Auch Mozart junior war
eine solche Sonne, die sozusagen regelmäßig über das Himmelszelt geschoben
werden mußte. Leopold hatte Constanze seine autodidaktisch erworbenen Kennt-
nisse über das Pillendrehen als Vermächtnis hinterlassen, und die fröhlich wer-
kelnde Hausfrau erfand eine Version, die ihren Ehemann in Farbe, Form und Kon-
sistenz an glückliche Kindertage erinnern sollte. Wir ahnen es bereits: Constanzen
haben auch wir Sterblichen die leckere Kreation der Mozartkugel zu verdalken,
welche angenehmerweise oral eingenommen werden kann und ebenfalls einen
Explosivstoff darstellt, eine Kalorienbombe nämlich. Für sich selbst erfand die
Gattin die Constanze-Kugel, die weit weniger gefährlich war, jedoch auch nicht
so nah der kulinarischen Ewigkeit.
Der Sarotti-Mohr Leopold hatte somit seine Schuldigkeit getan und durfte des-
halb zurück nach Salzburg. Das legenddre >Zerwürfnis< zwischen ihm und den
Kindem gab es nie; Leopold war heilfroh, sein Wolferl in Constanzens zarten
mesmerischen Händen und versehen mit den heiligen Tröstungen ihrer Küche zu
wissen. Ob Wolfgang Geld verdiente oder nicht, wen kratzte das, schrieb er doch
Oper über Oper nieder sowie haufenweise diverses Kleinzeug, welches er an dem
ins irdische Jammertal zurückführenden Wegesrand beiläufrg aufklaubte. So ent-
standen >Eine kleine Nachtmusik< und Die Enführung aus dem Serail und Die
Hochzeit des Figaro und Cosi fan tutte vnd und und ... Anno 1787 starb Leopold
in Salzburg, tief getröstet von einem Brief des Sohnes, welcher den Tod als End-
zweck des Lebens preist und den Vater munter dazu auffordert. Im Lichte unseres
Wissens erkennen wir den eindeutig konspirativen Tonfall des Verfassers: >... und
ich danke meinem gott, daß er mir das glück gegönnt hat mir die gelegenheit/ sie
verstehen mich / zu verschaffen, ihn [den Tod] als den schlüssel zu unserer wah-
ren Glückseeligkeit kennen zu lernen.<< Unmittelbar inspiriert durch den Tod des
Vaters, welcher ironischerweise auf eine Herzinsffizienz zurückgeführt wird,
schreibt Mozart KV. 522, >>Ein musikalischer Spaß<< betitelt. Seinem toten Vogel
>Star< widmet er gleichzeitig eine Trauerode. Er muß wohl irgendwas verwechselt
haben, der Gute.
Doch die nunmehr durch keinen Vater mehr gebremste Notenschreiberei fordert
ihren Tribut. Die Ausflüge werden zwangsläuhg immer häufiger, die anzuwen-
denden Mittel drastischer in Dosierung, Ausprägung und Dauer. Selbst Constanze
weiß kaum noch Rat. Um sich letzteren zu verschaffen, flährt sie monatelang in
teure Kuren, kommt zurück, baut Wolferl notdürftig auf und reist gleich wieder ab.
Es ist bezeichnend, daß ihr Kurarzt Dr. Closset, von dem sie das nötige Wissen
erhält, auch in der Sterbestunde Mozarts hinzugezogen wird - zusammen mit sei-
nem Spezi Dr. Sallaba, dem Primar des Allgemeinen Krankenhauses, den danker-
lüllte, jedoch unheilbare Patienten Dr. Quack-Sallaba nennen. All diese Medizin-
männer kannten offensichtlich das Geheimnis um den vermesmerten Mozart.

6l
Auch der Medikus Prof. Dr. Johann Nepomuk Hunczovsky besaß für Mozart
außerordentliche Bedeutung, wie letztercr selbst in einem Brief an Puchberg
betont - und der Professor war in der anatomischen Sezierabteilung der Gerichts-
medizin tätig ...
Wir schreiten nun zu dem wohl größten Mysterium in Mozarts geheimnisum-
wittertem Leben, nämlich dem Kapitel >Auslösendes Moment des endgültigen
Todes - Begräbnis - verschollenes Grab<. Dieser Komplex bildet einen einzigen
dicken Klumpen, mit dem obendrein die sagenumwobene Gestalt des Grauen
Boten unlöslich verknetet ist. Jener Maskierte, welcher angeblich dem bereits
kränkelnden Mozart den Auftrag für das berühmte Requiem und somit ein (selbst
durch Wolfgang) nicht mehr zu bewältigendes Arbeitspensum aufbürdete, ihm
dadurch auf heimtückischste Weise den Rest gebend, ist niemals identifiziert wor-
den. Viele wollen in ihm einen Abgesandten des Rivalen Salieri sehen, was eine
interessante Deutung, jedoch völliger Blödsinn ist, alldieweil der damals weitaus
populärere Salieri es beim besten Willen nicht nötig hatte, ein vom Publikum fast
vergessenes armes Würstchen wie Wolfgang umzubringen. Zugegeben, als man
Jahrzehnte später den Mozart wieder ausgegraben und aufpoliert hatte - im über-
tragenen Sinne, versteht sich -, gab Salieri zu, den >Rivalen< vergiftet zu haben;
aber das verkündete er nur auf vielfachen Wunsch von Pflegern und Mitinsassen
der Klapsmühle, die er zu jenem Zeitpvrkt bewohnte. Der Graue Bote war auch
nicht etwa der Geist des verstorbenen Vaters, der den Sohnemann aus dem Grabe
heraus quälen wollte wie der tote Komtur den herzlosen Don Giovanni. Wir wis-
sen schließlich, daß Vater und Sohn in bestem Einvernehmen voneinander schie-
den, Wolfgang sogar mit einem frohen Pfeifen auf den stets gespitzten Lippen.
Und dennoch kommt die Geisterwesen-Theorie der Wirklichkeit erheblich näher
als Salieri.
Wolfgang malte panisch-unablässig seine Notenblätter voll, etwa wie ein
gehetztes Reh es täte, wenn es schreiben könnte und dazu einen Griffel hätte. Er
war längst nicht mehr Herr seines Tempos, sondern mußte immer schneller wer-
den, ob er wollte oder nicht. Um fünf Uhr in der Frühe stand er auf und schrieb
den ganzen Tag bis Mitternacht, weitestgehend unbehelligt von seiner dauerku-
renden Gattin. Eine wesentliche Tatsache könnte hierbei den glühendsten Mozart-
Verehrem ein leises Tränchen des Bedauerns abdrücken: Das Notenniederschrei-
ben machte dem Getriebenen, stäindig elektromagnetisch und kulinarisch Aufge-
putschten gar keine Freude mehr. Der Streß war an sich schlimm genug, aber das
ständige Wandern zwischen zwei Welten ganz ohne Visum oder Reisepaß
schlauchte ihn fürchterlich. Einerseits behagte es ihm schon noch, den Engeln zu
lauschen, wenn auch nach den ersten paar Besuchen im Himmel der Lack ziem-
lich ab war und eine gewisse Langeweile einsetzte, welche durch die Routine im
Diesseits fortgesetzt wurde; andererseits empfand Wolfgang es irgendwo doch als

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entwürdigend, immer bloß fremder Engel Gesinge und Geharfe aufzuzeichnen,
ünstatt selbst im Engelschor oder -ballett mitmachen zu dürfen. Müde und ausge-
powert, wie er war, fühlte er sich hin- und hergerissen zwischen Dies- und Jen-
seits, zwischen Sehnsucht nach bzw. Furcht vorm endgültigen Tode. Er brauchte
tlringend eine schöne lange Pause, lila oder sonstwie, denn die Lust zum Musi-
zieren war ihm glatt vergangen.
Das ließ ihm sein geliebtes Weib leider nicht durchgehen. Constanze zeigte
kcin Verständnis für die Lebensmüdigkeit des Gatten, da sie selbst, bedingt durch
tlie zahllosen Kuren, fast ausgeschlafener war, als es die Polizei erlaubte. Lang-
sirm dämmerte es Mozart, was man da die ganzen Jahre Herzloses mit ihm ange-
slellt hatte; er begriff, daß man ihn zum Märtyrer für die Menschheit aufgepäppelt
Irntte, ohne ihn ein einziges Mal zu fragen. Kurzum, er hatte keine Lust mehr auf
I)oping - ja er traute nicht einmal mehr den leckeren Pralin6s der Angeffauten, mit
gutem Grund bekanntlich. Allmählich reifte in ihm die Überzeugung, er werde
systematisch zugrunde gerichtet. Sein berühmter Ausruf der Verzweiflung, >Mit
nrir dauert es nicht mehr lange. Gewiß hat man mir Gift gegeben<<, läßt dies
unschwer erkennen. Tatsächlich glaubte Wolfgang immer unumstößlichet, einer
seiner engsten Freunde habe ihm besagte Giftmixtur, wahrscheinlich Aqua Toffa-
na, heimlich eingeflößt. Er wußte nicht, wie nahe er der Wahrheit kam, bloß daß
die Mischung keineswegs Gift enthielt, zumindest nicht im strengen Sinne. Das
,Aqua Toffana<, nach einer talentierten Giftmischerin benarurt, war in seinem Fall
cher verflüssigtes Toffee in Form des gerade von Frau Mozart erfundenen Mozart-
I ikörs.

Noch immer schrieb Mozart brav die schönsten Werke der Musikgeschichte
nieder, die Zauberflöle beispielsweise, nach dem Libretto des Theaterdirektors
Emanuel Schikaneder. Abgesehen davon, daß er sich mies behandelt fühlte -
irngeblich, sehr angeblich soll Mozafi gesagt haben: >Der Scheiß-Schikaneder
schikaniert mich schändlich<<, obwohl dieser ungewollte Stabreim nach einem
ganz anderen Herrn klingt -, begann Mozart sich mehr und mehr als das zu
betrachten, was er in der Tat war, nämlich eine gedopte Labormaus im Laufrad.
So erfolgte noch am 30. September l79I die Uraufführung der >Maschinenkomö-
die<, die seine persönliche Lage nur allzu deutlich widerspiegelt. Doch Galgenhu-
mor half ihm auch nicht mehr. Ihm ging buchstäblich die Puste aus. Da beschloß
seine sich liebende Gattin, zur wohl drastischsten Maßnahme zu greifen, die ihr
bei der Lektüre esoterischer Bücher überhauptjemals begegnet war. Frei nach der
Bibelstelle, die besagt, daß der Mensch aus Lehm gemacht sei bzw. aus Staub, zu
dem er dereinst zurückkehren solle, wollte sie die geheimen Kabbala-Lehren des
Prager Rabbi Löw für ihre Zwecke (mithin Wolfgangs) modifrzieren. Dies bedeu-
tete im brutalen Klartext: Mozarts halbmenschlicher Körper sollte endgültig durch
einen tönernen ersetzt werden, genauso einen, wie ihn der mittelalterliche Golem

63
besaß, damit in dieses neue, verlöt3lichere Gef?iß die Essenz des Mozartschen
Genies per Mesmerismus übertragen werden konnte. Sobald das geschehen wäre,
so glaubte Constanze, würde Wolfgang 2 funktionieren bis in alle Ewigkeit, noch
dazu ohne Pralin6s. Wer diese ihre Theorie für Science fiction hält, hat zweifellos
recht, doch Constanze war so ziemlich alles zuzutrauen. Die zahllosen Reisen
nach Prag inletzter Zeit, angeblich bloß wegen der Aufführung des Don Giovan-
ni und diverser Kleinigkeiten, dienten ganz anderen Beschäftigungen Constanzes.
Warum etwa hatte sie sich derart eng mit dem Wiener K.K. Kämmerer Graf von
Deym angefreundet, welcher ein Kunstkabinett unterhielt? Als Spezialität des
Hauses galt immerhin der Gipsgul3 ... Wie genau der Graf in Prag Mozarts Aus-
tausch vornehmen sollte, bleibt für immer ein dunkles Geheimnis; ebensowenig
wissen wir, wie der geplante Lehmkörper funktionierte, d.h. ob man wie beim Ur-
Golem einen Zettel hinter seiner Zwge deponieren mußte oder vielleicht - ein
Stück Notenpapier?
Mit Gewißheit können wir lediglich sagen, daß Wolfgang rechtzeitig Wind von
dem Vorhaben seiner Frau bekam und Prag fluchtartig verließ. Dei furchtbare
Schreck ob der ziemlich ein- und grausamen Entschlüsse Constanzes hatte jedoch
bereits das seinige zum Untergang unseres Helden beigetragen. Das Berliner
Musikalische Wochenblatt vermerkt: >Er kam von Prag kränklich heim, siechte
seitdem immer.<< Und das ist wirklich noch untertrieben angesichts des Schocks,
den er erlitten hatte. Im Lichte obiger Aufklärung machen wir uns nun mit heili-
gem Eifer über die Hauptaufgabe her und an die absolute Preisfrage heran: Wer
war der Graue Bote? Wir allein befrnden uns in der glücklichen Lage, die ulti-
mative Antwort auf dieses uralte Rätsel zu nennen. Jetzt heißt es, die uns ange-
messene Demut zu bewahren.
Verständlicherweise war Mozart nach seiner Rückkehr aus Prag außerordent-
lich aufgewühlt, ja sogar ziemlich wirr (>Mein Kopf ist schwach und zerstreut<<,
Brief an Lorenzo Da Ponte). Man hat niemals herausgekriegt, wer als Auftragge-
ber hinter dem Grauen Boten stand; nachdem das Werk später erst einmal durch
den Schüler Süßmayer vollendet ward, ließ es sich wunderbar verscherbeln, doch
gilt der Ktiufer, Graf Walsegg zu Stuppach, nicht als sein Besteller. Als Mozart,
der viel allein zu Hause blieb, auf einmal dauemd von einem Requiem faselte,
welches er schreiben müsse, hat man ihn ganz offenkundig vollkommen mil3ver-
standen. Er selber hat ja nie behauptet, der graue Finsterling habe das Ding bei
ihm bestellt! Es steht sogar zu vermuten, daß der Bote niemals wirklich, also in
persona, in Mozarts Stübchen stand, und falls doch, weiß man nicht, ob er ein
Musikwerk bestellt hat - und falls doch, gab er keineswegs ein Requiem in Auf-
trag. Die >Aufgabe< mit dem Requiem hat Wolfgang sich selber zumZiel erkoren,
denn er brauchte dringendst Ruhe. Das ergibt nicht den leisesten Sinn, wird man-
cher an dieser Stelle denken, der sein großes Latinum nicht mit >sehr gut plus<

64
rrhsolviert hat wie übrigens die meisten Leute heutzutage. Mozart, der konnte
Itoch Latein, fast so gut wie Italienisch. Dem grauen Ommes sagt man ungerech-
lerweise nach, er habe von ihm verlangt: >Gib mir ein Requiem!<< Mozart wie-
rlcrholte lediglich diese Worte, die er selbst in finstrer Nacht und tiefster Seelen-
lrcin gestammelt hatte - nur eben auf Latein: >>Dona mihi requiem, Domine, fina-
lllcr nochmal!<< Dieses obskure >Geben Sie mir ein Requiem, mein Herr< bedeu-
lct also in Wahrheit >Gib mir endlich ein bißchenRuhe,lieber Gott!< Im o.g. Brief
run Da Ponte sagt Mozart nur: >> ... das Bild des Unbekannten will nicht von mei-
rrcn Augen weichen. Ihn sehe ich ständig vor mir; er bittet, er bedrängt mich, und
rrngeduldig treibt er mich zur Arbeit an.<< Das klingt doch ganz nach dem abstrak-
lcn Trugbild des Phantoms! Ein graues W'esen, immer gegenwärtig und trotzdem
rriemals wirklich da: Das ist der Bote! Die graue Farbe spiegelt zudem Mozarts
Angste wider, zu einem Golem aus Lehm verarbeitet zu werden; aus des künstli-
chen (weil nicht vorhandenen) Mannes tönernem Mund tönen die Laute des
grau(s)esten Grauens. Ein Bild ist das, ein schlimmes Bild zwar, doch nicht mehr!
l)aß Mozart gerade durch die Arbeit an dem Requiem solch große Pein erleidet,
ist auf den klassischen Zwiespalt des fleischgewordenen Heilands zurückzu-
l'ühren; er möchte, daß der Kelch an ihm vorübergehe - doch wenn nicht, dann
wird er ihn bereitwilligst zur Neige leeren. Mozart weiß längst, daß die Ruhe vor
sciner Frau Constanze, die er im Grunde nur begehrt, einzig durch Erlangung der
liwigen Ruhe möglich werden kann. Requiem aeternam also, >Ewige Ruhe< heißt
rlie Parole, denn es gilt: Alles oder nichts. Jedq andere Art der Entspannung weiß
(lonstanze gnadenlos unfehlbar zu hintertreiben.
Die widerlichen Gerüchte, welche man nach Mozarts Tod und Begräbnis über
scine Freimaurer-Brüder verbreitete, wurden durch Constanze gendtrt, wenn
rricht gar in die Welt gesetzt. Es hieß, die guten Brüder, die ihn im Leben mit Tau-
senden von Gulden versorgten, hätten ihn meuchlings umgebracht. Das Gegenteil
trifft zu. Baron van Swieten veranlaßte, daß Mozart eiligst in einem unbezeichne-
tcn Reihengrab beigesetzt wurde: nicht etwa aus plötzlicher Knausrigkeit, sondern
irus wahrer Menschenliebe. Der stets spendable Mann wollte wkeinen Preis ein
Binzelgrab für den geliebten Bruder, weil er als einziger das Geheimnis kannte.
tledingt durch van Swietens Nacht- und Nebelaktion war Constanze buchstäblich
ve rhindert, fand das Grab nicht heraus - und Mozarts ewige Ruhe war gerettet ...

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Wurmstichig und turteltaub
Beethoven, Ludwig van (L770-1827)

Natürlich hat sich Ludwig van wie alle hier vertretenen Musikschaffenden
hauptsächlich durch seine Kompositionen in die Köpfe nachfolgender Generatio-
nen eingeschlichen. Wir alle kennen seine Symphonien, wenn nicht vom Hören,
dann vom Hörensagen: die Eroica, die Schicksalssymphonie, etliche davor und
dazwischen, die Unvollendete.Letztere wurde von zahlreichen Stümpern kopiert,
die alle der Mode folgten und ihr Lebensziel darin erblickten, ihre eigene Unvoll-
endete zuPapier zu bringen, nur um dann zufrieden und erfüllt über ihr sterben zu
dürfen. Aber Ludwig vans Symphonie blieb die unvollendetste von allen und
erweckte noch dazu den Eindruck, völlig fertig zu sein; das konnte dem Meister
natürlich niemand nachmachen. Böse Zungen behaupten gar, die Symphonie sei
tatsächlich ordnungsgemäß durch Ludwig van beendet und erst nachträglich zur
Halbheit erklört worden (denn schließlich kriegt mit dem passenden Bauplan
jeder Dilettant eine ganze Symphonie zustande). Diese Sache hat man nie zufrie-
denstellend beleuchtet, und auch hier interessiert sie höchstens ganz an Rande.
Wichtiger wdre da schon - nicht nur musikalisch betrachtet - seine einzige Oper
Fidelio, die einen riesigen Schatten über Ludwig vans ohnehin sehr schattiges
Leben wirft. Tatsächlich bilden Fidelio und die Eroica die beiden großen Eck-
pfeiler, die sein Dasein, statt es mannhaft tragen zu helfen, auf perfideste Weise
zum Einsturz brachten.
Jedoch faszinieren den durchschnittlichen hörenden Menschen an Ludwig van
zunächst zwei Dinge weitaus mehr als seine Musik. Das ist zum einen sein tragi-
sches Handicap, wie man Verkrtippelungen aller Art heute taktvoll nennt.
Während die Musikwissenschaft munkelt, daß Ludwig van erst im Laufe seines
Lebens zu der tauben Nuß wurde, die wir heute kennen und vielleicht auch lieben,
deuten diverse Quellen auf einen schon in seiner Kindheit auftretenden Schaden
hin. Aussprüche seiner Mutter wie >>Ludwig van, du garstiger Bub, kannst du nicht
hören?<< oder >Du hast wohl wieder auf deinen Ohren gesessen, was?<< weisen uns
die Richtung seines Leidens. Frühzeitig buchstäblich ergrffine Gegenmaßnah-
men der Mutter wie das Ohrenlangziehen wirkten kaum, doch zumindest nach-
haltiger als die Kuren der vielen Arzte, die Ludwig van später konsultieren sollte.
Allerdings behielten die Beethovenschen Ohrmuscheln ihre längliche Form bei
und veranlaßten Ludwig van letztendlich dazu, sich zwecks Muschelverbergung
die extravagante Salatgabel-Sturmfrisur zuzulegen, die uns von Abbildungen
geläufig sein dürfte. Die zweite Angelegenheit, die den Pauschalkonsumenten

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(rbgesehen von des Meisters Ohdäppchen, Mittel- und Innenohr) noch enorn
irrteressiert, ist das Rätsel des Ewigen Wanderers, der er war bzw. wurde. Nirgends
krrnnte er es lange aushalten. Nirgends konnte man ihn lange aushalten. Gott sei
l)rnk ließ er sich sowieso nur ungern aushalten, wie man weiß. Nicht von unge-
lllhr fallen sein stetig wachsender Wandertrieb und seine nicht minder fortschrei-
lcnde Hörschwäche zeitlich exakt zusammen. Hinter beiden verbirgt sich ein gar
schröcklicher Zusammenhang, der schlechterdings das Lebensrätsel des Ludwig
vrrn darstellt. Allerhöchste Zeit, mit den Heimlichkeiten kurzen Prozeß zu
ttrachen!
Schon in dem noch kleinen Ludwig vereinigten sich voll und ganz sämtliche
gcnetischen Vorzüge und Nachteile seiner Sippschaft. Der Opa war sehr musika-
lisch gewesen, desgleichen der Vater; nur komponiert hat keiner von beiden. An
l,udwig vans beiden Brüdern dagegen ging das Genialische achtlos vorbei, ohne
rtuch nur einen Seitenhieb auszuteilen. Kaspar Karl war ein begnadeter Kassenbe-
rrnrter mit Sinn für das Eheleben. Johann machte eine ausgedehnte Apothekerleh-
t'c und brachte es immerhin auf einen eigenen Laden inklusive Landgut; seine
llegabung für das Apothekarische erklärt eventuell auch den Umstand, daß der
(iute seine Brüder so mühelos zu überleben imstande war. Klein Ludwig war
schon als Kind das älteste seiner Geschwister; so blieb alles Unangenehme, Talent
wie auch Erziehung, unweigerlich an ihm kleben, ohne auf die musisch unbegab-
lcn Brüder abzufdrben. Und diese Erziehung, planlos und scheinbar chaotisch wie
sie war, hatte es in sich. Vater Beethoven erkannte noch im Suff die außerordent-
liche, geradezu in die Ohren springende Begabung seines Erstlings. Zu solchen
lccht häufig sich ergebenden Gelegenheiten sah er des Sprößlings Talent mögli-
cherweise sogar doppelt und dreifach und im rosigsten Lichte. Obwohl er ein, wie
cs heißt, >schlechter Haushalter< war (also im Klartext chronisch pleite), der kei-
rrcrlei geregelten Unterricht seitens kompetenter Lehrer bezahlen konnte, schlug
cr in der Förderung Klein Ludwig vans ganz extreme Wege ein und scheute vor
lcin gar nichts zurück, galt es doch immerhin, den Knaben als staatlich geprüftes
Wunderkind unter die Leute zu bringen.
Genau hier, in dieser Epoche seines miserablen Lebens, liegt der Grundstein zu
l,udwig vans Krankheit herum. Seit dem kometenhaften Aufstieg des dynami-
schen Duos >Wolferl und Nannerl< n?imlich galt das sogenannte Wunderkindertum
nicht nur als chic, sondem als obligatorisch. Sobald ein armes Hascherl von Kind
'piep< sagen oder besser noch singen konnte, wurde es unbarmherzig in die höfi-
schen Salons und die von Fürst Mettemich oder Pückler gesponserten Konzertsdle
geschleift, wo es zeigen mußte, was der stolze Vater geleistet hatte. (Nicht selten
gab es sonst einen unsanften Klaps mit dem Hammerklavier.) Man bedenke dabei
tlen unpraktischen Umstand, daß damals noch gänzlich ohne Playback gearbeitet
wurde! Der gestrenge Wunderkindervater steckte den kleinen Mann oder die klei-

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ne Miss in das feinste Halbseidene, stülpte dem widerstrebenden Etwas eine Rie-
senperücke über die Nase, und ab ging's zu Fürschtens. Und wehe, wenn der
Wurm die umstehende Gesellschaft nicht vollends bezauberte ... Wie man sich
beinahe denken kann, benahm sich der kleine Ludwig van genauso unbändig und
widerborstig wie seine Haare. Er wollte sich nicht dressieren lassen, der sture
junge Hund. Aber da biß er bei seinem ihn liebenden Erzeuger auf reinstes Gra-
nit.
Der Vater befand sich nämlich in einer Zwangslage. Sohnemanns Talent ward
früh erkannt. Jedoch hatte sich die Erkenntnis in des Vaters ständig alkoholumne-
beltem Gehirn nicht rechtzeitig ausgebreitet (genauer gesagt: Es hatte nicht >klick<
bei ihm gemacht). Einmal gab es unvermittelt einen nüchtemen Augenblick; Vater
Johann schaute auf die Uhr - und was sah er zu seinem Entsetzen? Es war bereits
1778, mitteleuropäische Sommerzeit, somit zwei Jahre zu spät für die Karriere
seines achtjährigen Filius. In panikartiger Hast meldete man Ludwig van als
sechsjäihriges achtes Weltwunder an, nicht ohne vorher Familienstammbuch und
Taufregister geändert zu haben. (Noch als Vierzigjähriger glaubte der Komponist,
er sei zwei Jahre jünger als andere Knaben.) Der solcherart künstlich kleinge-
machte und -gehaltene Ludwig wurde sodann einer schnellen, unorthodoxen und
äußerst radikalen Schulung unterzogen. Und die ging so:
Ein mit Johann (der übrigens Tenor war) befreundeter Sänger und Flötist mit
dem passenden Namen T.F. Pfeifer sollte Ludwig van nicht die Flöten-, sondem
die fortgeschrittenen Klaviertöne beibringen. Um sich Mut anzutrinken, begleite-
te Pfeifer Vater Beethoven regelmäßig in die Eckkneipe, wo beide bis Mitternacht
hocken blieben, um alsdann im weinseligen Zustande Klein Ludwig aus dem tief-
sten Schlaf und Bett zu treiben und mit ihm die fruchtbarste Zeit des Tages, also
die Stunden zwischen halb eins und halb fünf, am Klavier zu verbringen. Kleine
Jungs brauchen bekanntlich nicht so viel Schlaf; begabte Kinder brauchen gar kei-
nen. (Die stets betrunkene Flöte Pfeifer hatte Ludwig van angeblich auch mit der
Orgel bekannt gemacht: >Hallo Orgel - das ist Ludwig. Ludwig - das ist Orgel.<)
Pfeifer und Vater saßen dem bitterlich weinenden Ludwig wie zwei Dämonen im
Nacken. Sie wollten sein Bestes und kannten keine Gnade. Vater witterte Geld;
Pfeifer witterte die Unmengen von Freibier, die Beethoven senior ihm verspro-
chen hatte. Die Situation spitzte sich zu. Klein Ludwig, der garstige Bengel, blieb
verstockt und wollte sich um drei Uhr früh partout wieder schlafen legen. Das ließ
der Vater ihm nicht durchgehen. Zuerst versuchte er es mit guten Worten; er lag
ihm buchstäblich in den Ohren, obwohl dort nicht viel Platz war. Dann aber gab's
was hinter die LöffeI, und wenn wir heutzutage lesen, daß Ludwig van es faust-
dick hinter den Ohren hatte, ist damit zweifellos die Faust des Vaters gemeint. Der
hat ihn oft machtig übers Ohr gehauen, besonders übers linke (interessanterweise
dasselbe Ohr, das kurz darauf als erstes nicht mehr hören wollte). Die väterlichen

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Ohrfeigen trafen ins Schwarze, d.h. nicht auf die Wange. Ludwig van spielte Kla-
vier und jaulte dazu wie der Schloßhund, der er bei Färstens ja erst noch werden
nollte. Es war zum Gotterbarmen - kein Marryrium mehr, sondern das reine Ohra-
Iurium. Und dann beging der Vater den für Ludwig van so verhängnisvollen Feh-
lcr - er setzte ihm einen ausgewachsenen Floh ins Ohr. Damit ward Ludwigs Kar-
riere nicht vorangetrieben, wohl aber sein Untergang.
Die genaue Spezies besagten Flohs läßt sich leider nicht mehr genau bestim-
rnen, doch wir kennen die schreckliche Wirkung seines Treibens. Zur damaligen
'leitbenutzte man regelmäßig Blutegel zum Anzapfen (Zihnlich wie der moderne
Mensch zu diesem Zweck Wanzen verwendet). Flöhe wurden für medizinische
Itelange eigentlich seltener eingesetzt - im Grunde gar nicht. Wir wissen demnach
nicht, welche Laus Vater Beethoven über die vergilbte Leber gelaufen war, um ihn
uuf so krumme Gedanken zu bringen. Sicher war er während der Tat wieder ein-
nral stockbesoffen, drastisch ausgedrückt. Daran, daß sein Sohn bald ebenso
stocktaub war, trägt der Mann große Schuld, doch keineswegs die alleinige Ver-
luntwortung hierfür. Der Floh war sozusagen der Tragödie erster, einleitender Teil.
Wie nicht jeder weiß, hatte Ludwig van es nicht nur an den Ohren, sondem
nuch im Unterleib, an dem er (streng pathologisch betrachtet) dann ja schließlich
sterben sollte. Eine vom vielen Limonadetrinken herrührende Leberzirrhose ließ
ihn ein ähnliches Ende nehmen wie den Herm Papa. Ludwig galt nie als ausge-
sprochene Schönheit: Der Mediziner spricht in seinem Fall von einem pyknischen
Habitus, klein und gedrungen, aber oho. (Und obwohl er ein kleiner Pygmäe war,
hat Vater Johann nie seine Vaterschaft angezweifelt, was ja irgendwo doch ein net-
ter Zug ist von dem Alten.) Klein Ludwig hatte zudem breite Schultern, die er
beim Laufen nach Affenart vomüberneigte, eine weitgewölbte Stim, buschige
Augenbrauen und einen kurzen Hals. Nicht einmal die von einer Pockenerkran-
kung übriggebliebenen Narben trugen emstlich zur Verschönerung bei. Wegen
seines breitausladenden Kinns, ausgeprägter Backenknochen und seiner perma-
rrent dunkelroten Gesichtsfarbe - die abwechselnd vom Sich-Argem und vom
Sich-Schämen herrührte - wurde der kleine Ludwig van in der Schule von den
Knaben gehänselt und von den Mädchen gegetelt. Viele Jahre später fanden nicht
wenige weibliche Wesen dieselben körperlichen Merkmale eher anziehend. Viel-
leicht liebten sie das Animalische an Ludwig van, dazu die tolle Wolle auf des
Maestros Kopf. Bettina Brentano beispielsweise zeigte sich entzückt von seiner
,himmlischen Stim, die von der Harmonie so edel gewölbt ist, daß man sie wie ein
herrliches Kunstwerk anstaunen möchte<. Auch die schwalzen Zotteln machten
sie ganz schwach - leider nicht schwach genug, den ihr zutiefst Geneigten zu ehe-
lichen. Statt seiner nahm sie so einen langen Lulatsch von Dichterjüngling.
Überhaupt spielten die Frauen keine sehr positive Rolle in Ludwig vans Leben.
Wenn man den weiteren Verlauf seines L,ebens nach der Grundschule betrachtet,

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stellt man im Gegenteil zur größten Bestürzung fest, daß das weibliche Geschlecht
konsequent seinen eigentlichen Untergang vorantrieb, den Vater Johann lediglich
einzuleiten die Ehre und das Vergnügen besessen hatte. Der Floh in Ludwig vans
Ohr repräsentierte im Grunde nichts weiter als die Vorhut des Verderbens, den
Ein-Mann-Spähtrupp, der schon mal das Gebiet in des Komponisten Gehirnwin-
dungen strategisch sondieren sollte. Wäre ihm nichts und niemand mehr nachge-
folgt, hätte es nicht zwangsläufig zu den späteren Kampftrandlungen innerhalb des
Beethovenschen Charakterkopfes kommen müssen. Es ist wahr, daß der Floh so
manchen Schabernack mit Ludwig van trieb - war er doch ein äußerst renitentes
Exemplar und erst kürzlich einem Bonner Zirkus entlaufen -; und bereits hier ist
ein erster direkter Zusammenhang zwischen Schwerhörigkeit und Wohnungs-
wechselwut des Meisters zu erblicken. Der Floh war ein Springinsfeld, und Lud-
wig van, der mußte halt mit. Nur so ist es zu erkldren, daß der zweiundzwanzig
Lenze zählende Ludwig van, der sich damals noch einbildete, alles ordnungs-
gemäß hören zu können und den festen Vorsatzhatte, sich in der Wienör Donau-
metropole niederzulassen, dort nicht weniger als dreilSigmal umzog. Innerhalb der
Stadtgrenzen wohlgemerkt. Und doch hafte diese erste Wiener Städtetour mit
Kurzaufenthalten einen vergleichsweise harmlosen Hintergrund.
Dann schlug das Schicksal zu, und zwar in Gestalt einer Frau. Viele sollten ihr
folgen wlihrend des Meisters Lebenslauf, obwohl nicht eine von ihnen namentlich
genannt wird in den ach so zahllosen Biographien. Die einzigen weiblichen Men-
schen, die tatsächlich dort Erwähnung finden, sind o.g. Bettina mit ihrer Vorliebe
für schöne Stim, eine gewisse Theresa Malfatti, die den unschönen Rest von Lud-
wig ebenfalls verschmähte, sogar nachdem er ihr das Angebot gemacht hatte, ihr
seinen Taufschein zn zeigen (was ja wohl nicht halb so schlimm gewesen wäre
wie seine Briefmarkensammlung). Dann gab's da noch die Frauen der Brüder
Kaspar Karl und Johann, die Ludwig van so wenig zusagten, daß er den Kontakt
abbrach, denn trotz seiner Ratschläge wollten sich beide Geschwister keinesfalls
von ihren Ehefrauen trennen. Solch ein Mangel an Solidarität im Angesicht Lud-
wig vans ungewünschter Ehelosigkeit scheint auch dem heutigen Betrachter in
höchstem Maße verdammenswert. Klar, daß die Brüder zunächst für ihn gestor-
ben und begraben waren, zumindest so lange, bis er wieder Geld brauchte.
Man kann leider nicht mit Sicherheit sagen, ob Ludwig van in jungfräulichem
Zustande verblich, ja nicht einmal, ob man bei chronischer Gelbsucht überhaupt
von >Verbleichen< sprechen darf. Über keines dieser Themen klärt uns die aus-
führliche Autopsie auf, die am Meister Sekunden nach dessen Ableben von zahl-
reichen Chirurgen, unpraktischen Arzten und Salbadem durchgeführt wurde.
Viele Köche verderben den Brei, wie man weiß, und auf einmal standen Ludwig
vans Hörorgane in einem Gläschen Spiritus auf dem Nachttisch des Sektionsdie-
ners Anton Dotter herum - niemand weiß, wie das geschah, und wie sie dann

70
gtlnzlich verschwanden. Die Ohren werden heute noch gesucht, aber eine Beloh-
rrung gibt es unglücklicherweise nicht, sonst wziren inzwischen bestimmt etliche
llur wieder aufgetaucht. Sollten Sie zufällig auf die Dinger stoßen, senden Sie sie
f'rcundlichst an Ihr nächstgelegenes Beethovenhaus (aber Vorsicht: nicht überall,
wo außen Beethoven dransteht, war auch Beethoven drin!), vorzugsweise an das
irr Bonn, wo man bereits die modischen aus Klavierdraht gefertigten Augengläser
rlcs Kurzsichtigen sowie seine Hörrohrsammlung aufbewahrt.
Obwohl Ludwig van niemals vor sogenannten hohen Herrschaften katzbuckel-
lc, fühlte er sich irgendwie an Wien und seine Fürsten gebunden, nicht zuletzt weil
e in gewisser Erzherzog Rudolf ihn sehr gern mochte und sich freiwillig für die

Slellung als Ludwig vans Goldesel und Tischleindeckdich beworben hatte. Lud-
wig hatte das Angebot großmütig angenornmen. Er hielt ein recht strenges Regi-
rttent über seinen unbegabten Klavierschüler Rudolf; jedoch trug der lebenslange
l.interricht entsprechende Früchte: Der Laienmusiker lemte mit Beethovens Hilfe,
scin Banausentum zu höchsten Höhen zu treiben und erntete prompt begeisterte
Mißfallensstürme aus edelsten Kreisen. Ludwig van war sehr stolz auf seine Lei-
slung, die ihn bisweilen fast seine Wunderkinderzeit vergessen ließ, als er nur in
tlcs Vaters Schwitzkasten zu einem >Diener<, durch des Vaters Tritt vors Knie zu
cinem Knicks überredet werden korurte. Allerdings hatte der überschwengliche
l'inanzielle Dank des Erzherzogs eine unangenehme Nebenwirkung - Ludwig van
sah sich mehr oder minder gezwungen, in den Grenzen Wiens wohnen zu bleiben.
Llrsprünglich war das sein größter Wunsch, seine Erfüllung gewesen, und daran
hätte sich ohne die Frauen nichts ändem müssen. Aber dann wurde Wien zu Lud-
wigs Kerkerzelle, letztendlich gar zur tödlichen, fleischfressenden Falle.
Apropos Kerker. Nicht von ungef?ihr spielt Ludwig vans einzige Oper in einem
Kerker, einem tiefen, wo die eingesperrten Männer nur einmal vor die Tür in den
llof gelassen werden, um ungesiebte Morgenluft zu wittern, sich als Gefangenen-
chor aufzustellen, ein Liedchen zu frällem (>>Oooo we-he-helche Lu-hu-hust, i-hin
liei-hei-her Lu-hu-huft -<<) und brav sofort wieder in ihre Stübchen zurückzumar-
schieren. Nur einer haust allein und unterirdisch, wegen seiner Sonnenallergie,
rrnd bei Wasser und Brot, wegen seines Übergewichts. Die zu g:utet Letzt an füm
praktizierte Null-Diät schlägt besonders gut an, so gut, daß schon sein Grab
geschaufelt werden soll. Das alles ist dem Opernfreund verständlich. Die Tatsache
jedoch, daß des hungrigen Mannes Gattin sich als Mann und Türschließer bewor-
hen hat, sich in beiden Eigenschaften sogar mit des Oberschließers Töchterlein
verlobt, bloß um den Ehemann einmal richtig leiden sehen zu können - pfui Teu-
l'cl. Und das Schlimmste an der Sache ist: Sie tut alles in ihren Kräften Stehende,
rum diejenige zu sein, die das besagte Grab ausheben darf! Die Oper wurde zu
Ludwig vans Lebzeiten in drei verschiedenen Versionen aufgeführt und jedesmal
cin Reinfall; kein Wunder, kann man da nur sagen. Die Leute wußten halt nicht,

7t
was Ludwig wußte über das wahre Wesen der Frau, der barmherzigen und
mildtätigen.
Ludwig vans eigentlicher Opfergang begann um das Jahr 1798 herum, als er
das Häuschen der Wiener Würstchenbraterswitwe Eleonore W bewohnte. (Merk-
würdig ist, daß Fidelio, das grausame Mannweib, vor seiner Verlobung mit Mar-
zelline Oberschließer ebenfalls Leonore hieß.) Die Witwe schien dem Meister von
Anfang an außerordentlich gewogen; sie ließ jedenfalls keine Gelegenheit aus, mit
ihm herumzukokettieren. Offensichtlich wollte sie mit Ludwig van ihren zweiten
Frühling verleben, während dieser nicht einmal Lust auf einen ersten verspürte -
zumindest nicht mit Eleonore. Schade eigentlich, denn der Witwe Warzen und
Pusteln harmonierten so vollkommen mit Ludwigs Pockennarben, daß es eine
Pracht war. Sie besaß auch fast so viele Haare wie ihr Mieter, nur nicht unbedingt
auf dem Kopf. Ludwig van bastelte damals bereits an seiner dritten Symphonie
herum, einem Machwerk in Es-Dur. Die Notenblätter ließ er immer in seinem
Stübchen herumliegen, auf dem Klavier. Er ahnte ja nicht, was die Witwe für ihn
in petto hatte ...
Eleonore W. hegte also Frühlingsgefühle für Ludwig, besonders im Hochsom-
mer jenes schicksalentscheidenden Jahres. Ihr Blut geriet darob schrecklich in
Wallung, und jeder Anflug von gesundem Menschenverstand, den sie vielleicht
einmal besessen hatte, machte sich unwidemrflich auf und davon. Ihre eindeuti-
gen Anspielungen überhörte der Maestro geflissentlich - offenbar haffen seine
Ohren bereits größeren Schaden genommen, als er wahrhaben wollte. Eleonore
ließ sich von ihrer vermeintlich leichten Beute nicht abbringen. Sie zwängte ihren
drallen Oberbau in das knappste verfügbare Mieder, zeigte so wenig Bein wie
möglich (in ihrem Fall eine durchaus weise Entscheidung) und stratrlte Ludwig
van mit ihrem himmelblauen Auge an wie ein Halogen-Scheinwerfer.
Bei allem Übersehen bzw. -hören der offensichtlichen Anzeichen wurde es
Ludwig doch zunehmend mulmig zumute. Er schrieb weiter an seiner Symphonie
und spielte den Gleichgültigen, trotz der Schokoladen-Betthupferl, die Eleonore
ihm Abend für Abend aufs von ihr aufgeschüttelte Kissen legte, trotz der parfü-
mierten Briefchen mit den durchbohrten Herzchen und den Initialen E und L.
Solange sie ihrer Zuneigwg so vagen Ausdruck verlieh, bestand sicherlich keine
Gefatr, geschweige denn Veranlassung zum Handeln, sagte sich der Meister.
Doch dann, eines Tages im Mai oder August, kehrte Ludwig van aus der Schenke
zurück ins Häuschen, setzte sich ans Klavier und - erstarrte. Was stand dort quer
auf dem Deckblatt seiner Symphonie in Es-Dur, in ekliger, spinnenartiger Hand-
schrift? Welch infames Wort war dort gekrakelt, graffitigleich hinter >sinfonica<,
als sei's eine illegitime Nachgebun, geflossen aus des Meisters eigner Feder?
EROTICA stand dort, ein garst'ger Wechselbalg, der sich mit der Hand des
Ludwig van aufs innigste verband zu >Sinfonica EROTICA<.

