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Vorwort

Vorwor t

Die Rolle und Aufgaben der Pflegenden haben sich im Laufe der Zeit stark ver-
ändert. War die Pflegekraft in der Frühzeit noch ein Assistent und Schüler der
großen Ärzte, wandelte sich Pflege im 1. Jahrhundert n. Chr. zu einer Aktion der
Barmherzigkeit und zur christlichen Pflicht. Mit Florence Nightingale wurde der
notwendige Wechsel von der geistlichen zur weltlichen Pflege eingeläutet, die
Braunen Schwestern in der NS-Zeit schlugen das dunkelste Kapitel auf. Erst
Ende des 20. Jahrhunderts wurde aus dem einstigen „Helfersdienst“ der Ärzte
ein eigenständiger Beruf, der heute als hochprofessioneller Dienst am und für
den Menschen gilt.
Hier muss vor allem Hildegard Peplau (1952) und ihre Theorie der „Zwi-
schenmenschlichen Beziehung“ in der Pflege hervorgehoben werden, die das
erste Mal Pflege als Beziehungsprozess beschrieb.
Virginia Henderson (1955) benannte den Menschen als ganzheitliches, unab-
hängiges Wesen mit Grundbedürfnissen, die er als Gesunder selbst erfüllen
kann. Sie begründete damit eines der ersten Pflegemodelle.
In der Wiener Erklärung über das Pflegewesen im Rahmen der europäischen
Strategie „Gesundheit für alle“, erarbeitet von der europäischen Pflegekonferenz
der WHO (1988), wird die Krankenpflege als eine spezifische und individuelle
Verantwortung gegenüber dem Kranken/Ratsuchenden und dessen Familie defi-
niert. Krankenpflege erstreckt sich auf:
x die Pflegeleistung,
x die Förderung der Gesundheit, einschließlich der Gesundheitserziehung,
x die Verhütung von Krankheiten,
x die Feststellung der Bedürfnisse von Einzelpersonen und Gruppen sowie
x die Bereitstellung angemessener Hilfeleistung unter Berücksichtigung pflege-
rischer, psychologischer, sozialer und ethnischer Aspekte im Krankenhaus
und seiner weiteren Umgebung.
VIII Vorwort

Die Sensibilisierung für die Bedürfnisse der Patienten ist auch die Grundlage
einer optimalen Schmerztherapie. Die Pflegekraft ist die einzige Person, die
„Rund um die Uhr“ am und beim Patienten ist. Pflegende sind Sprachrohr und
„Mittler“ des Patienten in der Behandlungskette. Eine effektive Schmerztherapie
steht und fällt mit dem Wissensstand der Pflegenden. Diesen Erkenntnissen
muss in der heutigen Zeit bei der Umsetzung der Schmerztherapie Rechnung
getragen werden. Es gibt viele Fortbildungskonzepte im deutschsprachigen
Raum, die zur Verbesserung der Schmerztherapie beitragen möchten. Bei den
Büchern für Pflegekräfte lassen sich jedoch noch Lücken erkennen. Zu wenige
sind auf die Bedürfnisse der Pflegenden zugeschnitten. Die Herausgeber dieses
Buches möchten diesem Umstand Rechnung tragen und den großen Hand-
lungsspielraum Pflegender im Rahmen der Schmerztherapie offenlegen. Im Be-
sonderen möchten wir die schulmedizinischen und die komplementären Metho-
den zur Schmerzbehandlung integrieren und ihre praktische Bedeutung für die
Pflege darstellen. In der Hoffnung, Ihr Interesse geweckt zu haben und Ihren
Wissensdurst zu stillen, wünschen wir viel Freude beim Lesen dieses Buches und
vor allem viel Erfolg beim Umsetzen der Ideen dieses Buches!

R. Likar, G. Bernatzky, D. Märkert und W. Ilias


Danksagung

Vorwor t

Unser Dank gilt all jenen, die mit Ideen und Hilfestellungen zum Gelingen die-
ses Buches beigetragen haben: Wir danken allen AutorInnen für die Bearbeitung
der einzelnen Kapitel. Für die Bearbeitung des Stichwortverzeichnisses danken
wir Dr. Mag. Patrick Bernatzky (Salzburg). Unser besonderer Dank gilt den Mit-
arbeitern des Springer-Verlags Wien, insb. Frau Renate Eichhorn und Frau Petra
Naschenweng, die viel für das Zustandekommen dieses Buches geleistet haben.
Für die freundliche Unterstützung danken wir der Firma Fresenius Kabi Öster-
reich.
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV

Glaube und Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1


HEINZ NUSSBAUMER

Grundlagen der Schmerztherapie und gesetzliche Aspekte


Lebensqualität erhalten – was Pflege dazu beitragen kann . . . . . . . . . . . . 13
G. BERNATZKY und R. LIKAR
Der Schmerz ist älter als die Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
G. BERNATZKY und R. LIKAR

Wie Schmerzen entstehen: Schmerzphysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21


G. BERNATZKY und R. LIKAR

Schmerzmessung und Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37


W. PIPAM, G. BERNATZKY und R. LIKAR

Wirkung ohne Wirkstoff – der Placebo/Noceboeffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . 47


R. LIKAR und G. BERNATZKY

Kommunikation und Interaktion mit Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57


G. GATTERER

Wie soll ich wissen, was Dich quält? Schmerzen erkennen bei
demenzkranken alten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
M. KOJER
Wer pflegt, braucht Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
E. SCHÜTZENDORF

Schmerztherapie in der Pflege – rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . 91


ˇ
M. KLETECKA-PULKER
XII Inhaltsverzeichnis

Schulmedizinische Grundlagen, Besonderheiten


und Therapiemöglichkeiten

Medikamentöse akute Schmerztherapie in der allgemein-


medizinischen Praxis. Konsens Meeting & Statement unter der
Ägide der ÖGAM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Vorsitz: E. REBHANDL
Medikamentöse Tumorschmerztherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
R. LIKAR und G. BERNATZKY
Postoperativer Einsatz von Nichtopioid-Analgetika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
R. LIKAR und R. SITTL
Der Stellenwert von NSAR i.v. in Kombination mit krampflösenden
Substanzen in der modernen Schmerzmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
H. BRÖLL, M. FRIEDRICH, W. ILIAS, W. JAKSCH, W. KLIMSCHA,
C. LAMPL, B. LEEB, R. LIKAR und B. TELEKY
Schmerztherapie bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
R. KRUMPHOLZ
Schmerzbehandlung im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
M. THOMM
Einfluss der Ernährung auf Alterungsprozesse, oxidative Schäden und
Anti-Aging-Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
W. KULLICH
Einsatz von Mikronährstoffen in der Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . 187
C. MUSS
Medikamentencocktails im Alter – Gefahr von klinisch relevanten
Arzneimittelinteraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
M. ANDITSCH
Hörgerät, Rollator, Badelift & Co. – Hilfsmittel und Heilbehelfe in
Alltag und Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
I. MÜLLER
Überleitung palliativer Patienten in den häuslichen Bereich . . . . . . . . . . 213
A. PARTHUM und D. MÄRKERT

Nichtmedikamentöse, komplementäre u. a. Methoden


in der Schmerztherapie
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer Berücksichtigung der
Hypnosetherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
G. S. BAROLIN und A. KAISER-REKKAS
Inhaltsverzeichnis XIII

Progressive Muskelentspannung nach Jacobson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249


G. GATTERER
Qigong . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
F. WENDTNER
TCM – Ist diese Medizin auch für den Westen geeignet? . . . . . . . . . . . . . . 267
J. WALTER
Massage in der Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
A. WICKER
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild.
Diagnose und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
W. DÖLLER
Schmerztherapie mit Laser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
V. SADIL
Elektro-Magnetfeldtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
W. A. KAFKA
TENS zur Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
B. DISSELHOFF
Biofeedback in der Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
I. PIRKER-BINDER
Neue Aspekte pflegerischer Maßnahmen in der Radioonkologie . . . . . 341
K. BRINDA-RAITMAYR und G. HOHENBERG
Craniosacrale Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
I. SCHMUCK und E. WOLFSLEHNER
Die Feldenkrais-Methode in der Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
M. WITTELS
Ergotherapie in der Behandlung von Schmerzpatienten . . . . . . . . . . . . . . 361
H. TRABE
Musik in der Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
H.-P. HESSE und G. BERNATZKY

Aktive Musiktherapie in der Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387


T. HILLECKE, A. F. WORMIT, B. BAUMGARTH, H. J. BARDENHEUER,
R. OELKERS-AX und H. V. BOLAY
Moderne Aromapflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
W. STEFLITSCH und M. STEFLITSCH
Wickel und Kompressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
B. BUCHMAYR
XIV Inhaltsverzeichnis

Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft


und Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
R. M. BACHMANN
Die Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie . . . . . . . . . 449
E. PICHLER
Ayurvedische Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463
W. SCHACHINGER
Nichtmedikamentöse Methoden in der Notfallmedizin . . . . . . . . . . . . . . . 475
K. HOERAUF, A. KOBER und B. GUSTORFF
Humor – eine hilfreiche Möglichkeit in der Pflege. Darf ich lachen,
wenn du Schmerzen hast? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
I. PATSCH
Stärkung der inneren Achtsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
M. HARRER
Spiritualität: Wege – Hilfen – Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
H. PAARHAMMER

NACHWORT: Schmerztherapie in der Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509


B. IGLSEDER

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
Autorenverzeichnis

Anditsch Martina, Mag., Klinische Pharmazeutin Donauspital, Langobarden-


straße 122, 1220 Wien, Österreich, martina.anditsch@wienkav.at

Bachmann Robert M., Dr., Facharzt für Allgemeinmedizin, Balneologie, medi-


zinische Klimatologie und Naturheilverfahren, Postfach 1143, 86814 Bad
Wörishofen, Deutschland, Tel.: +49 (0) 82 47-3930, privat@drmedbachmann.de

Bardenheuer Hubert J., Prof. Dr., Zentrum für Schmerztherapie und Palliativ-
medizin der Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 131, 69120 Heidel-
berg, Deutschland

Barolin Gerhard S., Univ.-Prof. DDr. hc., Matzingerstraße 11/20, 1140 Wien,
Österreich, Tel.: +43 (0) 1/985 26 66, gerhard.barolin@aon.at

Baumgarth Beate, M.A. (Music Therapy, Musikwissenschaft), Deutsches Zent-


rum für Musiktherapieforschung (DZM), Maaßstraße 32/1, 69123 Heidelberg,
Deutschland
Bernatzky Günther, Univ.-Prof. Dr., Naturwissenschaftliche Fakultät der Uni-
versität Salzburg, Fachbereich für Organismische Biologie, Arbeitsgruppe für
Neurodynamics und Neurosignalling, Hellbrunnerstrasse 34, 5020 Salzburg,
Österreich, Tel.: +43 (0) 662/80 44-5627, guenther.bernatzky@sbg.ac.at

Bolay Hans Volker, Prof. Dr., Fakultät für Musiktherapie an der SRH Hoch-
schule Heidelberg, Maaßstraße 26, 69123 Heidelberg, Deutschland

Brinda-Raitmayr Karin, Dr. MS.c, SMZ – Süd/Kaiser Franz Josef Spital,


Institut für Radioonkologie, Kundratstraße 3, 1100 Wien, Österreich, Tel.: +43/
1/601 91/999/35 50, Fax: +43/ 601 91/35 09, karin.brinda@wienkav.at

Bröll Hans, Prim. Univ.-Prof. Dr., Rheuma-Zentrum Wien-Oberlaa, Kur-


badstraße 10, 1100 Wien, Österreich, Tel.: +43 (0) 680 09-9231, prof.broell@
oberlaa.at
XVI Autorenverzeichnis

Buchmayr Bärbl, Aromapflegeexpertin, Wickelfachfrau, DKKS, Seminare und


Vertrieb, Unterhaunsberg 10 a, 5142 Eggelsberg, Österreich, Tel.: + 43 (0) 7748/
323-76, Fax: +43 (0) 7748/323-98, office@baerbl-buchmayr.com, www.baerbl-
buchmayr.com

Disselhoff Bertram, Dr., Hörnsheimer Eck 19, 35578 Wetzlar, Deutschland,


Tel.: +49 (0) 64 11/679 23 27, bertramdisselhoff@web.de

Döller Walter, Prim. Dr., Zentrum für Lymphologie, Rehabilitationsklinik für


Lymphologie und Akut Station für Angiologie/Lymphangiologie, Landes-
krankenhaus Wolfsberg, Paul Hackhoferstraße 9, 9400 Wolfsberg, Öster-
reich, Tel.: +43 (0) 4352-53 3 7 6 2 91, Fax: +43 (0) 4352-53 37 62 92,
walter.doeller@lkh-wo.at

Friedrich Martin, Prim. Univ.-Doz. Dr., Abteilung für Orthopädische Schmerz-


therapie, Orthopädisches Spital Speising, Speisinger Straße 109, 1130 Wien,
Österreich, Tel. :+43 (0) 80182-269, martin.friedrich@oss.at

Gatterer Gerald, Dr., Leiter Psychologisch-Psychotherap. Ambulanz/interim.


Leiter Abt. Psychosoz. Rehabilitation, Geriatriezentrum am Wienerwald,
Jagdschloßgasse 59, 1130 Wien, Österreich, Tel.: +43 (0) 18 01 10/34 75/
Fax 3714 (Sekretariat), gerald.gatterer@wienkav.at; gerald@gatterer.at

Gustorff Burkhard, ao. Univ.-Prof. Dr., DEAA, Vorstand der Abteilung für
Anästhesie und Intensivmedizin, Wilhelminenspital der Stadt Wien, Mont-
leartstraße 37, 1160 Wien, Österreich, Tel.: +43 (1) 491 50 40 01

Harrer Michael E., Dr., FA für Psychiatrie und Neurologie, Psychotherapeut


(Katathym imaginative Psychotherapie, Hypnosepsychotherapie und
HAKOMI), Supervisor (ÖVS, ÖBVP), Jahnstrasse 18, 6020 Innsbruck, Öster-
reich, Tel.: +43 (0) 512/57 41 75, michael.harrer@chello.at

Hesse Horst-Peter, Univ.-Prof. Dr., em. Univ.-Prof. Universität Mozarteum,


Am Hopfenberg 3, 37130 Gleichen-Weissenborn, Deutschland, Tel.: +49 (0)
55 08/92 31 11, horst-peter.hesse@ gmx.net

Hillecke Thomas K., Prof. Dr., Fakultät für Musiktherapie an der SRH Hoch-
schule Heidelberg, Maaßstraße 26, 69123 Heidelberg, Deutschland, Tel.: +49
(0) 6221/88 41 54, thomas.hillecke@fh-heidelberg.de

Hohenberg Gerda, Univ.-Prof. Dr., Univ.-Klinik für Strahlentherapie und


-biologie, Medizinische Universität Wien, Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien,
Österreich, Tel.: +43 (1) 40 400 26 87, gerda.hohenberg@meduniwien.ac.at

Hoerauf Klaus, Univ.-Prof. Dr., Universitätsklinik für Anästhesie, Allgemeine


Intensivmedizin und Schmerztherapie, Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien,
Österreich, klaus.hoerauf@gmx.net
Autorenverzeichnis XVII

Iglseder Bernhard, Prim. Univ.-Prof. Dr., Gemeinnützige Salzburger Landes-


kliniken Betriebsgesellschaft mbH, Christian-Doppler-Klinik Universitäts-
klinik für Geriatrie, Ignaz-Harrer-Straße 79, A-5020 Salzburg, Tel.: +43 (0)
662 44 83 41 01, Fax +43-(0) 662 44 83 42 04, b.iglseder@salk.at
Ilias Wilfried, Univ.-Prof. Prim. Dr., Abteilung für Anästhesiologie, Intensiv-
medizin und Schmerztherapie, Akademisches Lehrkrankenhaus der Barm-
herzigen Brüder, Johannes von Gott Platz 1, 1020 Wien, Österreich, Tel.: +43
(0) 1/211 21-5040, iliasbhb@ins.at
Jaksch Wolfgang, OA Dr., Abteilung für Anästhesiologie und allgemeine Inten-
sivmedizin, Wilhelminenspital Wien, Montleartstraße 37, 1160 Wien, Öster-
reich, Tel.: +43 (0) 491 50-2266, wolfgang.jaksch@wienkav.at
Kafka Wolf A., Prof. Dr., International Association on the Research of the
Physiological Effects of Electromagnetic Fields under normal and extreme
(space) conditions (EMPHYSPACE), Johannishöhe 9, 82288 Kottgeisering,
Deutschland, Tel.: +49 (0) 81 44/206, wolf.kafka@t-online.de
Kaiser-Rekkas Agnes, Dr.rer.biol.hum., Dipl.-Psych., Psychotherapeutin,
Chorherrstraße 4, 81667 München, Deutschland, Tel.: +49 (0) 89-448 40 25;
Fax: +49 (0) 89-48 99 97 48, agnes.kaiser-rekkas@t-online.de
Kleteka-Pulker Maria, Dr., Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Spital-
gasse 2-4/Hof 2, 1090 Wien, Österreich, Tel.: +43 (0) 1/42 77-222 02,
maria.kletecka-pulker@univie.ac.at
Klimscha Walter, Prim. Univ.-Prof. Dr., Abteilung für Anästhesiologie und all-
gemeine Intensivmedizin, Donauspital SMZ Ost Wien, Langobardenstraße
122, 1220 Wien, Österreich, Tel.: +43 (0)288 02-4501, walter.klimscha@
meduniwien.ac.at
Kober Alexander, Univ.-Prof. Dr., Facharzt für Anästhesie und Intensivmedi-
zin, Universitätsklinik für Anästhesie, Allgemeine Intensivmedizin und
Schmerztherapie, Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien, Österreich, Tel.: +43 (1)
40 400 41 09, alexander.kober@meduniwien.ac.at
Kojer Marina, DDr., Ernst-Karl-Winter-Weg 8, 1190 Wien, Österreich, Tel. +43
(0) 1/320 56 76, marina.kojer@me.com
Krumpholz Ruth, Prim. Dr., Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin LKH
Bludenz, Spitalgasse 13, 6700 Bludenz, Österreich, ruth.krumpholz@ lkhf.at
Kullich Werner, Univ.-Doz. Dr., LBG, Cluster für Rheumatologie, Balneologie
und Rehabilitation, Ludwig-Boltzmann-Institut für Rehabilitation interner
Erkrankungen, Thorerstraße 26, 5760 Saalfelden, Österreich, Tel.: +43 (0)
65 82/790-711 80, lbirehab@aon.at
Lampl Christian, Prim. Univ.-Doz. Dr., Abteilung für Allgemeine Neurologie
und Schmerzmedizin, Konventhospital Barmherzige Brüder Linz, Seilerstätte 2,
4021 Linz, Österreich, Tel.: +43 (0) 732/78 97-253 20, sek.neuro2@bblinz.at
XVIII Autorenverzeichnis

Leeb Burkhart, Prim. Dr., Leiter der HUMANIS Klinik in Stockerau, Landstraße
16–18, 2000 Stockerau, Österreich, Tel.: +43 (0) 22 66/609, leeb.humanis@
kav-kost.at

Likar Rudolf, Univ.-Prof. Dr., Landeskrankenhaus Klagenfurt, St. Veiter Straße


47, 9020 Klagenfurt, Österreich, Tel.: +43 (0) 463/538-237 03, r.likar@aon.at

Märkert Dieter, Fachpfleger für Anästhesie und Intensivmedizin, Anästhesio-


logische Klinik, Schmerzambulanz, Universitätsklinikum Erlangen, Kranken-
hausstraße 12, 91054 Erlangen, Österreich, Tel.: + 49 (0) 9131/853-2556, -2558,
dieter.maerkert@uk-erlangen.de

Müller Isabella, Mag. (FH), HILFSWERK, Landesgeschäftsstelle, Leitung Fach-


abteilung Soziale Arbeit und Gemeinwesen, Kleßheimer Allee 45, 5020 Salz-
burg, Österreich, Tel.: 0662 43 47 02 -9041, i.mueller@salzburger.hilfswerk.at

Muss Claus, Prof., Dr.Dr.med., Lehrbeauftragter DUK für Nutritive Medizin,


Associate Prof. Public Health St. Elisabeth College Bratislava, SK, Währinger
Straße 63, 1090 Wien, Österreich, DrClausMuss@aol.com

Nußbaumer Heinz, Prof., Waldgasse 20, 2371 Hinterbruehl, Österreich, Tel.:


+43 (0) 664/103 38 02, h.nussbaumer@kabsi.at

Oelkers-Ax Rieke, Dr., Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für
Psychosoziale Medizin (ZPM), Universität Heidelberg, Blumenstraße 8,
69115 Heidelberg, Deutschland

Paarhammer Johann, Univ.-Prof. Dr., Institut, für Kirchenrecht, Universität


Salzburg, Residenzplatz 1, 5010 Salzburg, Österreich, Tel.: +43 662 80 44 27 26,
johann.paarhammer@sbg.ac.at

Parthum Andreas, Dipl. Pflege- und Gesundheitswissenschaftler, Fachpfleger


für Anästhesie und Intensivmedizin, Anästhesiologische Klinik, Universitäts-
klinikum Erlangen, Krankenhausstraße 12, 91054 Erlangen, Deutschland,
Tel.: +49 (0) 91 31/853-3210, andreas.parthum@kfa.imed.uni-erlangen.de

Patsch Inge, Leiterin des Tiroler Institutes für Logotherapie nach Viktor E. Frankl,
Meinhardtstraße 16/4, 6020 Innsbruck, Österreich, Mobil 0699/11 60 94 55,
info@ingepatsch.at

Pichler Erfried, Dr., Arzt für Allgemeinmedizin, Homöopathie und Chirothera-


pie, Herbertstraße 10, 9020 Klagenfurt, Österreich, Tel.: +43 (0) 463 51 15 73,
Fax Dw -4, erfried.pichler@aon.at

Pipam Wolfgang, Dr., Zentrum für interdisziplinäre Schmerztherapie, Onkolo-


gie und Palliativmedizin, Landeskrankenhaus Klagenfurt, St. Veiter Straße 47,
9020 Klagenfurt, Österreich, Tel. +43 (0) 463/538-229 70, wolfgang.pipam@
lkh-klu.at
Autorenverzeichnis XIX

Pirker-Binder Ingrid, MMag., Stress-/Psychotherapeutin, Health-Consultant,


FH-Lektorin, Zertifizierte Sachverständige für Psychotherapie, BiCo (C) 1.
STRESS-THERAPIEZENTRUM STZ Austria, Institut für Biofeedback &
Stresstherapie & Coaching, Saileräckergasse 43/26, 1190 Wien, Österreich,
Tel.: +43 (0) 1/403 00 98, stress@pirker-binder.at
Sadil Viktor, Prim. Dr., Facharzt für Physikalische Medizin & allgemeine Reha-
bilitation EBC, Allg. beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger,
Institut für Physikalische Medizin, Akademie für Physiotherapie, Klinikum
Kreuzschwestern GesmbH, Grieskirchner Straße 42, 4600 Wels, Österreich,
Tel.: +43 (0) 72 42/415-2771, viktor.sadil@inode.at, viktor.sadil@liwest.at,
viktor.sadil@klinikum-wels.at
Schachinger Wolfgang, Dr. med., Arzt für Allgemeinmedizin, Leiter des Maha-
rishi Ayurveda Gesundheitszentrums, Bahnhofstrasse 19, 4910 Ried/Innkreis,
Österreich, Tel.: +43 (0)7752/86622, dr.schachinger@ayurvedaarzt.at
Schützendorf Erich, Dipl.-Päd., Volkshochschule Kreis Viersen, Willy-Brandt-
Ring 40, 41747 Viersen, Deutschland, Tel.: +49 (0) 21 62/93 48 18,
erich.schuetzendorf@kreis-viersen.de
Sittl Reinhard, Dr., Universitätsklinikum Erlangen, Interdisziplinäres Schmerz-
zentrum, Krankenhausstraße 12, 91054 Erlangen, Deutschland, Tel.: +49 (0)
9131/85-32558, reinhard.sittl@uk-erlangen.de
Schmuck Inge, Leiterin der Internationalen Akademie für Craniosacrale
Osteopathie, Staatl. Geprüfte Physiotherapeutin, Staatl. Geprüfte Cranio-
sacraltherapeutin, Ingolstadt, Deutschland,
Steflitsch Michaela, Österreichische Gesellschaft für wissenschaftliche Aroma-
therapie und Aromapflege, Weinheimergasse 16/6/13, 1160 Wien, Österreich,
Tel.: +43 (0) 664/976 50 71, office@oegwa.at
Steflitsch Wolfgang, Dr., Ärztlicher Leiter HIVmobil, Lungenfacharzt im Otto
Wagner Spital, Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für wissen-
schaftliche Aromatherapie und Aromapflege, Aromatherapeut, Redakteur
der Ärzte Woche, Baumgartner Höhe, 1140 Wien, Österreich, Tel.: +43
(0) 664/220 57 33, wolfgang.steflitsch@chello.at
Teleky Bela, Univ.-Prof. Dr., Klinische Abteilung für Allgemeinchirurgie, Univ.-
Klinik für Chirurgie, Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien, Österreich, Tel.: +43
(0)40400-6566, Bela.Teleky@meduniwien.ac.at
Thomm Monika, Stationsleitung (MTA), Klinik für Anästhesie – Schmerzam-
bulanz, Uniklinik Köln, Kerpener Straße 62, 50937 Köln, Deutschland,
Tel.: +49 (0)221/478/4884, monika.thomm@uni-koeln.de
Trabe Hubert, Dipl. Ergotherapeut am LKH Klagenfurt – Zentrum für inter-
disziplinäre Schmerz Onkologie und Palliativstation (ZISOP), St. Veiter
Straße 47, 9020 Klagenfurt, Österreich, hubert.trabe@lkh-klu.at
XX Autorenverzeichnis

Walter Johannes, Dr., Facharzt für Gefäßchirurgie, Dr. A. Ederstraße 5/1. Stock,
5400 Hallein, Österreich, Tel.: 0664/240 46 06, Fax: 0662/234 66 34 65,
ordination@drwalter.at
Wendtner Franz, Mag., Universitätsklinik für Innere Medizin III, Psycho-
onkologie, Universitätsinstitut für Klinische Psychologie, SALK, Müllner
Hauptstraße 48, 5020 Salzburg, Österreich, Tel.: +43 (0) 662/4482-587 07,
f.wendtner@salk.at
Wicker Anton, Prim. Univ.-Prof. Mag. DDr., Vorstand der Universitätsklinik
für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Universitätsklinikum Salzburg,
Private Medizinische Paracelsus Universität Salzburg, Müllner Hauptstraße
48, 5020 Salzburg, Österreich, Tel.: +43 (0) 662/4482-4201, a.wicker@salk.at
Wittels Martina, OA Dr., Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin, Kreis-
krankenhaus Simbach, Abteilung für Psychosomatik, Plinganserstraße 10,
84359 Simbach am Inn, Deutschland, Tel.: +49 (0) 85 71 80 970 06,
wittelsm@a1.net
Wolfslehner Elfriede, DAS, Lebens- und Sozialberaterin, Craniosacralthera-
peutin, 4020 Linz, Österreich, elfriede.wolfslehner@liwest.at
Wormit Alexander F., Dr., Fakultät für Musiktherapie an der SRH Hochschule
Heidelberg, Maaßstraße 26, 69123 Heidelberg, Deutschland
Revision

Glaube und Schmerz

HEINZ NUSSBAUMER
Heinz Nussbaumer

Eröffnungsvortrag anlässlich der 15. Wissenschaftlichen


Jahrestagung der Österreichischen Schmerzgesellschaft
am 14. Juni 2007 im „Congress Center Pörtschach“

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Meinen herzlichen Dank für die so ehrende Einladung verbinde ich lieber gleich
mit einem Geständnis: Erst nachdem ich Ihnen, verehrter Herr Präsident, zuge-
sagt hatte, ist mir bewusst geworden, auf welches tollkühne Risiko ich mich da
eingelassen habe. Vermutlich war ich dann einfach zu stolz, um den Kopf noch
zeitgerecht aus der Schlinge zu holen.
Denn „Glaube“ und „Schmerz“: Das sind – jeder für sich und noch weit mehr
in ihrer Kombination – zwei viel zu große, viel zu schwierige Begriffe, um sie mit
eigenen Erfahrungen und Einsichten deuten zu können.
Was etwa ist „Glaube“? Wer kann ernstlich von sich behaupten, gläubig zu
sein? Und wenn doch: Woran glaubt er? Und wie stabil und krisenresistent ist
dieser Glaube – gerade in jenen Grenzerfahrungen des Lebens, um die es ja auch
bei Ihrem Treffen geht?
Und was ist „Schmerz“? Von welcher Art Schmerz reden wir? Und wer kann
von sich sagen, dass er so viel Schmerz durchlitten hat, um öffentlich darüber be-
richten zu können?
Und dann erst beides zusammen genommen – „Schmerz und Glaube“: Welche
innere Bezogenheit haben sie? Welche gewaltigen Fragen und Widersprüche tun
sich da auf? Vor allem: Wenn wir „Glauben“ im religiösen Kontext verstehen, dann
geht es hier um das uralte Menschheitsthema der Theodizee. Um die Frage, wieso
Gott – ein fürsorglicher, liebender Gott zudem – uns, seine Geschöpfe, Schmer-
zen, Krankheiten, ja den Tod erleiden lässt?
2 Heinz Nussbaumer

Alles Fragen, deren Beantwortung ich – soweit überhaupt möglich – in ande-


re Hände legen sollte. Aber dazu ist es nun einmal zu spät.
Ich werde Ihnen also heute nicht den „Experten“ vorspielen – weder religiös
und schon gar nicht medizinisch. Sondern werde bei dem bleiben, was ich ehrli-
cherweise erzählen kann: persönliche Erfahrungen und Erlebnisse, die Frucht
vieler Gespräche und mancher Lektüre, vielleicht auch persönliche Hoffnungen.
Ich beginne mit einer Erinnerung – sie liegt ein paar Jahre zurück:
Es war eine schwere Operation gewesen und ein paar Tage der Intensivstation
lagen nun vor mir. Mit dem anfangs noch verwirrten Bewusstsein kam langsam
auch der Schmerz, vor allem aber ein Gefühl der totalen Ausgeliefertheit und
Verzweiflung – und eine lähmende Zeitlosigkeit. In dem großen Raum mit sei-
nen leise tickenden Überwachungsgeräten und dem fast geräuschlos arbeitenden
Pflegepersonal wollten die Minuten und Stunden einfach nicht vergehen. Mir
schien, als klebten die Uhrzeiger über der Türe fest. Da fasste ich – irgendwo zwi-
schen Traum und Wachsein – einen merkwürdigen Entschluss: Ich wollte aus der
Wirklichkeit auswandern. Wollte den Körper samt allen Ängsten hier liegen las-
sen und in eine andere Welt eintauchen. Ich ging auf Pilgerschaft – von Wien
nach Mariazell.
Ein Weg, den ich tatsächlich nur einmal gegangen und der längst in eine fer-
ne Erinnerung abgesunken war.
Was dann geschah, wurde für mich zu einem kleinen Wunder. Leichten
Schritts – und ganz unbeschwert von aller äußeren Realität – wanderte ich in
Gedanken über weite Blumenwiesen. In dunklen, regenfeuchten Wäldern tauch-
te ich in den Geruch von Waldmeister und Moos ein; machte Rast im Schatten
von Kapellen und Wegkreuzen. Unter einem Felsen spielte ich auf der mitge-
brachten Flöte.
Anfangs verwundert, dann aber wie selbstverständlich, kehrte jedes Detail
meines Weges in die Erinnerung und in eine neue Wirklichkeit zurück. Alle Rich-
tungspfeiler entlang der „Via Sacra“ standen dort, wo ich sie brauchte, um vor-
anzukommen. Dieselben Menschen, die ich Jahre zuvor unterwegs getroffen und
nach der weiteren Strecke gefragt hatte, waren wieder da. Auch Regen und Son-
ne wussten, wann sie ihren Auftritt hatten.
Wie lange ich unterwegs war – ich weiß es nicht. Vier Tage wohl nicht. Oder
nur vier Stunden auf der großen, leise tickenden Uhr der Intensivstation? Oder
noch weniger? Die Zeit hatte jede Bedeutung verloren. Und die Ankunft an
meinem Ziel – im großen Wallfahrtsort hinter den sieben Bergen – war dann auf
eine seltsame Weise weit weniger erfüllend als es der Weg dorthin gewesen
war. In der bleiernen Stille des Krankenhauses hatte ich unterwegs ja längst er-
reicht, was ich ersehnt hatte: den Ausbruch aus der Bedrängnis. Das Gefühl der
Freiheit und Leichtigkeit. Das Auskosten eines ganz anderen, neuen Zeitmaßes.
Das Umpolen von Wichtigkeiten. Das Eintauchen in eine große, gelassene Ruhe.
Die Gewissheit, sich einer Führung überlassen zu können, die nicht die Eigene
ist.
Nie wieder ist mir später – auch nicht in ähnlichen postoperativen Situatio-
nen – eine solch intensive Pilgerschaft gelungen.
Glaube und Schmerz 3

Ich erzähle dieses Erlebnis am Beginn, weil es für mich eine Fülle von Fragen
aufwirft, um die wir bei unserem Thema – „Glaube und Schmerz“ – vermutlich
nicht herumkommen. Vor allem um die Ratlosigkeit im Umgang mit großen Be-
griffen. Was war das damals: Nur Flucht aus der Wirklichkeit? Der Versuch eines
Rückzugs, einer Heimkehr in die Höhle des eigenen Herzens? Oder doch ein re-
ligiöses Erlebnis am Kreuzungspunkt von Glaube und Schmerz?
Übrigens: Erst viel später habe ich erfahren, dass meine spontane postopera-
tive Pilgerschaft längst ein wichtiger Teil moderner Hospizarbeit ist: „Spirituelle
Biographiearbeit“ – wie es die Profis nennen.
Ich kehre dorthin zurück, wo die Fakten zuhause sind: in die Welt der wissen-
schaftlichen Studien, der interdisziplinären Forschungen – und der daraus er-
wachsenden medialen Schlagzeilen. Wie Sie natürlich wissen, sind zahllose in-
terdisziplinäre Teams seit Jahren einem Thema auf der Spur, das eigentlich
jenseits unseres Zeitgeistes liegen müsste: nämlich der Frage nach den „Heilkräf-
ten des Glaubens“.
Die populärwissenschaftliche Literatur überschlägt sich ja derzeit mit Berich-
ten, die man eher ins Zeitalter einer Hildegard von Bingen, eines Avicenna oder
Paracelsus eingeordnet hätte. Oder die man vielleicht bei tibetischen Heilern
oder muslimischen Studenten vermuten würde. Aber ein Blick ins Internet lässt
keinen Zweifel an der Aktualität und der Intensität dieses Themas: Weltweit
rücken Forscher mit Kernspintomographen, mit Elektroden und Hautwärme-
messungen dem möglichen Einfluss von Religiosität auf Hirn und Herz zu Leibe.
Was sie staunend und mit unendlichem Zahlenmaterial belegen – und was
selbst religions-kritische Medien wie „Spiegel“ oder „Stern“ mit fast kitschigen
Schlagzeilen wie „Der Glaube an den lieben Gott macht gesund“ umschreiben –,
klingt irgendwie altbekannt – und in seinem wissenschaftlichen Anspruch den-
noch überraschend.
Ich möchte – auch auf die Gefahr hin, dass Ihnen diese Forschungsberichte
keineswegs neu sind – die zentralen Aussagen in fünf Punkten möglichst kurz
zusammenfassen:
1. Wer glaubt, hat weniger Risikofaktoren. Gläubige leiden, so heißt es, weniger
an Bluthochdruck, haben nach Operationen eine kürzere Zeit der Heilung, ihr
Immunsystem ist stabiler.
2. Wer glaubt, ist optimistischer. Gläubige Menschen klagen weniger über
Ängste, Depressionen und finden in ihrer Religion ein ganzes Arsenal an Be-
wältigungsstrategien für Krisenmomente – wie etwa den Tod eines geliebten
Menschen oder eine niederschmetternde Krankheit.
3. Wer glaubt, ist messbar entspannter: Die meditative Wirkung von Gebeten
hilft, Stress abzubauen bzw. ihn auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.
4. Wer glaubt, hat mehr Freunde. Religiöse Gemeinschaften bieten meistens ein
verlässliches soziales Netz. Es schützt vor Einsamkeit, die erwiesenermaßen
seelisch krankmacht. Es bietet vor allem älteren Menschen eine Ersatzfamilie,
stellt ein menschliches Notaggregat an Unterstützung in Krisenfällen bereit
und bewahrt im Regelfall vor der Versuchung zum Selbstmord.
4 Heinz Nussbaumer

5. und sozusagen als Unterfutter für das schon Gesagte: Wer glaubt, lebt auch
aus ethisch-moralischen Gründen gesünder. Gläubige konsumieren weniger
Alkohol und Nikotin, sie sind gegen Drogen weitgehend immun. Und „Fas-
ten“ ist für sie nicht erst seit den Schlankheitskuren geplagter Überflussge-
sellschaften ein Heil-Begriff.
Folgt man diesen Befunden, dann erweist sich „Gläubigkeit“ – um diesen va-
gen Begriff vorerst einmal so stehen zu lassen – als ein handfestes Überlebens-
paket, in dem überraschend vieles eingelagert ist, was der Mensch zu seinem
leiblich-seelischen Wohl benötigt. Dann hat ein solch gefestigtes Fundament je-
denfalls eine messbar positive Wirkung auf die Lebensqualität und Lebensdauer.
Kurzum: Wer in der Krise auf religiös-geprägte Bewältigungsformen zurückgrei-
fen kann, der hat es besser.
„Religion wirkt wie ein Medikament“, meldete erst kürzlich auch die heimische,
nicht im Verdacht des Boulevards stehende „Wiener Zeitung“ ganzseitig – unter
Zitierung auch heimischer Wissenschafter. Wer könnte da noch zweifeln.
Trotzdem möchte ich die offenkundigen Einschränkungen und Einwendun-
gen gegen diesen Befund nicht außer Acht lassen:
 Denn unbestritten ist zunächst ja, dass Religiosität auch krankmachen kann –
und in manchen Fällen sogar der Psychoanalyse bedarf. Vor allem dann, wenn
religiöse Gemeinschaften das Leben ihrer Mitglieder streng reglementieren.
Wenn Menschen durch religiös begründeten Gehorsam, durch Gruppen-
zwang und Sündendrohung massiv unter Druck gesetzt werden.
 Heilkunde und Heilskunde gehen – so meine ich – auch dort nicht zusam-
men, wo ein Gottesbild das Leben verengt und Menschen dazu verleitet, auf
ihre Vernunft zu verzichten. Wo sie etwa aus religiösen Gründen bestimmte
medizinische Behandlungen nicht in Anspruch nehmen – auch auf das Risiko
des eigenen Todes hin. Wir haben in den vergangenen Jahren mehrmals sol-
che Fälle erlebt.
 Und heilend ist der Glaube auch dort nicht, wo der Blick des Gläubigen auf
keinen liebenden, sondern auf einen strengen, strafenden Gott fällt. Wo sich
Kranke und Sterbende verzweifelt mit der Schuldfrage für ihren Schmerz
abmühen; wo die Suche danach, „wofür mich Gott bestraft und leiden lässt“ ins
Zentrum allen Denkens geraten ist.
Ich halte die noch keineswegs überwundene Vermutung, Krankheiten wie
AIDS könnten am Ende doch „eine Strafe Gottes“ sein, für ebenso tragisch
und unchristlich, wie vorher die Jahrhunderte lange christliche Heroisierung des
Leidens. Es sind noch keine zehn Jahre vergangen, seit Papst Johannes Paul II.
bei seinem Österreichbesuch ausgerechnet im Wiener Hospiz vor einem zu
intensiven Einsatz schmerzstillender Mittel gewarnt hat. Denn – und ich zitiere
ihn – „ein vorschnelles Abstellen des Leidens kann die Auseinandersetzung mit Ihm
(gemeint war Christus) und die damit verbundene Erlangung einer größeren mensch-
lichen Reife verhindern.“ Dahinter stand immer der religiöse Anspruch, „mit
Christus im Leiden gleichgestellt zu sein.“ Eine Lehrmeinung, die vom hl. Franzis-
Glaube und Schmerz 5

kus bis in die unmittelbare Neuzeit reicht. Der 2002 heiliggesprochene „Opus
Dei“-Gründer Josemaría Escrivá sagt es besonders klar – und ich zitiere: „Ge-
segnet sei der Schmerz. Geliebt sei der Schmerz. Geheiligt sei der Schmerz. Verherrlicht
sei der Schmerz.“
Aus meiner persönlichen Sicht ein tragischer Beleg dafür, wie theologische
Leidenschaft auch in pathologische Leidenssehnsucht führen kann.

Meine Damen und Herren,


ich kann Ihnen jetzt doch nicht ersparen, auch noch vom Glauben zu reden.
Ich bin nämlich überzeugt davon, dass sich aus diesem so kompakt und unmiss-
verständlich klingenden Begriff alle möglichen Missverständnisse ergeben. Ge-
rade auch für die Beurteilung seiner Tragfähigkeit in Schmerz und Leid und
Angst und Verzweiflung.
Ohne eine Grundauffassung von dem, was „Glaube“ ist, kommen wir vermut-
lich nicht weiter. Wie ich es verstehe – und auch persönlich erlebt habe –, ist er
nur für Auserwählte etwas durchgängig Stabiles und Krisenfestes. Etwas, das
auch in dunkelsten Stunden des Lebens Halt und Stütze ist. Kardinal König war
für mich der bisher eindrucksvollste dieser Glaubenszeugen. Die Sicherheit des
Glaubens hat ihn durch allen Schmerz und alle Todesnähe hindurchgetragen. Bis
in die letzten Lebenstage hinein hat er seinen besorgten Besuchern beruhigend,
ja aufmunternd zugezwinkert. Und noch in seiner letzten Stunde hat er die
wunderbaren Worte „Wie schön!“ gesprochen.
Den Glauben kann man nicht messen – deshalb habe ich persönlich manche
Einsprüche gegen das, was uns die Wissenschaft jetzt über seine Heilkraft zu sa-
gen versucht.
Glaubens-Intensität ist für mich jedenfalls nicht (oder nicht nur) an der Fre-
quenz der Gottesdienstbesuche zu messen, wie es einige der jetzt vorliegenden
Studien tatsächlich tun.
Und ich zweifle auch daran, dass Religiosität, wie kürzlich behauptet, nur
dann eine positive Wirkung auf die Lebensdauer eines Menschen hat, wenn sie
in der Öffentlichkeit gelebt wird.
Der Glaube ist etwas unendlich Kompliziertes und definitorisch schwierig
Festzulegendes. Ich würde sagen: Es ist – religionsfern formuliert – ein in vielen
Mühen und Rückschlägen, in vielem Suchen und Fragen gewachsenes Konzept
zur Lebensbewältigung.
Oder religiös gesagt: Es ist ein Prozess, mich immer wieder auf das unlösbare
Rätsel Gottes einzulassen. Auf den, der Leben schenkt – und auch wieder nimmt.
Glaube ist Zuversicht – und oft auch nur Hoffen. Hoffen, dass mein Leben
nicht sinn- und ziellos ist. Dass es Bedeutung hat. Dass da noch eine Dimension
ist, der ich vertrauen kann.
Glaube in seiner für mich schönsten Form ist kein Für-Wahr-Halten von reli-
giösen Dogmen und Kirchengesetzen, sondern ein personales Geschehen. Eine
Du-Beziehung.
Wem dies zumindest gelegentlich gelingt, dem kann und wird es auch Si-
cherheit, Behaustheit, Geborgenheit geben. Der wird erleben, wie sich in ihm
6 Heinz Nussbaumer

Kräfte sammeln, die sonst zersplittern und ziellos agieren – und die auch tat-
sächlich dem leidenden Körper helfen können.
Warum ich so darauf bestehe, das so genannte „Medikament“ des Glaubens
näher anzuschauen? Weil ich meine, dass wir sonst gerade in Zeiten von
Schmerz und Leid leicht Gefahr laufen, in Enttäuschung, Überforderung und
schwersten Glaubenskrisen zu landen.
 Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es Augenblicke und Dimensionen des
Schmerzes gibt, in denen uns kaum eine Glaubensgewissheit und auch kaum
eine andere unserer Sicherheiten noch Halt gibt und geben kann. Da überlagert
die Verzweiflung des Augenblickes und die panische Flucht aus dem Schmerz
alles andere. Da reduziert sich die Chance, gefestigt durch eine Krankheit zu
gehen, jedenfalls für Menschen wie mich, gegen null. Gott sei Dank durchleben
wir solch extreme Momente ja auch nur in Ausnahmesituationen.
 Ich kenne Spitalsseelsorger, die miterlebt haben, wie tiefgläubige Menschen –
auch Kleriker und Ordensangehörige – im Angesicht ihrer Sterblichkeit ins
Bodenlose abgestürzt sind; zu oft auch ohne Chance, aus ihrer seelischen
Nacht wieder aufzutauchen.
 Und ich weiß, dass Sterbebegleiter mit jahrzehntelanger Praxis davor warnen,
sich eine klare Differenzierung von Glaubenden und Nichtglaubenden zu-
trauen zu können. Sie beharren darauf, dass Menschen, denen im Leben eine
Deutungs- und Sinngebung gelungen ist, vor dem Zusammenbruch aller
Sicherheiten besser geschützt sind – gleichgültig, ob sie im gängigen Sinn
„gläubig“ sind oder nicht. Dass Menschen, die – als Frucht lebenslangen Fra-
gens und Denkens, auch Infragestellens – zu einer persönlichen Überzeu-
gung und Mitte gefunden haben, in kritischen Situationen auch eher beste-
hen können.
Um es ganz deutlich zu sagen: Zum Leben gehört das Scheitern, das Zwei-
feln, das Nicht-mehr-weiter-Wissen, das Nicht-Perfekte und Unvollendete.
Kaum jemand geht ganz unangefochten durch sein Dasein. Und wer meint, sein
Glaube kenne und erlaube keine Zweifel, keine Verzweiflung, kein Aufbegehren
gegen die Last des Leidens und Sterbens, der hat die bestürzende, aber existen-
tiell wichtige Botschaft des Mannes aus Nazareth vergessen.
Dieser Jesus, der nach unserem christlichen Glauben wie kein Anderer die
Nähe und Sicherheit Gottes kannte, er durchlebt zwischen Ölberg und Golgotha
alle Stadien, mit denen auch wir in Schmerz, Trostlosigkeit und Todesnähe rech-
nen müssen:
Da ist zunächst sein wiederholter Wunsch, in den schweren Stunden der To-
desangst nicht allein zu sein. Sein letztes Flehen, den Kelch an ihm vorüberge-
hen zu lassen. Sein furchtbarer Aufschrei: „Mein Gott, warum hast Du mich verlas-
sen?“ Und erst am Ende dieses vertrauensvolle „Es ist vollbracht – Vater, in Deine
Hände leg ich meinen Geist.“
Die Botschaft an uns ist erschütternd klar – und vielleicht auch tröstend: In
der Mitte dessen, was christlicher Glaube ist, steht ein Leidender, ein auch Zwei-
felnder und Verzweifelter. Ehe sich sein irdisches Schicksal vollendet.
Glaube und Schmerz 7

Aus dieser Sicht sind also Krankheit, Schmerz und Leid, aber auch Zweifel
und Verzweiflung das unvermeidbare Schicksal des Menschen. Ein Schicksal, vor
dem wir nicht flüchten können, an dem wir zerbrechen, aber auch reifen können.
Meine Damen und Herren,
der Sinn meiner bisherigen Überlegungen ist kurz gesagt der:
 Ehe wir vom Glauben als einer „Medizin“ reden, die uns den Umgang mit
Schmerz und Leid erleichtert, die gesünder und auch älter macht, müssen wir
sehr genau hinschauen, von welchem Glauben die Rede ist.
 Wir müssen uns zudem mit dem Gedanken vertraut machen, dass sich in
Stunden des Absturzes der Fallschirm auch nicht öffnen könnte. Dass Glaube
zwar eine gute, ja vermutlich die beste Voraussetzung für Angstüberwindung
und Sinnfindung ist, aber keine letzte Garantie.
 Und wir müssen wissen, dass im Strudel übermächtiger Schmerzen letztlich
alle Sicherheiten einbrechen können.
Dass der Heilige Stephanus schon während seiner Steinigung – einer beson-
ders grausamen Todesart – nach eigenen Worten „den Himmel offen“ sah, ist wohl
ein Ausnahmefall.
Mehr noch der Martyrer-Heilige Laurentius. Der Legende nach hat er ja – auf
glühendem Rost – seinen Peinigern fröhlich zugerufen: „Der Braten ist fertig.
Dreht ihn um und esst!“
Nichts davon wird uns jemals beschert sein. Also tun wir gut daran, uns ei-
nem geschlossenen System zu verweigern, das da heißt: „Glaube nur, dann bist
und bleibst Du gesund!“
Dies alles vorausgesetzt – und mit der Bitte an Sie, es in Erinnerung zu behal-
ten –, möchte ich jetzt, sozusagen auf schwankendem Boden, noch rasch versu-
chen, ein paar persönliche Erfahrungen mit Ihnen zu teilen, die mir über die Jah-
re aus dem Erlebnis von Krankheit und Schmerz zugefallen sind.
Der französische Literat André Gide schreibt: „Ich glaube, dass Krankheiten
Schlüssel sind, die uns gewisse Tore öffnen können. Mehr noch: Ich glaube, dass es Tore
gibt, die nur eine Krankheit öffnen kann.“
Was also könnten das für Schlüssel sein, die „heilende Türen“ zwischen Glau-
ben und Schmerz öffnen, habe ich mich oft gefragt. Wo mein Fragen an Grenzen
gestoßen ist, da verdanke ich die eine oder andere Anregung einer kleinen Schar
von Menschen. Zu ihnen gehören zwei der großen Gestalten des „2. Vatica-
nums“, Karl Rahner und vor allem Franz König. Zu ihnen gehören aber auch
meine Mönche auf dem Berg Athos, zu denen ich nun seit zwei Jahrzehnten als
Pilger fahre.
Diese Anregungen sind hier – auch der weit fortgeschrittenen Zeit wegen –
ganz ungeordnet und bruchstückhaft vorgetragen, und im besten Fall kleine Im-
pulse zu weiterem Nachdenken.
 Zunächst und ganz vordergründig sind Schmerz und Krankheit nicht nur für
gläubige Menschen ein Anlass, um über mögliche Mängel im eigenen Le-
bensvollzug nachzudenken; über das eigene Lebensprogramm und seine
8 Heinz Nussbaumer

Schadstellen. Dieses Nachdenken kann, so meine ich, auch die Grenze des
Körperlichen und Seelischen überschreiten und in eine dritte, möglicherweise
religiöse Dimension vorstoßen. Mehr und mehr ahnen, ja wissen wir, dass
unser ganzes Innenleben – auch unser Fragen nach Zeit und Ewigkeit, nach
dem letzten Sinn unseres Seins, auch nach Gott – einen Einfluss auf die Ma-
terie der Gene und auf das Immunsystem hat. Dass Gen, Geist, Gehirn und
Gott möglicherweise mehr miteinander zu tun haben, als wir gemeinhin ver-
muten.
 Dann meine ich, dass Leid und Schmerz für uns auch eine Hilfe sein können,
die gängige Trivialisierung unserer Gottesvorstellungen zu überwinden. „Die
Unbegreiflichkeit des Leids ist auch ein Stück Unbegreiflichkeit Gottes“, hat uns
der große Karl Rahner hinterlassen.

Und er stellt den unzähligen bemühten christlichen Thesen über den Sinn
von Schmerz, Krankheit und Tod einen kühnen Gedanken entgegen – und ich
zitiere: „Die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Leid und Tod muss unbeantwortet blei-
ben, wenn der Mensch Mensch und Gott Gott bleiben soll.“ Leid kann also nie ver-
standen werden. Es muss aber bestanden und bekämpft werden. So besehen,
bleibt nicht mehr viel vom alten christlichen Mythos des Schmerzes als Königs-
weg in die Herrlichkeit übrig.
 Ein Drittes: Ich glaube, dass unser Umgang mit Schmerz und Leid auch we-
sentlich davon geprägt wird, wie wir auf unser eigenes Leben blicken. Wer in
Krankheit und Behinderung nur eine leistungsbehindernde Minusvariante
unseres Daseins erblickt – einen Aufstand des Körpers gegen unsere narzisti-
sche Omnipräsenz –, der wird als Patient andere Dimensionen der Ratlosig-
keit und Verzweiflung durchleben, als jene, die imstande sind, ihre irdische
Existenz in einem viel größeren Zusammenhang zu sehen.

