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Konsumgesellschaft
(2,034 words)
Während Konsum und Konsumieren als Verhaltensweise i. Allg. auch den Jäger- und
Sammlergesellschaften zugesprochen werden, besteht Konsens, dass die K. ein nzl. Phänomen
darstellt [18]. Die Entstehung der K. begleitete den nzl. gesellschaftlichen Wandel von der
Ständegesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft.
Hauptkennzeichen der K. ist die Massenproduktion; dabei handelt es sich jedoch um ein
relatives, nicht um ein absolutes Kriterium. Massenproduktion ist in Relation zu den
Produktionsmöglichkeiten und -techniken einer Gesellschaft sowie zu deren sozialer
Strati zierung, zur Infrastruktur und zu politisch gewollten Beschränkungen zu sehen.
Grundsätzlich beinhaltet Massenproduktion in sozialer und quantitativer Hinsicht den Prozess
einer Grenzüberschreitung hinsichtlich der histor. tradierten Verhältnisse. So setzten z. B. im
16. Jh. in Italien und den Niederlanden Tendenzen zu einer nie dagewesenen
Massenproduktion von Kunstgegenständen ein (u. a. Kupferstiche, Gemälde, Fayencen,
Gipsabgüsse, hochwertige Möbel). Diese erreichten neue und breitere Käuferschichten, in der
Regel im Bürgertum; daher kann man von einer »Demokratisierung der Kunst« [18. 7–10]
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sprechen. Tatsächlich entstand ein ausgesprochener Kunstmarkt (vgl. Kunsthandel), d. h. eine
neue kommerzielle und produktionstechnische Infrastruktur [11] (auch wenn diese
Massenproduktion nicht mit der Massenproduktion von Kunst im 20. Jh. zu vergleichen ist).
Wolfgang Schmale
2. Entwicklung
Im Zuge der europ. Expansionen in Afrika, Amerika und Asien ab der zweiten Hälfte des 15.
Jh.s entstand ein Weltwirtschafts-System, das die allgemeinen Produktions-, Handels- und
Marktbedingungen durch die massenhafte Zuführung von Silber, Gold und bisher in Europa
nicht bekannten p anzlichen Produkten (u. a. Mais, Karto feln, Tomaten, Tee, Ka fee, Kakao,
Tabak) sowie Exotica grundlegend veränderte. Bedarf und Nachfrage nach verschiedenen
Gütern stiegen nicht nur an den Fürsten-Höfen und allgemeiner bei reichen Adels-Familien
und dem Patriziat an, sondern – bereits im 16. Jh. – auch bei den bäuerlichen Oberschichten in
den Niederlanden. Die Veränderungen elen regional sehr unterschiedlich aus: Obwohl
Spanien im Silber- und Gold-Transfer aus der Neuen Welt eine Schlüsselrolle spielte, pro tierte
es selbst ökonomisch nur mäßig (da nur sehr wenig von dem Edelmetall im Land verblieb), so
dass weder hier noch in Portugal, der ersten ausgesprochenen Expansionsmacht, K.
entstanden.
Dies war zuerst in den Niederlanden mit ihrem besonderen Handelspotential und in Italien
mit seinem Kunst- und Geldmarkt der Fall. Letzterer verdankte sich weniger der Expansion als
vielmehr den mittelmeerischen Handelstraditionen und -infrastrukturen der Genueser und
Venezianer (Mediterrane Welt) sowie dem Transfer zahlreicher Kulturgüter im Zuge der
Fluchtbewegungen aus dem von den Osmanen aufgesogenen Byz. Reich. Spätestens ab der
zweiten Hälfte des 17. Jh.s war England vom Trend zur K. erfasst worden, wie es sehr
anschaulich aus den Tagebüchern des Samuel Pepys herausgelesen werden kann [3]: Mit
wachsendem Wohlstand tauschte Pepys regelmäßig seine Haushaltsausstattung aus und
interessierte sich für immer mehr Güter und deren Besitz. Seine Selbstbeschreibungen als
Konsument sind durchaus repräsentativ für die Londoner Gesellschaft, in der er sich bewegte,
aber auch generell für die urbane engl. Gesellschaft. Die engl. Gentry (der niedere Adel)
vermittelte einen Hauch von K. in ländliche Gebiete. Frankreich als »Mutterland« der
hö schen Gesellschaft setzte sich unter Ludwig XIV. schnell an die Spitze der hö schen
Variante von K. Im Lauf des 18. Jh.s zogen in Europa die urbanen und auch ländlichen
Regionen nach, während ländliche Regionen des östl. Mitteleuropas davon wenig berührt
wurden. Die weitere Entwicklung und Ausbreitung der K. war seit rund 1800 sehr eng mit dem
Fortschreiten der Industrialisierung verknüpft.