72
Und der Meister, kaum ward er gewahr des vulgären Sakrilegs, zerraufte sich
tlie Mähne in biblischer Verzweiflung. Er streute Asche auf sein Haupt und wein-
te bitterlich. Fast hätte er sich traditionsgemäß die Kleider zerrissen, als ihn davor
der Gedanke an seine Zimmerwirtin W. bewahrte, die auf solch eine Gelegenheit
nur spekulierte und sich flugs des schutz- und kleiderlosen Komponisten bemäch-
tigt hätte. So ergriff Ludwig van die einzige Gegenmaßnahme, die er vollendet
heherrschte, alldieweil er sie seit seiner Jugend praktizierte: Er flüchtete sich in
einen (Entschuldigung, aber man muß das Kind beim Namen nennen) ausge-
wachsenen Durchfall, der jeder Beschreibung spottete. Nun ist vielleicht nicht
,jcdermann die Tatsache geläufig, daß Ludwig van außer seinen Ohren zahlreiche
weitaus bösartigere Krankheiten sein eigen nennen durfte. Seine geschnetzelte
l,eber stellt dabei lediglich ein altes Erbteil dar, denn schon Ururgroßvater
lJeethoven war Weinhäindler in Antwerpen gewesen, der Großvater Weinhändler
und Musiker, die Großmutter anerkannte Wein ... nun ja, ... kennerin, Vater
Johann Weinkonsument en gras und en detail und Heldentenor nach jedem
Großeinkauf. Auch Ludwig van machte regelmäßig ein Faß auf und leerte es,
bevor der Inhalt sich verflüchtigte. Die Leber machte ihm schließlich zwar den
Garaus, aber schon vorher konnte Ludwig auf ein innerlich buchstäblich zutiefst
hewegtes Leben zurückblicken - dreißig Jahre Durchfall, noch dazu von der chro-
rrischen Sorte.
Es ist wahr, daß man von solchen Dingen in des Meisters hehrer geistiger
Gegenwart nicht so unverblümt sprechen sollte. Ohren sind in Ordnung, die rie-
chen nicht so stark, aber Eingeweide... Dem kann man mit Fug und Recht ent-
gegnen, daß Ludwig van selbst so häufig von seinen >Darmzufällen< und seinem
Unterleibskatarrh berichtete, daß gut die Hälfte seiner Konespondenz mit Freun-
den davon getränkt ist. Sogar den Damen gegenüber erwähnte er schonungslose
Binzelheiten, sttilpte seine Innereien nach außen und breitete sie förmlich vor
ihnen aus, und so mag sich mancher fragen, ob er die bei der Weiblichkeit einge-
heimsten Körbe nicht vielleicht seinem allzu freimütigen, wahrheitsliebenden
Charakter verdankt. Es soll Frauen geben, denen so etwas gewaltig stinkt.
Nach der Sache mit Witwe W. und der 3. Symphonie nahm der Krankheitsver-
lauf eine gänzlich neue Richtung. Der Durchfall war schon immer dagewesen,
tloch nun mußte der Meister ihn gezielt einsetzen, um sich Frau W. vom Hals und
Rest des Körpers zu halten. Ahntictr wie das gemeine Stinktier, welches seine
I)rüsen benutzt, lernte Ludwig van auf andere Art mit seiner Diarrhöe umzugehen,
nach dem Motto: Nicht immer, aber immer öfter oder Man gönnt sich ja sonst
rrichts.
Unglücklicherweise fand der Meister trotz seiner naturgegebenen Schutzme-
chanismen in der Witwe W. seine unumschränkte Meisterin, seine Dämonin, der
cr nicht entrinnen konnte. Frau W. roch den Braten bzw. den Plan ihres Mieters

73
a\f zwanzig Meter Entfemung. Ihn selbst übrigens auch. Sie ließ nicht von seiner
Person ab, im Gegenteil - sie roch sich frirchterlich an ihm. Er hatte nicht auf sie
hören wollen, hatte nicht die Erotica für sie geschrieben (offenbar wartete er mit
der Widmung der Dritten noch auf Aufstieg und Fall eines gewissen Napoleon).
Sie wußte, was sie zu tun hatte, um den Mieter in Wahnsinn und Ruin zu treiben.
Seine Ohren waren sein wunder Punkt: Dort mußte man den Hebel ansetzen. Frau
'W.,
zum einen Liebhaberin von Gassenhauern und Schlagern allerArt, zum ande-
ren mit absoluter Schlüsselgewalt über Ludwigs Stübchen ausgestattet, machte
dem Meister regelmäßig das Bett, wie wir wissen, ohne sich jemals hineinlegen
zu dürfen. Sie verpaßte ihm ein Ding, das er nicht wieder loswurde und den Floh
in seiner zerstörerischen Aktivität nicht bloß unterstützte, sondem hundertfach
übertraf. Einen Ohrwurm nämlich, heimlich spätnachmittags unters Kopfkissen
geschmuggelt. Sie hatte ihn sich selbst auf dem Prater eingefangen, als eine
Marschmusikkapelle vorüberzog und ihn und andere seinerArt achtlos hinter sich
ließ. Witwe W. hob ihn auf für diese spezielle Gelegenheit; welchb Ironie lag
darin, ihn einem Undankbaren zu vermachen, der, wenn schon nicht die Erotica,
nicht einmal die Schicksalsmelodie für sie komponieren wollte!
Prompt frng sich Ludwig van den Wurm ein. Das Biest verschaffte sich Zutitt
dwch das ohnehin schwächere linke Ohr und biß sich durch. Obwohl Ohrwürmer
die Angewohnheit besitzen, zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder hin-
auszugehen (wobei die hartnäckigeren dafür melu Z,eit brauchen), nistete sich das
soldatisch geschulte Exemplar auf Dauer in Ludwig vans Him ein und errichtete
dort ein derart ausgeklügeltes System von Tunneln und Schützengräben, wie es
höchstens noch im Ersten Weltkrieg bei Verdun seinesgleichen finden sollte. Kein
Wunder, daß während dieser Grabarbeiten der Komponist verzweifelt schrieb: >...
meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort<. Ludwig van war in der
Tat undankbar, denn immerhin hörte er doch, wie er mit eigenen Worten bezeugt,
dank des Wurms ständig etwas.
Der Meister vermutete intuitiv, daß Witwe W. etwas mit seiner Hörstörung zu
tun hatte, und verließ die gastliche Stätte. Das Klavier und die Dritte nahm er mit.
Doch längst hatte die mörderische Spinne in Frauengestalt ihr Netz über ganz
Wien und Umgebung gespannt, wo Ludwig finanziell gefangen war. Sie zog sämt-
liche Fäden seines weiteren Schicksals, denn sie kannte all seine zukünftigen Ver-
mieterinnen. Nur alleinstehende Wiener Frauen vermieteten gezwungenermaßen
ihre Häuschen, um sich ein karges regelmäßiges Einkommen zu sichern. Witwe
W. pflegte mit jeder von ihnen Umgang, sei es beim wöchentlichen Reihum-Kaf-
feekränzchen oder bei den Sitzungen des Wiener Vermieterinnen-Schutzbundes
e.V.; und nichts war leichter, als ihren Schwestern im Geiste mit prophetischem
Gehabe das Kommen des Großen Stinkers zu verheißen. Die Schamlose ver-
schwieg nicht einmal die mißratene Entstehungsgeschichte der Erotica.

'14
Wir alle wissen, was dann geschah: Ludwig van zog um und um und um, bis
ihm samt Floh und Wurm im Ohr ganz schwindlig wurde. Das Wohnungs-Karus-
rcll drehte sich immer schneller, bis er zum Schluß nicht mehr recht wußte, wo in
Wien er noch nicht gewohnt hatte. Zog er um, befand er selbst sich manches Mal
in der einen Behausung, das Klavier in einer anderen und die Erotica, pardon, die
Dritte Symphonie in einem Außenbezirk der Stadt. Ein Tollhaus ist rein gar nichts
tlagegen. So verschliß der Gute über sechzig Wohnungen, Kurunterbringungen
nicht mitgerechnet. Als er anno 1802 sein berühmtes, von Bruder Kaspar Karl in
(zugegeben) guter Absicht gefälschtes Heiligenstädter Testament schrieb, ver-
suchte der schwer selbstmordgeftihrdete Meister seiner Umwelt die wahre Ursa-
che seines cholerischen Benehmens zu verdeutlichen. Nur in der folgenden Urfas-
,rrng wird das Ausmaß der Tragödie versfiindlich:

>Für meinen Bruder Carl und den anderen (vermaledeiter Apotheker).


O ihr Menschen die ihr mich für feindseelig störrisch oder misantropisch haltet
usw. Den Rest spare ich mir. Ich weiß doch genau, was ihr von mir denkt, und ich
l'inde es hundsgemein, daß ihr hinter meinem Rücken über mich herzieht, wo ich
es weder hören noch sehen kann - das zumindest glaubt ihr! Ich kenne das Men-
schengeschlecht, insbesondere die Frauenzimmer, welche mich empfindlichst pie-
sacken und inkommodieren und eine rechte gottgesandte Plage sind. Doch womit,
o ihr Götter, habe ich sie verdient? Ich begehrte niemals auch nur eine von ihnen!
Meine Tage verbringe ich in Furcht, mit Heulen, Wehklagen und Durchfall, und
meine Ohren wollen nicht besser werden. Die vielen gelehrten Doctores, die
meine Klinken abwetzen, quälen mich fast so sehr, daß ich glauben könnte, auch
sie seien verkleidete Weibsbilder. Der Mechanicus Mdlzel hat mir eine Hörma-
schine gebaut; ich fürchte aber, er versteht sich besser aufs Metronom, denn jetzt
macht es in meinen Ohren nur mehr tick-tack. Also tick im linken und tack im
rechten. Das dünkt mich ein deplorabler Zustand. Auch die lauwarmen Donaubä-
der, die Einläufe, Durch- und Ausläufe schwächen meine ohnehin erbärmliche
Konstifution. Irgendwann in nächster Zeitfließt mein armer Körper einfach durch
den Abfluß im Abort, ihr werdet sehen. Man hat mich galvanisiert, electrifiziert
und magnetisiert, und die Haare stehen mir immer noch zu Berge. Und doch sind
die Frauenspersonen eine weit schlimmere Qual. Bruder Carl, und auch du, Apo-
theker, trennt euch von den euch angefrauten Furien, solange es noch Zeit istl
Denn wisset, meine Brüder: Unter Männern kann ich's euch gewiß sagen, wer
mich hier in Wien verfolget vom ersten Hahnenschrei bis zur Sperrstunde im Heu-
rigenlokal. Eine böse Verschwörung ist gegen euren Ludwig van im Gange, die
mich wohl bald ins Grab treiben muß. Doch kommt derletzte Tag, werde ich ihn
fieudig begrüßen. Meine frinfte Symphonie habe ich gerade beendet, in c-Moll;
ihre Uraufführung plane ich erst für das Jahr 1808, welches ich nicht mehr erle-

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ben möchte. Sie soll >Schicksalsmelodie<, ich meine >Schicksalssymphonie<
geheißen werden. Meine dritte Symphonie will und will nicht fertig werden,
Dabei fehlt nur noch der Titel. Man hat mir mehr als einmal einen Vorschlag
unterbreitet, aber -
Jetzt sag' ich's frank und frei heraus: Die Weibsbilder wollen mir ans Leder und
ans Leben. Bei keiner kann ich's lang ertragen, nach drei Tagen treibt es mich wie-
der fort. Es ist jedesmal dasselbe Spielchen, welches sie mit mir spielen. Meine
dritte Symphonie, meine stZindige Begleiterin in dieser Zeit der Betrübnis, pflegt
auf meinem Pianoforte herumzuliegen, wenn ich mich ins Wirtshaus begebe.
Wenn ich dann zurückkehre zu später Stunde, was finde ich aufs Papier gekritzelt?
Immer und immer dasselbe Schreckenswort, welches meine Ohren böser rauschen
macht denn sonst und meine Gedärme zus:rmmensacken, ja fast gänzlich zu
Boden fallen läßt. Und ich darf nicht fort aus Wien! Erzherzog Rudolph, dieses
arme Würstchen von Fürstchen, wollte mir weismachen, der Antonio Salieri hätte
seine Finger im Spiel, das heißt in meinen Ohren. Es ist wohl wahr, daß ich früh
Unterricht genossen bei dem Mann, und daß er Genies wie meineigleichen mit
Vorliebe ins Grab treibt, und doch - das geht zu weit!
So gehabet euch denn wohl, Bruder Carl, und auch du, Apotheker. Du magst
ein Mistkerl sein, gleichwohl, du bist ein Mann. Ich gehe itzo meine Bäder neh-
men. Dann kommt der Thee fürs Ohr. Dann Gute Nacht. Adieu. Bald ist's getan.
Euer geliebter Ludwig van.
P.S.: Bevor ich's vergesse, Carl, du denkst doch dran, mir mal wieder eine Kiste
Liebfrauenmilch vorbeizuschicken? <

Wie wir wissen, dauerte Ludwig vans Leidenszeit nach Abfassen des o.g. ergrei-
fenden Zeugnisses noch ein Vierteljahrhundert. Zum Troste sei vermerkt, daß er
nicht zerfloß, wie er meinte, sondem strenggenommen eher zerplatzte, und daß er
trotz diverser Exhumierungen nach seinem Tode nicht annähernd so oft umziehen
mußte wie vorher.
Neuerdings kursierende Gerüchte führen Beethovens (rein physisches) Ableben
auf den übermäßigen Genuß von bleiverseuchtem Donaufisch zurück - nicht etwa
auf den Alkohol, im welchem dieses Tier, dem Menschen einmal einverleibt, so
geme schwimmen möchte. Daß in der Tat solch ein vergifteter Fisch viel üblere
Konsequenzen nach sich zu ziehen vermag als selbst die schönste und üppigste
aller Zierrosen der Leber, beweist uns im nächsten Kapitel aufs überdeutlichste
Beethovens Leidensgenosse Schubert. Und das obendrein weit, weit eindringli-
cher, als es sichjede fischbratende Gerüchteküche auch nur träumen ließe ...

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Schwämmlein vor dem Fischgericht
Schuber t, ß r anz (17 97 -1828)

Der Schubert Franz gehört ohne Frage zu den Komponisten, die uns musikalisch
wie auch menschlich am innigsten ans Herz gewachsen sind. Zwar kennen die
meisten unter uns ihn nicht mehr persönlich; so viel darf man getrost vorausset-
zen. Trotzdem vermeinen wir doch, ganz tief im Grunde unserer Natur, den Franz
zu begreifen und liebzuhaben, als sei er unser leibhaftiger Bruder, gewissermaßen
der Franz in uns allen. Der Franz mit seiner Gemütlichkeit, der wienerischen; der
Wonneproppen mit dem stets vollen Glase Wein; der Rauschgoldengel mit den
üppigen Löckchen und den wunderbaren Liedern; der kleine Schwerenöter mit
der Lustseuche, der anhänglichen - das alles macht den Franz aus, den wir schät-
zen und verehren. Einunddreißig Jahre ist er alt geworden, was auf den ersten
Blick nicht übermäßig viel erscheint, doch er hat die Zeit genutzt. Überhaupt kam
sie ihm sicherlich manchmal viel schöner vor als seinen Freunden, die nach sei-
nem Ableben samt und sonders noch ein freudloses Dasein mit Eheweib, daher
ohne Wein und Gesang fristen mußten, ihre Beamtenpension und sonstige Diäten
verzehrten und ungeduldig auf ihr Ende warteten, denn ihr Franz, der war ja lang
nicht mehr.
Franz hatte in der ihm vom Schicksal vergönnten Lebensspanne eigentlich auch
genug komponiert, um in Ruhe Federkiel, Notenpapier und Löffel abgeben zu
können. Da ging es ihm ähnlich wie Mozarfi Alles Musikalische kam ihm zuge-
llogen, und dann schrieb er und schrieb er, bis entweder die Tinte verbraucht war
oder ein vom Zuschauen gelangweilter Freund ihm einen Klaps auf den Hinter-
kopf gab, um den dort befindlichen Komponiermechanismus abzustellen. Die
Ausschweifung war nun einmal sein Leben, und zwar in jeder Hinsicht, so wie sie
später sein Tod wurde. Franz aß und trank sehr viel. Den meisten Überschuß
konnte er gottlob künstlerisch, d.h. auf Notenpapier, wieder ausscheiden; der Rest
blieb an seinem wohlgerundeten Alabasterkörper h2ingen. Man verbindet mit
Franz hauptsächlich seine furchtbar vielen, dafür wohltuend kurzen Lieder. Wenn
man dem Franz im Scherze ztxief >>Franz, Lieber: ein Lied, zwo drei vier!<<, dann
hatte der Gute das gewünschte Lied bei >zwo< bereits fertiggestellt, sauber abge-
schrieben und eingeübt.Franzübernachtete häufig bei seinen Freunden, und man-
che legten ihm in weiser Voraussicht ein paar Kubikmeter Papier aufs Nachtka-
sterl. Als sie am nächsten Morgen nachschauten, was das bei ihnen übemachten-
de Heinzelmännchen geleistet hatte, fanden sie, über den groben Daumen gepeilt,
die Menge an Noten vor, die dem Gesamtlebenswerk des durchschnittlichen
'17
Wald- und Wiesenkomponisten (damals wie heute) entspräche. Franz hatte den
Überblick sowieso längst verloren. Er schrieb Symphonien (darunter selbstver-
ständlich eine Unvollendete, wollte er doch später würdig neben Beethoven begra-
ben sein), haufenweise Kammermusik, Tonnen von Opemfragmenten (komplette
Opem mochte er offenbar nicht), überhaupt alles Mögliche, und alles möglichst
im Übermaß. Darin lag seine Stlirke. Er konnte im Grunde genornmen nur eines
nicht: freiwillig wieder auftrören, wenn er sich erst einmal an seinem GZinsekiel
festgebissen hatte.
Das Essen und Trinken liebte Franz fast ebensosehr wie das Beschreiben von
Notenpapier - vielleicht sogar noch ein klein wenig mehr. Zwei Dinge nämlich
machen uns stutzig, d.h. stutziger als sonst. Franzens wohl bekanntestes Lied,
>Die Forelle<, die wegen großer Nachfrage später von ihm auf fünf Leute verteilt
wurde (wobei wahrscheinlich keiner der Beteiligten genug mitkriegte, besonders
der Kontrabaß nicht), hat immerhin ein Nahrungs- bzw. Genußmittel zum Thema
und Inhalt. Außerdem verbat sich Franz bei der Neuverteilung der Forelle ganz
das Singen der am Ohrenschmaus Beteiligten, damit keiner im Quinteit was in den
falschen Hals kriegen sollte von den Gräten. Geiger haben es beim Singen
ohnehin besonders schwer, wie man weiß, wegen ihres verkrampften Unterkie-
fers. Die zweite Sache, die uns stutzen macht, liegt in Franzens frühem Verzicht
auf eine lebenslange Lehrerposition begründet. Er hatte immerhin drei Jahre dafür
gebüffelt, Aushilfsnebenunterlehrergehilfe zu werden wie der traurige Rest seiner
großen Familie. Dann begehrte er plötzlich den Job nicht mehr. Da sogar Ober-
lehrer damals als furchtbar arme Schweine galten, was das Finanzielle anging
(und wer kann schon von Luft und Liebe seiner Schüler leben!), wollte Franz das
tun, was er liebte: komponieren, essen und trinken. Ironischerweise hielt der Vater
die freie Musikerlaufbahn für eine brotlose Angelegenheiti Frunz, der verfressene
kleine Schelm, hatte allerdings weniger an Brot gedacht und konnte es mit Fleisch
und Wurst auch recht gut aushalten. Das haben er und sein Körperumfang schließ-
lich allen Skeptikem bewiesen.
Leider scheint damals Wien für frei musizierende Junggesellen ein außeror-
dentlich gefährliches Pflaster gewesen zu sein. Denken wir nur an den armen
Beethoven, den die Frauenwelt mitleidlos dahirnaffte. Franz erging es merkwür-
digerweise in vielen Einzelheiten sehr ähnlich. Es verwundert schon folgendes
Detail: Kaum hatte unser Franz mit sieben anderen Ludwig vans Sarg zur Gra-
besruh getragen - schwupps! lag er auch schon neben ihm. Sein Wunsch nach
guter Nachbarschaft wurde demnach sogar für Franzens Geschmack etwas zu fräh
berücksichtigt. Diese Begebenheit stellt jedoch lediglich die Spitze eines Eisber-
ges dar, die Ausgeburt einer kalten Scholle, wie sie nur im Herzen einer ver-
schmähten Frau wachsen und gedeihen kann. Daß Franz ein Opfer seiner Flei-
scheslust wurde, ist hinl?inglich bekannq während jedoch die eine Hälfte aller Bio-

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graphen seinen Tod lieber ganz verschweigt, als den Grund desselben auch nur
anzudeuten, glaubt der Rest ernsthaft an die vernichtende Wirkung der Syphilis.
Dieser weitverbreitete L:rlum, dem man - zugegeben - in der Tat allzuleicht erlie-
gen kann, hat hier keine Überlebenschance. Immerhin sollte man vermerken, daß
die Syphilis-Sage bzw. Lues-Lüge so hinterhältig ausgeklügelt worden war, daß
Franz höchstpersönlich niemals an ihr zweifelte, ganz zu schweigen von den ihn
darob falsch behandelnden Arzten.
Abgesehen von Franzens uraltem Lehrerstammbaum sind zwei Dinge zu seiner
Erbsubstanz zu untersuchen (irgendwie kommt es immer so hin, daß Merkwür-
digkeiten paarweise auflreten). Erstens: Franz war ein ausgesprochenes Wasser-
wesen. Das scheint auf den ersten Blick sowohl irrelevant als auch idiotisch, und
letzteres ist es auch; trotzdem übte das wässrige Element auf Franzens Lebensweg
eine nicht zu unterschätzende Wirkung aus. Geboren ward Franz am 31. Jänner,
d.h. er war ein echter Wassernann mit allen Schikanen. Ob die Fische seinen
Aszendenten bestimmten, weiß Neptun allein - aber sein Geburtshaus beweist
unwiderlegbar eine schicksalsträchtige Verknüpfung mit dem Wasserzeichen, die
unsereinem im Hinblick auf spätere Geschehnisse kalte Schauer über den Rücken
jagen könnte. Franzens Geburtshaus, in dem er das Dutzend der elterlichen Kin-
derschar vollmachte, hieß >Zum roten Krebsen<, was nicht nur auf ein x-beliebi-
ges Wassertier, sondem ein ganz hartgesottenes Exemplar desselben hinweist!
Zudem klingt der Künstlername des Hauses (welches bürgerlich Nußdorfer-Str.
54 hieß) sehr nach einem Ort, wo man Feuchtes finden kann, und man weiß ja:
Fisch muß schwimmen. Das lernte Franz demnach schon mit dem ersten Fläsch-
chen.
Die zweite Angelegenheit, über die wir uns den Kopf zerbrechen wollen, ist eng
mit dem oben Erwähnten verknüpft. Dazu, daß man Franz in seiner Jugend für
einen Fisch hielt, wurde zwar nie etwas Konkretes überliefert - doch es müssen
Vermutungen in dieser vagen Richtung im Umlauf gewesen sein. Zumindest hat
nicht jedermann Franz für ein normales menschliches Wesen gehalten. Die detail-
lierteste Beschreibung der Schubertschen Merkmale findet sich (übrigens urkund-
lich festgehalten, versiegelt und verbrieft) in der wissenschaftlichen Abhandlung
eines gewissen Georg Franz Eckel. Nun war besagter Eckel seinerzeit Leiter des
Wiener Veterinärinstituts; man fragt sich mithin erschrocken und beklommen,
warum in aller Welt man den jungen Franz einer tierörztlichen Untersuchung
unterzogen hat ... Des weiteren muß es während seiner Schulzeit im Wiener Kon-
vikt zu Zwischenf?illen gekommen sein. Franz schied aus besagtem Konvikt aus,
nachdem, wie es heißt, seine >Mutation< unwidemrflich vorangeschritten war. Das
klingt nun wirklich unheimlich, zumal man damals noch nicht so genau über ato-
mare Störftille, Umweltverseuchung und Besuche außerirdischer Lebensformen
informiert war wie heutzutage. Offenbar wußte man in Franzens Schule mit

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Mutanten wie ihm nichts anzufangen. Möglicherweise hatten seine körperlichen
Veränderungen etwas mit einem Stimmbruch zu tun, denn im Konvikt wurde eine
Menge gesungen - eigentlich die ganze Znitnbror, und wer sich im Zuge dieser oft
akrobatischen Anstrengungen die Stimme brach, flog 'raus. Der mutierte Franz
sang nicht mehr wie andere kleine mlinnliche Menschen. Am 26. Juli 1812 soll er,
gemäß einem Vermerk auf einem Notenblatt, >>zum letzten Mal gekräht< haben.
Gekräht!Wie schrecklich. Zwar deutet diese Notiz nicht unbedingt auf Schuberts
angeborene Wassernatur hin, doch sie entkrdftet nicht etwaige Zweifel an seinem
Menschsein. Auch Hühnervögel spielten in Franzens Leben eine ganz entschei-
dende Rolle, wie man noch sehen wird. Und vielleicht befand Franz sich gegen
Ende seiner Schulzeit gerade in der Mauser -
Außerlich allerdings konnte man Franz nicht allzuviel ausgesprochen
Unmenschliches ansehen. Sein Körperbau hatte den berühmten >pyknischen<
Charakter, wie er schon Beethoven erfolgreich angehängt wurde. (Wären die bei-
den sich zuLebzeiten irgendwo begegnet und nicht erst auf dem Friedhof, hätten
sie sicher ein nettes Pyknick im Wiener Wald arrangiert.) Franz galt sogar damals
als klein von Gestalt. Man kennt seine exakten Maße: 4 Schuh, 1l ZoIl vnd 2
Strich. Legen wir nun vier Schuh aneinander (nicht vier Fuß, derur die Länge
Franzens winziger unbeschuhter Füße ist ein Risikofaktor), dazu den Rest,
bekommen wi ganz genau 1,57 m heraus, wohlgemerkt k. und k. österreichische
Meter mit Doppeladler. So ziemlich alles an Franz war klein und knubbelig und
niedlich. Er besaß laut o.g. tierdrztlichem Gutachten >stramme Muskeln ohne
Ecken, mehr gerundet<, >Brust und Becken breit, schön gewölbt<, dazu >braunes,
üppig sprossendes Lockenhaar< sowie eine kleine, stumpfe, etwas aufgewölbte
Nase und diverse Kleinigkeiten. Sein Freund Hüttenbrenner ergänzt, daß der
extrem kurzsichtige Franz seine Brille sogar nachts aufbehielt - ob zur Tarnung
eventueller Fisch-, Frosch- oder Hühneraugen, wird jedoch nicht erwähnt.
Etwa mit zwanzig Jahren begann der Gute, ausgesprochen dick, ja sogar etwas
fettig za werden. Er wuchs sehr eindrucksvoll in die Breite, der kleine Mutant.
Seine Bekanntschaft liebte das Behäbig-Gemütliche an seiner dicklichen Statur;
er war sozusagen jedermanns dickster Freund. In dieser Eigenschaft erntete er
Kosenamen wie >Schwämmlein< oder, fast noch herziger, >Talgklumpen<. Alle
Gerüchte, nach denen man Franz ein Wiener Würstchen oder gar eine >Wiener
Walze< nannte, blieben dagegen unbestätigt. Bei aller Kleinheit und Masse des
Körperumfangs nämlich blieb Franz bis zu seinem Ende quicklebendig und
äußerst beweglich. Er latschte mit Vorliebe durch den Wiener Wald, so weit ihn
seine zarten Füßchen trugen, und er liebte es durchaus, auch einmal querfeld-
ein zu springen, anstatt den geraden, gesitteten Weg zu nehmen. Das kann man
getrost so zweideutig verstehen, wie es gemeint ist. Der Schubert Franz war
nicht ganz so harmlos, wie manche glauben möchten - nicht jeder Mann, der wie

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eine fleischgewordene Putte aussieht, benimmt sich zwangsläufrg wie ein Ka-
paun.
Wer hätte beispielsweise gedacht, daß der liebe Franz, dem wohlwollende
Gemüter eine einzige Liebesnacht bzw. Liebesviertelstunde mit tragischem Aus-
gang andichten, mehr Frauenherzen gebrochen hat als die meisten Vier-Schuh-
Großen und Drei-Käse-Hochs inklusive Beethoven? Er war schon ein kleiner
Filou: Seine Jugendliebe Therese Grob wollte er partout nicht ehelichen und lie-
ber Junggeselle bleiben. Er genoß erstens das ungebundene Dasein zu sehr, woll-
te zweitens, wie er es hübsch formulierte, keine Natur-, sondern ausschließlich
Kunststücke für die Nachwelt abliefem - und drittens war ihm die Resi wahr-
scheinlich zu Grob, während Franz nach Edlerem Ausschau hielt. Ein hochwohl-
geborenes Geschöpf wie die Komtesse Caroline von Esterhi{zy, der er 1817-18
Klavier- und Gesangsunterricht erteilte, hätte dem Feinschmecker schon gemun-
det; allein sie blieb unerreichbar. Als nicht ganz so unerreichbar stellte sich der
Ersatz in Gestalt ihrer Kammeruofe Pepi Pöckelhofer heraus ... Pepi, obschon
keine geborene Esterhäzy, durfte er ungestraft Osterhasi nennen und auch sonst
allerlei mit ihr anstellen. Sie war halt ein sehr anstelliges Mädel. Und, was noch
viel besser war (zumindest für den Zusammenhalt von Franzens Leib und Seele):
Pepi verwalrte an ihrem Leibe einen Schlüssel zur Speisekammer, den sie inbrün-
stiger verteidigte als ihre Unschuld und schließlich doch ihrem Franz hingab.
Während seines ersten Aufenthalts auf dem Esterhasen-Landsitz im schönen
Ungarland unterhielten Franz und Pepi die Art von Beziehung, die man wohl
>Bratkartoffelverhältnis< nennen könnte, wenn der Franz sich mit Kartoffeln zu-
lriedengegeben hätte. >Tafelspitz< käme eher hin.
Wer dem Franz mithin unterstellen möchte, er habe sich seine ominöse Lust-
seuche nach nur einmaligem Besuch bei einem freudenspendenden Wiener
Maderl zugezogen (hierzu aufs schärfste gedrängt von seinem Freund Schober),
der verkennt unseren kleinen Liebling vollkommen. Er wußte schon selber, wo's
lang ging, d.h. wo der schnellste Weg zur Speisekammer verlief. Darum gab er
sich niemals mit Frauen ab, die nicht gleichzeitig als Königin in ihrer Küche
schalteten und walteten. Der Geruch von unumschränkter Macht, der sie umgab,
dazu der Duft von gebratenen Hühnerbeinchen, Putenbrüstchen und Hasenschen-
kelchen, ließen ihn seine angeborene Schüchtemheit in Gegenwart der holden
Weiblichkeit ganz vergessen. Obwohl von Natur aus, wie es Freund Hüttenbren-
ner ausdrückt, ein eher trockener Patron gegen das schöne Geschlecht, ja biswei-
len direkt ungalant, konnte Franz sich durchaus zusammeffeißen, frische Wäsche
anziehen und sich sogar einmal im Monat die Zähne putzen, wenn es ihn >er-
wischt<, d.h. wenn er eine exquisite Fleischlieferantin entdeckt hatte. Einer guten
Köchin verfiel der Franz mit Haut und Haaren und ohne die geringste Gegenwehr.
Diese seine Fleischeslust jedoch erwies sich als ein grober Wiener Schnitzer, ein

8l
ausgewachsener Charakterfehler, der den unmittelbaren Anlaß zu seiner frühzeiti-
gen Vemichtung in sich barg. So besteht letzten Endes doch ein Zusammenhang
zwischen Fleischeslust und Tod, nur wird dieser mißverstanden: Wenn es so schön
heißt, der Schuben Franz habe sich in aller >Unbekümmertheit und Treuherzig-
keit< mit der Syphilis infiziert, liegen hierin gleich zwei krtümer. Der Franz besaß
kein sehr treues Herz, wenn es um das Fleischliche ging, und er litt an einer Ver-
seuchung ganz andererArt, welche ihm allerdings in der Tat ein weibliches Wesen
untergejubelt hat. Und dieser Frau errichtete der Nichtsahnende auch noch ein
musikalisches Denkmal !

Wir wissen nicht, ob Franz wußte, was er tat, als er das Lied >Die Forelle< kom-
ponierte. Der Text sagt nämlich schonungslos offen alles über sein eigenes Leben
aus. Da er letzteres aber nie richtig begriff (nicht einmal das Wesen oder besser
IJnwesen seiner Krankheit), bleibt ungeklärt, ob er je sein eigenes Lied kapiert
hat. In besagtem Machwerk geht es um ein Wasserwesen, wie Franz selbst eines
war in höchster Vollendung. Alles ist höchst zwiespältig und zweideuti!. Es heißt
beispielsweise >der Fisch<, doch >die Forelle<. Früheren düsteren Andeutungen
können wir entnehmen, daß Franz a) ein Mutant war und b) schöne breite Hüften
besaß. Das soll um Gottes willen nicht besagen, daß Franz nicht wußte, ob er
Männlein oder Weiblein war - von Interesse ist nur eines: Er war weder Fisch
noch Fleisch und konnte sich daher für keines von beiden endgültig entscheiden.
Außerdem weist die Zwitternatur der Forelle darauf hin, daß Franz sich (immer
unterbewußt) abwechselnd mit dem Fisch und mit dem Angler identifizierte, der
die Forelle am Ende zur Strecke bringt. Vergleicht er sich mit dem Fisch, dann ist
damit das freie, ungebundene Junggesellenleben gemeint, das ziel- und gesetzlo-
se Hin- und Herflutschen des fleischfressenden Raubfisches. Der im Liede zu
Wort kommende >neutrale< Betrachter ist der Meinung, der Angler könne die
schlaue, das Zigeunerleben meisternde Forelle niemals aus ihrem Element her-
ausbekommen. Sie kennt jeden Winkel im Bach, jeden Weg und Steg und jeden
Stein im Brett. Und sie hat ihr Vergnügen daran, den Angler an der Nase herum-
zuführen und ihre Freiheit ihm zum Trotz weiter zu genießen. Kein Angler von
einem Weibe kann den rastlosen Fisch aus seinem eigenen Bachbett ziehen, ihn
mit Wurmfleisch-Ködem zur Ehe locken und dann in die Pfanne hauen! Doch die
dritte und letzte Strophe beweist natürlich das Gegenteil: Der Angler wird unge-
duldig und unwirsch, er hat die Nase voll von der Forelle Bocksprüngen und
macht kurzen Prozeß mit dem Fisch, indem er gehörig Staub bzw. Schlamm auf-
wirbelt. Die Forelle kann vielleicht kein Wässerchen trüben - der Angler vermag
es um so besser. Einzig durch den faulen Zauber von Gewässerverschmutzung
schafft es der Angler, den dicken Fisch an Land zu ziehen; der Betrachter wirft
einen letzten bedauemden Blick auf >die Betrogene<.
Franz hat sich demnach sicherlich lieber in der Gestalt des Angelnden gesehen

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als in der Opfenolle seines schlüpfrigen Fischkollegen. Forellen waren schließlich
zum Essen da, und aufs Essen verstand der Franz sich ausgezeichnet; auch konn-
te der kleine Wiener Schlawiner, der er war, die Frauen manchmal ganz schönzap-
peln lassen, bevor er sie nach Herzenslust ausnahm, streng fleischmäßig betrach-
tet. Hauptsache, er tat es unbekümmert und arglos.
Dann kam jener unselige Karfreitag des Jahres 1821 oder 1822, der den armen
Franz im Endeffekt für seine fleischliche Natur bezahlen ließ. Selbswerständlich
gab es an just diesem Tage im um Wien herum zutiefst katholischen Osterreich
kein Stück Fleisch zu ergattem. Schon von den mittelalterlichen Mönchen wissen
wir dagegen, daß Fisch kein Fleisch ist und daher zum Verzehr an fleischfreien
Tagen taugt. Kaninchen sind übrigens auch kein Fleisch, wie jedermann oder
zumindest jedermönch damals mühelos begriff. Sei's drum: Der Schubert Franz
sah sich an jenem Tage sowieso gezwungen, in Sachen Mahlzeit fremdzugehen.
Das ihn regelmäßig bekochende Frauenzimmer des Jahres 1821 hatte sich schon
am Morgen mit Franz überworfen. Sie sollte ihm >Forelle blau< zubereiten, mit
allen Schikanen und möglichst dem passenden Wein dazu, nicht zu knapp bitte.
Franzens unfreiwillige Wirtschafterin warf ihrem Dauergast vor, er sei kalt wie ein
Fisch, wenn es nicht gerade zu Tisch ging. Sie war seine Faxen langsam leid; end-
lich vergaß die gute Frau sich ganz: >>Und überhaupt - blau bist du schon selbst.<<
Tatsächlich hatte sich ihr Franz bereits ein paar kräftige Schluck hinter die Kie-
men gegossen. Als er den Fehler beging, in ihrer Küche ziellos nach Eßbarem her-
umzusuchen und ihr dauemd in die Quere zu kommen (in ihren unmittelbaren
Machtbereich), bekam er sofort eins auf die Flossen. Drauf ward er weggeschickt
mit der Belehrung, er solle ihr gef?illigst nicht in ihre Fischkompositionen hinein-
reden, denn das täte sie bei den seinen sctrließlich auch nicht.
Draußen, auf freier Wildbahn, ereilte ihn sein Schicksal. So manches Mal war
er durch Feld und Flur gestreift, den Wiener Forst durchwandemd. Doch heut
betrat er ein ihm fremdes Jagdrevier, zudem ohne Begleitung - Schwämmlein
allein im Walde. Er pfiff ein frohes Liedlein für sich hin, wie man es meistens fut,
wenn man sich ftirchtet oder freut. Da tat sich eine Lichtung vor ihm auf. Welch
unerwartet hübscher Anblick: eine Wassermühle! Gleich bei der Mühle ein ent-
zückend Weib - die schöne Müllerin, kein Zweifel. Bei ihrem Anblick wurd's dem
Franz so anders im Gemüt, daß er schnurstracks die Notenpapienolle aus dem
Armel schüttelte. Er hatte seine Sonntagsbrille auf der Nase, trotzdem kniff er die
Augen fest zusammen, glaubte er doch, die holde Szene nur zu ffäumen. Nichts
da - dies war die reine Wirklichkeit. Die Müllerin sah ihn nur an, sah seinen Appe-
tit; dazog sie aus dem Mühlbach einen Fisch, die Zaubein, wie andre ein Kanin-
chen aus dem Hut! Und siehe da: Das Fischlein war eine Forelle. >>Dies Fischlein
reicht gewiß für zwei<<, sprach rätselhaft die Schöne, >>ich brat' es dir nach Art der
Müllerinnen.<

83
Gesagt, getan. Die schöne Müllerin beträufelte das Tierchen (welches tot) mit
dem Saft einer Zitrone, würzte mit Salz und Pfeffer, wendete den Fisch in Mehl,
bestäubte ihn am Ende auch von innen. Drauf briet sie langsam ihn in heißem Ole,
gar reichlich ihn begießend. Als fertig war der Fisch, kam er gleich auf die Platte;
die gute Butter aus der Pfanne ergoß sich schäumend über ihn. Dazu gab's keine
Salzkart<iffelchen, doch Reis von Müllers Mühle. Drei Kapem noch und Petersi-
lie geschwind - doch wo zum Teufel die Müllerin damals schon die Flasche Wor-
cestersauce hernahm, bleibt dem Betrachter ewig rätselhaft.
Ein Rätsel waren sowohl Fisch als Dame auch dem Franz. Er hatte ihr bei der
Zubereitung zugesehen, fasziniert von ihren flinken, anmutigen Bewegungen, der
souveränen Art der göttlich begnadeten Köchin. Als er dann probieren durfte, kam
ihm seine eigene Forellenkreation im Vergleich rnit dieser richtig dürftig vor. Er
aß die Forelle übrigens ganz allein (was ihm bei seinem Appetit nicht weiter auf-
fiel), während die Circe von einer Müllerin ihm schweigend zusah. Ab und zu
nickte sie ihm aufmunternd zu, wenn er von seinem Teller aufblickte, vtas selten
vorkam. In Null-komma-nichts hatte der Franz das Fischlein verputzt; wdren
Kopf, Schwanz und Gräten nicht in weiser Voraussicht rechtzeitig vom Rumpf
entfemt worden, hätte der Müllerin Katze nichts mehr abgekriegt. Nach Genuß
der Mahlzeit bedankte Franz sich artig und gelobte feierlich, er werde seiner schö-
nen Gastgeberin einen Eanzen Liederzyklus auf den Leib schreiben, falls ihm
gestattet sei, immer mal wieder bei ihr >vorbeizuschau'n< (und zu probieren). Das
erlaubte sie ihm gern, zumal sie wußte, daß Fischlein wie das von ihr zubereitete
dem Gast im Magen liegen blieben, von Zeit zu Zeit ihm käftig aufzustoßen
pflegten und somit ihren ureigenen >Zyklus< in sich trugen, gegen den sich der
Esser gar nicht wehren konnte. Die Müllerin bedang sich aus, daß nur ihr Hen
Gemahl, der abwesende Wilhelm Müller, die Texte zu dem Liederzyklus schrei-
ben dürfe. (Und so geschah es auch.)
Die geheimnisvolle Müllerin erscheint uns schon jetzt verdächtig; wäre aller-
dings der Schubert Franz ihr treu geblieben, rein fischverzehrmäßig gesehen, hätte
die Sache und mit ihr Franz ein besseres Ende nehmen körmen. Die kochende
Müllerin war Herrin über vielerlei Gewürze mit eigenartigerWirkung. Außer zwei
besonders großen Bottichen (der eine mit der Aufschrift >Magie, weiß<, der ande-
re betitelt schwarz<) besaß sie Unmengen von winzigen Phiolen, Fläsch-
'Maggi,
chen, Döschen und Pulvertütchen, deren geheime Bewandtnis selbst der Müller
nicht recht kannte. Die schöne Hexe hatte sicher wirklich vor, den kleinen Ge-
nießer regelmäßig zu verköstigen, ganz ohne böse Absicht. Auch schmeichelte ihr
die Aussicht auf den Liederzyklus. Doch - o Graus! - kaum war der Karfreitag
vergangen und mit ihm die leidige Fastenzeit, da überkamen den Franz, die
fleischfressende Pflanze, seine alten Gelüste. Der Müllerin ihrerseits kam gleich
zu Ohren, daß ihr Franz, statt zu ihrem Herd zurückzukehren, einen schnöden

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Gasthof aus der Wienerwald-Kette aufgesucht und dort ein ordindres Grillhähn-
chen verzehrt hatte! Diese Beleidigung ertrug die Müllerin nicht. Der undankba-
rc Patron mußte büßen. >>Das Wandem ist des Müllers Lust< hatte ihr Gatte, der
Ahnungslose, einmal gesagt - sie jedoch wollte Fremdwandern niemals tolerie-
ren.
Sie wußte, daß der Stockfisch früher oder später wieder einmal zur Mühle kom-
men würde, wahrscheinlich an einem Freitag. Alles war vorbereitet für den Fall
der Fälle. Und tatsächlich erschien der Franz, der Mann mit dem kalten Fischblut
in seinen Adem, welches sie ihm gehörig zu vergiften gedachte. Er schmauste
seine Forelle, bedankte sich kurz und ging. Doch diesmal enthielt das Fläschchen
mit dem Etikett >Worcestersauce< garantiert nicht selbige, sondern ein unendlich
langsam schleichendes Verhängnis. Einen schnellen Tod gönnte die Müllerin dem
Franz natürlich nicht. Sie hatte ihm ebenfalls einen >Zyklus< zugedacht, der es in
sich haben sollte. Von den Japanem, die sich bekanntlich von alters her auf Fisch-
vergiftungen aller Art verstehen (ist doch der verdorbene Kugelfrsch dort so
beliebt wie hier nur der Knollenblätterpilz), haben wir die Erkenntnis gewonnen,
daß Quecksilber am allerbesten zur qudlend langsamen Verseuchung von Tier und
Mensch geeignet ist. Wenn wir zudem bedenken, daß die Müllerin den Schubert
bei der zweiten Mahlzeit kosend >mein kleines Silberf,rschchen< nannte ...
Die Symptome der Vergiftung, die übrigens bei Kaltblütern wie Franz noch
langsamer voranschritt als bei Nicht-Mutanten, glichen aufs Haar denen der
Syphilis. Als Höhepunkt der bitteren Ironie stellte sich bald heraus, daß die
Krankheit (die nicht durch Infektion, sondern durch Injektion entstanden war) in
Franzens äußerer Gestalt die Fischseele zum Ausdruck gelangen ließ: Er verlor all
seine Kräuselwolle auf dem Haupte. Ein fleckförmiger Lockenausfall suchte den
Kopf heim, >>als ob die Motten in die Haare gekommen wären<<. Franz wurde kahl-
geschoren und trug eine >gemütliche Perücke<. Das Interessante während dieser
Phase lag darin, daß Franz sich überall wie ein Fisch häutete; erst fiel es ihm wie
Schuppen aus den Haaren, dann helen die Haare hinterher. Sein Freund Schwind
schreibt zunächst von einem starken Ausschlag, später von einem
'niedlichen
Schneckerlanflug<. Ob er die zarte Neubildung von Franzens Lockenpracht meint,
sei dahingestellt; wahrscheinlicher ist, daß sich Schnecken an Schuberts Fisch-
kopf festsetzten (wenn auch nicht unbedingt fliegende). Die etwas bleigraufarbe-
ne Haut an Kopf und Körper weckte keinerlei Verdacht. Diese erste Phase der
Krankheit wurde stationär behandelt, im Wiener Allgemeinen Krankenhaus, wo
Franz bereits einen großen Teil der Müllerin-Lieder auf Notenpapier verewigte.
Uberhaupt hatte die Müllerin den Verlauf des Siechtums so eingerichtet, daß
Franz zwischendurch immer wieder zu frischen Kräften kam, ordentlich aß und
trank und brav an ihrem Zyklus schrieb, der unwissende Tropf. Tatsächlich wurde
Schubert bei jeder scheinbaren Besserung gleich übermütig, als sei er gar kein

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bißchen krank. Erst seine Freunde konnten ihn mühsam davon >überzeugen<, daß
er an der Syphilis litt, denn schließlich war er ein glücklicher Junggeselle und sie
nicht, die Armen.
Was nun die ärztliche Behandlung der vermeintlichen Syphilis angeht, sind es
wiederum zwei Dinge, die unsere volle Verwunderung verdienen. Wie bei jeder
unheilbaren Krankheit, wo Arzte nicht weiter wissen, gab es Standardmethoden,
die nicht halfen, aber meist auch nicht allzusehr schadeten. Im Falle Schubert hin-
gegen wurde praktisch nichts unternommen, obwohl die Arzte von der Lues-
Theorie überzeugt waren. Es gab nur einen Aderlaß (in einer Epoche, als man
ganze Völkerscharen von Siechen gemächlich auslaufen ließ): Dies beweist, daß
Franzens kaltes Blut bereits zu dick fürs Bluten war! Statt dessen bekam der Gute
Senfmehl zur Panierung ... Die einzig drastische Maßnahme, der man damals eine
kleine Heilchance einräumte, wurde ebenfalls unterlassen - die Quecksilberkur.
Offenbar fanden die Quecksilber, pardon, die Quacksalber bereits genügend von
demZeug in Schuberts Blutbahn, um zu der Meinung zu gelangen, die;Schmier-
kur< sei längst angewendet worden, und zwar von innen, was noch kein Arzt
gewagt hatte!
Als Schubert seinen >Müllerin<-Zyklus beendet haffe, sah man eigentlich keine
Verwendung mehr für ihn. Die Umstände seines Todes weisen dann noch einmal
überdeutlich auf Einwirkung der Müllerin sowie auf Franzens Fischnatur hin:
Sein letztes Abendmatrl nahm Schubert urm 31. Oktober 1828 im Lokal >Zum
Roten Kreuz(, welches er gern besuchte, ein. Urplötzlich, so berichtet Bruder Fer-
dinand, habe Franz Messer und Gabel auf den Teller geworfen, nachdem er den
ersten Bissen eines Fischgerichtes geschluckt hatte. Franz sagte, >es ekele ihn
gewaltig vor diesem Fische und es sei ihm, als habe er Gift genommen<. Guter
Gott! Da endlich dämmerte es ihm! Er aß darob nichts mehr, fing an zu delirieren
und verblich.
Das also war eines echten Gourmets Leidensweg, vom >Roten Krebsen< bis
zum >Roten Kreuz<. Die als Rot-Kreuz-Kellnerin verkleidete Frau Müller im
dezenten Fischgrätkostüm machte Franz endlich den Garaus. Er wurde nun, wie
er es gewünscht, Beethovens Nachbar: erst auf dem Währinger, dann auf dem
Wiener Zentralfüedhof, nachdem man sie zus:rmmen zweimal exhumiert hatte. So
etwas verbindet zwei Menschen ungemein, auch wenn sie sich erst nach dem
Leben näher kennenlernen. (Beethoven hatte lediglich Schuberts Lieder gelesen
und gemeint, sie seien ja ganz reizend, aber er könne sie langsam wirklich nicht
mehr hören.) Um ihr spätes Glück komplett zu machen, stieß zuletzt noch Johan-
nes Brahms zu dem Pdrchen. Es bleibt zu hoffen, daß wenigstens einer von den
dreien zu Lebzeiten das Skatspielen erlernt hat - schließlich kann man sich nicht
andauemd über Noten unterhalten, noch dazu mit einem Tauben in der Mitte.