Immer wieder hat uns übrigens der alte Kardinal König klar gemacht, dass
gerade in unserer Gesellschaft die Gesunden die Kranken mindestens sosehr
brauchen wie die Kranken die Gesunden – auch um nicht zu vergessen, wie
fragwürdig und kraftmeierisch sich die reine Verherrlichung des Lebens zu oft
gebärdet.
 Von den Mönchen am Athos habe ich auch gelernt – oder versuche ich zu
lernen –, dass wir uns wieder mehr als Reisende begreifen sollten, die unter-
wegs sind. Reisende, die – wenn sie sich als Christen verstehen – ihr irdisches
Ende nicht als tragischen Schlusspunkt, sondern als Umsteigebahnhof be-
greifen sollten. Für die Mönche beginnt Sterben demnach nicht erst am Le-
bensende, nein, jeder Tag verlangt nach Einübung in die Endlichkeit. Aus die-
ser Perspektive sind Krankheit und Schmerz für sie kein „Unfall“ und auch
keine Brüskierung unseres Machbarkeitswahns, sondern ganz selbstverständ-
liche Stationen eines viel weiteren, größeren Weges.

Wo aber das irdische Leben seine Vergänglichkeit nicht verbergen muss wie
bei meinen Mönchen, und das Eingehen in eine größere Ordnung und Gebor-
Glaube und Schmerz 9

genheit nicht in Zweifel steht, da lösen sich viele Bangigkeiten und Brüche unse-
res Daseins auf. Da werden Krankheit, Alter, Siechtum nicht zum alles beherr-
schenden Stigma. Da verliert auch die nahe am Tod liegende Lebenszeit nichts
von ihrer Sinnhaftigkeit – und das Schwinden der Kräfte führt nicht zum sozia-
len Wertverlust.
Seit vielen Jahren beobachte ich die alten Mönche, die – so gut sie es halt
vermögen – in den langen Nächten im Chorgestühl ausharren, betend und
schlafend; die bis zum Tod, ja darüber hinaus, ein selbstverständlicher Teil ihrer
Bruderschaft bleiben. Und die dann, wen ihr Ende naht, von ihren Mitbrüdern
betreut, besucht und getröstet werden.
Viele von ihnen lehnen eine allzu aufwändige medizinische Behandlung ab.
Wenn aber die Überführung in ein Krankenhaus außerhalb des Heiligen Berges
unvermeidbar ist, dann begleitet sie ein Mönch und bleibt für die Dauer der Be-
handlung an ihrer Seite. So sind alle Übergänge des Lebens gleitend. Selbst der
letzte, schwerste, ist zwar – wie überall – voller Mühsal, aber ohne Angst und
Verzweiflung. Und das Wort „Sterbehilfe“ bekommt seinen alten, wunderbaren
Klang zurück.
Ein letztes Mal möchte ich den alten Kardinal König zitieren, der immer wie-
der vorgeschlagen hatte, das eigene Leben eher vom Ende, vom Tod her aufzu-
rollen und die Kostbarkeit jeder Sekunde von da her zu erkennen, zu verstehen
und zu nutzen. Im Wissen freilich, dass die Vollendung anderswo stattfindet –
und nicht in dem zwischen Geburt und Tod „eingezwängten, kläglichen bisschen
Leben“, um die deutsche Philosophin Marianne Gronemayer zu zitieren.
Dem Glaubenden, der auch in dunklen Stunden über diesen Horizont
hinauszuschauen vermag, wird zwar kein Leid erspart, er kann es aber mit grö-
ßerer Ruhe und aus einer anderen, weiteren Perspektive vermutlich leichter er-
tragen.
 Noch eine Türe, für die uns Schmerz und Krankheit möglicherweise ein
Schlüssel sein könnten, möchte ich noch rasch zu öffnen versuchen. Und da-
bei ein letztes Mal auf eine persönliche Erfahrung zurückgreifen. Ich war
noch kaum 16 Jahre alt, als mich eine erste Krebsoperation in die Welt der
Todkranken und Sterbenden geführt hat. Aus diesem Umfeld von Hilflosig-
keit, existentiellen Ängsten und wohl auch Selbstmitleid hat mich ein Chirurg
damals mit einem genialen Einfall gerettet: Er verpflichtete ein junges Mäd-
chen – Patientin der Augenabteilung – an meinem Bett zu sitzen und mit mir
zu reden. Sie erschien mir damals buchstäblich wie ein Engel.
40 Jahre später habe ich in ähnlichen postoperativen Momenten neu ent-
deckt, wie sehr Schmerzen – solange sie nicht in den Strudel existentieller
Verzweiflung geraten – durchaus an Kraft verlieren können, sobald eine gute
Stimme, ein nettes Gesicht, eine streichelnde Hand – ein Du – ins Blickfeld ge-
raten. Für Glaubensstarke kann dieses „Du“ in einer persönlichen Gottesbe-
ziehung liegen. Andere werden zunächst auf die Geborgenheit in der Fürsorge
liebender Menschen hoffen – und sie, wo immer sie stattfindet, als Geschenk
empfinden.
10 Heinz Nussbaumer

Wichtig ist mir, dass auf dieser letzten Türe mit großen Buchstaben das Wort
„Dankbarkeit“ steht. Und ich würde die These wagen, dass es zwischen Dankbar-
keit und Glauben einen inneren Zusammenhang gibt.
Es war damals, am Weihnachtstag 1959, als ich – nach Monaten einer mühse-
ligen Rehabilitation mit dem Gefühl, neu geboren zu sein, wieder in die Alltags-
welt eingetaucht bin. Damals mit dem festen Vorsatz, keinen Tag meines Lebens
ohne ein Gefühl der Dankbarkeit zu beginnen. Seither weiß ich, dass wir für weit
mehr dankbar sein können, als wir gewöhnlich annehmen – vielleicht sogar für
Wegweisungen, die aus Krankheit und Schmerz gewachsen sind. Dankbar vor
allem für das Geschenk des Lebens, vielleicht auch des Glaubens – und sicher für
das Geschenk der Schöpfung.

Meine Damen und Herren,


ich weiß, wie sehr ich in diesen vergangenen 35 Minuten an den relevanten
Fragen über „Glaube und Schmerz“ vorbeigeschrammt bin. Dass ich manche ihrer
Erwartungen nicht erfüllt und manche ihrer persönlichen Überzeugungen – vor
allem in religiösen Fragen – vielleicht auch überfordert habe. Aber wie ließe sich
über „Glaube und Schmerz“ sprechen, ohne dann auch tatsächlich vom Glauben
zu reden?
Ich meine, wo diese beiden Begriffe zusammenkommen, dort öffnet sich ein
Raum, der letztlich alles Reden, alles Behaupten und Wissen infrage stellt. Ein
Raum, von dem wir eigentlich schweigend bekennen müssten, dass es keine
wirklich gültigen und allgemein akzeptierten Aussagen gibt und geben kann.
Und dass alles, was wir dazu sagen, meist nur für einen gegeben Augenblick gilt
– und immer nur für uns selbst.

Ich danke für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit!

Prof. Heinz Nußbaumer, geb. 1943, ist Publizist


und Buchautor (zuletzt „Der Mönch in mir“),
Herausgeber der „FURCHE“ und Gastgeber im ORF-„philosophicum“
Grundlagen der Schmerztherapie
und gesetzliche Aspekte
Lebensqualität erhalten –
was Pflege dazu beitragen kann

G. BERNATZKY und R. LIK AR


G. Ber natzk y und R. Likar

Ziel von guter Behandlung und Pflege ist nicht, dem begrenzten Leben Zeit hin-
zuzugeben, sondern alles daran zu setzen, der begrenzten Zeit Leben zu geben
(in Anlehnung an Cecily Saunders).

Eine adäquate Schmerztherapie verbessert die Lebensqualität!

Lebensqualität kann nicht von anderen, sondern nur vom Kranken selbst,
als eine für sein individuelles Leben wichtige Qualität erlebt werden!

Was ist eine wichtige Qualität in unserem Leben? Meist erst dann, wenn sich un-
ser Leben verändert – so etwa durch Krankheit, Alter, äußere Umstände oder in-
neren Wandel – beginnen wir danach zu fragen. Wir möchten unsere Lebensqua-
lität wiedergewinnen, neu gestalten, wenigstens teilweise erhalten. Doch was ist
das eigentlich – Lebensqualität?
Der Ausdruck Lebensqualität hat in den letzten Jahren gerade im Gesund-
heitsbereich immer mehr Bedeutung bekommen. Fast schon zum Modewort ge-
worden, ist der Begriff dennoch schwer fassbar. Denn jeder Mensch hat seine
ureigene Sichtweise, mit der er/sie seine/ihre momentane Lebenssituation be-
wertet. Lebensqualität kann demnach nicht von anderen, sondern nur vom ein-
zelnen Menschen selbst als eine für sein individuelles Leben wichtige Qualität
erlebt werden!
Lebensqualität ist also etwas ganz Individuelles, das jede(n) von uns gerade
jetzt betrifft. Das heißt, dass Lebensqualität für ein und dieselbe Person im Laufe
der Zeit Unterschiedliches bedeuten kann. Liegt für einen jungen Menschen Le-
bensqualität vielleicht darin, sportliche Höchstleistungen vollbringen zu können,
so sieht ein alter, kranker Mensch möglicherweise eine wesentliche Qualität seines
Lebens eben darin, dass er seine täglichen Aktivitäten noch selbst bewältigen kann.
14 G. Bernatzky und R. Likar

Wie die Lebensqualität einer Person ist, hängt also sehr stark von ihren Erfah-
rungen und Erwartungen ab. In jedem Falle spielen mehrere Dimensionen eine
Rolle, die physische ebenso wie die psychische, die geistig-spirituelle ebenso wie
die soziale Dimension. Das bedeutet, dass Änderungen der Lebensqualität nicht
nur von außen kommen. Doch sie können von außen mit beeinflusst werden, so
etwa durch die Art der Pflege, die ein Kranker erhält.
Mit Bezug auf die Pflegesituation schreibt J. Schara 1990, dass sich im Verlauf
einer Krankheit die Bewertung des eigenen körperlichen, funktionalen, emotio-
nalen, mentalen, interpersonellen und sozioökonomischen Zustandes wesentlich
verändern kann. Dies geschieht je nachdem, was ein/e Patient(in) in der aktuel-
len Situation für möglich und wünschenswert hält. Die Fähigkeit eines Men-
schen zur Anpassung bildet, so Schara, eine wichtige Voraussetzung für die Er-
haltung der Lebensqualität des Erkrankten. Dies gilt besonders für alte
Menschen, die an schweren chronischen Krankheiten leiden. Individuell ausge-
richtete Pflege kann hier wertvolle Unterstützung leisten.
Damit Pflege auf die individuellen Bedürfnisse eines Menschen eingehen
kann, ist eine gute Kommunikation zwischen Betreuern und Betreuten notwen-
dig. Wenn die Pflegepersonen von den jeweiligen Wünschen, Vorstellungen, Be-
fürchtungen und Problemen der PatientInnen, von ihren unterschiedlichen Vor-
stellungen von Lebensqualität wissen, können sie diese besser beim schwierigen
Prozess der Anpassung an ihre aktuelle Situation unterstützen. Positiv auf die
Lebensqualität von Kranken wirkt sich zumeist aus, wenn sie die Erfahrung ma-
chen, dass sie selbst etwas zur Verbesserung ihres momentanen Zustandes bei-
tragen können.
Nicht zuletzt kann die individuell ausgerichtete Pflege wichtige Informatio-
nen für die ärztliche Therapieplanung liefern. Dabei muss, speziell bei betagten
chronisch kranken Personen, immer der Gesichtspunkt der Lebensqualität vor-
rangig einbezogen werden. Nicht so sehr der durch eine Therapie bewirkte Ge-
winn an Lebenszeit, sondern der Erhalt einer möglichst guten Lebensqualität
sollte im Mittelpunkt stehen. Bezogen auf die oft sehr belastende Behandlung bei
bestimmten Krebserkrankungen heißt das: Onkologische Therapie kann nicht al-
lein die Summe der Tumor reduzierenden Maßnahmen sein, sondern die Summe
all jener Maßnahmen, die zur Verbesserung der Lebensqualität eines tumorer-
krankten Menschen beitragen. Es geht also nicht sosehr um die Quantität der
Überlebenszeit, sondern um die Qualität der durch die Behandlung für den Pati-
enten erreichten Zeit.

Literatur
Likar R, Bernatzky G, Pipam W., Janig H, Sandjak A (2005) Lebensqualität im Alter. Therapie
und Prophylaxe von Altersleiden. Springer, Wien New York, 355 Seiten
Pipam W, Likar R, Klocker J, Bernatzky G, Platz T, Sittl R, Janig H (2002) Ergebnisse einer Um-
frage zu Schmerzen und Lebensqualität bei Tumorpatienten. Der Schmerz 16: 481–489
Revision

Der Schmerz ist älter als die Menschheit

G. BERNATZKY und R. LIK AR


G. Ber natzk y und R. Likar

Einleitung
Warum habe ich Schmerzen? Was ist Schmerz? Woher kommt er? Fast jeder
Mensch stellt sich irgendwann im Laufe seines Lebens diese Fragen. Im Jahr
1979 wurde Schmerz von der Internationalen Gesellschaft zum Studium des
Schmerzes wie folgt definiert: „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Ge-
fühlserlebnis, das mit einer aktuellen oder potentiellen Gewebsschädigung ver-
bunden ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“
Diese so weit verbreiteten „unangenehmen Sinnes- und Gefühlserlebnisse“
haben – so weiß man heute – wichtige Aufgaben: Schmerz dient der Kommuni-
kation nach innen ebenso wie nach außen. Er ist ein von der Evolution angeleg-
tes Frühwarnsystem, das uns vor inneren wie auch vor äußeren Gefahren
schützt. Doch dies gilt nicht nur für uns Menschen. Auch bei vielen Tierarten ist
bekannt, dass sie Schmerz wahrnehmen können. Schmerz ist somit älter als die
Menschheit.
Menschen – und wohl auch Tiere – haben zu allen Zeiten versucht, ihre
Schmerzen wieder loszuwerden oder wenigstens zu lindern. Das beweisen etwa
Keilschriftdokumente aus Mesopotamien, die um 4000 vor Christus entstanden
sind. Diese Dokumente stellen vermutlich die frühesten kulturellen Zeugnisse
über Schmerzen und ihre Behandlung dar. Darin wird von der Behandlung von
Kopfschmerzen mittels operativer Eingriffe berichtet. Hier findet sich auch schon
die besonders bei vielen Völkern verbreitete Vorstellung, dass Schmerzen durch in
den Körper eingedrungene Dämonen verursacht werden. Man glaubte, dass die-
se bösen Geister die Menschen zur Strafe für begangene Sünden befallen. Dieser
Glaube wirkte später im Christentum lange Zeit nach und bestimmte den Stel-
lenwert von Schmerz im christlichen Bereich. Schmerzen sollten demnach ge-
duldig ertragen werden, um eher ins Paradies einzugehen. Das große Vorbild für
das Erdulden von Schmerzen war – und ist für viele Menschen heute noch –
Christus am Kreuz.
16 G. Bernatzky und R. Likar

Schmerz ist Krankheit


Von den Philosophen Pythagoras (566–497 v. Chr.) und Anaxagoras (500–428
v. Chr.) wurde der Schmerz als Element der fünf Sinne gedeutet. Als Zentrum der
fünf Sinne galt das Gehirn. Der Arzt Hippokrates (460–370 v. Chr.) setzte als
erster Schmerz gleich mit Krankheit. Die Ursache von Schmerzen sah er vor al-
lem in Störungen der vier wichtigen Körpersäfte. Für den Philosophen Platon
(427–348 v. Chr.) war das Herz Sitz der Sinnesempfindungen, der Gefühle und
auch des Schmerzes. Ebenso war Schmerz für Demokrit (460–371 v. Chr.) und
Aristoteles (384–322 v. Chr.) in der im Herzen lokalisierten Seele zu finden.
Homer (Ende 8. Jh. v. Chr.) hat Schmerz als den „bellenden Wächter der Ge-
sundheit“ bezeichnet, Demokrit als „Wohlbefindens-Verscheucher“.

Störung des Kräftegleichgewichts


Galenus von Pergamon, Arzt des Marc Aurel und anderer römischer Kaiser, sah
im Schmerz einen Teil des Tastsinns. Er erklärt Schmerzen als Störung des Kräf-
tegleichgewichtes; Schmerzen entstünden dann, wenn bestimmte Reize über-
mäßig werden. Die Behandlung von Schmerzen hatte für ihn göttliche Bedeu-
tung. Als Schmerzmittel verwendete Galenus Kamille, Efeu, Myrrhe, Lauch, Senf
und Opium. Die Wirkungsstärke dieser Substanzen dokumentierte er in einer
Skala. Das war der erste Versuch in der Medizingeschichte, gesetzmäßige Bezie-
hungen der pharmakologischen Wirkung zu erfassen und daraus exakte Behand-
lungsrichtlinien zu entwickeln. Galenus war auch der erste Arzt, der Schmerzen
als pulsierend, stechend, einschießend beschrieb, um sie entsprechend zu
behandeln. Keinen Rat wusste der römische Arzt allerdings bei chronischen
Schmerzen. In seinen Schriften ist deshalb von Selbstmord als letztem Ausweg
die Rede.

Gottesgeschenk Opium
Für die Griechen der Antike waren Medizin, Mythos und Religion eng miteinan-
der verbunden. So wurde Opium, das schon damals als schmerzlinderndes Mit-
tel eingesetzt wurde, als göttliches Geschenk angesehen. Die Heilung von
schmerzhaften Krankheiten erfolgte im Rahmen des Asklepios-Kults. Die Patien-
ten wurden in Heilstätten aufgenommen, die an Asklepios-Tempel angeschlos-
sen waren. Nach einer Zeit des Fastens wurden die Kranken mit Hilfe von Opi-
um in einen Heilschlaf versetzt. Während sie schliefen, befreite sie Asklepios, ein
Sohn des Sonnengottes Apollo, von ihren Schmerzen.

Schmerzen „ableiten“ oder „ertragen“


Auch die arabische Medizin des Mittelalters sah in der Behandlung von Schmer-
zen eine wesentliche Aufgabe. Man wendete eine Art Stufenschema an und be-
Der Schmerz ist älter als die Menschheit 17

nutzte Verfahren, die man heute als „Gegenirritationsmethode“ bezeichnen wür-


de. Konkret wurde versucht, Schmerzen durch andere starke Reize zu vertreiben.
So wurden bei Migräne verschiedene Brenneisen eingesetzt. Diese Methode der
Kauterisation verwendete man auch, um Lähmungen „abzuleiten“. Auch Ader-
lässe waren zur Behandlung bei Nierenschmerz, Zahnschmerz, Kopfweh, Au-
genschmerz etc. üblich. Was Schmerzmedikamente betrifft, wissen wir, dass der
Arzt Abul-Quasim (936–1013), Leibarzt des Kalifen von Cordoba in Andalusien,
bei stärkeren Schmerzen Koriander und Opium einsetzte. In Form einer Art Stu-
fenplans wurden unterschiedliche Schmerzmittel entsprechend der Schmerz-
stärke eingesetzt.

Trost und Behandlung


Auch christliche Ärzte versuchten die Schmerzen Kranker zu lindern. Grundlage
für die Entstehung sozialkaritativer Einrichtungen im frühen Mittelalter bildete
die Idee von Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Vor allem der von Montecassino
ausgehende Benediktinerorden war in diesem Bereich ab dem 6. Jh. v. Chr. tätig.
Während der Kreuzzüge und danach gründeten und betrieben besonders die
Deutschordensritter und die Brüder vom Heiligen Geist Hospitäler in ganz Euro-
pa. Hier erhielten Kranke, Behinderte und Sterbende neben geistlichem Trost
auch körperliche Versorgung und ärztliche Hilfe. Die Linderung von Schmerzen
gehörte dazu. Aus den alten Hospitälern entwickelte sich im Laufe der Zeit das
moderne Spitalswesen.

Gottgegebenes Übel
Die Renaissance brachte die Wiederentdeckung vieler Erkenntnisse der Antike.
So setzte sich nun die Meinung durch, dass das Gehirn Sitz der Wahrnehmun-
gen und der Gefühle sei. Damit änderte sich auch die Sicht auf den Schmerz.
Dem Künstler und Gelehrten Leonardo Da Vinci (1452–1519) etwa erschien das
Leiden des Körpers als das „größte Übel“ überhaupt. Dennoch war die Schmerz-
bekämpfung noch kein zentrales Thema der medizinischen Forschung der Zeit.
Viele Mediziner waren noch zu sehr den tradierten Vorstellungen verbunden. Sie
sahen Schmerzen als gottgegebene Strafe für begangene Sünden an, die man
tapfer zu ertragen hatte.
Eine ganz andere Sichtweise entwickelte der Arzt, Magier und Wissenschafter
Theophrastus Paracelsus (1493–1541). Paracelsus war der Ansicht, dass es die
Hauptaufgabe des Arztes sei, „Not zu wenden.“ Dieses therapeutische Leitbild
der Barmherzigkeit sollte auch heute wieder verstärkt zum Mittelpunkt des ärzt-
lichen Handelns werden!
100 Jahre nach Paracelsus entwarf der französische Naturwissenschafter und
Philosoph René Descartes (1596–1650) erstmals ein Modell der neuralen Über-
tragung von Schmerzinformationen. Nach seiner Darstellung entsteht der
Schmerz im Gehirn im Pinealorgan. Für Descartes war Schmerz ein rein körper-
18 G. Bernatzky und R. Likar

lich bezogenes Phänomen. Ein anderer Ansatz stammte von Spinoza (1632–
1677), der einer Trennung zwischen Körper und Seele widersprach und beide als
verschiedene Anteile der gleichen Substanz betrachtete. Er hielt physiologische
und psychische Aktivitäten für verschiedene Anteile von Schmerz. Eine dritte
Auffassung vertrat Leibnitz (1646–1716), indem er das dualistische Konzept ak-
zeptierte und Körper und Seele als vollständig voneinander unabhängig sah.

Magnetismus gegen Schmerzen

Im 18. Jahrhundert traten in der Schmerztherapie physikalische Anwendungen


von Elektrizität und Magnetismus in den Vordergrund. Schon aus dem antiken
Rom ist die Therapie rheumatischer Erkrankungen mittels „elektrischer Fische“
überliefert. Die Anwendung magnetischer Methoden machte Franz Anton
Messmer (1734–1815) berühmt. Der Wiener Arzt begründete die bald in ganz
Europa und der neuen Welt bekannte Lehre des „animalischen Magnetismus“.
Da Messmer auch ohne Magnete Behandlungserfolge erzielte, schloss er daraus,
dass er selber magnetische Kräfte habe. 1841 prägte dann der englische Arzt
James Braid für Messmers Therapie den Begriff „Hypnose“.

Morphin, Chlorophorm und Salycil

Im 19. Jahrhundert kam es zu bahnbrechenden Beiträgen zur Schmerztherapie.


1806 gelang es dem Deutschen Apotheker Sertürner, das Morphin – benannt
nach Morpheus, dem griechischen Gott des Schlafes –, in Reinform herzustellen.
Etwas später entdeckte der Bostoner Arzt und Chemiker Charles T. Jackson
(1805–1880), dass sich die Schmerzwahrnehmung mit dem Dampf der che-
mischen Verbindung Ether zeitweise unterdrücken ließ. 1846 führte der
Bostoner Zahnarzt William T. G. Morton die Ethernarkose in der Zahnmedizin
ein. Damit nutzten diese „Betäubung“ Zahnärzte und Chirurgen. Auch Entbin-
dungen mit Chloroform-Narkose waren nun möglich. Heftige Kritik kam von
calvinistischen Geistlichen in Schottland. Für sie war nach dem Bibelwort über
die Vertreibung aus dem Paradies „Du sollst unter Schmerzen Kinder gebären“
der Schmerz der Gebärenden etwas Gottgewolltes.
1839 wurde das Glykosid Salicyl aus dem Saft der Salweide isoliert. Diesen
Saft hatte man bereits seit dem Altertum zur Schmerzstillung verwendet. Die
Acetylierung machte 1897 die Salicylsäure zu einem hochwirksamen Analgeti-
kum, das 1899 als Aspirin auf den Markt kam.
1884 wurde die Lokalanästhesie mit Kokain – mit der Substanz befasste sich
übrigens auch Sigmund Freud – eingeführt. Diese Methode, die beispielsweise
bei Eingriffen am Auge verwendet wurde, stellte damals eine Sensation dar.
In den Jahren 1840–1846 war von Mueller und Weber das Reiz-Reaktions-
modell entwickelt worden. Nach diesem Konzept basiert Schmerz ausschließlich
auf neurophysiologischen Mechanismen, wobei das Gehirn in einer reaktiv-
passiven Weise Reize von spezifischen Nervenfasern empfängt. Von Frey ent-
Der Schmerz ist älter als die Menschheit 19

wickelte Muellers Theorie 1895 weiter und ging vom Vorhandensein spezifischer
Rezeptor-Typen aus, von denen die Schmerzimpulse über spezifische Nerven-
bahnen zu einem speziellen Schmerzzentrum im Gehirn gelangten. Fast zur
gleichen Zeit (1894) legte Goldscheider ein abweichendes Schmerzkonzept vor,
das davon ausging, dass Schmerz dann wahrgenommen wird, wenn die Summe
der im Hinterhorn des Rückenmarks einlaufenden peripheren Reize eine be-
stimmte Schwelle überschreitet.
Erst viele Jahre später (1943) postulierte Livingstone in der von ihm ent-
wickelten „zentralen Summationstheorie“, dass die nozizeptiven Impulse zu
einer Selbsterregung zentraler Neuronenketten führen und dass dabei auch psy-
chische Inhalte einbezogen werden.

Schmerz – ein psychophysisches Phänomen

Nun erhielten psychische Aspekte von Schmerz immer mehr Bedeutung. Leriche
zeigte 1949, dass körperlicher Schmerz nicht nur das Ergebnis einlaufender neu-
ronaler Impulse sei, sondern auch ein „Resultat im Konflikt zwischen Stimulus
und Individuum darstelle“. Schulte formulierte es 1955 dann so: „Schmerz ist
nicht nur Empfindung, sondern auch Gefühl, beides gleichzeitig in einem unzer-
trennlichen Akt passiver Hinnahme und aktiver Gestaltung.“ Fundamentale
Studien zum Thema Schmerz führten Wall und Melzack in den 1960er und
1970er Jahren durch. Sie zeigten mit ihrem „Gate-control-System“, dass sowohl
über externe wie auch interne Stimuli eine körpereigene Schmerzhemmung ak-
tiviert werden kann. Symbolisch gesprochen heißt das, dass sich auf Rücken-
marksebene eine Schranke schließt, die keine weiteren Schmerzreize ins Gehirn
gelangen lässt.

Neue Forschungen, neue Fragen

Die erste Hälfte des 20. Jahrhundert brachte Heere von Kriegsverletzten und
damit Schmerzbetroffene. Es brachte auch mehr und ganz neue Forschungen
zum Thema Schmerz. Jetzt wurde erstmals die Frage gestellt, ob die Schmerz-
empfindlichkeit der Menschen gegenüber früheren Zeiten zugenommen habe.
Wenn ja, so könnte die fortschreitende Zivilisation ein Grund dafür sein. Weiters
wird nun die Einführung der Narkose als mögliche Ursache für steigende
Schmerzempfindlichkeit gesehen. Dazu kommt, dass Schmerz nunmehr von den
Menschen mehrheitlich als eine – behandelbare – Krankheit gesehen wird. Tat-
sächlich verfügt die Medizin heute über wesentlich verbesserte Möglichkeiten
der Schmerztherapie. Damit entstand auch der Anspruch der Betroffenen, durch
eine entsprechende Therapie von ihren Schmerzen befreit zu werden.
Schmerz wird nicht mehr nur als Symptom einer Krankheit angesehen, son-
dern hat heute selbständigen Krankheitswert. Schätzungen dazu, wie groß der
Anteil von Schmerzbetroffenen in der Bevölkerung eines Landes ist, differieren
stark. Oft hängen sie auch vom politischen und vom religiösen Hintergrund ab.
20 G. Bernatzky und R. Likar

Wir gehen heute davon aus, dass mehr als ein Viertel der Bevölkerung in westli-
chen Industrieländern unter chronischen Schmerzen leidet. Allein in Deutsch-
land gibt es schätzungsweise rund 600.000 SchmerzpatientInnen, bei denen kei-
ne Therapie mehr greift. In Österreich nimmt man nach wie vor an, dass ca.
200.000 chronische Schmerzpatienten schlecht versorgt sind.
Laut internationalen Studien leiden PatientInnen mit chronischen Schmerzen
durchschnittlich 11,5 Jahre und konsultieren zwischen zehn und elf Ärzte, bevor
sie eine adäquate Behandlung erhalten. Jährlich werden wegen schwerer chroni-
scher Schmerzen weltweit schätzungsweise zwei- bis dreitausend Selbsttötun-
gen verübt. Die Dunkelziffer ist nicht bekannt.

Schmerz – ein Bio-Psycho-Soziales Phänomen


Schmerzen gemeinsam behandeln

Heute besteht die allgemeine Meinung, dass Schmerz weit mehr ist als der kör-
perliche Vorgang der Nozizeption. Vielmehr ist Schmerz ein Ereignis, das den
ganzen Menschen und auch seine Umgebung beeinflusst. Schmerz verursacht –
in klinisch bedeutsamer Weise – Leiden auf physischer, emotionaler, kognitiver
und sozialer Ebene. Schmerz ist damit ein bio-psycho-soziales Phänomen.
Schmerz verändert Bewusstsein und Verhalten eines Menschen und ist ein
wichtiges Kommunikationsmittel nach Innen und nach Außen. Aus all diesen
Gründen sollten daher – zumindest chronische – Schmerzen multimodal bzw.
interdisziplinär, also von allen Beteiligten gemeinsam behandelt werden. Das
bedeutet: Schmerzforscher ebenso wie Ärzte, Pflegekräfte, Psychologen, Thera-
peuten, Gesellschaft, Medien und auch die SchmerzpatientInnen selbst sind auf-
gerufen, dabei zusammenzuwirken.

Literatur
Breivik H, Collet B, Ventabridda V, Cohen R, Gallacher D (2006) Survey of chronic pain in
europe: Prevalence, impact on daily life and treatment. Eur J Pain 10: 287–333
Goerk F (1992) Paracelsus – Arzt unserer Zeit. Patmos, Düsseldorf
Morris DB (1994) Geschichte des Schmerzes. Insel, Frankfurt am Main
Zimmermann M (2002) Zur Geschichte des Schmerzes. In: Zenz, Jurna (Hrsg) Lehrbuch der
Schmerztherapie, Grundlagen, Theorie und Praxis für Aus- und Weiterbildung, 2. Aufl. Wis-
senschaftliche VerlagsgesmbH, Stuttgart, S 3–24
Revision

Wie Schmerzen entstehen:


Schmerzphysiologie

G. BERNATZKY und R. LIK AR


G. Ber natzk y und R. Likar
Wie Schmerzen entstehen: Schmerzphysiologie

Einleitung

Schmerzen sind Teil unseres Lebens. Sie sind ein wichtiges biologisches Warnzei-
chen. Per definitionem stellen Schmerzen unangenehme Empfindungen und
emotionale Erfahrungen, die mit tatsächlichen oder möglichen Gewebsschäden
assoziiert sind oder durch solche beschrieben werden, dar.
Schmerzen können nach dem Entstehungsort eingeteilt werden, z. B. in
Bauchschmerzen, Beinschmerzen, Brustschmerzen; nach der Entstehungsursa-
che, z. B. in Tumorschmerzen, postoperative Schmerzen; nach der Zeitdauer, z. B.
in akute Schmerzen (Operationsschmerzen), chronische Schmerzen (Tumor-
schmerzen, Rückenschmerzen); nach pathogenetischen Kriterien, z. B. in Nozi-
zeptorschmerzen, neuropathische Schmerzen oder psychogene Schmerzen. Da-
bei können die Nozizeptorschmerzen wieder unterteilt werden in somatische
(oberflächliche und tiefe) und in viszerale (Eingeweide) Schmerzen. Bei den
neuropathischen Schmerzen, zu denen etwa Phantomschmerzen zählen, werden
Schmerzen der peripheren Nerven, des Zentralnervensystems und der Nerven-
wurzel unterschieden. Schmerzen im Bewegungsapparat zählen zu den häu-
figsten Schmerzformen überhaupt. Gerade die Klassifikation von Schmerzen
nach Ort, Ursache und Stärke gibt wichtige Auskunft für die Auswahl der Medi-
kamente (Schmidt 1991).

Schmerzreizaufnahme in der Peripherie


An der Entstehung von Schmerzen sind zahlreiche biochemische und neurophy-
siologische Vorgänge beteiligt: Im Wesentlichen entstehen Schmerzreize dann,
wenn Nozizeptoren (freie baumförmig verzweigte Nervenendigungen von
dünnen afferenten markhältigen schnellleitenden A-- oder langsam leitenden
marklosen C-Nervenfasern) durch verschiedene Auslöser, wie thermische (Hitze,
22 G. Bernatzky und R. Likar

Kälte), mechanische (Durchtrennung, starker Druck) oder chemische (Säuren)


Reize erregt werden. Solche Nozizeptoren finden sich jeweils in Organen der
Peripherie oder des Körperinneren in der Haut, der Blase, der Skelettmuskulatur,
in Sehnen und Gelenken. Diese Nozizeptoren „schlafen“ zu einem großen Teil.
Erst bei einer Entzündung werden sie aktiviert. Für die Haut ist die Vermehrung
der Nozizeptoren um 20 bis 40 % bekannt, für die Muskulatur um 30 bis 40 %,
für die Gelenke um rund 50 %, für die Blase sogar um 95 %. Kein Wunder, dass
die Schmerzen ständig stärker werden! Neben der direkten Reizung der Nozi-
zeptoren kommt es stets auch zu einer entzündlichen Reaktion des betroffenen
Gewebes. Dabei bilden sich infolge der den Schmerz auslösenden Gewebsschä-
digung direkt im Gewebe verschiedene Moleküle, Säuren und Ionen (H+-Ionen,
Kaliumionen, Histamin, Azetylcholin und Serotonin). Histamin wird aus den
Mastzellen freigesetzt. Durch pH-Absenkung und Ausschüttung von Substanzen
wie Bradykinin und Histamin werden weitere Nozizeptoren gereizt. Das Brady-
kinin wird dabei aufgrund der Verletzung des Endothels aus den Kininen gebil-
det. Die aus der Arachidonsäure entstandenen Prostaglandine führen zur peri-
pheren Sensibilisierung. Sie verstärken die Wirkung anderer Substanzen, wie
etwa Bradykinin. Durch dieses Geschehen können Aktionspotentiale entstehen,
die in Richtung Rückenmark Schmerzreize gewissermassen als Botschaft weiter-
leiten. Ein andauernder Reiz führt nicht zu einer Verminderung der Erregbarkeit.
Im Gegenteil, die Erregbarkeit wird sogar verstärkt.

Schmerzreizleitung im Rückenmark

Diese nozizeptiven Nervenfasern enden im Hinterhorn des Rückenmarks. Hier


finden unter anderem die Verschaltungen zu motorischen und vegetativen Effe-
renzen statt, was zu Fluchtreflexen und sympathischen Reflexen führt. Ein Bei-
spiel dazu: Die Hand, die einen heißen Gegenstand berührt, wird rasch in einem
solchen Reflex zurückgezogen. Daneben führen Schmerzen über supraspinale
Reflexe auch zur Erhöhung der Herzfrequenz, Atemfrequenz und zur Ausschüt-
tung von Stresshormonen. Im Rückenmark (im dorsalen Anteil der Substantia
gelatinosa) werden aufgrund der einlangenden Aktionspotentiale verschiedene
Neurotransmitter an der Synapse der afferenten Nervfaser freigesetzt, so etwa
Substanz P, Glutamat oder Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP). Diese Neu-
rotransmitter binden an spezifische Rezeptoren der Hinterhornzellen: Substanz
P bindet an der postsynaptischen Membran an die NK1-Rezeptoren. Aufgrund
der Ausschüttung von Substanz P entsteht eine Vasodilatation und eine gestei-
gerte Gefäßpermeabilität (sog. neurogene Entzündung). Ebenso bindet Glutamat
an der postsynaptischen Membran an den so genannten AMPA-Rezeptor und an
den spezifischen Glutamatrezeptor-Subtyp NMDA (N-Methyl-D-Aspartat-
Rezeptoren). Dieser Subtyp besitzt Kanäle, die für Kalziumionen durchlässig
sind. Kalzium steuert unter anderem Zellfunktionen und ist auch für die zentrale
Sensibilisierung verantwortlich. Durch das freigesetzte Glutamat kommt es zu
einem ausgeprägten Kalziumanstieg in den Hinterhornneuronen und zu einer
Wie Schmerzen entstehen: Schmerzphysiologie 23

Depolarisation der Zellmembran sowie zu einer Potenzierung der synaptischen


Übertragungsstärke zwischen nozizeptiven A-- und C-Fasern. Eine starke Er-
höhung der Kalziumionenkonzentration kann sogar zum Zelltod von Neuronen
(auch hemmende Neurone) führen. Kalzium spielt dabei als zweiter Botenstoff
(„second messenger“) ebenso wie auch ein anderer Botenstoff namens cAMP
eine weitere wichtige Rolle: Diese Botenstoffe lösen die Aktivierung von Tran-
skriptionsfaktoren wie CREB (cAMP responsive element binding protein) aus.
Dieses CREB wiederum steuert die Ablesung vieler Gene wie z. B. c-fos und c-
jun (immediate early genes = IEGs), deren Genprodukte bereits Minuten nach
dem Schmerzreiz in Neuronen des Hinterhorns nachweisbar sind. Weil auf diese
Weise auch langfristige Veränderungen im Hippocampus ausgelöst werden kön-
nen und man aus der Gedächtnisforschung ein ähnliches zelluläres Lernmodell
kennt, wurden diese IEGs mit der Gedächtnisfunktion in Zusammenhang ge-
bracht (Zieglgänsberger und Tölle 1993). Es scheint nahe liegend, dass eine ver-
gleichbare Abfolge auch bei der Entstehung chronischer Schmerzen eine große
Rolle spielt. Die neuen Ergebnisse der Schmerzforschung zur zentralnervösen
Neuroplastizität und zu den Lernvorgängen im Hinterhorn des Rückenmarks
liefern sehr gute Möglichkeiten, den Entstehungsmechanismus von Schmerz-
überempfindlichkeit (Hyperalgesie) und einiger Formen chronischer Schmerzen
zu verstehen: Langfristige Veränderungen im Nervensystem lassen sich heute mit
molekularbiologischen und biochemischen Methoden nachweisen (Sandkühler
2000). Durch die Aktivierung von Enzymen, die eine Phosphatgruppe auf Protei-
ne übertragen, kommt es zur so genannten synaptischen Langzeitpotenzierung
(LTP), welche als zellulärer Mechanismus der zentralen Sensibilisierung für
Schmerzreize gilt. Dabei können schon schwache Schmerzreize eine starke Erre-
gung der nozizeptiven Hinterhornneurone auslösen. Eine solche Langzeitpoten-
zierung an Synapsen nozizeptiver C-Fasern kann durch Entzündungen, periphe-
re Verletzungen oder akute periphere Nervenläsionen ausgelöst werden. An
dieser zentralen Sensibilisierung ist hauptsächlich der NMDA-Rezeptor beteiligt.

Im Rahmen dieser Sensibilisierung ist folgendes Geschehen


von Bedeutung:
Insgesamt führen diese Vorgänge zu einer pathologisch gesteigerten Erregungslei-
tung im ersten afferenten Neuron (noch vor der Rückenmarksebene). Die
Erregungsschwelle in den Nozizeptoren wird für nachfolgende Schmerzen herab-
gesetzt. Die Anzahl aktivierbarer Rezeptoren (so genannte schlafende Nozizepto-
ren) wird vermehrt und es kommt infolge der netzartigen neuronalen Verschaltung
rund um das geschädigte Feld zu einer deutlichen Vergrößerung der Neurone.
Damit reagiert nun auch die Umgebung der Schmerzstelle empfindlicher auf äu-
ßere Reize. Die Depolarisierungsschwelle wird gesenkt, das Perzeptionsfeld wird
vergrößert. Die Folge ist ein intensiviertes Schmerzerlebnis. Dieses wiederum
führt zu einer verstärkten vegetativen Reaktion und zu einer ebenso verstärkten
Reizweiterleitung zu den Schmerz wahrnehmenden Zentren im Gehirn. Die
Schmerzdauer wird damit verlängert und die Schmerzintensität verstärkt.
24 G. Bernatzky und R. Likar

So führt beispielsweise eine Entzündung an einem Gelenk mit der Zeit zu


einer erhöhten Erregbarkeit der zugehörigen Rückenmarksneurone (Schmidt
1991). Bei Patientinnen nach gynäkologischen Eingriffen konnte eine erhöhte
Empfindlichkeit gegenüber elektrischen Reizen, verbunden mit stärkeren
Schmerzen festgestellt werden. Auch dramatische Schmerzerlebnisse rund um
Operationen können eine Engrammbildung hervorrufen. So kann die unphysio-
logisch hohe Entladungstätigkeit in einem Nerv, wie sie nach dessen Durchtren-
nung im Zuge einer Operation auftritt, eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit
auslösen. Grund für eine Engrammbildung kann aber schon ein Sonnenbrand
sein.
In der Folge kann sich so etwas wie ein Schmerzgedächtnis ausbilden. Damit
ist gemeint, dass nun bereits schwache Schmerzreize ausreichen, eine starke Er-
regung hervorzurufen, was in der Klinik als Hyperalgesie bezeichnet wird. Die
betroffenen PatientInnen sind plötzlich viel schmerzempfindlicher. Vor allem aber
kann diese Überempfindlichkeit auch dann noch anhalten, wenn die primäre
Schmerzursache bereits vollständig beseitigt bzw. ausgeheilt ist.

Schmerz entsteht im Gehirn

Erst wenn die Schmerzreizsignale zum Gehirn gelangen und dort weiterverar-
beitet werden, setzt das Schmerzempfinden ein: Die Fortsetzung der neuronalen
Schmerzreizleitung erfolgt über den vorderen aufsteigenden Vorderseitenstrang
(Tractus spinothalamicus) in verschiedene Hirnzentren, wie Stammhirn, Zwi-
schenhirn und Großhirn (s. Abb. 1). In der Großhirnrinde wird der Schmerz be-
wusst im limbischen System emotional bewertet:
Motorisch-vegetative Dimension:
Rückenmark, Hirnstamm: Muskuläre und hormonelle Aktivitäten finden hier
statt.
Sensorisch-diskriminative Schmerzverarbeitung:
Das laterale thalamokortikale System
Kortikale Bereiche: primärer somatosensorischer Kortex (SI), sekundärer so-
matosensorischer Kortex (SII), Insula. Subkortikale Bereiche: Thalamus, Ba-
salganglien, Zerebellum, periaquäduktales Grau (PAG). Die verschiedenen
Gegenirritationsverfahren greifen in diesen Regionen an.
Kognitive Schmerzverarbeitung: Präfrontaler Kortex (PFC) und die
supplementär motorische Area (SMA). Der präfrontale Kortex hat in der Re-
gulation der Hemmung von Schmerzen und negativen Gefühlen eine Bedeu-
tung und reguliert z. B. den anterioren zingulären Kortex (ACC): Ablenkung,
Steigerung der Kontroll- und Kompetenzerwartung
Affektiv-motivationale Schmerzverarbeitung:
Limbisches System: anteriorer zingulärer Kortex (ACC), Insula und Amyg-
dala.
Wie Schmerzen entstehen: Schmerzphysiologie 25

Abb. 1.

Die Bedeutung des ACC als „neuronales Alarmsystem“ hat im emotionalen


Erleben starke Wirkungen: Hier erfolgt die affektive Stressregulation. Sowohl ne-
gative als auch positive Gefühle wie verbesserte Stimmung werden in dieser Re-
gion verarbeitet und Antidepressiva wie Placebos zeigen dort ihre Wirkungen.
Schmerz aktiviert dieses System besonders intensiv.

Thalamus-Verbindungen

Im Thalamus erfolgt die Entscheidung, ob das Schmerzreizsignal überhaupt wei-


tergeleitet wird oder unter einer gewissen Schwelle unterdrückt wird: Über Ver-
schaltungen zum Hypothalamus wird das Kontrollzentrum für biologische
Grundfunktionen aktiviert: Die Hypophyse steuert insbesondere die hormonelle
Stressreaktion. Zu den wichtigsten Thalamus-Verbindungen gehört die Verbin-
dung zum primären somatosensorischen Kortex, wo die Schmerzlokalisation er-
folgt. In diesem so genannten Gyrus postcentralis gibt es für jedes Hautareal re-
präsentative und zuständige Areale. Die Verbindung zum limbischen System ist
wichtig für die Wahrnehmung der affektiv-emotionalen Komponente des
26 G. Bernatzky und R. Likar

Schmerzes. Die Schmerzreizleitung in das limbische System kann als Basis für
die unmittelbare Wirkung von Schmerzen auf das allgemeine Befinden betrach-
tet werden. Das limbische System kann die subjektive Wahrnehmung inhibieren
oder verstärken. Zum Hippocampus verläuft eine weitere Verbindung. Dieser
spielt eine zentrale Rolle für die Verarbeitung von Erinnerungen.

Abb. 2.

Entzündungen, Traumata und operative Eingriffe führen regelmäßig zu Sensi-


bilisierungen von Nozizeptoren (periphere Sensibilisierung) und häufig auch von
nozizeptiven Nervenzellen im Zentralnervensystem (zentrale Sensibilisierung).
Während die periphere Sensibilisierung meist auf die Dauer der peripheren
Schädigung begrenzt ist, kann die zentrale Sensibilisierung die primären
Schmerzursachen überdauern und dann zur Chronifizierung von Schmerzen
beitragen. Neuere Befunde haben eine Reihe von bislang ungelösten Fragen klä-
ren können und zum besseren Verständnis der zentralen Ursachen von Schmer-
zen beigetragen.

Psychische Schmerzformen: z. B. Schmerzen nach Trauer

Es liegen deutliche Beweise vor, dass auch schwere Schicksalsschläge, wie der
Tod eines nahestehenden Menschen, die Einsamkeit bei Liebeskummer oder auch
„nur“ das Zurückgewiesenwerden, zu deutlichen Veränderungen im Schmerz-
system führen: Dabei reagieren viele jener Hirnregionen, die auf physische
Schmerzen reagieren, ebenso mit einer erhöhten Aktivität bei stärkeren und in-
tensiveren Trauererlebnissen. Dieses Geschehen hat natürlich eine hohe Stress-
belasung für den Körper zur Folge! Zum Beispiel erhöht die in dieses Geschehen
involvierte Region anteriorer zingulärer Kortex (ACC) den Herzschlag.
Wie Schmerzen entstehen: Schmerzphysiologie 27

Dieselben Hirnregionen sind auch verantwortlich für die sozialen Bindungen,


für das Bindungsverhalten von Müttern und schließlich auch für das Schreien
bzw. Weinverhalten während der Einsamkeit. Wir wissen also, dass aufgrund von
Trauererlebnissen dieselben chemischen Substanzen unseres Hirns wie in der
Regelung von physischen Schmerzen beeinflusst werden (Panksepp 2003). Daher
haben auch stark wirksame Opioide bei den rein emotionellen Schmerzen eine
Wirkung! Allein diese Tatsachen um die psychischen Aspekte von Schmerz spre-
chen dafür, dass die Zuwendung (Empathie) und soziale Unterstützung durch
Pflegefachkräfte u. a. Menschen eine hohe Bedeutung in der Linderung von
Schmerzen haben! Gerade im Umgang mit alten Menschen bekommt diese In-
formation ein besonders starkes Gewicht!

Zentrale und absteigende Schmerzmodulation


Der Ursprung der körpereigenen Schmerzhemmung liegt im Hirnstamm. Lange
absteigende Neurone führen nach Aktivierung über psychische Auslöser (Hyp-
nose, Entspannung, Musik) zu einer Ausschüttung leitungshemmender Trans-
mitter: Dämpfende Wirkungen gehen auf Rückenmarksebene direkt von kurzen
endorphinergen Neuronen aus. Über A-Beta-Fasern, z. B. induzierte Reize, füh-
ren zu einer Ausschüttung von -Aminobuttersäure GABA, was ebenso eine Un-
terbindung der Schmerzreizleitung auslöst, wie wenn über efferente Bahnen, die
aus den Raphe-Kernen des Stammhirns ins Rückenmark ziehen, die inhibitori-
schen Transmitter Serotonin und Noradrenalin ausgeschüttet werden. Besonders
intensiv funktioniert diese körpereigene Schmerzhemmung nach einem Unfall,
wo augenblicklich kein Schmerz verspürt wird. Wird durch die geschilderten Me-
chanismen die afferente Schmerzreizleitung unterbunden, spricht man von der
Aktivierung des so genannten Gate-Control-Systems, das Wall und Melzack be-
reits in den 1970er Jahren postulierten. So genannte Gegenirritationsverfahren
wie z. B. TENS oder Akupunktur stimulieren diese körpereigenen Schmerz-
hemmwege.

Schmerzen prägen sich schon im Mutterleib ein


Das „Schmerzlernen“ beginnt sehr früh. Die ersten schmerzlichen Erfahrungen
machen wir alle meist schon im Mutterleib. Wie andere Lernvorgänge auch wer-
den die Erfahrungen mit Schmerzen gespeichert. Das individuelle „Schmerzge-
dächtnis“ bildet sich aus. Wie wir heute wissen, geschieht das bereits ab der 28.
Schwangerschaftswoche. Ab diesem Zeitpunkt sind, so zeigten Konditionie-
rungsversuche, allgemeine Lernvorgänge nachweisbar (Zimmermann 1994). Be-
reits bei neugeborenen Kindern und auch schon bei Frühgeborenen erhält man
durch evozierte Potentiale reproduzierbare kortikale Reizantworten auf schmerz-
hafte Reize.
Schmerzhafte Reize prägen sich in Form so genannter Engramme derart ein,
dass sie über gleichzeitig eingeprägte Begleitfaktoren auch nach langen Jahren
28 G. Bernatzky und R. Likar

wieder auftreten können. Beispiele für solche Auslöser können sein: ein be-
stimmtes Geräusch, ein Bild, ein Geruch oder ein spezieller Geschmack auf der
Zunge. Der charakteristische Geruch im Krankenhaus, wo ein Kind eine
schmerzhafte Behandlung über sich ergehen lassen musste, ist ein konkretes Bei-
spiel dafür. Übrigens wird heute in verschiedenen Arbeiten aus der Psychopatho-
logie über die Entstehung psychiatrischer Krankheiten infolge frühkindlicher
Schmerzerlebnisse berichtet (Holden 1977). Bei Früh- und Neugeborenen sind
am Beginn das nozizeptive und das nichtnozizeptive System im Rückenmark
noch nicht streng voneinander getrennt. Erst durch die spätere Ausdifferenzie-
rung des exzitatorischen und inhibitorischen Neurotransmittersystems entwi-
ckelt sich das fertige, funktionsfähige nozizeptive System. So können Sensibili-
sierungsmechanismen bereits durch niederschwellige Reize ausgelöst werden.
Schon ein scheinbar harmloser Schmerz kann das System für lange Zeit beein-
flussen. Um so mehr gilt das beispielsweise, wenn bei Neugeborenen eine
Zirkumzision (Vorhautbeschneidung) ohne ausreichende Schmerzbehandlung
durchgeführt wird. In diesem Fall ist bei den betroffenen Kindern noch Monate
und wohl auch Jahre später eine generell erniedrigte Schmerzschwelle feststell-
bar (Benrath und Sandkühler 2000).
Aus all dem folgt: Um diese Rückkopplungsprozesse zu vermeiden, soll-
ten Schmerzen immer rasch behandelt werden. Schmerzvorsorge und -ver-
meidung ist für Menschen aller Altersgruppen wichtig. Das gilt besonders
auch für jene, die ihr Schmerzempfinden noch nicht oder auch nicht mehr kom-
munizieren können. Dazu zählen Früh- und Neugeborene aber auch hoch be-
tagte Menschen ebenso wie Demenzkranke und Menschen mit bestimmten Be-
hinderungen.

Tagesrhythmische Schwankungen von Schmerzen


Nicht immer empfinden wir Schmerz gleich: Tagesrhythmische Schwankungen
sind z. B. bekannt für Zahnoperationen, bei denen morgens der stärkste Schmerz
auftritt. Bei Karzinomen hingegen wird der Abend beschrieben, bei der rheuma-
toiden Arthritis jedoch wieder frühmorgens. Die so genannten Deafferenzie-
rungsschmerzen nehmen bei geistiger Tätigkeit im Laufe des Tages zu. Arthrose
Schmerzen nehmen im Laufe des Tages zu und sind in den Abendstunden am
höchsten. Während der Nacht bessern sich die Beschwerden. Auch Fibromyalgie
Schmerz tritt morgens am häufigsten auf. Nadelstiche an der Fingerkuppe wer-
den mittags besonders intensiv empfunden. Wehen gelten eher abends oder
nachts als besonders schmerzhaft (Junker und Ludwig 2007).