Wolfgang Schmale
Kulturgeschichtlich kodiert die K. die Erkenntnis, dass Wohlstand und Reichtum produzierbar
sind. Die Ständegesellschaft war prinzipiell von der Au fassung geprägt, dass die Menge an
Gütern (v. a. Nahrungsmitteln, aber auch Kleidung oder Vermögen usw.) nicht unendlich
vermehrbar, sondern im Gegenteil weitgehend begrenzt sei. Knappheit bzw. Mangel der Güter
schien insofern verwaltbar, nicht jedoch behebbar: Auf eine reiche Ernte folgte oft eine
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magere, auf ein Jahr der üppigen Ernährung vielleicht eine Hungerkrise. Was im einen Krieg an
Beute gewonnen wurde, wurde im nächsten verloren. Das Rad der Fortuna drehte sich, wie es
wollte. Nicht zufällig wurde bis weit in das 16. Jh. hinein in der Historiographie und der
beliebten Gattung der Kosmographie (Erdbeschreibung; vgl. Geographie) der Reichtum eines
Landes grundsätzlich aus einer gottgewollt an Gaben reichen Natur und aus den klimatischen
Verhältnissen abgeleitet. Bes. aussagekräftig ist in dieser Hinsicht die Paradiesmetapher, die z.
B. der Humanist Sebastian Münster in seiner Universalkosmographie [2] sowohl auf die
Germania magna wie auf Europa bezog [16]. »Irdische« Paradiese waren gottgegeben und
stellten eine göttliche Bevorzugung dar, nicht jedoch das Ergebnis menschlichen Tuns.
Diese Haltung änderte sich nach und nach, wie die Geschichte des ökonomischen Denkens
zeigt. So konnte Adam Smith in seinem 1775/76 gedruckten epochemachenden Werk The
Wealth of Nations [4] schreiben: »Die jährliche Arbeit eines Volkes ist die Quelle, aus der es
ursprünglich mit allen notwendigen und angenehmen Dingen des Lebens versorgt wird, die es
im Jahr über verbraucht. Sie bestehen stets entweder aus dem Ertrag dieser Arbeit oder aus
dem, was damit von anderen Ländern gekauft wird. Ein Volk ist daher um so schlechter oder
besser mit allen Gütern, die es braucht, versorgt, je mehr oder weniger Menschen sich in den
Ertrag der Arbeit oder in das, was sie im Austausch dafür erhalten, teilen müssen« [4. 3].
Karl Marx untersuchte 1858 in der Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie [1. 615–642] die
Dialektik von Produktion und Konsumtion im Hinblick auf Bedarf und Bedürfnis: »Die
Produktion produziert die Konsumtion daher, (1) indem sie ihr das Material scha ft; (2) indem
sie die Weise der Konsumtion bestimmt; (3) indem sie die erst von ihr als Gegenstand
gesetzten Produkte als Bedürfnis im Konsumenten erzeugt. Sie produziert daher Gegenstand
der Konsumtion, Weise der Konsumtion, Trieb der Konsumtion« [9]. Wirtschaftstheoretisch
wurde damit der Gegenpol zur Philosophie des Mangels und der Knappheit der
Ständegesellschaft erreicht, wie sie sich im Streit um Gemeinwohl und Eigennutz im 16. Jh.
ausdrückte [17].
Wolfgang Schmale
Bibliography
Quellen
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[4] A. S , Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner
Ursachen, 1776 (engl. Orig. 1776).
Sekundärliteratur
[8] H. G. H , Konsum und Handel. Europa im 19. und 20. Jh., 2003
[12] M. P (Hrsg.), Der lange Weg in den Über uss. Anfänge und Entwicklung der
Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, 2003
[14] S. S , Über uss und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Goldenen
Zeitalter, 1988 (engl. Orig. 1987)
Schmale, Wolfgang, “Konsumgesellschaft”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in
Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst
Poeschel Verlag GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_296378>
First published online: 2019
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