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Der in der Wolfsschlucht tanzt
Weber, Carl Maria [von] (178GL826)

Wenn wir uns ohne Vorwamung irgendein x-beliebiges Portrait von Carl Maria
anschauen, egal ob gemalt oder gestochen, werden wir augenblicklich alle zu
unschuldigen Opfem von Carls diabolischer Durchtriebenheit. Wie er so dasitzt
und den Betrachter zart anlächelt, fast wie l,a Traviata persönlich kurz vor dem
Verhüsteln (obwohl sein eigener Leibarzt nach der Autopsie seine Lunge etwas
prosaischer mit der eines >dämpfigen Pferdes< verglich) - da erflillt er jeden mit-
leidigen, feinsinnigen Musikerfreund mit der tiefstenAnteilnahme undVerehrung.
Er war zeitlebens ein selten hZißlicher Bursche, was auch das kunstvollste Bildnis
nicht verhehlen kann, soll man den Gegenstand daraufnoch erkennen; doch sein
fast unirdisch langer, rasiermesserscharfer Gesichtserker und seine lebhaften,
gütig dreinblickendenAugen sarnt Brillen-Drahtverhau nehmen den Unwissenden
sofort für ihn ein. Das war zu seinen Lebzeiten nicht anders. Seine ätherische, von
Jugend an gebrechlich wirkende Gestalt mit den unegalen Füßen beeindruckte
durch ihre Schmächtigkeit die Zeitgenossen, als hätten sie's mit einem veritablen
Engelchen zu tun gehabt. So schreibt ein gewisser Christian Lobe: >>Ach, diesem
hohen Genius ist in seinem zarten irdischen Körper kein langes Verweilen und
Schaffen auf dieser rauhen Welt beschieden!< Schluchz, seufz, etcetera. Seine
Physiognomie (also die Physis für Gnome, wie er einer war) stellt einen soge-
nannten asthenischen Habitus dar, und jetzt freuen wir uns, weil die Zeit der
Pykniker, der kleinen Dicken von Beethoven bis Schubert, endgültig vorbei ist.
Aber hinter Carl Marias ganzem asthenischen Getue steckt ein böser, abgrundtiof
hinterhältig ausgeklügelter Plan. C.M. war ein Wolf im Schafspelz, wenn sein
Gesicht uns auch eher an Rotkäppchens Großmutter vor dem entscheidenden
Identitätswechsel erinnert.
Bleiben wir noch ein wenig bei seinem Aussehen - denn dem wissenden
Betrachter gegenüber wird es schnell zum Verräter seiner selbst. Nehmen wir bei-
spielsweise die extrem langen Arme, die um ein Haar über den Boden schleiften
... und untersuchen wir diese in Verbindung mit C.M.s langiähriger intimer
Freundschaft zu seinem Affen Schnuff, dann kann uns die Seelenverwandtschaft
zwischen den beiden Kreaturen nicht überraschen. Schnuffkam zur gleichen Zeit
in Webers Haus wie seine Ehefrau Caroline und blieb bei ihr, als Weber von ihr
ging; doch das nur ganz am Rande. Auf den von Weber kursierenden Heiligen-
bildchen ist nie die Tatsache zu erkennen, daß sein linkes Bein zu lang bzw. sein
rechtes zukurz geraten war, was angeblich von einem Hüftleiden herrührte. Htltl-

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halter hin oder her - die Bocksprünge, die der solcherart Gebaute zwangsläufig
vollführte, kamen nicht von ungefähr. Sie waren ein direktes Andenken an Carls
Erzeuger und die satanische Art seines Zustandekommens, so wie auch Schnuff
nicht bloß ein Affe war, sondern der starkbehaarte Hilfsgeist eines echten Hexen-
mersters.
Ja, da staunt der musikalische Laie zu Recht - und nicht nur der. Wir alle ken-
nen Weber natürlich hauptsächlich durch sein ernstes, gottesfürchtiges Werk,
seien dies Lieder und Weisen wie das still-besinnliche >Mein Weib ist capores(
(1815), das behaglich-einfühlsame >Wer stets hinter'n Ofen kroch< aus einer Fest-
spielmusik oder der kunstvolle Kanon für drei Stimmen
'Leck' mich im Ange-
sicht<. Aber es gibt noch einen anderen Weber, einen bedeutend frivoleren und
bösartigeren, der sich nicht auf den ersten Blick bzw. Lauscher zu erkennen gibt.
In musikalischer Hinsicht mag Webers (Euvre außerordentlich vielseitig wirken
und sämtliche Formen und Farben umfassen - das Leben des Menschen Weber
jedoch (falls er wirklich einer war) wird von zweien seiner Stücke eingeklammert
wie von zwei extremen Polen oder möglicherweise Tschechen. Es sind dies die
berühmte >Aufforderung zum Tanz<, ein Rondo-brillant für das Pianoforte, und
selbstverständlich sein größter Erfolg, det Freischütz.BeideWerke verdanken ihre
Erschaffung unmittelbar des Meisters Umgang mit diversen Teufeln, wobei
Samiel, welcher in einer Klausel des Pakts einen kurzen, aber regelmäßigen
Gastauftritt in der Oper durchsetzen konnte, in allen Fällen als der wahrschein-
lichste Partner zu nennen wäre. Denn diesen speziellen Teufel kannte schon Carl
Marias Vater sehr g:ut.
Schon Vater Weber hatte einen Vertrag mit dem Teufel geschlossen, lange vor
Carls Geburt. Die Vorliebe, Hilfe von zwielichtigen Gestalten anzunehmen, ohne
sich um die unvermeidliche Rückzahlung der Schulden zu kümmern, lag von al-
ters her in der gesamten Familie; bei Franz Anton Weber ballte sich diese Cha-
raktereigenschaft geradezu. Er war ein Windhund und ein Tagedieb, möchte man
ihn nett und nachsichtig beschreiben - ein Schauspieler, will man die Wahrheit
brutal ans Licht zerren. Obendrein ein wandernder. Mithin ein absolut ehrloser
Geselle, dem rein alles zuzutrauen war und der das solcherart in ihn gesetzte Ver-
trauen niemals enttäuschte. Übrigens war er mitnichten einvonWeber, höchstens
ein geborener von wegen, wenn überhaupt. Doch der heiße Wunsch, ein Adels-
wappen sein eigen zu nennen und zudem das Prädikat >besonders wertvoll<, ließ
Franz Anton alle natürliche Gerissenheit und Bauernschläue vergessen - oder bes-
ser gesagt Müllerschläue, denn sein wichtigster Vorfahr war ein Müllerbursch, der
sich ständig auf Wanderschaft befand, ohne ein einziges Mal richtig zu müllern.
Eine windige Familie, deren Krönung später unser Schmachtlappen Carl Maria
darstellen sollte! Franz Anton wollte sich ein österreichisches Wappen ausleihen,
ohne es später zurückgeben zu müssen. Sein Pakt mit Samiel enthob ihn zwar letz-

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terer Peinlichkeit, zeitigte jedoch andere irdische Früchte. Allen voran Carl Maria,
Denn der bocksfüßige Sprößling war einerseits ein echter Weber (ohne >von<),
andererseits ein wahrer Teufelsbraten, den man in einer seiner Stammtischrunden,
>Ludlams Höhle< geheißen, später nicht von ungefähr den Edlen von Samiel nann-
te ...
Denjenigen verbohrten Anhängem >von< Webers, die weder beim Vater noch
bei Sohnemann an eine teuflische Intervention glauben mögen, seien folgende
Argumente vor den Latz geknallt, welche sich gemäß einer Sprudelwasserwer-
bung als >unkaputtbar< erweisen - mag der Inhalt auch noch so schäumen: l.
Franz Anton kämpfte im Siebenjährigen Krieg mit, aber wahrscheinlich nur ein-
mal; in einer obskuren Schlacht bei Roßbach sttirmte er mit der Geige in der Hand
den Mannen voran ins Getümmel. Gleichzeitig jedoch wollen ihn verläßliche
Quellen, darunter sein Enkel Max Maria, in Hildesheim bei seinerVerlobten gese-
hen haben. Das dünkt uns mehr als befremdlich: Wer, so fragt man sich, kann
simultan Krieg und Geige spielen und dazu noch zu Hause mit der Verlobten? So
etwas ist uns ausschließlich von höchstrangigen Offizieren überliefert, und die
waren bekanntlich immer mit dem Teufel im Bunde. 2. Aus dem Freischütz wis-
sen wir, wie so ein Pakt aufgesetzt wurde: Sieben Schuß waren frei und trafen
unfehlbar ihrZiel; doch einer der Schüsse gehörte demTeufel, und der sagte vor-
her nicht, welches Schweinderl es denn sein solle, sonst hätte der Freischütze ja
nach dem sechsten Schuß einfach aufhören können mit dem Schießen. Soviel zur
Entstehung Carl Marias.
Vor C.M.s Geburt vertrieb sein Vater sich die Zeit also hauptsächlich mit Wan-
dern, diversen Amtmannspositionen und den zwangsläufig damit verbundenen
Unterschlagungen, Weiterwandem und Geigespielen. ln dieses ausgefüllte Leben
trat C.M.s spätere Mama Genovefa, die, obschon seit Kindesbeinen einer fahren-
den Musikertruppe angehörig, eine blonde, blau- und glupschäugige Naivität
bewahn hatte, die ihrer heiligen Namenspatronin zw Ehre gereicht hätte. Dieses
perfekte Pendant zuFranz Anton, welches nicht nur bildschön zu wandern, son-
dern auch leidlich zu spielen und zu singen verstand, beflügelte ihn bei der Ver-
wirklichung einer schon ewig gehegten Idee: Er rief sein eigenes adeliges Famili-
en-Wanderbühnen-Untemehmen mit äußerst beschränkter Haftung ins Leben.
Damit ging er sogar an die Börse, oder besser gesagt an das Portemonnaie so man-
chen gutgläubigen Mäzens. Zur Truppe gehörten nebst Genovefen und der dank
Brüderlein plötzlich zur Baronesse herangereiften Tante Adelheid er selbst sowie
seine drei Söhne aus erster Ehe (denn die Hildesheimerin hatte er längst ver-
schlissen) und der an diesem Punkt der Bühnenhandlung bereits sieben Lenze
zählende Carl Maria: Gell, das ging doch schnell. Die Jahre vorher sind dunkel
und unklar; wahrscheinlich hat Genovefa den kleinen Krümmling Carl noch eine
gewisse Zeitunter ihrem Herzen mit herumgetragen, ohne daß er sonderlich auf-

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fiel. Sonst hätte man das >schwache, kreuzlahme Knäblein< womöglich auch noch
plattgetreten.
Doch so zietlich-zart und verwundbar der Kleine schien, so abgebrüht war er
von Geburt, und diese Eigenschaft verringerte sich durch den hautnahen Umgang
mit dem Schaustellergewerbe sicher nicht. Das Spiel mit Illusionen und >lebenden
Bildern< - angeblich kindlicher Zeitvertreib hinter Kulissen und Requisiten -
bereitete ihn für das Leben eines Mannes vor, dem die Täuschung zur ersten Natur
werden sollte. Hinter den Kulissen agierte er zeitlebens, selbst wenn er davor-
stand, und die edle Kunst der Kulissensc/riebung betneb er wie seine Väter mit
Leidenschaft und in höchster Vollendung. Zwei fiür Carl Marias Laufbalur sehr
störende Faktoren schälten sich jedoch ebenso früh heraus. Das war zum einen
seine Lahmheit, die irgendwie und irgendwann dem unsteten Weberschen Wan-
derleben abträglich sein würde, denn Genovefa konnte ihn schließlich nicht ewig
am Rockzipfel hinter sich herziehen. Das war zum anderen sein erschreckendes
musikalisches Dehzit. Auch C.M. sollte, wie kaum anders zu erwarten, ein Wun-
derkind sein - es mußte doch einen vernünftigen Grund geben, warum man die-
sen kleinen Fehlschuß mit durchfütterte. Der frühe Untenicht durch Halbbruder
Fridolin erwies sich in Windeseile als kompletter Schuß in den Ofen. Der Kleine
körure alles werden auf der Welt, sagte Fridolin wörtlich, nur eben kein Musiker.
Das durfte Vater Franz Anton nicht so hinnehmen und tat auch nichts dergleichen.
Wunderkind bleibt Wunderkind, und es wäre doch ein Wunder, wenn sich Carl
Maria nicht zu einem verfluchten Genie machen ließe! Als erstes machte ihn der
Vater mal ein Jährchen jünger, um Zeit zu gewinnen (siehe auch Wunderkind
Beethoven). Der Teufel hatte die Amtsstube mit des Vaters Geburtsregister gottlob
bis auf den Grund niederbrennen lassen, damit man der Sache mit dem >von< nicht
auf denselben gehen konnte; Sohnemann mußte sich mangels Feuersbrunst im
Eutiner Amt halt noch ein wenig mehr zusammenkrümmen als gewöhnlich. Da
blieb nur noch die klitzekleine Komplikation mit dem fehlenden musikalischen
Talent. Nun gut, das galt damals nicht unbedingt als ausschlaggebend für eine
Karriere als Dresdener Kapellmeister; doch erwies sich Begabung auch nicht als
hinderlich. Carl Maria hatte schon als Kind extrem lange Finger (Franz Anton
machte nur ab und zu welche) mit einer ganz unglaublichen Spannbreite - daraus
mußte sich ftir einen Virtuosen doch Kapital schlagen lassen. Werm er doch nur
schon erst einer gewesen wäre!
Im Jahre 1796 wurde Genovefa Gott sei Dank ernstlich krank, so daß ihr klei-
ner Carl das erste Md in seinem Leben über drei Wochen in ein und demselben
Ort verbringen durfte. Prompt bekam er dort Musikunterricht, welcher ihn binnen
kürzester Frist den Unterschied zwischen Geige, Oboe und Klavier begreifen ließ.
Da wußte der stolze Vater, daß der Junge doch ein Genie war. Weil man gerade in
der passenden Gegend herumwanderte, schickte man Carl für ein paar Tage zu

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Michael Haydn in die Lehre, auf daß er sich vervollkommne. Carl hinkte jodoch
sogar im Einzelunterricht stets hinter den anderen Schülern heq was nicht nur an
seinem Bein lag. Der Papa blieb trotzdem stolz, denn etwas anderes wäre ihm gar
nicht eingefallen. Da gab Genovefa den Löffel ab und auch Carl, der fürderhin
Tante Adelheid gehören sollte. Die Baronesse von und zu Weber zählte noch nicht
mal siebzig JZihrchen und zeigte schon jetzt keine Wanderlust mehr; da ließ man
C.M. bei ihr zurück, welcher wohl große Lust, doch nicht die Fähigkeit zum Wan-
dern hatte. Vorher wollte ihn der alte Weber ums Verrecken zu einem gleichge-
sinnten Geist in die Lehre geben. Leider kannten diese musikalischen Geister,
Glücksritter und abgebrühte Filous allesamt, ihren Franz Anton und glaubten
seine phantastische Story von der versprochenen Bezahlung nicht, eine Sache, die
zu sehr außerhalb seines einnehmenden Wesens lag. Nur ein gewisserAloys Sene-
felder, der gerade den Steindruck erfunden hatte, arbeitete freiwillig mit Carl:
zwar nicht musikalisch, aber lithographisch. So entschloß man sich mit echt
Weberscher Wandlungsfähigkeit, fünf Stufen zu überspringen, die Musikausbil-
dung für erfolgreich beendet zu erklären und den Jungen den Steindruck lernen zu
lassen, damit er in Zukunft nicht auf widerborstige Verleger angewiesen war, son-
dern seine Noten selbst vervielf?iltigen konnte. Wenn es denn mal welche zu
drucken geben sollte. Es mag erstaunen, daß ein Mann wie Weber senior nicht
augenblicklich den Steindruck von Banknoten vorschlug - aber der Pöbel benutz-
te damals Gold als Zahlungsmittel und konnte mit keiner Art von gestochener
Note etwas anfangen. Der Druckfehlerteufel Samiel hatte zudem bereits hier wie-
der seine Hand im Spiel, als er das kümmerliche Häufchen Musik, welches Carl
Maria bis dahin verbrochen hatte, in ein ebensolches Häufchen Asche verwandel-
te. Samiel war offenbar auch ein sehr fähiger Feuerteufel, denn nur der Schrank
mit den Noten brannte völlig aus, sonst nix. C.M., der zeitlebens äußerst aber-
gläubisch bleiben sollte und tatsächlich den allerbesten Grund dafür hatte, war
überzeugt, der Brand sei eine himmlische Kritik an seinen Kompositionsversu-
chen. Niemand widersprach ihm.
Da mit den göttlichen Mächten scheinbar nicht gut Kirschen essen war, hielt
der alte Weber den Zeipunkt für gekommen, seinen Sohn im ordnungsgemäßen
Umgang mit Samiel zu unterweisen, der bis jetzt bei ihm selbst tadellos funktio-
niert hatte - mal abgesehen von der Sache mit dem Fehlschuß, welche Franz
Anton dem Filius vorsichtshalber nicht auf die Nase band (obwohl auf Carls Rie-
senzinken mit Sicherheit genug Platz dafür gewesen wäre). Einen Titel hatte Carl
durch Vatis Bemühungen schon; was !r dringendst brauchte, waren zwei Dinge:
die Beftihigung zum Wandem, und zwar mit einem großen W gemäß der Weber-
schen Familientradition und dem Wappen, welches, wie ich glaube, einen Wan-
derschuh auf güldenem Grund zeigt oder auch Schusters Rappen, der sich gerade
wild aufbäumt. Und dann benötigte er nach wie vor diese dämliche musikalische

9t
Begabung, denn obwohl er wochenlang studiert hatte, besaß er ja noch immer
keine. Das Problem war auf natürliche Art nicht zu lösen; das war ein klarer Fall
ftir Ariel, pardon, Samiel. Der Pakt mußte allerdings etwas grausiger ausfallen als
Franzens eigener. Zwei Gaben zum Preis von einer standen nämlich bei Samiel
nicht im Angebot. Im folgenden werden wir mit der plastischen, dreidimensiona-
len Schilderung des tatsächlichen Weberschen Pakteknüpfens konfrontiert wer-
den, die übrigens anschließend von unzähligen Schreiberlingen kopiert und per-
sifliert wurde, zuerst von C.M. selbst in seinem Freischütz. Ort der Handlung:
Eine wilde (Land)Straßenschlucht nahe Wolfsburg.Zeit: Sehr früh in Carl Marias
Leben, aber später als er denkt.

Die Theatergruppe Weber hat eine kreisrunde Wagenburg gebaut, in deren Mitte
das Geschehen abläuft. Das Bühnenbild ist ein echter Franz Anton: Eulen im
Geäst, diverses heulendes Viehzeugs, unruhiger roter Flammenschein, I Toten-
schädel ats Hamlet (echt, aber geklaut), ein dampfender Kessel mit gdinem Sud
darin (wahrscheinlich Franzens Unterwäsche), Utensilien für Bleiguß und Feuer-
zangenbowle. Auftritt Franz und Carl, welcher zögert.

Carl: Vater, mich graust's gewaltig an diesem finstren Ort. Wann kümmt denn
dieser Spaniel angedackelt, von dem du mir berichtet?
Franz: Der Kerl heißt Samiel, du Kümmerling. Schreib's dir hinter die Ohren,
sonst kann er sauer werden.
(Anmerkung: Aus Gränden der Schleichwerbung darf Carl an dieser Stelle auch
>Kleiner Feigling< genannt werden.)
Carl: Ich wünschte, meine Mama wäre heute hier, um ihren Carl zu sehen.
Genovefens Stimme (aus den Lüften ringsumher, flehentlich und süß):
Mein kleiner Bub! Halt ein in deinem Treiben, solang's noch an der Zeitl
Franz: Halt's Maul, Frau. Seit du verblichen bist, stehst du nicht mehr im Dreh-
buch. Geh doch zum Teufel, oder besuch Tante Adelheid.
Carl: Das war aber nicht nett von dir. Zu diesem Schlemihl bist du höflicher.
Franz: Samiel, sag ich. Samiel, du krähenfüß'ger Dämlack!
(Samiel taucht im Kreise auf. Donner, Blitz, Schwefeldampf. Samiel hustet.)
Samiel: Wer ruft mich beim geheimen Kosenamen, noch dazu mitten in der
Nacht? Ach, du schon wieder, Franz. Ich hätt's mir denken können.
Carl: Heut'nacht bin aber ich dran, sagt der Herr Papa. Also: Ich brauche ein
Paar Siebenmeilen-Pumps in Hellbraun, mit Schnallen an den Seiten,
Plateausohle rechts, mit Einlagen -
Samiel: Wie kannst du's wagen, Wurm, mir deine Einkaufsliste aufzudrängen?
Franz sagte mir, du wollest einen Pakt!

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Carl: Und ob, Herr Spaniel! Wenn's einen packt, dann aber richtig! Denn ich
brauch'zudem noch ein Pfund Talent, damit ich musizieren kann.
Samiel: Dem Männchen kann geholfen werden. Doch denke an die Folgen ...
(Hier bricht das Fragment leider ab. Wir wissen nicht, welche Risiken und Neben-
wirkungen Samiel dem jungen Carl aufgezählt hat. Die wichtigsten muß er jedoch
vergessen haben in der Eile.)

Anzumerken wdre noch, daß Samiel seinem eigenen Verwandten keinerlei Rabatt
gewährt hat - aber das hätte Franz Anton bei seinem leiblichen Kind sicher auch
nicht getan. Carl Maria bekam, was er wollte, doch um welch fürchterlichen Preis!
Mit seinen neuen Schuhen (Beschreibung wie oben) hatte es nZimlich so seine
eigene Bewandtnis. Wir kennen sicher alle die Geschichte von der Tänzerin, die
Primadorura oderPrimavera - nein, Primaballerina werden wollte und um ein Paar
Zauberschuhe bat. Als die Armste die Schuhe erst einmal angezogen hatte, konn-
te sie mit dem Tanzen nicht mehr aufhören, nur über ihre Leiche sozusagen. Sie
tanzte und tanzte, Tag und Nacht und aufjeder Hochzeit, bis sie vor Erschöpfung
tot umfiel. Ganz genauso verhielt es sich mit Carl Maria. Die verhexten Wunder-
schuhe trieben ihn unauftrörlich durch die Weltgeschichte wie keinen Weber vor
ihm, einschließlich Vater Franz. Wohlgemerkt war's nicht vorbei mit seiner Lahm-
heit; die Schuhe brachten ihn jedoch seinem Handicap zum Trotz an jeden
gewünschten und auch unerwünschten Ort. Wer seine lrbensdaten sieht, denkt
sofort: Armer Carl - wie frtih bist du dahingeschieden! Das ist ein Trugschluß,
Hätte Carl einen eingebauten Kilometerzähler sein eigen genannt, würde die
schier unglaubliche Zahl an Wandermeilen noch den Dümmsten davon überzeu-
gen, daß C.M.s Körper schlicht und einfach total abgenutzt waL Er hatte bis zu
seinem Tode ein Gebiet erwandert, von dem mancher Zweihundertjährige damals
nicht mal zu träumen wagte. Im nachhinein kann es uns nur wundern, daß sein
kleiner Schmachtkörper das so lange ausgehalten hat. Wieviele Autos kommen
wohl mit vierzig Jahren, einer schlappen Million Meilen und Originalkarosserie
noch durch den TÜY auch wenn dre Reiftn tipptopp sind? Apropos Reifen: Natür-
lich hat den Carl sein unfreiwilliges Wanderleben ganz mörderisch geschlaucht,
Die Ursache seines Todes, den wir aber erst zum Schluß behandeln, war angeb-
lich galoppierende Schwindsucht. Um das mal klarzustellen: Wenn hier einer
galoppiert ist, dann war das Carl Maria selbst, und wenn einer in der Familie
manchmal die Verschwindsucht kriegte, dann war das Franz Anton nach einer
mißglückten geschäftlichen Untemehmung. Der Aufschneider von Arzt, der sich
C.M. nach dessen Ableben vornahm, entdeckte zwar einen Haufen >Kavernen<
und Luftlöcher und Blasen in der Lunge, aber kann uns das erstaunen? Der Junge
war zeitlebens mu gerannt, gerannt, gerannt. Kein Wunder, daß man seine Lunge
bzw. das armselige Haschee, das davon übrig war, mit der eines gedämpften Pfer-

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des verglich (siehe oben)! So viel Gerenne hält doch kein Pferd aus, nicht mal ein
menschliches.
Nun zu jenem anderen Wunsch, dem nach musikalischem Talent. Das war so
eine Sache, nicht ganz einfach zu bewerkstelligen - nicht mal für einen echten
Spaniel. Der Teufel kriegte die Sache schließlich so geregelt, daß C.M. zwar keine
wirkliche Begabung erhielt, jedoch andererseits auch kein Mensch Wind davon
bekam. Halt dich an die knallharten Fakten, Junge, riet Samiel seinem Proteg6.
Beschreib nur das,was du aus dem Leben kennst, dann kann nichts schiefgehen.
Damit meinte er natürlich die oben aufgeführte Begebenheit in der Schlucht bei
Wolfsburg. Wiederhol einfach das Gqnze möglichst wortgetreu, nur diesmal eben
mit Musik. Das kann doch nicht so schwer sein, Söhnchen. Aber Carl Maria zier-
te sich noch eine geraume Weile, nicht zuletzt deshalb, weil er wußte, der Schuß
könne durchaus nach hinten losgehen. So dumm, wie der Teufel dachte, war Carl
Maria nun auch nicht.
Doch so dumm, wie Carl Maria dachte, war seinerseits der alte Samiel nicht. Er
schickte zur Festigung des Paktes einen Hilfsteufel in Menschengestalt mitten in
Carls Leben hinein. Dieser niedere Geist galt in der Welt der Musik als das, was
Franz Anton in allen anderen Bereichen darstellte, will sagen, er war ein Scharla-
tan unreinsten Wassers. Die Geschichte nennt jenen Mann Abb6 Vogler, und
obgleich sie (bisher) über seine diabolische Herkunft nicht informiert war, kennt
sie ihn als echten Lumpenhund mit Stil. Buchstäblich unter dem Deckmäntelchen
eines Geistlichen nahm sich der Hilfsteufel des siebzehnjährigen Knaben an und
verzauberte ihn mit seiner exzentrisch-monströsen Musik. Unheilbarer Charisma-
tiker, der er war, verführte er den Schwärmer und zog und drückte Carls junge
Seele in jede ihm genehme Richtung. Carl geriet völlig in seinen Bann, bis er
schließlich zu allen Schandtaten bereit war. Als ihm der Abb6, dessen Lehren er
aufsog wie ein Schwamm, eine seiner Partituren übergab, auf daß der Junge davon
einen Klavierauszug anfertige (derAbb6 arbeitete übrigens immer nur gegen Mit-
ternacht, wenn überhaupt), da tat der Kleine folgenden Ausspruch, welcher
abgrundtief blicken läßt: >>Nun sitze ich darüber und studiere und freue mich, daß
ich oft des Teufels werden möchte. ..<< O Graus, denken wir jetzt gurz zu Recht.
Er gibt seine Seele freiwillig ab, der dumme Junge, und das auch noch fidrr ande-
rer Leute Noten.
Nichtsdestotrotz verdankte Carl Maria dem Abb6 seine erste Anstellung als
Kapellmeister, und zwar in Breslau. Carl war achtzehn und ganz schön von sich
eingenommen, denn aufgrund seiner interessanten Leichenblässe, die er bereits zu
Lebzeiten pflegte, fraßen nicht wenige Damen einen Narren an ihm. Er konnte
inzwischen eine ebenso gepflegte Saite auf der Klampfe zupfen, und wenn er so
in den Wiener Kneipen herumhing und klampfte und schäkerte, knickte er reihen-
weise Frauenherzen. In Breslau trat derjunge Spund dann auch entsprechend arro-

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gant aui aber sofort gab's Arger mit seinen Musikem im Orchestergraben, alldie-
weil seine Truppe dort zu hundert Prozent aus Männern bestand - und die woll-
ten auf sein Gita.rrenspiel einfach nicht reagieren. Auf seine verrückten neumodi-
schen Ideen ebensowenig. Der Knabe glaubte doch allen Ernstes, er verstünde
mehr von Tuten und Blasen als seine doppelt und dreifach so alten Untergebenen.
Um von seinem Unvermögen, das tief in ihm schlummerte, abzulenken, setzte er
beispielsweise seine Musiker andauernd um. So blieben sie mit Pulterücken so
beschäftigt, daß sie zunächst nichts merkten. Die ersten Geigen, Oboen, Hörner,
Cello und Kontrabaß mußten plötzlich nach rechts, obwohl sie immer von links
gespielt hatten und sich nichts anderes vorstellen konnten. Schlimmer noch: Die
Streicher kamen nach vom, während die Blechleute auf einmalvon hinten blasen
mußten!
Dadurch, und durch die Tatsache, daß derjunge Schnösel keinerlei Respekt vor
dem greisen, gebeugten Alter zeigte - wollte er doch die Entlassung aller Flötisten
mit Arthritis, aller zittigen Streicher mit übermäßigem Tremolo in der Saite, ja
aller stocktauben Pianisten durchsetzen, wobei er wohl selbst vor einem Beetho-
ven nicht haltgemacht hätte, falls der in seiner Crew dabeigewesen wäre -, durch
all diese offenkundigen Fehlentscheidungen machte er nicht nur sich selbst höchst
unbeliebt, sondern auch den ganz besonderen fetzigen Swing zunichte, der sich im
Laufe der letzten fünfzig Jahre in sein Orchester eingeschlichen und dort bom-
benfestgesetzt hatte. Dieser für Breslau so typische Sound, nlimlich die Vorherr-
schaft von zerbeultem Blech und schrägen Schalmeien, denen allein der Baß Kon-
tra geben durfte, begeisterte seit Menschengedenken die Bevölkerung der Umge-
bung, sogar manche Konzertbesucher unter ihr. Niemand kannte ganz genau die
Zauberformel, die diesem infernalischen Wohllaut zugrunde /ag; doch jeder kann-
te den Verantwortlichen, an dem der gute Ton auf taktlose Art zugrunde ging. Det
gottverfluchte junge Weber war's, der Satansbraten, dem dieses zu verdanken war.
Als Carl in seiner kargen Freizeit gerade darüber grübelte, wie der Rübezahl
und dessen dienstbare Geister ihm persönlich untertan zu machen seien (rein
musikalisch diesmal), begab sich eine teuflische Geschichte, die dem allerletzten
Zweifler endgültig beweist, wie tief der Carl bereits ins Höllische verstrickt war.
Nicht einmal die auf dem Vorfall beruhende Szene aus dem Buch seines Bekann-
ten E.T.A. Hoffmann, in der der Mönch Medardus die Elixiere des Teufels
schluckt, kommt der wahren Sache auch nur annähernd gleich in grausigstem
Detail. Wenn man es recht betrachtet, schafft das nicht mal Dr. Jekyll mit seiner
chemischen Verwandlung in den haarigen Affen - nein, nicht Schnuff. Der Weber
Carl tat einen Schritt, der weit verhängnisvoller war. Denn als er merkte, daß sei-
nes Bleibens nicht mehr allzu lange würde sein im schönen Breslau, ohne daß er
was unternehme, erwog er eine radikale Kur. Wie einst der böse Wolf im Märchen
gedachte Carl die rauhe Stimme sich mit dunklen Künsten aufzuhellen, um alle

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dummen Schäfchen ringsumher zu täuschen; allein es fehlte ihm die Kreide. Er
fand was noch viel Besseres. Und selbst in diesem Fall kam es zu ungewollten
Nebenwirkungen: So wie die siebte Kugel in den Ofen ging, das siebte Geißlein
in die Standuhr, klappte auch hier die Sache nicht so recht. Carls Spezi Berner
beschreibt die Nacht wie folgt: Er habe in Webers Haus ein Lichtlein schimmern
seh'n, welches ihn drängte, so spät den Freund noch zu besuchen. Doch auf sein
Klopfen gab ihm keine Seele Antwort. So stapfte er hinein, der aufdringliche
Mensch. Ein beißender Geruch schlug ihm entgegen (wiewohl das nichts Besond-
res scheint, denn Vater Frarz wohnte im Hochparterre). Er fiel fast über Webern,
welcher ausgestreckt am Boden lag. Bemer, der naive Schelm, bestand auf einem
Arzt, obschon doch jeder weiß, daß so ein Arzt für jede Teufelei zu haben ist!
Folglich bescheinigte der Pfuscher schwarz auf weiß, was Weber ihm diktierte:
daß nämlich aus Versehen bloß aus jener Flasche mit Salpetersäure er getrunken,
die dort im Dunkeln fälschlich für des Vaters täglich Fusel er gehalten ... Da lach-
ten selbst die Hühner; nur Bemer hat's geglaubt und wurde selig. Denn ein oder
zwei Dinge wollen wir eindeutig festhalten: Franz Anton war zwat durchaus zuzu-
trauen, daß er Säure für den Kupferstich in Weinflaschen aufbewahrte und umge-
kehrt, ohne die Aufschrift >echt ätzend< anzubringen, aber daß Carl so geistesab-
wesend gewesen sein soll, daß er den Unterschied nicht roch, ist schon rein ana-
tomisch völlig ausgeschlossen. Sogar im tiefsten Suff hätte ihn seine riesige Nase
unfehlbar vor einem solchen Irrtum bewahrt. Und dann die sogenannten Konse-
quenzen: Es stimmt, daß Carl sich fürchterlich den Mund-Hals-Nasen-Ohren-
Raum verätzte und zwei Monate mit Kamille gurgeln mußte, während Franz wei-
terhin Promille vorzog. Doch seine Stimme hat er sich nicht mit der Säure ruiniert,
wie manche Biographen glauben. Sie wurde zwar leiser, seine Stimme, aber von
all dem Salpeterzeug auch süßer, verführerischer. Es ist sogar so, daß Carl Marias
Karriere als klampfender Minnesänger erst jetzt ihren wahrenAnfang nahm! Sein
ganzes weiteres Leben lang wußte er die Menschen um ihn her mit seinen säure-
gegerbten, doch wildledersanften Stimmbändern zu betören. Daß er so leise sang,
bewirkte nur, daß man ihm umso intensiver lauschte, diesem Rattenfänger. E.T.A.
Hoffmann übrigens, der obige Infamie zu Protokoll brachte, konnte Weber nicht
ausstehen, obwohl das Element des Gespenstischen die beiden eigentlich hätte
vereinen müssen. Während C.M. Hoffmanns Text zur Oper Olympie geradezu als
Paradebeispiel für ein sterbenslangweiliges Libretto betrachtete, weil seine eige-
nen persönlich-realen Erfahrungen mit diversen Teufeln Hoffmanns Dichtung
natürlich in den Schatten stellten, mied ihn Kollege Hoffmann, wo er nur konnte:
Der erkannte einen echten Deibel, wenn er ihn sah.
Doch zwei Monate lang konnte Carl nicht mal >piep< sagen, und diese Zeit-
spanne genügte den Breslauern, dem ungeliebten Kapellmeister den Laufpaß zu
geben. Franzens Gläubiger, nicht länger gläubig genug, wollten Geld sehen, aber

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Carl'zeigte ihnen nur seine lange Nase. Bevor die wogende Menge die beiden bzw.
über den beiden zusammenschlagen konnte, kamen Vater und Sohn gleichzeitig
auf die inzwischen klassische Webersche Lösung des Problems: Abhauenl Das
hätte auch geklappt, wenn nicht nach Manier der Commedia dell'Arte just in die-
ser Lage Tante Adelheid aufgetaucht wdre. Die war nämlich gegen jede Erwartung
immer noch nicht tot. Als Retter in der Not erwies sich wieder einmal Berner, der
eine Bekannte besaß, ein Fräulein von Belonde, welches als Ehrendame die Her-
zogin von Wtirttemberg besäuseln konnte. Mit Hilfe dieser Belonden, die eigent-
Iich eine gefärbte von Brünette war, ergatterte Carl Maria sofort einen fabelhaften
neuen Job.
Vom Kulturreich Marke Eigenbau des Herzogs Eugen Friedrich, der nur
begrenzt exaltiert war - mit Schwanengondeln auf künstlichen Seen, die uns ent-
fernt an irgendwas erirurem-, wurde C.M. bald gnädigst weitergereicht an Eugens
Bruder Ludwig, seines Zeichens auch Herzog. Zwischen beiden Fürsten machte
Carl einen gewagten Schlenker zurück nach Breslau, feierte dort zehn Tage lang
so ausgiebig und laut mit Zechkumpanen, daß ein Gläubiger ihn erkannte und Carl
schleunigst mit einem Backofen fliehen mußte. Dieser Backofen war ein echter
Klotz am rechten, kürzeren Bein, obwohl er laufen und sogar seine Klarinette sel-
ber schultern konnte. Als Carl dann endlich in Stuttgart eintraf, merkte er schnell,
in was für einen Saustall er hineingeraten war: Dagegen schien Franz Antons
Wandertruppe zahm und bescheiden. Carls Chef Ludwig war seinerseits Bruder
Friedrich unterstellt, doch beide erwiesen sich als wahre Sprößlinge einer Fami-
lie, die schwangere Frauen lebendig begrub und ganze Seen künstlich erwärmen
ließ, um auch irn Winter Enten zu schießen, wie ihr Herr Papa das noch praktiziert
hatte. Das mit den Seen zumindest erscheint uns unverzeihlich, denn solche un-
ökologischen Leute sind es, die auch das Ozonloch in Kauf nehmen, um weiter
ihre Böcke schießen zu können. Der nun regierende Friedrich haffe andere
Macken und führte nur den Soldatenexport großen Stils fort, den der Vater betrie-
ben hatte. Carl Maria konnte man Gott sei Dank bei aller Phantasie nicht als Sol-
daten verkaufen; selbst die Dicke Berta meinte, als Kanonenfutter sei er ihr zu
mickrig. Ganz und gar nicht mickrig war dagegen Friedrich, fär dessen Lei-
besumfang man speziell ein Halbrund in die Tische schneiden mußte. Er liebte
Knaben über alles, allerdings mehr als Nachtisch, und umgab sich mit hübschen
Stallbürschchen, die er in bedeutende Stellungen erhob, sowohl bei Hofe als auch
im privaten Rahmen. Carls Aufgabe bestand darin, bei Friedrichs Bruder Ordnung
in die Finanzen zu bringen, was über zwei Jahre klappte, so verrückt das klingt:
Franz Anton war ja nicht dabei. In dieser wilden Zeitfeierte Carl jede Nacht aus-
schweifend mit seines Heren Sohnemann, dem fünfzehnjährigen Prinz Adam,
und dessen dekadenter Adelsclique.
Doch um seine satanischen Kontakte nicht zu vemachlässigen, mußte C.M,