Die Belastung chronischer Schmerzen


Chronische Schmerzen führen zu vielen Belastungen physischer, psychischer,
ökonomischer und sozialer Art und sie zerstören die Lebensqualität und er-
schweren die Therapie (Pipam et al. 2002): Bei einem hohen Prozentsatz an
Wie Schmerzen entstehen: Schmerzphysiologie 29

chronischen Schmerzpatienten kommen Depressionen und Schlafstörungen


dazu. Gerade Schlafstörungen und chronische Schmerzen führen zu einem
Teufelskreis mit gegenseitiger Verstärkung. Beispiele solcher Schmerzen: Fibro-
myalgie, Chronic Fatigue Syndrom (CFS), Chronic Pelvic Pain, chronischer Span-
nungskopfschmerz, chronische gastrointestinale Beschwerden (Reizdarmsyn-
drom). Die Angst vor Schmerzen führt bei chronischen Schmerzpatienten häufig
zu weiteren Belastungen: Viele haben Angst davor, dass hinter ihren chronischen
Schmerzen eine noch nicht entdeckte Krankheit lauern könnte. So genanntes
„Doctor-Shopping“ resultiert aus diesen hypochondrischen Tendenzen. Es muss
darauf hingewiesen werden, dass in bis zu einem Drittel vieler Fälle, substanzin-
duzierte Probleme, auf Grund nicht regelkonformer Einnahme: z. B. von Alkohol,
Tranquilizer und Schmerzmittel entstehen.

Was bedeuten diese Ergebnisse für die medizinische Praxis?

Ein wesentlicher Punkt ist, dass bei jeder Schmerzbehandlung nicht nur die
Pharmakokinetik und Pharmakodynamik bzw. die pharmakonabhängige Tole-
ranz berücksichtigt werden sollte, sondern dass auch die Erkenntnisse zur neu-
ronalen Plastizität sowie zu den beim Schmerzgeschehen ablaufenden moleku-
laren Vorgängen mit einbezogen werden müssen.
Die oben beschriebene Gedächtnisbildung kann prophylaktisch verhindert
werden durch Vermeidung von Schmerzreizen (!) bzw. durch Medikamente wie
z. B. Ketamin oder Memantine. Wichtig ist, dass gerade bei Operationen auf eine
derartige Vermeidung Rücksicht genommen wird. Allein durch eine tiefe Allge-
meinnarkose sind die gen. Gedächtnisbildungen nicht verhinderbar. Immer noch
leiden bis zu 70 % der PatientInnen aller Altersgruppen nach Operationen unter
starken Schmerzen. Demgegenüber haben zahlreiche Studien gezeigt, dass die
Gabe eines geeigneten Analgetikums bereits vor der Operation zu geringeren
Schmerzen führt als die Gabe des gleichen Analgetikums postoperativ. So etwa
kann durch eine prophylaktische Behandlung mit Morphin die Produktion eini-
ger Transkriptionsfaktoren, die an der Schmerzentstehung beteiligt sind, vermin-
dert werden (Negre et al. 1993). Doch es gibt auch andere wirksame Methoden,
die der Entstehung von Schmerzen vorbeugen und bereits vor einer Operation
eingesetzt werden können. So helfen beispielsweise psychologische und spiritu-
elle Betreuung, Entspannungstechniken oder rezeptive Musiktherapie dabei, die
Schmerzen während der Operation und nachher zu reduzieren (Bernatzky et al.
2007). Einfühlsame Pflegemaßnahmen sind hier besonders wichtig und
hervorzuheben! Gerade Zuwendung hat eine hohe Bedeutung! Mit diesen
verschiedenen Methoden kann die Produktion von Stresshormonen (z. B. Beta-
Endorphin, Noradrenalin, Adrenalin, Glukagon, Aldosteron und Kortisol) zu-
mindestens reduziert werden. Stresshormone werden beim Auftreten von
Schmerzen vermehrt produziert und beeinflussen sowohl die Operation als auch
den Genesungsprozess danach negativ. Es ist heute eine gesicherte Erkenntnis,
dass während der Operation – trotz einer Narkose, die das Bewusstsein aus-
30 G. Bernatzky und R. Likar

schaltet – Schmerzen neu auftreten können bzw. weiterhin vorhanden sind.


Wenn man davon ausgeht, dass jeder Schmerz im Schmerzgedächtnis gespei-
chert wird, wird verständlich, warum alle Möglichkeiten zur Schmerzausschal-
tung genützt werden sollten.
Operationsschmerzen graben sich nicht nur im Gedächtnis ein, sie haben
auch gravierende Folgen für die Vitalkapazität der Betroffenen. So führt postope-
rativer Schmerz im Oberbauch und Thorax meist zu einer schmerzbedingten
Schonatmung und damit einer starken Einschränkung der Sauerstoffversorgung
des Organismus. Der nach einer Operation auftretende Abfall der Vitalkapazität
lässt sich in bestimmten Fällen durch eine Periduralanästhesie wirksam ausglei-
chen. Diese Form der rückenmarksnahen Lokalanästhesie ermöglicht es, ohne
Betäubung des Patienten Schmerzfreiheit seiner unteren Körperregionen zu er-
reichen. Die Indikation für epidurale Opioide dagegen ist vor allem bei größeren
chirurgischen Eingriffen am Oberbauch oder Brustkorb und bei größeren ortho-
pädischen Operationen gegeben (Zenz 1990).
In jedem Fall sollte überlegt werden, ob nicht durch Kombination mit kom-
plementären Methoden eine Verbesserung der Medikamentenwirkung erreicht
wird. Eine jede Schmerztherapie rund um Operationen sollte heute immer dar-
auf ausgerichtet sein, die Bildung von Engrammen samt ihren unerwünschten
Auswirkungen auf das Schmerzgedächtnis zu vermeiden. Eine Überschreibung
bzw. Abschwächung des Gedächtnisses ist sowohl durch Pharmaka wie Opioide
als auch durch bestimmte Gegenirritationsverfahren wie TENS erreichbar.
Komplementäre Methoden können eine wichtige Rolle in der periopera-
tiven Schmerzbehandlung übernehmen.
Zusammenfassend ist zu sagen:
 Prophylaktische Schmerztherapie bei Operationen ist eine Notwendigkeit!
Sie muss zum Standard der Chirurgie werden!
 Die alte Faustregel, dass nach bestimmten Operationen Schmerzen auftreten
und die Betroffenen eben damit leben müssen, ist abzulehnen!
 Bei jeder Operation sollte eine interdisziplinäre Schmerztherapie angewendet
werden, bei der sich medikamentöse und komplementäre Behandlungsfor-
men ergänzen.

Geschlechtsspezifische Unterschiede

Aus epidemiologischen Studien weiss man, dass die Verbreitung von Schmerzen
deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede hat (Greenspan et al. 2007). Eine
Reihe von Schmerzen sind nur bei Frauen zu finden: Geburtsschmerzen (mehr
als 95 %), postpartale Schmerzsyndrome (bis zu 75 %), Regelschmerzen (40 bis
90 %), gynäkologisch bedingte Unterbauchschmerzen oder chronische Schmer-
zen im Bereich der Vulva. Auch bei scheinbar geschlechtsneutralen Schmerzen
liegen deutliche Unterschiede vor: Reizdarmsyndrom (4 : 1); Trigeminusneuralgie
(2:1); Fibromyalgie (4 : 1 bis 7 : 1); Migräne (2,5 : 1); Spannungskopfschmerz
Wie Schmerzen entstehen: Schmerzphysiologie 31

(1,5 : 1); rheumatoide Arthritis (1,5 : 1); chronischer Rückenschmerz (1,5 : 1). Im
Vergleich zu Männern leiden Frauen öfter an mehreren dieser Schmerzzustände
gleichzeitig. Aus vielen neuen Studien ist bekannt, dass Frauen Schmerzen um
ca. 30 % intensiver empfinden und verarbeiten: Häufig dauern die Schmerzen
auch länger an. Frauen sind Schmerzen gegenüber viel sensibler. Frauen suchen
früher medizinische Hilfe auf. Die Schmerzschwelle ist je nach Noxe u. U. niedri-
ger. Frauen nehmen Schmerzen anderer Menschen eher wahr als Männer. Män-
ner sind weniger bereit, über Schmerzen zu berichten. Frauen assoziieren
Schmerzen mit weniger negativen Emotionen und zeigen ein besseres Coping-
verhalten als Männer. Es ist auch bekannt, dass es geschlechtsspezifische Unter-
schiede in der Wirksamkeit und dem Dosierungsbedarf bei Schmerzmitteln gibt:
Hingegen sind psychologische Interventionen wie Ablenkung bei Männern er-
folgreicher als bei Frauen.
Die Unterschiede sind auf psychologische, sozio-kulturelle und gewiss auch
auf biologische Aspekte, wie z. B. genetische, anatomische sowie pharmakokine-
tische und pharmakodynamische Faktoren zurückzuführen. Auch die Mehrfach-
belastung, unter der die Frauen vermehrt stehen, wirkt sich bei der Entstehung
von Schmerzen und auf die Inanspruchnahme von Rehabilitationsmaßnahmen
erhöht aus.

Schmerz bei Behinderten


Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung haben mit größerer Häu-
figkeit Schmerzen als Menschen ohne Behinderung. Als Ursachen kommen häu-
fig Zusammenhänge mit der Behinderung in Frage: Schmerzen durch einschie-
ßende Spastik oder durch eine massive Skoliose, durch eine Hüftluxation oder
durch Fußdeformitäten, Schmerzen durch falsch angepasste Orthesen, durch
Refluxösophagitis, Obstipation oder Meteorismus oder auch Schmerzen durch
intrakranielle Druckerhöhung. Da bei diesen Menschen häufig Mitteilungsdefizi-
te vorliegen, sind alle Beteiligten wie Arzt, Pflegekraft und Angehörige auf non-
verbale Mitteilungen angewiesen: Stöhnen, Weinen oder Schreien sowie Verhal-
tensänderungen, veränderter Gesichtsausdruck, veränderte Haltung von Rumpf
oder Extremitäten, veränderte körperliche Aktivität oder Veränderungen physio-
logischer Parameter wie der Atmung, der Hautdurchblutung, der Herzfrequenz
oder Muskeltonus können beobachtet werden. In die Therapie sind neben den
traditionellen analgetischen Methoden unbedingt die Gesamtperspektiven des
Patienten unter Rücksprache mit den Familienangehörigen einzubauen.

Schmerzen im Alter
An ständig vorhandenen oder wiederkehrenden Schmerzen leiden 25 bis 50 %
aller älteren Menschen (Drechsel und Gerbershagen 1998). Nach Gagliese und
Melzack haben sogar 60 bis 80 % der befragten 60- bis 89-Jährigen chronische
Schmerzen (Gagliese und Melzack 1997). Eine andere Studie belegt, dass acht
32 G. Bernatzky und R. Likar

von zehn Menschen dieser Altersgruppe an mindestens einer chronischen Er-


krankung leiden. Insgesamt nehmen Schmerzen mit den Jahren zu (Smith et al.
2001). In Deutschland berichten über 90 % der über 75-Jährigen von Schmerzen
im Bereich der Körperachse und der Gelenke (Gunzelmann et al. 2002). In Spa-
nien befragte man Menschen über 65: Mehr als 40 % sagten, dass sie an Schmer-
zen leiden (Catala et al. 2002). Eine Untersuchung in Schweden ergab, dass drei
Viertel der über 74-Jährigen Schmerzen haben. Ein Drittel dieser Menschen lei-
det an schweren bis schwersten chronischen Schmerzen. Weitere epidemiologi-
sche Studien belegen signifikant, dass etwa 25 bis zu 50 % der zu Hause woh-
nenden alten Menschen und bis zu 80 % jener, die in Altersheimen leben, unter
starken Schmerzen leiden. Alte Menschen erleben Schmerzen anders als junge.
Sie haben bereits viele Erfahrungen mit Schmerzen und meist bestimmte Strate-
gien im Umgang damit entwickelt. Viele der Hochbetagten von heute haben in
ihrer Jugend gelernt, Schmerzen als gott- und schicksalsgewollt anzunehmen
und zu erdulden. Viele von ihnen haben eine starke Abneigung gegenüber einer
Behandlung mit Medikamenten, sie haben Angst vor Nebenwirkungen.
Komplementäre Methoden der Schmerztherapie werden deshalb gera-
de für alte Menschen immer wichtiger.
Zwar wird im Unterschied zu früher heute den körperlichen Schmerzen im
Alter mehr Beachtung geschenkt, doch werden nach wie vor die psychischen
Schmerzen alter Menschen zu wenig beachtet. Beispiele dafür sind Schmerzen
durch Trennungs- und Verlusterleben oder aufgrund von Einsamkeit. Besonders
beim Eintritt ins Altersheim wird der Anteil seelischer Schmerzen aufgrund des
Verlustes der gewohnten Umgebung oder auch des Gefühls, nun nichts mehr
wert zu sein und abgeschoben zu werden, sehr hoch eingeschätzt.
Schmerz ist einer der Hauptfaktoren, welche die Lebensqualität – gerade
auch alter Menschen – negativ beeinflussen. Es gibt einen direkten Zusammen-
hang zwischen Schmerzfreiheit, Lebensfreude und der sozialen Kompetenz ei-
nes Menschen. Bei der Versorgung von Hochbetagten stehen vor allem Aspekte
der Lebensqualität im Vordergrund. Schmerzsyndrome im Alter sollten daher
unbedingt interdisziplinär behandelt werden (Likar et al. 2005).
Auch im Alter bleibt Schmerz ein wichtiges Warnsystem: Dies, obwohl klini-
sche Erfahrungen zeigen, dass im Alter schmerzlose Herzinfarkte und auch Ma-
gengeschwüre ohne Schmerzen vorkommen. Das bedeutet aber nicht, dass die
Schmerzempfindung im Alter geringer wird. Manche Studien sprechen zwar von
einer erhöhten Schmerzschwelle bei alten Menschen (Harkins und Price 1992).
Es wurde jedoch nachgewiesen, dass sich die Schmerzschwelle nicht ändert. Was
im Alter abzunehmen scheint, ist die Fähigkeit, Schmerzreize zu unterscheiden.
So zeigten Studien, dass die kognitive Verarbeitung von Hitzereizen im Alter ver-
langsamt ist. Durch elektrophysiologische Tests ist auch belegt, dass die Reak-
tionszeit nach einem Schmerzreiz bei älteren Menschen deutlich verlängert sein
kann (Desmedt und Cheron 1980). Gründe dafür liegen darin, dass die Haut im
Alter dünner wird und an Elastizität verliert. Gleichzeitig enthält das Rücken-
mark alter Menschen eine größere Zahl degenerierter Nervenfasern. Die Alte-
rungsprozesse der Haut betreffen vor allem die Epidermis und Dermis. Dabei
Wie Schmerzen entstehen: Schmerzphysiologie 33

schwinden Zell- und Faserelemente. Die die Nerven umgebenden Markscheiden


sind bei ihnen zum Teil abgebaut. Die Dichte myelenisierter und nichtmyeleni-
sierter Fasern hat abgenommen (Ochoa und Mair 1969). All dies bedeutet, dass
ab einem Alter von rund 65 Jahren meist auch die Funktion der Schmerzreizleit-
wege reduziert ist. Gleichzeitig ist die Wundheilung verzögert, wobei es jedoch –
bedingt durch die mit dem Alter verbundenen Funktionseinbußen – häufiger zur
Entstehung von Wunden kommt.
Gerade bei alten Menschen kommt zum Tragen, dass die subjektive Schmerz-
wahrnehmung unter anderem vom Ausmaß der zentralen Schmerzhemmung
abhängig ist. Dabei beeinflussen seelische Leiden wie Depression, Angst, Ver-
zweiflung oder Einsamkeit die Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung ganz
entscheidend mit. Aus diesem Grund kann gerade bei älteren PatientInnen
Schmerz auch eine Somatisierung von Leid sein. In einer Studie, in der 283 Se-
niorInnen mit einem Durchschnittsalter von etwa 76 Jahren befragt wurden,
führte fast jede/r Zweite an, traurig und niedergeschlagen zu sein (Basler et al.
2003). Gleichzeitig berichten drei Viertel der Befragten, dass eine Schmerzlinde-
rung am ehesten durch Schonverhalten zu erreichen sei. Allerdings dürfte gerade
dies in vielen Fällen zu einer Zunahme der Beschwerden führen. Durch Abbau
von Muskelsubstanz entstehen erneut Schmerzen.
Ein Grund für häufig unterschiedliche statistische Angaben in verschiedenen
Ländern liegt sicher im verschieden starken „Underreporting“ von Schmerzen
durch alte Menschen (Ferrell BA und Ferrell BR 1991). Das heißt konkret, dass
dieses Phänomen in den verschiedenen Ländern und Kulturen unterschiedlich
ausgeprägt sein dürfte. „Underreporting“ beschreibt die Tatsache, dass beson-
ders hoch betagte Menschen oft nicht von ihren Schmerzen erzählen. Schmer-
zen werden von ihnen – oft aufgrund erziehungsbedingter Fehleinschätzung,
dass „nicht gejammert werden soll“ – schlicht und einfach geleugnet (Gioiella
und Bevil 1985).
Angesichts dieser durch viele Studien belegten „Schmerzsituation“ im Alter
bleibt vor allem Zweierlei zu tun:
 Es ist notwendig, dass alle medikamentösen und nichtmedikamentösen
Möglichkeiten genützt werden, um alten Menschen eine adäquate Schmerz-
therapie zukommen zu lassen. Hierbei können auch die in diesem Buch vor-
gestellten komplementären Methoden eine wichtige Rolle spielen.
 Andererseits geht es um eine bessere Aufklärung aller Beteiligten darüber,
dass eine optimale Schmerzbehandlung und Schmerzvorbeugung bei Kin-
dern und jüngeren Menschen wesentlich dazu beitragen kann, dass sie selber
im Alter nicht so viele Schmerzen zu leiden haben. Dem dient ein vermehrtes
Gesundheitswissen der Menschen, insbesondere auch über komplementäre
Methoden der Schmerztherapie wie sie in diesem Buch oder einem anderen
Buch der Autoren dieses Buches (Bernatzky et al. 2007) beschrieben werden.
Ziel aller Therapieverfahren im Sinne einer multimodalen Schmerztherapie
sollte natürlich auch bei alten Menschen stets sein, dass die Schmerzintensität
und die Beeinträchtigung durch die Schmerzen verringert wird, dass die Lebens-
34 G. Bernatzky und R. Likar

qualität verbessert wird und die körperliche Leistungsfähigkeit erhöht wird. Be-
sonders jene therapeutischen Verfahren, die ihr Schwergewicht auf eine umfas-
sende Gesundheitsschulung legen, können hier hilfreich sein. Zu nennen wäre
das Kneipp-Therapiesystem ebenso wie die Traditionelle Chinesische Medizin
sowie Qigong und die AMNO-Selbstmassage. Auch verschiedene physio-, psy-
cho- und musiktherapeutische Verfahren und Entspannungstechniken können
nicht nur zur Behandlung von bereits vorhandenen Schmerzen, sondern auch
prophylaktisch eingesetzt werden. Eine wirksame Vorbeugung gegen Schmerz
und Leid sind nicht zuletzt Mitmenschlichkeit, Zuwendung, Humor und Glaube!

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Revision

Schmerzmessung und Dokumentation

W. PIPAM, G. BERNATZKY und R. LIK AR


W. Pipam et al.

Einleitung

Menschen, die aufgrund von Schmerzen einen Arzt aufsuchen, erwarten von
diesem auch, dass er die Ursache ihrer Schmerzen findet. Die Alltagserfahrung
legt uns nämlich die Vermutung nahe, dass Schmerz ein rein körperliches Prob-
lem sei. Dass dem aber nicht so ist, wissen wir heute. Schmerz ist ein subjektives,
komplexes und mehrdimensionales Phänomen, dessen Erfassung nicht wirklich
objektiv geschehen kann. Jeder Patient ist gleichsam sein eigener Zeuge; es ist
aber absolut notwendig, so viel wie möglich vom Schmerz zu verstehen, um ihn
auch richtig behandeln zu können. Eine Fremdbeurteilung von Schmerzen ist
schwierig und setzt sehr viel an Erfahrung voraus. Meistens ist sie unzureichend
und unterschätzt die tatsächlichen Schmerzen des betroffenen Menschen. Gera-
de durch diese Fehlermöglichkeit kommt der subjektiven Schmerzbeurteilung
des Patienten selbst eine große Bedeutung zu.
Es gibt verschiedene Wege, sich dem Problem der Schmerzmessung zu nä-
hern. Eine Betrachtungsweise bezieht die Merkmale und die Konsequenzen des
Schmerzes mit ein und erfasst:
 die Quantität (Intensität) des Schmerzes
 die Lokalisierung des Schmerzes
 die Qualität des Schmerzes
 die Konsequenzen für verschiedene Lebensbereiche:
o psychische Belastungen durch Schmerzen (Ängste und Depressivität)
o Symptome mit möglichem psychophysiologischem Hintergrund
o gesundheits- und krankheitsbezogene Einstellungen des Patienten
o Bewältigungsstrategien bei Schmerz und bei Stress
o Verhalten in Schmerzsituationen (vgl. Flor 2003).
Eine andere Annäherung an die Erfassung von Schmerzsyndromen basiert
auf den Ergebnissen und Erkenntnissen der Verhaltensmedizin, einer jungen und
38 W. Pipam et al.

interdisziplinären Wissenschaft, die sich mit der Berücksichtigung biologischer,


psychischer und sozialer Faktoren bei der Erklärung der Entstehung und Auf-
rechterhaltung von Gesundheit und Krankheit befasst. Ehlert (2003) fasst die
Kernaussagen über die Verhaltensmedizin wie folgt zusammen:

Definition

Im Kontext einer biopsychosozialen Sichtweise von Gesundheit und Krankheit


ist die Verhaltensmedizin das interdisziplinäre Arbeitsfeld, in dem
1. Gesundheits- und Krankheitsmechanismen unter Berücksichtigung psycho-
sozialer, verhaltensbezogener und biomedizinischer Wissenschaften erforscht
werden und
2. die empirisch geprüften Erkenntnisse und Methoden in der Prävention, Dia-
gnostik, Behandlung und Rehabilitation eingesetzt werden.
In der Verhaltensmedizin wird Schmerz heute als eine Reaktion aufgefasst,
die auf mehreren Ebenen des Organismus ablaufen kann (vgl. Basler 2003):
1. Subjektiv-verbale Ebene:
 Kognitionen: Bewertungen des Schmerzes, Krankheitskonzepte, Über-
zeugungen und Erwartungen
 Emotionen: Angst, Depressivität
 Verbalisationen: Klagen, Stöhnen, Schmerzäußerungen
2. Motorisch-verhaltensmäßige Ebene:
 Mimik
 Gestik
 Körperhaltung
 Schonverhalten
 Einnahme von Medikamenten
 Aufsuchen von Ärzten und Therapeuten
3. Physiologische Ebene:
 vegetative Reaktionen (biologische Aktivierungsreaktionen, z. B. Tonus-
steigerung der Muskulatur)
 Erregung der Nozizeptoren
Da die Schmerzreaktion immer auf allen drei Ebenen mit allerdings unter-
schiedlicher Dominanz ablaufen kann, ist es sinnvoll, sich mit der Diagnostik der
einzelnen Ebenen zu befassen.
Für die Beurteilung des Schmerzgeschehens sind folgende Quellen heranzu-
ziehen:
 Befragung des Patienten und seiner Angehörigen:
Wie stark ist der Schmerz und welche Beeinträchtigungen lassen sich be-
obachten?
Schmerzmessung und Dokumentation 39

 Klinische Untersuchungen:
Welcher Mechanismus liegt dem Schmerz zugrunde – nozizeptiv, neurogen
oder psychogen?
 Funktionelle Einschätzung
 Einschätzung des Verhaltens und der Beeinträchtigung inklusive der Lebens-
qualität

Messmethoden
Es wurden in den letzten Jahren viele Messmethoden entwickelt. Im Folgenden
wird auf die im klinischen Alltag gängigen Methoden eingegangen. Auf Metho-
den zur experimentellen Schmerzmessung wird weitestgehend verzichtet. Die
Einteilung der klinischen Methoden erfolgt in zwei große Blöcke, nämlich in ein-
dimensionale und mehrdimensionale Methoden. Im Schmerzfragebogen soll der
Patient seine Schmerzen beschreiben, einzeichnen, lokalisieren und auch seine
bisherigen Behandlungen und Therapieverfahren dokumentieren.

Eindimensionale Methoden
Messskalen werden dann als eindimensional bezeichnet, wenn sie nur einen
Aspekt erfassen, nämlich die vom Patienten angegebene Schmerzstärke.
Die am häufigsten im klinischen Alltag verwendeten Methoden (s. Abb. 1)
sind die Visuelle Analog-Skala (VAS), die Verbale Rating-Skala (VRS) und die
Numerische Rating-Skala (NRS). Gerade bei Tumorerkrankten im Terminalstadi-
um und unter analgetischer Medikation ist zu beachten, dass die Abstraktionsfä-
higkeit herabgesetzt sein kann. Auch körperliche Schwächen bei Patienten mit
fortgeschrittenen Tumorleiden, z. B. Sehstörungen oder Tremor, können die In-
tensitätsangaben verfälschen.

Visuelle Analog-Skala (VAS)


Die VAS ist exakt 10 cm lang. Sie wird mit einer Ausrichtung von links nach
rechts dem Patienten vorgelegt. Der linke Rand wird mit „kein Schmerz“, der
rechte Rand mit „stärksten vorstellbaren Schmerzen“ bezeichnet. Der Patient
setzt nach eigener Einschätzung der Schmerzstärke ein Kreuz zwischen diese
beiden Endpunkte. Ausgewertet wird auf mm genau. Es liegen auch Formen vor,
bei denen die Patienten nicht schreiben, sondern einen Schieber verstellen kön-
nen, auf der Rückseite ist dann die Schmerzstärke als Ziffer abzulesen (so ge-
nannter Schmerzschieber).

Verbale Rating-Skala (VRS)


Dem Patienten wird eine Frage vorgelegt wie z. B. „Wie stark sind Ihre Schmer-
zen im Moment?“, die er dann auf einer fünfteiligen Skala, welche von 0 (kein
40 W. Pipam et al.

Schmerz), mäßiger, mittelstark, stark bis 5 (stärkster vorstellbarer Schmerz)


reicht, ausfüllt. Der Patient kreuzt dabei den zutreffenden Begriff an.

Numerische Rating-Skala (NRS)


Bei der NRS verteilt der Patient Noten zwischen 0 und 10. Die Note 0 wird für
„kein Schmerz“ und die Note 10 für „stärkster vorstellbarer Schmerz“ verwen-
det. In das zutreffende Kästchen wird der jeweilige Wert eingetragen.
Im Alltag sind diese drei Skalen gut verwendbar, manchmal gibt es bei der VAS
Verständnisprobleme. Allgemein ist hier aber folgende kritische Frage zulässig:
Messen diese drei Skalen wirklich das, was sie vorgeben zu messen?

Visuelle Analogskala (VAS)


Vorderseite:

kein unerträglicher
Schmerz Schmerz

Rückseite:

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

Numerische Ratingskala (NRS)


Geben Sie bitte die Stärke der von Ihnen empfundenen Schmerzen an:

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
kein unerträglicher
Schmerz Schmerz

Verbale Ratingskala (VRS)


Welches Wort beschreibt Ihre aktuelle Schmerzstärke?

stärkster
kein mäßig mittelstark stark
vorstellbarer

Abb. 1. Beispiele für eindimensionale Instrumente zur Schmerzerfassung

Mehrdimensionale Methoden
Diese Skalen zielen darauf ab, komplexere Verarbeitungsmuster auf der subjek-
tiv-verbalen Ebene zu erheben und bestimmte Erwartungen, Überzeugungen
und Einstellungen zum Schmerz zu erfassen. Den Patienten werden Fragebögen
mit Adjektiven vorgelegt, die spontan beschrieben werden sollen, um unter-
schiedliche Schmerzdimensionen herauszuarbeiten. Diese Methoden sind zeit-
lich langwierig, schwierig auszufüllen und überfordern häufig die Patienten.
Schmerzmessung und Dokumentation 41

Im deutschsprachigen Raum haben sich folgende Schmerz-Skalen im klini-


schen Alltag bewährt:
 Schmerzempfindungs-Skala von E. Geissner (1996)
Diese Skala erfasst sowohl den affektiven als auch den sensorischen Anteil
des Schmerzes und ist mit 24 Items rasch zu beantworten.
 Hamburger Schmerz-Adjektiv-Liste (HSAL) von F. Hoppe (1991)
Die HSAL fasst ebenfalls mehrdimensionale Aspekte des Schmerzerlebens.
Die Schmerzquantifizierung erfolgt über vier Dimensionen: Schmerzleiden,
Schmerzschärfe, Schmerzangst und Schmerzrhythmik.
 McGill Pain-Questionnaire (MPQ) von Melzack (1971)
Der MPQ stellt den ersten und wahrscheinlich prominentesten Schmerzfra-
gebogen dar, erfasst sowohl die sensorische als auch die affektive Kategorie
des Schmerzes, ist aber in deutscher Sprache nur eingeschränkt einsetzbar, da
es sprachliche Probleme bei der Übersetzung gibt. Das Ausfüllen dieses Fra-
gebogens setzt einen hohen kognitiven Anspruch voraus.

Schmerzfragebögen
Vor Behandlungsbeginn werden den Patienten standardisierte Schmerzfragebö-
gen zugeschickt, um eine gute Übersicht über die Krankheitsgeschichte, den
Schmerzzustand und die Konsequenzen des Schmerzes zu erhalten.
Beispiel: Strukturiertes Schmerzinterview der Deutschen Gesellschaft zum
Studium des Schmerzes (DGSS-Fragebogen)

Schmerztagebücher
Das Führen eines Schmerztagebuches kann vor allem zu Beginn einer Therapie
sowohl für den Patienten, dessen Familie als auch den Arzt ein gutes Hilfsmittel
sein:
Tagebücher als Mittel der Diagnostik setzen bei einer möglichst ereignis- und
erlebnisnahen Schmerzerhebung an und sind sowohl diagnostisch als auch für
die Therapieevaluation interessant. Der Patient wird in die Handhabung des Ta-
gebuches eingewiesen und im Allgemeinen werden entweder stündlich, mehr-
mals am Tag oder beim Auftreten von Schmerzen die Schmerzintensität, die
Schmerzqualität und die Schmerzdauer sowie Art und Umfang der Beeinträchti-
gung erhoben. Aktivitäten, Medikamenteneinnahme, Stimmung, belastende Er-
eignisse können ebenfalls dokumentiert werden und liefern einen umfassenden
Beitrag zur Erfassung des Schmerzgeschehens und seiner Konsequenzen.
Schmerztagebücher sollten in einem für den Patienten überschaubaren Zeitraum
ausgefüllt werden. Die Frequenz sollte sachlich begründet sein, weil dadurch die
Compliance verbessert wird und möglicherweise bereits vorhandene hypo-
chondrische Tendenzen bzw. unangemessenes Gesundheitsverhalten weniger
verstärkt werden (O. B. Scholz 1995). Dem Patienten muss verstehbar erklärt
werden können, warum und wie ihm das Ausfüllen des Schmerztagebuches zu-
42 W. Pipam et al.

gemutet wird. Aus der Praxis ergibt sich aber die Erkenntnis, dass mitunter bis zu
zwei Wochen Beobachtungszeitraum reicht, da sonst die Compliance der Patien-
ten deutlich nachlässt. Als Beispiel eines Schmerztagebuches wird jenes von Ber-
natzky und Likar (2007) angeführt.

Psychophysiologische Methoden
Mittels psychophysiologischer Untersuchungsmethoden (Biofeedback) können
zweierlei Fragestellungen beantwortet werden: Zum einen kann die individuelle
Stressreaktion, die durch den Schmerz beim Patienten ausgelöst wird, sichtbar
gemacht werden. Es werden beim Patienten physiologische Parameter wie
elektrodermale Aktivität, Pulsfrequenz, Atemfrequenz, Hauttemperatur, Muskel-
spannung gemessen und sichtbar gemacht, der Patient erhält eine sofortige
Rückmeldung seines momentanen psychophysiologischen Zustandes.
Zum zweiten liegt die Überlegung zugrunde, dass für die Entstehung und
Aufrechterhaltung von Schmerzen ein intraindividuelles Reaktionsmuster eine
Rolle spielen kann, z. B., dass Patienten auf alle unspezifisch anfallenden Stresssi-
tuationen mit einer Erhöhung des Muskeltonus reagieren. Diese Reaktionsmus-
ter können ebenfalls den Patienten im Rahmen eines biopsychosozialen Modells
vermittelt werden (näheres dazu siehe Kapitel „Biofeedback“ in diesem Buch).

Fragebögen zur Erfassung des psychischen Zustandes


Vor allem chronische Schmerzen sind häufig mit Angstzuständen und depressi-
ven Zustandsbildern assoziiert. Die gängigen Verfahren sind im Folgenden auf-
gelistet:
 Hospital Anxiety and Depression Scale – Deutsche Version (HADS-D)
von Hermann-Lingen, Buss und Snaith
HADS-D stellt ein Verfahren zur Selbstbeurteilung von Angst und Depressivi-
tät bei Erwachsenen mit körperlichen Beschwerden bzw. körperlichen Er-
krankungen dar. Dieses Verfahren hat auch noch den zusätzlichen Vorteil,
dass es auf körperliche Indikatoren psychischen Befindens verzichtet, die ja in
der untersuchten Klientel häufig der Ausdruck der körperlichen Krankheit
und nicht der psychischen Störung sind.
 Allgemeine Depressionsskala (ADS) von Hautzinger und Bailer (1993)
Das ADS ist ein Selbstbeurteilungsinstrument, welches das Auftreten und die
Dauer der Beeinträchtigung durch depressive Affekte, körperliche Beschwer-
den, motorische Hemmung und negative Denkmuster erfragt. Es lässt sich
gut als Screening-Methode in der epidemiologischen Forschung einsetzen.
 Beck-Depressions-Inventar (BDI) von Hautzinger (1995)
Das BDI stellt ein Selbstbeurteilungsverfahren zur Erfassung des Schwere-
grades einer depressiven Symptomatik dar und ist anzuwenden, wenn in der
HADS-D erhöhte Depressionswerte diagnostiziert wurden.
Schmerzmessung und Dokumentation 43

 Hamilton-Depressionsskala (HAMD) nach Hamilton (1960)


Der HAMD ist ein Fremdbeurteilungsinstrument zur Erfassung des Schwere-
grades der Depression durch einen Interviewer und stellt gleichsam den Ever-
green unter den Depressionsfragebögen dar.
 Screening für somatoforme Störungen (SOMS) von Rief, Hiller und
Häuser (1997)
Das SOMS dient der Klassifikation, Quantifizierung und Verlaufsbeschrei-
bung von Patienten mit somatoformen Störungen.

Da in der Behandlung von Schmerzpatienten immer häufiger die Diagnosen


einer „Posttraumatischen Belastungsstörung“ sowie von „Persönlichkeitsstörun-
gen“ getroffen werden, empfiehlt es sich, bei Bedarf folgende Verfahren anzu-
wenden:
 Strukturiertes Klinisches Interview nach DSM-IV für Achse I und
Achse II (SKID I, II) von Wittchen et al. (1997)
Strukturiertes Interview zur Erfassung des Psychopathologischen Status in-
klusive Persönlichkeitsstörungen.
 Impact of Event Scale (IES) von Horowitz et al. (1979, deutsche Fassung
nach Maercker und Schützwohl 1998)
Zur Erfassung einer Posttraumatischen Belastungsstörung.

Fragebögen zur Erfassung der Behinderung durch Schmerzen


 Pain-Disability-Index (PDI), deutsch von Nilges (1997)
 Funktionsfragebogen Hannover (FFbH) von Kohlmann (1996)
Anwendungsbereich: Patienten mit Rückenschmerzen

Fragebögen zum Gesundheitszustand und zur Lebensqualität


 SF-36
Der SF-36 Fragebogen zum Gesundheitszustand von Bullinger und Kirchber-
ger (1998). Die Einsatzmöglichkeiten des SF-36 liegen im klinischen Bereich
und in der epidemiologischen Forschung. Der SF-36 ist ein krankheits-
übergreifendes Messinstrument zur Erfassung von acht Dimensionen der
gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Dazu gehören körperliche Funktions-
fähigkeit, körperliche Rollenfunktion, körperliche Schmerzen, allgemeine
Gesundheitswahrnehmung, Vitalität, soziale Funktionsfähigkeit, emotionale
Rollenfunktion und psychisches Wohlbefinden.

 WHO-QOL
Der WHO-QOL 100 von Angermaier, Killian und Matschinger (2002) ist ein
Instrument zur Erfassung der subjektiven Lebensqualität.
44 W. Pipam et al.

Fragebögen zur Bewältigung von Schmerz


 Freiburger Fragebogen – Stadien der Bewältigung chronischer Schmer-
zen (FF-STABS) von Maurischat, Härter und Bengel (2006)
Der FF-STABS ermöglicht es, die individuelle motivationale Bereitschaft zu
ermitteln, an der Schmerzbehandlung überhaupt mitzuwirken bzw. sich auf
Schmerzprogramme einzulassen. Mit diesem Fragebogen liegt erstmals ein
geeignetes Verfahren zur Erfassung der Motivationslage von Patienten vor.

Schmerzerfassung bei Kindern

Bei Säuglingen und Kleinkindern werden Fremdbeobachtungsskalen verwendet.


Die Beurteilung bei Kindern bis 5 Jahren kann man mit einem objektiven Pain-
Score durchführen. Zwischen 5 und 7 Jahren können einfache Schätzskalen bzw.
Gesichtsskalen (sogen. Smiley Analogskalen) eingesetzt werden (z. B. KUSS =
Kindliche Unbehagens- und Schmerzskala). Ab dem 6. bis 7. Lebensjahr können
Kinder ihr Zahlenverständnis in der Beurteilung der Schmerzstärke einbringen.
Ab diesem Alter kann man numerische Schätzskalen, die von 0 = kein Schmerz
bis 10 bzw. 100 = max. vorstellbarer Schmerz oder visuelle Analogskalen anwen-
den. Bei Problemen in der Schmerzmessung müssen vor allem die Erfahrungen
der Eltern herangezogen werden.

Schmerzerfassung beim geriatrischen Patienten

Der geriatrische Patient hat dieselbe Schmerzverarbeitung wie ein junger


Mensch. Er hat häufig bestimmte Strategien im Umgang mit Schmerz gelernt.
Häufig sind die Schmerzangaben ungenau oder stark abgeschwächt. Neue Un-
tersuchungen zeigen, dass – ähnlich wie bei Kleinkindern – auch einfache Ge-
sichtsskalen Verwendung finden können. Es ist auch auf verschiedene andere
Ausdrucksverhalten wie zum Beispiel die Körperhaltung Rücksicht zu nehmen.
Erfahrenes Pflegepersonal oder Verwandte haben dabei in der Beobachtung eine
besonders wichtige Aufgabe.
Die Anamnese muss mit viel Sorgfalt und Geduld geführt werden. Oftmals
haben sich Angaben anderer Familienmitglieder als hilfreich gezeigt. Indirekte
Schmerzzeichen sind angespannter Gesichtsausdruck, Verwirrtheit, Schlaflosig-
keit sowie Verschlechterung des Allgemeinzustandes und sollten Beachtung fin-
den.

Zusammenfassung

Die Aufzählung sowohl eindimensionaler als auch mehrdimensionaler Verfahren


zur Schmerzmessung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie soll aber
Schmerzmessung und Dokumentation 45

einen Überblick darüber geben, was derzeit in der Diagnostik des Schmerzes
möglich ist. Die vielfältigen Möglichkeiten sollen auch nicht zu einer Überforde-
rung der Patienten führen. Jede schmerztherapeutische Einrichtung soll eine
mehrdimensionale Diagnostik verwenden, denn zu einer guten und adäquaten
Schmerztherapie gehört eben auch eine gute Schmerzdiagnostik. Pflegepersonen
sollen vermehrt in die Handhabung der verschiedenen Messmethoden einge-
bunden werden. Ihnen obliegt es sehr oft mit dem Patienten über dessen
Schmerzen zu kommunizieren.

Literatur
Basler HD, et al (Hrsg) (2003) Psychologische Schmerztherapie: Grundlagen, Diagnostik,
Krankheitsbilder, Behandlung, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
Bernatzky G, Likar R (2007) Schmerztagebuch, 2. Aufl. Clara Lumina, Salzburg
Ehlert U (2003) Was ist eigentlich Verhaltensmedizin? In: Ehlert U (Hsg) Verhaltensmedizin.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
Flor H (2003) Chronische Schmerzsyndrome. In: Ehlert U (Hrsg) Verhaltensmedizin. Springer,
Berlin Heidelberg New York Tokyo
Testzentrale Göttingen (2006) Testkatalog 2006/2007 der Testzentrale Göttingen. Hogrefe, Göt-
tingen
Scholz OB (1995) Was leisten Schmerztagebücher? Schmerz 9: 107–116

Links
Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes: http://www.dgss.org/
Weitere Literaturzitate: Bei den Autoren
Revision

Wirkung ohne Wirkstoff –


der Placebo/Noceboeffekt

R. LIK AR und G. BERNATZKY


R. Likar und G. Ber natzk y
Wirkung ohne Wirkstoff – der Placebo/Noceboeffekt

Das Wort „Placebo“ wurde zum ersten Mal 1340 von Geoffrey Chaucer in
Anspielung auf den Psalm 116,9 spöttisch benutzt, dessen erste Zeile „Placebo
Domino in regione vivorum“ („Ich werde dem Herrn gefallen im Lande der Le-
benden“) lautet und der von Priestern und Mönchen mit Eifer und gegen Entgelt
für den Toten gesungen wurde (Moore et al. 2003). Zunächst wurde der Begriff
als in „das Placebo singen“ benutzt, um auszudrücken, dass jemandem nach
dem Mund geredet wird. Das lateinische Wort „placebo“ bedeutet „ich werde
gefallen“. Bereits im 17. Jahrhundert hatten Mediziner in England „inaktive“
Medikamente als Placebo bezeichnet. Als Medikament ohne Wirkstoff, aber mit
großer Wirkung machte das Placebo in den letzten Jahrzehnten eine besondere
Karriere. In der modernen Medizin werden Placebos unter anderem erfolgreich
bei der klinischen Prüfung von Medikamenten eingesetzt. Dabei wird ein be-
stimmtes Arzneimittel und ein ihm nachgebildetes Scheinmedikament ohne
dessen entscheidende Wirkstoffe in ihrer Wirkungsweise verglichen. Auf diese
Weise sollen die pharmakodynamischen Effekte des „echten“ Arzneimittels von
seinen immer auch vorhandenen unspezifisch-therapiefördernden Wirkungen
getrennt werden. Das Konzept über das Placebo hat sich in den letzten zehn Jah-
ren deutlich geändert: Die Wirksamkeit der Placebos konnte in vielen Studien
und in einer Vielzahl von Metaanalysen mit hohen Effektstärken belegt werden.
Die Wissenschaftler versuchten verstärkt, die Wirkungen der Psyche auf den
Körper zu erkunden. Nach neuen Erkenntnissen beruhen die nachgewiesenen
Heilwirkungen von Placebos auf den Erwartungen und Wünschen, der Kondi-
tionierung und dem Glauben der PatientInnen. „The placebo response is the
fulfillment of an expectation.“ („Der Placeboeffekt ist die Erfüllung der Erwar-
tung.“), sagte schon der große Schmerzforscher Wall im Jahre 1999.
Placebos haben heute eine Bedeutung in vielen Bereichen: Sie beeinflussen
das Gehirn in verschiedenen pathologischen Zuständen wie Schmerz, Parkinson
48 R. Likar und G. Bernatzky

und Depression. Sie haben aber auch Wirkungen auf verschiedene andere
Systeme wie das Immun- bzw. das endokrine System.
Gleichzeitig haben die neuen Untersuchungen zahlreiche Fehlmeinungen
zum Placeboeffekt aufgedeckt:

Die häufigsten Irrtümer oder Missinterpretationen sind

 Man war bisher der Meinung, nur eine bestimmte Prozentanzahl (ca. ein
Drittel) von PatientInnen würde bei gewissen Interventionen auf Placebo rea-
gieren. Nun zeigten verschiedene Studien, dass der Anteil von Placeboreak-
tionen stark differiert (s. Tabelle 1).

Tabelle 1. Responserate mit Placebo unter verschiedenen klinischen Bedingungen bei


akuten und chronischen Schmerzen (Moore et al. 2003)

Schmerzart Behandlung Besserung Dauer Anzahl der %


Patienten Schmerz-
mit Placebo linderung
mit Placebo
Akuter postoperativer Orale Analgetika zumindest 4–6 Std. 12000 18
Schmerz 50 %
Verstauchung, Topische zumindest 7 Tage 3239 39
Zerrung NSAIDS 50 %
Migräne Orales Triptan kein bis 2 Std. 3148 28
leichter
Schmerz
Migräne Orales Triptan Schmerzfrei 2 Std. 2661 7

Menstruations- Orale Analgetika zumindest Ca. 1 Tag 1607 22


beschwerden 50 %
Trigeminusneuralgie Antiepileptika zumindest 3–7 224 18
50 % Monate
Diabetische Trizyklische zumindest 3–7 200 36
Neuropathie Antidepressiva 50 % Monate
Diabetische Topisches zumindest 4–8 165 49
Neuropathie Kapsaizin viel besser Wochen
Atypischer Triyklische zumindest 3–7 85 35
Gesichtsschmerz Antidepressiva 50 % Monate
Postherpetische Trizyklische zumindest 3–7 68 12
Neuralgie Antidepressiva 50 % Monate

 Falsifiziert werden konnte die Meinung, dass der Placeboeffekt desto größer
ist, je größer der Effekt der Behandlung ist. In verschiedenen Studien wurde
vielmehr bewiesen, dass es keinen fixen Anteil von Placeboresponse gibt.
Wirkung ohne Wirkstoff – der Placebo/Noceboeffekt 49

 Es stimmt nicht, dass der Anteil von Placeboantworten umso höher ist, je
invasiver die Methode der Behandlung ist. Wissenschaftliche Studien zeigen,
dass die Placebowirkung von Medikamenten keineswegs höher ist, wenn sie
intramuskulär gespritzt werden, als wenn sie als Tabletten oder in Form von
Nasenspray verabreicht werden (s. Tabellen 2 und 3).
Tabelle 2. Responserate von Placebos bei akutem postoperativem Schmerz bei oraler und
intramuskulärer Verabreichung der Placebos

Aktive Intervention Route Zahl der %-Anzahl mit


Placebo mindestens
50% Schmerz-
linderung
Alle Placebos Oral und IM > 12,000 18
Aspirin 600/650 mg Oral 2562 16
Ibuprofen 400 mg Oral 2183 14
Paracetamol 600/650 mg Oral 613 22
Paracetamol 600/650 mg plus Oral 432 20
Codein 60 mg
Tramadol 100 mg Oral 414 8
Morphin 10 mg IM 460 16
Ketorolac 30 mg IM 183 23

Tabelle 3. Responserate von Placebo bei akuter Migräne bei oraler Verabreichung und sol-
cher mittels Injektion der Placebos

Verabreichungsart Anzahl Versuche 2-h-Kopfschmerz %-Anzahl der


Response mit Placebo Responder (95% CI)
(Anzahl/gesamt)
Oral 30 875/3148 28 (26 von 29)
Subkutan 14 382/1257 30 (28 von 33)
Intranasal 6 205/650 32 (28 von 35)

 Ebenso konnte gezeigt werden, dass Placebos im Gegensatz zu früheren An-


nahmen nicht nur bei psychischen Erkrankungen wirken. Man war früher der
Meinung, Placebos wären zur Differenzierung zwischen somatischen und
psychischen Erkrankungen geeignet. Vielmehr ist nun gut belegt, dass Place-
bos auch bei Operationen bzw. bei vielen Beschwerden organischer Genese,
z. B. Karzinomschmerzen oder Parkinsonsymptomen wirksam sind.
 Schließlich wurde auch die Annahme widerlegt, dass PatientInnen, welche
auf Placebos reagieren, besondere psychische Merkmale haben. Es gibt keine
Anhaltspunkte dafür, dass die Empfänglichkeit für Placebowirkungen mit ei-
ner bestimmten psychischen Eigenschaft oder psychiatrischen Erkrankung in
Zusammenhang steht.
50 R. Likar und G. Bernatzky

Wie Placebos wirken

Neue Untersuchungen zum Placeboeffekt erbrachten unter anderem folgende


Ergebnisse:
 Unterschiedliche Medikamente, diverse medizinische Behandlungen, wie
Operationen, Biofeedback, transkutane Nervenstimulation (TENS), Akupunk-
tur, Psychotherapie und diagnostische Eingriffe können eine Placeboantwort
auslösen.
 Die Häufigkeit der Placeboreaktionen ist verschieden: Bei klinischen Schmer-
zen kommen sie häufiger vor als bei experimentell ausgelösten Schmerzen.
Generell wird von einer Placeboanalgesie gesprochen, wenn durch das
Scheinmedikament die Schmerzintensität um mehr als die Hälfte des Aus-
gangswertes reduziert wird. Wichtig sind die Erwartungen, die in ein Placebo
gesetzt werden. Wird einem Placebomedikament eine hohe schmerzlindern-
de Wirkung zugesprochen, so ist auch die Placeboreaktion stärker. Dies konn-
te besonders beim Einsatz von Placebos zur Behandlung von Karzinom-
schmerzen beobachtet werden.
 Die Wirkdauer von Placeboreaktionen ist sehr unterschiedlich. Sie kann von
einer Stunde bis Tage und Monate anhalten.
 Ein Placebo kann auch negative Wirkungen haben. In diesem Fall spricht man
von einem Nocebo. So können spezifische unerwünschte, aber als „normal“
erwartete Nebenwirkungen einer Therapie auch durch eine Placebomedika-
tion hervorgerufen werden (Barsky et al. 2002).

Neue Forschungen

Die internationale Forschungsgemeinde ist den Geheimnissen der Placebowir-


kung gerade in den letzten Jahren ein gutes Stück näher gekommen: Der Place-
boeffekt kann nur unter Laborbedingungen in experimentellen Studien unter-
sucht werden. Bei klinischen Untersuchungen ist es kaum möglich, alle dafür
ausschlaggebenden Faktoren adäquat zu kontrollieren, da man ja auch den na-
türlichen Verlauf einer Krankheit bei der Beurteilung eines Placeboeffektes ins
Kalkül ziehen muss (Price 2001). Die mittlere Größe des placeboanalgetischen
Effektes kann man nur bei einer Gruppe von Patienten messen, wenn man eine
Gruppe ohne Behandlung, eine andere Gruppe mit Placebo behandelt und die
Ergebnisse vergleicht. Das bedeutet, wenn man nur eine Placebogruppe allein
hat, heißt es nicht, dass man hier den wirklichen Placeboeffekt misst.
Viele Studien haben den Placeboeffekt untersucht und die verbale Suggestion
zur Analgesie benutzt. Weiters gibt es Untersuchungen, bei denen verbale Erwar-
tungen von Schmerzreaktionen indiziert wurden. Die Assoziation zwischen dem
Kontext, bei welchem der Patient behandelt wird (konditionierter Stimulus) und
dem Painkiller (unkonditionierter Stimulus) kann gelernt werden durch die Er-
wartungshaltung. Es gibt eine Evidenz, dass die Verabreichung von Placebo
Wirkung ohne Wirkstoff – der Placebo/Noceboeffekt 51

kombiniert mit der Vermutung, dass es ein Schmerzkiller ist (verbaler Kontext)
den Schmerz durch einen Opioid- und Nicht-Opioidmechanismus reduziert.
Der Opioidmechanismus (endogene Endorphinfreisetzung) kann durch Naloxon
blockiert werden, der Nicht-Opioidmechanismus (Erwartungshaltung) kann
nicht durch Naloxon blockiert werden (Colloca und Benedetti 2005).