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auch tagsüber ununterbrochen schäkern; sofort ward er ein Ehrenmitglied der
Stuttganer Teufelsanbeterbande Faust's Höllenfahrt mit dem Decknamen >Kraut-
salat<. Diese angebliche Literatenvereinigung hatte wahrscheinlich von Carls
Machenschaften mit Rübezahl gehört oder davon, daß die herzogliche Kasse unter
seiner Obhut wie Kraut und Rüben angeordnet war. Carls spezieller Freund war
>Rapunzel<, der Komponist Franz Danzi; Carl duldete weder Lollo Rosso noch
Zucchini, denn er haJJte den zersetzenden Einfluß alles Italienischen aufdeutsche
Ope- und ehrliches deutsches Gemüse wie ihn. Durch Rapunzel lernte er, wie
sollt's auch anders sein, ein treu-deutsches Mägdelein namens Gretchen kennen
.und nahm es auf Fausts Höllenfahrt mit, bis es ihm zu treu wurde. Margarete
Lang, die kleine Sopranistin, klagte in den allerhöchsten Tönen, deren ihr kleiner
Kehlkopf f?ihig war, als Carl Maria sie nicht ehelichen wollre. Da half es auch
nicht mehr, sie mit ihrem Kosenamen >Puzzicaca< anzusäuseln. Just als er ihrer
überdrüssig wurde und zudem bemerkte, daß das schwüle Klima ihn geistig anzu-
greifen begann (er hatte gerade die Cleopatra in Marc Anton gespielt und Franzi
Danzi seine/ihre Amme), da kam Franz Anton, ihn aus dem Sumpf herauszuhau-
en. Er hatte zwei große Kampfhunde dabei und seine Baßgeige; Tante Adelheid
allerdings war jetzt endgültig tot. Franz entdeckte in Carls Büro achthundert Gul-
den, die der Junge achtlos im verschlossenen Wandsafe hatte herumliegen lassen,
und nahm sie vorsichtshalber an sich. Das gab einige Verwicklungen und Aufent-
halt im Knast für Vater und ftir Sohnemann. Als man in C.M.s Wohnung auch
noch zwei fürstliche Kandelaber fand, erklärte Carl, daß Prinz Adam, der kleine
Armleuchter, sie bei ihm nur )vergessen< habe. Dem solle man gründlich heim-
leuchten, dem Nichtsnutz. Schon kamen wie die Geier auch noch alle Gläubiger
- der Herzog konnte sie, obgleich vollkommen ungewollt, mit Müh'nur durch die
ewige Verbannung retten.
In Heidelberg gefiel es Carl Maria aber auch ganz gut. Er schrieb Soldatenlie-
der in seiner Eigenschaft als kampferprobter Veteran und wurde von den studen-
tischen Bruderschaften sttirmischst gefeiert. Carl nahm so enthusiastisch am Trei-
ben der Zehntsemester teil, der wilde kleine Kämpfer, daß seine Prügeleien durch
die Polizei geschlichtet werden mußten. Er hatte wirklich eine schöne Zßit. Zwi-
schendurch hatte Carl mit teuflischer Hilfe eine Oper geschrieben, Silvana, in der
das Liebesduett vom Verehrer der Heldin allein gesungen wird, weil letztere
stumm ist; und kurz darauf sollte Abu Hassan an die Reihe kommen, auf wahren
Erfahrungen beruhend, so wie Samiel ihm das angeraten hatte: Als erstes verton-
te er den Chor der Gläubiger, die Worte >Geld! Geld! Geld!< Das war das echte,
pralle Leben, das er so verflucht gut kannte. Ansonsten konnte man wdhrend der
nächsten Jahre in Webers musikalischem Notizbüchlein immer wieder die Abkür-
zung >A.W.T.N.< finden, die jeweils das Ende einer abgekühlten Liebschaft
anzeigte, mit den schmeichelhaften Worten für die Herzensdame: >>Alle Weiber

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taugen nichts.<< Diese Wesen hatten nur das Heiraten im Kopf und waren zu nichtc
zu gebrauchen. So trieb es unsem Carl Maria um und um, Jahr um Jahr, bis es ihm
selber etwas unheimlich wurde, das Wander- und Tanzleben. Beim Herzog von
Sachsen-Gotha, der seine Haare täglich anders färbte und in Frauenkleidern zu
lustwandeln pflegte, war Carl in einen wahren Strudel musikalischen Treibens
gerissen worden, welcher ihn so erschöpft hatte, daß er, der Dauertanz-Erfahrene,
in höchsten Nöten hatteliehen müssen! Er war jetzt sechsundzwanzig, hatte eine
schwere kbensmittelkrise. (Was ja lebenszeitlich bei ihm auch ungef?ihr hin-
kommt.) Da konnte ihn nicht einmal sein eigener Berliner Fanclub, die Weberge-
sellen, auftreitem, der von bösen Stimmen heimlich >die Weberknechte< genannt
wurde. Außerdem haffe der Papa das Zeitliche gesegnet, und nun fehlte Carl die-
ser ungemein verl2ißliche Halt.
Als Carl anno 1813 Musikdirektor in Prag wurde, hatte er emsthaft vor, seßhaft
zu werden und eine Familie zu gründen. Er lernte sogar die tschechische Sprache,
um besser verstehen zu können, was die ihm unterstellten Musiker heimlich über
ihn fluchten. Denn auch hier entließ er wieder alle Alten und Schwachen und kon-
zentrierte seine Aufmerksamkeit viel lieber auf das corps de ballet und dessen
Reize. Und die Reize eines dieser Ballettkörper waren ganz außerordentlich. Der
Körper hieß Therese Brunetti, gab jedoch eher dem Ausdruck >Ballettratte< eine
neue Bedeutung. C.M., der eine Familie mit ihr gründen wollte, akzeptierte dabei
toleranterweise nicht nur die ftinf völlig verwahrlosten Kinderlein der Dame, son-
dern auch ihren Ehemann. Bald führten die drei bzw. acht einen harmonischen
gemeinsamen Haushalt. Doch die böse Brunetti behandelte ihren neuen Zweit-
mann nach einigen Wochen nicht mehr so nett. Er mußte Z,euge werden, wie sie
Nr. 1 verprügelte, ohne dem armen Mann helfen zu können, denn er selbst konn-
te doch nur betrunkene Studenten schlagen. Da gab er ihrer ältesten Tochter heim-
lich Klavierstunden, um sie eines Tages mit dem Ergebnis überraschen zu können.
Sie war in der Tät aufs tiefste überrascht von dieser Untemehmung, und gar nicht
mal so angenehm. Doch nun trat Caroline auf den Plan, Carls und Schnuffs spä-
tere Frau.
Wir dürfen nicht etwa denken, Caroline sei zur Seelenretfung Carls von Gott
gesandt gewesen. Eher im Gegenteil: Samiel, der endlich mal ein bißchen richti-
ge Musik hören wollte für das von ihm gewährte Stipendium, schickte Carl Maria
eine Braut, auf daß seine Weibergeschichten enden mochten und er Noten schrei-
ben könne. Das ewige Poussieren war er gründlich leid. Seine Wahl scheint im
nachhinein so genial, daß man versucht ist zu glauben, er habe das Mädchen extra
zu dem Zweck erschaffen. Wie seinerzeit Genovefa zuFtanz, nur unendlich abge-
brühter, bildete sie das perfekte Pendant zu Carl, dem lahmen Windhund. Als
Tochter einer Schauspielerin und eines halbseidenen Geigers und Tenors war sie
wie er hinter der Bühne großgeworden und kannte alle Tricks, zog alle Fäden der

99
Handlung. Ihr Vorleben scheint mindestens so farbig wie das seine; wie seine
Weste war ihr Mieder voll von bunten Flecken. Kulissenschieberei stellte auch
ihre Stärke dar, im wahrsten Sinn des Wortes: Als Carl Maria, nichts Schlimmes
ahnend, hinter der Bühne an ihr vorbeigeschlendert kam, fröhlich ein Liedchen
pfeifend, da blieb die gute Caroline ganz plötzlich an einer Kulissenschiene hän-
gen und ließ sich von einer weiteren Kulisse erst zu Boden, dann in Carls Arme
werfen. Da hatte der Blödmann sich was Schönes aufgeschnappt. Er brachte sie
natürlich nach Hause und blieb dann gleich dort, mehr oder weniger. Die Fußan-
gel hatte nicht sie, sondem ihn gefangen! Und wenn wir dann auch noch erfahren,
daß just am Tage des Verlöbnisses eine totale Sonnenfinsternis aufkam, dann wis-
sen wir Bescheid über die Verbindung ...
In Dresden fand Carl dann endlich die Wirkungsstätte, die seinem neuen
Wunsch nach Seßhaftigkeit perfekt entsprach und den wunderbarsten kreativen
Nährboden für jene Werke abgab, die der Teufel ihm direkt einflüsterte und die ihn
später entsprechend berühmt machen sollten. Das musisch-literarische Klima in
Dresden hob sich meilenweit und äußerst erquickend von den Sauf- und Rauf-
dichterbrüderschaften ab, die Carl bis dato kennengelernt hatte. Wie glücklich war
Carl, als er feststellen durfte, daß die Dichtertee-Yereinigung, die hier den Ton
angab, sich tatsächlich bei Tee und Butterbroten traf und daß die braven Famili-
enväter/-mütter pünktlich vor neun Uhr nach Hause gingen - abends wohlge-
merkt! Oder daß der Leithammel C.A. Böttiger, gleichzeitig Theaterkritiker und
Archäologe, demzufolge nur Stücke guthieß, die mit den Staubschichten und der
Patina des Urzeitlichen bedeckt waren, während die Leitkuh, ihres Zeichens Dich-
terin und Rezensentin, ihre ätzenden Artikel stets getreu ihrem Namen verbrach:
aus demWinkel nämlich. Weber war so glücklich, daß er um ein Haar die Berli-
ner Oper übemommen hätte, doch der Teufel Samiel ließ mitten in den Verhand-
lungen das dortige Opemhaus abbrennen, um seinen Schützling auf dem rechten
Weg und an der Kandare zu halten. Gnadenlos wurde für Weber in Dresden eine
lebensläingliche Bestallung erkämpft, und schon war C.M. in diesem goldenen
Stall gefangen, zumal sein treues Eheweib bald nur noch schwanger blieb.
Diese so knebelnd geordneten Verhältnisse wirkten ideal auf Webers Schaf-
fenskraft, da er nun kein anderes Ventil für Rebellion, Wanderlust und echten
Durst mehr fand als seine eigene Kunst. Im Theater trieb er's also bunter als je
zuvor, und er bereitete sich geistig auf den Freischütz vor, die musikalische Ver-
arbeitung seiner frühen Erlebnisse. Schon bei der Auswahl der Truppe scheint
Samiel Mitspracherecht genossen zu haben; Weber gab selbst zu: >>Der Altist ist
ein Hund<<, die Sopranistin atme wie ein Pferd. Wir wissen nicht, ob Schnuff in
jener muntren Runde mitgesungen hat, doch steht dies beinatr zu befürchten.
C.M., der trotz aller Kumpane keinen Platz zum Tanzen mehr hatte, sondern
stäindig auf der Stelle treten mußte, kriegte mittlerweile einen Drehwurm. Ein auf

100
anderthalb Quadratmeter Raum beschränkter Dauerwalzer macht jeden Tänzor
mit teuflischen Schuhen fix und fertig, auch wenn er zwischendurch seine kessc
Einlegesohle aufs Parkett legt. Es war nicht mehr auszuhalten, und so komponier-
te Carl mit Frauchens Hilfe die berühmte >Aufforderung zum Thnz<. Hinter die-
sem romantischen Konzertwalzer verbirgt sich ein richtiges Miniaturdrama, des-
sen Bedeutung C.M.seiner Caroline detailliert auseinanderpopelte, ungefähr wie
folgt: Der Tänzer schleicht sich an sein Opfer heran (Takt l-5). Die Dame verbit-
tet sich jedes Geplänkel und schmollt (Takt 5-9). Er droht ihr (Takt 9-13). Sie geht
auf seinen Vorschlag ein, weil er ihr den Arm auf den Rücken gedreht hat und ihn
andemfalls brechen könnte (Takt 13-16). Vor dem eigentlichen Tanzreden sie mit-
einander; er fragt: >>Tanzen wir zu dir oder zu mir nach Hause?< (Takt 17-19). Sie
antwortet: >>Mein Herr, Sie sind ein niederträchtiges - aua, schon gut, Sie brechen
mir ja sämtliche Knochen<< (Takt 19-21). Darauf er mit gesteigerter Eregung:
>Am liebsten möcht' ich gleich hier auf der Tanzfläche ...< (Takt 2l-23). Sie hat
resignierl >>Gut, bringen wir's hinter uns. Bei mir zu Haus'ist eh nicht aufge-
räumt<< (Takt 23-25). Bald kommt es zum eigentlichen Paarungstanz. Die ersten
Schrittchen aufeinander zu sind noch recht zahm (Takt 25-3I). Dann prallen die
beiden zusammen und kommen augenblicklich zur Sache (ab Takt 35). Nach dem
Tanz, dessen Takte im Eifer des Gefechts gar nicht mehr mitgezählt werden,
bedankt sich der Kavalier; die Dame bekommt ihren Arm zurück, prüft, ob er noch
funktioniert, und rennt weinend davon. Stille. - Da die Aufforderung jedoch ein
Rondo ist, müssen wir befürchten, daß der böse Wolf von Tänzer sich schon im
nächsten Moment ein neues Opfer holen wird. Und wer weiß, wie die Sache dann
ausgeht...
Da Weber, wie bereits angedeutet, nicht einen einzigen Augenblick stillzuste-
hen vermochte, kormte er natürlich auch seine Noten nicht selbst niederschreiben.
Seinen Verwandten und Bekannten schien es, als ob et gatnze Opern erst im Kopf
fabiziere, um sie danach in Windeseile zu >notiren<, wie C.M. es lapidar nannte.
Sein Schüler Benedict, der glaubte, Weber schreibe mit eigenen Händen, sah nur
das Endprodukt und meinte: >>Das Ganze war bereits in seinem Kopf derartig ent-
wickelt, daß die lnstrumentierung kaum mehr als Schreibarbeit war, und die
Noten flossen ihm aus der Feder mit allen Ausdrucksnüancierungen, so als ob man
gestochene Kupferplatten auf Papier abzöge.<< Dieser Eindruck ist sowohl wider-
sprüchlich als auch höchst irreführend. Zwar hatte Weber Erfahrung im Stein-
druck; und wenn Samiel ihn schriftlich kontaktierte, was allerdings selten vorkam,
nannte er Carl seinen >lieben Freund und Kupferstecher<. Doch nach Carls Able-
ben konnten jene Komponistenkollegen, die seine Fragmente verwursten wollten,
diese >gestochen scharfen< Krakel überhaupt nicht lesen! Benedict spricht von
Weberschen Geheimzeichen, Hieroglyphen, deren Bedeutung er allein kannte und
für seine charakteristischen Orchestereffekte einsetzte. AIIes Quatscft. Wenn sich

l0t
hinter diesen Zeichen etwas verbirgt, dann ist es der Schreiber persönlich, der auf
Webers Diktat hin tätig war - und der einzige Hausgenosse, der 1. C.M. halbwegs
ähnlich sah, 2. beweglich und mit affenartiger Geschwindigkeit arbeiten konnte,
jedoch 3. eine echte Sauklaue beim Schreiben besaß, war sein Hilfsgeist Dreimal-
dürfen-wir-raten.
Ihm verdanken wir natiirlich auch die Niederschrift des Freischütz, obwohl wir
nicht mit Bestimmtheit sagen können, wieviel davon Carl diktiert hat und wieviel
Samiel. Der Freischütz nämlich vereinigt sowohl die gelungensten Freischüsse
Carl Marias als auch die vom Teufel fehlgeleiteten in sich - jene, die den Schüt-
zen auf Umwegen selber treffen. Die Kugeln sind in diesem speziellen Fall eigent-
lich eher ein Frei-Bumerang, welcher dem Carl mit vollerWucht von hinten in den
Allerwertesten fuhr. Die Kern-, Dreh- und Angelszene in der Wolfsschlucht,
unterlegt mit flatternden Waldvögeln, einem schwarzen Eber, Sturm, Peitschen-
knallen, Rossegetrappel, feurigen Wagenrädern, der Wilden Jagd, Gewitter, Don-
ner, Hagel, Meteoren, Feuer aus der Erde und anderen Kleinigkeiten, riß jedes
Publikum im In- und Ausland zu entsprechenden Beifallsstürmen, orkanartigem
Applaus und feurigen Liebesbekundungen hin und ließ Webers Stern aufsteigen
wie eine Rakete. Es hagelte Präsente, und sein Ruf ward wie Donnerhall. Das
schien alles sehr schön, zumindest eine Zeitlang. Den ersten Arger gab es jedoch
schon, als man in Wien unter dem Druck der Z,ensur unfreiwillig die bei weitem
dämlichste aller Persiflagen aufzuführen gezwungen war: einen Freischütz ohne
Eremiten (das ging noch an), ohne Samiel (Gott, war der sauer!) und ohne Feuer-
waffen .., Leider ist nicht überliefert, wie das Problem nun gelöst wurde, ob mit
Freikegeln oder Freikug elstoJSen.
Das Schlimmste am Freischütz jedoch war gerade sein erschreckender Erfolg.
Weber konnte die Melodien, die überall gedudelt wurden (Reisende erzählten von
Negersklaven in Zuckerrohrplantagen, die begeistert den >Jungfernchor< sangen),
bald nicht mehr ertragen, mußte sie aber immer und immer wieder dirigieren.
Wenn er etwas anderes zur Aufführung bringen wollte, verlangte das Publikum
kein Maoam,n:ur den Freischütz, Freischütz, Freischütz. Es kam so weit, daß C.M.
Leuten, die ihm freudig mitteilten, die soundsovielte Aufführung in Timbuktu sei
soeben gelaufen, fast eine runtergehauen hätte. Seine anderen Opern mochte nie-
mand leiden, und sehr bald wünschte Carl, er hätte den verteufelten Schützen nie
geschrieben. Als er allein nach England ging, um einsam dort zu sterben, vernahm
der Carl auch dort nichts als den gottverdammten Freischütz.
Jawohl, in England starb unser Ewiger Tänzer mit der gedämpften Pferdelun-
ge. Noch auf dem Totenbett muß er mit den Füßen herumgezappelt haben: Wie
sonst ist zu erklären, daß einer der Arzte ernstlich vorschlug, einen Aderlaß vor-
zunehmen, wiewohl der Patient >seit fünf oder sechs Stunden tot< sei? Daß dieser
Eingriff schließlich nicht geschah. lag nur daran, daß Weber in keiner Kranken-

r02
kasse war. Die Inhalation mit Blausäure kurz zuvor hatte eher zu Testzwsckcn
gedient. Doch auch nach dem Tode ward Carl vom Teufel nicht verschont. Eln
Lied, gesungen bei der prunkvollen Begräbnisfeier, hieß >The Death of Webcr< -
es war ein Potpourri aus den gängigsten Freischütz-Melodien. Als der tote Carl
Maria das hörte, fing er nicht etwa an, im Sarge zu rotieren wie gewöhnlicho
Leute. Er fiihrte einen echten, verzweifelten Totentanz auf ... und das ganz ohnc
Aufforderung.

103
Der Notenvampir
Schumann, Robert (18L0-1856)

Hunderte von Mythen und Märchen, die sich anmutig wie Myrtenkr?inzchen und
hartnäckig wie Kletterefeu um die Häupter großer Personen der Weltgeschichte
ranken, hat man im Laufe der Zeit schon gehörig entlauben müssen. Nicht genug
damit, daß inzwischen wirklich jeder weiß, daß Shakespeare nicht Shakespeare
war, sondern die erfundene Galionsfigur eines geheimen, verschlafenen engli-
schen Penn-Clubs mit Namen S.H.A.K.E.S.P.E.A.R.E. Oder daß Jesus Christus
drei Jahre vor Christi Geburt das Licht der Welt erblickte und damit irgendwie
nicht ganz er selbst gewesen sein kann. Und erst das Entsetzen der Bevölkerung
von Mallorca, als sich herausstellte, daß George Sand nicht der Ehemann der Frie-
derike Chopin war, sondem umgekehrt! Dieser zwar traurigen, aber notwendigen
Tradition der schonungslosen Enthüllung folgend, muß man auch Robert Schu-
mann vom Höckerchen schubsen, und das tut uns viel mehr weh als ihm, derur der
Mann genießt die Gnade der frühen Geburt und kriegt nichts mehr davon mit.
Dabei hat wohl niemand es so dringend verdient wie gerade er, dazu gezwungen
zu werden, seine Lorbeerblättchen nachträglich wieder herauszurücken und die
aus fremder Leute Gefieder herausgerupften Federn den rechtmäßigen Besitzern
zurückzuerstatten.
Das große Zauberwort, welches mit Schumann in unmittelbare Verbindung
gebracht werden muß, heißt >Mystifikation<. Also Verschleierung von Tätsachen,
Geheimhaltung der eigenen Person, Verdrehung der Wahrheit, Tarnung mit Hilfe
von erfundenen Gestalten, Spielerei mit Rätseln, Auftritte inkognito, anonyme
Verleumdungen und Drohungen, Verdummung der Angehörigen sowie der restli-
chen Menschheit - und insbesondere die böswillige Manipulation seiner Gattin,
Clara Wieck. In jener vampirhaften psychischen Ausbeutung seiner Gemahlin
liegt der wahre Schlüssel zu all seinem Ruhm: welch grausam-bittere lronie! Dies
soll nicht etwa nur bedeuten, daß Schumann Clara als seine Muse mißbrauchte
(das tut schließlich jeder Mann). Es heißt schlicht und ergreifend, daß der Clara-
lose Schumann keine blasse Ahnung von Musik hatte, außer ein wenig Notenle-
sen und dilettantischem Klimpem, und daß er ohne Clara ein unbedeutendes,
nichtssagendes Leben hätte führen müssen. Nicht einmal in seiner hübschen,
gemütlichen Lieblingsheilanstalt hätte er sterben dürfen ohne Clara!
Es schmerzt zutiefst (gerade in unserem Zeitalter der Lieblosigkeit und des Ver-
falls der britisch-sittlichen Monarchie), eine als mustergültig und ergreifend
romantisch verklärte eheliche Verbindung wie die von Robert Schumann und

104
Clara Wieck im grellen Neonlicht der Fakten zu beleuchten und nicht llinger bei
wärmendem Kerzenschein. Doch es geht nun einmal nicht anders. Eine einzige,
wenn auch winzige Kleinigkeit bereits läßt den hochfliegenden Schwärmer ziem-
lich unsacht zu Boden plumpsen: Schumann befand sich anderthalb Jahre in der
von ihm gewöhlten, offenen Heilanstalt zu Endenich bei Bonn, untemahm zahl-
reiche ausgedehnte Spaziergänge und Kurzreisen und empfing so manchen Gast.
Er war demnach nur mäßig verblödet zu jener Zeit-kaum mehr als außerhalb der
Klapsmührle. Clara kam während dieser speziellen Szene-ihrer ach so vorbildli-
chen Ehe nur ein einziges Mal zu Besuch. ZweiTage später war der Gatte tot ...
Nun ja, wie der Zufall eben so spielt.
Apropos >Szenen einer Ehe<. Robert Schumanns wirkliche Begabung lag in
der lnszenierung und dramaturgischen Aufbereitung seines an sich todlangweili-
gen Lebens. Darin war er der unumstrittene Meister, denn immerhin schaffte er
es mit links, sich und seine farblose Existenz bereits im ersten Jahrzehnt des Ton-
films auf Zelluloid bannen zu lassen, ganz abgesehen von den unzähligen Buch-
autoren, die darauf bestanden, ihm schwarz auf weiß einen Heiligenschein zu
verpassen. Die vier grundlegenden Elemente seines Lebensweges bestechen
durch ihre absolute melodramatische Perfektion jeden Dichter und jeden Regis-
seur, wobei letztere Berufsgruppen nur leise in ihr Schnupftüchlein schluchzen
dürfen, weil ihnen in ihren wildesten Fantasien niemals etwas annähernd Schö-
nes eingefallen wäre. Sie wissen ja nicht, daß Schumann selbst lediglich nach
einem fräh ausgeklügelten Drehbuch gelebt hat (so wie andere nach Diät), sich
allerdings strengstens an den einmal erwählten Bauplan haltend. Illusionen
waren ihm das tägliche Brot, mit welchem er seine Umwelt fütterte. Man muß
ihm zugestehen, daß sein Script alles vor ihm und nach ihm Dagewesene schlägt,
von Doktor Schiwago bis Vom Winde verweht (inklusive Fortsetzung). Die vier
Zutaten sind a) das Scheitem aller Virtuosenpläne nach einer Verletzung der
Hand, b) der Kampf um eine Geliebte, die der böse Vati ums Verrecken nicht her-
geben will, c) das häusliche Glück mit vielen Kinderlein, d) das sanfte Verdäm-
mern in der Heilanstalt. Das ist noch echte Biedermeier-Idylle, insbesondere
Punkt d. Da kommt unsereins nicht mit. Schumann selbst wäre nicht mitgekom-
men, wenn er nicht höllisch aufgepaßt und jeder Regie-Möglichkeit anständig
nachgeholfen hätte. Wo der begnadete Mensch lenkt, spielt das Schicksal nur
eine sehr untergeordnete Rolle.
Was den Schumann-Unkundigen in musikalischer Hinsicht als erstes überra-
schen dürfte, ist die Tatsache, daß Robert nicht nur kein Noten-Wunderkind war
(in einer Z,eit, als man ununterbrochen über Wunderkinder stolperte), sondem das
bürgerlich-obligatorische Erlernen des Klavierspiels mehr oder minder passiv
über sich ergehen ließ, ohne je aus seiner Apathie zu erwachen. Einen wahren
Berufenen stellt man sich irgendwie anders vor: Der braucht keine Lehrer, keine

105
Noten, nicht einmal ein Instrument, wenn die göttliche Gabe ihn durchglüht. Neun
Jahre Unterricht bei einem netten alten Organisten namens Kuntsch hinterließen
weder Spuren noch Eindrücke; nachdem Schumann jedoch die Blüte seiner Popu-
larität erreicht hatte, war sich Kuntsch ganz sicher, daß dieser Dings, dieser Wie-
hieß-er-noch-gleich schon immer den Anflug des Genialischen mit in sein Kla-
vierstübchen gebracht hatte und den begeisterten Lehrer so bezauberte, daß dieser
vor Aufregung meist darüber einschlief.
Die eigentliche - und einzige - Liebe des Robert Schumann gehörte der Litera-
tur. Sein Herr Papa besaß eine Buchhandlung in Zwickau, welches nicht nur am
hintersten Ende der damaligen Welt, sondern auch im Nichts-und-Niemandsland
von Sachsen lag.ZumAusgleich gab es dort furchtbar viel Landschaft und enorn
viel Z,eit zum Lesen. Vater Schumann hatte neben literarischem auch verlegeri-
sches Blut in den Adern; beide Blutgruppen vererbte er Robert, seinem Jüngsten.
Robert wollte Dichter werden, nicht Musiker. Zumindest steht in dem Tagebuch,
das der Sechzehnjährige anlegt, noch kein Wort übers Klavierspielen, dafür eine
Menge über den von ihm gegründeten literarischen Verein für Halbwüchsige. Ro-
bert möchte alle Gattungen persönlich ausprobieren, beginnt Dramen, Romane,
Gedichte, bis er jäh erkennt, daß das wahre und einzig würdige schriftstellerische
Genre das Fragment ist, der großangelegte Zwei-Seiten-Entwurf ohne Fortset-
zung. In dieser Sparte bringt er es dann auch zu echten Meisterleistungen. Doch
die Hauptsache ist, daß im Kreise des ihm, dem Gründe1 an den Lippen hängen-
den Vereins ausgiebig darüber diskutiert wird. Nur im Fragment steckt schließlich
die Möglichkeit zum wirklich Großen, selbst wenn man beschließt, sie nicht zu
nutzen.
Die literarische Vereinsmeierei unter dem Deckmäntelchen des Verschwöre-
risch-Geheimnisvollen bleibt Roberts Steckenpferd. Er folgt darin - und das er-
weist sich als folgenschwer für alle unfreiwillig an seinem Leben Beteiligten -
dem Beispiel eines gewissen Jean Paul und besonders der Vorgabe E.T.A. Hoff-
manns. Die Art und Weise, wie sowohl Hoffmarurs irdische Existenz als auch sei-
ne Erzählungen das Schumannsche Lebensdrehbuch beeinflußten, erscheint nach-
gerade unheimlich, gelinde gesagt. Zuerst ist noch Jean Paul an der Reihe mit dem
Angeschwärmt-Werden: Schumann identifiziert sich mit dem Kerl bis zur Selbst-
aufgabe seiner Persönlichkeit, schwafelt >jean-paulisch<, schreibt jean-paulische
Fragmente, denkt angeblich jean-paulisch (was niemand beweisen kann); die
Hektoliter von Bier, die er schluckt, säuft erjedenfalls ganz und gar aufjean-pau-
lische Art. Die Bayreuther Mädchen, die er nach des Meisters Tod dem Vorbild zu
Ehren anbetet, verführt er nach jean-paulischer Manier, obwohl sich kein Gerin-
gerer als Dietrich Fischer-Dieskau himself für Roberts Jungfräulichkeit während
dieser Epoche verbürgt. Sein Woft steht allerdings gegen das von Schumann, wel-
cher von >Pussaden< spricht, sogar von >Fingerübungen, Doppelschlägen und Ton-

106
leitern unter Röcken<. Wem soll man nun glauben, dem Experten oder dem Dilet-
tanten?
Wie dem auch sei - in seinem achtzehnten Jahre jedenfalls folgt Schumann,
wenn auch erfolglos und ohne zu erröten, den konkreten Spuren seines ande-
ren literarischen Leitstems, der immerhin viel mehr mit Musik zu tun hat als Jean
Paul, aber genauso tot ist. E.T.A., bekanntermaßen begnadeter Dichter, Musiker,
Maler und Opernkomponist, wirkte zwischendurch auch als begnadigter Jurist.
Zwar ist die Jurisprudenz keine richtige Wissenschaft, doch geeignete Vertreter
derselben verstehen sich auf die schöne Kunst, Dichtung und Watrheit besser
und nachhalti9et ztr verdrehen als jeder Poet (lediglich etwas trockener). Schu-
mann, der nach dem Tode seines Vaters nicht mehr weiß, in welcher Sparte er
genialer wirken kann - Literatur oder Musik -, schreibt sich, scheinbar auf Drän-
gen der Mutter und Brüder, an der Leipziger Uni ein: juristische Fakultät natür-
lich. Nun ist er weg von zu Hause, in einer großen Stadt ohne Aufpasser, und hat
alle 7-eit der Welt, weiter mit sich zu ringen, ob er lieber schreiben oder kompo-
nieren soll. Es darf nämlich nicht gänzlich unerwähnt bleiben, daß am Grunde
einer schimmligen Kiste auf dem Zwickauer Dachboden, neben der Gedichtfrag-
ment-Spickzettel-Sammlung, ein loses Blatt mit irgendeinem Psalm begraben
liegt, den er mit zwölf Jahren verbrochen hat. Angeblich beweist das Ding seine
überragenden kompositorischen Fähigkeiten, doch mit der einmaligen Demon-
stration seines Könnens schien Robert vollauf zufrieden. Er war halt von Anfang
an ein ziemlich fauler Sack. Anders als E.T.A., der erst Richter wurde und sich
danach hauptberuflich ausruhte, kürzte Robert die Prozedur des Studiums auf sehr
zweckmäßige Weise ab, indem er, wie sein Busenfreund Emil Flechsig bestätigt,
nach der Immatrikulation kein einziges Mal einen Hörsaal betrat. (Allerdings ist
auch von einem etwaigen bestandenen Examen bei Flechsig keine Rede. Trotz-
dem hat Schumann später den Ehrendoktor der Uni Jena verpaßt bekommen,
nachdem er selbst den diesbezüglichen Antrag stellte; offenbar ging das damals
ebenso leicht vonstatten wie heute die Wühltisch-Verramschung von Bundesver-
dienstkreuzen.)
Was macht ein Student, wenn er - wie im Falle Schumann - gerade nicht büf-
felt? Er schließt sich einer Schlagenden Verbindung an, kann sich aber wegen sei-
ner Abneigung gegen spitze Gegenstände nicht recht durchscNagen. Vor lauter
Elend wendet er sich mal wieder der Musik zu, denn eine gewisse Agnes Carus,
von Beruf Professorengattin, schleppt ihn regelmäßig zu ihren Hausmusiken, wo
sie singt. Robert liebt Agnes abgöttisch, was er später takfvollerweise auch Clara
erzählt, der er übrigens bei eben diesen Hausmusiken das erste Mal begegnet. Sie
ist neun und dem Heiratsalter somit nicht mehr fern. Robert macht sich für den
späteren Gebrauch hierüber eine mentale Notiz, nimmt aber sonst kaum welche
von Clara. Dafür nimmt er Unterricht bei Vater Wieck, welche ihm beide bald stin-

to7
ken, denn sie bedeuten Arbeit mit einem großen A. Robert möchte richtig studie-
ren, in der weiten Welt, in Heidelberg. Und tatsächlich >schmeckt< ihm hier das
>Jus< exzellent, wie er der besorgten Mama schreibt. Nur versteht er unter >Jus<
keineswegs das Studienfach, sondern Fruchtsäfte allerArt wie Champagrrer, Bier,
Punsch und Rum, die seine geistigen Kräfte zur vollsten Entfaltung bringen. Sei-
nem Tagebuch entnehmen wlr, daß er zum regelrechten Kampftrinker avancierte,
der es schaffte, während des gesamten Jahres 1830 immerhin zwei oder drei Tage
nüchtern zu bleiben. Ansonsten ist er >knill<, wie er es nennt, also so stockbesof-
fen, daß seine Kumpane ihn morgens meist wie ein Paket vor seiner Tür ablegen.
Bei einem wunderschönen Ausflug in die Natur bricht wieder das literarische
Genie aus ihm hervor; alle sind blau, auch der Kutscher, dessen Zustand er in
anmutigen Worten beschreibt: >>... er lag in seiner Gotze<<. Jene lebensnahe Schil-
derung, die obendrein echt sächsisches Flähr ausstrahlt, legt Zeugnis von Schu-
manns feinsinnig-romantischer Poesie ab. Wtihrend einer Italienreise, die künstle-
risch ganz ohne Nachwirkungen bleibt, sammelt Robert einen einzigen riesigen
Eindruck aus der Musikwelt. Diese Impression, obschon mit einer Rossini-Auf-
führung in der Scala verbunden, läßt keine Rückschlüsse in Sachen Oper zu. Es
ist die Sängerin, der Robert mit Leib und Seele verfüllc Giuditta Pasta, genannt
>pasta asciutta<, für ihre Freunde schlicht >die Nudel<.
Dann aber geht es Schlag auf Schlag, musikalisch gesehen. Bei dem Rechtsge-
lehrten Thibaut hat Robert ausgiebig studiert, streng nach dessen Buch >Die Rein-
heit der Tonkunst<. Im Hause Thibaut macht er begeistert im Liederverein mit,
denn das Liederliche kommt seiner natürlichen Begabung sebr entgegen. Daß der
junge Mann für Jura ungeeignet ist, versteht sich von selbst; daß er auch mit der
Musik schiefliegt, sagt ihm Thibaut nicht. Schumann darf regelmäßig an den Don-
nerstagskonzerten teilnehmen, denn donnerstags bleibt Thibaut in der Uni und
braucht demnach nicht zuzuhören. Robert sitzt wieder öfter vor dem Klavier und
spielt sogar ab und zu. Er brütet über Entwürfen und Fragmenten (siehe oben). Er
hat das Gefühl, dasZntsg zum Komponieren zu besitzen, und schreibt an Wieck in
Leipzig: >Wüßten Sie, wie es in mir drängt und treibt und wie ich in meinen Sym-
phonien schon bis op. 100 gekommen sein körmte, hätte ich sie aufgeschrieben.<<
Zum Komponieren gehört leider meist auch das Aufschreiben, welches mitArbeit
verbunden ist; immerhin aber hatte Robert zu just jenem Zeitpunkt bereits sein
Opus I (in Worten: Eins) vollendet, >Abegg-Variationen< geheißen. Als ob das
etwa nichts wäre! Thibaut lobt den Liederjan schließlich weg, und Wieck richtet
das seinige an, indem er Robert und dessen Mama im Zustande geistiger Umnach-
tung verspricht, den Taugenichts in einen Künstler zu verwandeln, >leidenschaft-
licher als Moscheles und großartiger als Hummel<<. Keiner weiß, was der Ver-
gleich bedeuten soll; aber Hummel konnte schon damals sehr schöne Porzellanfi-
guren brennen.

108
Robert Schumann selbst hat inzwischen sehr wohl begriffen, daß er für das Vir-
tuosentum völlig unbegabt und zudem viel zu faul ist. Die ersten Monate in
Wiecks Hause (er nistet sich bei seinem Lehrer ein und bekommt Kost, Klavier
und Logis) scheint er zu klimpern wie ein Bekloppter, natürlich nur, wenn man
seine Anwesenheit am Pianoforte auch wahrnimmt. Aus dieser Zeit stammt die
Legende mit dem vor lauter Arbeitsübereifer abgeklemmten Finger, die wie folgt
geht: Robert bemerkt, daß der Mittelfinger der rechten Hand noch schneller, noch
beflissener spielt als die anderen und will dem Racker Einhalt gebieten, um die
Kleinen auch zum Zuge kommen zu lassen. Deshalb bindet er ihn fest. Das Blut
staut sich, der Finger kriegt keine Luft mehr, er bäumt sich noch einmal in Todes-
agonie in seiner Schlinge aufund - stirbt. Danach gereicht er höchstens noch zur
Zierde des Besitzers, wenn überhaupt, denn er bleibt leichenblaß bis an sein Ende.
Das soll angeblich der Auslöser für Roberts ersten bildschönen Zusammenbruch
gewesen sein. Bei jedem anderen, richtigen Musiker wäre man mehr als bereit,
solch eine Story unbesehen zu glauben. Nicht so bei Robert dem Faulen, der sei-
ner Mama lange vor dem >Unglück< schrieb: >>An den reinen Virtuosen denke ich
nicht - das ist ein sawes, undankbares Leben.<< Und später: >>Wegen des Fingers
mache Dir keine Unruhe! Komponieren kann ich auch ohne ihn, und als reisender
Virtuose würde ich kaum glücklich sein.<< Das klingt alles recht nett, nur - kom-
ponieren konnte er noch nie ... Aber er hat ja Clara, und zwar mit Haut und Haa-
ren, denn er versteht es, dem Mädchen die gart.z;e Fingergeschichte in die kleinen
Schuhe zu schieben.
Es stimmt: Schumann opfert in voller Absicht einen Finger, um Clara lebens-
lang gefügig zu machen. Als älterer Spielgefährte Claras und ihrer beiden Brüder
tollt er mit den dreien herum, erzählt Mdrchen ... und stellt sich nur zu bereitwil-
lig als Partner für Claras Lieblingsspiel zur Verfügung: >Katzenwiege<. Altere
Menschen (d.h. Leute über dreißig) erirurem sich vielleicht noch an dieses
Fädchengewirr: Zwischen den Daumen und kleinen Fingem des einen Spielers
wird ein Netzwerk gesponnen, das der andere mit den Mittelfingern abnehmen
und kunstvoll verändern soll. Ein Kätzchen fände mühelos in diesem Gespinst
Platz - Schumanns dicker rechter Mittelfinger aber nicht. Er spielt trotzdem wei-
ter, bis der Finger erst blau, dann schwarz, dann tot ist. Augenscheinlich kann ihn
Claras anschließendes gutgemeintes Geschenk nicht über seinen f,rngerlosen
Zustand hinwegtrösten, nämlich die weitgehendst unbekannt gebliebene Kompo-
sition mit dem Titel >Variationen über ein Neunfingerfaultier<. Die eigentliche
Ursache für Roberts hinterhältig ausgeklügelten Plan, das Spiel mit der unschul-
digen Seele eines zarten, hochbegabten, beinahe heiratsfähigen Kindes, liegt wie-
der einmal viel tiefer. Es ist mithin an der Zeit, zu E.T.A. Hoffmann, Schumanns
Vorbild zurückzukehren, den er auch oder besser gerade in Verbindung mit Clara
gnadenlos zu imitieren sucht.