Placebo und Schmerz


Der Placeboeffekt bei Schmerzen wird also bestimmt von Faktoren wie der klas-
sischen Konditionierung, dem Wunsch der PatientInnen nach Schmerzlinderung
und ihrer Erwartungshaltung. So kann die wiederholte Gabe von effektiven
Analgetika den Placeboeffekt erhöhen, da damit die Erwartungshaltung steigt.
Der Grad der Erwartung bei den PatientInnen bestimmt also die Größe des Pla-
ceboeffektes wesentlich mit. So ist auch zu erklären, warum ein Placebo effekti-
ver ist, wenn man es nach einer Behandlung mit wirksamen Analgetika verab-
reicht, als wenn nach einer ersten Placebobehandlung eine weitere durchgeführt
wird. Wesentlich für die Placebowirkung ist auch das Umfeld, in dem der Patient
behandelt wird. Besonders wichtig sind die Worte, die der Arzt benützt. Die
Überzeugungskraft und der Charme des Arztes sowie die Umgebung dürften
ebenso wichtig sein, wie etwa die Farbe der Tablette! Das durch Placebo aktivier-
te endogene Opioidsystem hat eine präzise somatotopische Organisation. Eine
hohe spezifische Placeboantwort kann in spezifischen Teilen des Körpers hervor-
gerufen werden. Diese lokale Placeboantwort kann durch Naloxon blockiert wer-
den. Das Nicht-Opioidsystem kommt hingegen in Gang, wenn es gelingt, im Pa-
tienten die Erwartung zu wecken, dass seine Schmerzen gestillt werden. In einer
Studie, in der Patienten mit chronischen Schmerzen mit Placebos behandelt
wurden, konnte nachgewiesen werden, dass bei jenen Personen, bei denen es zu
einer Placeboantwort kommt, eine höhere Konzentration von Endorphinen im
zerebralen Liquor nachweisbar ist (s. Abb. 1). Es konnte auch gezeigt werden,
dass ein Placebo die nozizeptive Transmission, das heißt die Weiterleitung der
Schmerzreize entlang der Schmerzbahnen im Rückenmark reduziert. Diese Pla-
ceboantwort, verursacht durch die starke Erwartungshaltung, ist unempfindlich
gegenüber Naloxon.
Placeboverabreichung kombiniert mit verbaler Beeinflussung der Analgesie
beruht also auf Opioid- oder Nicht-Opioidmechanismen durch Erwartung
und/oder Konditionierungssysteme. Bei einer Erwartung werden endogene
Opiate im Opioidsystem stimuliert. Erwartungshaltung eines besseren therapeu-
tischen Effektes scheint eine Rolle bei Schmerz, bei Parkinson und bei Depressi-
on zu spielen. Das Beta-adrenergische sympathetische System des Herzens ist
während der Placeboanalgesie gehemmt. Obwohl der vorliegende Mechanismus
nicht bekannt ist, könnte die Reduktion von Schmerz selbst oder die direkte Wir-
kung durch endogene Opioide hervorgerufen werden.
Die Konditionierung hingegen wirkt über ein Nicht-Opioidsystem. Hierbei
hat die Konditionierung auf das Immun- und Hormonsystem einen Einfluss.
Dabei sind frühere Erfahrungen von Bedeutung.
52 R. Likar und G. Bernatzky

Abb. 1. Übersicht der Wirkung von Placebo und Nocebo auf das Schmerzsystem. Ersicht-
lich sind die jeweiligen Wege, in denen es zu biochemischen Reaktionen kommt. (Ent-
nommen aus: IASP Pain Clinical Updates 2007)

Der Noceboeffekt

Der Noceboeffekt ist die Umkehr des Placeboeffekts, wobei die Erwartung eines
negativen Ereignisses zu einer Verschlechterung eines Symptoms führen kann (s.
Abb. 1). Dabei können allein schon negative begriffliche Vorstellungen (Wörter)
Angst über die Zunahme von Schmerzen auslösen (Benedetti et al. 2004; 2007).
Das beeinflusst wiederum die Aktivierung von Cholezystokinin (CCK), die er-
neut die Schmerzübertragung verstärkt. CCK-Antagonisten (z. B. Proglumid)
hingegen blockieren diese durch Angst ausgelöste Hyperalgesie. Damit hebt
CCK die Wirkung der endogenen Opioide auf und antagonisiert die Placebo-
analgesie. Dieser Botenstoff wird bei Angst in der Darmschleimhaut gebildet und
löst im Gehirn eine Schmerzreaktion aus. CCK kann auch – falls Patienten zu
große Ängste bzw. Erwartungshaltungen haben – für die gehäuften Nebenwir-
kungen bei der Einnahme von Medikamenten verantwortlich sein. Wird z. B. bei
Patienten, die nach einer Operation anfälliger für Angst sind, der Wirkstoff
Proglumid verabreicht, so ist Angst und Panikreaktion deutlich reduziert.
Proglumid blockiert die Wirkung von CCK, ist aber gleichzeitig kein Schmerzkil-
ler. CCK hat nicht nur auf die Bewegungen des Darms eine Bedeutung, sondern
steuert auch Angst und Panikreaktionen, was letztlich eine Schmerzreaktion zur
Folge hat. Während die Hyperalgesie ausgelöst wird, kommt es zu einer Steige-
rung der Stresshormone ACTH und Kortisol. Der Noceboeffekt kann in der
Praxis beobachtet werden, wenn negative Diagnosen gestellt werden: Hier kann
es dazu führen, dass auf Grund der negativen Erwartungshaltung die vermuteten
Symptome noch mehr verstärkt werden. Damit ist die Behandlung beeinträch-
tigt. Negative Gesundheitswarnungen von Massenmedien im Westen bzw.
Wirkung ohne Wirkstoff – der Placebo/Noceboeffekt 53

„Black magic“ wie „Voodoo magic“ in anderen Gesellschaften haben in der Wir-
kung von verschiedenen Therapien eine entscheidende große Rolle und können
zur Verschlechterung des Zustandes führen!

Den Placeboeffekt für die Praxis nützen

In der Praxis kann sowohl der Placeboeffekt als auch der Noceboeffekt regelmä-
ßig beobachtet werden: Auch wenn viele Details zum Placeboeffekt immer noch
im Dunkeln liegen, sollten einige Erkenntnisse dazu bereits jetzt Eingang in die
Praxis finden. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass mit Hilfe der Placeboanal-
gesie in bestimmten Fällen die Gabe von Schmerzmitteln deutlich reduziert wer-
den könnte. Damit ist es auch möglich, die negativen Nebenwirkungen dieser
Medikamente zu verringern.
Manche neuen Erkenntnisse zum Placeboeffekt lassen sich aber jetzt schon
nützen. Die Wirksamkeit von „echten“ Schmerzmitteln kann nämlich durch be-
wusstes Hervorrufen des Placeboeffektes noch gesteigert werden. Der auf diese
Weise optimierte Therapieeffekt beinhaltet den „Nettoeffekt“ des Medikaments
plus der Placeboantwort. Wie bereits festgestellt, spielt – nicht nur – für die Pla-
cebowirkung die durch den Arzt beim Patienten geweckte positive Erwartungs-
haltung eine große Rolle. Voraussetzung einer jeden guten Therapie ist demnach,
dass der Arzt mit den PatientInnen ein Vertrauensverhältnis aufbaut und über
reelle Heilungschancen spricht. Die hohe Bedeutung der Zuwendung durch die
Pflegepersonen sei in diesem Zusammenhang erwähnt! Zuwendung kann
Stressreaktionen des Körpers senken. Auch dadurch werden die Selbstheilungs-
kräfte des Körpers angeregt. Die nachfolgenden Therapiemaßnahmen wirken
besser.
Die Placeboantwort ist nicht limitiert auf das Gebiet der Schmerzlinderung.
Sie ist ebenso unter anderen Bedingungen anwesend. Placeboinduzierte Erwar-
tungen zur Verbesserung der Motorik bei Patienten mit Parkinson haben gezeigt,
dass sie das endogene Dopaminsystem im Striatum aktivieren und Übungsmus-
ter der Neurone im subthalamischen Kern verändern. Es wurde angenommen,
dass placeboinduziertes Freisetzen von Dopaminen den Belohnungseffekt ver-
stärkt (Colloca et al. 2005). Es ist wichtig, die Interaktion zwischen dopaminergen
und Opioidsystemen zu erkennen. Endogene Opioidpeptide sind auch in den
Belohnungsmechanismus involviert. Der reduzierende Placeboeffekt durch ver-
steckte Behandlungen (der Patient sieht nicht, welches Medikament verabreicht
wird) scheint nicht nur die Schmerzlinderung zu reduzieren, sondern auch den
Erfolg bei anderen Behandlungsmethoden, wie z. B. bei der oben erwähnten Par-
kinsonerkrankung, zu reduzieren (Benedetti et al. 2004). Um im klinischen Alltag
den Placeboeffekt besser zu verstehen, müssen wir eine neue klinische Suche
entwickeln, neue therapeutische Protokolle erstellen, um die Verbindung Medi-
kamente – Placebos zu erforschen mit dem Ziel, dass damit die Einnahme von
toxischen Medikamenten und damit auch die Nebenwirkungen reduziert werden
(Gracely et al. 1985).
54 R. Likar und G. Bernatzky

Gleichzeitig ist es notwendig, den Impact der Placeboforschung auf die Ge-
sellschaft auszuweiten und die positiven und negativen Aspekte zu erforschen
(Davis 2002). Wir können und müssen die neuen Erkenntnisse des Placeboeffek-
tes, welcher durch die Erwartung, die Konditionierung, die Wünsche und den
Glauben des Patienten bestimmt ist, für die Therapie nutzen. Der optimierte
Therapieeffekt ist der Nettoeffekt des Medikaments plus dem Placeboeffekt
(Fields und Price 1997). Für den Placeboeffekt spielt neben dem endogenen
Opioidsystem auch die Erwartungshaltung eine große Rolle. Aus diesem Grund
ist Voraussetzung einer guten Therapie, dass zwischen Patient und Arzt die Er-
wartungshaltung (reelle Therapieziele) offen dargelegt werden (Price 2005). Da-
bei können auf jeden Fall die Pflegepersonen unterstützend eingreifen. Nicht nur
Medikamente und Behandlungen spielen eine Rolle, sondern auch das gespro-
chene Wort. Benedetti konnte z. B. zeigen, wie eine neutrale Substanz nur durch
verbale Informationen entweder einen Placebo- oder einen Noceboeffekt erzeu-
gen kann.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bedeutung des Wissens um
Placebos und Nocebos inzwischen derart groß ist, dass deren Wirksamkeit in die
neue AWMF-Leitlinie „Perioperative und posttraumatische Schmerztherapie“
aufgenommen wurde. Weitere Untersuchungen zur Placebowirkung sind bis
heute ein für die medizinische Praxis wichtiges Anliegen. Die Notwendigkeit der
gezielten Information zwischen dem Erlangen eines additiven Effektes der rein
pharmakologischen Wirkungen und den psychologischen Wirkungen (Placebo-
effekt) sowie der Trennung von der Gefahr, durch negative Einflüsse einen
Noceboeffekt zu erreichen, liegt vor! Angesichts der Zunahme älterer Menschen
und damit auch der Zahl von SchmerzpatientInnen nicht nur in den westlichen
Industrieländern sind wir mit ständig steigenden Gesundheitskosten konfron-
tiert. Es wäre deshalb sowohl im Hinblick auf den Einzelnen wie auch auf die
Gesamtgesellschaft sinnvoll, die positiven Placeboeffekte in der Schmerzbehand-
lung und darüber hinaus besser zu nützen. Menschen mit hoher Erwartungshal-
tung über die schmerzhemmende Wirkung benötigen weniger Medikamente als
Menschen mit einer geringeren Erwartungshaltung. So zeigte sich auch, dass
Menschen, die vor einer Operationen besonders gut über die kommende Opera-
tion informiert wurden, weniger Schmerzen und weniger Medikamente nach der
Operation benötigten.
Dieser Beitrag versteht sich somit auch als Anregung, die schmerzlindernden
und gesundheitsfördernden Eigenschaften von Placebos – als solche können
nicht nur Medikamente sondern z. B. auch Akupunkturbehandlungen eingesetzt
werden – sowohl in Forschung wie Praxis stärker zu beachten. Zumal durch
Nutzung der Placebowirkung ein weiteres wichtiges Ziel erreicht werden kann,
nämlich die stärkere Einbeziehung der PatientInnen in den Behandlungsprozess.
Wie man heute weiß, hängt nämlich die schmerzlindernde oder sonstige positive
Wirkung eines Placebos wesentlich von den Erwartungen der Kranken ab bzw.
davon, ob ein Vertrauensverhältnis zwischen Behandler und Behandeltem aufge-
baut werden kann. Positive Erwartungshaltung und Selbstwirksamkeitsüberzeu-
gung des Patienten sind also wichtige Helfer des Arztes bei der Behandlung von
Wirkung ohne Wirkstoff – der Placebo/Noceboeffekt 55

Schmerzen. Andererseits ist durch Studien belegt, dass bei „versteckter“ Verab-
reichung eines Placebos (der Patient sieht nicht, welches Medikament er erhält)
auch die schmerzlindernde Wirkung oder auch der Erfolg einer Behandlung mit
Placebo bei Parkinsonerkrankung zumindest reduziert erscheint, wenn nicht
ganz wegfällt. Beide Ergebnisse verweisen auf jene Möglichkeiten, die „richtig“
eingesetzte Placebos in der Praxis eröffnen.

Literatur
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Moore A, Edwards J, Barden J, MacQuay H (2003) Bandolier’s little book of pain. Oxford Uni-
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nocebo phenomenon. JAMA 287: 622–627
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IASP Pain Clinical Updates (2007) Placebo Analgesia, Nocebo Hyperalgesia, Vol. XV, Issue 1,
1–4, p. 2
Revision

Kommunikation und Interaktion mit Patienten

G. GATTERER
G. Gatterer

Einleitung

Die Betreuung und Behandlung von Menschen erfordert neben der pflegerischen
und medizinischen Kompetenz auch die Fähigkeit, eine therapeutische Bezie-
hung zu den betroffenen Menschen, aber auch den Angehörigen und dem Be-
handlungsteam herzustellen.
Im Mittelpunkt der gemeinsamen Bemühungen steht die Person des Patien-
ten, ihre Erwartungen und Wünsche. Sein Wohlbefinden und eine bestmögliche
Behandlung und Betreuung müssen das gemeinsame Ziel sein. Um dieses Ziel
zu erreichen, sind viele Gespräche zwischen Patient, Angehörigen und multipro-
fessionellem Team notwendig. Der vorliegende Beitrag soll die Bedeutung und
die Bedingungen für eine gute Kommunikation sowohl theoretisch als auch an-
hand praktischer Beispiele erläutern (vgl. auch Gatterer 2007; Fitzgerald 2001;
Hirsch 1997).

Allgemeine Aspekte der Kommunikation

Definition
Kommunikation ist die gerichtete Informationsübertragung von einem Sender
(der Person, die etwas mitteilen möchte) zu einem Empfänger (der Person, wel-
che die Nachricht erhält). Sie ist eine allgemeine und umfassende Bezeichnung
für den Prozess, wo ein Sender einem Empfänger mithilfe eines Kommunika-
tionsmittels (Sprache, Zeichen, Schrift etc.) eine bestimmte Nachricht überträgt,
auf die eine Erlebens- und Verhaltensänderung eintritt.
Wir unterscheiden senden (sprechen, Zeichen geben, ...) und empfangen
(zuhören, hinsehen, ...), sowie verbale und nonverbale Kommunikation. Ein Groß-
teil der Kommunikation läuft über nonverbale Kanäle und ist deshalb sehr stö-
rungsanfällig. Nonverbale Kommunikation unterscheidet nach sender-spezifi-
58 G. Gatterer

schen Faktoren, die für den Empfänger wahrnehmbare Signale produzieren (z. B.:
Mimik, Blickverhalten, Gestik, Geruch, Körperhaltung) und solchen, die durch
den Empfänger beim Dekodieren (bewerten, einschätzen, etc. einer Nachricht auf-
grund von Erfahrungen) und Reagieren auf nonverbale Botschaften entstehen.
Jede Nachricht benötigt auch ein bestimmtes Medium (Sprache, Zeichen, ...),
durch die eine Übertragung von einer Person zu einer anderen erfolgen kann.
Man kann also Informationen nicht direkt übermitteln, sondern muss sie über
Zeichen verschlüsseln. Normalerweise passen diese Zeichen zusammen, sodass
eine Verständigung zwischen mehreren Personen möglich ist. Um die Qualität
der Verständigung zu verbessern, ist eine Rückmeldung über das, was verstanden
wurde (Feedback), hilfreich.

Objektive (Inhalts-)Ebene
Sender Medium (Verschlüsselung) Empfänger

Subjektive (Gefühls-)Ebene

Feedback
Normalerweise sendet ein Sender seine Information aufgrund seiner eigenen
Erfahrungen, seinem Wissen, seinen Erwartungen, also seiner verbalen Kompe-
tenz an einen Empfänger, dessen Aufgabe es ist, möglichst gut zuzuhören, und
diese Nachricht zu entschlüsseln. Danach erfolgt eine Rückmeldung an den Sen-
der, was angekommen ist, inwieweit es verstanden und interpretiert wurde und
welche Meinung der Empfänger dazu hat. Unter Kommunikation versteht man
deshalb alle Formen der Kontaktaufnahme und Informationsübermittlung, die
Menschen benutzen, um sich zu verständigen und ihr Verhalten aufeinander ab-
zustimmen.
Nach Watzlawik (1969) lassen sich folgende Aspekte der Kommunikation an-
führen:
– Man kann nicht nicht kommunizieren, auch wer schweigt, sagt etwas aus.
– Jede Kommunikation enthält einen Inhalts- und Beziehungsaspekt, nämlich
die Information selbst und das, was „mitschwingt“.
– Zwischenmenschliche Beziehungen sind durch die Interpunktion von Kom-
munikationsabläufen geprägt. Anfang und Ende, Ursache und Wirkung sind
nur individuell gesehene Marker.
– Kommunikation zwischen Menschen bedient sich digitaler (Inhalt) und ana-
loger (Mimik, Gestik) Modalitäten.
– Kommunikation kann auf symmetrischen (Streben nach Gleichheit der Part-
ner) und komplementären (sich ergänzenden Unterschieden) Beziehungen
beruhen.
Probleme können sich durch jeden der Bereiche ergeben und sollten deshalb
auf der Ebene gelöst werden, wo der Konflikt auftritt, um „Pseudokonflikte“ zu
vermeiden.
Kommunikation und Interaktion mit Patienten 59

Funktionen der Kommunikation


Jedes Gespräch hat mehrere Funktionen, die teilweise auch gleichzeitig ablaufen
können.
Man unterscheidet:
– Diagnostische/informationseinholende Funktion: Hierbei geht es primär um
das Sammeln von Informationen und Wissen. Wesentlich für diese Funktion
sind gezielte Fragen und die möglichst unvoreingenommene Aufnahme der
erhaltenen Information. Fehler ergeben sich hierbei z. B. durch Vorurteile, Er-
wartungen und Einstellungen, durch die Information subjektiv gefärbt wird.
Insofern stellt die Fähigkeit „unvoreingenommen“ Fragen zu stellen eine we-
sentliche Basiskompetenz der Kommunikation dar.
– Motivationale Funktion: Hier steht die Aufrechterhaltung der Kommunika-
tion im Vordergrund. Wesentlich sind hierbei Zuhören und emotionale An-
teilnahme. Hier spielen auch Faktoren wie Empathie, Echtheit und das Geben
von Rückmeldungen über das Verstandene eine wesentliche Rolle. Motivatio-
nale Faktoren sind häufige Probleme beim Aufrechterhalten einer therapeuti-
schen Kommunikation, wenn persönliche Inhalte angesprochen werden.
– Therapeutische Funktion: Dabei steht die Verhaltensänderung beim Ge-
sprächspartner im Vordergrund. Wesentlich hierbei sind gezielte Fragen, das
Anbieten von alternativen Gedanken, Argumenten und Vertrauen.

Soziale Wahrnehmung als Grundlage kommunikativer Kompetenz


Grundlage aller Kommunikation sind Wahrnehmungsprozesse, die über unsere
Sinnesorgane erfolgen (vgl. Herkner 1991). Darüber hinaus spielen jedoch auch
Faktoren der sozialen Wahrnehmung eine Rolle. Wir nehmen etwas „objektiv“
über unsere Sinne wahr, verarbeiten es, interpretieren, bewerten, fühlen und
handeln danach. Viele Dinge sind also nicht so „objektiv“ wie sie uns scheinen.
Werte, Normen, Erfahrungen, aber auch persönliche Variablen wie Alter und Ge-
schlecht beeinflussen die objektive Informationsverarbeitung. Hierbei spielen Se-
lektions-, Organisations- und Interferenzprozesse eine wesentliche Rolle. Selek-
tion bewirkt, dass wir nur einen Ausschnitt aller Reize tatsächlich wahrnehmen,
z. B. solche, die besonders stark oder von Interesse sind. Organisationsprozesse
fassen Sinneseindrücke zusammen, verbinden sie mit bereits Bekanntem und
helfen uns die Welt zu ordnen. Interferenzprozesse schließlich ergänzen unvoll-
ständige Wahrnehmungsprozesse zu einem (psycho)logischen Ganzen. Das
heißt, wir nehmen immer auch Dinge wahr, die eigentlich nicht da sind bzw.
nicht gesagt wurden.
Persönliche Aspekte wie Sympathie oder Antipathie beruhen meist auf sol-
chen Prozessen der sozialen Wahrnehmung, die jedoch sehr fehleranfällig ist. So
spielt etwa der Primacy-Effekt, das, was zuerst wahrgenommen wurde, eine we-
sentliche Rolle bei der Einschätzung von Menschen. Der „erste“ Eindruck wird
als wesentlich eingeschätzt. Ergänzt wird dies durch den Halo-Effekt, nämlich
60 G. Gatterer

diese Eindrücke aufeinander abzustimmen und ein harmonisches Gesamtbild zu


erhalten. Es kommt also leicht zu Verallgemeinerungen wie „die Patientin ist eine
Querulantin“, anstelle der Aussage, „die Patientin hat derzeit folgendes Prob-
lem!“
Ebenso führen Attributionsprozesse (Meinungszuschreibungen) zu einer sehr
subjektiven Wahrnehmung. Eine wesentliche Frage ist die nach der Ursache ei-
nes Verhaltens. Welche Faktoren waren maßgeblich? Generell kann man zwi-
schen 4 Dimensionen unterscheiden: internen (personenbezogenen) oder exter-
nen (situationsbezogenen) bzw. stabilen oder variablen Faktoren.

Intern Extern

Persönlichkeitseigenschaften Rollen- und


Persönlichkeitsmerkmale Situationsmerkmale
Stabil
Einstellungen Objekteigenschaften
Vorurteile

Motivation Zufälliges
Stimmungen Äußere Umstände
Variabel
Befindlichkeiten Versehen
Absichten Missgeschick

Je nach Interpretation der Ursache, z. B. von Aggression, entstehen somit an-


dere Gefühle beim Empfänger. Andere Faktoren, welche die Wahrnehmung be-
einflussen sind Vorurteile, Gruppendruck, die eigene Identität und das eigene
Selbstwertgefühl, Rollenbilder sowie selbsterfüllende Prophezeiungen.

Die Anatomie einer Nachricht


Oft ergibt es sich, dass bei der Übertragung von einer Person zu einer anderen
Fehler auftreten. Man versteht etwas „anders“ als es der Sender gemeint hat.
Eine Ursache liegt hierbei darin, dass jede Nachricht vier Aspekte beinhaltet
(Schulz von Thun 1990; 1991), die in ihr mehr oder weniger enthalten sind und
deshalb vom Empfänger auch „herausgehört“ werden können:
1. Der Sachinhalt (Worüber man informiert): Hier steht die Übermittlung der
sachlichen Information im Vordergrund. So enthält die Aussage „Ich habe
Schulterschmerzen!“ eine klare Aussage über die Befindlichkeit und die
Lokalisation.
2. Die Selbstoffenbarung (Was man von sich selbst preisgibt): Bei jeder Nach-
richt gibt auch der Sender immer etwas über sich selbst, seine Persönlichkeit
und Befindlichkeit preis. Dies kommt meist durch nonverbale Elemente zum
Ausdruck. So kann etwa obige Nachricht von der Betreuungsperson als
„Charaktereigenschaft“, nämlich „Schmerzempfindlichkeit“, wahrgenommen
werden.
Kommunikation und Interaktion mit Patienten 61

3. Der Beziehungsaspekt (Was man vom anderen hält oder wie man zu ihm
steht): Durch jede Nachricht wird auch zum Ausdruck gebracht, wie der Sen-
der zum Empfänger steht. Dies zeigt sich oft im Tonfall, in der gewählten
Formulierung und in anderen nicht sprachlichen Informationen. Dieser As-
pekt einer Nachricht wird vom Empfänger sehr sensibel wahrgenommen, da
er zeigt, wie „man vom anderen behandelt wird“. Beim obigen Beispiel kann
somit der Wunsch nach Beziehung und Vertrauen mitgesendet werden oder
auch das Gegenteil, nämlich Unzufriedenheit über die Behandlung.
4. Der Appell (Wozu möchte man den anderen veranlassen; was soll er tun?):
Jede Nachricht hat in gewissem Ausmaß auch eine Appellfunktion. Man
möchte auf den Empfänger Einfluss nehmen, ihn dazu bewegen etwas zu tun
oder zu unterlassen, zu denken oder zu fühlen. Diese Einflussnahme kann di-
rekt oder indirekt, offen oder verdeckt erfolgen. Bei der Äußerung von
Schmerzen erwartet man sich logischerweise Hilfe.
Bisher haben wir die vier Seiten einer Nachricht überwiegend aus dem Blick-
winkel des Senders betrachtet. Dabei ist deutlich geworden, dass der Sender ei-
gentlich alle vier Aspekte im Griff haben müsste, da sie alle im Kommunika-
tionsprozess mitschwingen. Kennt und kontrolliert der Sender nur einige oder
nur einen dieser Aspekte, führt dies zu Kommunikationsstörungen. Sendet er
z. B. inhaltlich verständlich, aber teilt er auch mit, dass er vom anderen nichts
hält, so führt dies ebenfalls zu Störungen.

Schauen wir uns nun die vier Seiten einer Nachricht aus der Sicht des Emp-
fängers an:
– Er versucht, den Sachinhalt der Nachricht über seinen Verstand zu erfassen.
Was heißt das genau? Was will mir die Person sagen?
– Die Selbstdarstellung des Senders analysiert er mit:
Was ist das für eine(r)? Welche Persönlichkeit liegt vor?
– Auf der Beziehungsseite fragt er sich:
Wie ist die Beziehung zwischen uns? Wie behandelt diese Person mich?
– Bei der Appellseite versucht er zu ergründen, wo der Empfänger ihn haben
will.
Was will diese Person von mir?

Auch der Empfänger muss also die vier Aspekte der Kommunikation im Auge
haben, um sie bei der Reaktion entsprechend berücksichtigen zu können. Was
die Kommunikation so schwierig macht, ist vor allem, dass der Empfänger aus-
wählen kann, auf welchen Aspekt er reagiert. Dies kann dann zu Störungen füh-
ren. Diese grundsätzliche freie Auswahl führt dann zu Störungen, wenn der
Empfänger auf einen Aspekt reagiert, den der Sender gar nicht betonen wollte.
Besonders konfliktträchtig ist es, wenn der Empfänger andauernd dieselbe Aus-
wahl vornimmt, z. B. immer auf den Beziehungsaspekt reagiert. Rückmeldungen,
Nachfragen oder Feedback geben die Einstiegsmöglichkeiten für die Klärung
62 G. Gatterer

dessen, was der Sender meint oder um Bereitschaft für aktives Zuhören zu för-
dern. Anbei finden Sie einige Möglichkeiten für konstruktive Fragen:
– Wie meinen sie das genau? Können Sie es mir näher beschreiben?
– Habe ich Sie richtig verstanden? Sie meinen ...
– Lassen Sie sehen, ob ich Ihnen folgen kann; Sie ...
– Ich habe den Eindruck ...
– Trifft es zu, dass ...
– Ist es möglich, dass ...
– Gehe ich recht in der Annahme, dass ...
– Ich frage mich, ob ...
– Sagen Sie mir, wenn ich mich irre, aber ...
– Könnte es sein (vorkommen), dass ...
– Ich glaube, Sie richtig verstanden zu haben, dass ........
– Von meinem Standpunkt aus ...
– Es hört sich an, als ob Sie ... (dieses oder jenes Gefühl haben)
– Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ...
– Gefällt Ihnen die Idee ...
Falls ein Gespräch stagniert, können Einstiegsaufmunterungen vonseiten des
Empfängers weiterhelfen:
– Kann ich Ihnen hier helfen?
– Möchten Sie darüber sprechen?
– Wie ist das eigentlich mit diesem Problem?
– Ich würde gerne Ihre Meinung wissen!
– Würde es Ihnen helfen, wenn wir darüber reden?
– Ich hätte Zeit, mit Ihnen einmal dem Problem nachzugehen.
An jeder Nachricht sind stets alle vier Aspekte beteiligt. Diese können zu-
sammenpassen und sich gegenseitig stützten, aber sich auch gegenseitig hem-
men. Insofern ist es in der Kommunikation sehr wichtig, diese Aspekte und de-
ren gegenseitige Wechselwirkung zu beachten und damit auch konstruktiv
umzugehen. Nachrichten werden sowohl auf diesen vier Ebenen gesendet als
auch subjektiv auf diesen empfangen. Es kann also geschehen, dass eine sachli-
che Mitteilung emotional auf der Beziehungsebene empfangen wird und Kon-
flikte auslöst. Dies ist besonders in emotional aufgeladenen Situationen, z. B. bei
Überforderung, leicht der Fall.
Ebenfalls ein wichtiges Interaktionsmodell im Rahmen des Pflegeprozesses
bietet die Transaktionsanalyse an. Sie geht davon aus, dass die Gesprächspartner
drei Ich-Zustände haben und zwar
– das Eltern-Ich, das kritisch oder stützend sein kann,
– das Erwachsenen-Ich, das rational, vernünftig, neutral, nüchtern wirkt,
– das Kind-Ich, das kindlich spontan, verletzlich bedürftig ist.
Gerade in der Pflege von hilfs- und pflegebedürftigen Menschen kann es
leicht zu einem Ungleichgewicht kommen. So rutschen ältere Menschen leicht in
Kommunikation und Interaktion mit Patienten 63

das Kind-Ich und lassen sich versorgen und betreuen, ohne die Ressourcen zu
sehen, die sie noch haben. Ähnlich kann es aber auch einer Pflegeperson gehen,
die Eltern-Ich-Anteile vermehrt einsetzt und „belohnt“ bzw. „bestraft“.

Die Nachricht als Träger von Botschaften

Normalerweise geht man davon aus, dass eine Nachricht eine direkte Übermitt-
lung von Information ermöglicht. Andererseits haben Nachrichten, wie aus obi-
gem Abschnitt ersichtlich, viele Aspekte. Insofern sollen diese „Botschaften“
noch näher betrachtet werden, da sie gerade bei der Kommunikation in einem
multiprofessionellen Team und mit dem Betreuten oder dessen Angehörigen eine
wesentliche Rolle spielen.
Botschaften können in einer Nachricht „explizit“ oder „implizit“ enthalten
sein. Explizite Botschaften sind ausdrücklich formuliert, konkret und deutlich. Sie
treffen direkt den Gegenstand der Mitteilung. Implizite Botschaften sind oft nicht
direkt wahrnehmbar. Oft werden sie „indirekt“ mitgesendet. So kann etwa die
verbale Botschaft „Ich bin Dr. X“ dem Patienten die Rolle Arzt vermitteln. Ande-
rerseits ist etwa aus der Kleidung und dem Auftreten oft der „Arzt“ erkennbar.
Bei impliziten Botschaften spielen nonverbale Elemente eine wesentliche Rol-
le. Dies beinhaltet die Stimme, die Betonung und Aussprache, die Mimik und
Gestik aber auch das Verhalten.
Durch nonverbale Aspekte werden die sprachlichen Bereiche der Kommuni-
kation betont, verstärkt unterstützt, aber manchmal auch gestört. Insofern erfolgt
durch nonverbale Elemente der sprachlichen Kommunikation
– eine Verdeutlichung von sprachlich schwer zu Formulierendem, z. B. von Ge-
fühlen, Einstellungen, Meinungen, ...
– die emotionale Steuerung und Beeinflussung einer sozialen Situation
– eine Selbstdarstellung des Senders als Person
– die Kommunikation von Einstellungen
– die Rollenübergabe, z. B. Übergabe des Rederechtes vom Sender zum Emp-
fänger
– die Vermittlung von Zuhören oder Ignorieren
– der Ausdruck der eigenen Stimmung und Befindlichkeit
– die Vermittlung und der Ausdruck der Beziehung zwischen den Gesprächs-
partnern
– die Verteilung der Rollen.
Oft erfolgt eine nonverable Kommunikation auch mit dem Körper. Dies bein-
haltet den Körperkontakt, die Körperhaltung, Mimik und Gestik, die Blickrich-
tung, die Kommunikation durch Objekte (z. B. Berufskleidung) und die Kommu-
nikation durch räumliche Distanz.
Nonverbale Botschaften werden immer mitgesendet. Deshalb soll hier eine
Aussage von Paul Watzlawick (1969) in Erinnerung gerufen werden. „Man kann
nicht nicht kommunizieren“. Auch wenn man nichts sagt, teilt man dem Ge-
64 G. Gatterer

sprächspartner etwas mit. Ob man will oder nicht. So kann „Schweigen“ als „Ich
will meine Ruhe haben!“, „Ignoranz“ oder „Müdigkeit“ wahrgenommen wer-
den.
Mit nonverbalen Botschaften werden insofern Interaktionen gesteuert, Emo-
tionen und Einstellungen ausgetauscht und dadurch die Kommunikation verbes-
sert oder gestört. Durch das Bewusstmachen nonverbaler Signale können die
Kommunikationspartner sensibilisiert werden und durch das Beobachten eigener
Signale sollen falsche rhetorische Signale vermieden werden.
Beim gleichzeitigen Senden von verbalen und nonverbalen Nachrichten kön-
nen diese übereinstimmen (kongruent sein) oder nicht übereinstimmen (inkon-
gruent sein). Inkongruente Nachrichten führen zu Unsicherheit, Unbehagen und
sollten durch Nachfragen überprüft werden.
Inkongruenz kann durch folgende Faktoren entstehen:
– Durch den Kontext: Wird eine Aussage in einem nicht passenden Zusam-
menhang verwendet, so führt dies zu Unsicherheit. Dies wäre etwa der Fall,
wenn eine Pflegeperson bei einem schwer kranken Patienten betont, dass
morgen schon alles besser sei.
– Durch die Art der Formulierung: So kann die Aussage eines Patienten mit
Kopfschmerzen „Ich sterbe vor Schmerzen!“ zu Unverständnis beim Emp-
fänger Arzt führen.
– Durch Körperbewegungen (Mimik, Gestik): Die positive Beziehungsaussage
einer Kommunikation (z. B. „Ich werde Ihnen helfen!“) kann durch eine ab-
lehnende Körperhaltung (z. B. die Aussage erfolgte im Weggehen) relativiert
werden.
– Durch den Tonfall: Stimmt die verbale Aussage nicht mit dem Tonfall überein,
so ergibt sich Unsicherheit. Oft wird in diesem Fall der negative Aspekt stär-
ker wahrgenommen als der positive.
Nicht kongruente Botschaften führen beim Empfänger zu Unsicherheit und
Verwirrung. Soll er der verbalen Mitteilung Glauben schenken oder den nonver-
balen Elementen der Nachricht? Solche Verwirrungen sind oft unter dem Namen
„Doppelbindungen“ in der Literatur zu finden. Inkongruenzen können entste-
hen, wenn sich der Sender dieser Problematik seiner Person nicht bewusst ist
oder aber diese gezielt auslösen will, um den anderen zu irritieren. Auch bei un-
angenehmen Fragen treten diese leicht auf, z. B. die Frage eines kranken Men-
schen, ob er bald sterben müsse.

Die systemische Sicht der Kommunikation


(Was kann man wann sagen?)

Einen weiteren wesentlichen Aspekt stellen auch die sozialen Beziehungen zwi-
schen den miteinander kommunizierenden Personen dar. So ist etwa eine Berüh-
rung an verschiedenen Körperbereichen (etwa im Rahmen von Pflegehandlun-
Kommunikation und Interaktion mit Patienten 65

gen) eine nonverbale Kommunikation und es sollte deshalb von der Pflegeper-
son bedacht werden, welche Position im sozialen System des Betreuten sie ein-
nimmt.
Zum besseren Verständnis sei ein so genanntes soziales Netz dargestellt:

Umwelt

Bekannte

Freunde

Familie Beratung/Hilfe

intim Ich Therapie Informieren/Instruieren


emotional
Small talk
bekannt/sachlich

Alltag/öffentlich

Im Zentrum befindet sich hier die Person selbst mit ihrem „Ich“. Hier sind
alle Geheimnisse, Erfahrungen, Erlebnisse, Gefühle etc. gespeichert. Das ist der
engste soziale Kreis, in den nur wenige Personen hineingelassen werden, wie
z. B. in guten Beziehungen der Partner, die Kinder oder auch der Therapeut.
Distanzmäßig sind dies etwa die letzten 30 Zentimeter Abstand vom eigenen
Körper. Pflegehandlungen und medizinische Untersuchungen dringen oft in die-
sen Bereich unreflektiert ein.
Der zweite soziale Kreis beinhaltet die engste Familie, aber nur, wenn sie
auch emotional dort steht. So ist ein Partner nicht unbedingt diesem Kreis zuge-
hörig und darf entsprechende intime Dinge tun oder sagen. In der Kommunika-
tion finden hier therapeutische oder auch beratende Gespräche statt. Räumlich
beginnt dieser Kreis etwa bei 70 cm Abstand.
In den nächsten beiden Kreisen befinden sich Freunde und gute Bekannte.
Hier ist die Hauptkommunikation auf den Austausch von Informationen, aber
auch Beratung und Hilfe ausgerichtet. Intimere Inhalte treten, je weiter eine Per-
son außen steht, in den Hintergrund, Sachliches tritt in den Vordergrund. Entfer-
nungsmäßig entspricht dieser Bereich der guten Kommunikationsdistanz von
70 cm bis 1,5 m.
Im äußersten sozialen Kreis findet der Rest des Lebens statt. Hier befinden
sich Personen, die für das „Ich“ nur geringe emotionale Bedeutung haben. Inso-
fern werden auch eher sachliche Informationen oder „Small Talk“ (Wetter, Alltag,
etc.) ausgetauscht. Körperlich sind dies Distanzen über 1,5 Metern.
Im Rahmen des Aufbaues einer therapeutischen Beziehung startet man aber
beim Gesprächspartner genau in diesem äußersten Kreis und arbeitet sich lang-
66 G. Gatterer

sam nach innen. Durch aufmerksames Zuhören kann man erkennen, ob man in
den nächsten Kreis vorgelassen wird. Zu rasches Eindringen führt leicht zu Kon-
flikten und Abwehr. Dies gilt für Fragen, aber noch mehr für körperliche Berüh-
rungen.
Die Beachtung systemischer Faktoren ist gerade für die Kommunikation in
größeren Teams wichtig, da hier von unterschiedlichen Personen die gleichen
Handlungen und Aussagen getätigt werden. Auch in Organisationen tendiert
man leicht dazu, in intime Bereiche einzudringen, ohne durch eine gute Kom-
munikation die entsprechenden Voraussetzungen getroffen zu haben.

Aktives Zuhören –
die personenorientierte Gesprächsführung

Im folgenden Abschnitt sollen exemplarisch einige Faktoren für ein gutes Ge-
spräch dargestellt werden. Carl Rogers hat hier die Faktoren „einfühlendes Ver-
ständnis“, „unbedingte Wertschätzung“, „Aufrichtigkeit und Kongruenz“ sowie
„Selbstexploration“ des Klienten als wesentliche Faktoren festgehalten. Im fol-
genden Abschnitt soll dies anhand konkreter Beispiele dargestellt werden.
Grundlage für ein gutes Gespräch vonseiten des Empfängers ist aktives Zu-
hören:
– Aktives Zuhören hat zum Ziel, dass der Gesprächspartner sich öffnet und
– Aktives Zuhören verbessert die Kommunikation zwischen den Gesprächs-
partnern.
Die grundlegende Fertigkeit bei einem Beratungsgespräch besteht aus „Zu-
hören können“.
Folgende Faktoren erleichtern ein gutes Gespräch:
1. Die Verteilung der Rollen: Der Sender sendet, der Empfänger empfängt.
2. Der Blickkontakt: Wenn Sie mit jemandem reden, schauen Sie ihn an. Das
heißt nicht, dass sie ihn anstarren. Ihr Gesprächspartner bekommt damit Zu-
wendung und Interesse signalisiert. Günstig ist es auf gleicher Höhe zu
kommunizieren.
3. Die aufmerksame Körpersprache: Die Grundhaltung für aufmerksames Zu-
hören ist eine entspannte, leichte Vorwärtsneigung des Oberkörpers. Achten
Sie auch auf Zeichen von Anspannung (Stirnrunzeln, geballte Fäuste, deutli-
che Veränderung der Körperhaltung) bei sich selbst und dem Gesprächspart-
ner. Sitzen Sie nicht verkrampft oder professionell. Ihr Körper sollte Aufmerk-
samkeit und Anteilnahme ausdrücken.
4. Der Aufforderung zum Sprechen: Signalisiert ein Patient Gesprächsbereit-
schaft, so ist es günstig herauszufinden, in welcher Situation er gerade ist,
was ihn beschäftigt, worüber er reden möchte. Günstig ist es mit offenen Fra-
gen zu beginnen. Dadurch kann der Gesprächspartner selber den Verlauf des
Gespräches steuern. Es wird ihm ermöglicht, sich dadurch selbst zu er-
Kommunikation und Interaktion mit Patienten 67

forschen. Geschlossene Fragen dienen der Konkretisierung des soeben ge-


hörten.
5. Gezieltes Fragen
– zeigen Sie sich als interessierter Gesprächspartner
– bringen Sie ihren Gesprächspartner zum Nachdenken
– vermeiden Sie Vermutungen
– Minimale Ermutigung, Umschreibungen, Rückmeldungen: Darunter ver-
steht man Signale, die dem Gegenüber vermitteln sollen, dass ihm zuge-
hört wird. Verbale Ermutigung sind Äußerungen, die zeigen, dass Sie auf
Ihren Gesprächspartner eingestellt sind. (Aha – so – und dann?)
– Auch Schweigen kann eine sehr wirkungsvolle Ermutigung sein.
– Wiederholung von ein oder zwei Schlüsselworten
– Einfache Wiederholung der Worte, die zuletzt gesagt wurden. Bei der Wie-
derholung einiger Wörter aus den Aussagen des Gegenübers werden die
angeführten Gedanken weitergeführt.
– Fragen Sie bei Unklarheiten nach
6. Umschreibungen: Auch Umschreibungen sind wichtige Schlüssel zu den Ge-
fühlen des Gesprächspartners. Gutes Umschreiben bedeutet, dass sie etwas
von ihrem eigenen Verständnis mit einbringen.
7. Formulieren Sie Ich-Botschaften
8. Geben Sie Rückmeldungen (Feedback) über das Gehörte.
9. Erleichterungen durch Lautstärke, Nähe, Räumlichkeit, Hilfsmittel (z. B. Hör-
gerät), Atmosphäre etc.
10. Beachten Sie die eigene Persönlichkeit, ihre Werte, Normen, Einstellungen
etc.
11. Achten Sie auf „Sachlichkeit“ ohne die Empathie aus dem Auge zu verlieren.
12. Bei eigenen Gefühlen, versuchen Sie diese zu analysieren. Die Lösung bei
sich selbst zu suchen ist leichter als beim Anderen.

Zusammenfassung

Kommunikation ist die gerichtete Informationsübertragung von einem Sender


(der Person, die etwas mitteilen möchte) zu einem Empfänger (der Person, wel-
che die Nachricht erhält). Sie erfolgt mithilfe eines Kommunikationsmittels
(Sprache, Zeichen, Schrift etc.), welches sowohl eine sachliche aber auch emo-
tionale Botschaft enthält.
Kommunikation läuft auf verbaler und nonverbaler (nicht-sprachlicher) Ebe-
ne ab. Nonverbale Kommunikation beinhaltet dabei senderspezifische Faktoren,
wie z. B. Mimik, Blickverhalten, Gestik, Geruch und Körperhaltung. Es spielen je-
doch nonverbale Faktoren auch beim Empfangen von Botschaften eine wesentli-
che Rolle, die durch das Wahrnehmen der Botschaften entstehen (z. B. bewerten,
einschätzen, beurteilen einer Nachricht aufgrund von Erfahrungen). Vor allem
Prozesse der sozialen Wahrnehmung können hierbei zu falschen Interpretatio-
nen, Vorurteilen und Schlussfolgerungen führen.
68 G. Gatterer

Kommunikation hat eine diagnostische, motivationale und therapeutische


Funktion. Insofern müssen Gespräche auch nach diesem Ablauf aufgebaut sein.
Man muss einen Menschen zuerst kennenlernen, um mit ihm wesentliche Dinge
zu besprechen.
Beim Empfangen von Botschaften spielen 4 Faktoren eine wesentliche Rolle:
der Inhalt der Nachricht, die darin enthaltenen Informationen über den Sender,
die Beziehung zwischen Sender und Empfänger und der Appell der Nachricht. Je
nach Wahrnehmungsmuster können deshalb bei der gleichen Botschaft unter-
schiedliche Informationen weitergegeben werden.
Wesentlich erscheint in dieser Hinsicht auch die soziale Beziehung zwischen
den Gesprächspartnern. Nicht jede Person darf alles fragen oder sagen. Dadurch
kommt dem Beziehungsaufbau im Rahmen eines therapeutischen Gespräches
eine besondere Bedeutung zu. Hier kann auf die im Rahmen der personenorien-
tierten Gesprächsführung entwickelten Faktoren wie Empathie, Kongruenz und
Echtheit, sowie die Anregung zur Selbstreflexion beim Klienten zurückgegriffen
werden. Um die Qualität der Verständigung zu verbessern, ist eine Rückmeldung
über das, was verstanden wurde (Feedback) hilfreich. Im Rahmen der Betreuung
von kranken Menschen sind zusätzlich noch verschiedenste Probleme der
Kommunikation zu berücksichtigen, die sich aus der Problematik der Betreuten
ergeben (Hören, Sehen, Krankheit), aber auch durch die bei der Betreuung betei-
ligten Professionen und deren unterschiedliche Sprache (Arzt, Pflege, ...) bedingt
sind.

Literatur
Fitzgerald A, Zwick G (2001) Patientenorientierte Gesprächsführung im Pflegeprozess.
Springer, Wien New York
Gatterer G, Croy A (2007) Multiprofessionelle Altenbetreuung, 2. Aufl. Springer, Wien New York
Herkner W (1991) Sozialpsychologie. Huber, Bern
Hirsch AM (1997) Psychologie für Altenpfleger, Bd. II. Kommunikative Kompetenz. MMV
Medizin Verlag, München
Rogers C (1992) Therapeut und Klient. Fischer, Frankfurt am Main
Schulz von Thun F (1991) Miteinander reden. 1. Störungen und Klärungen. Rororo, Reinbek bei
Hamburg
Schulz von Thun F (1990) Miteinander reden. 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung.
Rororo, Reinbek bei Hamburg
Watzlawick P, Beaven JH (1969) Menschliche Kommunikation. Huber, Bern
Revsion

Wie soll ich wissen, was Dich quält?


Schmerzen erkennen bei demenzkranken
alten Menschen

M. KOJER
M. Kojer
Wie soll ich wissen, was Dich quält?

„Alte Menschen haben eben Schmerzen?“

Sind häufige Vorkommnisse für die, die darunter zu leiden haben, normal? Über-
all auf der Welt ereignen sich täglich Unfälle, die Menschenleben kosten. Ist es
deshalb „normal“, durch einen Unfall zu sterben? Jedes Jahr gibt es etliche Na-
turkatastrophen. Kann man deshalb schon sagen, dass es „normal“ ist, die Men-
schen, die man liebt und alles, was man besitzt, durch einen Hurrikan zu verlie-
ren? Kriege sind – weltgeschichtlich besehen – normale Ereignisse. Ist es deshalb
für den einzelnen Menschen „normal“ hineinzugeraten, darunter zu leiden, in
Kampfhandlungen oder im Bombenhagel sein Leben zu verlieren? Schmerzen
im hohen Alter sind häufig. Ist es deshalb für eine 90-Jährige „normal“, Schmer-
zen zu haben?
Der einzelne Mensch erlebt stets seine persönliche Leidensgeschichte, seine
beängstigende und quälende körperliche und seelische Not, unabhängig davon,
wie hoch die statistisch berechenbare Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses ist.
Die Not wird nicht kleiner dadurch, dass es außer ihm auch noch viele andere
leidende Individuen auf der Welt gibt. Die häufig geäußerte Meinung, dass
Schmerzen eben zum Alter gehören und daher akzeptiert werden müssen, zeigt
nur, wie wenig bereit die Vertreter dieser Auffassung sind, sich in die Schuhe der
anderen zu stellen und die Welt von einer anderen, nämlich von deren Seite aus
zu betrachten. Sobald wir uns ernsthaft bemühen uns gedanklich und gefühls-
mäßig in die Lage einer gebrechlichen, multimorbiden, körperlich und geistig
hilflos gewordenen Hochbetagten hineinzudenken („wie wäre es für mich, wenn
ich nicht verstünde, was man von mir will …, wenn ich keine Worte für das hätte,
was mich quält …“), fällt uns bald vieles auf, was uns bis dahin entgangen ist.
Wir erfassen dann viel besser, wie schwer das tägliche Leben allein dadurch wird,
dass man schwach und müde ist und was es bedeutet, es jetzt auch noch mit
70 M. Kojer

chronischen – im hohen Alter angeblich „normalen“ – Schmerzen leben zu


müssen. Wie viel größer muss die Not sein, wenn man zusätzlich noch schwer
dement ist und nicht einmal mehr Worte hat, um Hilfe zu erbitten!

Können Demenzkranke überhaupt Schmerzen empfinden?

Warum sollten sie das nicht können? Welcher „Schutzfaktor“ sollte sie vor
Schmerzen bewahren? Demente Menschen haben die gleichen Organe, Nerven,
Muskeln, Knochen und Gelenke, die gleichen Krankheiten, die gleichen
Schmerzrezeptoren wie alle anderen. Nachlassende Gedächtnis- und Denk-
leistungen haben keinen Einfluss darauf, ob und wie die z. B. von einer Kompres-
sionsfraktur der Wirbelsäule verursachten Schmerzen weitergeleitet werden.
Wir sind gewohnt und rechnen daher damit, dass ein Mensch, der etwas mit-
zuteilen hat, sein Anliegen verbal und einigermaßen geordnet vorbringt. Wenn
jemand das nicht mehr kann, ist die Gefahr groß, dass die Umwelt seine Bedürf-
nisse weder erkennt noch beachtet. Zahlreiche Studien belegen, wie schlecht es
um Erkennen und Behandlung von Schmerzen demenziell erkrankter Menschen
bestellt ist, sobald diese sich nicht mehr in allgemein verständlichen Worten aus-
drücken können. Betrüblicherweise hat daran auch der Schmerztherapieboom
der vergangenen 10 Jahre kaum etwas zu ändern vermocht (vergleiche exempla-
risch: Ferrell et al. 1995; Kaasalainen et al. 1998; Cohen-Mansfield und Lipson
2002; Shega et al. 2006).
Aber auch die Klagen von Demenzkranken, die ihren Schmerz noch verbal
ausdrücken können, werden häufig nicht beachtet, vor allem wenn ihre Betreuer
sie zugleich als sehr verhaltensgestört erleben. Eine zielführende Behandlung
wird ihnen daher häufig vorenthalten.

Frau HA, 84 Jahre alt, lebt bei ihrer Tochter. Sie leidet an einem rezidivierenden,
nach zwei Operationen inoperablen Blasenkarzinom mit Tumorkachexie und ist
mäßiggradig dement. Über Schmerzen ist nichts bekannt; sie bekommt keine
Schmerztherapie. Eines Nachts stürzt sie beim Gang auf die Toilette und zieht
sich eine Schenkelhalsfraktur zu. Ein Krankenwagen bringt sie in das große,
nahe gelegene Krankenhaus; am nächsten Morgen wird sie operiert.
Postoperativ klagt Frau HA legitimer Weise über Schmerzen, findet aber da-
mit keine Beachtung. Die Betreuer sind durch ihr gestörtes Verhalten restlos
überfordert: Sie lässt sich nicht waschen, entfernt sich die Drains, beschimpft die
Pflegenden, stört die zunehmend empörten Mitpatientinnen. Daraufhin wird die
Psychiaterin geholt. Diese diagnostiziert – vermutlich zu Recht – ein postopera-
tives Durchgangssyndrom bei Demenz und verordnet ein Antipsychotikum. Frau
HA verweigert die Medikamenteneinnahme, schreit und klagt weiterhin über
starke Schmerzen. Erst in der folgenden Nacht verordnet eine diensthabende
Ärztin endlich ein Analgetikum. Die Patientin bekommt ein transdermales Fen-
tanyl (Durogesic® 25 Mikrogramm/Stunde), also ein Schmerzpflaster, das sich
bekanntlich für kachektische Patientinnen nicht sonderlich gut eignet. Ob die
Wie soll ich wissen, was Dich quält? 71

Ärztin die alte Frau überhaupt gesehen hat, ist nicht bekannt. Da Frau HA die
ganze Nacht weiter schreit, wird das Pflaster am Morgen (bevor es im günstigs-
ten Fall voll wirksam geworden wäre) gleich wieder entfernt.
Wieder wird die Psychiaterin gerufen. Sie will die Station von der mittler-
weile tobenden Frau HA befreien und weist sie auf die Psychiatrie ein. Die Pati-
entin hat noch keinen gesetzlichen Betreuer und verweigert daher erfolgreich die
Transferierung. Die herbeigerufene Amtsärztin sieht keinen triftigen Grund für
eine Einweisung (weder Eigen- noch Fremdgefährdung). Frau HA bleibt, wo sie
ist, tobt weiter, bekommt auch weiterhin keine Schmerztherapie und wird so
schnell wie möglich entlassen.

Können uns schwer demente alte Menschen mitteilen,


dass sie Schmerzen haben?

Mit fortschreitender Demenz verlieren die Kranken nicht nur zunehmend die
Fähigkeit zu sprechen, auch ihr Körperbewusstsein beginnt sich allmählich zu
verändern und geht zunehmend verloren. Je weiter vom Kopf entfernt ein Kör-
perteil ist, desto früher schwindet das bewusste Erleben dafür, dass „da etwas ist,
das zu mir gehört“. So „verschwinden“ allmählich erst die Füße, dann die Beine,
später auch Hände, Unterarme und Bauch aus dem Bewusstsein. Bei weit fortge-
schrittener Demenz werden nur mehr Kopf, Hals, Schultern, oberer Brustbereich
und Nacken sicher als „Ich“ erkannt. Das mag zu dem Schluss verleiten, dass die
Betroffenen in den „verschwundenen“ Bereichen ihres Körpers auch keine
Schmerzen mehr empfinden. Irrtum: Der Schmerz bleibt ungeschmälert beste-
hen, auch wenn die Kranken nicht mehr in der Lage sind, ihn zu orten. Sie spü-
ren, dass es wehtut, können aber nicht mehr sagen oder zeigen, wo es wehtut.
Zum Glück sind damit die Ausdrucksmöglichkeiten, über die ein Mensch ver-
fügt, noch lange nicht erschöpft! Auch schwer dementiell Erkrankte können
noch immer über ihren Körper und durch ihr Verhalten zu uns „sprechen“. Diese
indirekten Zeichen (Tabelle 1) sind allerdings mehrdeutig und demnach nicht so
leicht zu deuten wie verbale oder pantomimisch vermittelte Mitteilungen. Um sie
dennoch zu beachten, in den Zusammenhang einzuordnen und zu einer Vermu-
tungsdiagnose zu gelangen, muss trotz aller Hindernisse mit dem Betroffenen
kommuniziert werden. Auf den ersten Blick scheint diese Forderung im Wider-
spruch zu dem zuvor Behaupteten zu stehen: Wie soll Kommunikation gelingen,
wenn der dafür nötige Partner nichts sagen und nicht hindeuten kann? Auf der
rationalen Ebene ist Kommunikation mit an fortgeschrittener Demenz leidenden
Menschen in der Tat unmöglich, sie kann aber auf der Gefühls- und Beziehungs-
ebene sehr gut gelingen. Voraussetzungen dafür sind – neben der unverzichtba-
ren respektvollen und wertschätzenden Haltung der Betreuer – ausreichende
Kenntnisse in Validation (Feil 2005; Feil und de Klerck-Rubin 2005) und Basaler
Stimulation (Bienstein und Fröhlich 2004). Außerdem muss die Fähigkeit hinzu-
kommen, Demenzkranke einfühlsam zu beobachten. Gelingt es in der Begeg-
nung mit den meist verstörten Kranken, ihnen die Angst zu nehmen und ihr Ver-
72 M. Kojer

trauen zu erwerben, erreicht uns über ihren Körper und seine Ausdrucksmög-
lichkeiten eine Fülle von Mitteilungen. „Dein Leib und seine große Vernunft: Die
sagt nicht Ich, aber tut Ich“ (Friedrich Nietzsche, zitiert nach Dörner 2001).
Tabelle 1. Häufige indirekte Schmerzzeichen

Gesicht Körpersprache
wirkt starr wirkt verkrampft
starrt vor sich hin ballt die Fäuste
wirkt ängstlich ist unruhig, nestelt
wirkt verschlossen vermeidet bestimmte Bewegungen
beißt die Zähne zusammen will sich nicht mobilisieren lassen
runzelt die Stirn drückt die Hände zusammen
senkrechte Stirnfalte Schonhaltung
presst die Augen zusammen hält Hand auf schmerzende Stelle
weitet die Augen angstvoll* reibt wiederholt über schmerzende Stelle
zeigt „tränenloses Weinen“ liegt in Embryonalhaltung
Lautäußerungen Reaktion auf Kontakt
schreit anhaltend schreit weiter, wenn jemand hinkommt
schreit leise jammernd macht die Augen nicht auf
schreit laut und grell* wirkt ängstlich
wimmert vor sich hin zeigt Angst bei Pflegehandlungen
stöhnt will sich nicht berühren lassen
seufzt vor sich hin klammert sich (z. B. am Gitter) an
zeigt Seufzeratmung übernimmt das Gewicht nicht
zeigt raschen Sprachzerfall ist abwehrend
ruft andauernd ist aggressiv
läutet andauernd schlägt ungezielt um sich
Verhalten Vegetative Zeichen
Appetitlosigkeit verändert den Atemrhythmus:
Nahrungsverweigerung zeigt stockenden Atem*
stiller als sonst zeigt flachen, hechelnden Atem
geht unsicherer, schwankend ist tachykard
stürzt häufiger zeigt Blutdruckanstieg
wirkt rastlos wird plötzlich blass*
ist stärker verwirrt schwitzt stärker
schläft schlecht zeigt Übelkeit und/oder Brechreiz
zeigt über nichts Freude erbricht
wird plötzlich inkontinent

Zeichenerklärung: * spricht für akuten Schmerz

Es gibt fast keine Lebensäußerung eines dementen Menschen, die uns gar
nichts über seinen körperlichen und seelischen Zustand mitteilen könnte. Ge-
sicht, Körperhaltung, nonverbale Lautäußerungen, seine Reaktionen und sein
(verändertes) Verhalten sprechen oft eindringlich zu uns. Daneben kann auch die
Beachtung der Vitalzeichen Hinweise auf das Vorliegen von Schmerzen geben.
Aus den vielen „Mitteilungen“, die gut kommunizierende und einfühlsam be-
obachtende Mitglieder eines Teams sammeln können, fügt sich, wie die Stein-
Wie soll ich wissen, was Dich quält? 73

chen eines Mosaiks, allmählich ein Bild zusammen. Jedes dieser indirekten
Schmerzzeichen ist für sich allein genommen mehrdeutig und erlaubt keine kla-
re Zuordnung. Das gesamte, aus vielen Einzelheiten entstandene Bild vermittelt
dagegen, wiewohl kaum jemals lückenlos, in den meisten Fällen einen guten
Einblick in die Befindlichkeit der Kranken.

Können Schmerztests für Demenzkranke das Problem


lösen?

Da an fortgeschrittener Demenz leidende Menschen uns, wie wir einsehen müs-


sen, keine „vernünftige“ Auskunft geben können, bleibt uns nichts anderes übrig
als aus dem, was wir beobachten können, unsere Schlüsse ziehen. In einer Zeit
der Hochblüte von Datensammlungen zum Zweck evidenzbasierten Handelns
lag es nahe, standardisierte Schmerzerfassungsinstrumente zur Fremdbeobach-
tung Demenzkranker zu entwickeln. So entstand in den vergangenen Jahren
eine Reihe von Fragebögen zur Erhebung von Verhaltensweisen, die auf das Vor-
liegen von Schmerzen hinweisen könnten.
Da jeder, der mit einer schwierigen, durch zahlreiche Unsicherheitsfaktoren
gekennzeichneten Aufgabe konfrontiert wird, froh ist, wenn sich eine praktikable
Patentlösung anzubieten scheint, begannen sich diese Tests relativ rasch durch-
zusetzen. Patentlösungen erweisen sich indes bei näherem Hinschauen häufig
nicht als so ideal, wie man ursprünglich gehofft hatte:
1. Fast jede Verhaltensänderung kann bedeuten, dass der Betroffene Schmerzen
hat. Der Versuch alle Möglichkeiten aufzulisten würde viele Seiten füllen
und müsste doch unvollständig bleiben. Es kann kein Erfassungsinstrument
geben, das alle möglichen Verhaltensweisen berücksichtigt. Die Herausgeber
und Befürworter bekannter Schmerzerfassungsinstrumente wie ECPA1,
Doloplus (Holen et al. 2005), BESD (Basler et al. 2006) oder die kurze, Zeit
sparende Abbey Pain Scale (Abbey et al. 2004) müssen sich damit begnügen,
einige oder viele häufig wiederkehrende Reaktionsmuster einzubeziehen.
2. Verhaltensweisen, die als Schmerzzeichen gewertet werden können, sind
immer mehrdeutig; ihr Auftreten bedeutet nicht automatisch, dass die Be-
treute an körperlichen Schmerzen leidet. Demenzkranke können damit alles
ausdrücken, was ihr Wohlbefinden beeinträchtigt, seelisches Leid (Angst,
Verlassenheit, Enttäuschung, Kränkung, Missachtung von Willensäußerun-
gen …), Unbehagen (z. B. Hunger, Durst, volle Blase, schlechte Lage …)
ebenso wie Schmerzen.
3. Jeder Mensch, ob dement oder nicht dement, ist eine einmalige und einzigar-
tige Person und drückt daher das, was ihn quält, in seiner persönlichen Weise
aus. Manche Menschen reagieren z. B. auf Schmerzen mit zunehmender Un-

1
Echelle comportementale de la douleur pour personnes âgées non communicantes. Eine
neuere als die hier verwendete Version des Tests soll noch im Laufe des Jahres 2007 allgemein
verfügbar sein (Morello R et al. 2007).
74 M. Kojer

ruhe und Misslaunigkeit, während andere sich ganz zurückziehen und ver-
stummen, wenn ihnen etwas wehtut.

Frau AM, 92 Jahre alt und insulinpflichtige Diabetikerin, war stets eine sehr
freundliche Dame. Sie ist schon seit vielen Jahren dement. Im vergangenen Jahr
wurde sie zunehmend müder und immer schwächer, hörte allmählich fast ganz
auf zu sprechen, verlor an Gewicht und konnte bald nur mehr stundenweise das
Bett verlassen. Dennoch schien sie sich auch weiterhin recht wohlzufühlen. In
letzter Zeit begannen dann zur allgemeinen Überraschung immer deutlicher
werdende Verhaltensstörungen. Sie schrie oft, war zunehmend unruhig, zog sich
zwischendurch aber auch mit starrem Ausdruck in sich selbst zurück. Da sie zu-
letzt jeden Körperkontakt abwehrte und gleich schrie, wenn man in ihre Nähe
kam, wurde es immer schwerer, sie zu pflegen. Eine schwache Esserin war sie
schon seit Längerem. Jetzt aß sie noch weniger und verweigerte das Essen zeit-
weise sogar ganz.
Das Pflegeheim, in dem Frau AM betreut wird, startete vor einiger Zeit eine
Initiative zur Qualitätsverbesserung. Als eines der wesentlichen Ziele wurde die
verstärkte Beachtung der Schmerzen dementiell erkrankter Bewohnerinnen fest-
gelegt. Alle Teams wurden in der Verwendung eines der gebräuchlichsten
Schmerztests, des ECPA2 geschult und dazu verpflichtet, den Test bei nicht mehr
sprechfähigen Bewohnern mit auffälligem Verhalten einzusetzen. Das Erfas-
sungsinstrument berücksichtigt Beobachtungen während und außerhalb der
Pflege sowie Auswirkungen auf Kommunikation, Bewegung, Appetit und Schlaf.
Jedes abgefragte Verhalten wird mit 0–4 Punkten bewertet. Die Punktehöchstzahl
(44 Punkte) bedeutet maximalen Schmerz, bei null Punkten liegt kein Schmerz
vor.
Frau AM erreichte an verschiedenen Tagen und bei unterschiedlichen Beur-
teilungspersonen ziemlich konstant 33–35 Punkte, das heißt eine Punktezahl, die
scheinbar eindeutig für starke Schmerzen spricht. Nur ein Teil der Mitglieder des
betreuenden Teams war mit diesem Ergebnis wirklich einverstanden. Die ande-
ren waren der Ansicht, dass das Verhalten der Bewohnerin nichts mit körperli-
chen Schmerzen zu tun hatte, sondern zeigte, dass sie unglücklich und mit den
Änderungen ihres Tagesablaufs, die sich in letzter Zeit ergeben hatten, nicht ein-
verstanden war. Angesichts des Vorliegens harter Daten, die mit einem aner-
kannten Instrument ermittelt worden waren, konnten sie sich freilich nicht
durchsetzen.
Die aufgrund der Testergebnisse eingeleitete Schmerztherapie erwies sich als
problematisch: Novalgin- und Tramaltropfen zeigten nicht den gewünschten Ef-
fekt. Die Einnahme von Tabletten verweigerte Frau AM mit einer für ihren
schlechten Zustand erstaunlichen Energie. Das daraufhin verordnete Schmerz-
pflaster führte dazu, dass die Bewohnerin nur mehr schlief und ganz aufhörte zu
essen. Was war schuld daran? Unbeherrschbare Schmerzen? Ärztliche Unfähig-
keit?

2
Für die hier verwendete Version des Tests siehe Wilkening K und Kunz R, 2003, S. 235–237.
Wie soll ich wissen, was Dich quält? 75

Die Erklärung erwies sich letztlich als einfach: Im Zuge der deutlichen Ver-
schlechterung des Allgemeinzustands war die Diabeteseinstellung ins Wanken
geraten. Manchmal war der Blutzucker in Ordnung, dann aber wieder zu tief. Da
Frau HA weiterhin, wenn auch in abnehmenden Dosen, Insulin bekam, wurden
immer häufiger Blutzuckerkontrollen nötig. Hinzu kamen zweistündig durchge-
führte Lagerungsmaßnahmen, die bei zunehmender Immobilität zur Dekubi-
tusprophylaxe nötig erschienen. Das schmerzhafte Stechen in die Fingerbeere
ängstigte und verunsicherte die hochbetagte Frau. Das Umlagern empfand sie
sichtlich als störend, unbequem und als Einschränkung ihres Freiheitsspielraums.
Eine Zeitlang versuchte sie vergeblich, sich dagegen zu wehren. Unter diesen –
für die schwache und hilflose alte Frau quälenden, ängstigenden und völlig un-
begreiflichen – Umständen, konnte sie sich nicht mehr sicher, geborgen und ver-
standen fühlen. Das Vertrauen in ihre Betreuer war geschwunden. Sie litt ständig
unter Angst, weil sie nie wusste, was auf sie zukam, wenn sich jemand ihrem
Bett näherte.
Als die Schmerztherapie erfolglos blieb, konnte sich der primär skeptische
Teil des Teams durchsetzen: Unter Inkaufnahme etwas höherer Blutzucker-
werte wurde die Insulintherapie abgesetzt. Damit entfiel auch der Großteil
der Blutzuckerkontrollen. Die Dekubitusprophylaxe wurde auf Mikrolagerung
(www.dekubitus.de) umgestellt. Unter diesen geänderten Bedingungen reduzier-
ten sich die Verhaltensstörungen der Bewohnerin innerhalb kurzer Zeit und ver-
schwanden schließlich ganz. In ihrer verbleibenden Lebenszeit von wenigen
Monaten zeigte die alte Frau durch ihr Verhalten, dass sie sich wieder wohlfühlte.
Sie bekam keinen Dekubitus und brauchte bis zuletzt keine Schmerztherapie.
Um das Verhalten dementer Menschen einigermaßen richtig zu deuten, ist
sehr oft viel mehr erforderlich als die Beobachtung und Registrierung bestimmter
vorgegebener Verhaltenskategorien. Verlässt man sich nur auf den Test, werden
Schmerzen, die sich in Verhaltensweisen äußern, die in der betreffenden Skala
nicht vorkommen, übersehen und gehen unter. Andererseits zeigt das oben an-
geführte Fallbeispiel, wie leicht es möglich ist, körperliche Schmerzen zu un-
terstellen, wenn die Seele wehtut. Es wundert mich daher nicht, dass Studien, in
denen häufig verwendete Schmerztests für demente Menschen untersucht und
miteinander verglichen wurden, kein für alle geeignetes Erfassungsinstrument
fanden (van Herk et al. 2007; Defrin et al. 2006; Herr et al. 2006; Zwakhalen et al.
2006; Smith 2005). Die Hoffnung der Autoren, es werde mit der Zeit gelingen,
Assessmentinstrumente für diese sensible Patientinnengruppe zu erarbeiten, die
allen Ansprüchen genügen, kann ich indes aus den oben genannten Gründen
nicht teilen.

Welche Wege könnten erfolgreicher sein?

Das Erkennen der Schmerzen hochbetagter, an fortgeschrittener Demenz er-


krankter Menschen ist ein komplexer und schwieriger Prozess, der die Berück-
sichtigung vieler Faktoren erfordert. Daher kann diese Aufgabe oft besser bewäl-
76 M. Kojer

tigt werden, wenn sämtliche verfügbaren Informationen, Beobachtungen, Erfah-


rungen und Meinungen des multiprofessionellen Teams und der Angehörigen
miteinbezogen werden. Die wichtigsten Aufgaben fallen dabei ohne Zweifel den
unmittelbar betreuenden Personen zu: Sie stehen rund um die Uhr in Kontakt
mit den Betroffenen, kommen ihnen körperlich am nächsten, können am leich-
testen mit ihnen in Beziehung treten und haben am häufigsten Gelegenheit, sie
zu beobachten. Pflegekräfte und Angehörige erkennen daher körperliche und
seelische Schmerzen kranker Menschen, die sich nicht mehr artikulieren können,
früher und sicherer als Ärztinnen, die ihre Patientinnen jeweils nur für kurze Zeit
sehen.
Komplexe Probleme können in der Regel nur in einem Prozess gelöst wer-
den, dessen einzelne Anteile vielfach gleichzeitig nebeneinander stattfinden, ein-
ander überlappen und/oder sich wechselseitig beeinflussen. Im Interesse einer
systematischen Darstellung und der besseren Überschaubarkeit werden die we-
sentlichen Einzelelemente im Folgenden aus dem Gesamtprozess herausgelöst
und einzeln besprochen. Die dabei gewählte Reihenfolge ist nicht gleichbedeu-
tend mit einem zeitlichen Nacheinander.

Kommunikation
„Three most important elements of the palliative approach in dementia:
1. communication, 2. communication, 3. communication.” (Borasio 2007) Wie bei
vielen Problemen in der Geriatrie steht und fällt auch hier die Güte der Ergebnis-
se mit dem Gelingen von Kommunikation und Beziehungskultur auf allen erfor-
derlichen Ebenen.
a. Kommunikation mit den betroffenen Patientinnen/Bewohnerinnen. Dafür
ist es unerlässlich, an fortgeschrittener Demenz Erkrankte dort abzuholen,
ihnen dort zu begegnen, wo sie zu Hause sind, nämlich auf der Gefühlsebe-
ne. Alle Versuche einen Menschen, dem das logische Denken abhandenge-
kommen ist, mit der „Wahrheit“, d. h. mit unserer Realität zu konfrontieren,
sind von vornherein zum Scheitern verurteilt und behindern nur das gegen-
seitige Verstehen.
b. Kommunikation im unmittelbar betreuenden Team: Die einzelnen Teammit-
glieder entwickeln individuelle Beziehungen zu ihren Patientinnen und be-
gegnen ihnen in verschiedenen Situationen. Das gibt ihnen die Gelegenheit
unterschiedliche Verhaltensweisen und Reaktionen zu beobachten. Wird die
Dienstübergabe nicht nur zur Weitergabe „harter Tatsachen“ (z. B. Zustand
eines Hautdefekts, Anzahl der Tage ohne Stuhl …), sondern zur Zusammen-
führung dieser Erfahrungen genützt, gelingt es gemeinsam, zu genaueren
und komplexeren Vorstellungen zu gelangen.
c. Kommunikation im multiprofessionellen Team, d. h. auch mit nur fallweise
verfügbaren Teammitgliedern (in Pflegeheimen sind das in der Regel Ärztin-
nen, Therapeutinnen und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen). Besonders be-
deutsam für ein gelingendes Schmerzmanagement ist die partnerschaftliche
Wie soll ich wissen, was Dich quält? 77

Zusammenarbeit von Ärztinnen und Pflegekräften. Nur in einer Atmosphäre


der gegenseitigen Wertschätzung und des gegenseitigen Vertrauens ist es
möglich gute Lösungen zu finden.
d. Schriftliche Kommunikation: Dokumentation ist ein ungeliebtes Thema. Nie-
mand freut sich über den anwachsenden Berg an Papier, der Zeit frisst, die
man lieber den kranken und pflegebedürftigen Menschen gewidmet hätte.
Wenn auch in der Tat eine Menge an Sinnlosem niedergeschrieben wird:
Richtig genützte Dokumentation ist unverzichtbar für das Wohl der betreuten
Menschen und erleichtert zudem die Arbeit. Es ist wichtig und hilfreich für
den nachfolgenden Dienst (oder die zu einem späteren Zeitpunkt eintreffen-
de Ärztin) zu wissen, was andere bereits wahrgenommen und beobachtet ha-
ben. Auf dieser Basis lassen sich auch schwierige Situationen besser beurtei-
len, werden gezieltere Maßnahmen möglich.
e. Kommunikation mit den Angehörigen: Angehörige sind mit dem demenz-
kranken Menschen in einer ganz anderen Weise vertraut als das betreuende
Team, sie kennen ihn länger und haben ihn in unterschiedlichsten Situatio-
nen erlebt. Daher können sie seinen Ausdruck und sein Verhalten oft besser
deuten als jede andere. Je enger die Beziehung ist, desto feinsinniger sind die
Rezeptoren für Schmerzen oder andere Befindlichkeitsstörungen der gelieb-
ten Person. Im Zusammenspiel mit dem Fachwissen und der nötigen berufli-
chen Distanz der Pflegenden können diese Beobachtungen oft wesentlich
weiterhelfen.

Einfühlsame Beobachtung

Beobachtung ist nicht gleich Beobachtung. Wenn ich eine Zellkultur im Mikro-
skop betrachte, beobachte ich die Vorgänge in meinem Gesichtsfeld zwar interes-
siert aber nicht innerlich bewegt. Ich beobachte das Entstehen und Zusammen-
stürzen eines Kartenhauses mit einer ganz anderen Einstellung als meine kleine
Tochter, die eben daran geht, ein für Größere gedachtes Klettergestell zu erklim-
men. Einmal (bei der Zellkultur) beobachte ich interessiert und wissbegierig, im
Falle des Kartenhauses bin ich neugierig, wann es zusammenfällt, mein Kind be-
obachte ich mit liebendem Herzen und in steter Bereitschaft zu verhindern, dass
es sich wehtut.
Die Beobachtung Demenzkranker ist außerordentlich hilfreich um Schmer-
zen zu erkennen. Sie setzt indes eine Haltung voraus, die die Betroffenen nicht
gleich mit einem negativen Etikett versieht („kann nichts, weiß nichts, versteht
nichts“), sondern sie „primär in ihrem So-Sein akzeptiert“ (Dörner 2004, S 87).
Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich gefühlsmäßig in ihre Lage zu versetzen
(„wie würde ich mich verhalten, wenn …?“) und sich ihnen von innen heraus
zuzuwenden. Diese Zuwendung fällt umso leichter, je besser die Kommunika-
tion gelingt und eine Beziehung wachsen kann.
78 M. Kojer

Beachtung möglicher Schmerzursachen


Hochbetagte Pflegebedürftige haben in der Regel mehrere schwerwiegende,
chronische Krankheiten. Abnützungserkrankungen an Wirbelsäule und Gelen-
ken sind weit verbreitet. Vor allem alte Frauen leiden oft an bereits weit fortge-
schrittener Osteoporose. Viele haben bereits eine oder mehrere Frakturen hinter
sich. Wenn eine Demenzkranke sich „auffällig“ verhält, ist es daher immer sinn-
voll sich ihre Diagnosen genau anzuschauen und zu überlegen, ob etwas darun-
ter ist, das Schmerzen verursachen kann. Sehr häufig werden sich dabei wesent-
liche Hinweise auf Wahrscheinlichkeit und Lokalisation von Schmerzen finden,
die das weitere Vorgehen erleichtern.
Die 87-jährige Frau EZ lebt bereits seit 2 Jahren in einem Pflegeheim. Wiewohl
vollständig desorientiert, war sie bis vor einem halben Jahr ziemlich selbststän-
dig. In den letzten Monaten nahm ihre Demenz rasch zu, gleichzeitig entwickelte
sie zunehmende Verhaltensstörungen, schrie häufig, wurde zunehmend aggressiv
gegen das Pflegepersonal, verweigerte die Mobilisation und störte in der Nacht.
Versuche ihr Verhalten medikamentös zu beherrschen, waren nur zum Teil erfolg-
reich. In der Folge gelang es immer schwerer mit ihr Blickkontakt zu bekommen.
Die alte Frau „wollte“ bei der Mobilisation das Gewicht nicht mehr überneh-
men, hörte ganz auf zu sprechen. Sie aß nicht mehr selbstständig, die Nahrung
musste ihr verabreicht werden. Das Team war traurig und ratlos. Schließlich
fand eine Schwester, die gerade eine Ausbildung in Validation durchlief, einen
guten Zugang zu Frau EZ und hatte so Gelegenheit die Bewohnerin genauer zu
beobachten. Frau EZ wurde etwas zugänglicher. Das erweckte das Interesse und
den Ehrgeiz ihrer Kolleginnen. Jetzt bemühten sich alle darum mit der Bewohne-
rin in Beziehung zu treten, behutsamer und verständnisvoller mit der verstörten,
sichtlich gequälten alten Frau umzugehen. Beobachtungen und Erfahrungen
wurden regelmäßig im Team besprochen. Dabei stand nicht mehr die durch das
Verhalten verursachte „Störung“ im Vordergrund. Zuwendung und wachsende
Beziehung offenbarten den Betreuenden sehr rasch den Leidenszustand ihrer
Bewohnerin. Der Blick auf die Diagnosen führte in Verbindung mit den täglichen
Beobachtungen rasch zur Vermutungsdiagnose „Schmerzen im Bereich der rech-
ten Hüfte“. Unter der sofort eingeleiteten Schmerztherapie beruhigte sich die alte
Frau rasch, ihr Allgemeinzustand besserte sich deutlich.
Bei Frau EK war seit Jahren eine Osteoporose bekannt. Drei Jahre zuvor hat-
te sie eine Schenkelhalsfraktur erlitten, die sehr zufriedenstellend mit einer En-
doprothese vorsorgt worden war. Das nach Konsolidierung des Schmerzzustands
angefertigte Röntgenbild zeigte nun eine Lockerung der Endoprothese im osteo-
porotischen Knochen und lieferte die Erklärung für die Schmerzen der Patientin.

Probatorische Therapie
Es wird immer wieder vorkommen, dass Pflegende und Ärztinnen nicht eindeu-
tig feststellen können, ob jemand Schmerzen hat. In solchen Fällen ist es sinnvoll
Wie soll ich wissen, was Dich quält? 79

mit einer für den beobachteten Zustand geeignet erscheinenden Schmerzthera-


pie in niedriger Dosierung zu beginnen und die Dosis vorsichtig zu steigern. Be-
ruhigt und entspannt sich die Patientin darauf hin, wissen wir, dass wir auf dem
richtigen Weg sind. Mit einem Therapieversuch kann man Demenzkranken oft
unnötige Schmerzen ersparen und fügt ihnen dabei keinen Schaden zu. Das
kann man von der viel gebräuchlicheren, meist rasch erfolgenden Gabe von
Psychopharmaka nicht behaupten.

Schmerzerfassungsinstrumente
Ein engagiertes, gut kommunizierendes und beobachtendes Team braucht kei-
nen Test um Schmerzen zu erkennen, den weiteren Schmerzverlauf zu beobach-
ten und damit nötige Therapieanpassungen zu ermöglichen. Eine solche Vor-
gangsweise anerkennt die hohe Kompetenz der Pflegenden und degradiert sie
nicht zu Checklistenausfüllerinnen. Wenn ich weiß, dass ich persönlich, durch
meinen Einsatz, mein Mitfühlen, meine Art der Beziehung, meine Beobachtun-
gen und meine Erfahrung Entscheidendes dazu beitragen kann, dass es einem
hilflosen, schmerzgequälten Menschen besser geht, wenn ich spüre, dass meine
Leistung auch gesehen und anerkannt wird, empfinde ich meine Arbeit ohne
Zweifel als sinnvoller und befriedigender, als wenn ich vorgefertigte Feststellun-
gen auf einer Liste abhake.
Dennoch spricht auch etwas für den – wohlgemerkt nur zusätzlichen! – Ge-
brauch eines solchen Instruments: Man kann damit die „harten Daten“ erfassen,
die man heute häufig abliefern muss, um ernst genommen zu werden. Wenn der
oben geschilderte Prozess und das dabei erworbene Wissen dem Ausfüllen der
Liste vorausgehen, verbessert dies die Ergebnisse des Tests erheblich und macht
das nachträgliche Abhaken bis zu einem gewissen Grad sinnvoll. Gewinnt aller-
dings die Beschäftigung mit dergleichen administrativen, primär den Zeitsinn
bedienenden Dingen die Oberhand über die den kranken Menschen zugewand-
ten Kernaufgaben der Pflege und Behandlung, geschieht das immer auf Kosten
der Patientinnen oder Bewohnerinnen. „Die Qualität der Betreuung sinkt in dem
Maße, in dem das ‚Heilmittel Mensch’ unheilsam in den Hintergrund abgedrängt
wird“. (Schmidl 2007)

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Revision

Wer pflegt, braucht Pflege

E. SCHÜTZENDORF
E. Schützendorf

Monika, die als Pflegerin in einem Altenheim arbeitet, hat Frau Schmitz geweckt,
gewaschen, angezogen und in den Frühstücksraum gebracht. Frau Schmitz ist
sehr ängstlich. Jede Veränderung bringt sie zum Zittern. Monika übernimmt nicht
gerne die Pflege von Frau Schmitz. Sie fühlt sich danach ausgesaugt und vor al-
lem, sagt sie, habe sie ein schlechtes Gewissen. Sie habe das Gefühl, Frau
Schmitz nicht gerecht zu werden. Sie würde der alten Dame so gerne die Angst
nehmen, weiß aber, dass dies nicht geht.
Nach der Grundpflege, die ca. 30 Minuten in Anspruch nimmt, braucht Mo-
nika dringend eine Zigarette. In dem Pausenraum für Raucher steht ein Vogelkä-
fig mit mehreren Sittichen. Helga, die Kollegin, hat schon auf Monika gewartet,
um ihr zu berichten, dass die anderen Vögel wieder auf ihrem Sorgenvogel her-
umgehackt haben. Der arme Vogel habe schon am Boden gelegen. Sie müsse
wieder los, bittet aber Monika nach dem armen Tier zu schauen. Monika zündet
sich eine Zigarette an, und während sie mit dem Vogel spricht, ruft Frau Schmitz:
„Hallo, ist da jemand?“
Monika lässt sie rufen.
Ich habe an diesem Morgen Monika bei der Grundpflege von Frau Schmitz
begleitet und beobachtet. Diese teilnehmende Beobachtung ist Bestandteil einer
Methode, die ich Interpretationswerkstatt nenne. Es ist eine klassische Bil-
dungsmethode, mit der ich Mitarbeiter(innen) in der Altenpflege verführen will,
sich, die alten Menschen und die Beziehungen zwischen sich und den alten
Menschen zu verstehen. Wenn von allen Seiten das Einverständnis vorliegt, filme
ich das Geschehen. Filmaufzeichnungen oder protokollierte Beobachtungen sind
die Grundlage für die anschließenden Deutungen.
Wenn es wie im Falle von Monika in erster Linie darum geht, sich selbst zu
verstehen und Wege des Überlebens in einer schwierigen Beziehung zu finden,
hat sich als Hintergrund für die Interpretationen das Bild vom Festland und dem
Meer der Verrücktheit bewährt. Die Pflegenden sind die Festlandbewohner, die
sich an ihrer Welt und den dort gültigen Sicherheiten festhalten. Die alten Men-
82 E. Schützendorf

schen sind die Meeresbewohner, die nach ihrem Eigen-Sinn leben. Beide Welten
passen nicht immer. Aber es nützt nichts: Der Pflegende muss sich in die andere
Welt des Pflegebedürftigen begeben. Manchmal geht er dort, in dem ihm frem-
den Element, unter. Er fühlt sich wie ein Festlandbewohner in einem Meer. Er
versucht zu überleben, ringt nach Luft und will festen Boden unter den Füßen
haben.
Im Wesentlichen hat er drei Möglichkeiten, sich zu retten:
– Der Pflegende benutzt Rettungsboote, um nicht wirklich zu den Menschen, bei
denen er zu ersticken droht, eintauchen zu müssen. In ihnen fühlt er sich re-
lativ sicher, wenn ihn ein Bewohner unter Wasser ziehen will.
– Hat der Pflegende sich eine gewisse Zeit auf einen alten Menschen eingelas-
sen und in dieser Zeit eigene Bedürfnisse zurückgestellt, dann sucht er be-
wusst oder unbewusst Schleusen auf. Er verhält sich wie ein Taucher, der sich
zum Druckausgleich in eine Schleuse begibt. Dort versucht er, sich zu erho-
len, sich ins Gleichgewicht zu bringen, sich zu entladen oder Kraft zu tanken.
– Bei den langen Aufenthalten in den unterschiedlichen Meeren der verschie-
denen alten Menschen hält er immer wieder Ausschau nach einer Insel, auf
die er sich zurückziehen kann, um für sich zu sein und unbeschwert atmen zu
können, ohne dass irgendjemand an ihm zerrt.
Dieses Bild (ausführlich bei Schützendorf 2006, S.12 ff) hilft vielen Pflegenden,
ohne Scham und Schuldgefühle die eigenen Bedürfnisse in den Blick zu neh-
men.
Bei der Dienstübergabe bespreche ich meine morgendlichen Beobachtungen
mit Monika und den anwesenden Kolleg(inn)en, wobei ich meine Beobachtun-
gen in chronologischer Folge wiedergebe.
Monika betritt das Zimmer von Frau Schmitz und sagt: „Guten Morgen, Frau
Schmitz!“ Dann sagt sie, ohne auf eine Reaktion der alten Damen zu achten:
„Ich hol mal schnell zwei Handtücher.“ Monika verlässt das Zimmer und beeilt
sich, die Handtücher zu holen. Wenige Augenblicke später ist sie zurück.
Wir kommen zu folgender Deutung: Das Verlassen des Zimmers ist der erste
Rettungs- und Fluchtversuch. Monika betritt angespannt das Zimmer von Frau
Schmitz. Sie muss in diese unerträgliche Nähe. Sie weiß, was auf sie zukommt.
Sie wird weder das Zittern der alten Dame noch deren Umklammerungsversuch
ertragen können. Das Betreten des Zimmers ist für sie ein Anfang. Sie begibt sich
deshalb nicht sofort in das Meer, sondern hält zunächst nur einen Fuß in das
Wasser, um zu prüfen, ob sie es wagen kann. Nein, es geht noch nicht. Vorher
muss sie noch mal zurück, Festland spüren und durchatmen. Das macht sie, in
dem sie Handtücher holt. Dabei läuft sie fast über den Flur. Sie will noch einmal
die Schnelligkeit spüren, bevor sie in die Langsamkeit von Frau Schmitz eintau-
chen muss.
Darf sie das? Natürlich darf sie das. Es handelt sich um eine Schleuse, die für
Monika überlebensnotwendig ist. Das wird ihr nun klar. Die Hektik, die bisher
mit ihrer Flucht verbunden war, kann sie nun ablegen. Sie muss weder sich noch
anderen demonstrieren, wie toll sie sich für ihre Bewohner beeilt. Sie läuft näm-
Wer pflegt, braucht Pflege 83

lich um ihrer selbst willen. Monika will überlegen, ob sie die Zeit, die sie bisher
mit dem Holen der Handtücher verbracht hat, besser für sich nutzen kann, um
für den Tauchgang noch mal Kraft zu tanken. Sicher ist, dass sie in Zukunft nicht
mehr die Handtücher als Vorwand benutzen muss, um das Zimmer nach Betre-
ten sofort wieder verlassen zu dürfen.
Ich gehe in den Aufzeichnungen vom Morgen weiter.
Monika kommt mit den Handtüchern zurück, schiebt den Nachtstuhl an das
Bett von Frau Schmitz und hebt die alte Dame an, damit sie sich im Bett setzen
kann. Monika zieht Frau Schmitz die Schuhe an und setzt sie auf den Nacht-
stuhl.
Frau Schmitz sagt: „Nachts bin ich immer alleine.“
Monika: „Nachts ist ja auch keiner da.“
Frau Schmitz zittert.
Wie deuten wir das?
Monika versucht die Zeit bei Frau Schmitz durchzustehen, indem sie sich in
das Rettungsboot „Professionelle Pflege“ begibt. Dieses Boot gibt ihr Halt und
die Gewissheit, gut und richtig zu handeln, ohne sich in die gefährlichen Strudel
einer menschlichen Beziehung begeben zu müssen. Den Versuch der alten
Dame, sie aus dem Boot in das Meer zu ziehen, wehrt sie ab. Sie bleibt in der Lo-
gik des Festlandbewohners: „Nachts ist ja auch keiner da.“
Das Rettungsboot „Professionelle Pflege“ hilft Monika aber nicht wirklich. Sie
spielt die Rolle der Krankenschwester und unterdrückt die Rolle des Mitmen-
schen. Aber, so sagt Monika, eigentlich möchte sie viel lieber Frau Schmitz als
Mitmensch begegnen. Zwei Herzen schlagen in ihrer Brust. Sie fühlt sich in ihrer
Haut nicht wohl. Um nicht zerrissen zu werden, übersieht sie lieber die Angst
der alten Dame. Sie deutet deren Zittern als gezielten Versuch, durch Hilflosigkeit
die Zuwendung von Monika zu erzwingen. Wir überlegen, dass Frau Schmitz
immer häufiger zittern muss, je mehr sie von Monika enttäuscht wird.
Monikas Rettungsboot entpuppt sich also als eine Falle. Sie leidet an Frau
Schmitz. Sie möchte das, woran sie leidet, wegbekommen oder leugnen. Dies ge-
lingt ihr nicht. Schließlich sieht sie sich als Opfer und Frau Schmitz als Täterin.
Das wiederum gibt ihr das Recht, Frau Schmitz noch weniger von der ersehnten
Nähe zu geben. Dummerweise leidet nun Monika, weil sie die alte Dame leiden
lässt. Wie kommt sie aus dieser Falle heraus?
Wir besprechen einen Kompromiss.
Für den nächsten Tag nimmt Monika sich vor, sofort nach Betreten des Zim-
mers zu Frau Schmitz ans Bett zu gehen, einen Moment zu verweilen und zuzu-
hören, was die alte Dame sagen und mitteilen möchte. Monika will der Dame
etwa 30 Sekunden schenken, in der nicht sie, sondern Frau Schmitz den Takt be-
stimmt. Danach wird sie sich eine bewusste Eigenzeit nehmen, das Zimmer ver-
lassen und – wenn sie will – Handtücher holen.
Dadurch, so hoffen wir beide, entspannt sich der Zeitdruck, der bisher ent-
stand, weil Monika gleichzeitig der alten Dame und sich selbst gerecht werden
wollte. Sie wird nun abwechselnd eine kurze Zeit für Frau Schmitz und eine kur-
ze Zeit für sich da sein. Das will Monika üben, und ich verspreche ihr, sie an ih-
84 E. Schützendorf

ren Vorsatz zu erinnern. Es ist nämlich nicht leicht, sich auch nur für wenige Au-
genblicke einem Menschen zur Verfügung zu stellen, das Heft des Handelns aus
der Hand zu geben und sich vom Agierenden zum Reagierenden, der achtsam
bleibt, sich von der Rolle des Pflegenden auf die Rolle des Mitmenschen, der ei-
nem anderen begegnet, umzustellen. Wenn man es ein paar Mal geübt hat,
merkt man, dass man nicht untergeht, wenn man sich zur Verfügung stellt und
statt selbst zu handeln etwas mit sich machen lässt.
Es fällt Vielen von uns schwer, jeden Morgen von Frau Schmitz hören zu
müssen, dass nachts keiner zu ihr kommt. Aber es fällt leichter, wenn man Frau
Schmitz nach den langen Stunden des Alleinseins zugesteht, dass sie auf einen
Menschen wartet, dem sie ihr Leid erzählen kann. Dieser Mensch braucht ihr
nur sein Ohr zu leihen. Er muss nichts kommentieren, nichts erklären, nichts
richtig stellen. Auf Floskeln kann er verzichten. Er muss aktiv zuhören.
Und vor allem fällt das Zeit schenken dann leichter, wenn man sich das Recht
nimmt und natürlich das Recht zugestanden bekommt, sich nach dem Zuhören
guten Gewissens auf dem Flur erholen zu dürfen. Wem nach den 30 Sekunden
nichts anders einfällt, der darf sich bei Frau Schmitz mit den Worten „Jetzt hol
ich mal die Handtücher“ ausklinken.
Bei Monika bin ich sicher, dass sie nach einiger Zeit andere Wege und Mittel
finden wird, die ihr Kraft geben, Frau Schmitz zuzuhören, ihr Zittern zu ertragen
und sich ab und an umarmen zu lassen. Viele andere Pflegende vor ihr haben das
auch geschafft. Sie haben sich eine Blume in das Zimmer einer „schwierigen“
Person gestellt, und während sie sich mit der Pflege der Blume beschäftigen, hal-
ten sie die Ohren für die pflegebedürftige Person offen. Sie trinken ein Glas Saft,
verwöhnen sich also, während sie Nähe aushalten. Oder sie halten sich an einem
bunten Band fest, an dem sie sich herausziehen, wenn das Zuhören zuviel wird;
sie nehmen Steine in die Hand, um sie als Handschmeichler oder als Kraftquelle
zu nutzen. Oder sie haben vor dem Zimmer, das sie aus Gründen des Selbst-
schutzes verlassen müssen, einen Spiegel angebracht. Vor dem entladen sie sich,
indem sie nach der Qual des Zuhörens Grimassen schneiden.
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, außer der natürlich, wo die Selbst-
pflege zu Lasten der alten Person geht.
Zurück zu meinen Beobachtungen.
Monika hat Frau Schmitz die Schuhe angezogen und sie auf den Nachtstuhl
gesetzt.
Das erste ist geschafft. Monika setzt sich auf das Bett von Frau Schmitz
und nutzt die Zeit, die Frau Schmitz zur Erledigung ihres Geschäftes braucht, um
das Rettungsboot für einen Moment zu verlassen und zu Frau Schmitz einzu-
tauchen.
Monika: „Haben Sie gut geschlafen?“
Frau Schmitz: „Wenn ich im Bett liege, kommt kein Mensch.“
Sofort bricht Monika den Tauchgang ab und kehrt in ihr Boot zurück.
Aus dem sicheren Boot heraus gibt Monika zu bedenken: „Dann ist ja auch
Nacht.“
Was soll Frau Schmitz jetzt noch sagen?
Wer pflegt, braucht Pflege 85

Monika bricht das Schweigen:


„Soll ich Sie jetzt waschen?“
Keine Antwort.
„Fertig?“ fragt Monika, der die Zeit des Abwartens zu lang wird.
Frau Schmitz bewegt ihre zitternde Hand auf Monika zu.
„Mit Pipi?“ fragt Monika nach.
Frau Schmitz: „Ich bin so ungern alleine.“
Monika: „Sind Sie fertig?“
Frau Schmitz: „Ja.“
Auch in dieser Situation wehrt Monika die Nähe durch Pflegeverrichtungen
und an Pflege orientierter Sprache ab. Einfühlsame Worte würden sie, so glaubt
Monika, in die Welt des Wehleidens, der Angst und der Einsamkeit von Frau
Schmitz hineinziehen. Und das, wie gesagt, hält sie nicht aus. Lieber drückt sie
auf das Tempo und das mit Blick auf die knappe Zeit zu Recht, wie Monika meint.
Zeit ist das Reizthema in der Pflege. Mit Mangel an Zeit lässt sich schnell jedes
ungehaltene Verhalten rechtfertigen. Wir denken über Zeit nach, und es wird bald
klar, dass es in der Pflegebeziehung nicht nur um chronologische Uhrzeit geht,
sondern um Eigen-Zeiten, um den eigenen Rhythmus, um den unterschiedlichen
Takt bei Menschen. Ich rechne vor, dass Monika gerade einmal eine gute Minute
auf das Wasserlassen von Frau Schmitz gewartet hat. Die Pflegerin ist überrascht
und sagt: „Das war eine gefühlte halbe Stunde!“ Offensichtlich hat Monika einen
sehr schnellen, lebendigen Takt und der scheint sich überhaupt nicht mit der trä-
gen Bedächtigkeit der alten Dame zu vertragen. Es ist also nicht nur das Tick-Tack
der Uhr, das auf das Tempo drückt, sondern das innere Zeitgefühl.
Monika fragt, was ihr helfen könnte, das Warten auszuhalten. Auf keinen Fall
möchte sie Frau Schmitz auf dem Nachtstuhl alleine lassen. Die alte Dame ließe
sich dann von dem Stuhl heruntergleiten, das habe sie schon öfter gemacht, und
läge dann auf dem Boden mit dem Kopf unter dem Bett.
Ich finde solche Beobachtungen höchst interessant, zeigen sie doch, wie viel
Selbstheilungskräfte alte Menschen besitzen. Wenn Frau Schmitz in jeder neuen
Situation voller Angst feststellt, dass sie ihren Körper nicht beherrschen und
nicht halten kann, wenn sie sich unbedingt an einen Menschen lehnen, ja
klammern möchte, damit sie nicht umfällt, aber kein Pflegender greifbar ist, dann
verschafft sich Frau Schmitz die Sicherheit, die sie braucht; sie legt sich auf den
Boden, den Kopf unter das Bett. Auf meine Nachfrage wird bestätigt, dass sich
Frau Schmitz bei ihren Rettungsversuchen noch nie verletzt hat.
Dennoch könne man, ist Monika überzeugt, es nicht darauf ankommen las-
sen.
Noch wird das aus meiner Sicht kompetente Verhalten der alten Dame von
Monika und ihren Kolleg(inn)en als Provokation der alten Dame gedeutet. Sie
wolle Aufmerksamkeit erzwingen, heißt es. Ich bin überzeugt, dass Monika und
ihre Kolleg(inn)en mit zunehmender Selbstpflege auch einen anderen Blick für
die Eigen-Sinnigkeiten der alten Menschen entwickeln werden.
Was aber könnte Monika helfen, sich auf einen ihr fremden Rhythmus
umzustellen? Wie kann sie sich entschleunigen? Ich schlage ihr vor, in der Zeit
86 E. Schützendorf

des Wartens etwas für sich zu tun. Vielleicht mag sie eine Kerze anzünden?
Eine Duftlampe? Entspannungsmusik abspielen? Eine Dekoration umgestal-
ten?
Monika gesteht, dass sie normalerweise den Fernsehapparat einschaltet. Der
lenke sie ab. Heute habe sie das nicht getan, weil ich dabei war. Fernsehapparat
ist auch gut, sage ich. Wichtig ist, dass Monika weiß: das Fernsehen ist ihr Ret-
tungsboot. Fernsehen hilft ihr, die Zeit des Wartens zu überstehen. Sie muss sich
ablenken. Mit diesem Eingeständnis der Selbstpflege wird es in Zukunft über-
flüssig, auch Frau Schmitz, die über ihre Einsamkeit wehklagen will, auf andere
Gedanken zu bringen. Monika will sich ab sofort ihre gewöhnliche Aufforderung
„Gucken Sie mal, Frau Schmitz! Haben Sie das gesehen?“ verkneifen.
Mit ein bisschen Übung gelingt beides: ein Rettungsboot benutzen und
gleichzeitig einfühlsam zuhören.
Als Frau Schmitz endlich ihr Geschäft auf dem Nachtstuhl beendet hat, hebt
Monika die Bewohnerin an, legt den Deckel auf den Nachtstuhl und setzt sie
wieder hin, um sie zur Nasszelle zu fahren. In der Nasszelle sagt Monika:
„Ich hol die Unterwäsche“, und lässt Frau Schmitz vor dem Waschbecken
alleine.
Frau Schmitz: „Was mach ich jetzt?“
Frau Schmitz zittert. Monika sucht im Schrank nach der Unterwäsche.
In unserem Gespräch sieht Monika sofort ein, dass sie nach den gefühlten
30 Minuten Langsamkeit und Stillstand eine Schleuse zum Durchatmen benö-
tigt. Das Holen der Unterwäsche rettet sie. Das ist soweit in Ordnung. In Zu-
kunft will Monika jedoch ihre Auszeit bewusster nutzen. Sie nimmt sich vor,
nicht mehr zu denken: „Jetzt muss ich auch noch die Unterwäsche holen und
suchen“, sondern: „Ich will mich von Frau Schmitz entfernen, ich brauche eine
Zeit, in der ich nicht zur Verfügung stehe. Und das mach ich jetzt.“
Kein Mensch kann unentwegt für andere Menschen zur Verfügung stehen.
Jeder, der andere Menschen pflegt, benötigt Zeiten, in denen er nur für sich ist, in
denen er sich den Ansprüchen derjenigen, für die er sorgen will, entziehen kann.
Der Pflegende ist also, wenn er überleben will, auf Eigenzeiten angewiesen, in
denen kein anderer Mensch Energie von ihm absaugt. Also geht er auf Distanz.
Dieses Verhalten ist durchaus normal. Es wirkt aber unglaubwürdig, weil die
Pflegenden nicht ehrlich mit ihrem Wunsch nach Rückzug umgehen, ja sogar so
tun, als hätten sie keine persönlichen Bedürfnisse.
Natürlich nehmen sich die Mitarbeiter(innen) in der Altenpflege Eigenzeiten.
Sie haben keine andere Wahl, denn sie müssen sich ausrichten, sich ins Gleich-
gewicht bringen, wieder zu sich selber finden, sich sammeln oder sich entladen,
Dampf ablassen oder durchatmen. All das tun sie, nur leider sehr oft unwissent-
lich, unreflektiert, heimlich oder mit einem schlechten Gewissen. Und deshalb
sind ihre Bemühungen um Selbstpflege eher hilflos und zufällig, was dann wie-
derum dazu führt, dass sie sich ertappt fühlen, wenn sie berechtigterweise mit-
einander reden, um auf andere Gedanken zu kommen, wenn sie zusammen ste-
hen und lachen, wenn sie in sich versunken eine Tasse Kaffe trinken und nicht
ansprechbar wirken oder im Raucherzimmer mit dem Vogel reden.
Wer pflegt, braucht Pflege 87

In unserem Gespräch überlegt Monika, ob sie sich einfach vor die Nasszelle
oder in den Türrahmen stellt und aus der sicheren Entfernung auf den Seelenzu-
stand von Frau Schmitz eingeht. Dann hätte sie eine Eigenzeit und könnte diese
sogar mit Frau Schmitz teilen. Und Frau Schmitz hätte Gelegenheit von Ihrer
Mutter zu erzählen und ihren Seelenzustand preiszugeben. Dazu hatte sie näm-
lich bei meiner Anwesenheit keine Gelegenheit.
Monika hat die Unterwäsche ausgesucht und ist zurück in der Nasszelle. Frau
Schmitz hat den Wasserhahn aufgedreht und wäscht ihre Hände.
Monika schließt den Wasserhahn: „Ich zieh Ihnen zuerst das Nachthemd
aus.“
Frau Schmitz gehört zu den alten Menschen, die sich glücklicherweise selbst-
ständig waschen können – aber leider nicht alleine. Es muss jemand in ihrer
Nähe bleiben, während sie sich ohne Hilfe wäscht. Sie wäscht mit dem Wasch-
lappen das Gesicht. Monika fällt es schwer, nur zusehen zu müssen und im Be-
darfsfalle zu helfen, also zu reagieren, statt zu agieren. (Ein weiterer Grund für
Monika, vor der Nasszelle achtsam zu warten.) Also wäscht Monika schon mal
den Rücken von Frau Schmitz.
Monika: „Jetzt untenrum.“
Frau Schmitz: „Das mach ich.“ Sie wäscht ihren Genitalbereich.
Monika hebt die alte Dame an, um ihr das Waschen zu erleichtern.
Frau Schmitz: „Ich glaub, da werd ich wie meine Mutter.“
Monika stoppt sofort die drohenden Erinnerungsfetzen: „Wie kommen Sie
denn da drauf!“
Schade, jetzt erfahren wir nicht, was Frau Schmitz mitteilen wollte.
Es sind schon 20 Minuten vorbei und Monika macht nun voran im Pro-
gramm: eincremen, Einlage anlegen, Schuhe aus-, Hose und Bluse an- und
Schuhe wieder anziehen.
Frau Schmitz reinigt ausgiebig ihre Zahnprothese.
Monika dreht den Wasserhahn zu und sagt: „So ist gut.“ „So sauber waren
die Zähne ja noch nie.“
Frau Schmitz öffnet den Wasserhahn. Monika schließt ihn nach 5 Sekunden
wieder.
Sie will zum Ende kommen. Sie kann sich nicht mehr zusammenreißen.
Frau Schmitz kämmt sich. Monika nimmt ihr den Kamm aus der Hand: „Ich
tu mal hinten (kämmen).“
Endlich. Fertig.
Frau Schmitz: „Darf ich mich hinlegen?“
Monika: „Ich würde ja zuerst Kaffee trinken und mich dann hinlegen.“
Frau Schmitz: „Jetzt hab ich wieder Angst.“
Monika überhört das, schiebt Frau Schmitz im Rollstuhl zur Frühstücksgrup-
pe und gibt sie dort an eine Kollegin ab.
„Jetzt“, sagt Monika, „brauch ich eine Zigarette.“
Sie geht auf ihre Insel, das Raucherzimmer. Sie braucht jetzt eine Zeit, in der
sie nicht zur Verfügung stehen muss, keinen Meeresbewohner vor Augen sehen
will. Also einen Rückzugsraum. Nur leider sind echte Rückzugsräume in der
88 E. Schützendorf