109
Wem bis zum Zeitpunkt des Fingerhakelns das Leben und Wirken Schumanns
blaß, nichtssagend und verworren vorkam, der hat mit diesem Eindruck völlig
recht. War Robert S. bis dato ein streunender Bluthund auf der Suche nach einem
unbekannten Knochen, der sein Bein mal hier, mal don hob, um wahllos Zeichen
seiner Existenz zu hinterlassen, so hat die Kreatur, die er von nun an sein wird,
das Opfer seiner Träume gefunden: Clara. Es ist bezeichnend, daß er vor seinem
Einswerden mit dieser armen Dulderin aussclrließlich Stückchen schreibt, die
etwas mit Maskierungen nJ tvn haben - schließlich liegt der Bösewicht auf der
Lauer. Seine >Papillons<, knappe, rasch vorüberziehende Neglig6-Fetzchen von
Melodien (so kurz, daß sie schon wieder futsch sind, bevor man etwaige andere
Schöpfer ausmachen kann), sind Figuren eines musikalischen Romans, die sich zu
einem Maskenfest versammelt haben. Sie huschen dahin, bis die Morgenglocken
dem trunkenen Trubel ein Ende bereiten. Der >Carnaval< von 1834 ist ebenfalls,
wie Robert selbst zugibt, ein >Maskenroman<, in dem alle möglichen zwielichti-
gen Gestalten besoffen herumtaumeln, die nicht erkannt werden wollen und die
tatsächlich niemand erkennt. Aber nicht genug mit den Verkleidungen: Die
>Davidsbündlertänze< (immerhin schon op. 6!) stellen nach Roberts Worten
>Totentänze, Veits-, Grazien- und Koboldstänze< dar, bei denen es hinterher wie-
der niemand gewesen sein will, außer vielleicht den Davidsbündlern, einer von
Schumann gegründeten öffentlich-geheimen Clique von >Neuerem< oder >Neue-
ren< oder was auch immer. (Die Ziele dieser Bande waren relativ unklar, beson-
ders den Mitgliedern selbst. Manche Freischärler wußten nicht einmal, daß sie
Davidsbündler waren - z.B. Beethoven, der längst tot war und posthum zum
Ehrenmitglied ernannt wurde, oder Chopin, der Schumann überhaupt nicht leiden
konnte, was der Kerl einfach nicht akzeptierte.) Festzuhalten wäre höchstens, daß
die Davidsbtindler ein Vorbild in E.T.A.s Werk haben, den >Serapionsbrüdem<,
und daß auch ihr Ringelreihen ein >Nachtstück< ist, bei dem erst der Glocken-
schlag die aufdringlichen freien Geister vertreiben muß. Nach der Anlehnung an
weitere Phantasie- und Nachtstücke Hoffmanns bekennt Schumann Farbe in sei-
nem Werk >Kreisleriana<, wo er sich, für jedermann sichtbar, hinter einem Kater
namens Murr versteckt. Hoffmanns Kapellmeister Kreisler (Untertitel: >Lichte
Stunden eines wahnsinnigen Musikers<) teilt sich ein Doppelleben mit dem Kat-
zenvieh, so wie Schumann zum selbstemannten Doppelgänger Hoffmanns heran-
reift. Und böse Doppelgänger sind Hoffmanns Stlirke ...
Das wohl berühmteste und unheimlichste Prachtstück von Nachtstück, den
>Sandmann<, bezieht Robert folgerichtig auf sich selbst, Vater Wieck und dessen
Wunderkind Clara. Schon aus Offenbachs Oper kennt man das holde Geschöpf
Olimpia, welches von seinem Professoren-Vater, der dabei fast vor Stolz platzt,
dem musikbegeisterten Publikum vorgestellt wird. Anders als in der Oper kann
E.T.A.s Olimpia nicht nur gottserbärmlich kreischen, sondern ausgesprochen takt-

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voll dazu Klavier spielen! Natürlich sieht sich Robert in der Rolle des jungen Stu-
denten, der von Wiecks präpariertem, dressierten kleinen Wunderwerk der Spiel-
technik ebenso in den Bann geschlagen werden soll wie die anderen Philister.
(>Philister< war Roberts Lieblingsausdruck und bezog sich auf alle, die seine
Musik nicht mochten, selbst als er noch keine geschrieben hatte.) Aber Robert ist
mit dem Szenario vertraut, wie er glaubt, und läßt sich nicht becircen von dem
Kinder-Automaten: Es kann und darf nicht sein, daß ein neunjähriges Gör besser
spielt als er und obendrein angeblich eigene Kompositionen vorträgt. Sofort sucht
der Eingeweihte nach den geheimen Mechanismen, die der Vater, Claras Klavier-
drahtzieher, betätigt, um sein Geschöpf zum Klingen zu bringen. Alle Welt mag
verblendet sein; Robert ist es nicht, wenn er auch den Trick noch nicht herausbe-
kommt. Aber etwas später kehrt er wieder und schleimt sich ins Wiecksche Haus
ein, diesmal allerdings aus völlig anderen Beweggrtinden - er hat erkannt, daß er
persönlich eine Flasche ist, wenn auch eine begabte, und daß er den verdammten
kleinen Automat für seine eigenen Zwecke umprogrammieren muß, will er es in
dieser Welt zu etwas bringen. Das Clara-Ding muß dem Schöpfer-Vater abspen-
stig gemacht werden. Er selbst, Robert, wird die Fäden derMarionette in die Hand
bekommen und sie für sich springen lassen! Deshalb auch die Geschichte mit der
Katzenwiege. Leider funktioniert die Fingerabwürge-Geschichte nicht zu seiner
Zufriedenheit, denn Robert verliert den Faden der Handlung schnell wieder. Er
gleitet ihm aus den tauben Händen, weil er - o Schreck - plötzlich einsehen muß,
daß das Balg sehr wohl ein Eigenleben entwickelt hat, einen Willen, Wünsche und
überhaupt eine Menge Zeug, das weiblichen Wesen (ob nun maschinell oder
natürlich hergestellt) nicht guttut.
In einer Sache denkt Clara so wie ihr Vater und andere Mädchen: Sie will gut
versorgt sein, wenn sie einmal heiratet. Schumann schreibt ihr in einem Brief
sehr zuversichtlich von seinem bevorstehenden Wahnsinn, der jeden Moment zu
erwarten sei; doch das hat Clara eigentlich nicht gemeint mit dem Wort
>Zukunftsaussichten<. Sie kann sich nicht so recht über Roberts Versprechen
freuen, auch dann nicht, als er ihr aufs Butterbrot schmiert, sie sei immerhin
schuld an seinem Finger und der geplatzten Virtuosenkarriere. Obwohl Robert
nicht Orgel spielt, zieht er nun alle Register, denn er muß das widerspenstige
Etwas in den Griff kriegen. So spielt er ein anderes Weib gegen Clara aus, ein
älteres und abgebrühteres, welches ebenfalls bei Wiecks Wohnung bezieht:
Emestine von Fricken. Als Clara auf Toumee geschickt wird, weil der Papa die
von Robert ausgehende Gefahr erkennt, nicht aber dessen Plan, wirft sich Schu-
mann flugs auf Emestine und verlobt sich mit ihr. Bei ihrer Rückkehr wird Clara
fürchterlich eifersüchtig. Schwuppdiwupp löst Robert die Verlobung und wirft
sich auf Clara, die jetzt alles mit sich geschehen läßt. Zynisch erklärt Schumann:
>>Ernestine mußte kommen, damit wir vereint wurden.<< Wie wahr! Interessant

111
erscheint dann auch die sagenhafte Schnelligkeit, mit der sich Emestine zurück-
zieht, ohne zu maulen, sowie ihre anschließende Hilftstellung beim Kampf des
Paares gegen Vater Wieck. Ernestine hatte vorher immer wenig Geld besessen,
was natürlich gar nichts besagen soll ...
Jetzt kommt es zum Duell Schumann-Vater Wieck, Usurpator gegen Schöpfer.
Clara möchte sich mit dem Vater, der sie so gut dressiert hat, nicht überwerfen und
gibt das Robert deutlich zu verstehen. Robert, seit längerem erfolgreicher Her-
ausgeber einer schöngeistigen Zeitschrift, weiß, daß er endgültig über Clara tri-
umphieren wird, wenn der Vater ihren Liebling meucheln zu wollen scheint. Er
intrigiert folglich gegen sich selbst, benutzt die eigenen Zeitungspseudonyme so-
wie diverse Davidsbündler für seine Zwecke (unter ihnen einen Herrn >Serpenti-
nus<, einen wahrhaft lächerlichen Schlangenmenschen). Und Robert gewinnt:
Clara prozessiert mit ihm gegen den Vater und heiratet ihren neuen Herrn und
Meister.
Clara hat damit ein für alle Mal verspielt, im wahrsten Sinne des Wortes. Robert
kennt nur ein einziges Ziel - er muß an die kostbaren Noten in Claras Kopf her-
ankommen und sie verwerten, ohne Clara wissen zu lassen, daß sie die Urheberin
seiner >Werke< ist. Zunächst einmal muß er sie ans Haus ketten; also macht er ihr
ein Kind. Clara ist ganz erstaunt, wie schnell so etwas geht und wie furchtbar es
sich auswirkt. (Danach kommen in schneller Folge sieben weitere Sprößlinge.)
Schon zuvor, am Tage ihrer Vermählung, hat er ihr das kostbarste Hochzeitsge-
schenk abgeknöpft, einen von dem berühmten Klavierbauer Conrad Graf aus-
dräcklich der Gattin verehrten Flügel. Schumann allein darf darauf klimpem,
Clara notiert beträbt: >Nicht ein Stündchen am ganzen Tag findet sich für mich!<<
und >>Er ist kalt gegen mich.<< Doch die häusliche Harmonie ist perfekt, wenn
Clara, wie Robert befriedigt notiert, Goethes Leben liest und Bohnen schneidet.
Bohnenschneiden und Goethe - das hält auf die Dauer ja kein Mensch aus! Offen-
sichtlich bewacht Robert den Flügel Tag und Nacht und schläft auch darin, denn
er sagt einmal, das Klavier werde ihm langsam zu eng. Die Konzertreisen würde
Robert seiner Frau sehr gem verbieten, nur - er ist dauernd pleite, und sie kann
damit Geld verdienen. Im Endeffekt jedoch liefern ihm gerade die verhaßten
Tourneen den lange vergeblich gesuchten Schlüssel zu Claras Noten. Robert
beklagt sich nämlich bitterlich, daß er inkognito herumsteht oder -sitzt, während
man Clara umjubelt, daß er sogar gefragt wurde, ob er auch etwas mit Musik zu
tun habe! Zum Großherzog von Oldenburg darf er nicht mit hinein (nicht mal zum
Dienstboteneingang), und als Clara dem russischen Zaren zwei Stunden vorspielt,
drückt sich Robert allein draußen im Schnee vor dem Winterpalais herum, schnat-
tert vor Kälte und flucht. Vor lauter Langeweile fängt er an zu zeichnen: Frag-
mente natürlich.
Aus lauter Mitleid begeht Clara den letzten großen, verhängnisvollen Fehler.

tt2
Sie weiß, daß Schumann sein Leben lang mit übersinnlichen Phänomenen herum-
experimentiert hat, Okkultismus und Tischrücken praktiziert (es ist daheim immer
Robert, der die Täfel aufhebt) und mit Toten zu kommunizieren sucht. Gewisse
musikalische Themen will Schumann direktemang von den Geistern Schuberts
und Mozarts empfangen haben. Da meint Clara, es dürfte doch ein kichtes für
ihn sein, mit seinem Frauchen in telepathischen Kontakt zu treten, alldieweil sie
doch noch nicht so tot sei wie seine anderen Freunde. Sie schlägt vor, daß beide
einander allabendlich zu bestimmter Stunde auf einer >Gedankenbrücke< treffen
sollen. Robert zeigt sich zu Recht begeistert, hat er doch somit durch Clara selbst
die Möglichkeit erhalten, ihren Notenvorrat nicht nur zu lesen, sondem auch anzu-
zapfen und nach Belieben, mühelos wie nach Diktat, niederschreiben zu können!
Was sein Eheweib ihm sonst noch mitzuteilen hat - ob sie etwa Goethe mehr liebt
als Schnippelbohnen oder umgekehrt -, ist ihm herzlich schnurz. Von nun an geht
es munter voran mit der Komponiererei, besonders weil Claras Verstand immer
offen für ihn steht, nicht nur nachts. Sie weiß nur nichts davon. Hurtig purzeln die
Noten nur so auf Roberts Papier; manchmal prasseln sie sogar nieder, und er
kommt kaum mit bei der Niederschrift. Einmal geht ihm gar die Tinte aus. So
schreibt und schreibt er, was er in Claras Gedanken findet: Z,entnerweise Lieder
(die er früher gehaßt hat), Oratorien, Kammermusik en masse, doch vor allen Din-
gen Symphonien. Die erste, >Frühlingssymphonie< genannt, später die berühmte
>Rheinische< Sinfonie. Alles wunderbare Sachen. Schumanns Gedanken-Vampi-
rismus verleiht dem Wortpaar Inspiration und Transpiration eine völlig neue
Bedeutungsebene. Die einzigen Flops dieser Zeit sind natärlich die wenigen
Stücke, die Robert persönlich verbricht, d.h. ohne Vordenker. Übrigens bis auf
seine Oper >Genoveva< allesamt Fragmente. Und der Genoveva, die durch ihr
Martyrium im tiefen Wald heilig und berühmt wie Mutter Teresa wurde, fehlt bei
Schumann unter anderem besagtes Martyrium im tiefen Wald. Das hat er wohl
irgendwie vergessen. Trotzdem versucht er weiter, ab und zu etwas Eigenes zu
komponieren, was durch die planmäßigen Erfolge seiner Frau Gott sei Dank auf-
gefangen wird.
Manchmal jedoch scheint es die vielbesungene poetische Gerechtigkeit tatsäch-
lich zu geben. Betonung auf >scheint<. Da Schumann zeitlebens ein Dilettant
blieb, der sich beim Gedankenlesen und Notenlauschen wie bei der Niederschrift
außerordentlich anstrengen mußte, führte der dauemd an Clara begangene geisti-
ge Mißbrauch zu deutlichen mentalen Abnutzungserscheinungen bei ihrem para-
sitären Nutznießer. Er wirkte in Gesellschaft zunehmend abwesender, was durch-
aus wörtlich zu verstehen ist, weil er sich permanent auf der o.g. >Gedanken-
brücke< befand, die langsam ins Schwanken geriet. Etliche Bekannte zeigten sich
besttirzt ob der geistlos-geisttötenden Art, wie der weggetretene >Gesprächspart-
ner< sie anglotzte. Wagner beklagte sich über den unmöglichen Menschen, der

ll3
einmal so gut wie stumm fast eine Stunde lang geblieben sei; der Dichter Hebbel,
von Schumann eingeladen, saß lange erwartungsvoll ihm gegenüber, bis ihm der
Kragen platzte: r'Er sprach nicht und gaffte mich nur an ... Er tat den Mund nicht
auf. Da sprang ich wie verzweifelt empor. Auch S. langte nach seinem Hute und
begleitete mich [eine halbe Stunde] ... Er ging stumm neben mir her. Ich tat, grim-
mig geworden, desgleichen..< Ganz Offenbach hatte Schumann gerade eine Sen-
depause, da er auf höheren Empfang geschaltet war. Später klappte es auch mit
dieser lebenswichtigen Frequenz nicht mehr - es scheint, als ob Clara sich damals
langsam aber sicher aus der Kommunikation auszuklinken begann. Das Dilemma
bestand darin, daß Schumann, der von Natur aus keine musikalischen Fähigkeiten
aufwies (nur die ausgeprägte telepathische), seine Sinfonien selbst dirigieren
mußte: Das gehörte zu seinem Job. Er hatte keinerlei Taktgefühl, wie wir wissen,
und so hieß es in Düsseldorf bald über ihn: >Wie der schlägt! Wenn er überhaupt
schlägt und nicht schläft! Ein Versager.< Ferdinand David schrieb an Mendelssohn
über Roberts Proben mit dem Leipziger Gewandhaus-Orchester: >>Der ein-
zige Mensch, der etwas von seinen Bemerkungen verstanden hat, war sein
Taktstock, den er beim Sprechen immer vor den Mund hielt, alle übrigen hörten
nichts ...<< Robert befaßte sich mit allerlei Hilfsmitteln zur Ubertragung von gei-
stigen Energien, war vertraut mit Mesmerismus, Pendelei usw. Nun sehen wir, daß
er als allerletzte Möglichkeit Zuflucht zu einem ordinären Zauberstab nahm, den
er wahrscheinlich mit einem Verstärker ausgerüstet hatte. Man hört förmlich sei-
nen Hilfeschrei - >>Erde ruft Clara! Bitte melde dich, Schatz, du mußt auch nie
mehr Goethe lesen, ehrlich!<.
Aber Clara beginnt den Braten zu riechen, denn der stinkt bereits erb?irmlich.
Als zum Schluß Johannes Brahms sich bei Schumanns einquartiert, ist der Ofen
bald ganz aus. Brahms findet auch in seinem Stübchen eine Wanze und wird
mißtrauisch. Er zeigt sie Clara, die die Zusammenhänge langsam begreift ... Man
hat sich oft gefragt, ob Schumanns freiwilliger Abgang in die Heilanstalt etwas
mit dem Verhältnis Clara-Brahms zu tun haben könnte. Klar hat es das, nur ist das
Erotische gZinzlich nebensächlich, also ob nun Clara den kleinen Felix mit Brahms
gebaut hat oder nicht. Schumann hatte zu verschwinden und vor der Welt alle
Zweifel und Spuren zu beseitigen. Ergo stellte er sich wahnsinnig, denn so folgte
er einer guten alten Tradition und muJJte im nachhinein als übergeschnapptes
Genie gelten. Er war nattirlich nicht die Spur behämmert, d.h. nicht mehr als in
seiner Jugend. Als bester Beweis dafür gilt sein Nachwuchs: Alle sechs (Felix, den
Benjamin, zählen wir vorsorglich nicht mit) erfreuten sich bester geistiger
Gesundheit. Eine so markante Geisteskrankheit wie die (vorgetäuschte) Schu-
mannsche lädt zur Vererbung geradezu ein - bloß wo nichts ist, kann man nichts
vererben! Die Flucht in die Klapsmühle muß als brillanter Schachzug gewertet
werden, gegen den Clara nicht ankommen konnte. Kinder, Kleintiere und

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Bekloppte waren auch damals unantastbar. Und man erzäihle einmal einem Gei-
steskranken etwas von >Copyright-Verletzung< ...
Ubrigens stellt der von dem großen Manipulator Schumann inszenierte Abgang
ein Knallbonbon der obersten Güteklasse dar, weil sich in ihm das Maskeraden-
Motiv perfekt widerspiegelt. Bekanntlich war dies das einzige Motiv, welches
Robert wirklich in Vollendung beherrschte. Kurz nachdem man ihn ertappte, im
Februar 1854, simulierte er peinigende Halluzinationen, also Engelsingen, Dämo-
nengeschrei und wahrscheinlich mittendrin wieder Mozart und Schubert. Er heult
zur Vorsicht selbst mit, damit jeder mitkriegt, wie es um ihn steht. Und dann, als
er heiser wird, ausgerechnet am Rosenmontag, schleicht er sich aus der Wohnung
und stürzt sich so heimlich in den Rhein, daß er sofort von Schiffem gerettet und,
gefolgt von einer lärmenden Karnevalsmenge, nach Hause gebracht wird. Wer
jetzt noch anZufalle in Schumanns selbstgemachtem Lebenslauf glaubt, ist selber
schuld. Bezeichnenderweise wurde die Krankengeschichte vernichtet . . .
Robert führt daraufhin ein recht angenehmes Leben in der Anstalt von Ende-
nich, doch es wurmt ihn, daß er keine Kontrolle mehr über Clara, seinenAutomat,
besitzt. Diese, so nimmt er an, wird wohl mittlerweile von Brahms ausgeübt. Er
will Clara wiederhaben, die beharrlich wegbleibt, und simuliert einen Hunger-
streik. Clara wird gerufen. Sie erzählt darauf die rührende Geschichte, wie Robert
von ihrer Hand ein wenig Gelee leckt, von ihrem FingerWein schlürft. Diese däm-
liche Art der Nahrungsaufnahme ist interessanterweise Claras ldee: Clara hat von
ihrem Gatten die hohe Kunst der Verdummung und Verschleierung gelernt.
Augenscheinlich spendet sie ihm Nektar und Ambrosia - tatsächlich muß Robert
ihr brav aus der Hand fressen. Robert tobt innerlich vor Zom und beschließt,
sofort sanft zu entschlafen. Das heißt, eigentlich nicht sofort, sondern zwei Tage
später. Außerdem stirbt er gar nicht persönlich. Er weiß schließlich, daß sein Tod
für Clara eine große Erleichterung bedeuten würde. Den Gefallen täte er ihr frei-
willig niemals. Vor aller Welt will er als tot gelten, doch gleichzeitig muß er daftir
sorgen, daß sein Automat weiterhin >seine< Stücke spielt, unter seinem Namen
wohlgemerkt.
Glücklicherweise (für ihn) findet er einen geeigneten Hoffmannschen Doppel-
gänger seiner selbst, einen armen lrren, der sich für Robert Schumann hält. Die-
sem Mann schilden er dessen bzw. seine traurige Lebensgeschichte, worauftrin
der Doppelgänger bereitwillig das Zeitliche segnet. Schumann (das Original) ist
-
mithin vogelfrei und wie er dann Clara maskiert und inkognito vierzig Jahre
lang zum Spielen zwingt, wissen wir in groben Zügen aus dem Musical >Phantom
der Oper<.

lt5
Rheingold ist besser als kein Gold
Wagner, Richard (1813-1883)

Befragte man den Mann oder die Frau auf der Straße um eine ungefdhre, unver-
bindliche Schätzung die körperliche Größe Wagners betreffend, so erhielte man
unweigerlich zur Antwort: ein Meter dreiundneunzigeinhalb. Ohne Schuhe. Die-
ses Phänomen deucht jene eigentümlich, welche das schier unschätzbare Wissen
horten, daß Wagner in Wirklichkeit mindestens drei Kindsköpfe kleiner war, dem-
nach eher ausgesprochen mickrig von Statur: ein sogenannter Sitzriese. Woher
nun aber stammt der übermächt'ge Drang besagten Mannes auf der Straße - der
zugegeben nichts Besseres zu tun zu haben scheint, als seine Freizeit demAllens-
bacher Meinungsforschungsinstitut zu spenden wie andere ihr Blut dem Roten
Kreuz -, Wagnern zum Riesen hochzustilisieren? Es ist des Meisters musikali-
sches Vermächtnis, welches ihn oder auch sie dergestalt verwirrt. Die Antwort
liegt platt auf der Hand: Wer so viel wundervoll bombastischen Lärm geschrieben
hat für lauter Götter, Recken und Walküren, der muß zuLebzeiten einen entspre-
chenden Körper sein eigen genannt haben. Das ist halt so: da gibt es nichts zu
deuteln. Die Frau auf der französischen Straße von anno dazumal, die von den
Liebesromanen Balzacs und für den Schöpfer derselben heiß entflammt war, hätte
schließlich auch niemals gedanklich die schnöde Wahrheit akzeptiert, daß der
ersehnte Mittelpunkt ihrer erotischen Träume ein echter Ball von einem Sack war.
Lassen wir das Straßenpack beiseite und befragen statt dessen die akademische
Elite, was wt niemals tun dürfen, müssen wir uns zur Strafe im Handumdrehen
mit einem anderen Mißverständnis herumschlagen. Die Wissenschaft will uns
nämlich augenblicklich einreden, der Mensch, Künstler und Sachse Wagner sei
ein so facetterueiches, allumfassendes, kilometertiefschtirfendes Superwesen, daß
wir ihn niemals durch und durch verstehen können, und werm wir uns und ihn auf
den Kopf stellen. Der bloße Versuch hierzu sei bereits Schläge wert, wird uns bald
suggeriert; das ist fast so, als wolle man auf Anhieb Gott erkennen. Oder Kafka.
Der Kerl besitze Tausende von widersprüchlichen Fähigkeiten, Eigenschaften und
Unarten, so daß er einfach vor lauter Größe (geistig diesmal) und Komplexität
nicht mehr za packen sei. Völliger Blödsinn ist das, muß man dem unverblümt ent-
gegnen. Das krasse Gegenteil schält sich heraus bei sorgfältiger Betrachtung, ja,
Entzauberung: Der Gigant entpuppt sich am Ende als dermaßen simpel gestrickt,
daß es fast schon wieder peinlich wirkt, und zwar für alle beteiligten Parteien. Er
läßt sich bequem auf zwei oder drei Faktoren reduzieren, wenn man den Schleier
wegreißt; die zahllosen Charakterzüge erweisen sich als reines Trug- und Gaukel-

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bild, als Blendwerk des Chamäleons. Doch müssen wir dem Manne eines zuge-
stehen - mit seinen zwei, drei Eigenschaften wußt' er ein Fantasiegeschöpf
erstehn zu lassen, welches nicht seinesgleichen findet in der Menschenwelt. Er
selbst beschreibt dies Phänomen hübsch anschaulich in seinem Rheingold, wo
sich Zwerg Alberich, im Besitz der von Brüderchen Mime geschmiedeten Tirn-
und Verwandlungskappe, in Gegenwart der Götter und der großen Jungs aufbläht
zum Band-, Verzeihung, Lindwurm und gar schrecklich angibt. Doch Zwerg bleibt
Zwerg, und ist erst mal das Käppi runter, erscheint der Kleine uns in all seiner
Erbärmlichkeit ... Nun gibt es auch bei Zwergen Rangunterschiede; Alberichs
Bruder Mime zum Exempel war nicht ganz so blöd, wie Wagner uns das glauben
machen will. Letztgenanntem Schwarzalben gebührt im folgenden unsere volle
Aufmerksamkeit aufgrund der ungezdtrlten tragenden Rollen, welche er in Rich-
ard Wagners Leben spielen durfte. Wir erinnern uns an das berühmte Portrait des
Meisters - und an das auff?illige Käppchen, das er immer trug. Das Käppi mach-
te nicht nur einen schlanken Fuß, sondem ließ den Guten dreißig Zentimeter in die
Höhe schießen - körperlich, geistig und überhaupt. Ohne Kappe nur Attrappe,
körurte man da sagen.
>Mime< gilt uns fortan als Zauberwort, als Schlüssel zum Verständnis Meister
Wagners. Richard fing ntimlich sehr klein an im Leben und hörte leider sehr klein
wieder auf, zumindest was das Körperliche angeht. Nun wissen wir, daß die
Durchschnitts>größe< eines deutschen Komponisten von Weltrang weit unter dem
Gardemaß des Durchschnittsmenschen angesiedelt war - Wagner befand sich also
eigentlich in allerbester und edelster Gesellschaft, und sein Kopf war sogar sehr
viel größer und breiter als etwa der von Beethoven oder Schubert. Allein das
genügte ihm nicht. Er strebte nicht nur nach Größe, sondem nach Länge, nach
profaner vertikaler Ausdehnung. Das mag darin begründet sein, daß er wie sein
Hen Stiefpapa, Geyer geheißen, sehr frtih nach Heldenrollen im Gesangs- und
Sprechtheater lechzte; drei seiner Schwestem, diesbezüglich mit Erfolg gesegnet,
hätten größenmäßig glatt den Hamlet spielen können und unser kleiner Richard
nicht. Er kam höchstens für Rigoletto in Frage, und der war noch nicht geschrie-
ben. Diese physische Ungerechtigkeit lindwurmte Klein-Wagnern mächtig.
Doch den direkten Anlaß zu seinem großangelegten Zwergenaufstand, einer
revolutionären Erhebung, die er sein Leben lang unter den verschiedensten Deck-
mäntelchen proben sollte, gaben seine Irhrer an diversen Gymnasien. Schon als
winziger Schüler schrieb Richard ein Heldenepos namens Leubald, welches
scheußlich zu lesen war und noch schauriger anzuschaun, aber bereits so lang wie
seine längsten Opern. Ausdauer hatte der Knabe nämlich. Doch was sagten seine
Erzieher, die seine hochfliegenden Pläne kannten sowie sein schauspielerisches
häusliches Ambiente? >Aus dir wird niemals mehr als so ein kleiner Mime wer
den, weiß der Geyer!<< war alles, was er zu hören bekam. Zur Bestätigung stuften

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sie ihn von der Sekunda in die Tertia zurück, mangels Reife. Da versprach ihnen
Richard insgeheim, einmal der Welt größten Drachen steigen zu lassen. Mit Don-
ner und Getöse.
Die große Tragik im Leben des allzeit kleinen Richard bestand eigentlich darin,
daß der Runenspruch der drei Nornen, die seiner Mutter einst geweissagt hatten,
nicht ordnungsgemäß vollstreckt bzw. vollzogen werden konnte. Dazu muß man
wissen, daß die Mythologie und Mdrchenwelt im Hause Wagner schon von alters
her - genaugenornmen seit der Ankunft des langiährigen Hausfreundes Geyer,
dieses grotSen, berühmten Mimen - eine geradezu lebenswichtige Rolle gespielt
hatte. Mutter Wagner konnte man unbesorgt jedes Märchen auftischen; auch Vater
Wagner, seines Zeichens und Berufsstandes Polizeiaktuat amLeipziger Stadtge-
richt und daher naturgemäß ein stets treuherziger, offener Mensch, akzeptierte in
reinem Kinderglauben jeden Mythos, jeden Bliren und jeden Schwan, den man
ihm auf den breiten Rücken band. Der große Mime Geyer liebte die beiden von
Herzen, so wie später Richard die beiden Wesendonks oder die beiden Bülows
liebte: den Herrn des Hauses brüderlich-platonisch, die Dame des Hauses irgend-
wie ... anders. So mag es uns zuerst verwundern, wenn wir hören, daß der
Dresdener Hofschauspieler nach dem Ableben seines teuren Freundes ohne zu
zögern nicht nur dessen Frau, sondem sämtliche neun Blagen übernahm. Frauen,
die machten so was öfter damals, weil sie sonst ohne Gespons verhungert wä-
ren und auf die Art wenigstens den Brei aufschlabbem durften, den die neun klei-
nen Monster auf dem Teller ließen. Aber Hausfreunde, die klaglos das ganze Pack
mit in Kauf nahmen, konnte man an einem Armstumpf abzählen. Und was haben
wü von Richards eigener Aussage zu halten, Geyer sei sein eigentlicher Yater
gewesen? Gut, Richard hat von seinem Namensgeber nicht mehr viel mitbekom-
men, in jedem Sinne des Wortes, denn dieser wurde kurz nach des Knaben Geburt
von einem Schicksal hinweggerafft, welches die Biographen äußerst schwammig
mit einem >Fieber, hervorgerufen durch die Völkerschlacht bei Leipzig<
umschreiben. Eine kamische Sache. Bedenken wir des weiteren, daß mindestens
fünf der neun Ableger Multi-Tälente waren, die schauspielem, singen, Regie
führen oder zumindest die Theatergarderoben ausfegen konnten, dann überkom-
men uns heftige Zweifel an der biologischen Vaterschaft Wagner seniors. Gewiß,
auch ein Aktenschieber mag auf seinem Gebiet ein absolutes Genie sein, und
doch...
Die Wahrheit liegt wie immer viel tiefer, und zwar ironischerweise in den Gefil-
den der Mythologie. Der Geyer kam oft das traute Nest der Freunde besuchen, in
welchem er sich mehr als heimisch, mehr als zugehörig fühlte; doch nahm er nicht
immer den direkten Weg zu Mutter Wagner. Als ausgemachter, hausgemachter
Mime, der er war, besaß er selbstredend ein Wunder von einem Tamkäppchen,
welches die Frucht seiner Ränkeschmiedekunst darstellte. Wir dürfen uns den

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Mimen Geyer nun jedoch nicht als Zwergen denken, ganz im Gegenteil. Er war
ein schöner, großer Mann, der einen Kobold bequem in der Hosentasche mit sich
führen konnte, was er denn übrigens auch tat. Besuchte der Geyer die züchtige
Hausfrau, war Freund Wagner in der Regel mit anderen Akten beschäftigt, spät in
der Nacht im Amtsstübchen. Geschwind setzte der wohlmeinende Ersatzmann
seine Tarnkappe auf und suchte in der Gestalt des Schreiberlings dessen Gattin
auf, gattz Zihnlich übrigens wie Recke Siegfried die Brünnhilde in Gunthers
äuß'rer Hülle. Wohl wunderte sich Frau Wagner bei solchen Gelegenheiten leise,
was wohl auf einmal mit des Gatten Kobold sich ereignet haben mochte, daß der
plötzlich so ungestüm; allein sie hinterfragte niemals diesen Sachverhalt. Das
hatte ihr einstens ein singender Schwanenritter verboten, oder vielleicht auch ein
reitender Geyer. Wagners Mama Rosine war sehr viel gehorsamer als später die
von Sohnemann erdichtete Elsa. Sie freute sich über jeden Besuch ihres so ganz
und gar verwandelten Mannes, dieses in seinem Saft und seiner Kraft fast götter-
gleichen Wesens.
Die obengenannte Prophezeiung der drei Nonnen, pardon, Nornen - das sind
die Damen, die immer ihr Strickzeug dabeihaben und mit ihren unegalen Fingem
am Weltenschicksal herumzupfen, bis ihnen der Faden reißt - bezog sich aus-
schließlich auf den geplanten Richard, den neunten seines edlen Stammes. Auf
Richard den Neunten konzentrierten sich jedermanns Bemühungen, denn die
Neun ist seit jeher eine mächtig magische Zahl: Es gibt neun Walküren, neun Rös-
ser für die Walküren ... was sonst noch? Nun - neun Garnituren Lederwäsche für
die Mädels sowie neun Brünnen und neun Schwerter ... Ach ja, nicht zu verges-
sen gab es da noch den neunmalklugen Siegfried. Wenn das keine Symbolik ist.
Das Projekt der Richardschen Zeugung sollte dementsprechend ein Riesenunter-
nehmen werden, denn die Nornen hatten Rosine einen veritablen Giganten ver-
sprochen, der den Weltenlauf in völlig neue Bahnen lenken sollte mit der ihm
innewohnenden Kraft. Alles ward auf das sorgf?iltigste vorbereitet; Rosine zog ihr
schönstes Hemdlein an, der Geyer kam mit seinem Kobold, hübsch geschniegelt
und getrimmt. Die getarnte Operation Hünensprung war bereits in vollstem
Gange und stand unmittelbar vor ihrerVollendung, als sie aufgrund der allzu früh-
zeitigen Wiederkehr von >Vater< Wagner mittendrin abruptestens beendet werden
mußte. Der Geyer wollte seinem platonischen Freunde keinesfalls zumuten, quasi
sich selbst bei seiner Gattin zu erblicken, denn das hätte zwangsläufig zu einer
schweren Identitätskrise geführt, wenn nicht zu Schlimmerem. So schwang der
Geyer flugs sich aus dem Fenster und ließ die verwinte Rosine bei ihrem recht-
mäßigen Gemahl, der in der Türe stand. Rosines Frage - hätte sie je eine gestellt
- hätte wahrscheinlich gelautet: >>Wie kommt es nur, daß du jetzt schon von der
Tür aus - << Aber sie fragte eben nie. Das Opfer dieser übereilten Staatsaktion
wurde schließlich, wie wir uns denken können, Richard - nach all dem Streß, der

119
Hetze und der übereilten Flucht des Erzeugers konnte aus ihm ja nichts anderes
werden als ein abgebrochener Riese.
Des großen Mimen Vermächtnis konnte Klein-Wagnem für einiges entschädi-
gen, doch bei weitem nicht für das ganze Ausmaß des Fehlschlags. Nachdem
Wagner senior an der Völkerschlacht oder amLeipziger Allerlei gestorben war,
übemahm der Geyer auch den anderen Teil der Vaterrolle, nämlich das Großzie-
hen, was jedoch ausgerechnet bei seinem Liebling Richard voll in die Hose ging.
Bei ihm war leider nicht mehr viel in die L?inge zu ziehen, so sehr der Geyer sich
bemühte. Nummer Neun, das ehrgeizigste aller Projekte des Erzeugers, blieb mit-
hin sein letztes; nachdem das Thmen überflüssig geworden war, machte es schein-
bar keinen Spaß mehr, und der Geyer war sowieso viel zu intensiv damit beschäf-
tigt, den zu klein geratenen und zu kurz gekommenen Sohnemann künstlich nach-
zubessern. Immerhin schaffte er es, den größten aller Zwerge aus dem Richard-
schen Rohmaterial zu gestalten, doch damit hatte es sich dann auch. Zudem laug-
te die Anstrengung, die das Auseinanderziehen des Kleinen mit sich brachte, den
Geyer dermaßen aus, daß er sich noch vor Richards zehntem Geburtstag ver-
flüchtigte. Bevor er seinen Schwanengesang anstimmte, um in Richtung Grals-
burg davonzuflattern, überließ er seinem Liebling die Tarnkappe mit ungefähr fol-
genden Worten: >>Dieses Mützchen wird dir gute Dienste tun. Groß wirst du wohl
nicht mehr werden, darum sieh zu, daß die Leute dich wenigstens grol3 wähnen.
Das heißt im Klartext: Pfleg'und erhalte deinen angebor'nen Größenwalrn. Und
trainier'noch ein bißchen mit dem Expander - schaden kann's ja nicht. Du weißt,
mein kleiner Mime, einZwerg mag nur zum Recken sich erheben, wenn er gar
ordentlich sich reckt und streckt -<< Er wollte noch mehr sagen, der Geyer, wollte
Klein-Richard einige Einzelheiten zur ordnungsgemäßen Benutzung des Käppis
mit auf den weiten Weg geben. Es sollte nicht sein. Des Geyers guter Geist ent-
schwob gen göttliche Gefilde.
Was Richard damals noch nicht kannte, später jedoch in seinem Ring des Nibe-
lungen ganz genau beschrieb, war die praktische Dreizweckverwendung der
Kappe, die da wdre: l. Unsichtbarwerdung des Trägers; 2. Verwandlung desselben
in jede gewünschte Gestalt, sei sie Mensch, Tier, Pflanze oder Mineral, fest, flüs-
sig oder gasförmig; 3. prompte Beförderung des Trägers an jeden gewünschten
Ort, allerdings ohne Reiserücktrittsversicherung. Daß mit Hilfe der Mütze etwas
Großes aus ihm zu machen sei, hatte Richard begriffen. Alle seine Bedürfnisse
sozusagen unter einen Hut zu bringen, stellte zunächst jedoch eine Aufgabe dar,
der er, nun ja, noch nicht gewachsen war. Seiner Natur und den Empfehlungen des
Herm Papa entsprechend wollte Richard solorr berühmt werden, ohne auch nur
einen Täg Zeit zu verlieren. Womit genau, das wußte er noch nicht so recht - am
besten mit allem auf einmal. Er erlernte laut eigenem Gesländnis niemals richtig
das Klavierspiel, aber er blies ausgezeichnet auf dem Kamm, und als er >eines

120
Abends eine Beethovensche Symphonie aufführen hörte, ... darauf Fieber bekam<
und krank wurde, wußte er nach seiner vermeintlichen Genesung, welche in
Watuheit niemals eintrat, daß er >Musiker geworden war<. Das klingt verdächtig
nach der Wirkung des Käppchens, und tatsächlich: Uber Nacht und unvermutet
hatte sich Richard, der bis dahin weder Talent noch Interesse an Musik bekunde-
te, in einen zu neunzig Prozent aus Wasser und heißer Luft bestehenden Organis-
mus verwandelt, extrem aufgeblasen und kurz vor demAbheben, welcher, ähnlich
einem Ballon, merkwürdige Laute von sich zu geben imstande war - im Volks-
mund laienhaft auch >Musiker< genannt. Er wußte selbst nicht, wie ihm geschehen
war, doch ließ der Zauber sich zeitlebens nicht mehr rückgängig machen, sehr
zum Entsetzen manches seiner Zeitgenossen. Auch andere Funktionen seines
Käppis wußte Richard noch nicht gezielteinzusetzen und hatte zunächst erheblich
weniger Glück mit den Auswirkungen als im obengenannten Fall. lnsbesondere
die (wohlgemerkt absichtliche) Unsichtbarwerdung erwies sich als eine extrem
diffizile Kunst. Mußte Richard etwa vor Gläubigern flüchten wie 1839 aus Riga,
klappte der Trick mit dem Verschwinden überhaupt noch nicht, und er war tatsäch-
lich gezwungen, ein ordindres Schiff zu besteigen, ja sogar den Umweg über Lon-
don nach Paris in Kauf zu nehmen! Andererseits ist er an den Orten, wo er nach-
weislich-aktenkundig als Kapellmeister tätig war, nämlich in Würzburg, Lauch-
städt, Magdeburg oder Königsberg, trotz seiner durchaus gegenteiligen Bemühun-
gen gar nicht aufgefallen, sondern unscheinbar geblieben. Er wurde absolut nicht
wahrgenommen, nicht einmal von der später hinzugetretenen Musikkritik, die
heute noch nicht zu erklären weiß, wie er aus heiterem Himmel an seine Frau
Minna geriet. Plötzlich war der Knabe verheiratet, und keiner wußte oder weiß
den Grund. Allerdings muß man einräumen, daß auch Richard ein paar Tage nach
der Eheschließung bereits den Grund vergessen hatte. Gerüchten zufolge wurde
ihm vor oder nach der Hochzeit ein Gedächtnisschwundtrank eingetrichtert, genau
so einer, wie ihn Siegfried von Gutrune in der Götterdrimmerung ktedenzt
bekommt. Das einzige, was Richard an Minna Planer, welche gleichzeitig mit ihm
theatralisch in Magdeburg wirkte, fasziniert haben kann, waren zweifellos ihre
Hosen. Richard hegte immer eine ausgeprägte Schwäche für starke Frauen, und
als er Minna in Hosen sah, muß er geistig ausgerastet sein. Nachdem sie sich in
der Hochzeitsnacht der Beinkleider erst einmal entledigt hatte, zeigte er keinerlei
Interesse mehr, schleifte sie jedoch weiter mit durch die Lande. Seinen Neufund-
länder ließ er schließlich auch nicht so einfach im Stich.
AIs besonders verhängnisvoll stellte sich Richards eklatant falscher Umgang
mit der Kappe in Paris heraus. Die wenigsten Leute wissen, und noch weniger
Leute möchten es wahrhaben, daß der Wagner Richard damals noch ein ausge-
sprochen undeutscher Patron gewesen ist, einer, der die Seine-Mefropole für das
Mekka der Opemschaffenden schlechthin hielt, was es im übrigen damals auch

r2l
war. Paris galt als das Zentrum der Großen Oper, und Richard wollte nicht bloß
mit großen, sondern mit geradezu gigantischen Opern die Herzen der vermeintli-
chen Kenner im Sturm erobern. Sein zweites Musikwerk - das erste, Die Feen
genannt, war ein eindeutiges Tamkappenprodukt und ist es bis heute geblieben -
hatte bereits Richards bösen Willen zum Ausdruck gebracht, sein Vaterland zu
schmähen, daß es nur so rauchte: Das Machwerk Liebesverbot spielt in Sizilien,
und der einzige Böse in dem Sttick ist der finstere deutsche Statthalter, der für die
lebensfrohen Sitten und Unsitten seiner heißblütigen Untertanen so gar kein Ver-
ständnis aufbringt. Ein eigens für den fiesen Friedrich geschriebener Spottchor
darf dort ausdrücklich und auf vielfachen Wunsch des Verfassers Sachen singen
wie etwa: >>Der deutsche Na:T, auf lacht ihn aus!<< TJa, da wiüe ein gewisser Mann
mit kleinem Schnurrbart hundert Jährchen später gewiß ordentlich ins Grübeln
gekommen, hätte er das Zeug je gehört oder das vom Meister wie immer selbst
verbrochene Libretto gelesen. Der Richard zeigte sich vor und teils während sei-
ner Pariser Zeit offen als der schlimme Finger, der er auch nachher blieb, der
jedoch später mit dem Käppi umzugehen verstand und dessen Umtriebe daher bis
zum heutigen Tage gründlichst mißdeutet wurden. Richard vertrat die aufmüpfige
Ideenwelt des sogenannten >jungen Deutschland<, welches verschiedene vage
Ziele im Auge hatte wie z.B. Revolution, freie Liebe, Abschaffung alles Deut-
schen - was immer das sein mochte -, noch mehr Revolution, >Emanzipation des
Fleisches<, Anarchie, Abschaffrrng der Zensur und Sperrstunden in Kunst, Litera-
tur und Wirtschaften. Besonders wichtig blieben für Wagner bis zu seinem Tode
die Ergüsse eines Monsieur Proudhon, insbesondere dessen berühmter Satz
>Eigentum ist Diebstahl<. Diesen Spruch beherzigte Richard, alldieweil er ihn mit
Absicht mißverstand wie die meisten Leute. Gemeint konnte nur das Eigentum
von anderen sein, und das galt es den Besitzenden abzuknöpfen mit List, Tücke
und, wenn nötig, Schleimerei. Richard war schon ein rechter Teufelsbraten, denn
damals reimte sich bei ihm das Wort >Liebe< noch voll und ganz auf >Triebe< und
nicht wie in späteren Opern >sittlich< auf ,unerbittlich<. In jenen wilden Tagen
stieg Wagrrer auch noch ohne Tamkappe auf die Barrikaden - denn dort oben, das
fühlte er instinktiv, kamen sogar Zwerge Eanz groß raus.
Den Rienzi schrieb der Richard praktisch eigens für Paris. Er wollte das Pariser
Publikum mit dessen schierer Länge erschlagen; bis zu seinem gewaltsam herbei-
geführten Ende dauerte dieser letzte der Tribunen immerhin schlappe sechs Stun-
den, vielleicht acht, denn nach den ersten/ünl Stunden stoppte keiner mehr mit.
Beim Brand des Kapitols am Schluß wurden die Zuschauer sowieso rechtzeitig
wieder wach. Der Rienzi stellte nämlich noch eine echte Revolutionsoper dar, wie
es alle frühen Projekte ihres Schöpfers gewesen waren und alle späteren sein soll-
ten, letztere eben nur im geheimen, als vertraglich abgesicherte Diplomatemebel-
lion. Leider wurde der Rienziletzten Endes gar nicht in Paris uraufgeführt noch

t22
sonstwie zur Kenntnis genommen, was wieder einmal auf Richards damalige feh-
lende Geschicklichkeit zurückzuführen ist. Daß Paris ein teures Pflaster ist, wo
das Gold zwar auf der Straße liegt, aber laut höherem Finanzgesetz nur von Ban-
kiers namens Rothschild & Co. aufgehoben werden darf, weiß Richard vage vor
seiner Ankunft. Kein Problem, denkt er, die macht er sich eben ganz schnell zu
Freunden mit seinem einnehmenden Wesen. Er setzt das Käppi auf, dreht sich
dreimal im Kreis auf seinen Zwergenfüßchen und kräht: >Ach wie gut, daß nie-
mand weiß <<, bis ihm einfüllt, daß das mit Sicherheit der falsche Spruch ist, weil
er doch überhaupt kein Gold spinnen kann mit der Mütze. Drei Funktionen hat das
Ding, und die müßten genügen. Also nochmal: drei Umdrehungen, begleitet von
dem Spruch >>Dreimal hau' ich auf den Gong, dann bin ich Löwe im Salong!<
Oder so ähnlich. Tatsächlich wirkt die Verbindung Käppi und Zauberspruch. Ri-
chard befindet sich im Chambre s6parde bei Rothschilds zu Hause, doch hat er
sich leider nicht in einen Salonlöwen verwandelt wie geplant, sondern lediglich
wieder unsichtbar gemacht. Er ist der rechte Mann am rechten Ort, bloß sieht ihn
keiner, den armen kleinen Tropf. Da will er sich wenigstens Gehör verschaffen.
Wirklich vernimmt jeder der Anwesenden eine recht laute, obgleich körperlose
sächsische Stimme, die ununterbrochen etwas von einer >grosen Ober< faselt.
>Geld< fordert die Stimme obendrein für das zwielichtige Untemehmen, und auf
dem O}r sind Rothschild und seine Freunde absolut taub. Kurz vor der endgülti-
gen Verzweiflung hext sich Wagner mittels Käppi zum Komponistenkollegen
Meyerbeer, den der Zwerg in ihm allerdings nicht ausstehen karn. Meyerbeer
erfreut sich eines gar widerlichen Charakterzuges: Er hat von seinen Vorvätern
Geld ererbt, noch dazu in Massen. So einen Dieb und Räuber (siehe oben) muß
man schließlich hassen, genauso wie daheim den Mendelssohn, dieses stinkreiche
Früchtchen. Kaum hat Meyerbeer dem als Busenfreund getarnten Richard die
Uraufführung des Rienzi versprochen und sich umgedreht, da gewinnt der kleine
Mime Oberhand und verpaßt dem ekelhaften Gönner einen Tritt, daß es dem
Zwerg eine wahre Freude ist. Meyerbeer rappelt sich erscbrocken auf und sieht -
keine Menschenseele im Salon. Doch die winzigen Fußspuren in der Asche des
Kamins bringen ihn bald auf eigenartige Gedanken - durchaus die richtigen, wie
wir wissen -, und er hält sich fürderhin mit Beweisen der Freundschaft zu Wag-
ner zurück. Er ist zwar reich, aber nicht doof.
Atrntictr traf es der Richard allerorten in Paris, und das drei geschlagene Jah-
re lang. Diese Periode geht unter der Bezeiclurung >Hungerjahre< in seine Bio-
graphie ein, so wie er selbst ja auch beinahe einging in jener denkwürdigen
Epoche. Was seine Frau in der Hungerzeit trieb, scheint unbekannt; vielleicht
konnte sie sich als grüne Minna ein Zubrot zu dem Essen verdienen, welches ihr
Richard nicht auf den Tisch brachte. Man könnte meinen, einen Zwergen dürfe
das Darben nicht über Gebühr erschüttern, doch Richard hatte immer einen Rie-