Altenpflege selten. Selbst das separate Raucherzimmer schützt Monika nicht vor
den Bewohnern. Frau Schmitz ruft: „Ist da jemand?“ und Monika muss noch mal
alle Reserven zusammenreißen, um das Rufen zu überhören. Sie redet mit dem
Vogel, um nicht für Frau Schmitz da sein zu müssen. Sie will sich abschotten, nur
für sich sein. Diese Abschottungen sind zum Überleben notwendig. Nur leider
gelingen sie viel zu selten, weil in einem Pflegeheim die Bewohner immer prä-
sent sind. Das Gefühl, permanent anderen Menschen zur Verfügung stehen zu
müssen, macht die Arbeit in der Altenpflege für die Pflegenden auf Dauer un-
menschlich. Deshalb wird es höchste Zeit, die Pflegeheime zu verändern und die
Milieugestaltung vom Pflegenden aus zu denken. Nicht die Bewohner, sondern
Monika und ihre Kollegin brauchen die Vögel in dem Vogelbauer. Selbstsorge ist
das gute Recht der Pflegenden und dieses Recht muss auch finanziell unterstützt
werden.
Interessant ist Monikas Frage, ob sie auf ihrer Insel das Mitleid, das sie Frau
Schmitz nicht geben kann, ihrem armen Vogel zugutekommen lässt. Mag sein.
Vielleicht ist ja auch sie der arme Vogel, auf dem alle herumhacken. Auf jeden Fall
ist diese Frage ein Beweis, dass sich die Pflegerin auf das Abenteuer der Bildung,
des Verstehens und der Selbstreflexion eingelassen hat.
Somit hat sich die Methode der Interpretationswerkstatt bei Monika als hilf-
reich erwiesen. Sie hat den Prozess der Selbstpflege, von dem auch die alten
Menschen profitieren werden, begonnen. Voraussetzung für den Erfolg der Me-
thode sind Mitarbeiter(innen), die bereit sind, sich zurückzunehmen, auf Distanz
zu sich selbst zu gehen und von außen auf sich selbst zu schauen, die in der Lage
sind, die Perspektive zu wechseln und eine Zeit der Unsicherheit auszuhalten, bis
neue Sicherheiten gewonnen werden.
Leider treffen diese Eigenschaften nicht auf alle Mitarbeiter(innen) in der Al-
tenpflege zu. Einige (manchmal viele) verweigern sich und bleiben bildungsresis-
tent.
Wenn aber etwa die Hälfte eines Pflegeteams bereit ist, sich selbst in den
Blick zu nehmen und Pflege von sich aus zu denken, dann hat die Methode oft
durchschlagenden Erfolg. Sichtbar wird der Erfolg durch eine Milieugestaltung,
bei der die Selbstpflege der Mitarbeiter(innen) einen hohen Stellenwert hat.
Hier einige Beispiele:
Belobigungsecken
Ein Spiegel mit Kussmund oder einem Lorbeerkranz sagt: Verwöhn dich und
deine Kollegen! Massagegeräte fordern auf, den Rücken einer Kollegin zu mas-
sieren, sich selbst eine Fußmassage zu gönnen.
Entschleunigungsparcours
Mancher Pflegende versucht seine Anspannung abzulaufen. Wer sich dessen
bewusst ist, braucht seinen Wunsch nach innerer Ausgeglichenheit nicht mehr
dadurch zu verbergen, dass er allen sagt, wie viel er schon getan hat, was er noch
alles tun muss und dass mal wieder alle Arbeit bei ihm anfällt. Er läuft sich ein-
fach ab. Die langen Flure in den meisten Heimen sind als Lauftreff bestens ge-
eignet.
Wer pflegt, braucht Pflege 89

Entspannungsnischen
Andere Pflegende brauchen Ruhe und Entspannung, um nach belastenden Situ-
ationen Abstand zu gewinnen. Sie richten sich eine Oase der Ruhe in einer Ni-
sche, im Bad oder am Ende des Flures ein und schaffen sich dadurch einen
Raum, der ihnen Gelegenheit zur Besinnung bietet. Das kann ein Liegestuhl mit
Sonnenschirm, ein Zeltdach, eine Bank mit Stoffhimmel oder eine grüne Ecke
mit Brunnen sein.
Eine Pflegerin hat sich auf einer Fensterbank einen Entspannungsgarten an-
gelegt mit Moos, einem Zaun und Zwergen. Wenn sie zur Ruhe kommen will,
„arbeitet“ sie in ihrem Garten.
Atmungsstation
Man muss in der Pflege immer wieder mal aufatmen, durchatmen, frische Luft
atmen. Pflegerinnen benutzen dazu gerne eine Duftlampe, die sie an einer güns-
tigen Stelle platzieren. Oder sie haben sich einen Stuhl gekennzeichnet, auf dem
sie den „Kutschersitz“ anwenden.
Meditation
Im Flur steht eine Kiste mit Sand. Eine Pflegerin zeichnet mit ihren Fingern Spu-
ren in den Sand. Sie übt sich in Zen-Meditation.
Urlaubsstimmung
Eine Kollegin träumt an der Sandkiste von Urlaub. Sie lässt den Sand durch ihre
Finger rieseln und stellt sich den Strand vor. Ein Liegestuhl erinnert an Urlaub.
Man träumt sich weg, erinnert sich an schöne Urlaubstage und plant künftige.
Besänftigung
Ein Windspiel hängt vor dem Zimmer von Frau Jansen, die jeden mit ihren Fra-
gen nervt. Vor Betreten des Zimmers bringt man das Windspiel zum Klingen, um
sich zu besänftigen. Beim Verlassen kann man sich daran abschlagen, wenn die
Besänftigung nichts gebracht hat.
Gleichgewichtsübungen
Es gibt Teller mit halbrunden Kugeln, auf denen man zwischendurch testen kann,
ob man darauf stehend noch die Balance findet. Beliebt sind Sitzbälle zur Stabili-
sierung des Rückens.
Lachstationen
Die allermeisten Konflikte in der Altenpflege sind nicht lösbar. Am ehesten hilft
Lachen und Frohsinn. Zum Schmunzeln geeignet sind Postkarten, auf denen
Pflegende karikiert werden. Auch Pustefix (Seifenblasen) oder Hohlspiegel, in
denen man mal dick, mal schmal, mal riesig erscheint, erheitern. Oder der Plas-
tikfisch an der Wand der, wenn man auf ihn drückt „Don’t worry, be happy“
singt.
Entladungsstationen
Neben der Entspannung, der Entschleunigung, dem Ausgleich, dem Krafttanken
ist der Druckausgleich zum Abbau von Anspannung und Erregung in der Pflege
90 E. Schützendorf

besonders wichtig. Pflegende sind fast täglich Kränkungen, Demütigungen, Er-


niedrigungen, Entehrungen, Aggressionen und Ekel ausgesetzt. Da helfen ihnen
keine weißen Kittel, keine Schutzkleidung und keine Handschuhe.
Man kann seine Verärgerungen an Klangbrettern mit Klingel, Hupe, Glocken,
Rasseln, entladen. Man kann gegen „Wutsteine“ (aus Schaumstoff nachgebildete
Steine) treten oder „Wutbälle“ (kleine weiche Bälle) gegen die Wand klatschen.
Beliebt sind Dosen mit aufgeklebten Fotos der Heimleitung, um sie bewerfen
zu können.
Ein Stofftier hängt an einer Feder von der Decke. Man kann daran ziehen
und auf diese Weise einen schwierigen Bewohner zappeln und hüpfen lassen.
Mit Boxhandschuhen oder an Sandsäcken kann man sich abreagieren.

Schlussbemerkung

Man muss keine Sorge haben, dass die Selbstpflege übertrieben wird.
Der Pflegende, der seine trotz oder gerade wegen des erheblichen Zeitdrucks
genommenen unreflektierten Aus-Zeiten in bewusste Eigen-Zeiten verwandelt,
der wird im nächsten Schritt überlegen, wie er seine Eigenzeiten mit den Be-
wohnern teilen kann. Und dann sind die Mitarbeiter(innen) da angekommen,
wo sie eigentlich immer hin wollten: bei den alten Menschen. Monika ist auf
dem besten Wege dazu.

Literatur
Schützendorf E (2006) Wer pflegt, muss sich pflegen. Springer, Wien NewYork
Schützendorf E (2004) Das Recht der Alten auf Eigensinn, 4. Aufl. Ernst-Reinhardt, München
Revision

Schmerztherapie in der Pflege –


rechtliche Rahmenbedingungen
 A-PULKER
M. KLETECK
Schmerztherapie in der Pflege – rechtliche Rahmenbedingungen

M. Kletecka-Pulker

Grundsätzliches

Gerade im medizinischen Bereich ist die Zusammenarbeit mehrerer Berufsgrup-


pen unabdingbar und erfordert eine komplexe und arbeitsteilige Organisation.
Häufig stellen sich daher insbesondere Fragen hinsichtlich der Zusammenarbeit
zwischen ärztlichen und nicht ärztlichen Gesundheitsberufen. Es handelt sich
dabei überwiegend um Fragen der Abgrenzung einzelner Tätigkeiten. Für die
Pflege ist vor allem von entscheidender Bedeutung, ob es sich um eine Tätigkeit
im eigenverantwortlichen oder mitverantwortlichen Tätigkeitsbereich handelt, da
daran unterschiedliche Rechtsfolgen geknüpft werden.
Die Tätigkeitsbereiche des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Kran-
kenpflege umfassen eigenverantwortliche, mitverantwortliche und interdiszipli-
näre Tätigkeiten.1
Der eigenverantwortliche Tätigkeitsbereich umfasst insbesondere Maßnah-
men der Pflegeanamnese, Pflegediagnose, Pflegeplanung, Organisation, Durch-
führung und Kontrolle aller pflegerischen Maßnahmen im intra- und extramura-
len Bereich (Pflegeprozess), die Gesundheitsförderung und -beratung im
Rahmen der Pflege, die Pflegeforschung sowie die Durchführung administrativer
Aufgaben im Rahmen der Pflege (§ 14 GuKG). Bei Ausübung von Tätigkeiten
nach § 14 GuKG handelt die Angehörige des diplomierten Pflegepersonals ei-
genverantwortlich. Das bedeutet, dass dieser Person im Rahmen ihres Berufs-
rechts keine fachlichen Weisungen erteilt werden dürfen, unbeschadet freilich
allfälliger grundlegender Anordnungen im Rahmen der Organisation des Pflege-
dienstes.2 Entscheidend ist dabei vor allem, dass die Pflegeperson letztlich auch

1§ 13 GuKG.
2Vgl dazu näher Hausreither (2008) in: Aigner, Kletecka,
ˇ Kletecka-Pulker,
ˇ Memmer (Hrsg),
Handbuch Medizinrecht, Bd 2, III, S 540 ff.
92 M. Kletecka-Pulker
ˇ

allein verantwortlich für die Durchführung ihrer Aufgaben ist. Besitzt sie nicht
die entsprechenden Kenntnisse und erforderlichen Fähigkeiten für die Durch-
führung einer dieser Tätigkeiten, darf sie diese auch nicht annehmen. Man
spricht in diesem Zusammenhang von der sogenannten Einlassungs- bzw Über-
nahmsfahrlässigkeit.3

Mitverantwortlicher Tätigkeitsbereich

Gemäß § 49 Abs 2 ÄrzteG 1998 hat der Arzt seinen Beruf persönlich und unmit-
telbar, allenfalls in Zusammenarbeit mit anderen Ärzten auszuüben. Zur Mithilfe
kann er sich jedoch Hilfspersonen bedienen, wenn diese nach seinen genauen
Anordnungen und unter seiner ständigen Aufsicht handeln. Weiters kann der
Arzt im Einzelfall an Angehörige anderer Gesundheitsberufe oder in Ausbildung
zu einem Gesundheitsberuf stehende Personen ärztliche Tätigkeiten übertragen,
sofern diese vom Tätigkeitsbereich des entsprechenden Gesundheitsberufes um-
fasst sind. Er trägt die Verantwortung für die Anordnung. Die ärztliche Aufsicht
entfällt, sofern die Regelungen der entsprechenden Gesundheitsberufe bei der
Durchführung übertragener ärztlicher Tätigkeiten keine ärztliche Aufsicht vorse-
hen.
Die entsprechende Bestimmung enthält § 15 GuKG, welcher den mitver-
antwortlichen Tätigkeitsbereich der Pflege regelt. Dieser Bereich umfasst jene
Tätigkeiten, die das diplomierte Pflegepersonal nur nach ärztlicher Anordnung
durchführen darf, wie z. B. die Verabreichung von Arzneimitteln, Vorbereitung
und Verabreichung von subkutanen, intramuskulären und intravenösen Injektio-
nen, Vorbereitung und Anschluss von Infusionen bei liegendem Gefäßzugang
ausgenommen Transfusionen, sowie die Blutentnahme aus der Vene und aus den
Kapillaren.
Bei der Aufzählung von Maßnahmen im mitverantwortlichen Tätigkeitsbe-
reich handelt es sich allerdings um eine demonstrative (beispielhafte) Aufzäh-
lung. Es können auch andere ärztliche Maßnahmen vom mitverantwortlichen
Tätigkeitsbereich umfasst sein, die nicht in der Aufzählung enthalten sind. Ent-
scheidend ist dabei, dass die ärztliche Tätigkeit grundsätzlich auch vom entspre-
chenden Tätigkeitsbereich der diplomierten Pflege erfasst ist, einen vergleichba-
ren Schwierigkeitsgrad aufweist und die entsprechenden Kenntnisse und
Fertigkeiten auch in der Ausbildung oder in einer Fortbildung vermittelt wur-
den.4 So ist beispielsweise die Verabreichung von subkutanen Infusionen in
der demonstrativen Aufzählung des § 15 Abs 5 GuKG nicht enthalten. Die Ver-
abreichung subkutaner Infusionen entspricht grundsätzlich dem Stand der me-
dizinischen und pflegerischen Wissenschaft. Daher kann bei entsprechender In-
dikation aus fachlicher und rechtlicher Sicht die Delegation von subkutanen

3 ˇ
Hausreither (2008) in: Aigner, Kletecka, ˇ
Kletecka-Pulker, Memmer (Hrsg), Handbuch
Medizinrecht,Bd III, S 542.
4 Vgl näher mit weiteren Beispielen Hausreither (2008) in: Aigner, Kletecka,
ˇ ˇ
Kletecka-
Pulker, Memmer (2008), Handbuch Medizinrecht, Bd 2, III, S 555.
Schmerztherapie in der Pflege – rechtliche Rahmenbedingungen 93

Infusionen an Angehörige des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Kran-


kenpflege grundsätzlich zulässig sein. Die erforderlichen Kenntnisse und Fertig-
keiten sind vom diplomierten Pflegepersonal im Rahmen einer entsprechenden
Fortbildung zu erwerben, wenn diese nicht bereits in der Ausbildung vermittelt
wurden.5 Hingegen fällt die Verabreichung von Zytostatika nicht unter den
mitverantwortlichen Tätigkeitsbereich, da es sich dabei um hochpotente Sub-
stanzen handelt, deren Anwendung ein erhöhtes Risiko für den Patienten bein-
haltet. Es handelt sich daher um eine ärztliche Tätigkeit nach § 2 ÄrzteG 1998,
die nicht an diplomiertes Pflegepersonal delegiert werden darf.6

Anordnung- und Durchführungsverantwortung

Wie schon oben ausgeführt, dürfen Maßnahmen des mitverantwortlichen Tätig-


keitsbereiches gemäß § 15 GuKG nur nach ärztlicher Anordnung durchgeführt
werden. Die Verantwortung für die Anordnung trägt dabei der Arzt (Anord-
nungsverantwortung). Es handelt sich allerdings um keine generelle Delega-
tion. Die Übertragung einer ärztlichen Anordnung kann sich immer nur auf ei-
nen konkreten Patienten beziehen, den der behandelnde Arzt bereits eingehend
untersucht und dessen Zustand er beurteilt hat.7 Nach dem ÄrzteG 1998 ist der
„Arzt“ zur Anordnung befugt, d. h., auch Turnusärzte mit entsprechendem Aus-
bildungsstand dürfen eine ärztliche Anordnung im mitverantwortlichen Tätig-
keitsbereich erteilen, wenn sie durch ihren Ausbildungsverantwortlichen hiezu
ermächtigt wurden. Der Ausbildungsverantwortliche trägt die Verantwortung für
die Auswahl des Turnusarztes.8
Ist eine ärztliche Anordnung fehlerhaft, ist grundsätzlich die anordnende Per-
son dafür verantwortlich. Lediglich in jenen Fällen, in denen die Fehlerhaftigkeit
der Anordnung der Pflegeperson hätte auffallen müssen, ist diese dafür mitver-
antwortlich.9 Die Durchführungsverantwortung trägt die Angehörige des ge-
hobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege, die die angeordnete
Maßnahme durchführt. Die erfolgte Durchführung ist durch Unterschrift der
durchführenden Person zu bestätigen. Die ärztliche Anordnung hat auch im
extramuralen Bereich schriftlich zu erfolgen.
Nur in ärztlich begründeten Ausnahmefällen kann die ärztliche Anord-
nung mündlich erfolgen. Es muss dabei aber sichergestellt sein, dass die mündli-
che Anordnung eindeutig und zweifelsfrei ist. Nach dem Wortlaut des Gesetzes
darf es sich dabei tatsachlich nur um begründete Ausnahmefälle handeln und
nicht um vorhersehbare Zeitpunkte (wie z. B. Personalknappheit in den Ferien).

5Erlass BMGF 1.4.2005, 92251/0017-I/B/6/2005.


6BMGFJ X.9.2008, 92251/0070-I/B/6/2007).
ˇ
7 Hausreither (2008) in: Aigner, Kletecka, ˇ
Kletecka-Pulker, Memmer (Hrsg), Handbuch
Medizinrecht, Bd 2, III, S 550.
8 BMGF 19.4.2007, 92251/0070-I/B/6/2005.
9 Vgl auch Erlass BMSG 14.2.2001, 21.251/5-VIII/D/13/00).
94 M. Kletecka-Pulker
ˇ

Eine Übermittlung der schriftlichen Anordnung ist z. B. auch elektronisch mög-


lich. Der Arzt ist aber verpflichtet, unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von
24 Stunden, die ärztliche Anordnung zu verschriftlichen. Dies stellt in der Praxis
oft ein Problem dar, weil die Verschriftlichung manchmal von den Ärzten nach
der Dienstübergabe oder unter anderen Umständen vergessen wird. In solchen
Fällen ist es ratsam, dass die Angehörige des diplomierten Pflegepersonals je-
denfalls immer den Zeitpunkt der mündlichen Anordnung dokumentiert und
dann auch die Tatsache, dass der Arzt seiner gesetzlichen Verpflichtung, die An-
ordnung zu verschriftlichen, nicht nachgekommen ist. Eine Weigerung des Arz-
tes verstößt gegen seine Berufspflicht und stellt daher eine Verwaltungsübertre-
tung nach dem ÄrzteG dar.
Diskutiert wird immer wieder die sogenannte Bedarfsmedikation. Wie
schon oben ausgeführt, handelt es sich bei der ärztlichen Anordnung nach § 15
GuKG im Zusammenhang mit § 49 ÄrzteG 1998 um keine generelle Anordnung.
Unzulässig wäre jedenfalls eine Anordnung, durch welche die Angehörige des
Gesundheits- und Krankenpflegeberufes eine ärztliche Diagnose stellen muss.
Unter bestimmten Voraussetzungen kann es allerdings zulässig sein, dass der
Arzt Medikamente „im Bedarfsfall“ anordnet. Aus der ärztlichen Anordnung
muss klar und zweifelsfrei hervorgehen, unter welchen Voraussetzungen, wel-
chem Patienten, welches Medikament in welcher Dosis und Form verabreicht
werden muss (z. B. Patient X klagt über starke Kopfschmerzen, Patient Y hat Ein-
schlafschwierigkeiten).10

Berufsrechtliche Ermächtigung versus dienstrechtliche


Vorschriften

Das GuKG normiert allerdings nur die berufsrechtliche Ermächtigung für


Tätigkeiten der Pflege. Ob und in welchem Ausmaß die Angehörigen der Ge-
sundheits- und Krankenpflege dann an ihrem Arbeitsort verpflichtet sind, die
zulässigen berufsrechtlichen Handlungen zu setzen, entscheidet der jeweilige
Arbeitgeber mittels Dienstvertrag oder Weisung. So darf das diplomierte Pflege-
personal grundsätzlich aufgrund der berufsrechtlichen Vorschrift subkutane, in-
tramuskuläre und intravenöse Injektionen vorbereiten und verabreichen. Es gibt
aber einige Dienstgeber, die ihrem diplomierten Pflegepersonal z. B. im Dienst-
vertrag oder mittels Weisung die Durchführung dieser Tätigkeiten untersagen. In
diesem Fall dürfen Angehörige der Gesundheits- und Krankenpflege möglichen
Anordnungen eines Arztes nicht Folge leisten.11 In vielen Fällen wird aus organi-
satorischen Gründen der Einsatzbereich des diplomierten Pflegepersonals ar-
beitsplatzbezogen eingeschränkt.

10 Vgl dazu näher Hausreither (2008) in: Aigner, Kletecka,


ˇ ˇ
Kletecka-Pulker, Memmer (Hrsg),
Handbuch Medizinrecht, Bd 2, III, S 553.
11 Siehe auch Erlass BMSG 14.2.2001, 21.251/5-VIII/D/13/00.
Schmerztherapie in der Pflege – rechtliche Rahmenbedingungen 95

Voraussetzungen für die Ausübung von Spezialaufgaben


(Maßnahmen der Schmerztherapie)

Neben dem allgemeinen Tätigkeitsbereich, zu dessen Ausübung alle Angehöri-


gen des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege berechtigt
sind, sieht der Gesetzgeber noch Spezial-, Lehr- oder Führungsaufgaben im
erweiterten Tätigkeitsbereich vor. Der Gesetzgeber hat an dieser Stelle eine
taxative (abschließende) Aufzählung der Spezialaufgaben in § 17 GuKG vorge-
nommen. Es handelt sich dabei um Kinder- und Jugendlichenpflege, psychiatri-
sche Gesundheits- und Krankenpflege, Intensivpflege, Anästhesiepflege, Pflege
bei Nierenersatztherapie, Pflege im Operationsbereich und Krankenhaushygiene.
Maßnahmen der Schmerztherapie fallen idR unter diese Spezialaufgaben.
Voraussetzung für die Ausübung von Spezialaufgaben – neben der Berufs-
berechtigung im gehobenen Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege – ist
nach § 17 Abs 7 GuKG die erfolgreiche Absolvierung der entsprechenden Son-
derausbildung innerhalb von fünf Jahren nach Aufnahme der Tätigkeit.12 Da es
sich bei diesen Bereichen um hochspezialisierte, psychisch und körperlich über-
durchschnittlich anspruchsvolle Tätigkeiten handelt, wird es für zweckmäßig er-
achtet, die spezielle Eignung der Pflegepersonen in einem Probezeitraum festzu-
stellen.13
Zweck dieser Regelung ist es, vor der verpflichtenden Absolvierung der ent-
sprechenden Sonderausbildung die Eignung der Pflegeperson für diese Tätigkei-
ten festzustellen (nicht aber personelle Probleme zu lösen). Des Weiteren bietet
diese Regelung auch die fachlich und organisatorisch sinnvolle Möglichkeit, die
Sonderausbildung berufsbegleitend bzw. im Dienstverhältnis zu absolvieren.14

Ausgewählte Rechtsfragen im Rahmen der Schmerztherapie

Abschließend wird auf einige ausgewählten Fragen im Rahmen der Schmerzthe-


rapie eingegangen, welche aufgrund von konkreten Anfragen der Praxis von der
zuständigen Abteilung des Gesundheitsministeriums beantwortet wurden. Im
Allgemeinen empfiehlt es sich, schwierige Abgrenzungsfragen, die im medizini-
schen oder pflegerischen Alltag immer wieder virulent werden, unabhängig von
der konkreten Situation auf einer höheren Ebene zu klären, damit künftig solche

12 Ausgenommen die Kinder- und Jugendlichenpflege und die psychiatrische Gesundheits-

und Krankenpflege.
13 EB 709 BlgNR 20. GP.
14 Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die 5-Jahresfrist zu berechnen. Die Verpflichtung

zur Absolvierung der entsprechenden Sonderausbildung innerhalb von fünf Jahren besteht ab
erstmaliger Aufnahme der Tätigkeit. Bei Wechsel in ein anderes Tätigkeitsfeld oder bei Berufs-
unterbrechung (z. B. Karenzurlaub) wird die 5-Jahresfrist unterbrochen und läuft ab Wieder-
aufnahme von Tätigkeiten der entsprechenden Spezialaufgabe weiter. Siehe BMGF 19.10.2006,
92251/0019-I/B/6/2005.
96 M. Kletecka-Pulker
ˇ

Fragen nicht von den einzelnen handelnden Personen unter Zeitdruck gelöst
werden müssen.15
Zu den Tätigkeitsbereichen der Intensivpflege, der Anästhesiepflege und der
Pflege bei Nierenersatztherapie zählen unter anderem auch die Mitwirkung an
der Schmerztherapie (§ 20 Abs 4 Z 9 GuKG).16 Zu den unter „Mitwirkung an
der Schmerztherapie“ fallenden Tätigkeiten zählen insbesondere der Wechsel
von Infusionsbehältern, der Wechsel von Perfusorspritzen und Pumpenfüllungen
sowie die Verabreichung von Bolusdosen in liegende periphere und zentrale
Schmerzkatheter. Rechtlich von Bedeutung ist die Unterscheidung, ob die „Mit-
wirkung an der Schmerztherapie“ als Tätigkeit nach § 15 GuKG zu beurteilen ist
und daher nach ärztlicher Anordnung auch von Angehörigen des gehobenen
Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege ohne Sonderausbildung verab-
reicht werden darf. Maßnahmen der „Mitwirkung an der Schmerztherapie“ kön-
nen umfassend sein. So kann eine Schmerztherapie oral, durch subkutane, in-
tramuskuläre, intravenöse Injektionen, subkutane oder intravenöse Infusionen
oder über liegende periphere oder zentrale Katheter erfolgen.
Sofern Schmerzmittel oral, subkutan, intramuskulär oder intravenös ver-
abreicht werden, fallen diese Tätigkeiten unter § 15 Abs 5 Z 1, 2 bzw 3 GuKG
und dürfen daher nach ärztlicher Anordnung auch von Angehörigen des geho-
benen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege ohne Sonderausbildung
verabreicht werden.17
Unter den mitverantwortlichen Tätigkeitsbereich fällt auch der Wechsel von
Perfusorspritzen, welcher im weitesten Sinne mit dem Anschließen einer
(„Mini“-)Infusion vergleichbar ist. Das Füllen von Schmerzpumpen, wie z. B.
PCA (patient controlled analgesia) – das Gerät wird in die Bauchdecke implan-
tiert bzw. Analgetika werden mittels eines dünnen Katheters in das Rückenmark
geleitet oder mittels tragbarer Infusionspumpe subkutan, intravenös oder epidu-
ral zugeführt –, fällt aus fachlicher Sicht ebenfalls in den mitverantwortlichen Tä-
tigkeitsbereich und kann daher nach Maßgabe des § 15 GuKG durch Angehörige
des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege ohne Sonderaus-
bildung in der Intensiv- oder Anästhesiepflege durchgeführt werden.
Eine Verabreichung von Schmerzmitteln (u. a. Bolusdosen) über einen lie-
genden Epiduralkatheter, Periduralkatheter, interskalenären Plexuskatheter etc.
fällt hingegen ausschließlich unter § 20 Abs 4 GuKG und darf daher nach ärztli-
cher Anordnung nur von Personen mit einer Berufsberechtigung in der Intensiv-
pflege, Anästhesiepflege oder Pflege bei Nierenersatztherapie durchgeführt wer-
den.
In der Praxis wird eine angeordnete Schmerztherapie z. B. nach Operationen
oder bei Palliativpatienten auch auf „Normalstationen“ von Angehörigen des

15In rechtlich besonders schwierigen Fällen ist eine Anfrage an das zuständige Ressort des
Gesundheitsministeriums ratsam.
16 Da auf Grund der Weiterentwicklung der medizinischen Wissenschaft der Schmerzthe-

rapie ein wesentlicher Stellenwert in der Intensivpflege, Anästhesiepflege und Pflege bei Nie-
renersatztherapie zukommt, wurde die Schmerztherapie in diese Bestimmung aufgenommen.
17 BMGF 19.10.2006, 92251/0019-I/B/6/2005.
Schmerztherapie in der Pflege – rechtliche Rahmenbedingungen 97

gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege durchgeführt, sofern


die Verabreichungsform unter § 15 Abs 5 Z 1, 2 und 3 GuKG fällt.18
In Krankenanstalten werden in der Regel bei Patienten mit Tracheostoma
Trachealkanülen von Angehörigen des gehobenen Dienstes für Gesundheits-
und Krankenpflege gewechselt und gereinigt; Ausnahme ist der erste Wechsel
der Kanüle, der durch einen Arzt vorgenommen wird (Durchführung einer
Bronchialtoilette). Für diese Tätigkeit ist aus fachlich-pflegerischer Sicht keine
Sonderausbildung in der Intensivpflege erforderlich, zumal die Pflege von Pati-
enten mit Tracheostoma einschließlich Kanülenwechsel in der Grundausbildung
unterrichtet wird. Dem Arzt obliegt es zu entscheiden, ob mit dem Wechsel der
Kanüle Komplikationen (Blutungen, Probleme beim Einführen der Kanüle bei
Tumoren im Tracheostomabereich etc.) verbunden sind oder der Kanülenwechsel
problemlos durchgeführt werden und somit an Angehörige des gehobenen
Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege delegiert werden kann. Zusätzlich
hat sich der Arzt vor dem Delegieren des Kanülenwechsels zu vergewissern, dass
die betreffende Pflegeperson die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten zur
Durchführung dieser Tätigkeit besitzt.19

18 BMGF 19.10.2006, 92251/0019-I/B/6/2005.


19 ˇ
Mit weiteren zahlreichen Beispielen siehe Hausreither (2008) in: Aigner, Kletecka,
ˇ
Kletecka-Pulker, Memmer (Hrsg), Handbuch Medizinrecht, Bd 2, III, S 561 ff.
Schulmedizinische Grundlagen,
Besonderheiten und Therapiemöglichkeiten
Medikamentöse akute Schmerztherapie
in der allgemeinmedizinischen Praxis
Konsensus Meeting & Statement unter der
Ägide der ÖGAM

Das vorliegende Konsensus Statement wurde verfasst unter dem


Vorsitz von Dr. Erwin REBHANDL, Präsident der ÖGAM, Haslach,
sowie den Teilnehmern:
Univ. Prof. Dr. Eckhard BEUBLER, Institut für Experimentelle und
Klinische Pharmakologie, Karl-Franzens-Universität, Graz
Dr. Reinhard DÖRFLINGER, Arzt für Allgemeinmedizin, Graz
Dr. Walter FIALA, Arzt für Allgemeinmedizin, Wien
Dr. Eberhard FÜRTHAUER, Arzt für Allgemeinmedizin, Maishofen
Dr. Reinhold GLEHR, Arzt für Allgemeinmedizin, Hartberg
Univ. Prof. Dr. Winfried GRANINGER, Klinische Abteilung für
Rheumatologie, Univ. Klinik Graz
Univ. Prof. Dr. Burkhard GUSTORFF, Universitätsklinik für Anästhesie
und Allgemeine Intensivmedizin, Medizinische Universität Wien
Dr. Gustav K AMENSKI, Arzt für Allgemeinmedizin, Angern/March
OA Dr. Christian LAMPL, Abteilung für Neurologie und Psychiatrie,
A. ö. KH der Stadt Linz
Univ. Prof. Dr. Rudolf LIK AR, Abteilung für Anästhesiologie und
Intensivmedizin, LKH Klagenfurt
Dr. Susanne RABADY, Ärztin für Allgemeinmedizin, Windigsteig
Dr. Wolfgang WEIGL, Arzt für Allgemeinmedizin, St. Veit
Medikamentöse akute Schmerztherapie in der allgemeinmedizinischen Praxis
E. Rebhandl et al.

Einleitung
Schmerzen sind eine der häufigsten Gründe, einen Arzt aufzusuchen. Ihrer kon-
sequenten und richtigen Behandlung kommt jedoch nicht nur aufgrund der
Häufigkeit und der für den Patienten oft erheblichen Belastung große Bedeutung
zu. Vielmehr kann es bei Akutschmerzen bereits innerhalb kurzer Zeit zur Ent-
wicklung eines Schmerzgedächtnisses kommen. Experten sprechen von 6 Stun-
102 E. Rebhandl et al.

den, dies muss jedoch relativiert werden: Es kommt zur Entwicklung des
Schmerzgedächtnisses, wenn über mehrere Stunden starke Schmerzen bestehen
und die körpereigene Schmerzhemmung versagt. Dieses Schmerzgedächtnis
nimmt in der Pathophysiologie chronischer Schmerzen eine zentrale Rolle ein,
umso wichtiger ist die rasche, effiziente Therapie des akuten Schmerzgesche-
hens.
„Schmerz ist das, was der Patient angibt, wann immer er es angibt.“
McGafferey et al., 1999
Mit anderen Worten:
Sobald der Patient Schmerzen äußert, hat er sie auch!
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Patienten über die Gefahren
und die mögliche Chronifizierung von Schmerzen aufzuklären.
Da Schmerzen grundsätzlich als Alarmsignal des Körpers gelten, ist eine kon-
sequente Akutschmerztherapie mit allen verfügbaren und wirksamen Maßnah-
men sowie die gründliche Abklärung möglicher Ursachen und die damit verbun-
dene Differentialdiagnose unerlässlich.
Klassifizierung des Schmerzes nach der Zeitdauer
Akuter Schmerz
– Wird durch eine äußere oder innere Verletzung oder Schädigung
ausgelöst
– Seine Intensität korreliert mit dem auslösenden Reiz
– Seine Lokalisation ist klar bestimmbar
– Besitzt eine eindeutige Warn- und Schutzfunktion
Chronischer Schmerz
Neuropathischer Schmerz:
– Dauert länger, als zu erwarten ist
– Ist abgekoppelt von seinem auslösenden Ereignis
Nozizeptorschmerz:
– Dauert so lange wie die Schmerzursache
(z. B. Arthrose, Tumorschmerz)
– Ist gekoppelt an ein auslösendes Ereignis
– Wird zur eigenständigen Erkrankung
– Seine Intensität korreliert nicht mehr zwangsläufig mit seinem
auslösenden Reiz
– Hat seine Warn- und Schutzfunktion verloren
– Stellt eine besondere therapeutische Herausforderung dar
nach Likar (modifiziert), 2003

Während akute Schmerzen zumeist relativ kurzfristig (Sekunden bis maxi-


mal Tage) im Rahmen eines akuten Ereignisses, z. B. eines Traumas, einer Ope-
ration, einer entzündlichen Nervenläsion oder bei Migräne auftreten und mit
Medikamentöse akute Schmerztherapie in der allgemeinmedizinischen Praxis 103

einem absehbaren Ende verlaufen, spricht man von chronischen Schmerzen,


wenn der Schmerz weiterhin besteht, obwohl die primäre Operation oder Läsion
abgeheilt ist. Demnach können chronische Schmerzen schon früher entstehen
als erst nach den oft diskutierten drei Monaten. Ein weiterer Grund chronischer
Schmerzen können dauerhafte Schäden wie Gelenksarthrosen oder Tumore sein.
Dazu kommen Beeinträchtigungen
– im kognitiv-emotionalen Bereich durch Störungen von Befindlichkeit, Stim-
mung und Denken,
– im Verhaltensbereich durch schmerzbezogenes Verhalten,
– im sozialen Bereich durch Störung der sozialen Interaktion und Behinderung
der Arbeit,
– im physiologisch-organischen Bereich durch Mobilitätsverlust und Funk-
tionseinschränkungen (AHC Consilium Schmerztherapie, 2003).
Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit aktuellen
oder potentiellen Gewebeschädigungen verknüpft ist oder mit Begriffen solcher
Schädigungen beschrieben wird.
International Association for the Study of Pain, 1979

Schmerzklassifikation nach pathogenetischen Aspekten


Gemäß pathogenetischer Entstehungskriterien unterscheidet man nozizeptive,
neuropathische und nicht-somatisch bedingte Schmerzen. Nozizeptive
Schmerzen kommen durch Aktivierung von Nozizeptoren – durch algogene
Substanzen und/oder Gewebeschädigung – zustande. Neuropathische Schmer-
zen entstehen infolge einer Dysfunktion oder Schädigung von Neuronen des pe-
ripheren oder zentralen Nervensystems bzw. an der Nervenwurzel. Psychogene
Schmerzzustände sind nicht auf körperliche Fehlfunktionen oder Schädigungen,
sondern auf psychische Faktoren zurückzuführen (Tabelle 1).

Tabelle 1. Schmerzklassifikation nach Entstehungskriterien und Schmerzqualitäten

Nozizeptorschmerz
Somatischer Schmerz
Oberflächenschmerz
mit der Haut assoziiert
Warnsignal für Umweltreize (z. B. Nadelstich, Quetschung)
meist gut lokalisierbar
Tiefer Schmerz
Bindegewebe, Knochen, Gelenke, Muskulatur
belastungsabhängig (Bewegungsapparat)
andauernd (Weichteile)
Kopfschmerz (verbunden mit Indra-/extrakraniellen Blutgefäßen, Dura,
Kopfmuskulatur)
oft schlecht lokalisierbar
104 E. Rebhandl et al.

Schmerzmittel der Wahl: NSAR, Coxibe, Opioide


Viszeraler Schmerz
ausgelöst in inneren Organen (Brust-, Bauch- und Beckenraum)
Schmerzqualität: hell, bohrend, krampf-, kolikartig, dumpf
z. B. Gallenkolik, Ulkusschmerz, Blinddarmentzündung
meist schlecht lokalisierbar

Schmerzmittel der Wahl: NSAR und Metamizol, Coxibe, Opioide


Neuropathischer Schmerz
entsteht durch Nervenirritation oder-schaden (peripher, Nervenwurzel, ZNS)
Schmerzqualität: brennend, einschießend, dumpf, z.T. verbunden mit sensorischem
Defizit
Schmerzmittel der Wahl: Antikonvulsiva, Antidepressiva, Opioide
Nicht somatisch bedingte Schmerzen
multifaktorielle Pathogenese
lässt sich nicht auf eine physiologische oder eine psychische Komponente reduzieren

Wenn Schmerzmittel nicht helfen: absetzen

Modifiziert nach Likar, 2002; Empfehlungen zur Akutschmerztherapie, DGSS, 2001

Nach der Lokalisation gibt es viszerale und somatische Schmerzen. Visze-


rale Schmerzen sind Schmerzen, die von inneren Organen ausgehen. Sie ent-
stehen beispielsweise bei starker Dehnung eines Hohlorgans. Auch Spasmen
und starke Kontraktionen der glatten Muskulatur oder entzündliche Veränderun-
gen eines inneren Organs können zu viszeralen Schmerzen führen. Somatische
Schmerzen gehen von Haut, Skelettmuskulatur, Binde- oder Stützgewebe aus.
Somatische, von der Haut ausgehende Schmerzen (z. B. Schürfungen) werden als
Oberflächenschmerzen bezeichnet, die eine schnell auftretende, gut lokalisier-
bare Komponente von „hellem“ Charakter enthalten. Die zweite Komponente
von Oberflächenschmerzen tritt mit einer Latenz von 0,5–1,0 sec auf, ist oft
schwer zu lokalisieren, von brennend-dumpfem Charakter und klingt nur lang-
sam ab. Haben somatische Schmerzen ihren Ursprung in Bindegewebe, Mus-
keln, Gelenken oder Knochen, so spricht man von Tiefenschmerz (z. B. Kopf-
schmerzen, Muskelkater).

Schmerzerfassung und Visualisierung von Schmerzen

Schmerzen unterliegen der subjektiven Wahrnehmung des Patienten und lassen


sich nicht objektivieren. Daher ist die Selbstbeurteilung von Schmerzen durch
den Patienten unbedingt erstrebenswert. Minimalfragen zur Schmerzerfassung
(Tabelle 2) und die standardisierte Bestimmung von Schmerzen mit Hilfe unter-
schiedlicher Skalen (Abb. 1) transformieren das subjektive Empfinden in eine vi-
suelle Form.
Medikamentöse akute Schmerztherapie in der allgemeinmedizinischen Praxis 105

Tabelle 2. Minimalfragen der Schmerzerfassung

Wo? = Lokalisation und Ausstrahlung?


Wie? = Qualität und Intensität?
Wann? = zeitlicher Verlauf?
Wodurch? = modulierende Faktoren?
Warum? = Kausalzusammenhänge?
Begleitbeschwerden? = z. B. Übelkeit, Obstipation, Unruhe?

Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft, 2002

Diese einfachen Skalen geben dem Arzt die Möglichkeit, die aktuelle Intensi-
tät von Schmerzen zu erfahren und eine entsprechende Behandlung einzuleiten.
Dadurch eröffnen sich für Patient und Arzt neue Wege im Umgang mit Schmer-
zen: Für den Patienten werden die Schmerzen „greifbar“, für den Arzt die Patien-
tenführung und die Therapie erleichtert. Wird bei Schmerzpatienten bereits bei
der Erstvorstellung eine Schmerzskala verwendet und die Werte im Laufe der
Behandlung regelmäßig ermittelt und in ein Schmerztagebuch eingetragen, hilft
dies dem Arzt, den Verlauf der Therapie zu verfolgen und den Therapieerfolg zu
dokumentieren. Es ist empfehlenswert, bei jedem Arztbesuch die aktuelle
Schmerzintensität zu dokumentieren.

Verbale Rating-Skala (VRS)


mäßiger mittelstarker starker stärkster
kein Schmerz
Schmerz Schmerz Schmerz vorstellbarer Schmerz

Visuelle Analogskala (VAS) und numerische Ratingskala (NRS)

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0

Smiley-Skala (3.–4. Lebensjahr


5-stufige Analogskala (SAS)
nach Pothmann
- /
- -
.
Empfehlungen zur Akutschmerztherapie, DGSS, 2001

Abb. 1. Skalen zur Schmerzmessung

Arzneimittel in der Schmerztherapie

Während Medikamente bei chronischen Schmerzen eine wichtige, aber durchaus


nicht immer zentrale Rolle in der Therapie spielen, sind sie bei akuten Schmer-
zen die wichtigste therapeutische Option (Tabelle 3).
106 E. Rebhandl et al.

Tabelle 3. Dosierungen antiphlogistischer und antipyretischer Nichtopioid-Analgetika

Substanzklassen Einzeldosis Tages- Dosisintervall t1/2 (h)


Höchstdosis (h)

Anilin-Derivate
Paracetamol 500–1000 mg 2000 mg 4–6 2
Pyrazol-Derivate
Metamizol 500–1000 mg 3000 mg 4–6 0,25
Salizylsäure
Azetylsalizylsäure 500–1000 mg 2,5 g 4–6 0,25
Aryl-Essigsäure
Diclofenac 50–100 mg 200 mg 6–8 1,5
Indometacin 25–50 mg 200 mg 8 3–11
Acemetacin 30–60 mg 300 mg 8–12 4
Aryl-Propionsäure
Ibuprofen 400–600 mg 2400 mg 6–8 1–2
Ketoprofen 50–100 mg 300 mg 8–12 1–2(– 6)
Dexibuprofen 200–400mg 1200 mg 6–8 1–
Naproxen 250–500 mg 1000 mg** 8–12 14
Anthranilsäure
Mefenaminsäure 250–500 mg 1000 mg 6–8 2
Heterozyklische Ketoenolsäuren
Meloxicam 7,5–15 mg 15 mg 24 20
Piroxicam 20 –40 mg 40 mg 24 35
Lornoxicam 4–8 mg 16 mg 8–12 3–4
COX-2-Hemmer
Celecoxib OA: 200 mg 400 mg 24 8–12
RA: 200–400 mg
Parecoxib 2 x 40 mg 80 mg 12
Sulfonanilide
Nimesulid 200 mg 200 mg 12 1,8–4,7

OA: Osteoarthritis, RA: rheumatoide Arthritis.


* Weitere Dosissteigerung bei Fortdauer der Schmerzen nicht sinnvoll.
** Bei Rheuma höher.
Modifiziert nach Beubler, 2003

Nichtopioid-Analgetika

Die einzige Gemeinsamkeit dieser Gruppe von Analgetika liegt darin, dass sie
nicht am Opioidrezeptor ansetzen und deshalb unter der Sammelbezeichnung
Nichtopioid-Analgetika geführt werden. Bei all diesen Präparaten ist zu beach-
ten, dass ab einer bestimmten Dosierung keine Steigerung der analgetischen
Medikamentöse akute Schmerztherapie in der allgemeinmedizinischen Praxis 107

Wirkung, sehr wohl aber eine Zunahme der Nebenwirkungen erreicht werden
kann. Deshalb gelten Tageshöchstdosierungen (siehe Tabelle 3).

Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR)


NSAR wirken über eine Prostaglandin-Synthesehemmung. Sie umfassen die
traditionellen NSAR und die Coxibe und haben neben analgetischen auch
starke entzündungshemmende Eigenschaften, wie auch durch die englische
Bezeichnung non-steroidal antiinflammatory drugs ausgedrückt wird. Der Vorteil
der NSAR in der Behandlung des Akutschmerzes liegt in deren antiphlogistischer
Wirkung, zumal akut auftretende Schmerzen häufig in Zusammenhang mit einem
Entzündungsgeschehen stehen. Ihre Wirkung beruht auf einer Hemmung der
Prostaglandinsynthese. Allerdings kann bereits die kurzfristige Anwendung
zu Läsionen im Gastrointestinaltrakt führen. Weitere wesentliche Nebenwirkun-
gen sind eine mögliche Verschlechterung der Nierenfunktion und verstärkte
Wassereinlagerung, die v. a. bei herzinsuffizienten Patienten zu Problemen führen
kann.
Azetylsalizylsäure (ASS) wird beim Erwachsenen zur Akuttherapie von
Schmerzen unterschiedlicher Genese eingesetzt. Bei höheren Dosierungen und
vor allem längerer Anwendung treten insbesondere gastrointestinale Nebenwir-
kungen mit hoher Inzidenz auf, sodass ein Wechsel auf andere NSAR in Betracht
gezogen werden sollte. Da ASS die Thrombozytenfunktion irreversibel hemmt,
muss man vor größeren Operationen und vor der Durchführung von rücken-
marksnahen regionalanästhesiologischen Maßnahmen die ASS 3–5 Tage lang
absetzen.
Die Mefenaminsäure besitzt ausgeprägte analgetische, antiphlogistische
und antipyretische Eigenschaften und ist hinsichtlich Wirkprofil und Nebenwir-
kungen mit den Salizylaten vergleichbar.
Weitere Substanzen zur Behandlung akuter Schmerzen sind unter anderem
die kurzwirksamen NSAR Ibuprofen, Diclofenac, Naproxen und Lornoxicam
sowie die langwirksamen Meloxicam und Piroxicam. Die Präferenz zur je-
weiligen Substanz ergibt sich aus den Möglichkeiten, parenterale (Diclofenac,
Ketoprofen, Lornoxicam, Parecoxib, Phenylbutazon) oder orale Zubereitungen
verwenden zu können oder aus dem Risiko eventueller Akkumulation oder eines
unterschiedlichen Nebenwirkungsprofils am GI-Trakt, sodass bei Patienten mit
hohem Risiko für GI-Blutungen ein Magenschutz mit Protonenpumpeninhibito-
ren oder Prostaglandintabletten notwendig wird.
Als echte Innovation im Bereich der medikamentösen Schmerztherapie kamen
in den letzten Jahren die Coxibe als selektive COX-2-Hemmer auf den Markt,
die in Wirkung und Einsatzbereichen den konventionellen nichtsteroidalen An-
tirheumatika (NSAR) gleichen, jedoch durch die selektive Blockade der Zyklooxy-
genase-2 ein verbessertes Risikoprofil im Gastrointestinaltrakt aufweisen.
108 E. Rebhandl et al.

Tabelle 4. Vor- und Nachteile von nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR)

Vorteile:
– Gute und andauernde Analgesie
– Weniger Übelkeit und Erbrechen als unter Opioiden
– Keine Atemdepression
– Entzündungshemmend
Nachteile:
– Gefährdung der Nierenfunktion durch Verminderung der Prostazyklinproduktion
– Gastrointestinale Komplikationen (selten bei kurz dauernder Gabe)
– Ungenügende Wirksamkeit als alleinige Medikation bei schweren Schmerzzuständen
– Hemmung der Thrombozytenfunktion

Die selektiven COX-2-Hemmer werden in erster Linie in der Therapie chro-


nischer Gelenksschmerzen eingesetzt. Die Verfügbarkeit eines intravenösen Co-
xibs (Parecoxib) ermöglicht auch die parenterale Anwendung bei Akutschmerzen.
Grundsätzlich ist dieselbe schmerzstillende Wirkung der Coxibe wie bei allen
anderen NSAR zu erwarten, wenngleich für einige Indikationen noch kontrol-
lierte Daten fehlen.
Als Einsatzgebiete der Coxibe werden primär entzündungsbedingte Schmer-
zen unterschiedlicher Genese wie z. B. Osteoarthrose und rheumatoide sowie
postoperative Schmerzen genannt (Ruoff et al. 2003). Im peri- und postoperati-
ven Schmerzmanagement (außer bei hohem Thromboserisiko wie etwa bei
aortokoronarem Bypass) hat sich Parecoxib i.v. gut wirksam und darüber hinaus
als Opioid einsparend erwiesen (Barden et al. 2003; Hubbard et al. 2003).
Mehrjährige Langzeituntersuchungen und die nachfolgende Marktrücknah-
me von Rofecoxib führten im November 2004 zu einer neuen Risiko-Nutzen-
Bewertung aller Coxibe durch die europäische Arzneimittelbehörde EMEA und
die amerikanische Aufsichtsbehörde FDA. Im Juni 2005 hat die EMEA ihre Eva-
luation der Coxibe (Celecoxib, Etoricoxib, Lumiracoxib, Parecoxib, Rofecoxib und
Valdecoxib) abgeschlossen und bestätigte das positive Nutzen-Risikoprofil für
Celecoxib, Etoricoxib und Parecoxib. Als Kontraindikation gelten Herzinfarkt und
Schlaganfall; für Etoricoxib (in Österreich nicht auf dem Markt) gilt auch die un-
behandelte Hypertonie als Kontraindikation. Diese neuerliche Bewertung der
EMEA stimmt mit den Empfehlungen der FDA überein, die allerdings bereits im
April zusätzlich gefordert hat, dass auch alle konventionellen NSAR wie Napro-
xen, Diclofenac und Ibuprofen Warnhinweise auf ein erhöhtes kardiovaskuläres
Risiko enthalten müssen. Dieser Beschluss fußt auf einer Reihe kontrollierter
Studien und auf einigen kürzlich publizierten Fall-Kontroll-Studien (Hudson M.
et al. 2005; Hippisley-Cox J. et al. 2005), die alle belegen, dass je nach Intensität
und Dauer der Anwendung es zu einer messbaren Erhöhung des kardiovaskulä-
ren Thromboserisikos durch konventionelle NSAR kommt.
Für die Therapieentscheidung für NSAR oder Coxibe gilt demnach, eine Risi-
koeinschätzung der Patienten vorzunehmen. Für Patienten mit kardiovaskulären
Risikofaktoren (Hypertonie, KHK, kardiale Insuffizienz, Hyperlipidämie, Diabe-
Medikamentöse akute Schmerztherapie in der allgemeinmedizinischen Praxis 109

tes mellitus, Rauchen oder periphere Verschlusskrankheit) sollten NSAR in der


niedrigsten wirksamen Dosis über einen möglichst kurzen Zeitraum gewählt
werden. Unbestritten ist die überlegene gastrointestinale Sicherheit der Coxibe
im Vergleich zu NSAR. Patienten mit Risikofaktoren, unter NSAR gastrointesti-
nale Nebenwirkungen oder gar Komplikationen zu erleiden (siehe Tabelle 4),
profitieren besonders von der Behandlung mit Coxiben.
Nimesulid ist ein Sulfonanilid und NO-Synthetase-Hemmer, der in Bezug
auf seine Hemmung der Zyklooxygenase zwischen Diclofenac und Celecoxib
liegt. Nimesulid ist zur Behandlung akuter Schmerzzustände, der symptomati-
schen Behandlung schmerzhafter Arthrosen sowie der primären Dysmenorrhoe
zugelassen. Unter Nimesulid können – wenn auch sehr selten – schwere Fälle
von Leberschädigungen auftreten, für die jedoch bis dato keine spezifischen
Risikofaktoren identifiziert werden konnten. Wird die empfohlenen Dosis von
2 x 100mg/Tag eingehalten, ist das Risiko schwerer hepatischer Nebenwirkungen
gering und demjenigen der anderen NSAR vergleichbar. Die Anwendung dieser
Substanz ist bei Kindern, Frauen im dritten Trimenon der Schwangerschaft und
in der Stillperiode sowie bei Patienten mit bekannter Beeinträchtigung der Le-
berfunktion kontraindiziert. Bei Symptomen einer Leberschädigung oder ab-
normen hepatischen Laborwerten ist das Medikament abzusetzen. Eine Kome-
dikation mit anderen hepatotoxisch wirkenden Medikamenten ist ebenso zu
vermeiden wie die Anwendung bei erhöhtem täglichem Alkoholkonsum.
Paracetamol ist das einzige in Österreich zugelassene Analgetikum aus der
Gruppe der Anilinderivate, das antipyretische, aber keine antiphlogistischen Ei-
genschaften aufweist. Paracetamol gibt es auch als i.v-Präparation, und es eignet
sich zur Behandlung nicht-entzündlicher Schmerzen. Bei starken Schmerzen ist
es von untergeordneter Bedeutung. Der Nachteil dieser Substanz liegt in seinem
relativ kleinen therapeutischen Fenster. Hohe Dosen können zu lebensbedrohli-
chen Leberschäden führen, durch Alkohol wird die Gefahr erhöht. Paracetamol
ist auch zugelassen ab dem 1. Lebensjahr (aber erst ab 10 kg Körpergewicht). Die
Dosis beträgt 15 mg/kg KG viermal täglich. Die Höchstdosis für Erwachsene be-
trägt 4g/Tag und für Kinder 60 mg/kg KG/Tag.

Tabelle 5. Risiko für Ulkuskomplikationen durch NSAR

– Patienten > 60 Jahre


– Patienten mit Ulkusanamnese
– Patienten mit gleichzeitiger Glukokortikoidtherapie
– Patienten mit Notwendigkeit für hohe NSAR-Dosen
– Patienten mit Antikoagulationstherapie oder Thrombozytenaggregationshemmern
– Multimorbide Patienten

Metamizol ist der bedeutendste Vertreter der nichtsauren Pyrazole. Die Be-
sonderheit dieser Substanzgruppe liegt in ihrer analgetischen, antipyretischen
und spasmolytischen Wirkung. In der Akut-Schmerztherapie bietet sich Meta-
110 E. Rebhandl et al.

mizol damit vor allem in der Behandlung von Kolikschmerzen an. Metamizol
darf – wie Diclofenac – i. v. nicht im Bolus verabreicht werden (obligate Infusi-
onszeit von mehr als 30 Minuten).

Opioide

In der allgemeinmedizinischen Praxis kommt auch den Opioiden im Rahmen


der Akutschmerztherapie eine wichtige Rolle zu. Mit wenigen Ausnahmen (siehe
unten) sind Opioide immer dann indiziert, wenn mit anderen Analgetika keine
ausreichende Schmerzlinderung erreicht wird. Das umfangreiche Spektrum die-
ser Substanzen erfordert allerdings sorgfältigen Umgang und gezielten Einsatz.
In der analgetischen Wirkung sind die Opioide allen anderen Analgetika überle-
gen.
Im Rahmen der Akutschmerztherapie sind vor allem parenteral zu verab-
reichende Opioide, Tabletten und Tropfen indiziert, während beim chronischen
Schmerz retardierte Opioide mit langer Wirkungsdauer in oraler oder trans-
dermaler Darreichungsform bevorzugt werden.

Tabelle 6. Vorteile und Nachteile der Opioide

Vorteile:
– Fehlende Organtoxizität
– Großer Dosierungsspielraum
– Gute Kombinierbarkeit
– Variable Darreichungsformen
– In kurzwirksamer und retardierter Galenik verfügbar
Nachteile:
– Übelkeit und Erbrechen
– Müdigkeit und Sedierung
– Obstipation
– Unter einigen Opioiden ist eine Atemdepression möglich (v.a. bei Agonisten wie
Fentanyl und Morphin)

Schwach wirksame Opioid-Analgetika


Diese Gruppe von Substanzen ist bei akuten und chronischen Schmerzen von
mittelstarker bis starker Intensität indiziert. Ähnlich wie bei den Nichtopioid-
Analgetika ist durch Überschreiten der Höchstdosierungen keine Steigerung der
analgetischen Wirkung zu erzielen. Bei insuffizienter Schmerzlinderung ist daher
der Umstieg auf stärkere Opioide angezeigt.
Tramadol hat mehrere Wirkmechanismen. Es bindet als Agonist an den
Opioidrezeptor, stimuliert die Freisetzung von Serotonin und hemmt zusätzlich
die neuronale Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin (entspricht
damit der Wirkung von Trizyklika). Tramadol ist in zahlreichen Darreichungsfor-
Medikamentöse akute Schmerztherapie in der allgemeinmedizinischen Praxis 111

men mit schnellem Wirkungseintritt sowie als Retardtablette erhältlich und eig-
net sich für die Behandlung sowohl akuter als auch chronischer Schmerzen. An
Nebenwirkungen sind, insbesondere bei i.v.-Verabreichung, Übelkeit und Erbre-
chen zu nennen, die Tendenz zur Obstipation ist jedoch weniger ausgeprägt als
bei anderen Opioiden. Übelkeit und Erbrechen können durch die vorübergehen-
de Gabe von Antiemetika (Metoclopramid oder Domperidon) gemildert werden,
da die Übelkeit nach etwa 7–14 Tagen wieder vergeht.
Kodein ist ein ausgezeichnetes Antitussivum, das ungefähr ein Zehntel der
schmerzstillenden Wirkung von Morphin besitzt. Als Monosubstanz wird es in
der analgetischen Therapie nur sehr selten verwendet, häufiger in Kombination
gemeinsam mit NSAR oder Paracetamol. Als Nebenwirkung verursacht Kodein
häufig eine ausgeprägte Obstipation, was den Einsatz v. a. bei älteren Patienten
limitiert. Dies gilt auch für Dihydrokodein, das eine stärkere analgetische Wir-
kung als Kodein hat und kommt als Retardtablette hauptsächlich in der Therapie
chronischer Schmerzen zum Einsatz.

Stark wirksame Opioid-Analgetika


Stark wirksame Opioid-Analgetika sind dann indiziert, wenn mit schwach wirk-
samen Opioid-Analgetika in adäquater Dosierung keine ausreichende Schmerz-
kontrolle erreicht werden kann. Bei adäquatem Einsatz sind Opioide hoch wirk-
same und relativ nebenwirkungsarme Schmerzmittel. Die Gefahr der Atem-
depression besteht lediglich bei Überdosierung, (besonders leicht möglich bei
i . v.-Gabe). Eine Schwierigkeit stellt möglicherweise die Entwicklung einer physi-
schen Abhängigkeit, die jedoch nicht mit Sucht zu verwechseln ist, dar. Diese
physische Abhängigkeit kann auch unter therapeutischen Dosen im Rahmen der
Schmerztherapie auftreten. Daher sollte ein Opioid nach längerer Therapie nie-
mals abrupt, sondern nur ausschleichend abgesetzt werden. Die häufigsten Ne-
benwirkungen unter Opioiden sind neben der bereits erwähnten Obstipation vor
allem Übelkeit und Erbrechen sowie zu Beginn der Therapie bisweilen Müdigkeit
und Sedierung. Haloperidol in niedriger Dosierung ist gegen morphininduzierte
Übelkeit und Erbrechen das Mittel der Wahl, wenn Metoclopramid und Dompe-
ridon wirkungslos waren.
Morphin ist das am besten untersuchte Opioid. Es ist in zahlreichen Darrei-
chungsformen sowohl mit schnellem als auch retardiertem Wirkungseintritt ver-
fügbar. Die Wirkungsdauer bei oraler, rektaler oder parenteraler Gabe liegt bei
vier Stunden.
Fentanyl ist ein hochwirksamer Opioidagonist, der als Injektionslösung vor
allem in der Notfallmedizin Verwendung findet. Seit kurzer Zeit gibt es Fentanyl
als transmukosale Darreichungsform (Fentanyl-„Lutscher“), die besonders rasch
stärkste Schmerzen behandeln kann.
Buprenorphin ist ebenso ein starkes Opioid, das i.v. oder sublingual zur Be-
handlung akuter Schmerzen eingesetzt werden kann.
112 E. Rebhandl et al.

Tabelle 7. Opioid-Umrechnungstabelle

Wirkstoff Angaben in mg

Tramadol (oral/rektal) 150 300 450 600


Tramadol (s.c./i.m./i.v.) 100 200 300 400 500
Dihydrokodein (oral) 120 240 360
Morphin (oral/rektal) 30 60 90 120 150 180 210240
Morphin (s.c./i.m./i.v.) 10 20 30 40 50 60 7080
Oxycodon (oral)* 10 20 40 80 100
Hydromorphon (oral) 4 8 12 16 20 24 2832
Fentanyl TTS (μg/h) 25 50 75 100
Buprenorphin (s.l.) 0,4 0,8 1,2 1,6 2,0 2,4 2,83,2
Buprenorphin (s.c./i.m./i.v.) 0,3 0,6 0,9 1,2 1,5 1,8 2,12,4
Buprenorphen TTS (μg/h) 35 52,5 70 87,5 105 122,5 140

* Wegen der fast vollständigen Resorption von Oxycodon führt die Umrechnung von
Morphin oral zu Oxycodon oral mit Faktor 2 zu Überdosierungen.
Modifiziert nach Likar, 2002

Andere Substanzen in der Therapie akuter Schmerzen

Ketamin ist ein starkes Analgetikum, das sich hinsichtlich seines Wirkmecha-
nismus gänzlich von den Opioiden unterscheidet. Ketamin kommt vor allem in
der Notfallmedizin zum Einsatz.
Der Vorteil von Ketamin liegt im geringen Risiko einer behandlungsassoziier-
ten Atemdepression, und es eignet sich daher z. B. als Mittel der Wahl bei groß-
flächigen Verbrennungen. Ebenso kann es angezeigt sein, wenn bei der Erstver-
sorgung akuter Traumata Opioide nicht zur Anwendung kommen sollen.
Essentiell ist in jedem Fall ein exaktes Monitoring des Patienten. Seit kurzem
steht das reine Stereoisomer S-Ketamin zur Verfügung, das geringere psychoto-
mimetische Nebenwirkungen aufweist.
Antikonvulsiva wie Carpamazepin, Pregabalin und Gabapentin sind aus
dem therapeutischen Armamentarium für den neuropathischen Schmerz (NPS)
nicht wegzudenken. Ihnen allen gemeinsam ist jedoch, dass sie nicht zur Akut-
therapie eingesetzt werden können, da eine schrittweise Steigerung der Dosis
über mehrere Tage erforderlich ist. Als bedeutend hat sich die Diagnostik und
Abgrenzung des NPS vom nozizeptiven Schmerz gezeigt. So zählt zum NPS
nicht nur die Zoster-Neuralgie, sondern auch der NPS beim Diabetiker oder Tu-
morschmerzen. Bei der Wahl der geeigneten Substanz ist vor allem auf zentral-
nervöse Nebenwirkungen wie Sedierung (z. B. Clonazepam), Organschädigung,
z. B. der Leber und Medikamenteninteraktionen zu achten.
Die trizyklischen Antidepressiva (AD) spielen eine wichtige Rolle in der
Behandlung chronischer Schmerzen. Aufgrund der langen Zeitspanne bis zum
Wirkungseintritt (mindestens eine Woche) sind sie für die Akut-Schmerztherapie
Medikamentöse akute Schmerztherapie in der allgemeinmedizinischen Praxis 113

jedoch nicht geeignet. Bei Patient/inn/en über 65 Jahre sollte wegen der stark
anticholinergen Nebenwirkungen nur unter strenger Indikationsstellung ein tri-
zyklisches AD verwendet werden. Die selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-
hemmer (SSRI) haben nahezu keine analgetische Potenz.
Serotonin(5HT1)-Rezeptor-Agonisten (Triptane) kommen in der Behand-
lung der Migräne zum Einsatz und haben hier die älteren Mutterkornalkaloide
(Ergotamine) abgelöst. Sie sind hochwirksam und zeichnen sich durch einen
sehr schnellen Wirkungseintritt aus.
Muskelrelaxantien und Antispasmolytika werden bei jenen Krankheiten
eingesetzt, die einen pathologisch erhöhten Muskeltonus mit entsprechenden
Schmerzen oder eine Spastizität aufweisen. Sie sind besonders bei der Akutbe-
handlung solcher Zustände wirksam und erleichtern dadurch die Mobilisation
bzw. Lagerung und unterdrücken Release-Phänomene wie überschießende Re-
flexe, Kloni und schmerzhafte Muskelspasmen. Da Benzodiazepine (Diazepam,
Tetrazepam) ein hohes Abhängigkeitspotential besitzen, dürfen sie nur kurzfris-
tig eingesetzt werden. Tizanidin ist ein weiteres Medikament, das bei afferent
ausgelösten Spasmen, Multipler Sklerose, Querschnittssyndrom sowie bei Hirn-
infarkt und Hirntraumen eingesetzt wird (Diener et al. 2003).

Spezielle Problemsituationen

Kopfschmerzen
Die Behandlung akuter Kopfschmerzen kann differentialdiagnostisch eine Her-
ausforderung darstellen. Sorgfältige Anamnese und klinische Untersuchung sind
bei Patienten mit akuten Kopfschmerzen unerlässlich. Dies gilt insbesondere
dann, wenn der Patient angibt, erstmals unter starken Kopfschmerzen zu leiden.
In der Praxis kommen fast ausschließlich Patienten mit Migräne oder chronischen
Spannungskopfschmerzen, Kopfschmerzen aufgrund Medikamentenüberge-
brauchs, zervikogenen Kopfschmerzen oder symptomatischem Kopfschmerz im
Rahmen fieberhafter Infekte zum Arzt. Diese Kopfschmerzen sind differentialdia-
gnostisch von sekundär auftretenden Kopfschmerzen, z. B. infolge einer Blutung,
eines raumfordernden Prozesses oder Erkrankungen des Stützapparates abzu-
grenzen. Bei jedem Kopfschmerz, der erstmalig auftritt oder bei bestehen-
den Kopfschmerzen, die sich in Symptomatik, Dauer oder Frequenz verän-
dern, ist eine weiterführende Abklärung unumgänglich. Besondere Vorsicht
und allenfalls eine Klinikeinweisung ist bei erstmaligem Auftreten von Kopf-
schmerzen mit Aura-Symptomatik angezeigt. Ist die Anamnese nicht eindeutig,
sind bis zur endgültigen Abklärung Azetylsalizylsäure wegen der Blutungsgefahr
und Opioide wegen einer möglichen Symptomverschleierung kontraindiziert.
Die medikamentöse Behandlung primärer Kopfschmerzen muss aufgrund
mangelnder kausaler Therapieoptionen immer wieder aufs Neue der aktuellen
Leidenssituation des Patienten angepasst werden.
114 E. Rebhandl et al.

Akuter Migräneanfall
Bei der einfachen Migräne ohne Aura treten über einen Zeitraum von 4 bis
72 Stunden Kopfschmerzen auf, die stark oder mäßig stark sein können. Oft
werden die Schmerzen einseitig und pulsierend empfunden und verstärken sich
bei körperlicher Aktivität. Hinzu können Begleitsymptome wie Licht-, Lärm-
oder Geruchsempfindlichkeit sowie häufig Übelkeit und Erbrechen kommen.
Der neurologische Befund ist unauffällig.
Bei einer akuten Migräneattacke sind Schmerzmittel (Monopräparate!) mög-
lichst frühzeitig bereits bei den ersten Anzeichen einzunehmen und nicht erst,
wenn sich das Vollbild der Migräne-Kopfschmerzen manifestiert. Neben der
analgetischen Therapie sind häufig auch Antiemetika indiziert, da mögliches
Erbrechen sowie die für den Migräneanfall charakteristische eingeschränkte Ma-
genaktivität perorale Analgetika wirkungslos machen können. Hier empfehlen
sich Metoclopramid oder Domperidon.
Als Analgetika können ASS (1000 mg p. o.), Paracetamol (1000 mg rektal),
Ibuprofen (300-400 mg p. o.) oder Naproxen (500 mg p. o.) verordnet werden.
Neben der oralen Gabe ist die i. v.-Gabe von ASS (500–1000 mg) oder Metamizol
(500–1000 mg verdünnt z. B. auf 100 ml NaCl über 5 Minuten) Erfolg verspre-
chend.
Ergotaminen sollte zukünftig in der Migränetherapie keine Bedeutung mehr
zugemessen werden.
Bei schweren Attacken sind – zusätzlich zu den Antiemetika – die Triptane
Mittel der ersten Wahl. Triptane dürfen jedoch nicht während der Aura eines
Migräneanfalls verabreicht werden und auch nicht bei vorheriger Einnahme von
Ergotaminen (und -Derivaten) sowie bei einer Therapie mit MAO-Hemmern
oder bei bestehender KHK.
Da Migräne die Magenentleerung hemmt, sollte zuvor Paspertin vorausgege-
ben werden. Die p.o.-Gabe ist zwar die Regel, bei entsprechender Indikation wie
z. B. gastrointestinalen Problemen, verzögertem Wirkeintritt, etc. können auch
Suppositorien oder ein Nasalspray empfohlen werden.

Aus ungerechtfertigter Angst vor einer „verschleierten“ bzw. erschwerten Dia-


gnostik darf einem schmerzgeplagten Patienten keine adäquate Schmerztherapie
vorenthalten werden. Klingler et al., 1997

Therapie akuter Cluster-Kopfschmerzen


Bei Cluster-Kopfschmerzen handelt es sich um Schmerzattacken von unklarer
Genese. Die Schmerzen dauern 30 Minuten bis maximal 4 Stunden, treten streng
unilateral, orbital, retro-orbital oder fronto-orbital auf und werden als brennend
und kaum erträglich beschrieben. Differentialdiagnostisch sollte ein intrakraniel-
ler Prozess ausgeschlossen werden. Die Therapie kann mittels Sauerstoffinhala-
tion, Sumatriptan s.c. oder intranasaler Instillation von Lidocain erfolgen.
Medikamentöse akute Schmerztherapie in der allgemeinmedizinischen Praxis 115

Soweit unter örtlichen und zeitlichen Umständen möglich, sollte vor Behand-
lungsbeginn eine Zuordnung der Symptome zu dem Bild einer Migräne, eines
Spannungskopfschmerzes oder eines zervikogenen Kopfschmerzes versucht
werden. Die Möglichkeit eines abwendbar gefährlichen Verlaufes wie z. B. einer
Subarachnoidalblutung, einer Sinusvenenthrombose, einer akuten Hirndruck-
symptomatik im Rahmen einer intrazerebralen Raumforderung oder auch eines
Glaukomanfalles ist immer in Betracht zu ziehen.

Nozizeptor-Schmerzen bei Erkrankungen des Bewegungs-


und Stützapparates

Schmerzen im Bereich des Rückens, der Halswirbelsäule und des Schultergürtels


sind nicht nur die häufigste Schmerzkrankheit, sie gehören auch zu den häufigs-
ten Behandlungsanlässen in der ärztlichen Praxis. 80 % der Bevölkerung leiden
zumindest einmal in ihrem Leben unter akuten Rückenschmerzen (Basler 1999).
Die möglichen Ursachen sind vielfältig, und die Prognose ist zumeist gut. Den-
noch können hinter der Schmerzsymptomatik auch Krankheitsbilder stehen, die
eine sofortige, über die Schmerztherapie hinausgehende Intervention erforder-
lich machen. Bei akuten Schmerzen im LWS- oder HWS-Bereich ist daher eine
gründliche Untersuchung mit Erhebung des neurologischen Status unverzicht-
bar.
Beim akuten Rückenschmerz muss wegen der Möglichkeit eines Cauda-
equina-Syndroms insbesondere nach Blasen- oder Mastdarmstörungen, Sensibi-
litätsstörungen an Oberschenkelinnenseiten oder Damm, zum Ausschluss eines
abdominellen Aorten-Aneurysmas nach Durchblutungsstörungen gefragt sowie
zur Abklärung einer möglichen Wurzelschädigung auf Totalausfälle der Sensibili-
tät oder Motorik untersucht werden.
Bei Schmerzen im Schulter- und HWS-Bereich muss neben einem Band-
scheibenvorfall u. a. auch an Meningismus, einen Myokardinfarkt oder ein thora-
kales Aorten-Aneurysma gedacht werden – Erkrankungen, die eine sofortige
Spitalseinweisung erfordern.
In der Therapie von Schmerzen des Bewegungsapparates sind NSAR die erste
Wahl, zumal oft dem Schmerzgeschehen auch eine inflammatorische Kompo-
nente zu Grunde liegt. Allerdings gehört die gastrointestinale Toxizität dieser
Medikamente zu den häufigsten schwer wiegenden medikamenteninduzierten
Nebenwirkungen. Eine Risikoabwägung unter Berücksichtigung der Gabe von
Coxiben ist empfehlenswert. Die zusätzliche Gabe von Myotonolytika ist mög-
lich. Die Gabe von Opioiden ist möglich und bei schweren Schmerzen, die mit
NSAR nicht ausreichend therapiert werden können, auch zusätzlich angezeigt.
Werden die Techniken der therapeutischen Lokalanästhesie beherrscht, ist
diese Methode die optimale Vorgangsweise, das Lokalanästhetikum und gegebe-
nenfalls Kortison in geringer Dosierung mit effektiver Wirkung an den Ort des
Schmerzgeschehens zu bringen. Bei der Therapie akuter Schmerzzustände am
Bewegungsapparat wird Kortison in kristalliner Retard-Form in geringen Dosen
116 E. Rebhandl et al.

gemeinsam mit kurzwirksamen Lokalanästhetika an oder in die schmerzhaften


Gelenke gebracht.

Akuter Gichtanfall
Beim akuten Gichtanfall erfolgt die Schmerztherapie aufgrund von Anamnese
und klinischer Diagnose. Der Laborbefund ist sekundär, da ein Gichtanfall auch
bei normalen Harnsäurewerten auftreten kann. Wichtig ist die Differentialdia-
gnostik in Hinblick auf eine septische Arthritis. Entscheidend ist auch die Anam-
nese, da eine eitrige Arthritis häufig bei einer entsprechenden Grunddisposition
auftritt. Hier sind vor allem Immunsuppression, Diabetes und HIV-Infektion zu
nennen. Im akuten Anfall sind NSAR wie z. B. Diclofenac in der schnell löslichen
Form, Piroxicam (40 mg als Lyotabletten) oder auch das seit langem verwendete
Indometacin mit gleichzeitigem Magenschutz bei Risikopatienten (Protonen-
pumpenhemmer) Mittel der Wahl. Der Einsatz der modernen Coxibe wie Pare-
coxib hat auch hier bei gastrointestinalen Risikopatienten einen Stellenwert.
Eine bekannte Nierenschädigung (etwa infolge eines Diabetes) ist hier jedoch
– wie bei NSAR im Allgemeinen – eine Kontraindikation. Kann eine eitrige Arth-
ritis mit Sicherheit ausgeschlossen werden, ist auch Kortison indiziert, das beim
nierengeschädigten Patienten ebenfalls eingesetzt werden kann.

Schmerzen durch (Poly-)Trauma


Bei Schmerzen unmittelbar nach einer schweren Verletzung hängt die Schmerz-
therapie von der Schwere des Traumas und vom Allgemeinzustand des Patienten
ab. Bei leichteren Schmerzen kann zunächst ein NSAR intravenös versucht und
durch ein Opioid ergänzt werden.
In der Notfallversorgung stellt Ketamin eine gute Alternative zu den Opioi-
den dar, da bei korrekter Dosierung kein hohes Risiko einer Atemdepression be-
steht. Wegen der Gefahr einer Hirndrucksteigerung sollte Ketamin jedoch bei
Verdacht auf ein isoliertes Schädel-Hirn-Trauma ohne ausreichende Beatmung
nicht verwendet werden. Das ebenfalls häufig eingesetzte Fentanyl sollte wegen
des Risikos der Atemdepression dem erfahrenen Notarzt oder Anästhesisten
vorbehalten bleiben.

Neuropathischer Schmerz

Herpes zoster
Beim Herpes zoster ist grundsätzlich immer eine möglichst rasche virostatische
Behandlung indiziert. Leidet der Patient unter Schmerzen, ist eine rasche und
konsequente Schmerztherapie zur Vorbeugung einer Post-Zoster-Neuralgie von
großer Bedeutung. Da es sich beim Herpes zoster um ein entzündliches Gesche-
hen handelt, sind NSAR hier die Analgetika der ersten Wahl. Abhängig von der
Medikamentöse akute Schmerztherapie in der allgemeinmedizinischen Praxis 117

Schmerzintensität kann zusätzlich ein Antikonvulsivum (z. B. Gabapentin, Pre-


gabalin) oder ein Opioid (etwa Tramadol) gegeben werden. Darüber hinaus kön-
nen auch Co-Analgetika wie Antidepressiva, Antikonvulsiva, je nach dem, ob es
ein brennender oder einschießender Schmerz ist, eingesetzt werden.
Lidocain-Pflaster verringern die Schmerzen bei Post-Zoster-Neuralgie rasch
und sind in Kombination mit anderen Nervenanalgetika zur Akutintervention
geeignet.

Postoperative Schmerzen
Der niedergelassene Arzt wird in die postoperative Schmerztherapie erst relativ
spät, i.e. nachdem der Patient das Krankenhaus verlassen hat, eingebunden. Zu
diesem Zeitpunkt sind die Schmerzen zumeist bereits so leicht, dass mit Nicht-
opioiden ausreichend therapiert werden kann. Da herkömmliche NSAR die
Thrombozytenaggregation hemmen, dürfen sie bei Blutungsrisiko nicht einge-
setzt werden. Hier stellen die selektiven COX-2-Hemmer oder Paracetamol und
Metamizol eine therapeutische Alternative dar. Bei anhaltenden Schmerzen ist
ein Opioid p.o. indiziert.

Viszerale Schmerzen in der Notfallmedizin


Eine suffiziente Schmerztherapie muss Patienten bereits vor der definitiven Dia-
gnostik gewährt werden (Klingler et al. 1997). Dies gilt ganz besonders für Pati-
enten mit Vernichtungsschmerzen bzw. stärksten Kontraktionsschmerzen bei
Koliken.
Bei den meisten Schmerzen viszeraler Genese stellt Metamizol das Mittel der
ersten Wahl dar. Die kombinierte Gabe von Spasmolytika und Antiemetika oder
die sublinguale Gabe von Nifedipin oder Nitroglyzerin ist in entsprechenden Si-
tuationen ebenfalls häufig möglich. Abhängig von der Schmerzintensität kann
diese Medikation durch schwache bzw. starke Opioide ergänzt werden.

Steinkoliken
Die bei Koliken auftretenden krampfartigen, heftigsten Schmerzen sind zumeist
von vegetativer Symptomatik mit Schwitzen und Erbrechen begleitet, was neben
der Schmerztherapie die Verabreichung von Adjuvanzien wie zum Beispiel
Metoclopramid erforderlich macht. Neben Analgetika (z. B. Metamizol, Piracetam
und/oder Opioide) sind Spasmolytika wie N-Butylscopolamin indiziert. Ein The-
rapieversuch mit Nitroglyzerin ist oft sehr hilfreich.

Akute Pankreatitis, Ileus, akute Colitis ulcerosa und Diverticulitis


Eine suffiziente Analgesie dürfte bei der mit stärksten Schmerzen und hoher
Mortalität einhergehenden akuten Pankreatitis auch Einfluss auf den Krank-
heitsverlauf haben. Eine rasche und konsequente Schmerzbehandlung ist daher
118 E. Rebhandl et al.

unerlässlich. Neben der akuten Pankreatitis und dem Ileus sollten auch die
Colitis ulcerosa und die Diverticulitis primär mit Metamizol bzw. einer Kombina-
tion von Metamizol und Tramadol therapiert werden. Ein Opiat, das auch bei
akuter Pankreatitis, Ileus, Colitis ulcerosa einen Wert hat, ist Buprenorphin, da es
zu geringer Tonisierung des Sphinkter oddi führt. Morphin ist in diesen Indika-
tionen nach Möglichkeit zu vermeiden.

Akuter Myokardinfarkt und akute Lungenembolie


Jeder Patient mit akutem Myokardinfarkt sollte als Analgetikum Morphin erhal-
ten, da es bereits in kleinen Dosen (5 mg. i. v.) sehr gut die Schmerzen bekämpft.
Darüber hinaus führt es über eine periphere arterielle und venöse Dilatation zur
Senkung der Vor- und Nachlast. Morphin ist auch angezeigt bei Schmerzen im
Rahmen einer akuten Lungenembolie, evtl. gemeinsam mit Metamizol. Coxibe
sind kontraindiziert.

Zusammenfassung
Akute Schmerzen besitzen eine lebenswichtige Warnfunktion und bewahren den
Körper vor weiterer Schädigung. Werden sie nicht ausreichend behandelt, be-
steht das Risiko einer Chronifizierung des Schmerzes.
Eine rechtzeitige und konsequente Akutschmerztherapie mit allen verfügba-
ren und wirksamen Maßnahmen sowie die gründliche Abklärung möglicher Ur-
sachen und die damit verbundene Differentialdiagnostik sind daher unerlässlich.
Sie verbessert nicht nur die Lebensqualität des Patienten, sondern kann auch die
Heilungschancen erhöhen und die Behandlungsdauer verkürzen.
Da sowohl das Schmerzempfinden als auch die Medikamentenwirkungen in-
dividuell unterschiedlich erfahren werden, muss eine Individualisierung der
Schmerztherapie, auch im Hinblick auf die Compliance, oberstes Gebot sein. Zu-
sätzlich erfordert die individuelle Einschätzung spezieller Medikamentenrisiken,
besonders im Gastrointestinaltrakt, an der Niere und im kardiovaskulären Sys-
tem, eine individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung und gezielte Auswahl der
Schmerzmittel.
Der niedergelassene Arzt, der oftmals der erste Ansprechpartner des Patien-
ten bezüglich dessen Schmerzsymptomatik ist, nimmt in der Führung des Pati-
enten eine Schlüsselstellung ein; gerade im niedergelassenen Bereich können
die Erhaltung und Förderung der Patientencompliance maßgeblich zu einem
weiteren Therapieerfolg beitragen.

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Revision

Medikamentöse Tumorschmerztherapie

R. LIK AR und G. BERNATZKY


R. Likar und G. Ber natzk y

Einleitung

In fortgeschrittenen Tumorstadien leiden 70–90 % der Patienten unter behand-


lungsbedürftigen Schmerzzuständen. Schmerzen sind das häufigste Symptom
maligner Erkrankungen. Deshalb ist eine frühzeitige interdisziplinäre Diagnostik
und Therapie von Schmerzen bei Tumorpatienten notwendig. Neben einer Kau-
saltherapie muss parallel mit einer symptomatischen medikamentösen Schmerz-
behandlung begonnen werden. Nach wie vor existieren Vorurteile und Informa-
tionsdefizite über die Wirkung von Morphin.

Ätiologie und Pathogenese von Tumorschmerzen


60–90 % der Schmerzzustände bei Tumorpatienten sind durch Infiltration, Kom-
pression mit konsekutiver Durchblutungsstörung, Ödem, Ulzeration oder Perfo-
ration direkt tumorbedingt. 10–25 % der Schmerzzustände sind therapiebedingt.
Operation, Chemo-, Hormontherapie oder Radiatio können schmerzhafte Folge-
zustände wie z. B. Neuralgien, Phantomschmerz, Fibrose, Mukositis oder ein
Ödem verursachen. Außerdem unterscheidet man zwischen tumorassoziierten
Schmerzursachen wie z. B. Pneumonie, Pilzinfektion, Venenthrombose, Dekubi-
tus (5–20 %) und tumorunabhängigen Schmerzursachen wie z. B. Migräne oder
Arthritis (3–10 %). Neben somatischen Ursachen beeinflussen kulturelle, psy-
chosoziale und spirituelle Faktoren das Schmerzerleben. Pathophysiologisch un-
terteilt man den Karzinomschmerz in Nozizeptorschmerz und neuropathischen
Schmerz.

Nozizeptorschmerz
Nozizeptorschmerz entsteht durch direkte Aktivierung freier Nervenendigungen
von Nozizeptoren. Er wird weiter in einen somatischen und viszeralen Schmerz
122 R. Likar und G. Bernatzky

unterteilt. Somatische Schmerzen z. B. bei Knochenmetastasen entstehen vor-


rangig durch Sensibilisierung und Aktivierung von Nozizeptoren durch endo-
gene algetische Mediatoren wie Bradykinin, Serotonin und Prostaglandin.
Somatische Schmerzen sind meist gut lokalisierbar, stechend, bohrend und be-
wegungsunabhängig. Viszerale Schmerzen z. B. durch Kapseldehnung innerer
Organe oder Schleimhautulzeration entstehen v. a. durch Druck auf Nozizepto-
ren. Sie sind häufig kolikartig, drückend und weisen eine diffuse Ausbreitung auf,
die in die so genannten Head’schen Zonen an der Körperoberfläche übertragen
werden kann.

Neuropathische Schmerzen
Sie entstehen durch Schädigung des peripheren bzw. zentralen Nervensystems
und können durch Tumorkompression oder -infiltration von Nerven, Schädigung
von Nerven bei Operationen oder strahlenbedingte Plexopathien verursacht
werden. Diese werden oft als brennende Dauerschmerzen (kausalgiformer
Schmerz) oder als blitzartig einschießende Schmerzattacken (neuralgiformer
Schmerz) beschrieben. Neuropathische Schmerzen strahlen teilweise nach peri-
pher in das Versorgungsgebiet betroffener Nerven aus (projizierter Schmerz). Die
Grundkenntnis der Ätiologie und Pathogenese von Schmerzen ist v. a. bei Tu-
morpatienten eine wichtige Therapievoraussetzung und bestimmt die Auswahl
der Medikamente.

Therapieprinzipien

Eine erfolgreiche Schmerztherapie setzt eine gründliche Schmerzanamnese und


Dokumentation voraus. Der Charakter, die Lokalisation, die Dauer und Intensität
des Schmerzes müssen festgehalten werden. Zur Erfassung der Schmerzintensi-
tät eignen sich Messskalen wie z. B. die numerische Ratingskala (0 = kein
Schmerz, 10 = unerträglicher Schmerz) oder die visuelle Analogskala in Form
von Schmerzlinealen. Die Schmerztherapie sollte nach ausführlicher Aufklärung
individualisiert erfolgen. In jeder Phase der Erkrankung muss erneut die Mög-
lichkeit einer kausalen Therapie erwogen werden. Eine transdermale oder Medi-
kamentenverabreichung ist zu bevorzugen, während eine parenterale Applika-
tion einer besonderen Indikation bedarf. Die Medikamenteneinnahme soll
regelmäßig und nach einem festen Zeitschema und nicht erst beim Eintritt der
Schmerzen erfolgen, da sonst die Gefahr der Entwicklung einer physischen Ab-
hängigkeit erhöht ist. Zu bevorzugen sind langwirksame Retardpräparate, da
diese die Compliance des Patienten steigern. Für Schmerzspitzen muss dem Pati-
enten eine kurzwirksame Bedarfsmedikation zur Verfügung stehen. Begleitsym-
ptome und Nebenwirkungen müssen konsequent, teilweise auch prophylaktisch
behandelt werden. Eine regelmäßige Kontrolle der medikamentösen Schmerz-
therapie ist notwendig, um eine effektive Dosisanpassung auch bei Veränderung
der Schmerzsymptomatik zu ermöglichen.
Medikamentöse Tumorschmerztherapie 123

Die medikamentöse Schmerztherapie sollte so lange wie möglich oral mit re-
tardierten Präparaten oder transdermal durchgeführt werden.
Erst danach sollten invasive Verfahren, d. h. eine subkutane, intravenöse, epi-
durale bzw. spinale Medikamentengabe bzw. Nervenblockaden zum Einsatz
kommen, begleitend zur Anwendung physikalischer und psychotherapeutischer
Maßnahmen. Für diese Maßnahmen sind Schmerz- und Palliativzentren not-
wendig.

Schmerz

Diagnostik

Schmerzlinderung Kausaltherapie Schmerz

Regionalanästhesie, Diagnostik
Neurochirurgie, etc.
oder
Symptomatische
WHO-Stufenplan Schmerztherapie
orale Medikamente
transdermale Medikamente
oder Psychologische
Begleittherapie
subkutane Opioide
spinale Opioide

Schmerzlinderung
unterstrichen: Aufgaben in speziellen Schmerz- und Palliativzentren

Abb. 1. Schmerz – Diagnostik – Therapie

WHO-Stufenplan

Die WHO nennt für das von ihr vorgeschlagene Stufenschema zur medikamen-
tösen Behandlung der Schmerzen Erfolgsraten von bis zu 90%, eingeteilt wird in
drei Stufen.
124 R. Likar und G. Bernatzky

Aufgaben für spezielle 4: starke Opioide


Schmerz- und Palliativzentren (rückenmarksnahe Appl.)

Bei persistierenden und stärker werdenden Schmerzen

3: starke Opioide Buprenorphin


± Nichtopioidanalgetika transdermal
± Adjuvantien Fentanyl transdermal
Hydromorphon oral
Morphin ora
Oxycodon oral

Bei persistierenden und stärker werdenden Schmerzen

2: schwache Opioide Tramadol


± Nichtopioidanalgetika Dihydrocodein
± Adjuvantien

Bei persistierenden und stärker werdenden Schmerzen

1: Nichtopioidanalgetika Metamizol,
± Adjuvantien Diclofenac, Naproxen, Ibuprofen
Paracetamol

Abb. 2. WHO-Stufenschema zur Schmerztherapie bei chronischen Tumorschmerzen

Stufe I: Nichtopioid-Analgetika
Zu den Nichtopioid-Analgetika gehören die nichtsteroidalen Antirheumatika
(NSAR) wie Azetylsalizylsäure, Ibuprofen und Diclofenac, Anilinderivate wie Para-
cetamol und Pyrazolderivate wie Metamizol. Bei den meisten dieser Medikamente
treten ab bestimmten Dosierungen verstärkt Nebenwirkungen ohne Steigerung
des analgetischen Effektes auf (Ceiling-Effekt). Beim Risiko von gastrointestinalen
Nebenwirkungen sollten nichtsteroidale Antirheumatika mit Protonenpumpen-
hemmer oder Prostaglandin analog und E2-Ciprostol kombiniert werden.

Tabelle 1. Nichtopioid-Analgetika

Wirkstoff Handelsname Einzeldosis Wirk- Dosierung Tageshöchstdosis


mg/kg KG dauer/h mg/die THD in mg

Ibuprofen Brufen/ 10 8 3-4 x 400-600 2400


Avallone
Diclofenac Voltaren 1 8 3-4 x 50 200
Naproxen Miranax 5 12 2 x 550 1100
Metamizol Novalgin 10 4 4-6 x 500-1000 6000
Paracetamol Mexalen 15 6 4-6 x 500-1000 6g (THD: max. 72 h)
Celecoxib Celebrex 1,5-3 12 1-2 x 100-200 400
Medikamentöse Tumorschmerztherapie 125

Tabelle 2. Nichtopioid-Analgetika (Angabenempfehlungen für Erwachsene)

Pyrazolone, Analget. Säuren, Anilinderivate,


z. B. Metamizol z. B. Diclofenac z. B. Paracetamol
Ibuprofen

Analgetisch +++ ++ +
Antipyretisch ++ + +
Antiinflammatorisch (+) ++ 0
Spasmolytisch + 0 0

Stufe II und III: schwache und starke Opioide


Kann mit den Nichtopioid-Analgetika keine akzeptable Schmerzreduktion er-
zielt werden, ist die zusätzliche Verschreibung eines Opioids (meist reiner Ago-
nist) erforderlich. Eine Kombination von retardierten Opioiden ist nicht ratsam.
Zur Stufe II gehören Tramadol (Tageshöchstdosis = THD 600 mg/d) und Di-
hydrocodein (THD 240 mg/d). Aufgrund der Metabolisierung und Elimination
sollte bei Leberschädigung Tramadol bevorzugt werden. Aufgrund dessen, dass
Tramadol in den ersten 14 Tagen Übelkeit und Erbrechen hervorrufen kann, soll-
te in diesem Zeitraum eine Kombination mit einem Antiemetikum erfolgen. Da
die neuropathischen Tumorschmerzen die Chronobiologie betreffend am Morgen
am stärksten sind, ist es sinnvoll, Tramadol retard-Präparate mit 24 Stunden
Wirksamkeit zu verwenden. Dihydrocodein ist bei einer zusätzlich erwünschten
antitussiven Wirkung indiziert. Allerdings ist wegen ausgeprägter Obstipation
eine prophylaktische Gabe eines Laxans notwendig. Bei unzureichender Wirkung
sollte zügig auf ein starkes Opioid der Stufe III umgestellt werden. Hierbei sind
die äquianalgetischen Umrechnungsregeln zu beachten (Tabelle 3). Aufgrund ei-
ner inkompletten Kreuztoleranz wird bei der Opioidrotation eine Dosisreduktion
von bis zu 30 % empfohlen.
Tabelle 3. Umrechnungstabelle für ausgewählte Opioide

Wirkstoff Handels- Angabe im mg


name

Tramadol oral Tramal ret. 150 300 450 600


Tramadol s.c., i.v. Tramal 100 200 300 400 500
Morphin oral/enteral Mundidol 30 60 90 120 150 180 210 240
Morphin s.c., i.v. Vendal 10 20 30 40 50 60 70 80
Oxydodon oral Oxycontin 30 60 90 120
Hydromorphon oral Hydal 4 8 12 16 20 24 28 32
Fentanyl TTS (μg/h) Durogesic 25 50 75 100
Buprenorphin s.l. Temgesic 0,4 0,8 1,2 1,6 2,0 2,4 2,8 3,2
Buprenorphin s.c., i.v. Temgesic 0,3 0,6 0,9 1,2 1,5 1,8 2,1 2,4
Buprenorphin TTS (μg/h) Transtec 35 52,5 70 87,5 105 122,5 150

Auf der Stufe III ist Morphin nach wie vor das Standardmedikament. Bei Nieren-
insuffizienz und älteren Patienten empfiehlt sich eine Dosisreduktion oder eine
126 R. Likar und G. Bernatzky

Opioidrotation, da es zu einer Kumulation der Morphinmetaboliten Morphin-3-


und Morphin-6-Glucuronid kommen kann. Alternativpräparat wäre in diesem
Fall das Hydromorphon. Es weist im Vergleich zu Morphin im Trend geringere
Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen auf. Eine weitere Alternative stellt
das transdermale Fentanyl (Agonist) oder das transdermale Buprenorphin (Parti-
alagonist) dar. Die Akzeptanz erhöht sich durch den nur jeden dritten Tag not-
wendigen Pflasterwechsel und einer Reduktion von Übelkeit bzw. Erbrechen ge-
genüber Morphin. Bei kachektischen Patienten kann es notwendig sein, dass das
transdermale Fentanyl alle 48 Stunden gewechselt werden muss. Die Wirkung
der Pflaster tritt durchschnittlich erst nach 12 Stunden ein. Die Abklingzeit be-
trägt nach Entfernung des Pflasters ca. 16 Stunden.
Bei Morphin, Hydromorphon, transdermalem Fentanyl und transdermalem
Buprenorphin gibt es keine THD. Allerdings liegt unserer Erfahrung nach die
Grenze beim transdermalen Fentanyl bei 300–400 μg/h.
Als Bedarfsmedikation für Schmerzspitzen kann u. a. auch bei transdermalem
Buprenorphin jedes schnellwirksame Morphin verwendet werden. Für die The-
rapie von Schmerzspitzen steht seit kurzem auch orales transmukosales Fentanyl
zur Verfügung – Behandlungsbeginn mit 400 μg –, nach 15 Minuten können bei
unzureichender Wirksamkeit zusätzlich 200 bzw. 400 μg transmukosal appliziert
werden.
Die Behandlung eines opioidnaiven Patienten sollte grundsätzlich mit der
niedrigsten Pflasterstärke begonnen werden. Entgegen früherer Vorstellungen
kann aufgrund der geringen Anzahl von Rezeptoren, die durch Buprenorphin
besetzt werden, ohne Unterbrechung der analgetischen Versorgung bei Notwen-
digkeit auf einen reinen Opioidagonisten (z. B. Morphin) umgestellt werden.
Neben der oralen und transdermalen Opioidanwendung ist bei entzündlichen
Schleimhaut- und Hautschäden die lokale Anwendung von 0,1%igem Morphin-
gel eine therapeutisch sinnvolle Option.

Koanalgetika bei Tumorschmerz


Bei vielen Schmerzsyndromen ist eine Kombination von Opioiden und Nicht-
Opioiden nicht ausreichend effektiv (Abb. 3).

Aufgaben für spezielle 4: starke Opioide parenteral


Schmerz- und Palliativzentren (subkutan, intravenös,
peridural, intrathekal

Bei starken Opioiden antiemetische Prophylaxe und Obstipationsprophylaxe!

3: starke Opioide oral/transdermal + Nichtopioid –


Analgetika
z. B. Morphin retard 3 x 30 mg/die
Bedarfsmedikation: nicht-retardiertes Morphin 1/10–1/6
der Tagesdosis
Bedarfsmedikation: z. B. Buprenorphin sublingual 0,2 mg
Medikamentöse Tumorschmerztherapie 127

Bei starken Opioiden antiemetische Prophylaxe und Obstipationsprophylaxe!

2: schwache Opioide und Nichtopioid - Analgetika


z. B. Tramadol retardiert 3 x 100 mg/die bis 3 x 200 mg/die
Bedarfsmedikation: nicht retardiertes Tramadol, z. B. Tramadol
Tropfen, 20 gtt = 50 mg

1: Nichtopioidanalgetika Viszeraler Nozizeptorschmerz bei


Somatischer Nozizeptorschmerz Koliken
Knochenschmerz z. B. Metamizol 20–40 gtt alle 4 h
z. B. Ibuprofen 3 x 600 mg/die z. B. Butylscopolamin
z. B. Diclofenac 3 x 50-100 mg/die

Abb. 3. WHO-Stufenschema der Schmerztherapie

Daher sollte zusätzlich zum WHO-Stufenschema zur Behandlung verschie-


dener Symptome der Tumorerkrankung immer die Gabe von adjuvanten Medi-
kamenten und Koanalgetika erwogen werden. Vor allem bei Patienten mit neu-
ropathischen Schmerzen ist der zusätzliche Einsatz von Koanalgetika in
Kombination mit Opioiden zu empfehlen.

Tabelle 4. Koanalgetika: Auswahl nach Schmerzart

Medikamente Dosierung mg/die Anwendung


Amitriptylin (Saroten®) 25–100 Neuropathische
Dauerschmerzen
Gabapentin (Neurontin®) 900–2700 Neuropathische
Dauerschmerzen
Pregabalin (Lyrica®) 150–600 Neuropathische
Dauerschmerzen
Carbamazepin (Tegretol®) 600–1200 Neuropathische
Dauerschmerzen
Dexamethason (Fortecor- Bolus 40–100 i.v., danach Nervenschmerzen oder
tin®) oral, über 2–3 Wochen Weichteilkompression,
Hirnödem, Kapselschmerz,
Knochenmetastasen, Übelkeit
Zoledronsäure (Zometa®) 4 i.v. alle 4 Wochen Knochenschmerzen
z. B. osteolytische
Knochenmetastasen
alle Knochenschmerzen
Pamidronsäure (Aredia®) 30-90 i.v. 2–4 Wochen z. B. Osteolytische
Knochenmetastasen
Butylscopolamin Akut: 20 mg i.v., Kolikschmerzen
(Buscopan®) 3–5 x 10 mg oral z. B. Spasmen glatter
Muskulatur
Midazolam (Dormicum®) 10-25 mg Unruhezustände, Angst,
Übelkeit
128 R. Likar und G. Bernatzky

Trizyklische Antidepressiva

Trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin (25–75 mg/Tag) oder Clomipramin


(1-2x10–25 mg/Tag) werden vor allem bei neuropathischen, brennenden Dauer-
schmerzen verwendet. Ihre Wirkung beruht auf einer Verstärkung der schmerz-
hemmenden serotonergen und noradrenergen Bahnen. Die wesentlichen Ne-
benwirkungen sind Mundtrockenheit, Sedierung, Schwindel und Tachykardie.
Die analgetische Wirkung der Antidepressiva setzt erst nach 3–4 Tagen ein.

Antikonvulsiva

Antikonvulsiva wie Carbamazepin (600–1.200 mg/Tag), Gabapentin (Neuron-


tin®) (1.200–2.700 mg/Tag) und Pregabalin (Lyrica®) (150–600 mg/Tag) kommen
bei blitzartig einschießenden neuropathischen Schmerzattacken zum Einsatz.
Antikonvulsiva können Müdigkeit und Schwindel verursachen.

Kortikosteroide

Kortikosteroide wie Dexamethason (Fortecortin®) finden bei Nerven- und


Weichteilkompressionen, Leberkapselspannung, Ödemen und Knochenmetasta-
sen Anwendung und wirken antiphlogistisch. Gleichzeitig wirkt Dexamethason
appetitsteigernd, euphorisierend und antiemetisch. Die Therapie sollte mit einer
initialen i.v.-Bolusgabe von 40–100 mg begonnen werden. Danach folgt eine ora-
le Gabe von 16 bzw. 8 mg Dexamethason. Zur Appetitsteigerung und Hebung
der Stimmung empfiehlt sich eine Dauertherapie mit 4 mg Dexamethason p. o.

Zusammenfassung

Auch eine optimale Schmerztherapie kann nicht immer zu Schmerzfrei-


heit/Schmerzlinderung führen. Die Behandlung von Tumorschmerzen wird dann
eine interdisziplinäre Aufgabe. Bei neu aufgetretenem Schmerz muss primär ge-
klärt werden, ob eine kausale Behandlung der Schmerzen, wie z. B. die chirurgi-
sche Entfernung von Metastasen, eine Bestrahlung bzw. eine hormonell/zyto-
statische Behandlung möglich ist. Bei stärkeren Schmerzen sollte jedoch bereits
parallel zur Diagnostik mit einer suffizienten medikamentösen Schmerztherapie
begonnen werden.

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Revision

Postoperativer Einsatz von Nichtopioid-Analgetika

R. LIK AR und R. SITTL


R. Likar und R. Sittl

Einleitung

Die postoperative Schmerztherapie wird heute als multimodales Therapiekon-


zept gesehen, in dem pharmakologische und nichtpharmakologische Methoden
kombiniert werden. Effektive postoperative Schmerzlinderung führt zu einer er-
höhten Patientenzufriedenheit, zu einem kürzeren Krankenhausaufenthalt und
reduziert postoperative Komplikationen (Ballantyne et al. 1998).
Dolin et al. (2002) konnten in einer aktuellen Zusammenfassung von
165 Studien, in denen 20.000 Patienten inkludiert waren, zeigen, dass 29 % der
Patienten über mäßige und 11 % über starke postoperative Schmerzen berichtet
hatten. Dies weist darauf hin, dass eine weitere Verbesserung der Schmerzthera-
pie notwendig ist.
Vor allem die mit einer PCA-Pumpe durchgeführte, patientenkontrollierte
Analgesie verbesserte die Patientenzufriedenheit deutlich. Trotzdem liegt die In-
zidenz von mäßigen Schmerzen bei 35,8 % und von starken Schmerzen bei
10,4 % der Patienten. Da die patientenkontrollierte Analgesie hauptsächlich mit
Opioiden durchgeführt wird, muss auch mit opioidspezifischen Nebenwirkun-
gen wie respiratorischer Depression, Abnahme der intestinalen Motilität, Übel-
keit, Erbrechen und Juckreiz gerechnet werden (Ballantyne et al. 1998; Wulf et al.
1997).
Orale Nichtopiod-Analgetika wurden wegen ihrer hervorragenden anti-
inflammatorischen, antipyretischen und analgetischen Wirkungen über Jahr-
zehnte für die Behandlung von nicht-chirurgischen Schmerzsyndromen verwen-
det. Da einige Nichtopioid-Analgetika auch zur parenteralen Applikation zur
Verfügung stehen, wurden diese in den letzten Jahren auch vermehrt im Mana-
gement des akuten postoperativen Schmerzes eingesetzt.
132 R. Likar und R. Sittl

Mechanismus
Nichtopioid-Analgetika blockieren die Synthese von Prostaglandinen, da sie die
Zyklooxygenasen Typ I und Typ II hemmen (Abb. 1). Dadurch kommt es zu einer
verringerten Sensibilisierung von Schmerzrezeptoren, die als Nozizeptoren be-
zeichnet werden. Nichtopioid-Analgetika wirken aber nicht nur peripher, son-
dern auch auf spinaler und supraspinaler Ebene analgetisch (Brack et al. 2004;
Hyllested et al. 2002).