123
senhunger, und es dürstete ihn ständig nach Ruhm und Anerkennung. Die trostlo-
sen Jobs, die er übernehmen mußte, löschten diesen seinen Durst nicht im gering-
sten, ganz im Gegenteil. Wenn er Glück hatte, durfte er anderer L,eute Noten
abmalen und sogenannte Klavierauszüge anfertigen oder auch mal ein Artikel-
chen schreiben, für das er nicht bezahlt wurde. Als er fühlte, daß er genug Kla-
viere ausgezogen hatte und in jenem fremden, bösen Land nicht mal als Garten-
zwerg Beschäftigung finden konnte, funktionierte Gott sei Dank endlich der drit-
te Gang seiner Kappe. Er wünschte sich in seine angestammten, d.h. in deutsche
Gefilde zurück. Zwar landete er daraufhin in Sachsen, aber das liegt immerhin
ziemlich in der Nähe, und es sollte seinen zukünftigen Anforderungen vollkom-
men genügen.
Endlich daheim, hier in treudeutschen Landen, klappte seine Tamung unver-
gleichlich besser. Während der fiese kleine Mime der französischen Hauptstadt,
deren Bewohner ihn dermaßen links und rechts hatten liegenlassen, nicht nur Pest
und Cholera an den Hals wünschte, sondem die ultimative Revolution ersann -
>die, die mit dem Niederbrande von Paris beginnt< -, spielte der Wagner von der
Großen Kappe und daher minder traurigen Gestalt fortan den urdeutschen Super-
recken. Schwuppdiwupp wurden alle seine Opern zu Erfolgen; der reuig heimge-
kehrte Sünder, der dem Franzmann-Babel Adieu gesagt hatte, weil er seine Liebe
zum Rhein und zur Wartburg entdeckt hatte, war plötzlich beinahe deutscher als
die Polizei erlaubte. Er sorgte nachdrücklichst dafür, daß die Musikkritiker ihn
persönlich in seinen Werken wiederentdecken konnten, nein, mut3ten' so mimte er
den Fliegenden Holländer, jenen nach Erlösung strebenden Seefahrer, der nur alle
Jubeljahre sichtbar wird und prompt heiraten will. Wagner selbst war bestenfalls
ein Fliechender Sochse, doch nahm jeder ihm den Gag ab, bis heute. Dabei weiß
der, welcher die Oper recht versteht, daß es die Senta ist, die dringend errettet wer-
den muß: Wenn sie ihre Ballade nicht singen darf, so ist ihr Untergang besiegelt,
und sie fängt unweigerlich an zu spinnen wie die anderen Mädels mit ihren
Rädem. Die Tarnungsgeschichte wurde in den folgenden Opern immer krasser.
Eines der unverschämtesten Beispiele stellt bereits der Tannhciuser dar. Dieser
>Deutsche vom Kopf bi s zur Zehe<, wie Richard ihn in einem Begleitbrief zur Par-
titur nennt, kann natürlich niemand anderer sein als der Tonkünstler selbst: Gera-
de aus dem Sündenpfuhl entkommen, der sich Paris oder auch Venusberg nennt,
kehrt er reumütig zurück in die geliebten deutschen Lande und sorgt zum Dank
dafür, daß die Elisabeth zu einer ordentlichen Heiligen wird. An jenem Wende-
punkt Wagnerschen Schaffens jedoch ereignet sich ein krasser Akt der Spaltung:
Wagner der Mimenzwerg und Wagner der große Recke sind nicht länger ganz
unter einem Käppi vereint zu halten. Der Zwerg geht seine eigenen obskuren
Wege, denn gemäß seiner Natur zieht es ihn in die Unterwelt, in denUntergrund.
Der offene Kampf des großen deutschen Reckentums ist seine Sache nicht; Mime

t24
arbeitet viel lieber im Verborgenen, schmiedet dort Pläne und Ränke, kurz: Er
bleibt im Venusberg zurück, als unverbesserlicher Intrigant. Er hat es gar nicht mal
so sehr mit den Mädels dort, sondern eher mit der dunkel-geheimnisvollen
Höhlendekoration. Von dort aus läßt es sich ganz wunderbar unterminieren, noch
dazu in alle gewünschten Richtungen. Wer sich je fragte, warum der Wagner zeit-
lebens solch eine ausgeprägte Vorliebe für Hügel pflegte - reiste der Richard doch
von Venushügel zu grünem Hügel zu Bayreuther Festspielhügel -, dem wird nun
die Antwort zuteTl. Unter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen, fand stets
der böse Mime sein Zuhaus; wo Wagner weilte, wohnt' auch er, tief drunten in den
unterird'schen Klüften, und grub dort seine hinterhält'gen Fallen. Verrat war alles,
was er sann von Morgenstund' bis Abenddämmern, welche er ja sowieso nie zu
sehen kriegte in seiner Behausung. Einmal versuchte Mime, dem Meister, der er
irgendwie doch auch selber war, einen Adelstitel abzürotzen; er weigerte sich, als
dummer kleinerWicht im Nibelungen-Reigen zu posieren, sondern verlangte eine
Gegendarstellung mit Entschuldigung. Er drohte mit der Gründung einer revolu-
tiondren Zwergenpower-Partei, falls Wagner, dessen kappenlosen Kern er schließ-
lich bildete, sich nicht einverstanden zeigte, auch mal einen Winzling von kühnem
Krieger auftreten zu lassen. Du zeigst doch eine derart ausgeprögte Vorliebe für
die >arbeitenden Volksschichten<, Richard, säuselte der Schurke, siehst dich als
einzig wahren Sozialisten - aber du hast kein Herz für Zwerge, wie du immerhin
selber einer bist! Des weiteren wies Mime darauf hin, daß seine schweißtreiben-
de Arbeit im Bergwerk mit Hacke und Schüppchen und später mit Hammer und
Sichel, pardon, Amboß, ihn adelte wie keinen zweiten werktätigen Zwerg. Fazit:
Er wollte eine eig'ne Oper, Prinz Eisenerz genannt.
Das ließ Wagner dem Zwergen in seinem unterhöhlten Innern nicht durchge-
hen. Er fühlte sich dem widerlichen Winzling von Maulwurf längst entwachsen,
dünkte sich einen echten, naturverwöhnten Riesen, nimmer dem Umstand Rech-
nung tragend, daß der begabte Mime es doch war, der die grundlegende Entschei-
dung traf - mit Köppi oder ohne. So geschah es immer öfter, daß die Wünsche,
Vorstellungen und Taten von Mime Schwarzalb und Wagner Lichtalb nicht mehr
in Einklang standen, gar einander ausschlossen. Diese Tatsache sorgte im Endef-
fekt für die unglaublich krause Biographie des Richard Wagner, welche noch weit
chaotischer anmuten würde, wenn der Zwerg nicht im trüben gefischt und
geschuftet hätte, um seine Umtriebe vor Kritikem und Menschen verborgen zu
halten. Zum Beispiel erwiesen sich beide Teile Wagnerns als extrem politisch
bzw. politisch extrem, zudem in extrem verschiedenen Richtungen. Deshalb hat
nie jemand kapiert, was Wagner wirklich wollte. Wir wissen nun, daß das auch
unmöglich zu bestimmen war! Der kleine Mime, der sich nur zu gut an die Hun-
gerzeit im reichen Paris und das fehlende Kleingeld erinnern konnte, zeigte sich
den ausgesprochen schnöden Dingen des Lebens keineswegs abgeneigt - Seine-

t25
gold hätte ihm schon gut gefallen, aber Rheingold schien ihm noch viel besser.
Besagtes Gold den Besitzenden abzutrotzen, ward fortan ihm höchstes Ziel. Zu
diesem Behufe strebte er nach der einzig folgerichtigen Form der Selbstverwirk-
lichung, nämlich nach der Verbindung aller deutschenZwergstaaten unter seiner
mimischen Leitung. Von diesen Zwergen gab es eine Menge zu jener Zeit, was
ständige Verwimrng stiftete - und das Chaos kam dem zersetzenden kleinen
Unterwanderer gerade gelegen. So setzte der Erste Königlich Sächsische Kapell-
meister von und zu Dresden heimlich alles daran, sich eine Alleinherrschaftsposi-
tion in Sachsen zu erschleimen, indem er seinen fürstlichen Vorgesetzten einen
Entwurf eines Nationaltheaters des Königreiches Sachsen vorlegte. Wagner fun-
gierte als Wortführer in den Wirren der Revolution von 1848 und ließ dabei den
Sozialisten sehr weit heraushängen, wie man so sagt; er propagierte die absolute
Abschaffung allen Adels, doch blieb er selbstverständlich so rücksichtsvoll, dabei
Könige und Fürsten völlig auszuklammern, zumal letztere ihn finanziell unter-
stützen konnten. Wie man sieht, war seine ideelle Position damals eine sehr
schwierige, vielleicht sogar etwas widersprüchliche ...
Der andere Wagner, d.h. der Menschenfreund Richard der Große, verfolgte
wiederum ganz andere Ziele, welche die Situation noch weit komplizierter mach-
ten, als sie ohnehin war. Nur gut, daß damals allgemeine Revolution herrschte,
sonst hätte man den Kapellmeister bald in die Klapsmühle gesteckt, anstatt ihm
nur steckbrieflich das Zuchthausleben schmackhaft machen zu wollen. Richard
der Große wollte nicht Oberster Zwerg der Opernlandschaft werden, indem er sich
von unten den Fürsten und dem Großkapital andiente und -biederte. Er plante im
Gegenteil, ein großes Deutschland zu erschaffen, wo alles im Namen der hehren
Menschenliebe und der Abschaffung des Goldes erst einmal in kleine Stücke zer-
hauen und dann eventuell wieder aufgebaut werden sollte. Oder auch umgekehrt.
Ach, er wußt's ja selber kaum, der reine Tor, der in die Herzen aller proletar'schen
Massen die hohe Liebe einzuflößen aufgebrochen war! Die Politik ist eine
garst'ge Angelegenheit, zumal für einen Mann, in dessen Brust zwei Seelen sich
bekriegen: eine gehört dem niedern Wesen, diesem Hortwächter des eklen Nibe-
lungengoldes, welches die Menschheit knechtet und die Wurzel allen Übels dar-
stellt; die andre Seele ist dem Gralshüter zu eigen, dem überirdisch edlen Ritter,
der auf seine Weise die Millionen fest umschlungen halten möchte. Dabei hätte
sich vielleicht sogar ein Kompromiß finden lassen, denn wo steht geschrieben,
daß dieser sagenhafte Gralspott keinen materiellen Wert aufzuweisen hatte, in
Karat zu messen oder, wenn schon nicht in Rheingold, dann in Feingold? Mithin
hätten die feindlichen Seelen sich leicht zusammenraufen können, indem der klei-
ne Mime Hauptkassierer und Verwalter, der große Künstler Chef und Erster
Schriftführer im gemeinen, nützigen Gralshüterclub e.V. geworden waret Liebe
und Gold schlossen einander angeblich völlig aus; die heiße Liebe zum Golde

t26
jedoch hätte alle glücklich zusammengeführt. Aber diese revolutionären Fanatiker
bleiben sprichwörtlich unbelehrbar.
Mime, der in seinem Triebleben unterdräckte kleine Goldhamster, brachte kurz
nach der Entstehung des Lohengrin, dq ihn wiederum bloß ärgerte mit seinem
dämlichen Schwanenritter und heiligen Gralsgetue, das Faß zum Überlaufen. Als
die '48er Revolution von Dresden sich als totaler Flop herauszustellen begann,
sorgte er dafür, daß das Käppi vemrtschte und der Kapellmeister in seiner ganzen
wahren Größe für jedermarur sichtbar wurde - so sichtbar, daß man nach allge-
meinen Angaben obengenannten Steckbrief anfertigen konnte. Noch nie im Leben
war Wagner ein derart gesuchter Zeitgenosse gewesen; er vermochte sich vor den
zudringlichen Liebesbeweisen der werktätigen Bevölkerung kaum zu retten, die
sich ein Stückchen schnöden Goldes von einem Gralsritter-Judasküßchen ver-
sprach. Seine Revoluzzerfreunde hatte man bereits einkassiert, darunter einen
wirklich völlig verrückten jungen Mann namens August Röckel: Dieser Röckel
hatte nicht etwa plausible Dinge gefordert wie Fürstenmord oderAbschaffung der
Ehe, nein; er hatte darauf beharrt, schreibt Wagner später in seiner Autobiogra-
phie, daß es eine Gleichheit aller arbeitenden Menschen geben sollte - ohne Son-
derregelung für Künstler. Dabei war Richard Wagner offenkundig doch viel glei-
cher als das Pack!
Richard und Mime flohen dann mit Minna in die Schweiz, jedoch nicht ohne
zuvor ein Comeback in Paris zu versuchen. Schon nach einer Woche war Wagner
dort wieder so berühmt wie frtiher, nämlich überhaupt nicht, und er floh zurück in
die Schweiz, angeekelt von der gänzlich goldregierten, vermeyerbeerten Metro-
pole. Nun galt es, musikalisch endgültig mit dem Geldsackpöbel abzurechnen,
und zwar in der Tetralogie Der Ring des Nibelungen. Also drei richtige Opern und
ein Vorspiel, welches wegen seiner unglaublichen Kürze von zweieinhalb Stunden
kaum Erwähnung verdient. Mime war bereits vorgewarnt, daß Wagner bei der
Unternehmung ihn, seinen eigenen innersten Kern, verleugnen und der Lächer-
lichkeit preisgeben wollte, und wappnete sich frühzeitig mit seinem Käppchen.
Was aus diesem Grunde bis heute niemand weiß, ist die Tatsache, daß Mime sich
auf seine gewohnt subtile, hinterhältige Art gegen die Verunglimpfung zur Wehr
setzte, indem er ebenfalls den Ring schrieb - gleichzeitig mit Wagner. Sogar vor
seinem ungeliebten Kappenbruder vermochte er seine Manipulationen zu ver-
heimlichen! Der Intrigant machte es sich zunutze, daß Wagner im Zürcher Exil
gerade in das Nachbarhaus der Villa Wesendonk eingezogen war, und in das Her-
zelein von Frau Wesendonk. Diese Dame trachtete Richard trotz Anwesenheit
ihres Gemahls, ihrer Kinderlein und Wagners Mirura nach dem Seelenfrieden,
welchen sie auch bekam, mit Liebesbrief und rosa Schleifchen drumherum. Ach,
ihr Otto war zu Anfang so verblendet, als er dem Meister das Haus auf dem
Nebengrundstück zur Verfügung stellte, welches >Asyl< genannt ward. Menschen-

127
freund Otto hatte das Gebäude extra für seinen lieben Freund erworben, weil ihm
nämlich zu Ohren gekommen war, daß ursprünglich ein Irrenarzt es kaufen und
dort zwei Dutzend Bekloppte unterbringen wollte. Kurzerhand sagte sich da der
gute Gönner, ein einzelner Wagner sei immer noch weit besser als eine ganze
Klapsmühle, selbst eine unter privater Leitung. Er konnte ja nicht ahnen, daß Wag-
ners Hausstand bald dieselben Formen annehmen und er persönlich unter den
Capricen eines ausgemachten Irren leiden sollte. Der Name des Hauses zumindest
scheint passend gewählt: In jenem >Asyl<, einstens Umschreibung für Heil- und
Pflegeanstalt, kurierte Wagner seinen Freund von allen wahnwitzigen Idealen und
pflegte gleichzeitig ausgiebig seine eigenen Marotten. Dergestalt zerstreut durch
a) die hohe Minne zwischen ihm und Mathilde, eine Liebe, die bekanntlich ihren
musikalischen Niederschlag in Tristan und Isolde fand, wo sie jedoch nicht
annähemd so komisch wirkte, und b) die Nörgeleien der niederen Minna, die
Wagner nicht halb so getreulich nach dem Munde redete wie Papo, sein geliebter
Papagei, war Richard ziemlich leicht von seiner Ring-Aufzeichnung abzulenken.
Das aber machte Mime sich zvntttze, der böse Intrigant. Ganz abgesehen davon,
daß er schon hier die Partituren des Rheingold und der Walküre nach seinem Gusto
umschrieb - wie, das werden wir noch sehen -, konnte detZwerg, wann immer er
von seinen Wühlarbeiten unterm grünen Hügel vorkam, die Macht voll an sich
reißen und den schnöden Mammon regieren lassen. Unter dem Mäntelchen oder
besser Käppi der reinen Menschenliebe verstand er's, Otto weiszumachen, Wag-
ner höchstselbst, der Empfangende, sei der eigentliche Wohltriter in dieser etwas
einseitigen Beziehung: >Ach Gott, wenn ich in Ihrer Lage wzire und es vermöch-
te, würde ich gewiß ganz dasselbe tun, denn Geben ist seliger als Nehmen, das ist
so recht meine Art ... Ich danke Ihnen für Ihr Anerbieten kaum, da ich sicher
weiß, daß das Gefühl, ein solches Anerbieten stellen zu können, eine Wonne sein
muß --<< Ein edler Schnorrer war der Richard immerdar, bloß konnt'es Mime sich
vonZeit zu Zeit nicht ganz verkneifen, jenem eitlen Gönner Otto, der so ganz auf
Dank verzichtete, gar kräftig in den Allerwertesten zu treten.
Hinzu kam ganz erschwerend folgender Umstand: Wesendonks Otto, widerlich
reicher Patrizier, der er war, durfte sich mit dem verfluchten Golde einen Traum
von einer Villa bauen, ein Domizil, wie es nur einem Gott bzw. einem Riesen von
Kapitalisten zukam! Das ging nicht an. Solch ein Walhall von fremder Hand hier
aufgetürmt zu sehen, schmerzte Wagnern in seinem Innersten und reizte den
gerechten Zom des Meisters. Wenn er den Bau schon nicht verhindern konnte,
wollte er zumindest so viel Zaster wie möglich von dem gigantomanischen Pro-
jekt abführen und das fremde Häuschen auf die Art etwas kleiner gestalten. Das-
selbe Prinzip herrschte übrigens auch später vor, als das dumme, blutjunge Frücht-
chen König Ludwig Numero Zweiim Bayernland seine Prachtschlösser errichte-
te. Der Rotzlöffel erdreistete sich gar, mehrere Walhalls oder Walhallen aufzustel-

r28
len, wie ein Kind, welches mit Riesenklötzchen spielen darf! Wagner, als wahres
Genie gleichfalls der einzig wahre König, versalzte Ludewig die Burgenbauerei,
so gut er es vermochte: Neuschwanstein und die anderen Klötze galt es zu unter-
höhlen, sofem sie nicht bereits vor ilrer Errichtung zum Einsturz zu bringen
waren. Wie aber vermag man einen so ekelhaft reichen Gönner zu bekämpfen,
einen Jüngling, der schon seit dem zwölften Lebensjahr darauf gelauert hat, als
allererste Amtshandlung nach der Thronbesteigung sein ihm ausgeliefertes Opfer
zu erwählen, den Fünfzigjähr'gen mir nichts, dir nichts dem Hungertod sowie
dem wohl'gen Schatten des Schuldturms zu enfeißen und ihn in grausam-kindi-
scher Willkür kurzerhand zu seinem Leib- und Magenkomponisten zu erkläen?
Da gab es nur eine Möglichkeit, wie dieser >Märchenkönig< möglichst unschäd-
lich zu machen war: Richard spielte mit ihm, so wie auch mit den meisten ande-
ren, das Mdrchen vom Schwan, kleb' an! Ludwig schien schließlich ganz vernarrt
in Schwäne, seit er einstens als noch nicht Sechzehnjähr'ger den Lohengrin
gesehn. Der Knabe hielt Wagnem ftir den legitimen Schwanenritter, der er tatsäch-
lich war; denn wer immer ihn berührte, klebte fortan an ihm mit einer Loyalität,
die man nur unheimlich nennen kann. Was jedoch insbesondere für den Mann
unter der Schwanenmaske zählte, war der Begleitumstand, daß auch das Geld und
Gold seines Gefolges an ihm kleben blieb wie Pech, nur eben sehr viel angeneh-
mer. Ein Kuriosum an besagter Situation bestand darin, daß haargenau dasselbe
Gold, welches der König zum Bau dessen verwenden wollte, was er für seine und
des Meisters Gralsburg hielt, dem Mime in die Hände fiel, zur Konstruktion >sei-
nes< Walhalls. Färwahr ein einz'ges Chaos!
Mime treibt's immer toller, holt hinter Richards Rücken all seine alten Revoluz-
zerbrüder ins Reich Bayem und treibt tiefe Risse zwischen Volk und König. Des-
sen Großvater hatte man dereinst der Tänzerin Lola Montez wegen vom Thrön-
chen geschubst; nun ist Richard da, den man in Münchner Kreisen bald >Lolus<
nennt ... Nur ist's der König, welcher tanzt, und zwar nach Rattenfänger Mimes
Pfeife. Zum Glück fär Ludwig 2 zitiert Wagner Hans von Bülow zu sich an sei-
nen Hof, mit ihm sein ungetreues Weib, Cosima, diese eingebor'ne Liszt. Daß er
sich Bülows Frauchen untem Nagel reißt, darf niemanden entrüsten; schon lange
vorher nannte er Hansemann sein >Alter-Ego<, und so einem kann man logischer-
weise gar nichts wegnehmen, wenn man die Sachlage richtig betrachtet. Alsdann:
Schwan, kleb' an! Ludwigs Glück besteht darin, daß Klatsch und Tratsch in sei-
nem Mdrchenkönigreich durch Cosimas und Richards Eskapaden immer lauter
werden, so daß Wagner ihn quasi selber dazu zwingt, den Proteg6 an die nicht-
bayrische Luft zu setzen. Wagners Glück besteht darin, daß er zwar weiter Lud-
wigs vitaminreiche Finanzspritzen erhält, jedoch den vor Begeisterung hecheln-
den Atem des Mäzens nicht dauernd mehr in seinem Nacken spürt. Er wohnt mit
Cosima jetzt tn einem Orte bei Luzem, Triebschen genannt, und mit diesem sei-

129
nem Triebschen muß er sich fortan auseinandersetzen. Richard weiß nicht, welch
abgebrühtes Wesen Cosima in ihrem Innem ist: Es ist der größenwahnsinnige
Zwerg in ihm, dem ihre Liebe eigentlich gehört und dem sie hörig ist. Mit Mime
ist die getreue Treulose im Bunde, exemplarische Brecherin aller Verträge wie
sonst nur Siegfried! Cosima n2imlich treibt dem Richard endgültig all seine Flau-
sen aus dem Hirn, den Quatsch von Menschenliebe, Gleichheit und sozialem Stre-
ben nach dem Gral. Sie hält's mit Mime, hält's mit seinem Hang zum Golde und
seinem geheimen Wunsche, Walhall für sich aufzubau'n - und ewig zu erhalten!
Als eingefleischte Aristokratin, die sie ist, bringt sie Wagnem dazu, den Glau-
ben an die Ungleichheit der Menschen anzunehmen, an die Elitestellung seiner
eig'nen hehren Kunst. Wir, die wir wissen, wie der Marm seine Mitmenschen ohne
Eigennutz stets liebte, können errnessen, was für einer Gehirnwiische Cosima ihn
da unterzogen haben muß ... Und Mime, ihr lüstemer geheimer Buhle, lachte sich
ins Fäustchen und schrieb, wie im folgenden kurz angedeutet, sämtliche Partitu-
ren des Nibelungenrings in seinem Sinne um.
Wie allgemein bekannt, waren dem Meister die geschrieb'nen Worte nicht min-
der wichtig als die zugehörige Musik. Man liest das Werk zwischen den Zeilen des
Textes, hört die Töne zwischen den Noten der Partitur. Beide Aspekte galt es nun
zu verändem mit schier unendlicher Behutsamkeit, so daß der Richard selbst den
Schwindel nicht durchschaute. Zweierlei wollte Mime sich erkämpfen: 1. Eine
angemessene Selbstdarstellung, weil doch aus dem Prinz Eisenerz-Projekt gar
nichts geworden war, wdtrend Wagner als Holl2inder, Tannhäuser, Lohengrin und
Tristan in Verklärung und Erhöhung glänzen durfte. 2. Nichts weniger als den end-
gültigen Sieg des Goldes über die Liebe - und der mit diesem Gold ge-
schaff'nen Burg Walhall. Der Eingeweihte weiß, daß Wagners Noten oftmals mehr
aussagen als jede Geste oder Blume. Steht beispielsweise Loh'ngrins Elsa am Bal-
kon und macht schmachtend Winke-Winke, kann das zu gleicher Zeit durch das
Orchester intonierte Leitmotiv uns zu verstehen geben, was sie tatsächlich denkt,
nZimlich: >Ach hol' dich doch endlich der Schwan, zum Kuckuck!< Durch solche
Griffe in die musikalische Tlickkiste wurde Wagner berühmt; Mime, der dieselben
Kniffe anwandte, blieb im Verborgenen, wie es seiner Neigung und Natur ent-
sprach. Seinen Dreh- und Fußangelpunkt bildet das Tarnkappen-Leitmotiv, wel-
ches stets unsichtbar und ebenso unhörbar bleibt und ihm deshalb auch überhaupt
nicht nachzuweisen ist! Es gibt lediglich zwei Anhaltspunkte in der original
gefdlschten Partitur, die sich, in unsäglich farbloser Tinte hinzugefügt, durch die
gesamte Tetralogie plus Vorspiel schlitngeln wie ein winziger getamter Lindwurm:
Es sind dies zum einen die harmlos anmutenden musikalischen Vorhagsanweisun-
gen >cresc.<, also crescendo, und >decresc.<, d.h. decrescendo. Jeder Nichtahnende
inklusive Wagner mußte das flir die einfachen Bezeichnungen für )anschwel-
lend/abschwellend< bzw. >lauterÄeiser werdend< halten, wie es die übliche haxis

130
förmlich gebot. Doch was heißt das Wort crescere anderes als Wachsen, decresce'
re dagegen Schrumpfen! Denn das ist durchaus wörtlich zu verstehen in diosem
speziellen Fall. Sobald Mime irgendwo auftriff, braucht er sich in der Szene phy-
sisch gar nicht zu verändem, weil schon die Anweisung, das Leitmotiv uns kund-
tut, daß der Kerl dauernd über sich hinauswächst. Musikalisch halt. Und geht der
Mime weg, Göttergezücht und Riesengeschlecht ihrem Schicksal überlassend, wir-
d's sofort wieder leiser im Orchestergraben (den Mime übrigens selber gezogen
hat). Doch die andere musikalische Anweisung ist von weit größerer Bedeutung,
alldieweil sie die Handlung des gesamten Rings in völlig neuem Licht erscheinen
lZißt. Es ist dies die folgenschwere Bezeichnung >a capp.<
Obige Abkürzung muß den unwissenden Leser oder Kapellmeister dazu verlei-
ten, die solcherart markierte Stelle a cappella zu interpretieren, d.h. zu glauben,
Sänger und/oder Sängerin sollten hier ganz ohne Begleitung singen, wie in der
Kapelle eben. Sicher wird der Getäuschte zunächst stutzen, denn Gesang ohne
Orchester scheint ausgerechnet für Wagner, den Mann mit dem Riesentamtam,
gelinde gesagt uncharakteristisch. Wie soll der Normalsterbliche auch begreifen,
daß dieses >a capp.< nichts mit Kapellen zu tun hat. Es heißt in Wahrheit schlicht
a cappello und bedeutet >mit Hut<, stellt mithin den eigentlichen Grundstein dar
für das so überaus wichtige Tarnkappen-Leitmotiv! Dieses Form- und Ausdrucks-
mittel der getarnten Tarnkappe hndet in der gesamten Musikwelt des Okzidents
wohl kaum noch seinesgleichen. Wo immer nämlich das Wort >a capp.< in der Par-
titur erscheint, braucht Mime gar nrcht in persona aufzutauchen, denn man weiß
schon, daß er entweder unsichtbar auf der Bühne weilt oder, weit naheliegender,
sich unter seinem Hut ftir eine der anderen agierenden Figuren ausgibt!
Selbstversfändlich ändert das den Verlauf der Tetralogie in einem Maße ab, daß
man von einer vollständigen Umwandlung, ja Umkehrung der zugrundeliegenden
philosophischen Bedeutung sprechen muß. Fassen wir also anhand des durch >a
capp.< gekennzeichneten Motivs zunächst kurz die einschneidendsten Transfor-
mationen zusarnmen: Im Rheingold ist Zwerg Mime, der nicht nur von Göttern,
sondern auch einem fiesen Zwergenbruder unterdrückt wird, keineswegs so blöd,
die Tarnkappe aus der Hand zu geben, ohne sich zuvor eine Zweitkappe geschmie-
det zu haben. Das Know-how dazu besitzt er schließlich. Mit dieser Kappe stiftet
er das hundsgemeine Chaos, welches sich gemeinhin Die Walküre, Siegfried und
Götterdrimmerung nennt.In der Walküre scheint Mime überhaupt nicht mitzuma-
chen, was uns nimmermehr zu fäuschen vermag. Der Walküre Brünnhilde ihr
brünstiges Roß, das aufgrund seines auf der Walstatt ausgeübten Berufes als Wal-
roß zu bezeichnen ist und zudem Grane heißt, wird im Text ausdrticklich erwähnt,
jedoch nicht vorne im Personenverzeichnis, wahrscheinlich weil es nicht singt.
Dieses Roß ist der getamte Mime, der mit seinem Pferdeverstand stets die Hand-
lung miwerfolgt; daß er im rasenden Galopp öfter ins Schwitzen kommt, stört ihn

t3t
nicht, denn auch das Schmiedehandwerk ist eine ziemlich heiße Sache. Im Sleg-
friedwiederum mischt er kräftigst mit, und zwar mehr unerkannt als offen. Mime
kriegt Siegfried, den er irgendwann zwischen Walkürenschluß und L Szene Sieg-
fried aufgezogen hat, dazu, sich sein Schwert zu schmieden, weil er selber es
angeblich nicht kann, der Schwindler. Siegfried geht den Drachen erschlagen und
badet in dessen Blut, was ihn, wie der Dämlack glaubt, dazu befähigt, die Stim-
men der Tiere zu verstehen. Doch warum singt das verdächt'ge Waldvöglein wohl
>a capp.<? Antworf Weil es der getarnte Mime ist, der Siegfried listig vor sich sel-
ber warnt, ihn gar noch aufhetzt, ihn gleich umzubringen. Mime weiß, daß er,
wenn er schon im 2. Aufzug mausetot scheint, in der Götterdcimmerung wirken
kann, wie es ihm paßt. Deshalb verwandelt er sich stracks in Mime zurück, gibt
auf Siegfrieds Stichworte hin die provozierendsten Antworten (>Ich will dem
Kind nur den Kopf abhaun!<) und wartet auf den vermeintlich tödlichen Hieb. Er
weiß doch, daß das Schwert aus der Theaterrequisite stammt und niemanden auch
nur ritzen könnte; der Drache wußte das leider nicht und ist demnach vor lauter
Schreck krepiert. Ubrigens kann man den Waldvogel durch die Modulation seines
Gesanges eindeutig gattungsmäßig einordnen und als Goldamner identifizieren . . .
Was allerdings einen Gipfelpunkt an Dreistigkeit und Geschick darstellt, ist der
Kniff Mimes, die Rolle des geheimnisvollen Wanderers zu übernehmen. Jeder
Unbedarfte hält den Wanderer mit dem Schlapphut und derAugenklappe für Gott
Wotan, der zum Aussteiger geworden ist. Tatsächlich ist er Mime! Entsprechend
schwierig gestaltet sich die Situation im 1. Aufzug,2. Szene, wo der Dialog bzw.
das Selbstgespräch Mime-Wanderer geführt wird. Diese Stelle verlangt einen Sän-
ger mit ausgeprägten bauchrednerischen Qualitäten. Doch wer freiwillig Wagner
singt, dem wird schließlich stets das Allerletzte abverlangt, von Stimmbändern
und Zwerchfell. Schreiten wir nun zur Götterdrimmerung, in der es nur noch drun-
ter und drtiber geht, ohne Rücksicht auf Verluste. Wir erkennen unschwer, daß
Mime sich wiederum in das Walroß Grane verwandelt hat, mit gutem Grund:
Siegfried sagt seiner Tante Brünnhilde, welche auch seine Frau ist, aus unerfind-
lichen Motiven Lebewohl und zieht von darmen. Wen jedoch nimmt er mit ins
Zentrum der Handlung? Tantchens Pferd Graneffime. So kommt Freund Mime
an den Rhein, zur Burg der Gibichungen, wo er prima intrigieren kann. Siegfried
säuft den Trank, vergißt Tante und Braut und erklärt sich bereit, dem Gunter die
Brünnhilde selbst zu freien. Als angeblich Siegfried mit seinem Käppchen zu
Timte Hilde geht, als Gunter verkleidet, ist es aber in Wahrheit Mime, der mit sei-
nem Zweitkäppchen zu Hilde geht, als Siegfüed verkleidet, der sich als Gunter
getamt hat. So weit, so klar. Durch diese Freveltat kommt alles Weitere ins Rol-
len. Siegfried wird umgebracht, Hagen säuft ab, Tante Brünnhilde ist untröstlich.
Mime beginnt innerlich zu frohlocken, denn er sieht sich schon fast im Besitz des
Ringes, des Goldes, der Burg Walhall und überhaupt. Da erschreckt Hildchen ihn

t32
ein letztes Mal noch fast zu Tode: Sie will in ihrer Trauer auf den Scheiterhaufon,
zusammen mit ihrem Neffen und - dem Gaul! Oh Gott, das muß verhindert wer-
den! Wotan sei Dank besitzt Mime das Käppchen; als der Scheiterhaufen hoch
auflodert, verwandelt er sich von Grane, dem Walroß, in ein Seepferd, welchos
munter in den Rhein entfleucht. Ha! meinenvielleicht nun sogenannte Kenner, die
Rheintöchter kriegen aber doch den Ring! Wir wissen, wie verspielt und - sagen
wir's offen - selten dämlich diese Weiber sind: Für einen Ritt auf dem neckischen,
süßen Seepferdchen geben sie den Tänd garantiert sofort wieder ab. Wetten? Und
im Vertrauen auf seinen letztendlichen Sieg singt Mime, während in der Ferne
Walhall untergeht, das Couplet: >>Marmor, Stein und Eisen bricht,/ Doch mein
Rheingold kriegt ihr nicht!< Allerdings wurde der Zweizeiler von Cosima Wagner
heimlich aus der original gef?ilschten Partitur entfernt, denn Mime hatte sich
törichterweise, vom Rheinwein erfüllt, zu dieser Enttarnung hinreißen lassen. Die
Genugtuung muß wohl zuviel für ihn gewesen sein.
Und so lebten Zwerg Mime und seine Gattin Cosima glücklich und in Frieden
in Bayreuth, in ihrer Villa Größenwahn, während ein and'rer Sachse, May mit
Namen, seine Villa Bärenfett benannte. Cosima ward fortan die Verwalterin des
Hügels, unter welchem Mime buddelte und auf welchem Sänger aus allen Län-
dem Festspiele zu Ehren des Gottes Wotan Wagner aufführten. Der alte Revoluz-
zer Richard, er war nicht mehr zu finden; mit ihm entschwunden war zugleich der
feste Vorsatz, den Ring des Nibelungen einzig darzustellen, um zu zeigen, wie
man die schnöde, bourgeoise, goldgeschaff'ne Festung mit sozialistischem Elan
zum Einsturz bringt, wie's sich für Menschenfreunde halt gehört. Aus dem ehe-
maligenTraum, einen Bühnenbau am Rhein zu errichten, dieNibelungez dort auf-
zuführen, um das Gebäude sogleich wieder abzureißen, hatte sich ein über-
ird'sches Etablissement entwickelt, welches kein menschlich'Wesen anzutasten
mehr imstande war. Es fragt sich bloß: Jenes Gebäude, welches da im Ring zum
Schluß verkokelte - war das wirklich die Feste Wotans oder vielleicht gar ... die
Gralsburg?

r33
Schlafe, mein Hänschen

Brahms, Johannes (1833 -1897)

Es mag vielleicht nicht nett erscheinen, den großen Johannes Brahms (1,63 m an
guten Tagen; 1,58 im Schatten) als einen Langweiler der extremen Art zu bezeich-
nen. Von >netter( Kritik jedoch hat Johannes persönlich zeitlebens nie sonderlich
viel gehalten, ihr statt dessen zutiefst mißtraut. Also kommt man seiner Geistes-
haltung lediglich entgegen, wenn man ein wahres Wort gelassen spricht, oder auch
zwei oder drei. Johannes Brahms, das letzte der Drei Großen Bs (Bach, Beetho-
ven und Ömmes), kann in seinem innersten Wesen nur dann angemessen bewer-
tet, wenn auch nicht verstanden werden, wenn er als das hingenommen wird, was
er war: ein brillantes Genie mit einem angeborenen Grauschleier, der Messias der
Mittelmäßigkeit, derAuffälligste unter allen Unscheinbaren, die je auf Erden wan-
delten (mithin der Paradiesvogel unter den Mauerblümchen), der Sitten- und
Formstrenge, stets Gemäßigte aus absolutem Mangel an Interesse, der kompro-
miß- und erbarmungsloseste Verfechter des musikalischen Mittelweges (welcher
naturgemäß den rigorosesten aller Wege darstellt) und nicht zuletzt der innerlich
zutiefst Widersprüchliche - Johannes war Vollzeitmusiker und hatte nicht eine
einzige interessante Psychose aufzuweisen. Na, wenn das kein Widerspruch in
sich ist ... Doch es gibt eine Erklärung für all diese Wesenszüge des typischen lau-
warmen Extremisten. Johannes Brahms war sehr frühzeitig aufgeweckt und spür-
te deshalb sein Leben lang das unüberwindliche Bedürfnis nach Tiefschlaf, eine
allumfassende Sehnsucht, der er dann auch regelmäßig nachkam. Meistens beim
Komponieren. Verstehen wir das nicht falsch - Brahms hatte unvergleichliche
schöpferische Höhepunkte und wahrhaft himmelstürmende Momentei er ver-
schlief sie nur regelmäßig. Den Seinen gibt's der Herr bekanntlich im Schlaf, aber
Brahms war nun einmal ein Musensohn. Und dem Hannes seine Muse sprach aus-
schließlich zu ihm, wenn er hellwach und voll aufnahmebereit war. Ein echter
Romantiker galt laut inoffizieller Definition als Träumer oder >Tagträumer<.
Brahms'künstlerische Richtung läßt sich demnach nur schwer in das musikge-
schichtliche Gesamtgefüge einordnen, denn musikschaffende Siebenschläfer
waren damals selten.
Was genau kann man von einem Bohemien erwarten, der, angesprochen auf die
bahnbrechendsten Ereignisse seines Lebens, ohne mit der Wimper zu zucken ant-
wortet: >die Gründung der Bachgesellschaft und Bismarcks Gri.indung des Deut-
schen Reiches<<? Im Grunde gar nichts. Wenn man die Sache so betrachtet, hat
Johannes unsere kühnsten Erwartungen also bei weitem übertroffen. Johannes'

134
Leben war übrigens auch gar nicht so arm an Abenteuern, wie man meinen könn-
te. Er hat so einiges erlebt, was jeden anderen glatt umgehauen hätte - aber wie
gesagt immer im Halbschlaf, so daß all diese Erlebnisse an ihm abgeprallt sind,
ohne Eindrücke zu hinterlassen. Brahms war weniger moralisch als durch und
durch schläfrig, wobei seine verschlafene Gemütsart durchaus wörtlich aufzufas-
sen rst.
Auch das äußere Erscheinungsbild des noch jungen Johannes läßt kaum auf das
Übermaß anZucht und Tugend schließen, welches er täglich geübt hat. Ein bild-
hübscher Knabe war er, der Johannes, den die Frau Mama ihren Hannes nannte
(und was die kann, können wir auch). Ein rechter kleinerApoll, den man sich gut
dabei vorstellen kann, wie er gerade ausgelassen über eine Wiese tollt, Blümchen
pflückt, Girlanden bindet und den Mägdelein Kränzlein in die blonden Locken
windet, um sich dann ein Küßchen zu rauben, ein neckisches. Ja, genauso war es
tatsächlich beinahe mit Jung-Harures! Ein gewisser Herr Dietrich, der sich enthu-
siastisch über das Aussehen des knabenhaften, langhaarigen, blonden und tiefsee-
blauäugigen Hannes ausläßt (immerhin war er dabei), schreibt über einen Ausflug
zum Grafenberg, Hannes sei ausgelassen herumgetollt. Nun war aber unser Han-
nes kein lüstemer Wald- und Wiesenfaun wie bei den alten Griechen, sondern
offenbar eher mit einem in die Freiheit entlassenen kleinen Stallhasen zu verglei-
chen. Was er nämlich den Damen und Mägdelein frisch vom Anger pflückte,
apportierte und kredenzte, waren keine Blümchen, sondern - Runkelrüben ...
Dafür kriegte er denn auch keine Küßchen und war's somit vollauf zufrieden. Der
hübsche blonde Bengel namens Brahms entwickelte sich bald zu einem stattlichen
Manne, ein Reifeprozeß, aus dem er wiederum keinen nennenswerten Vorteil
schlug. Zwei bis drei Jatne lang galt er als ausgesprochen schön. Das wurde ihm
offenbar zu anstrengend, denn um sein Aussehen vor den Damen zu verbergen,
ließ er sich zu guter Letzt einen Rauschebart wachsen und sah damit in der Tat
schlimmer aus als alle Brüder Karamasow auf einem Haufen. Da endlich zogen
die Frauen, dieses aufdringliche Geschlecht, sich ein für alle Mal zurück.
Abgesehen von jener Gottheit, die bei der Verteilung der körperlichen Gaben
verantwortlich gezeichnet hatte, strengten sich auch die für seinen Geburtsort und
seine Lebensgeschichte zuständigen Höheren Mächte nach Leibeskräften an, aus
Hannes keinen Langweiler werden zu lassen. Ihre Bemühungen erwiesen sich als
völlig vergebens. Hannes'Vater beispielsweise erkannte schnell, daß sein Knabe
ein begabtes Kerlchen war, ein typisches Wunderkind, wie er meinte (siehe
Beethoven und viele, viele andere - eigentlich alle). Vater Jakob spielte den Kon-
trabaß, jenes erhabenste und durchdringendste aller Instrumente, ohne welches
kein Orchester funktioniert und auf welches manches Orchester doch so gern ver-
zichten möchte. (Und er hätte mit Vergnügen im Hamburger Theater-Ensemble
mitgespielt anstatt ganz alleine.) Außerdem stieß Jakob des öfteren laut in sein

135
Horn. Von dieser Seite war also kein Widerstand vorprogrammiert, garz im
Gegenteil. Jakob wollte seinen Hannes in der Welt groß herausbringen. Und dazu
schien das Hamburger Pflaster, dem Hannes sein Geburtsrevier, womöglich geeig-
neter als jedes andere auf der Welt (der deutschen zumindest). Johannes' musika-
lische Erziehung ging sozusagen zweigleisig vonstatten, obendrein auf außeror-
dentlich interessante Art und Weise. Mit sieben Jahren geriet der begeisterte klei-
ne Hannes unter die behütenden Fittiche eines Herrn Cossel, seines Zeichens Kla-
vierlehrer. Zu dieser Zeit glaubte Jakob noch, er könne eines Tages seinen Kon-
trabaß an den Filius vererben und ihn mitsamt dem Riesending in die liebenden
Arme eines Orchesters abgeben. Mit zehn reichte Cossel den Knaben an einen
Herrn Marxsen weiter, welcher eine Berühmtheit auf seinem Klavier war, aber
auch in Hamburg. Der Sprößling gab sein erstes Konzert, und der Vater kriegte
etwas zu sehen, was er selten erblickt hatte von seiner Position hinter dem Kon-
trabaß aus: Geld! Wirkliches, wahrhaftiges Bargeld! Der Knabe sollte nun schnur-
stracks nach Amerika reisen, dem Gelobten Lande, und knallharte Dollars heim-
holen. Gott sei Dank konnte der gute Cossel den Vater von dieser Untat, dieser
schZindlichen Ausbeutung des unverbrauchten jungen Talentes zurückhalten und
Klein-Hannes vor dem schrecklichen Geldsegen bewahren. Er versprach dem
Vater, statt des vorauszusehenden katastrophalen amerikanischen Einflusses dem
Sohnemann etwas wirklich Gutes zukommen zu lassen: noch mehr Ausbildung
bei sich und Marxsen. Das erwies sich als Hannes'Glück. Hätte nämlich Cossel
der Familie des Wunderkindes Geld geschenkt oder zumindest Brot, d.h. Natura-
lien und keine geistig-abstrakten Werte, hätte Johannes niemals die große weite
Welt kennengelernt, wie sie sich ihm in den folgenden Jahren darbieten sollte -
nicht etwa in Amerika, sondern in den Hafenkneipen und Etablissements von
Hamburg. Mit knapp dreizehn Jatren begann Hannes, am Jungfemstieg, wo schon
damals keine Jungfem mehr herumstiegen, und in der Urform der heutigen Ree-
perbatrn für den fast alleinigen Unterhalt der Familie zu sorgen. Das erwies sich
für jedermann als eine prächtige Lösung: Erstens konnte Hannes zu Hause in
Hamburg bleiben und mußte sich keine fremden Länder anschauen, zweitens ver-
diente er bei allergrößter Anstrengung nicht einen Bruchteil von dem unseligen
amerikanischen Zaster und würde so unmöglich durch zuviel Geld komrmpiert
werden. Und drittens, wichtigstens: In den Hamburger Dirnen- und Matrosenlo-
kalen, den örtlichen Bordellen und Spielhöllen konnte der leise vor sich hinpu-
bertierende Hannes keinesfalls so furchtbaren Schaden nehmen wie im bösen
Amerika, sei es nun seelisch, moralisch oder musikalisch. Schließlich paßten die
liebenden Eltern streng auf, daß er nicht nach halb drei Uhr morgens heimkam,
denn der Junge befand sich ja eigentlich noch mitten im Wachstum (obwohl er
merkwürdigerweise nicht mehr wuchs). Was insbesondere das Musikalische
betraf, zeigten sich alle zufrieden (offenbar auch Freund Cossel). Die Gassenhau-

136
er und frivolen Lieder, die Hannes in den Bumslokalen klimperte, mutlten sich als
echt deutsches Liedgut positiv auf Sohnemann auswirken.
In dieser grundsätzlich anregenden, den jugendlichen Geist erquickenden und
vor allem dem jungmännischen Sturm und Drang entgegenkommenden Atmo-
sphäre arbeitete nun Hannes in der Nacht, viele Nächte lang, viele Jahre lang. Bis
zum Ende einer Pubertät, die er offenbar gänzlich verschlief. Wie viele bezau-
bernde junge Damen mit fast gar nichts an hatten sich seiner in dieser Epoche sei-
ner Entwicklung angenommen, mütterlich oder sonstwie! Scharen von Möchte-
gern-Musen umschwärmten den musizierenden blonden Hannes wie Motten das
Licht - wie viele von ihnen mögen verbrannt sein im eiskalten Neonschein seiner
Teilnahmslosigkeit! Hannes war von Kopf bis Fuß nur auf Piano eingestellt, das
war seine Welt, und sonst gar nichts. (Hannes Albers hätte ein Lied davon singen
können, aber der hat die Damenwelt wenigstens bemerkt.) Wenn Hannes so vor
sich hinklimperte, lagen meist keine Noten vor seiner Nase, sondern andere
Schmöker, denn Hannes spielte schon lang nicht mehr >vom Blatt<: Er war genau-
genommen als mechanisches Klavier angestellt worden, welches es in der fleisch-
und blutleeren Ausführung nur leider noch nicht gab. (Brahms war sozusagen der
Prototyp.) Eine halbe Ewigkeit versuchten die Fräuleins und ihre Matrosen-Kava-
liere, Klein-Hannes zum kben zu erwecken, ihn wachzukitzeln oder vielleicht
auch >zu einem Mann zu machen< (was immer das sein mag) - gegen seine schild-
krötengleiche Leidenschaftslosigkeit vermochten sie nichts auszurichten. Bevor
sie gänzlich der Frustration und dem Wahnsinn anheimfielen, ließen sie von Han-
nes ab: Die Mädels akzeptierten seine perverse >Schüchternheit<, die großen Jungs
hielten ihn einfach für bescheuert.
Zwischendurch, mit sechzehn, gab er dieses und jenes >richtige< Konzert beste-
hend aus fremden und eigenen Sächelchen. Er wurde auch ziemlich mit Lorbee-
ren überhäuft - ja sogar regelrecht beworfen -, jedoch so gar nicht mit Geld. Lor-
beeren waren toll, besonders als Suppenwürze, aber wenn man keine Suppe hatte,
um sie hineinzugeben, kriegte die Angelegenheit einen eher traurigen Beige-
schmack. Es gab auch keinerlei Grund, aus den Lorbeeren Gin zu brennen, denn
Getränke waren am Jungfemstieg für den Pianisten sowieso gratis. (Jeder wußte,
daß Hannes nichts trank.) Also mischte Hannes seine Lorbeeren unters Sauer-
kraut, als unmißverständliches Zeichen für sein entbeerungsreiches Leben sozu-
sagen.
Im Jahre 1849 schlich sich heimlich ein neuer musikalischer Ansporn an Jung-
Hannes heran, wiederum in menschlicher Gestalt. Dieser Mann muß von Brahm-
sens Muse gesandt worden sein; anders ist sein Erscheinen in Hamburg kaum zu
erklären ... oder höchstens durch die Tatsache, daß gerade die Deutsche Revolu-
tion von 1848 stattgefunden und wahre Völkerscharen von hauptberuflichen
Flüchtlingen hervorgebracht hatte. In Hamburg, der Freien Hansestadt, konnten

t37
sie sich ungestraft und ungehindert tummeln und von ihrer bevorstehenden Abrei-
se nach Amerika erzählen. (In Hamburg hörten sich diese Emigrationspläne aus
naheliegenden Gründen plausibler an als, sagen wir mal, in Buxtehude oder Bay-
ern.) Merkwürdigerweise befanden sich unter diesen politischen Flüchtlingen, den
verfolgten Überbleibseln der obengenannten deutschen Revolution, furchtbar
viele Ungarn, die auch irgendwo und irgendwie mitgekämpft hatten in dem
Durcheinander. Diese außerordentlich cleveren Burschen trugen sich jahrelang
mit konkreten Auswanderungsplänen. Sie verabschiedeten sich auch jahrelang
von der Hamburger Bevölkerung. Atrntictr wie Teppichhändler, die ein Geschäift
einrichten, um dann ihr Leben lang Räumungsverkaufs-Abschieds-Super-Sonder-
Spezialrabatt auf jedes Kamelhaar zu garantieren, die manchmal sogar wirklich
das Ladenlokal räumen und auf der gegenüberliegenden Straßenseite einziehen,
ganz Zihnlich benahmen sich die Ungam damals in Hamburg, zumindest die wirk-
lich schlauen. Unter ihnen befand sich ein gewisser Herr Eduard Rem6nyi, der in
Wahrheit Hoffmann hieß, aber sein ungarisches Zigeunerblut farbig herausstrei-
chen wollte. Er war ein Dämon auf der Geige, ein echter feuriger Zigeuner-Drauf-
gänger. Leider überliefem die Zeugaisse aus seiner und Brahmsens Zeit nichts
über seine wahre Abstammung, also ob er nun Sinti oder Roma war. Wir Leute
von heute wissen, daß da ein himmelschreiender Unterschied besteht - dürfen wir
Nordfriesen und Ostfriesen doch auch nicht ungestraft über einen Kamm scheren
oder einen Tisch ziehen! Die Menschen damals nahmen es sträflich ungenau mit
obiger Unterteilung. Sogar die Zigeuner selber wußten nicht immer recht, auf wel-
che Seite sie sich schlagen sollten, und das l?ißt wirklich tief blicken.
Rem6nyi und eine Reihe seiner Kumpels fanden bald heraus, daß Abschieds-
kanzerte sich finanziell sehr positiv auf die am Abschied beteiligten Musiker aus-
wirkten. Die Konzertbesucher wirkten gerührt und froh darüber, daß die Musiker
endlich über den Großen Teich entschwinden würden, nachdem man sie in Gas-
sen und auf Plätzen so lange hatte ertragen müssen. Und weil das Abschiedneh-
men für alle ein so unwiederbringlich schönes Erlebnis darstellte, wiederholte
man die Prozedur drei Jahre lang, mo - fr ab 20.30 Uhr und nach Vereinbarung,
am Wochenende als Hafenkonzert mit abschließendem Taschentuchschwenken.
Schließlich fuhr Rem6nyi tatsächlich nach Amerika - um wenige Monate später
mit dem Gegenschiff zurückzukehren. Als er dann die schmerzliche Erfahrung
machte, daß Zigeuner-Ankunftskonzerte sich absolut nicht rentieren wollten, griff
er auf einen flüchtig Bekannten zurück, jedoch keinen Flüchtigen. Dreimal dürfen
wir raten: Genau! Unseren Hannes nahm er mit auf die Walz, um mit diesem noto-
rischen Schwerenöter die Puszta zwischen Hamburg und Winsen an der Luhe
unsicher zu machen.
Die beiden waren sich auf ihren diversen leicht zwielichtigen Ebenen mehrmals
über den Weg gelaufen, und Rem6nyi meinte genug über Jung-Hannes zu wissen,

138
so daß er ihn als Faktotum, stummen Diener und hoffnungslosen Virtuoson ftlr
seine Dienste einspannen zu können glaubte. Im Frühling 1853 machten dio bci.
den Troubadoure sich auf Schusters Rappen aus der Hansestadt davon. Sowcit
bekannt, nahm Hannes sein Klavier nicht mit, da es ihm nicht gehörte und ihn
zudem unangenehm an seine Bordelljahre erinnerte. Die beiden Musikanten bil-
deten ein wirklich ungleiches Pdrchen: Der eine ein echtes Heißblut mit Hang
zum ungezügelt freien, ausschweifenden Leben (das Pseudonym konnte den wah-
ren wilden Hoffmann darunter nur unzulänglich verbergen); der andere ein kräfti-
ger, untersetzter (wenn auch schöner), moralisch völlig unbeleckter, ja unbenutz-
rer Kleinbürgerssohn. Jedenfalls vermochte Hannes in Rem6nyis Augen so leid-
lich zu spielen, daß er seinem Begleiter und Vorgesetzten keine Schande machte.
Außerdem war der Junge kräftig und korurte ihre geringe Habe ffagen oder auch,
wenn mal keine Habe vorhanden war, den Meister selbst.
Rem6nyi wurde in mehrfacher Hinsicht zum Stolperstein, will sagen Grund-
stein der Brahmsischen musikalischen Entwicklung. Wenn der Junge einschlief,
sei es wegen seines ohnehin schl2ifrigen Temperaments oder aufgrund der Tatsa-
che, daß er seit Jahren kein Tageslicht mehr gewohnt war, verpaßte ihm der wenig
kleinliche Rem6nyi einen Klaps auf den Hinterkopf, der sich gewaschen hatte.
Diese Hiebe erwiesen sich als die einzige Möglichkeit, Brahms aus seiner ständi-
gen Lethargie zu reißen. Wenn beide in Gesellschaft vorspielten und Hannes ein-
nickte, bekam er Scha-wuppps! eins mit der flachen Hand oder Ruck-Zuck! eins
mit dem flachen Geigenbogen übergebraten. Anders war mit dem halbtoten Som-
nambulen kein Geld zu verdienen. Aber auch in kompositorischen Belangen zeig-
te sich Rem6nyi wiederholt als uneigennitziger Freund. Schon längst hatte Han-
nes eigene Werke niedergeschrieben, und gar nicht mal so schlechte, will man sei-
nem Vater glauben, dessen Tonumfang auf dem Kontrabaß fast eine ganze Oktave
betrug und dessen Gehör absolut war. Absolut eingerostet. Nun jedenfalls kam
Hannes mit schmissiger, fetzender Sinti- und Romamusik in Berührung und ver-
suchte sich prompt daran. Rem6nyis Aufmerksamkeit und Einsatz verdanken wir
eines der schönsten Brahmsischen Werke und das berühmteste überhaupt: den
Ungarischen Tanz Numero Fünnef. Die vorangehenden vier sparen wir uns; an
dieser Stelle sei nur auf den fünften Tanz eingegangen, alldieweil anhand dieses
Beispiels auch der Unmusikalischste kapiert, wie seine Entstehung vor sich
gegangen sein muJ3:
Brahms sitzt auf einer Wiese nahe Winsen. Er htilt einen Stapel Notenpapier in
Hrinden, welches fast so jungfrciulich ist wie er selbst (das Frühstücksschmalzbrot
hat einen Fettfleck hinterlassen). Noten sind noch keine drauf. In der Nähe spielt
Freund Remönyi vor sich hin, auf ungarisch. Brahms fühlt sich so eigenartig, er
weil3 nicht, wie es ihm zumut' - ist, tief in ihm drinnen, Inspiration amWerk oder
das Schmalzbrot? Nein, kein Zweifel: die Muse ist's, die göttergleich Erhahene.

139
Offenbar will sie irgendwas von ihm. Nun gut denn,frisch ansWerk und die Feder
gezückt. Wo ist die schwarze Tinte? Ah, dort. Sehr gut. Erleichterung erfüllt den
Hannes, denn mehr als einmal schon ist er vom Schlaf erwacht und fand sich mit-
ten in ihr, in der Tinte. Er taucht den Federkiel tief in das FäJ3chen und lauscht der
Musendame. Sie spricht zu ihm: >Mach doch was Ungarisches! Freund Remönyi
kann's auchlo So weit, so gut. Hannes fängt an, gemöchlich, doch nicht allzu
lahm, mit einem ganz gewissen leichten Schwung. Das sieht gut qus auf dem
Papier. Das hat was Schmissiges. Hannes wird dreister und ganz langsam schnel-
ler (wenn man so sagen kann). Note für Note wirft er aufs Papier, kommt kaum
noch mit dem Schreiben nach, so wirbelt er im geist'gen Tanze. Hui, das macht
SpaJ3! Hui, das macht schwindelig! Hui, das macht - müde ... hunde ... hun-
demüde ... chchchrrrrrr...
An dieser Stelle sehen wir in der Partitur des Ungarischen Tänzes Nr. 5 eine
Eigenttimlichkeit, die sich durch die oben dargestellte Schöpfungsgeschichte ver-
blüffend einfach erklliren läßt. Wenn die Musik den Gipfel der Wildheit erreicht
hat, wird sie übergangslos dermaßen im Tempo gebremst, daß man den Eindruck
gewinnt, die ungarischen Zigeuner wollten den Zuhörer mitten im rasenden
Galopp der Pusztapferdchen vor eineZiegelmauer laufen lassen, um ihm Schlum-
mer und sanfte Träume zu bescheren. Genauso erging es nämlich ihrem Schöpfer
selbst! Nun mag man sich fragen, wie Hannes a) im Schlaf hat weiterschreiben
und b) das mit dem Langsamen, Schleppenden, ja Verschleppten so hat hinkriegen
können. Also mit anderen Worten dieses adagio morendo oder, wie der Fachmann
sagt, >ersterbend Lahmarschige<. Die Antwort ist die: Immer wenn Hannes vor
Ekstase einnickte, hatte er die Feder noch ziemlich fest in der Hand und rutschte
mit ihr am Papier entlang. Wir kennen das Notenzeichen für eine ganze Pause;
es geht >> - <<. Macht man jetzt die Probe aufs Exempel und bewegt die Feder
gemäß dem Schnarchrhythmus gleichmäßig am Papier vorbei, entsteht folgende
Konstellation: >)--- --<<
EEG.
Doch nun tritt Gott sei Dank Freund Remönyi auf den Plan, sieht das Noten-
bild, erkennt die Situntion und rettet Inge, Brahms und Komposition mit einem
blitzartig ausgeführten Hieb seiner Hand auf Hannes' Nacken. Der ftihrt augen-
blicklich aus tiefstem Schlummer auf und fragt: >Wasisnlos?" Wichtiger noch, er
hat die federbewehrte Rechte vor Schreck vom Notenblatt gerissen. Zwar prangt
dort nun ein Löchlein mitten im Papier, aber die Hauptsache ist, daJ3 er weiter-
l<omponiert, und zwar wach und so spritzig-paprikafeurig wie ein Brahms nur
kann.Wieder hört der Musikfreund keinen Übergang, nur ein abrupt einsetzendes
furioso furiosissimo. So geht es das gesamte Stäck über, erst der wilde, weil
wache Brahms, dann wieder >chchchrrrr ...<< Der Eingeweihte hört deutlich
Rem6nyis Fliegenklatscheneffekt.

140
Rem6nyi hatte jedoch noch anderes zu tun, als seinem müden Wandergesellon
andauemd auf die Sprünge zu helfen. Er erweiterte ihrer beider Aktionsradius um
ein paar Kilometer und latschte mit Hannes im Schlepptau nach Hannover, wo cr
einen gewissen Joseph Joachim kannte, der als anerkannter Menschen- und Tier-
freund streunenden Musikanten a) eine Bleibe, b) Nahrung und c) Empfehlungs-
schreiben für die Weimarer Schule der neuen deutschen Musik aufzudrängen
pflegte. Anders als es bei sonstigen wohltätigen Menschen inner- und außerhalb
der Musikbranche der Fall ist, brauchten die solcherart versorgten und erquickten
Wanderer kein Kreuzchen an den Joachimschen Türpfosten zu malen, zumZei-
chen für nachkommende Generationen notleidender Künstler. (Wir kennen die
alte Sitte: ein Kreidekreuz, welches besagt, daß die Gutmütigkeit des Gastgebers
den Geladenen um mindestens einen Halbton höher bringt im Leben - oder ein
kleines b für >blöder Banause<. Die intemationale Verständigung über Notenzei-
chen besitzt zahlreiche geheimnisvolle, tiefschürfende Aspekte, die meist sogar
der offiziellen Musikforschung völlig verschlossen bleiben. Um so etwas zu ler-
nen, muß man sich schon unters fahrende bzw. laufende Volk mischen.) Joachim
jedenfalls war in seiner Funktion als Butterbrot- und Belobigungsmäzen bekannt
wie ein bunter Hund.
Rem6nyi und der Große Gönner kannten sich aus threr Zeit am Konservatori-
um zu Wien; Remdnyi war allerdings nicht so dauerhaft konserviert worden wie
letzteret und daher etwas angefault, wdhrend Joachim als einer der führenden
Fiedler Europas galt. Beide Wanderer kriegten eine Stulle und einen Brief an Liszt
ins Abschiedsgepäck. Joachim konnte Lisztens Musik eigentlich nicht leiden - sie
schien ihm zu exaltiert und zu scheußlich und überhaupt -; daraus zog er den logi-
schen Schluß, daß gerade diese Wandersleut' in Lisztens Zirkel bestens aufgeho-
ben sein müßten. Und genauso war es auch ... im Grunde jedenfalls. Wie oben mit
Ausschweifung beschrieben, hatte Hannes unter Remdnyis tonangebender Mit-
wirkung ein paar hübsche Stückchen komponiert, welche er dem LisztFranz ztt
zeigen geradent genötigt wurde. Als das ungleiche Pärchen in Weimar ankam und
das Schlößchen der augenblicklichen Lisztschen Lieblingsmätresse betrat (einer
Prinzessin Caroline Sayn-Wittgenstein), zeigte sich keiner von beiden beeindruckt
von dem Prunk und Pomp der High Society. Rem6nyi war in ähnlichen Häusem
schon oft ein- und ausgegangen (obwohl, zugegeben, sehr viel öfter aus als ein);
Brahms seinerseits konnte längst nichts mehr erschüttern. Wer ein knappes Jahr-
zehnt Sankt Pauli unbeeindruckt übersteht, der läßt sich durch solch einen dämli-
chen Liszt-Wittgenstein-Nobelpuff überhaupt nicht berühren.
FratuLiszt dagegen zeigte sich ehrlich begeistert von dem kleinen Hannes.
Beim Überfliegen seiner Partituren, inklusive der mit dem Schmalzfleck, roch er
sozusagen bereits das große neue Talent, welches es in seinem Fanclub zu ver-
schleißen galt. Und weil Hannes, dieser störrische Patron, nicht dazu bewegt wer-

t4l
den konnte, sein Zeug im Kreise Lisztscher Anbeter selbst vorzuspielen, über-
nahm Franz in seiner höchsteigenen noblen Person diese Aufgabe. Er spielte wie
ein Dämon, wie ein Teufel oder Gott - oder besser noch: er spielte wie ein Liszt.
Wild-wütend, sanft-säuselnd, dann wieder pfeffrig-feurig, entfesselt wie die Urge-
walten, so tanzten, ja rasten seine langen, schlanken Finger über die Tasten. Sein
wogendes Haar wehte im wilden Winde der von ihm erzeugten Zentrifugalbe-
schleunigungsgewalt. Ein Dutzend Hände schien der Meister zu besitzen, und an
jeder Hand ein Dutzend Finger. Nie waren Brahmsens Noten derart firrios zur
Aufführung gelangt, und nimmer sollten sie es mehr. Liszt wuchs zum geist-
berührten Medium des Brahmsischen Gekritzels, zum Orakel, Pythia, zur Hydra
(?!). Er hauchte jenen Noten Odem ein von seinem Odem, Dämonie aus seiner
eignen Quelle. Unter der Berührung seiner Hände entfaltete sich der noch zähe,
klebrige Lehm der Brahmsischen Werke zu echtem - Leben. Liszt wurde dessen
schnell gewahr, die Brust schwoll ihm vor Glück und Arroganz. So warf er einen
einz'gen Blick ins Auditorium, wo hinter seinem Rücken seine Jünger bereits
Schlange standen, neinlagen, um als erste ihm die Füße abzuküssen. Liszt sah von
all dem nichts, er hatte Augen nur für seinen neuen Liebling, den Schöpfer dieser
Zeilen dort auf dem Klavier. Er war ganz sicher, ihn entrückt und in der himm-
lischsten Ekstase vorzufinden.
Nun ja, >entrückt< stimmte weitgehend. Hannes saß brav auf seinem Stühlchen,
schlaff in sich zusarnmengesunken, blond und mehlsackgleich: Der Rotzbengel
schlief. Und da sein Werdegang durch sein Zusammentreffen mit Liszt gewisser-
maßen eine neue Phase erreicht hatte, trug er dem Rechnung, indem er nicht nur
schlummerte . Er schnarchte. Dagegen konnte auch Remdnyi in diesem peinlichen
Fall nichts untemehmen (nicht daß der Eifersüchtige das gewollt hätte), saß er doch
drei Schemelchen entfernt. Nicht mal mit gestrecktem Geigenbogen hätte er Han-
nes rechtzeitig erreicht. Der schlief den Schlaf des Gerechten und wunderte sich
etwas später, daß plötzlich - und für immerdar - die Huld der Weimarer Jtinger von
ihm abgezogen ward. Liszt selbst hatte sich angesichts der o.g. Umstände, die von
dem damals persönlich anwesenden Amerikaner William Mason verbrieft und ver-
bucht wurden, fabelhaft unter Kontrolle. Er spielte sogar Brahmsens Musik zu
Ende, während aus seinen Ohren und Haaren Qualmwölkchen langsam in Rich-
tung Zimmerdecke stiegen. Aber nach dem Konzert merkte Brahms schnell, daß er
musikalisch mit Liszt nicht auf derselben Wellenlänge funkte - sei es, weil die Ver-
treter der Weimarer Schule gedroht hatten, ihn zu verhauen oder weil dieselben ihm
anvertraut hatten, daß er im Falle seines Bleibens bald seinen letzten Schnarcher
getan haben wtirde. So also wurde Brahms zum konsequenten Gegner dieser neu-
modischen, unmoralischen Weimarer Musik, die er nicht einmal gehöt hatte.
Kurz nach dem Zusammenprall mit der Weimarer Schule (der inzwischen auch
Wagner angehörte, dieser üble Bilderstürmer) komponierte Brahms eine Sympho-

r42
nie in c-Moll, die aus unerFrndlichen Gründen himmelhochgelobt wurde, nattlrlich
von erklärten Liszt-und-Wagner-Gegnern. Musikgeschmack hat selbstverständ-
lich nichts mit Politik oder Cliquenwirtschaft zu tun, und unsere edlen >Alten Mei-
ster< waren davor erst recht gefeit. Auf Brahms konzentrierten sich all die fana-
tisch Unentschlossenen, die die progressive Extremistenklitsche von Weimar
ablehnten und von der reaktionaren Leipziger Extremistenklitsche (die gerade
ihren Guru Felix Mendelssohn verloren hatte, über keinen Ersatzmann verfügte
und wütend-durcheinander war wie jedes Bienenvolk ohne Königin) als progres-
siv abgelehnt wurden. Brahms stellte den Mann der Stunde dar, den Mann der
Mitte, den perfekten Mittelsmann. Um ihm ein besonderes Löbchen zu zollen,
nannten einige seine c-Moll-Symphonie >Beethovens Zehnte< und ihn selbst
>Beethoven II<. Daß er gebürtiger Hamburger war, hieß allerdings nicht, daß er
einen Schiffsnnmen anzunehmen bereit war; er verzichtete auf diese Ehre. Doch
beging er Jahre später (1860) den Fehler, seine Unterschrift unter ein Pamphlet zu
setzen, welches nichts Geringeres darstellte als eine Kriegserklärung an die Schu-
le der >Neuen Musik<, d.h. Liszt, Wagrrer und Co. Prompt liefen ihm Scharen von
Verehrem zu, mit denen er absolut nichts anfangen konnte und die mit ihren
Gunstbezeigungen nur unnötig seinen Schönheitsschlaf störten.
Von Joachim, der guten Fee so vieler Musiker, hatte Hannes im Glück noch
einen weiteren Brief mit auf den Weg bekommen, auf welchem stand: >Bitte das
Siegel erst erbrechen, wenn Liszt dich rausgeschmissen hat<<. Also genau wie im
Märchen. Denn siehe da: Der Brief enthielt ein anderes Empfehlungsschreiben,
diesmal Robert Schumann betreffend. Es sollte gewissermaßen auf wechselseiti-
ger Basis funktionieren, also denjenigen dem jeweils anderen ans Herz legen, wel-
cher erfolgsmäßig hinterherhinkte. Momentan war dies eindeutig noch Hannes
alias Beethoven II. Schumann und seine berühmte Gattin Clara (siehe >Schu-
mann<) nahmen Hannes denn auch außerordentlich gastfreundlich auf. Hannes
verliebte sich spontan in Clara, Schumann verliebte sich spontan in Hannes, den
er als ein wahres Genie erkannte, als den neuen Heiland der deutschen Musikge-
schichte, als seinen eigenen rechtmäßigen Nachfolger mit anderenWorten. Und so
schrieb der Kritiker Robert Schumann in seiner Neuen Zeitschrift für Musik eine
Hymne auf Hannes, die sich gewaschen hatte. Bezeichnenderweise unter dem
Titel >Neue Bahnen<. Das Wort >neu< muß man mit Vorsicht genießen: nicht >neu<
im Sinne von >umstürzlerisch< wie in Neue Musik, sondern halbneu bzw. >neulich
schon dagewesen<.
Schumann und Brahms verstanden sich wie einreihige Zwillinge. Das scheint
keineswegs verwunderlich, zumal Schumann ein fast so ausgeprägter Langweiler
war wie sein Schützling. Brahms würde es obliegen, so dachte Schumann, einmal
sein eigenes Banner weiter ins musikalische Nirwana ztJ l'ra9en, seinen Krö-
nungsmantel umzulegen (den er heimlich aus dem Leipziger Gewandhaus stibitzt

143
hstte, hähä) und seine Tradition des Mittelmaßes zu höchsten Höhen zu führen.
Lcider verlor Schumann darob den Verstand und mußte in die Klapsmühle. Der
wahre Grund wird im Kapitel >Schumann< enthüllt; deshalb genieße man an die-
ser Stelle nur unter Vorbehalt das Gerücht, Schumann habe einmal den Ausspruch
getan: >>Der Kerl ist dermaßen ermüdend - der macht mich noch völlig verrückt!<
Wie dem auch sei - als Schumann freiwillig ins Heim ging, opferte sich Hannes
für seine Clara auf, und da er augenblicklich weder Stelle, Unterkunft noch Bar-
geld besaß, quartierte er sich gleich bei ihr ein. Manche sagen, Claras letztes Kind
sei von Hannes, andere sagen, Claras letztes und kleinstes Kind sei Hannes selbst
gewesen. Hannes betätigte sich als Oberhaupt der Familie, welches zu Hause
blieb; Clara ging mit Klavierspielen anschaffen. Die Rolle als Hausmann gefiel
Brahms unheimlich gut; die Kinder verpetzten ihn übrigens nie, weil er so viel
schlief, denn dann konnten sie tun, was sie wollten. Er war ihr Ersatzvater, hatte
jedoch sexuell nie etwas mit Clara. Das mag uns in Erstaunen versetzen, aber
unter Brahms-Anhängern ist dieses Wissen ein alter Hut. Ein Mr. Bumeff James
z.B. gibt uns die Erkllirung: Hannes erkannte in Clara seine Mutter wieder; laut
Sigmund Freud konnte der bürgerlich Erzogene das Inzest-Tabu nicht durchbre-
chen und blieb keusch für alle Zeit. Richard Wagner, der hätte es geschafft, das
Tabu zu überwinden; aber der war ja auch ein radikaler Schweinepriester der
Neuen Musik, der in der Walküre sogar Zwillinge miteinander verkuppelte. Wag-
ner war pfui. Allerdings muß Hannes gemäß obiger Keuschheitstheorie auch in
der gleichaltrigen ProfessorentochterAgathe von Siebold seine Mutter wiederent-
deckt haben, als er dem Mädchen plötzlich einen Korb gab - nach der Verlobung
wohlgemerkt.
Mit Frauen wußte Harures bald nichts mehr anzufangen, und mit der Musik
auch nicht allzuviel. Ihm fehlte der Einfluß Rem6nyis, der ihm immer eins über-
briet, wenn er es am dringendsten benötigte. Ohne Schlafbremse von außen
gelang die Komponiererei nicht halb so gut. Ein paar Sachen mag man noch ken-
nen - >In stiller Nacht< etwa oder das >Wiegenlied<. Die Namen sprechen Bände,
obwohl die Musik dazu ganz nett ist. Verschlafen aber niedlich. Brahms wurde im
Alter, welches übergangslos auf seine Jugendjahre folgte, ein brummiger Zausel
ohne einen Anflug von Manieren. Dies ist nicht seinem Zölibat zuzuschreiben,
sondern seiner Müdigkeit. Er hätte sooo gern vierundzwanzig Stunden am Tag
durchgeschlummert, doch man ließ ihn nicht. Als dann der Rummel um ihn lang-
sam aber sicher einschlief, entschlief auch Brahms. Wir Heutigen liegen also voll
im Trend, wenn wir bei seiner Musik einnicken - was der Meister konnte, können
wir schon lange.
Hoppala! Achtung, Achtung! Just in diesem Moment wollten wir uns, eingelullt
und eingestimmt durch die obigen schlaftrunkenen Betrachtungen, geradewegs in
Morpheus' liebende Arme werfen, um es Brahmsen nachzutun ... da erreicht uns

t44
(etwas verspätet, aber immerhin) eine interessante musikwissenschaftliche Nou-
igkeit. Ein paar schreibkundige Gauchos der Universität von Mexico City betrach-
ten sich im Vollbesitze eindeutiger Beweise für die Tatsache, daß Mutter Brahms
im Jahre 1833 mit Sprößling Hannes mitnichten in Hamburg niederkam, sondern
mitten im femen Chile, wohin eine Dienstreise die Gute verschlagen hatte. Was
sie dort wollte, bleibt unklar. Ob Vater Brahms mitkam, ist unwahrscheinlich - er
hätte mit seinem dicken Vieh von Kontrabaß schließlich die doppelte Schiffspas-
sage zu zahlen gehabt. Doch was für ein Licht wirft der angebliche Geburtsort im
nachhinein auf die gesamte Brahms-Forschung! Sollte es wahrhaftig stimmen,
daß Hänschen Klein im fernen Südamerika das Licht der Welt erblickte, wo
bekanntermaßen jedem Baby der leidenschaftliche Pampa-Rhythmus in die Wiege
gepackt wird - gleich neben die Pampers -, dann gäbe uns das ungeahnte Auf-
schlüsse über andere mögliche Reisen des Fast-Neugeborenen und seine unfehl-
bar daraus resultierenden Kinderkrankheiten. Denn daß dem Säugling Hans das
feurig-heiße, chili-scharfe Hochlandblut der Anden frtih verwässert oder gar ver-
seucht wurde, liegt auf der Hand: Kein Indio hat je so oft und ausgiebig gegähnt
wie unser Hannes.
Wenn eine höchstschwangere Dame aus Hamburg es schafft, unbeachtet vom
Rest der Welt einen Knaben in Ubersee zu gebdren, ihn mit Chili-Milch durchzu-
bringen, ohne daß etwas durchsickert (nicht einmal von der Milch) - dann kann,
ja mulS man davon ausgehen, daß die gute Frau noch ganz woanders ihr Unwesen
trieb, lange bevor Hannes am Jungfemstieg zu klimpern anfing. Ward sie womög-
lich - außer vom erdigen Geruch des Popocatepetl - angelockt vom lauten Ruf des
Brahmaputra, den angesichts des liebreizenden Knaben einige Brahmanen stante
pede in Brahmsaputra umtaufen wollten? Wer kann das mit Gewißheit sagen!
Doch als weit umwälzender und bahnbrechender erweisen sich die Konsequen-
zen, welche nun unaufhaltsam wie eine Lawine auf die moderne Medizin zurol-
len. Falls nicht ein barmherziger Nachfolger Albert Schweitzers rechtzeitig her-
ausfindet, daß Mutter Brahms auch den Kilimandscharo bestiegen hat (wo
bekanntlich die Tsetse-Fliege wohnt), bleibt uns nichts tibrig, als gezielt nach der
allertückischsten Version der Schlafkrankheit zu suchen: dem brand- bzw.
brahmsneuen sogenannten Chili-Stamm. Con carne. Und möglichst pronto. Bin
Genius wie unser Brahms muß nämlich einzigafüg bleiben - zum Wohle der
gesamten Menschheit.

t45
Gustaverl, Gott und Heil'ger Geist
Mahler, Gustav (1860-1911)

Beim allerersten schnöden Blick auf Gustavs Geburtsdatum scheint der gute
Junge nicht mehr so recht zur Riege der Vor-, Voll- und Pseudoromantiker zu
gehören: Er hat immerhin schon in unser Jatrhundert hineingeschnuppert und ist
somit ein Moderner, pfui Teufel. Manche Musikwissenschaftler behaupten, er
habe sämtlichen Zwölfendern und -tonern den Weg nicht nur geebnet, sondern
persönlich kopfsteingepflastert. Das macht dem Musikliebhaber (dem mit Gehör
statt Rechenschieber) vor der klanglichen Begegnung mit Freund Mahler natur-
gemäß etwas Angst. Wie erleichtert ist der Hörer dann aber, wenn er staft der
erwarteten Kakophonie in c-Durffolfwie-auch-immer richtige Musik geboten
bekommt, zwar keine sehr schöne, aber doch Musik! Noch dazu ganz überra-
schend altmodisches Zeugs, wie man es ga.r nicht zu hoffen gewagt hätte. Mit
Mühe hat der Nichts-Gutes-Ahnende sein Gehör in die vermeintlich angemesse-
ne Schräglage gebracht, um dann glücklich festzustellen, daß Mahler durchaus
ohne Ohrenstöpsel zu ertragen ist - von der ersten bis zur letzten Syzrphonie kein
einziges >Kako<! Auch die Kindertotenlieder sind wirklich allerliebst. Nicht zu
vergessen Des Knaben Wunderhorn in das Mahlers Gustav zu Lebzeiten lange
und ausgiebig zu stoßen pflegte, zum Ruhm und zur Ehre des Allerhöchsten. Also
seiner selbst.
Uberhaupt gibt es eine Unmenge musikalischer und sonstwie krimineller Ele-
mente, die Mahler untrennbar mit seinen geistigen Ahnen wie Mozart, Beethoven
und Co. verbinden. Seine letzten Worte auf dem Totenbett, sehnsüchtig dahinge-
haucht, waren laut Ehefrau Alma >Mozartl! Mozartl!<; demnach müssen die bei-
den sich trotz des Altersunterschieds recht intim gekannt haben. Auch Ludwig van
hat ihn ausgiebigst inspiriert, zugegeben nicht bei seinen Werken, sondern bei sei-
nen Wiener Wohnungswechseln: Hätte Beethoven seinerzeit eine Broschüre fiir
notleidende Untermieter mit Klavier herausgegeben, wdre Gustav sein gelehrig-
ster Abonnent geworden. An die zwanzigmal ist er während seiner Studienzeit
umgezogen, hatte jedoch aus Beethovens Schicksal gelemt - er ließ sich nicht von
den Wirtsleuten quälen, sondern kam ihnen in dieser Beziehung zuvor, wo er nur
konnte. Gern erinnerten sich jene Vermieter, die ihn bzw. seinen Aufenthalt zu
überleben die Gnade genossen, an die von ihm morgens und abends zubereiteten
Kartoffeln in Knoblauchsauce, welche jedermann zu Tränen rührten, an sein
allnächtliches stundenlanges Geklimpere (er hatte wohlweislich beim Einzug das
Pianoforte verschwiegen) sowie an die Dutzende von kleinen Klavierschülern, die

146
er in seinem zimmer und in seinem Zorn windelweich klopfte. Doch das meisto
hatte Gustav offenbar mit seinem vorgänger Haydn gemein. wieder ist nicht von
Musik die Rede, sondem von dem Menschen hinter ihr - obwohl das so auch nicht
stimmt: Haydn bheb pro forma ein menschliches Wesen; Matrler war von klein
auf ein Gott.
Nun mag mancher Ungläubige stutzen. Zwar glbt es, zumal in der Musikwelt,
des öfteren gottgleiche Geschöpfe. Doch ein Höheres Wesen, das sich praktisch
ausschließlich von Knoblauch emährt? Das erscheint uns eigenfämlich. Lasset
uns andererseits bedenken, daß Jesus selbst sowie seine Jünger pausenlos bestia-
lisch gestunken haben müssen, was zu iluet Z,eit, an ihrem Ort aber niemandem
aufEel! Der Körper ist nur eine äußere Hülle ... und Ernährung Glücksache.
Unter Mahlers Zeitgenossen jedenfalls herrschte eine beeindruckende, ja bei-
nahe erschreckende gedankliche Übereinstimmung dahingehend, daß Gustav kei-
nesfalls ein >Mensch< gewesen sein kann. Die Tendenz schwebte entweder hoch
zu >Gott< oder nieder zu >Dämon<; dazwischen gab es absolut keine Meinungs-
äußerungen. Wir müssen uns das ungefithr so vorstellen wie bei einer Eiskunst-
lauf-Jury (die allerdings ausnahmsweise weder bestochen noch sonstwie gespon-
sert wurde). Die Preisrichter/innen haben aber nur zwei Täfelchen zur Verfügung,
von denen sie eines in die Luft halten. Das repräsentative Ergebnis lautet: >Hei-
land, Christus< (Ehefrau Alma, die nach diesem Gott noch zwei andere geheiratet
hat); >reiner Engel<< (Anton Bruckner, dem der junge Mahler regelmäßig Back-
henderln spendierte); >>Auserwählter, genialischer<< (ein gewisser Siegfried Lipi-
ner, der sich stets so betont zurückhielt); >ein Vulkan, lebende Musik!< (Hermine
Spieß, eine jener Sängerinnen, mit denen der Gott kein Verhiiltnis unterhielt); >Er
hat den Zorn der Gerechten!<< (der vergreiste Komponist Ferenc Erkel, kurz F.
Erkel, den niemand sonst hören wollte); >Engelsgleicher!< (immerhin Peter
Tschaikowskij); >Gott der südlichen Zonen<< (allgemeiner Zeitungsjargon);
>>unser Lenker, unser Heil, die Seele unserer Kunst etc. etc.< (Baßbariton Weide-
mann, kurz bevor er in einem Meer von Tldnen absoff); >göttlicher Freund, Papst
unter Päpsten, der Gigant, der Größte< (Romain Rolland) und schließlich ein
gewisser Gerhart Hauptmann: >>fJnser musikalischer Schutzpatron!<< Dies sind
nattirlich nur die gemöl|igt wohlwollenden Aussagen, wie man sich denken kann.
Ihnen stehen andere gegenüber, wohlgemerkt nicht entgegen: >>Ein Dämon ...
seine Erscheinung ist wirklich teuflisch<< (Intendant Pollini, und der mußte es wis-
sen, denn der hat ihn engagiert!); >doch dieser Teufel auch, er war von Gott!<
(Paul Stefan, Jugendfreund, dem die Verbindung der Extreme doch tatsächlich
geglückt ist). Andere Teufelsanbeter Mahlers unterstreichen mit ihren Beschrei-
bungen zudem die Tätsache, daß Mahler noch immer in der Tradition der Roman-
tiker stand, ob er wollte oder nicht. In diesem Zusammenhang muß wieder einmal
der arme E.T.A. Hoffmann herhalten, der schon von Weber und Schumann so aus-

t47
giebig mißbraucht wurde. Immer setzte man den Mann bloß als ldeenlieferanten
ein, ohne angemessen den Umstand zu würdigen, daß er doch selbst einen ver-
dammt guten Komponisten abgab. Naja, vielleicht hätte er eben nicht so viel abge-
ben sollen. Jedenfalls gehörte es eine Znitlang geradezu zum guten Ton für alle
kleinen, mißgestalteten und verhutzelten Kapellmeister, mit den Schauerfiguren
Hoffmarurs in einen Topf geworfen zu werden, einen Goldenen: >... bleich,
mager, klein von Gestalt, länglichen Gesichts, bedeutende Augen hinter Bril-
lengläsem, eine gerade so interessante, dämonische, einschüchtemde Inkarnation
des Kapellmeisters Kreisler ... Mahler erschien mir in Antlitz und Gebaren als
Genie und Dämon: das Leben selbst war plötzlich romantisch geworden.<< Also
sprach Bruno Walter, seines Zeichens Mahlers Korrepetitor zu jener Zeit, und das
war ihm noch immer nicht genug: >Fußstampfen, Stehenbleiben, wieder Vor-
wärtsstlirmen - alles bestätigte und verstärkte den Eindruck der Dämonie, und ich
hätte mich kaum gewundert, wenn er nach der Verabschiedung, immer schneller
ausschreitend, mir plötzlich als Geier davongeflogen wäre wie der Archivarius
Lindhorst dem Studenten Anselmus in Hoffmanns Goldenem Topf... Putzigerwei-
se nahm Claude Debussy Mahler ganz ähnlich wahr, fühlte sich jedoch durch ihn
an eine verbreitete Karikatur von Jacques Offenbach erinnert, die letzteren als
dünnbeinige Spinne mit einem Geierkopf zeigte. Nun sind Offenbach und E.T.A.
spätestens durch H offinanns Er zählun g e n vnfr ennbar miteinander verschweißt.
Dieser Tatbestand beweist uns dreierlei: 1. Mahler war ein durch und durch
romantischer Geier der Musik, auch ohne Spinnenbeine. 2. Die Begriffs- und
Phantasiewelt der Romantiker scheint entgegen weitverbreiteten Vorstellungen
mehr als begrenzt gewesen zu sein, zumal 3. die wenigen tonangebenden Roman-
tiker alle untereinander verwandt und verschwägert und die Folgen dieser Inzucht
nach einiger Zeitbeim besten Willen nicht mehr zu übersehen waren. Bliebe die
Frage offen, ob die Kapellmeister sich damals mit Absicht alle auf Geier trimm-
ten, um dem Klischee des Individual-Dämonen voll zu entsprechen ...
Mindestens eine Sache jedoch gibt es, die den Mahler Gustav vollkommen von
der Masse der anderen Götter und Teufel unterscheidet. Während beispielsweise
Haydn erst mühsam herausfinden mußte, wie sein Lebensweg vonstatten gehen
sollte (genaugenommen erst nachdem die Sache mit der Gottwerdung gelaufen
war, also im hohen Alter), wußte Mahler schon als holdes, kleines, geierköpfiges
Knäblein, was dereinst aus ihm erwachsen sollte. Laut trompetete der Achtjähri-
ge seinen Berufswunsch hinaus in die Welt - doch nicht etwa Kindergeschwafel
wie >>Wenn ich groß bin, möchte ich ein Wunderkind werden<< oder ähnlichen
Schnickschnack. Nein, der >extrem hirnweiche< (Originalton Klavierlehrer
Brosch) Bengel verkündete selbstbewußt: >Ich will Märtyrer werden!<< Mit Beto-
nung auf >will< noch dazu. Mahlers frtih ausgeklügelter Plan war nur allzu klar:
Leiden und leiden lassen galt ihm fortan als Devise. Zwar hatte die Umwelt seit

148
seiner Geburt unter Mahler gelitten, doch nun sollte die Passionsgeschichte ango-
messene Form und Richtung nehmen. Selbstversländlich war die Familie gegen
diesen Berufswunsch, weil man selbst als gründlicher und pflichtbewußter Voll-
zeirMärtyrer niemals angemessen bezalrlt wird, was ja schließlich irgendwie in
der Natw der Sache liegt. Aber noch bevor die Familie des Knaben sich über sei-
nen Ausspruch zu entrüsten die Gelegenheit bekam, besorgte dies mit Inbrunst
Klavierlehrer Brosch, wenn auch aus gänzlich anderen Erwägungen heraus. Dem
Matrler Gustav fehlten die körperlichen Voraussetzungen für besagte Karrierel
-
Zwar war er klein, zart, mage\ krumm und schief aber für ein gottgef?illiges
Märtyrertum reichte es keineswegs aus, Klassenschwächster zu sein und dauernd
verdroschen zu werden. Dem Gustav fehlte etwas Grundsätzliches an einer nicht
weiter bezeichneten Stelle; nicht so viel, daß er als Dauersopran hätte gelten kön-
nen, doch gerade genug, um ihn sowohl von den kleinen Mädchen draußen im
Freien als auch von den kleinen Buben in seiner Klasse zu unterscheiden. Lehrer
Brosch war halt eine gestrenge, ehrliche Christenhaut; Schüler Mahler hatte nicht
mal eine. In einer Schule voller Protestanten, die bekanntlich keine richtigen Chri-
sten sind und schon gar keine Märtyrer, hätte der Herr lrhrer den Gustav womög-
lich gewäihren lassen oder zumindest mit einem Hinweis auf den zweiten Bil-
dungsweg für Märtyrer vertröstet. Doch hier, im mährischen Provinzkaff lglau,
pochte das katholische Herz Österreichs, und den meisten schien sonnenklar, daß
nur ein Katholik wirklich göttlich zu leiden imstande war. Nun hatte aber Mahler
in seiner frühreifen, dämonisch-hinterhältigen Art sämtliche möglichen Schach-
züge der Schulleitung vorausberechnet und in seine teuflische Strategie mit ein-
bezogen. Daß Lehrer Brosch zum Direktor seiner Bildungsanstalt eilen würde, mit
der Bitte um Mahlers Bestrafung für solche Blasphemie, verstand sich von selbst.
Was von der Entscheidung des Direktors abhing, war nur die Art des Martyriurns.
a) Angenommen, der Prinzipal verurteilte ihn zu den von Brosch vorgeschlagenen
>zehn Tagen verschärften Karzer mit streckenweisem Nahrungsentzug<, hatte
Matrler sofort gewonnen. Ein zu leichter Sieg, und glücklicherweise kam es zur
subtileren Form b): Der Direktor fand die Idee des Knaben weise und erleuchtet;
Mahler sei ein Muster für Tirgendhaftigkeit und Moral (zumal er nicht einmal ein
Christenverschnitt war) und verdiene es, vor seinen Klassenkameraden belobigt
zu werden. Gesagt, getan, und so bezog Gustav für den Rest seiner Schulzeit
wegen seines angekündigten Märtyrertums regelmäißig Klassenkeile. Die anderen
Jungs - die mit Haut an der richtigen Stelle - verprügelten ihn wegen seiner däm-
lichen Heiligkeit, die er gar nicht besatS, und machten ihn zu dem Märtyrer, der er
gar nicht sein durfte. Schachmatt in drei Zid.gen: Gustav kriegte immer seinen Wil-
len, und der kleine dämonische Geier lachte sich heimlich ins Fäustchen. Obiger
Vorfall ward zur Keimzelle seines Wirkens.
Wie aus besagter Episode unschwer zu erkennen ist, wal Gustav nicht automa-

t49
tisch zum Leiden geboren; er sah lediglich sofort jede Möglichkeit, die sich ihm
bot. Und zwar für sich und andere, denn ein echt biblischer Märtyrer, Prophet,
Heiland undsoweiter behält seine wunderbaren Anlagen schließlich nicht für sich
wie ein hergelaufener, religionsloser Egoist. Besonders die Kinderlein hatten es
dem selbst noch kleinen Gustav, der er mangels Wachstum zeitlebens bleiben soll-
te, von Herzen angetan. Bevor Gustav in seine erste wirkliche Machtposition vor-
drang - auch als Kapellmeister blieb man zwar >Radfahrer<, doch ein wendiger
Radfatrer kann jeden Brummi-Lenker mühelos kopfüber die Böschung hinunter-
treiben, wenn er das für wahr und gerecht hält! -, verfolgte er konsequent einen
Iritspruch, oder musikalisch gesehen sein Leitmotiv: Schlage niemals Menschen,
die gröJ3er sind als du, und auch keine Kinder, solange die Eltern dabeisitzen.Die-
ser Maxime gehorchte er bedingungslos, als er bei sich zu Haus Klavierstunden
gab. Er war acht Jahre alt, somit ein Novize in der Ausübung seiner soeben ent-
deckten Märtyrerberufung und dementsprechend brandheiß auf den neuen Job.
Brandheiß waren auch die Schläge, die er seinen ersten Opfem, kleineren Nach-
barskindem, zu ihrem Besten angedeihen ließ. Daß Mahler sich >a Göld< für seine
eigene musikalische Fortbildung verdienen wollte, erscheint dabei unerheblich;
wichtig war für ihn in erster Linie - zumindest laut Ehefrau Alma -, den widerli-
chen Viecherln kraft seiner Unterweisung >zu einem höheren Sein zu verhelfen,
damit ihnen Erlösung zuteil werde<<. Das versuchte Gustav buchstäblich aus Lei-
beskrdften und wurde selbstversländlich gründlich mißverstanden. Die dummen
Bälger flehten ihre Eltern um Erlösung von dem Bösen auf der nachbarlichen Kla-
vierbank an und fanden prompt Gehör. Ganz ?ihnlich ging es wenig später dem
siebzehnjährigen Studiosus Mahler, dessen pädagogische Methoden sich im Laufe
det Zeit nicht in Qualität, sondem Quantität verändert hatten. Die Kinder flohen
nicht mehr einzeln, sondern in Heerscharen vor dem götterzomentbrarurten Wüte-
rich, der seine feurigen Blitze auf sie herniederfahren ließ. Als dann in ähnlichen
Mengen deren Eltern bei ihm aufkreuzten, um ihn des Sadismus zu beschuldigen,
sah er sich unverstanden und in seiner Märtyrerrolle vollauf bestätigt. Wir sind uns
natärlich darüber im klaren, daß solche Vorwürfe aus der Luft gegriffen waren:
Erstens kann ein genialer Musikschaffender niemals ein Sadist sein; zweitens
weifi man doch, daß Eltem zu jener Zeit der staatlich sanktionierten Schulprügel
extrem empfindlich in Sachen Kindesmißhandlung reagierten, viel überffiebener
als heutzutage. Die Durchschnittsfamilie hatte eben nur ein Dutzend Ableger
vorrätig und zeigte sich entsprechend erbost, wenn mal einer davon am Piano zu
Bruch ging.
Dieses leidige Problem mit der Erleuchtung der von Natur aus dummen,
unwürdigen Menschheit sollte sich wie eine brennende Lunte durch Mahlers
gesarntes Leben ziehen; nur die Vorzeichen änderten sich etwas. Das obenge-
nannte Motto entfiel, als der Prophet auf der passenden Machtstufe angelangt war

150
und seine Untergebenen nicht länger nach Mami, Papi oder ihrem Agenten schrei-
en konnten, auf daß ihnen Beistand gegen den Gott-Satan zuteil werde, der doch
nur sein Bestes wollte. Zärtlich nannte Gustav seine ihm anvertrauten wehrlosen
Schäfchen, also Sänger und Orchester, >das Musikantengesindel<; das Ensemble
der Wiener Oper war für Gustav den Grundgütigen ein >Stall< voll >hochnobler
Viecher, die aber abgesungen sind und schnellstens verschwinden müssen<. Den
Abdecker machte er persönlich nur allzu gern, allerdings nicht ohne die armen
Tiere um der Läuterung ihrer Seelen willen vorher noch ein wenig zu quälen. Er
persönlich verglich diesen Akt der Reinigung übrigens weniger mit einer Augias-
Stallausmistung ä la Herkules denn mit einer notwendig gewordenen göttlichen
>Sintflut< ... Nun, ein Herkules war der kleine Mahlerische Schmachtlappen
tatsächlich nicht. Um so erstaunlicher erscheinen darum die auff?illigen Parallelen
zum Kraftprotz Händel, der ja ebenfalls Herren und Damen des Orchesters zu ver-
prügeln pflegte. Anders als jener Vorgänger, welcher seine Opfer mit einem Fin-
ger hochhob und in diverse Ecken schleuderte, muß sich Mahler auf folgende
Methode verlegt haben, die sich betreffs des Größenunterschieds als die einzig
plausible erweist: Im vollen Bewußtsein seinerAllmacht (von der er selbst wußte,
daß sie göttlichen, die anderen glaubten, daß sie fürstlichen Ursprungs sei) befahl
er dem jeweiligen Opfer, ihn hochzuheben bzw. ihm eine Leiter aus der Requisi-
te zu beschaffen, damit er zumindest mit göttlich ausgestreckter Hand die Ohr-
watschen des Schuldigen zu erreichen imstande war. Und die Hascherln taten, wie
ihnen von tief unten geheißen; sie ließen sich von einem Männchen vertrimmen,
welches sie glatt hätten zertreten können, wenn sie nicht stets teuflisch auf der Hut
gewesen wären ... Die singende Dulderin Hermine Kittel sagte dazu nur: >>Genies
sind launisch, und wenn's hart kommt, sind sie wie Bestien. Aber man muß sie
unterstützen und sie's tun lassen, auch wenn's uns Schmerz bereitet.<< Das sah sie
völlig richtig, denn garantiert taten dem Gustav die Schläge viel mehr weh als
dem Vieh - bei seinen zartenHandgelenken.
Will man bestimmen, ob der Mahler Gustav ein Gott des Alten oder des Neuen
Testamentes war, erkennt man ziemlich schnell, daß er, bedingt durch den Verlauf
seines weltlichen Lebens, beide verkörperte; außerdem spielte er diverse Randfi-
guren wie Gustav den Täufer, den Posaunisten von Jericho, Moses mit den Geset-
zestafeln, bei der Teilung des Roten Meeres und vieles mehr. Er war der Gott
Jahwe, der keinen anderen neben sich duldete: Als ein gewisser Claude Debussy
ihn besuchte, freute sich Gott Gustav über solche Reverenz seitens dieses seines
>absoluten Jüngers<; Debussy klärte ihn etwas befremdet über das Mißverständnis
auf und ward augenblicklich zu einem größenwahnsinnigen Spinner. Zugleich war
Gustav die Heilige Dreifaltigkeit der Neuzeit. Ach was, >dreifaltig< - Gustav
brachte es auf noch viel mehr Falten. Einmal, wahrscheinlich im Zustande fortge-
schrittener Weihrauchvergiftung, rief er aus: >>Alma, stell' dir vor, was mir soeben

r5l
pessiert ist: Ich konnte für einen Augenblick in mindestens sieben Dimensionen
lebenl< Dies stimmt mit einer friiheren Beobachtung seiner selbst überein, als er
Freund Bruno Walter schrieb: >>Ich würde mich manchmal gar nicht wundern,
wenn ich plötzlich einen neuen Körper an mir bemerken würde.<< Erkenntnis-
mäßig befand sich Mahler schon geraume Zeit im >Transobjektiven<. Dagegen
erwog er kurz vor seinem Ableben, welches er eigentlich immer als den Zweck
jedes Daseins betrachtet hatte, zur Ordnung der Bakterien-Einzeller überzutreten,
um durch sofortige Zellteilung dem Hinscheiden zu entgehen. Das alles muß uns
jedoch nicht beunruhigen - der Mahler Gustav war trotzdem keineswegs plem-
plem, wie böse Zungen behaupteten. Das hat er sogar mit Brief und Siegel von
Sigmund Freud persönlich bestätigt erhalten. Sigi, der doch nun wirklich bei
jedem zahlenden Patienten irgend etwas feststellen konnte, diagnostizierte bei
Freund Mahler lediglich einen Mutterkomplex< (obwohl Mah-
'verschwommenen
ler ihm erzählte, wie der lüsterne Vater in Gustaverls Beisein über die Mutter her-
gefallen war, noch dazu während eines ihrer Herzanfülle!). Mahler muß so goff-
oder aber dämonengleich auf Sigmund gewirkt haben, daß letzterer ihm nach
einer einzigen Sitzung die Absolution erteilte und ihn mit einer Auflage von drei
Vaterunsern zurück nach Hause und zu seinerAlma mater schickte - welcher Sig-
mund übrigens auf einer Party, quasi im Vorbeilaufen, einen lihnlich verschwom-
menen Vaterkomplex bescheinigt hatte.
Bei der Erwähnung von Vatemnsern mag man zunächst stutzen. Schließlich
wissen wir, daß Klein-Gustav das einzige Schnittböhnchen in seiner katholischen
Schulklasse besaß, also aus einem ordentlichen jüdischen Hause stammte, wo der
Vater zwar nicht unbedingt die Mutter, wohl aber den Sabbat ehrte, besonders
donnerstags. Die Großmutter, ihres Zeichens Familienoberhaupt, hatte als Mitgift
einstens eine Hausiererkiepe und ein Pianino geerbt. Statt die ehrwürdige Kunst
des Hausierens zu erlernen, biß sich Gustav bereits im Krabbelalter an dem Kla-
vierchen fest sowie an jedem, der ihn davon losmachen wollte. Also erklärte sich
der Vater einverstanden, ihn ein Wunderkind werden zu lassen (die Tradition war
offenbar einfach nicht totzukriegen). S2imtliche Klavierlehrer waren >vem-rchte<
Katholiken, und bald schien Sohnemann >gewissenlos entwurzelt<. Der Rabbi
schlug verschiedene Schulwechsel vor sowie den Aufenthalt bei der gottesfürch-
tigen Familie Grünfeld, wo aus dem Knaben schon etwas Rechtes werden sollte.
Mit Hilfe der dort für Kostgänger praktizierten Trenndiät (Trennung des Hungri-
gen von jeder Form von Kalorien und Vitaminen) wurde aus Gustav dann auch
bald ein wandelndes Skelett, noch dazu eines ohne Kleider auf den Rippen.
Gustav sah's gelassen, denn all dies stellte immerhin eine weitere wichtige Spros-
se auf der Märtyrerleiter dar. Mit fünfzehn Lenzen wurde er Schüler des Wiener
Konservatoriums, und von da an wal's um sein Judenfum mehr oder weniger
geschehen. Bald traf er dort nämlich auf seinen - neben Richard Wagner - musi-

152
kalisch-geistigen Oberguru: Anton Bruckner. Kaum über fünfzig, wirkte Bruckner
auf die Mehrzahl seiner Zeitgenossen bereits so ungeheuer ... abgeklärt, daß man
ihn nicht mehr für voll nahm. Nur ein winziges Fähnlein von Aufrechten, welches
es über sich brachte, seinen einschläfemdenVorlesungen und Symphonien zu lau-
schen, weil es danach Freibier gab, scharte sich regelmäßig um den Unglückli
chen. Fiir Mahlers Gustav wuchs Bruckner im Handumdrehen zu einem >Musik-
heiligen< heran, denn der Kleine merkte instinktiv, daß Bruckner und er zu gut für
diese schnöde Welt waren. Während aus Bruckner jedoch nicht mehr viel zu
machen war, beschloß Gustav, mindestens für zwei zu leiden und damit welt-
berühmt zu werden. Wenn er in den Himmel käme, so pflegte er zu sagen, würden
ihn dereinst zwei Irute dort erwarten: Bruckner, sein Vater, und Wagner, >die
Erscheinung höchster Glorie<. Damals wußte er demnach noch nicht, daß er selbst
da droben zum Chef avancieren sollte.
Und bevor das überhaupt geschehen konnte, mußte erst einmal ein ordentlicher
Christ aus ihm werden. Also mit anderen Worten ein Erzkatholik wie Papa Bruck-
ner, der (wie der Zufall so spielt) als erklärter Antisemit galt. Tatsächlich verän-
derte sich der junge Mahler recht einschneidend unter der Anleitung seines Zieh-
vaters; man kann sogar davon ausgehen, daß ihm durch die himmlische Fürbitte
des engelsfrorrmen Mentors gewisse Körperpartien wieder nachwuchsen. Laut
Aussage seines engen Freundes Wolf ließ er das Teil des Anstoßes während des
Regenerationsprozesses zumindest nie das Licht der schnöden Welt erblicken:
>>Ich kenne nur zwei Menschen, die so keusch wie der lieb'e Gott sind: Anton
Bruckner und Gustav Mahler!< Das Nachwachsen muß dann allerdings doch eini-
ge Zeit in Anspruch genommen haben, denn erst mit siebenunddreißig Jahren ließ
Gustav sich vollständig taufen. Ganz böse Zangenmeinten damals, sein scheinbar
plötzlicher Anfall von Katholizität sei darauf zurückzuführen, daß nur ein Katho-
le den Thronsessel der Wiener Hofoper erben könne, und Wien sei schließlich eine
Messe wert usw. usw. Mahlers Freunden fielen spontan all die durch und durch
katholischen Dinge wieder ein, die der Gustav zeitlebens getrieben hatte, beson-
ders nachdem Mahler sie wieder und wieder daran erinnert hatte. Freund Löhr
schrieb: >Aus all Deinen Schilderungen geht doch eindeutig hervor, daß Du seit
Jahren nichts anderes als ein Katholik bist!< Bloß Gustavs Schwester Justine
nannte ihn einen Verräter. Später, als sie seine Haushälterin wurde, rächte sie sich
fürchterlich an ihm, indem sie ihn in den finanziellen Ruin trieb: Sie machte die-
sem abtrännigen Möchtegem-Goi weis, daß man nur mit Hummer, Lachs und
Kaviar wahrhaft koscher kochen könne. Sei's drum - Mahler hatte sich vom alt-
testamentarischen Jahwe zum neumodischen Christengott gemausert, noch dazu
mitten in Wien.
Bezüglich der Mahlerschen Enthaltsamkeit gingen die Meinungen schon zu
Lebzeiten des Heiligen recht weit auseinander. Es stimmt, daß der junge Gustav

153
unter der Anleitung des fern von ihm weilenden Gottes Wagner beschloß, Vegeta-
rier zu werden. Außerdem belegte er einen Femkurs in Zen-Buddhismus und ftihl-
te sich nach eigenem Bekunden >>in der allgemeinen Mönchshaltung denkbarst
wohl<<. GattinAlma schwor zudem sämtliche Meineide, ihr Gustav sei rnit immer-
hin einundvierzig JZihrchen unbefleckt in die Ehe gegangen, doch muß ihr Ur-
teilsvermögen leider etwas angezweifelt werden. Mahlers Jugendfreund,Krzyza-
nowski nannte ihn einen >priapischen Asketen<, was auf Deutsch >Schweineprie-
ster< bedeutet; Guido Adler lobte ihn als einen glänzenden Schauspieler: >>Er setzt
die Maske des Biedermannes, des Asketen auf und treibt im Geheimen seine
Späßchen mit allerhand Schönen ...<< Aber wer weiß - vielleicht ist ihm auch sein
Jungfernhäutchen regelmlißig wieder nachgewachsen, und geistig-sittlich haben
die Frauen ihm seine Moral eh nie untergraben können. Heute würden wir sagen,
Mahler steckte seine ganze unterdrückte Libido in sein musikalisches Werk, denn
daß ein mächtiges erotisches Feuer in ihm tobte, welches ihn innerlich verbrann-
te, war seiner Umwelt bewußt, sogar dem Papa Bruckner, wenn auch nur ganz ver-
schwommen. Mahler satr das anders, wesentlich edler und gottgleicher: Seiner
engen, übrigens nach einer stürmischen Affäre soeben abgelegten Freundin Anna
von Mildenburg erklärte er das wahre Wesen seines musikalischen Schaffens.
Liebe sei für ihn nur die Liebe Gottes zur Schöpfung, und einzig diese Liebe
drücke er in seinen Werken aus. Daß er während des Komponierens ein Instrument
sei, auf dem das Universum spiele, und er nur wiedergebe, was ihm imAustausch
mit dem Höheren offenbart worden sei, kommentierte Anna nicht unzutreffend als
>sensationellen Quatsch<. Nicht das ganze Universum hatte nämlich während der
Monate zuvor auf diesem Instrument gespielt, sondem Anna, und sie hatte ihm
eine Menge neuer Griffe beigebracht. Jetzt wollte er plötzlich nicht mehr sie hei-
raten, wie er es ihr angeblich versprochen hatte, sondern so ein doofes, obskures
Weltall mit einem >Höheren< drin.
Selbstverständlich brauchen wir dieser Dame keine Aufmerksamkeit zu schen-
ken, denn sie war nur eine Frau, nicht vertraut mit den Mächten der Schöpfung,
und obendrein eine verschmähte Buhlin, die sich bestimmt bloß rächen wollte.
Auch die Thtsache, daß bereits vor ihr zwei Weibsbilder auf Einhaltung des Mah-
lerschen Eheversprechens gepocht und zu diesem Zweck sogar schwanger vor den
Kadi gelaufen waren, darf uns nicht in unserem Glauben an die Reinheit des Gott-
Genies irremachen. All diese unerquicklichen VorfZille gingen im Endeffekt auf
die Machenschaften des >Bayreuther Drachen< zurück - auf die Wagner-Witwe
Cosima, die mit allen Mitteln Gustavs Berufung an die Wiener Oper verhindem
wollte. Diese Furie konnte Juden nicht ausstehen, und katholische wenn möglich
noch weniger. Und so setzte das intrigante Luder alles daran, mit Rosa Papier
Mablers Karriere zu zerstören. Nein, das ist kein Druclcfehler. Rosa Papier war
nicht Cosimas parfümiertes Spezial-Büttenschreibmaterial für konspirative Brie-

r54
fe, sondern ihre Busenfreundin - eine Wiener Kammersängerin, die schon einmal
unter Mahler zu singen das zweifelhafte Vergnügen genossen hatte. Sie gehörte
nicht zu jenen Viechern, die sich sang- und klaglos schlachten ließen, im Gegen-
teil. In ihrem Zorn wurde das Weib zur Rosa Papier-Tigerin. Cosima, Rosa Papier
und ihre Vasallen erreichten es nach Jahren der völligen moralischen Untergra-
bung Wiens, welches immer schon stark unterhöhlt war, daß Mahler seinen klei-
nen Hut nahm und die lausige Stelle des Chefs der Metropolitan Opera in New
York antreten mußte. Dieser miese Job bedeutete drei Monate Arbeit im Jahr und
ein Gehalt, welches das wienerische lediglich um das knapp Zehnfache überstieg;
entsprechend verzweifelt gebärdete sich das Opfer der Drachenlady. Was bedeute-
te es schon, daß Mahler bereits seit geraumer Zeit mitjener Neuen Welt für ihn,
den Neuen Gott, geliebäugelt hatte? Er war ein armes, unschuldiges Wesen, des-
sen göttliche Liebe die blöden Weiber nicht verstanden. Amold Schönberg hinge-
gen verstand thn - der wollte am liebsten den ganzen Wiener Westbahnhof mit
einem Trauerflor auslegen lassen, zum feierlichen Geleit des Messias, >damit der
Märtyrer würdig der vemrchtesten aller Welten entschreite<<. Ein kleiner roter
Läufer tat es letztendlich auch.
Angesichts dieser Behandlung scheint es nur zu verständlich, daß Gustav sich
manchmal in die Gesellschaft wahrhaft Gleichgesinnter wie etwa die des Hans
von Bülow zurückgesehnt haben muß. Gemeint ist jener Bülow, auf den sein
Nachfahr Loriot zu Recht so stolz ist, weil er sich von Richard Wagner einst sein
Ehegespons entführen ließ, dessen er wahrscheinlich sowieso nicht mehr bedurf-
te. Zugegeben, als der noch junge, unbekannte Gustav Herrn von Bülow um
Unterweisung und spirituelle Leitung anflehte (>... und wenn ich das Lehrgeld
mit Blut bezahlen sollte!<<), ignorierte ihn der gute Mann. Doch selbst das Rote
Kreuz hat Zeiten, in denen es Geldspenden frischem Blut vorzieht; davon abgese-
hen hatte Mahler nicht spezifiziert, mit wessen Blut er bezahlen wollte, und man
hatte ihn schon des öfteren einen >böhmisch-jüdischen Vampir< geheißen ... Spä-
ter, als Mahler und Bülow, nunmehr gleichrangige Dirigenten, in den ersten Ham-
burger Häusem ihre Stäbchen schwangen, beteten die beiden sich gegenseitig an.
Bülow kam mit einem Lorbeerkranz angewackelt und meinte: >So nähert sich
Jupiter Apoll!< Wir wissen nicht, wen er damit gemeint haben kann, denn wenn
das Hutzelmännlein Gustav Apoll gewesen sein soll, war Bülow der Kaiser von
China, und das entspricht mit Sicherheit nicht den Gegebenheiten. Als kleines
Dankeschön für das Kränzchen empfahl Mahler den Leuten, zu Bülows Konzer-
ten zu >wallfabrten wie zu einem Heiligtum<. Noch niedlicher war Gustavs Geste
bei Bülows Einäscherung, als er hinter der Ume herstiefelte und das Ding die
ganzeZnit mit einem Palmzweig bewedelte. So was nennt man walne Liebe, näm-
lich die von einem Gott zum andern.
Begräbnisse, insbesondere Einäscherungen waren es denn auch, die den ruhe-

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losen >Feuergeist<, der stets >in Flammen stand< und >in Ekstase sich selbst zu ver-
brennen schien<, zu seinen kompositorischen Höchstleistungen beflügelten. Aus-
gerechnet der Tod von Bruder Ernst brachte den Dreikäsehoch Gustav an die No-
tenschreiberei. Wer jetzt an einen Schuldkomplex glaubt, weil Gustav Klein-Em-
stel Klavierunterricht erteilte und Emstel dabei den Geist aufgab, sieht sich ge-
täuscht: Ernst war - genau wie später Ehefrau Alma - schon zu groß, um sich be-
reitwillig verprügeln zu lassen. Trotzdem hatte ihn der Gustav von Herzen lieb.
Gustaverls von Geburt an morbide Ader pochte beim Anblick des toten Brüder-
chens urplötzlich mit ungewohnter Heftigkeit und wies dem derart Begeisterten
seinen mit Leichen aller Art gepflasterten Weg. Prompt versuchte sich der Knabe
an einer Oper, Arbeitstitel >Herzog Ernst von Schwaben<, und wdlnend der Kom-
position des Dings sah er nach eigenen Angaben dauemd Gespenster, Leierka-
stenmänner und tote Emste, nämlich den von Schwaben und sein eigen Brüder-
lein.
Von nun an verlegte er sich auf zwei Spezialgebiete: Leichenbegängnisse und
andere Naturschönheiten. Beide Gebiete verknüpfte er auf das heftigste und inten-
sivste, bis selbst seine Kritiker kaum noch kapierten, ob er gerade einen tieftrau-
rigen Sonnenaufgang oder Regenbogen oder aber eine fröhliche Verwesung in
Noten packte. Sein erklärtes Opus t hieß bezeichnenderweise >Das klagende
Lied<. Es klingt in der Tat außerordentlich herzig und weist Mahler als den hirn-
weichen Dulder aus, den schon Klavierlehrer Brosch in ihm sah. Die unverwech-
selbare Kombination von Erdenfreuden, kauenden Würmern und Landschafts-
idyllen, bei welcher lediglich die Identifizierung der Reihenfolge Rätsel aufgibt,
wurde sehr früh Gustavs Markenzeichen. Die Kindertotenlieder fallen hierbei
zwar durch ihren Titel auf, stellen aber insgesamt kaum etwas Besonderes dar:
Gestorben wurde bei Mahler andauernd und ausgiebig. Tote Kinder bieten eben
eine willkommenere Angriffsfläche für den sie verhackstückenden Künstler. Ern-
stel beispielsweise hatte hervorragendes emotionales Rohmaterial für den Kom-
ponisten abgegeben, der wie kein zweiter vorher oder nachher seine intim-per-
sönlichen Erlebnisse in sein Musikgewebe einflocht, was er selbst stets nach-
drücklich betonte. Was immer Mahler erlitt, denn er litt ja ständig irgendwie,
wurde bei ihm zu Musik und zwang seine Umwelt erbarmungslos zum Mitleiden.
Und das Glück des passionierten Märtyrers blieb Gustav treu: Als während eines
Landurlaubs eines seiner Kinder an Diphtherie dahinsiechte und starb - es muß
Tochter Maria Anna gewesen sein, obgleich der liebende Vater sie scheinbar nur
>das ältere Kind< nannte, um sie von der Schwester (= >jüngeres Kind<) zu unter-
scheiden -, diente es ihm sogleich als Inspiration. Da das ältere Kind laut ärztli-
cher Diagnose eh schon so gut wie hin war, lohnte es sich nicht weiter, an seinem
Bett zu sitzen; der gramverzehrte Erzeuget zog es also vor, sich in sein Studier-
stübchen zurückzuziehen, sichjede Störung zu verbitten (insbesondere den durch

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Röcheln und ähnliche Krankheitsgeräusche verursachten Lärm) und schnellstenß
anzufangen, von dem geliebten Kinde durch Komponieren >im Inneren Abschiod
zu nehmen<. Das nennt man Verarbeitung von durchlebtem Leid in der Kunst - in
solcher Perfektion kriegt das nur ein Auserwählter zustande.
Abgesehen von dieser Methode der Siechen- und Leichenverwertung, welche
Alma (die doch gewissermaßen die Mutter des sterbenden älteren Kindes war)
ihtes Gatten >Passion von Maiernigg< nannte, benutzte Gustav durchaus auch
lebende Objekte für seine Kunst. In seinem Urlaubsort Steinbach richtete er sich
eine winzige Unterkunft ein, das sogenannte Komponierhäusl, welchem die Fami-
lie femzubleiben hatte. Dort schrieb er vormittags jene Noten nieder, welche er
auf Feld und Flur aufgeklaubt und gehortet hatte. Ganz recht: Der Mahler Gustav
gehörte, zumindest bei der Beschaffung von Noten, zur eigenwilligen Spezies der
Jäger und Sammler! Sein Häuschen hatte nämlich eine Hintertür, und durch diese
schlüpfte der Gott unerkannt ins Freie, um auf Bergen und in Wäldem umherzu-
streifen und >in einer Art keckem Raub< seine musikalischen >Entwürfe davonzu-
tragen<. Mit anderen Worten: Er pflückte kein Edelweiß, sondern rupfte Noten-
schlüsselblümchent Bedenken wir in diesem Zusammenhang, daß alle Welt ihn
entweder als Gottheit oder Dämon betrachtete und daß Bruno Walter, der ihn wohl
am besten kannte, aufgrund seiner geheimnisvollen, wild-elementaren Naturver-
bundenheit gar den Wald- und Wiesengott Pan in Gustav satr ... Da geht uns doch
ein Licht auf. Die Tatsache, daß in Mahlers gesamtem Werk das Seelenwirken des
Universums direkt neben dem profansten Naturzeugs steht, und zwar gänzlich
ungeordnet, willkürlich neben- und übereinandergetürmt, klotzig >wie der Mont-
blanc< (Debussy) - das bedeutet nichts anderes, als daß Mahler tatsächlich Gott
undDämon in seiner kleinen Person verkörperte. Die Kritiker sprachen bei seiner
achten Symphonie, zu deren Uraufführung über tausend Miwirkende zugegen
waren, nicht umsonst von einem >Pandämonium< ...
Das bedeutet allerdings auch, daß Mahler trotz seines Drahtes zu überirdischen
Mächten grundsätzlich immer auf in der Natur bereits vorhandene Bausteine zu-
rückzugreifen gezwungen war - seien dies nun Kinderseelen, die der grause Dä-
mon den Verröchelnden entriß bzw. als eine Art Ghul auf Friedhöfen ausgrub,
oder simple Massenversammlungen von raunzenden, maunzenden Waldtieren,
Daß er sämtliche Töne unmittelbar der konkreten Natur um ihn entnahm, gab Gu-
stav schließlich bereitwilligst zu. Die Verarbeitung, die sodann im Dämonen-
Komponierhäusl erfolgte, erwies sich als durchaus angemessen, d.h. grobschläch-
tig, großklotzig und -kotzig. Der Gott Pan klebte alles so zusammen, wie er's ge-
rade in die Finger bekam. Kein Wunder, daß er für den Vorreiter der Zwölfton-
barbaren gehalten wurde. Erstens kannten die auch keine Gnade, und zweitens
fand Schönberg beinahe bestätigten Gerüchten gemäß eines Tages Pans Flöte mit
den zwölf Löchern in seinem Gepäck - als Erbteil des Gottes sozusagen.

t57
Mahler wußte tiber seine eigene ldentität nicht immer so ganz Bescheid; wer
zoitweise in sieben Dimensionen herumschwebt, während das Universum auf ihm
spielt, kann da schon leicht durcheinandergeraten. Deshalb glaubte er stets, er sei
vom streng-katholischen Heiligen Geist erleuchtet und nicht etwa von irgendei-
nem Natur-Manitu. Wenn ihm beim Komponieren geistig etwas finster zumute
ward, fand er, wie er es nannte, ein >Lichtlein<, welches ihm als >suchendem Men-
schen< half, gegen Dunkel und Donnergetöse der Welt anzukommen. Dieses
Lichtlein war für ihn während der Zeit im Komponierhäusl enonn wichtig. Es
erschien ihm während der Schöpfung seiner ersten Symphonien. Wenn wir nun
bedenken, daß das Häusl etwa zwanzig Meter von der Pension entfernt war und
womöglich ein Herzchen in der Tür aufwies, können wir die wahre Bedeutung des
Lichtleins begreifen. Darmolmännchen Mahler wdre ohne diesen Leitstern aufge-
schmissen gewesen. Manche Freunde seiner Musik hätten auch gern so eine Fun-
zel gehabt. Gustavs Ergüsse sind ohne jeden Wegweiser in dunkler Musiknacht so
schwer verdaulich ...
Auf das berühmte Lichtlein blieb jedoch nicht ewig Verlaß. Die vielen musika-
lischen Beerdigungen - ob er sie nun Totenklagen, Funöbre-Themen oder sonst-
wie nannte - müssen an der Kerze mit der Zeit mächtig gezelut haben. Nur gut,
daß er das Häusl später auch im Dunkeln fand. Der Heilige Geist fand es nicht
mehr so auf Anhieb. Ein Herr Busoni stellte fest, daß >der musikalische Heilige
Geist bei Mahler nicht mehr senkrecht von oben herabschießt, sondem von links
oder von rechts kommt<. Das deutet auf schwerwiegende Orientierungsprobleme
hin. Doch das Dämonische, Mahlers angeborener Feuergeist, wußte immer, wo es
lang ging. Willem Mengelberg meinte zu Gustavs sechster Symphonie: >Ich habe
das Gefähl, meiner eigenen Zersetntngbeizuwohnen<<; es gebe nichts Imposante-
res als >>diese musikalischen Fieberkurven, mit denen man jedes Krematorium
dekorieren müßte<<. Ein Riesenkompliment an Mahler, der Feuerbestattungen
doch so liebte.
Doch dieses dauernde Spiel mit dem Feuer wurde ihm zum Verh2ingnis. Trotz
seiner pathologischen Angst vor dem Schreiben einer neunten Symphonie konnte
der Brandstifter nicht mehr mit dem Zündeln aufhören, sondern stieß immer drei-
ster in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hatte. Mahler wul3te, daß
kein Komponist die neunte Symphonie überleben konnte, obwohl sein Hausarzt
das als Ausgeburt eines Hypochondergehirns abtat: Beethoven hatte es nicht
geschafft; Schubert und Bruckner waren über der >magischen Neunzahl< gestor-
ben. Die Erklärung lag auf der Hand. Schönberg sagt das so: >>Die eine Neunte
geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe ... Es scheint, die Neunte ist
eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muß fort.< Völlig logische Sache, das, und
deshalb hatte Mahler auch eine verfluchte Angst vor seiner Neunten. Also galt es,
das klassische Komponistenschicksal zu überlisten! Mahler kam denn auch eine

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exzellente Idee, die um ein Haar funktioniert hätte. Er dachte nur in die falscho
Richtung. Wir müssen uns die Sache folgendermaßen vorstellen: Die Amerikanor
bauen niemals Wolkenkratzer mit einem dreizehnten Stockwerk darin. Auf das
zwölfte folgt unmittelbar das vierzehnte, und wenn jemand blöd genug ist, sich
von seinem Makler eine Wohnung in der dreizehnten Etage aufschwatzen zu las-
sen, kann er die zu seinem Schlüssel passende Wohnung lange suchen. Wer an den
Wolken kratzen will, muß der dem Universum innewohnenden Zahlensymbolik
den nötigen Tribut zollen. Genauso hätte es Mahler auch machen müssen, und es
ist unbegreiflich, daß gerade er, der mehrmals Amerika bereist hatte, den Trick nie
durchschaute. Aber schließlich war er der auserwählte Märtyrer, und dieser Kelch
sollte nicht an ihm vorübergehen, ob er nun Durst hatte oder nicht. Das Glilck
bzw. Pech des Dulders Hiob verfolgte Mahler - ihn, den einst französische Pla-
katdrucker nicht aus Versehen, sondern aus Vorsehung zu >Gustav Malheur<
gestempelt hatten!
Gustavs Versuch ging wie gesagt in die umgekehrte Richtung. Anstatt nach der
Achten gleich die Zehnte zu schreiben, wobei man aus der nichtexistenten Neun-
ten später eine absolut rausch- und geräuschfreie CD hätte machen können, setz-
te es sich der Dussel in den Kopf, eine Symphonie ohne Nummer zu fabizieren,
der er nur einen Namen geben wollte: Das von der Erde<. Die kriegte er auch
'Lied
fertig, obschon unter unsäglichen Qualen und Angsten. >>Verfluchte Geistermu-
sik!<< nannte er das Zeug, denn die jeder anständigen Neunten eigentümlichen
Schöpfungsgesetze kamen hier durchaus zur Wirkung. Und er schaffte es sogar,
eine weitere Symphonie zu schreiben ... Doch der vermeintliche Triumph über
das Schicksal wurde sein Untergang. Er war überzeugt, mit der >nominellen Neun-
ten< habe er bereits seine zehnte Symphonie abgeschlossen; nun könne er - unver-
wundbar gleichsam - geffost die >Elfte< angehen. Daß das nicht klappen konnte,
sehen wir sofort an unserem Wolkenkratzerbeispiel. Niemand baut ein Penthouse
zwischen den zwölften und vierzehnten Stock, damit letzterer zvr nominellen
dreizehnten Etage ausgebaut werden kann. Oder so ähnlich. Im Endeffekt würde
das Penthouse samt Dachgarten plattgequetscht. Und genau das passierte Gustav.
Somit sind wir Sterblichen in der Deutung des Seins keinen Schritt weiterge-
kommen. >Vielleicht wdren die Rätsel dieser Welt gelöst<<, schreibt Schönberg,
>>wenn einer von denen, die sie wissen, die Zelnte schriebe. Und das soll wohl
nicht so sein.<< Nun, warten wir's ab. Uns steht schließlich noch ein Haufen Musik
bevor ...

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