Funktion der Zyklooxygenasen COX-1 und COX-2

Glukokortikoide
Arachidonsäure IL-4, IL-10, IL-13


IL-1, TNF-

COX-1 COX-2 COX-2


(konstitutiv) (konstitutiv regulierbar) (induzierbar)

Konventionelle Selektiver
X NSAR X X COX-2-
Inhibitor

Magen/Darm Rückenmark
Niere Niere Entzündung
Thrombozyten Uterus Schmerz
Gefäße Wundheilung

Abb. 1. Funktion der Zyklooxygenasen

Vertreter
Zur postoperativen, parenteralen Schmerzbehandlung stehen aus der Gruppe
der Nichtopioid-Analgetika zur Verfügung:
die zentral wirksamen Substanzen: Paracetamol und
Metamizol und
die peripher und zentral wirksamen NSAR: Azetylsalizylsäure
Diclofenac,
Ketoprofen
Piroxicam und
Lornoxicam (nur in Österreich) sowie
der selektive COX-II-Hemmer: Parecoxib
Postoperativer Einsatz von Nichtopioid-Analgetika 133

Tabelle 1. Nichtopioid-Analgetika zur intravenösen postoperativen Verabreichung

Wirkstoff Handelsname Einzeldosis Wirkdauer/h Dosierung Tageshöchst-


(Beispiele) mg/kg KG mg/die dosis THD mg
Paracetamol Perfalgan i.v. 15 4 x 1000 4000
Metamizol Novalgin p.o./i.v. 10 4 4–6 x 500–1000 6000
Voltaren/Neo- 3–4 x 50
Diclofenac 1 8 200
Dolpasse p.o./i.v. 3 x 75
Ketoprofen Profenid p.o./i.v. 1-2 6–8 3 x 100 300
Lornoxicam Xefo p.o./i.v. 0,1 6–8 3x8 24
Parecoxib Dynastat i.v. 40 mg/70 kg 12 20 x 40 80

Ist der Patient bereits in der Lage zu schlucken, können alle in Tabelle 1 ge-
nannten Substanzen (bis auf Parecoxib) auch peroral verabreicht werden.
Zur peroralen Applikation gibt es darüber hinaus noch Acemetacin
Dexibuprofen
Ibuprofen und
Naproxen
Mefenaminsäure
Die Auswahl der Nichtopioid-Analgetika sollte nach pathopysiologischer
Ursache und damit nach Art des Eingriffs erfolgen. Weiters spielen vorhandene
Begleiterkrankungen (Allergie, Niereninsuffizienz, Thrombozytopenie usw.) eine
Rolle bei der Auswahl der Nichtopioide. Bei viszeralen Schmerzen werden
vermehrt spasmolytisch wirkende Substanzen, bei knochenchirurgischen Ein-
griffen die stärker entzündungshemmenden Substanzen zum Einsatz kommen
(Tabelle 2) (Jage 2004)

Tabelle 2. Analgetisches Wirkungsprofil der Nichtopioide

Nichtopioid Analgetisch Antientzündlich Spasmolytisch

NSAR +++ +++ +


COX-2-Hemmer +++ +++ +
Metamizol +++ (+) +++
Paracetamol ++/+++ (+) –

(+) sehr gering; + gering; ++ mäßig; +++ stark; –keine Wirkung

Im Unterschied zu den Opioiden ist die analgetische Potenz von Nichtopioid-


Analgetika begrenzt, das heißt, eine Steigerung der Dosis über die empfohlene
maximale Tagesdosis (MTD) bedingt häufig keine weitere Zunahme der Schmerz-
linderung, sondern führt nur zu einer Zunahme der Nebenwirkungen.
134 R. Likar und R. Sittl

NSAR

Die klassischen NSAR sind postoperativ gut analgetisch und gut entzündungs-
hemmend. Besonders wichtig in der postoperativen Schmerztherapie ist die
Kombination von Nichtopioid-Analgetika mit Opioiden. Damit erreicht man
eine Reduktion des Opioidverbrauchs in den ersten 24 Stunden um bis zu 40 %
und dadurch bedingt auch geringere Opioidnebenwirkungen; vor allem kommt
es zu einer Verringerung von Nausea und Emesis.
Da die Thrombozytenaggregation ausschließlich über die Zyklooxygenase I
gesteuert wird, kommt es unter den klassischen NSAR zu einer Beeinträchtigung
der Thrombozytenfunktion und dadurch zu einer verstärkten perioperativen Blu-
tungsneigung. Besonders hoch ist das Nachblutungsrisiko bei Tonsillektomien.
Werden ausschließlich Opioide zur Analgesie bei Tonsillektomien eingesetzt,
liegt das Nachblutungsrisiko bei 1–4 %.Beim Einsatz von klassischen NSAR er-
höhte sich das Risiko auf 9–14 % (Drake und Stokes 1998; Judkins et al. 1996;
Splinter et al. 1996).
Die klassischen NSAR zeigen darüber hinaus vor allem gastrointestinale Ne-
benwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Gastritis, Ulcus ventriculi oder duodeni
und gastrointestinale Blutungen, aber auch renale Nebenwirkungen wie Nieren-
funktionsstörungen, Oligurie, Anurie, Proteinurie oder interstitielle Nephritis. Zu
beachten sind auch allergische und pseudoallergische Reaktionen besonders bei
intravenöser Injektion. Asthmapatienten sind hier besonders gefährdet. Zentral
nervöse Nebenwirkungen wie Sedierung, Somnolenz, Sehstörungen, Halluzina-
tionen treten sehr selten auf.
Daraus ergeben sich absolute und relative Kontraindikationen bei Anwen-
dung eines klassischen NSAR zur postoperativen Schmerztherapie:
Absolute Kontraindikationen: Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes,
Gastritis, Magen- und Darm-Ulzera, Gerinnungsstörungen, Niereninsuffizienz,
schwere Perfusionsminderung der Niere, Herzinsuffizienz, schwere Anämie und
Ascites. Auch gleichzeitige Behandlung mit potentiell nephrotoxischen Pharma-
ka wie Diuretika oder Antibiotika sind Kontraindikationen.
Relative Kontraindikationen sind: Asthma bronchiale, rezidivierende Magen-
Darm-Beschwerden und anamnestisch Magen-und Darm-Ulzera (Angster und
Hainsch-Müller 2005; Passero und Chowdhry 2003).
Bezüglich der Auswirkungen von NSAR auf die Niere ist anzumerken, dass
bei kurzzeitiger postoperativer Anwendung bei sonst gesunden Patienten die
Nierenfunktion nicht beeinflusst wird (Jage 2004). Auch thromboembolische Er-
eignisse, wie sie bei Langzeittherapie mit NSAR eintreten können, sind bei einer
postoperativen Kurzzeittherapie nicht zu befürchten.
Diclofenac steht als Kombinationspräparat mit Orphenadrinzitrat intra-
venös zur Verfügung. Der Vorteil ist in der Kombination das Orphenadrinzitrat,
welches ein Methylderivat von Diphenhydramin ist und eine zentral angreifende
myotonolytische und zentral analgetische Wirkung hat und zusätzlich noch anti-
histaminerge und anticholinerge Eigenschaften aufweist. Die Kombination von
Postoperativer Einsatz von Nichtopioid-Analgetika 135

Diclofenac und Orphenadrinizitrat zeigt sich in der Schmerzlinderung den Be-


wegungsschmerz und die Schlafqualität betreffend aus unserer Erfahrung dem
reinen Diclofenac überlegen.

COX-2-Hemmer

Aufgrund des Nebenwirkungsprofiles der klassischen NSAR bezüglich Gastroin-


testinaltrakt, Niere, Lunge und Thrombozyten erwartete man sich von den selek-
tiven COX-2-Hemmern eine deutliche Verringerung des Nebenwirkungsrisikos.
In zwei Metaanalysen (Passero und Chowdhry 2003; Romsing und Moiniche
2004) konnte gezeigt werden, das COX-2-Inhibitatoren (Celebrex oral und Pare-
coxib i.v.) über die gleiche analgetische Wirksamkeit wie NSAR oder Metamizol
verfügen. Der Einsatz von COX-2-Inhibitoren in Kombination mit patientenkon-
trollierter intravenöser Opioidanalgesie (PCA) führt zu einer signifikanten Ab-
nahme des Opioidverbrauchs und damit zu einer Reduktion der opioidbedingten
Nebenwirkungen wie Sedierung, Übelkeit, Erbrechen, Obstipation, Juckreiz.
Die COX-2-Hemmer wurden kritisch bewertet, und die EMEA (European
Medicines Agency) formulierte folgende Kontraindikationen:
– klinisch gesicherte koronare Herzerkrankung,
– klinisch gesicherte zerebrovaskuläre Erkrankungen,
– Herzinsuffizienz, postoperative Schmerztherapie nach koronarer Bypassope-
ration und unkontrollierter Hypertonus (nur für Etoricoxib).
Der Vorteil der selektiven COX-2-Hemmer in der postoperativen Schmerz-
therapie liegt darin, dass gastrointestinale Nebenwirkungen im Vergleich zu den
NSAR seltener auftreten und die Thrombozytenfunktion nicht beeinflusst wird.
Die renale Toxizität unterscheidet sich nicht von den klassischen NSAR, aber das
kardiovaskuläre Risiko hinsichtlich Myokardinfarkt, arterieller Hypertonus, Herz-
insuffizienz und Schlaganfall ist erhöht.
Weitere Indikationen für den selektiven COX-2-Hemmer sind rückenmarks-
nahe Anästhesieverfahren/Analgesieverfahren und Eingriffe mit erhöhtem
Blutungsrisiko, da die COX-2-Hemmer die Thrombozyten-Aggregationsfähigkeit
nicht beeinflussen. Bei Vorliegen von gastrointestinalen Problemen sollten auch
COX-2-Hemmer den nichtsteroidalen Antirheumatika wie Diclofenac oder
Ibuprofen vorgezogen werden.

Metamizol

Metamizol hemmt die Prostaglandinsynthese vorwiegend zentral. Metamizol


wirkt analgetisch und spasmolytisch. Im Vergleich zu den NSAR sind Nebenwir-
kungen von Metamizol eher selten. Nebenwirkungen im Magen-Darm-Trakt
sind nur schwach ausgeprägt und renale oder kardiale Nebenwirkungen sowie
zentrale Nebenwirkungen sind nicht bekannt. Die Indikation, die sehr gut belegt
136 R. Likar und R. Sittl

ist, ist der postoperative viszerale Schmerz. Das vieldiskutierte Risiko der Agra-
nulozytose durch Metamizol wird noch immer kontrovers diskutiert.
Ältere Arbeiten zeigten, dass Metamizol ein Risiko von 1,1 pro 1 Mill. An-
wendungswochen hat (Kaufmann et al. 2004). Eine Studie konnte zeigen, dass
eine erhöhte Agranulozytoserate nach Metamizolgabe in Schweden von 1:1431
Verschreibungen zu beobachten war (Hedenmalm und Spigset 2002).
Diskutiert werden genetische Ursachen. Neuere prospektive Studien zeigen,
dass das Risiko einer Agranulozytose in Polen extrem niedrig ist (Ibanez et al.
2004). Da Metamizol in der postoperativen Schmerztherapie eines der meistver-
wendeten und am breitesten eingesetzten Nichtopioid-Analgetika im deutsch-
sprachigen Raum ist, kann man auch aus klinischer Erfahrung den neueren Inzi-
denzzahlen recht geben.
Die gefürchtete massive Hypotension bei intravenöser Gabe lässt sich durch
langsame Infusion vermeiden. Diese Infusion sollte über einen Zeitraum von 15–
30 Minuten verabreicht werden (Jage 2004).

Paracetamol
Paracetamol wirkt analgetisch und antipyretisch und hat keine antiphlogistische
Wirkung. Man geht ebenfalls von einer zentralen antinozizeptiven Wirkung aus,
und zwar verhindert Paracetamol spinal die Prostaglandin-E2-Freisetzung und
hat einen inhibitorischen Effekt auf die Gunanylatzyklase Auch für eine Aktivie-
rung von serotonerger Mechanismen gibt es Hinweise. Die intravenöse Verabrei-
chung muss rasch als Kurzinfusion gegeben werden, um einen ausreichenden
Wirkspiegel im ZNS zu erreichen. Die Kombination von Paracetamol mit ande-
ren Nichtopioid-Analgetika verstärkt die schmerzhemmende Wirkung der Ein-
zelkomponenten (Tabelle 3) (Hyllested et al. 2002; Jage 2004).
Eine Untersuchung konnte zeigen, dass, wenn der Patient vorher einen 5-
Hydroxy-Tryptamin-3-Antagonisten erhalten haben, die intravenöse Perfalgan-
wirkung abgeschwächt ist (Pickering et al. 2006).
Paracetamol hat noch den Vorteil, dass es postoperativ auch während der
Schwangerschaft und während der Stillzeit angewendet werden kann.
Die gefährlichste Nebenwirkung von Paracetamol ist die Hepatotoxizität.
Die Hauptmetabolite sind das Gukuronid (60 %) und das Sulfat (ca. 35 %).
Weniger als 3 % werden durch das Zytochrom-P-450-System zu dem toxischen,
elektrophilen und oxydierenden Intermediärmetaboliten N-Acetyl-P-Benzo-
chinonimin hydroxyliert, der in der Regel sofort durch Glutathion neutralisiert
wird. Bei Überschreiten der Einzel- oder Tageshöchstdosierung von Paracetamol
ist die Glutathionreserve rasch erschöpft und der reaktive Metabolit kann dann
nicht mehr neutralisiert werden. Durch kovalente Bindung dieses Metaboliten an
intrazelluläre Proteine werden lebensbedrohende Leberzellnekrosen induziert
(Anderson et al. 1995; Morton und Arana 1999).
Postoperativer Einsatz von Nichtopioid-Analgetika 137

Tabelle 3. Kombinationsmöglichkeiten

Paracetamol + NSAID/COX-2-Hemmer
NSAID + Paracetamol/Metamizol
COX-2-Hemmer + Paracetamol/Metamizol
Metamizol + NSAID / COX-2-Hemmer

Nicht-opioidhaltige Analgetika bei Kindern

Für die postoperative Schmerztherapie bei Kindern stehen nur wenige Analge-
tika in kindergerechten Applikationsformen und Dosierungen zur Verfügung
(Tabelle 4).
Paracetamol kann als Zäpfchen bzw. als Tablette bei wenig schmerzhaften
Eingriffen bzw. bei Eingriffen an der Körperoberfläche eingesetzt werden. Die
Gabe von Suppositorien bereits bei Narkoseeinleitung hat sich bewährt, wobei
initial eine Dosierung von 20–40 mg/kg KG eingesetzt wird (Anderson et al.
1995). Die maximale Tagesdosis liegt bei 100 mg/kg KG und diese darf nur an
drei aufeinanderfolgenden Tagen verabreicht werden. Die potentielle Lebertoxi-
zität von Paracetamol ist bei Kindern besonders zu beachten (Morton und Arana
1999). Bereits die doppelte Tagesmaximaldosis von 200 mg/kg KG kann zu le-
bensbedrohlichen Vergiftungen führen. Bei bekannter Leberfunktionsstörung
muss auf eine Therapie mit Paracetamol verzichtet werden.

Tabelle 4.

Wirkstoff Handelsname z. B. Einzeldosis mg/kg KG Wirkdauer h


Paracetamol* Mexalen 15 6
Paracetamol i.v. 15
Perfalgan 6
(ab 1. Lebensjahr) Kurzinfusion über 15 min.
Diclofenac Voltaren 1 8
Ketoprofen Profenid 1–2 8
Ibuprofen Nureflex 10 8
Naproxen Proxen Susp. 5 12
Metamizol Novalgin 15 6

* Initialdosis von 20–30 mg/kg/KG empfehlenswert, absolute THD 100 mg/kg/Kg, THD
nicht länger als 72 h.

Bei knochenchirurgischen Eingriffen bzw. bei Schmerzen, bei denen Entzün-


dungsmediatoren am Schmerzgeschehen beteiligt sind, kommen nichtsteroidale
Antiphlogistika wie Diclofenac oder Ibuprofen zum Einsatz. Diclofenac liegt in
Zäpfchenform á 12,5 mg vor. Ibuprofen kann als Saft oder als Brausegranulat
verabreicht werden.
Bei viszeralen Schmerzen bzw. bei Schmerzen mit kolikartigem Charakter
und bei Patienten mit niedriger Thrombozytenzahl oder Gerinnungsstörungen
138 R. Likar und R. Sittl

wird Metamizol eingesetzt. Der intravenöse Bolus (Kurzinfusion über 15 Minu-


ten) beträgt 10–20 mg/kg KG. Als Dauerinfusion werden 2,5–3,0 mg/kg
KG/Stunde Metamizol verabreicht. Eine ausführliche Allergieanamnese vor so-
wie eine Kontrolle des Blutdrucks während der Infusion sind bei Verwendung
von Metamizol besonders wichtig, eine Blutbildkontrolle ist zu empfehlen.
Es muss noch einmal hervorgehoben werden, dass bei einer unzureichenden
Analgesie mit Nichtopioid-Analgetika die Kombination mit Opioiden auch bei
Kindern anzuraten ist.

Zusammenfassung
Nichtopioid-Analgetika sind nach wie vor die Mittel der Wahl für die postoperative
Schmerztherapie. Die Nebenwirkungen der klassischen NSAR hinsichtlich
Thrombozytenfunktion und Blutungsrisiko müssen bedacht werden. Niere und
Gastrointestinaltrakt werden bei kurzfristiger Anwendung eher nicht in Mitleiden-
schaft gezogen. Die Nebenwirkungen der selektiven COX-2-Hemmer hinsichtlich
des Risikos von kardiovaskulären Komplikationen einschließlich Myokardinfarkt,
Herzinsuffizienz und Schlaganfall müssen berücksichtigt werden, kommen aber
bei der Anwendung über wenige Tage kaum zu tragen. Metamizol hat wenige Ne-
benwirkungen, ein Restrisiko für eine Agranulozytose bleibt. Das Überschreiten
der Tageshöchstdosis bei Paracetamol kann zu Hepatotoxizität führen.
Mit der Kombination von Nichtopioid-Analgetika mit Opioiden in der post-
operativen Schmerztherapie erreicht man sehr oft ein verbessertes klinisches Er-
gebnis. Der postoperative Opioidverbrauch wird durch die Kombination gesenkt
und dadurch können die opioidbedingten Nebenwirkungen signifikant reduziert
werden.
Entsprechend der Schwere des Eingriffs werden Analgetikagaben auch mit
verschiedenen anderen Verfahren der Schmerzkontrolle kombiniert (Abb. 2).

Kleine chirurgische Eingriffe:


ƒ Herniotomie, Venenoperationen, gynäkologische Laparotomie:
o Nichtopioid-Analgetika (Paracetamol, Metamizol, Diclofenac, Ketoprofen).
Wundinfiltrationen mit Lokalanästhesie und/oder periphere Nervenblockaden.
Mittlere chirurgische Eingriffe:
ƒ Hüft-Totalendoprothese, Hysterektomie, kieferchirurgische Gesichtseingriffe
o Nichtopioid-Analgetika (Diclofenac, Ketoprofen, Metamizol, Paracetamol).
Wundinfiltrationen mit Lokalanästhetika und/oder peripheren Nerven-
blockaden, systemische Opioide, patientenkontrollierte Analgesie
Größere chirurgische Eingriffe:
ƒ größere Baucheingriffe, Kniegelenksersatz
o Nichtopioid-Analgetika (Paracetamol, Metamizol, Diclofenac, Ketoprofen)
plus epidurale Lokalanästhesie (plus Opioide), oder systemische Opioide,
patientenkontrollierte Analgesie.

Abb. 2. Analgesiestufenschema postoperativ (modifiziert nach Rawal 1997)


Postoperativer Einsatz von Nichtopioid-Analgetika 139

Das Ziel der Behandlung ist eine suffiziente Schmerzlinderung, die Verhinde-
rung von Komplikationen wie Pneumonie oder Thrombose, eine frühe Mobilisa-
tion, ein kürzerer Klinikaufenthalt und schnelle Rehabilitation, damit größere Pa-
tientenzufriedenheit und verbesserte Lebensqualität. Durch die suffiziente
Schmerztherapie kann auch eine Chronifizierung postoperativer Schmerzen ver-
hindert werden.

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Revision

Der Stellenwert von NSAR i.v. in Kombination


mit krampflösenden Substanzen in der modernen
Schmerzmedizin

H. BRÖLL, M. FRIEDRICH, W. ILIAS, W. JAKSCH,


W. KLIMSCHA, C. LAMPL, B. LEEB, R. LIKAR und B. TELEKY
Der Stellenwert von NSAR i.v. in Kombination mit krampflösenden Substanzen

H. Bröll et al.

Problemstellung

Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) haben heute aufgrund ihrer analgeti-


schen und antiphlogistischen Wirksamkeit in der Behandlung von zahlreichen
akuten und chronischen Schmerzformen einen zentralen Stellenwert. In der
Akutschmerztherapie, zum Beispiel peri- und postoperativ, ist der i.v.-Einsatz
von NSAR bedeutsam. Hier spielen insbesondere NSAR mit kurzer Halbwerts-
zeit, die aufgrund einer leichteren Steuerbarkeit entsprechend dem jeweiligen
Krankheitszustand eingesetzt werden können, eine Rolle, ggf. als Kombinations-
präparat mit einem zentral wirksamen Muskelrelaxans oder Orphenadrinzitrat.
Der rasche Wirkeintritt mittels Infusion sowie das infolge der Wirkstoff-
kombination ausgeweitete Wirkspektrum ermöglichen eine kurzfristige Schmerz-
kontrolle. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine rasch einsetzende
Schmerzlinderung in einer Reihe von Fällen einer Schmerzchronifizierung vor-
beugen kann.
Im Folgenden werden auf der Grundlage wissenschaftlicher Evidenz und
ärztlicher Erfahrung zentrale Fragen im Zusammenhang mit NSAR i.v. in Kom-
bination mit krampflösenden Substanzen diskutiert und der Einsatz solcher
Kombinationen evaluiert.

NSAR i.v.: Rascher Wirkungseintritt bei akutem Schmerz

Ein zentrales Argument für den Einsatz von NSAR i.v. ist der rasche Wirkungs-
eintritt nach etwa zehn Minuten. NSAR i.v. haben sich in einer Reihe von Indika-
142 H. Bröll et al.

tionen hervorragend bewährt. Generell gilt dies für praktisch alle Formen des
Akutschmerzes, also zum Beispiel sämtliche Schmerzen im muskuloskelettalen
Bereich, Schmerzen im unfallchirurgischen Bereich, Schmerzen im gynäkologi-
schen Bereich, Schmerzen im zahnärztlicher Bereich, Nieren- und Gallenkoliken,
Migräneanfälle, etc. Besonders hervorzuheben ist der Stellenwert von NSAR i.v.
bei kleineren Eingriffen bis hin zu mittelschweren Operationen, bezogen auf den
Zeitraum der therapiebedürftigen Schmerzen nach der Operation, also ein bis
fünf Tage.
NSAR i.v. sollten nur bei Patienten eingesetzt werden, die keine Kontrain-
dikationen in Bezug auf vorbestehende Organdysfunktionen (Niere, Leber,
Gastrointestinaltrakt, eventuell Herz-Kreislauf-Erkrankungen), erhöhte Blutungs-
risiken oder Wundheilungsstörungen aufweisen. Vorsicht ist weiters geboten
beim frühzeitigen postoperativen Einsatz nach Eingriffen mit erhöhtem Blu-
tungsrisiko, wie z. B. urologischen und neurochirurgischen Operationen oder
nach Tonsillektomien. Die Auswirkung eines NSAR auf das Blutungsrisiko ist
auch abhängig von der Halbwertszeit des jeweiligen Medikaments; Medikamen-
ten mit kurzer Halbwertszeit ist der Vorzug zu geben.

Breite Palette von NSAR i.v. erleichtert Wechsel der


Darreichungsform ohne Wirkstoffwechsel

Im anglosächsischen Raum etwa stehen derzeit für die Verabreichung von


NSAR i.v. nur Ketorolac und Valdecoxib zur Verfügung, und es sprechen eine
Reihe stichhaltiger Argumente dafür, dass heute in Festland-Europa eine breitere
Produktpalette verfügbar ist.
NSAR sind – bei gleichem Wirkmechanismus – chemisch unterschiedliche
Substanzen, Patienten sprechen individuell unterschiedlich auf die einzelnen
Wirkstoffe an. Da Patienten grundsätzlich immer nur ein NSAR gegeben werden
sollte, ist aus schmerzmedizinischer Sicht eine Vielzahl von verfügbaren NSAR
zur i.v.-Applikation wünschenswert, damit bei einem Wechsel der Darreichungs-
form nicht auch ein Wechsel des Wirkstoffes erforderlich wird. Wünschenswert
ist also zumindest ein Vertreter aus jeder NSAR-Substanzgruppe, wodurch i.v.-
Präparate je nach individueller Wirksamkeit und Verträglichkeit eingesetzt wer-
den könnten, wobei eine kurze Halbwertszeit als Vorteil erachtet wird.

Vorteile der intravenösen Gabe gegenüber anderen


Applikationsformen

Die Gabe von NSAR i.v. hat gegenüber einer enteralen Applikation in der Akut-
schmerztherapie einige Vorteile: So ist die Anschlagszeit deutlich kürzer, dazu
kommen die bessere Steuerbarkeit und eventuell ein höherer Placeboeffekt. Im
Bereich der unerwünschten Wirkungen besteht generell der Eindruck einer bes-
seren gastrointestinalen Verträglichkeit. NSAR i.v. weisen gruppenspezifische
Der Stellenwert von NSAR i.v. in Kombination mit krampflösenden Substanzen 143

Nebenwirkungen auf, allerdings sind diese insgesamt relativ selten. Am häufig-


sten wurden allergische Reaktionen beobachtet.

Die Kombination von NSAR mit krampflösenden Substanzen

Für die Kombination von NSAR mit Muskelrelaxantien bzw. mit Orphenadrin-
zitrat sprechen eine Reihe von Argumenten: Zum Beispiel kann damit bei
Schmerzverspannungen der Kreislauf von Schmerz und Verspannung unterbro-
chen werden. Bei reflektorischen muskulären Spannungszuständen bei Gelenk-
und Wirbelsäulenproblemen kann diese Wirkstoffkombination zu einer Muskel-
relaxierung und somit auch zu einer effektiveren Schmerzlinderung führen.
Im Fall der Kombination von Diclofenac-Natrium und Orphenadrinzitrat
kommt noch eine antihistaminische Wirkung dazu, der damit verbundene ab-
schwellende Effekt kann bei Schmerzformen mit autoimmunologischer Kompo-
nente relevant sein. Dieser Synergismus erfolgt bei einer Kombination mit einem
reinen Muskelrelaxans nicht.
Patienten mit NSAR sollten zusätzlich Protonenpumpen-Inhibitoren (PPI)
verabreicht werden, diese verlangsamen allerdings die Metabolisierung der Mus-
kelrelaxantien. Orphenadrinzitrat unterliegt jedoch einer anderen Metabolisie-
rung und weist daher in Kombination mit Diclofenac einen weiteren Vorteil auf.
Unverändert gelten auch bei solchen Wirkstoffkombinationen die in Punkt 2
genannten Hinweise auf Kontraindikationen.
Ein Teilnehmer an diesem Positionspapier berichtet, dass seine persönlichen
Erfahrungen im neurologischen Bereich den Einsatz der Kombination Diclofe-
nac-Natrium mit Orphenadrinzitrat insofern als limitiert erscheinen lassen, als es
dadurch besonders bei älteren Patienten zu Beinödemen gekommen ist.
Beim Einsatz von NSAR kommt es zu gruppenimmanenten Hemmung der
Natriumausscheidung durch Interferenz mit der Nierendurchblutung (Folge der
Prostaglandin-I-Synthesehemmung), aber auch einer direkten Einwirkung auf
das Nierenepithel. Die Ausbildung von Knöchelödemen ist somit eine Neben-
wirkung, welche nicht Orphenadrin-, sondern Diclofenac- bzw. NSAR-spezifisch
ist.

Erfahrungen mit Monosubstanzen und Kombinations-


präparaten

Die persönlichen Erfahrungen der Mehrzahl der an diesem Expertenstatement


mitwirkenden Mediziner sprechen dafür, dass die Kombination von NSAR und
Muskelrelaxantien wie z. B. Diclofenac und Orphenadrinzitrat bei Indikationen
wie Ischialgien oder akuten Periarthropatien besser wirksam ist als ein NSAR i.v.
alleine. Auch bei anderen akuten Schmerzsituationen wird die Kombination als
potenter beschrieben, Patienten empfinden auf Befragung die Kombinationsthe-
rapie oft als entspannend bzw. wärmend.
144 H. Bröll et al.

Fertige Infusion vs. NSAR in Ampullenform


Ein praktischer Vorteil der Verfügbarkeit eines NSAR-Kombinationspräparats als
fertige Infusion gegenüber einem NSAR in Ampullenform ist die Einfachheit der
Zubereitung. Eine fertige Infusion schließt Kompatibilitätsprobleme beim Vermi-
schen aus, ist für Pflegepersonen vorteilhaft und bringt zudem einen Zeitgewinn.
Die Erfahrung zeigt, dass einfach anwendbare Verabreichungen angesichts der
Überlastung des Pflegepersonals dem Patienten eher gegeben werden, insbeson-
dere im postoperativen Bereich.
Aus wirtschaftlicher Sicht sind die höheren Kosten von NSAR-Kombina-
tionspräparaten als fertige Infusion anzuführen.

Zentral wirksame Muskelrelaxantien und Orphenadrinzitrat


Der sedierende Effekt der Benzodiazepine kann bei akuten Schmerzen von Vor-
teil sein und zu einer besseren Schlafqualität beitragen. Ihre sedierende Wirkung
kann Benzodiazepine als weiteren Kombinationspartner bei Wirbelsäulenpatien-
ten geeignet erscheinen lassen und einen zusätzlichen Ansatzpunkt für eine
schmerzlindernde Wirkung bieten. Allerdings ist Sedierung nicht immer er-
wünscht.
Für den Einsatz von Kombinationspräparaten mit Orphenadrinzitrat spre-
chen gegenüber dem Einsatz von zentral wirksamen Relaxantien wie Benzodia-
zepinen folgende Argumente: Bei Orphenadrinzitrat kommt es nicht zum Hang-
over, außerdem wird der Abbau von Benzodiazepinen durch die Kombination
mit PPI verändert. NSAR-Benzodiazepin-Kombinationen sind in Kombination
mit Opioiden in Bezug auf unerwünschte Interaktionen schwerer einschätzbar
als NSAR-Kombinationen mit Orphenadrinzitrat: Zum einen aufgrund der län-
geren Halbwertszeit von Benzodiazepinen. Zum anderen können Benzodiazepi-
ne in Kombination mit Opioiden i.v. zu einer verstärkten Beeinträchtigung der
Atmung führen. Orphenadrinzitrat kann deshalb für Kombinationen mit Opioi-
den als besser geeignet erachtet werden.

Schlussfolgerung und Zusammenfassung

NSAR i.v. haben sich u. a. wegen des raschen Wirkungseintritts in der Behand-
lung von akutem Schmerz in einer Reihe von Indikationen sehr gut bewährt.
Eine möglichst breite Palette von NSAR i.v. ist wünschenswert, weil dadurch in-
dividuell der Wechsel der Darreichungsform ohne einen Wechsel des Wirkstoffes
ermöglicht wird. Substanzen mit kurzer Halbwertszeit sind von Vorteil.
Für die Kombination von NSAR mit Muskelrelaxantien bzw. Orphenadrin-
zitrat sprechen folgende Argumente: Die Kombination von NSAR und Orphen-
adrinzitrat i.v. hat aufgrund ihrer krampflösenden, schmerzstillenden und
entzündungshemmenden Wirkung sowie einer darüber hinaus bestehenden
Der Stellenwert von NSAR i.v. in Kombination mit krampflösenden Substanzen 145

synergistischen Wirksamkeit ihren Stellenwert in der Behandlung einer Reihe


von akuten Schmerzen: Argumente dafür sind z. B. rascher Wirkeintritt, gute
Steuerbarkeit infolge kurzer Halbwertszeit, keine sedierende Wirkung, gute
Kombinierbarkeit mit Opioiden. Der Einsatz von Kombinationspräparaten mit
Orphenadrinzitrat bringt deshalb auch Vorteile gegenüber dem Einsatz von
Kombinationen mit zentral wirksamen Relaxantien wie Benzodiazepinen.
Als Vorteile eines fertigen NSAR-Kombinationspräparates können die Ein-
fachheit der Zubereitung, das Vermeiden von Kompatibilitätsproblemen beim
Vermischen, andere organisatorische Gesichtspunkte und Zeitgewinn angeführt
werden.

Literatur
Literatur bei den Verfassern
Revision

Schmerztherapie bei Kindern und Jugendlichen

R. KRUMPHOLZ
R. Kr umpholz

Einleitung
Pflegende spielen eine wichtige Rolle bei der Prävention und Behandlung von
Schmerzen. Sie sind in der Regel 24 Stunden am Tag bei den kleinen Patienten
und können daher Schmerzen rechtzeitig erkennen.
Sie bereiten Kinder auf schmerzhafte Eingriffe vor, haben den meisten Kon-
takt mit den Eltern und bilden ein Bindeglied zwischen diesen und den Ärzten.
Sie haben durch ihr Verhalten einen großen Einfluss darauf, wie Kinder
Schmerzen erleben, und können durch einfache Maßnahmen zur Erleichterung
beitragen.

Schmerzmythen und Schmerzempfinden


„Neugeborene haben keine Schmerzen!“ oder „Kinder haben weniger Schmer-
zen als Erwachsene in der gleichen Situation!“ oder „Eltern reden ihren Kindern
Schmerzen ein!“, sind Irrtümer, die auf einer überholten Auffassung von
Schmerz beruhen.
Leider sind diese „Mythen“ noch immer weit verbreitet, auch wenn sie nicht
mehr so offen ausgesprochen werden wie noch vor einigen Jahren. In der tägli-
chen Routine wird der „Kinderschmerz“ häufig nicht ernst genommen und ger-
ne heruntergespielt. Warum geht man gerade mit kleinen Kindern so um?
Schmerzdefinitionen beziehen sich auf das subjektive Empfinden eines Men-
schen und seine Fähigkeit, diese Schmerzen auch auszudrücken.
Bei Kindern stellt dies ein Problem dar. Kleine Kinder, kranke Kinder können
ihre Schmerzen weder lokalisieren noch verbalisieren. Nur weil ein Kind ruhig
ist, ist es noch lange nicht schmerzfrei. Schmerz ist immer mit Emotionen ver-
bunden. Um Gefühle unterscheiden zu können braucht es eine gewisse Lebens-
erfahrung, die kleinen Kindern fehlt. Ob es weh tut oder nicht, hängt von der
Schmerzschwelle jedes einzelnen Menschen ab und diese wird wiederum stark
148 R. Krumpholz

von Umweltfaktoren beeinflusst. Auch die Schmerztoleranz, der Moment, an


dem Schmerzen unerträglich werden, ist etwas sehr Subjektives und von äuße-
ren Faktoren bestimmt.
Ein Kind, das sich sicher und geborgen fühlt, kann starke Schmerzen leichter
ertragen. Wie Schmerz erlebt wird, mit wie viel Angst und Schrecken er verbun-
den wird, hängt wiederum von eigenen Erfahrungen ab. Wie hat die Umgebung
reagiert? Hat sich das Kind alleingelassen gefühlt oder ist es ernst genommen
worden? Ein Kind zeigt anschließend ein gewisses Schmerzverhalten, das in der
Regel darin besteht, dass es Trost und Linderung sucht. Es lernt sehr rasch, dass
dieses Verhalten auch seine angenehmen Seiten hat. Es bekommt Zuwendung,
wird getröstet und in den Arm genommen, erhält vielleicht kleine Geschenke.
Kinder, die auf andere Weise wenig Aufmerksamkeit von ihren Eltern bekom-
men, lernen ihr Schmerzverhalten einzusetzen, um auf diese Weise die notwen-
dige Zuwendung zu erhalten.
Wie jeder weiß, der selbst Kinder hat, hängen Schmerzempfinden und
Schmerzverhalten sehr stark davon ab, unter welchen Umständen der Schmerz
erfahren wird. Ein Kind, das sich beim Sport verletzt, aber auf keinen Fall aufhö-
ren will, wird einem aufgeschlagenen Knie sehr viel weniger Bedeutung beimes-
sen als ein anderes, das an der Hand der Mutter auf dem Weg zum ungeliebten
Kindergarten den selben Schmerz erfährt.

Akuter und chronischer Schmerz

„Schmerz gehört zum Leben!“


Nicht jeder Schmerz ist schlecht. Der Schmerz hat, wie wir alle wissen, eine
wichtige Alarmfunktion. Er schützt uns vor Gefahren: Instinktiv ziehen wir unse-
re Hand von der heißen Herdplatte, zucken wir zurück, wenn wir uns mit dem
Messer schneiden. Ein Kind lernt aus Situationen, in denen es sich wehgetan
hat.
Ganz anders verhält es sich bei den so genannten iatrogenen Schmerzen, also
solchen, die es durch medizinische Eingriffe erfährt. Es kann diese weder durch
sein Verhalten verhindern noch sonst einen Einfluss darauf ausüben. Iatrogene
Schmerzen sind für die Diagnostik nicht wichtig, für das Kind sehr unangenehm
und sollten möglichst vermieden werden.
Dies hat nicht nur ethisch-moralische Gründe.
Schmerz führt zur Ausschüttung von Stresshormonen und den damit ver-
bundenen Veränderungen von Vitalparametern, wie Blutdruck, Herzfrequenz und
Sauerstoffsättigung. Damit verbunden ist eine verzögerte Genesung, ein verlän-
gerter Krankenhausaufenthalt und eine Verzögerung der kindlichen Entwick-
lung.
Außerdem kommt es zur Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses. Das wie-
derum verändert Schmerzempfinden und Schmerzverhalten in der Zukunft. In-
zwischen geht man davon aus, dass die Ursache vieler chronischen Schmerzen
bei Erwachsenen in schmerzhaften frühkindlichen Erfahrungen zu suchen ist.
Schmerztherapie bei Kindern und Jugendlichen 149

Beim chronischen Verlauf hat der Schmerz seine schützende Signalwirkung


völlig verloren. Die negativen Auswirkungen überwiegen bei weitem. Chronische
Schmerzen führen zu Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit und Gedeihstörungen,
Müdigkeit und schlechter Laune. Die Kinder ziehen sich zurück, verlieren ihr In-
teresse an der Umwelt und wollen nicht einmal mehr spielen. Entwicklungsver-
zögerungen und Lernschwierigkeiten sind die Folge.

Faktoren, die das Schmerzempfinden beeinflussen

Ein Kind reagiert altersabhängig auf Schmerzen, wobei sich diese Abhängigkeit
sowohl auf die kognitive als auch auf die emotionale Entwicklung des Kindes be-
zieht.
In den beiden ersten Lebensjahren zeigt es auf Schmerz motorische Reaktio-
nen. Ein Neugeborenes, das in die Ferse gestochen wird, zieht den Fuß instinktiv
zurück. Ein einjähriges Kind, das begreift, dass eine bestimmte Handlung
Schmerzen verursacht, versucht sich gegen diese zu wehren. Mit zwei Jahren
kann ein Kind bestimmte Gegenstände, zum Beispiel eine Spritze, mit schmerz-
haften Ereignissen assoziieren und sich daran erinnern.
Im Vorschulalter sind kindliche Phantasien vorherrschend, die von der Wirk-
lichkeit oft nicht unterschieden werden können. Kinder glauben zum Beispiel, sie
sind krank geworden, weil sie „nicht brav“ gewesen sind.
Schulkinder können bereits logisch denken und ihre eigenen Erfahrungen
zuordnen. Sie erkennen Ungerechtigkeiten und Unwahrheiten kommen sehr
schlecht an. Einmal belogen verlieren sie schnell das Vertrauen und lassen sich
nur sehr schwer überzeugen. Ältere Kinder und Jugendliche sind schon in der
Lage Zusammenhänge zu begreifen und wollen über ihre Erkrankung und die
notwendige Behandlung informiert werden.
Kinder sollten daher altersgemäß darüber informiert werden, was auf sie zu-
kommt. Man sollte niemals behaupten, dass eine Spritze nicht weh tut oder dass
alles gleich wieder gut wird, wenn es nicht stimmt. Genauso wichtig ist es, ein
Kind nicht allein zu lassen und nach dem Eingriff zu trösten.
Parallel zur kognitiven Entwicklung verläuft die emotionale Entwicklung ei-
nes Kindes. Ein Säugling, auf dessen Bedürfnisse eingegangen wird, der liebevoll
umsorgt wird und ausreichend Körperkontakt erfährt, entwickelt ein so genann-
tes Urvertrauen. Unangenehme Situationen sollten so weit wie möglich vorher-
sehbar sein, sodass er sich darauf einstellen kann. So sollte man einen schlafen-
den Säugling wecken, bevor man eine Injektion verabreicht.
Kleinkinder beharren zwar zunehmend auf ihrer Selbständigkeit, trotzdem
brauchen sie in diesem Alter noch sehr viel Liebe und Zuwendung in kritischen
und unangenehmen Situationen. Keinesfalls darf man diese Kinder alleine las-
sen. Eine Vertrauensperson, die die nötige Ruhe ausstrahlt, sollte bei allen
schmerzhaften Eingriffen dabei sein.
Ältere Kinder wollen aktiv werden und die Situation selbst kontrollieren.
Wenn möglich sollte man diesen Kindern Gelegenheit geben, den Eingriff mit-
150 R. Krumpholz

zugestalten. Sie dürfen sich zum Beispiel ihr Lieblingsspielzeug mitnehmen oder
sich aussuchen, ob sie lieber sitzen oder liegen wollen.
Schulkinder lernen mit Leistungsanspruch und Anerkennung für geleistete
Aufgaben umzugehen. Sie sind auch in der Lage mit Schmerzen umzugehen.
Das Gefühl, einen schmerzhaften Eingriff zu bewältigen, nimmt die Angst und
erfüllt diese Kinder mit Stolz. Je älter die Kinder werden, umso mehr wollen sie
selbst über ihren Körper entscheiden und ihre Autonomie bewahren.
Schmerzempfinden und Schmerzverhalten werden von der Kultur geprägt, in
der ein Kind aufwächst.
Ob Schmerzen als normal oder behandlungsbedürftig empfunden werden,
hängt ebenfalls davon ab. Die Art, wie Schmerzen von Kindern anderer Kultur-
kreise geäußert werden, ist für uns mitunter befremdend und wirkt oft übertrie-
ben und unangemessen. Trotzdem sollte man sich hier nicht von Vorurteilen lei-
ten lassen und bei Unklarheiten frühzeitig einen Dolmetscher einschalten.
Wie in der Familie mit Schmerzen umgegangen wird, spielt genauso eine gro-
ße Rolle. Dürfen kleine Jungen weinen oder spürt ein Indianer keinen Schmerz?
Leidet ein Elternteil häufig unter Schmerzen und zieht damit die Aufmerksam-
keit auf sich? Ein Kind lernt in der Familie, welches Verhalten zu welchem
Schmerz gehört und wie seine Umgebung darauf reagiert.

Hilfreich kann es sein, als Teil der Pflegeanamnese eine Schmerzanamnese


mit Eltern und Kind gemeinsam zu machen:

Kind Eltern

Kannst du mir sagen, was Schmerzen Welche Worte benutzt Ihr Kind, um
sind? Schmerzen zu beschreiben?
Wie war es, als du das letzte Mal Können Sie das letzte Schmerzerlebnis
Schmerzen hattest? Ihres Kindes beschreiben?
Sagst du es jemandem, wenn du Sagt Ihr Kind es Ihnen, wenn es
Schmerzen hast? Schmerzen hat?
Was machst du, wenn du Schmerzen Woran merken Sie, wenn Ihr Schmerzen
hast? hat?
Was sollen andere für dich tun, wenn Wie reagiert Ihr Kind gewöhnlich auf
du Schmerzen hast? Schmerzen?
Was sollen andere nicht tun, wenn Was tun Sie gewöhnlich, wenn Ihr Kind
du Schmerzen hast? Schmerzen hat?
Was lindert deine Schmerzen am Was tut Ihr Kind selbst, um die
besten? Schmerzen zu lindern?

Was hilft am besten, um die Schmerzen


Ihres Kindes zu lindern?

Quelle: Acute pain management in infants, children and adolescents: Operative and
medical procedures. Quick practice guideline, US Department of Health and Human Ser-
vices, Public Health Service, Agency for Health Care Policy and Research.
Schmerztherapie bei Kindern und Jugendlichen 151

Wie schon früher erwähnt, kann es zur Ausbildung eines Schmerzgedächtnis-


ses kommen. Das heißt, wie ein Kind auf einen aktuellen Schmerzreiz reagiert,
hängt mit seiner Erfahrung in diesem Bereich zusammen. Wurden mit diesen in
der Vergangenheit erlebten Schmerzen auch gleichzeitig starke Angstgefühle ge-
speichert, so kann ein solches Kind auf bevorstehende Eingriffe mit Panik reagie-
ren. In einem solchen Fall ist von den behandelnden Ärzten und vom Pflege-
personal besonders viel Geduld und Einfühlungsvermögen gefordert. Solches
Verhalten kann bis ins Erwachsenenalter anhalten. Man denke nur an die pani-
sche Angst mancher Menschen vor dem Zahnarzt.
Zuletzt ist es sehr vom körperlichen Zustand des Kindes abhängig, wie es auf
einen Schmerz reagiert. Ein Kind, das schlecht schläft, unterernährt oder er-
schöpft ist, ist viel schmerzempfindlicher.

Schmerzprävention

Zwei Punkte sind grundlegend für jede Schmerzprävention:


– Angst und Stress sollte verhindert werden.
– Analgetika müssen vor dem schmerzhaften Eingriff verabreicht werden.
Die „normale“ Reaktion eines Kindes ist, sich zu wehren oder wegzulaufen,
wenn es Angst hat. Ist dies nicht möglich, gerät es in eine massive Stresssituation
und Schmerz wird als extrem unangenehm empfunden.
Wird das Kind auf die Situation vorbereitet, hat es eher die Chance, sich an-
zupassen und sich so zu verhalten, wie es von ihm erwartet wird. Sagen wir ihm
nicht, dass der Eingriff wehtun wird, hat es zwar keine Angst, lernt jedoch, dass
Erwachsene lügen und verliert das Vertrauen für die Zukunft.
Bei der Vorbereitung sollte man dem Kind nicht nur sagen, was genau ge-
schehen wird, sondern auch was es selbst sehen, hören, riechen und fühlen wird.
Es hilft, wenn man sich dabei in die Rolle des Kindes versetzt. Zuletzt erklärt
man genau, welches Verhalten vom Kind erwartet wird, etwa, das es still sitzen
sollte. Damit kann es einen positiven Beitrag leisten, auf den es stolz sein kann.
Idealerweise werden Kinder schon im Vorfeld durch ihre Eltern vorbereitet,
sei es durch Spiele, Bücher, Filme oder durch einen Besuch im Krankenhaus. Im
Akutfall oder wenn die Eltern nicht viel von solchen Erklärungen halten, ist dies
allerdings nicht möglich.
Schmerzen können natürlich auch durch die rechtzeitige Gabe von Analgeti-
ka verhindert werden. Wichtig dabei ist, dass die Verabreichung selbst nicht weh
tut und der Wirkeintritt abgewartet wird. Sind nach einem Eingriff länger dau-
ernde Schmerzen zu erwarten, so müssen Analgetika nach einem fixen Zeitinter-
vall gegeben werden. Nur so können Schmerzspitzen und Schmerzdurchbrüche
verhindert werden.
152 R. Krumpholz

Schmerzeinschätzung
Ob ein Kind Schmerzen hat oder ob es sich aus anderen Gründen unwohl fühlt,
lässt sich umso schwerer unterscheiden, je jünger das Kind ist.
Wie Pflegende Schmerzen beurteilen, hängt vom Verhalten des Kindes, der
Eltern, der medizinischen Diagnose und ihrer Erfahrung ab. Oft wird auf die
Gabe von Analgetika aus Angst vor Nebenwirkungen vor allem bei Säuglingen
verzichtet.
Wir können nicht feststellen, wie intensiv ein Kind Schmerzen empfindet. Wir
sind darauf angewiesen möglichst viele Informationen zu sammeln, um die
Schmerzintensität einzuschätzen.
Dazu wird in den Niederlanden die so genannte „Questt“-Methode empfoh-
len:
ƒ Question the child
ƒ Use pain scales
ƒ Evaluate behaviour and physical changes
ƒ Secure parents’ involvement
ƒ Take cause of pain into account
ƒ Take action and evaluate results
Bei Kindern unter 2 Jahren werden Scores empfohlen, die eine Schmerzein-
schätzung mit Hilfe von Verhaltenskomponenten vornehmen. Einfach in der
Anwendung ist die KUSS (Kindliche Unbehagens- und Schmerz-Skala).

KUSS
Kindliche Unbehagens- und Schmerz-Skala

Beobachtung Bewertung Punkte


Gar nicht 0
Weinen Stöhnen, Jammern, Wimmern 1
Schreien 2
Entspannt, lächelnd 0
Gesichtsausdruck Mund verzerrt 1
Mund und Augen grimassieren 2
Neutral 0
Rumpfhaltung Unstet 1
Aufbäumen, Krümmen 2
Neutral 0
Beinhaltung Strampelnd, tretend 1
An den Körper gezogen 2
Nicht vorhanden 0
Motorische Unruhe Mäßig 1
Ruhelos 2
Addition der Punkte:
Abb. 1.
Schmerztherapie bei Kindern und Jugendlichen 153

Änderungen der Vitalparameter, wie Blutdruck, Herzfrequenz und Atmung,


werden für Neugeborene als Hinweis für Schmerzen herangezogen.
Ab drei Jahren ist eine Selbsteinschätzung möglich. Am häufigsten verwendet
wird hierfür der „Smiley“-Score, bei dem das Kind seinen Schmerz einem be-
stimmten Gesicht zuordnet. Größere Kinder können mit Hilfe einer Zahlenskala
von 1–5 (VRS = verbal rating scale) oder einer Messlatte, auf der sich ein Schie-
ber befindet und auf der Rückseite eine Skalierung von 1–10, (VAS = visuelle
Analogskala) ihre Schmerzen einschätzen.

NRS SMILEY (GESICHTER) SKALA VRZ


0
1
kein Schmerz – lächelndes Gesicht
- 1

2
3
mäßiger Schmerz – indifferentes Gesicht
. 2

4
5
mittelstarker Schmerz – trauriges Gesicht
/ 3

6
7
8
starker Schmerz – sehr trauriges Gesicht
/ 4

9
10
stärkster vorstellbarer Schmerz – weinendes Gesicht
/
.. .. 5

NRS (VAS) 0 = kein Schmerz


10 = stärkster vorstellbarer Schmerz
(VAS) = 10 cm Schmerzlineal
SMILEY (Gesichter) Skala (1–5) siehe Schmerzlineale

Abb. 2.

Wichtig dabei ist, dass die Kinder möglichst vor dem schmerzhaften Ereignis
die Gelegenheit bekommen, die Messinstrumente kennen zu lernen.

Nichtmedikamentöse Schmerztherapie

Diese Methoden werden, wenn möglich, ergänzend zur medikamentösen Thera-


pie angewendet. Sie tragen dazu bei, dass die Angst vor dem Schmerz nachlässt.
Die Rahmenbedingungen, wie ausreichend Zeit und Ruhe, müssen allerdings
vorhanden sein, und das Kind und die Eltern müssen dazu bereit sein.
Folgende Methoden werden verwendet:
– kognitive Methoden
– verhaltenstherapeutische Methoden
154 R. Krumpholz

Kognitive Methoden
Bei der gelenkten Imagination lernt das Kind, sich bewusst in eine andere Situa-
tion hineinzuversetzen, die ihm vertraut ist oder es interessiert. Das Kind stellt
sich zum Beispiel vor ein starker Ritter zu sein, dem nichts wehtut.
Eine andere Möglichkeit ist, mit dem Kind vorher zu besprechen, was es am
besten während der Prozedur ablenkt. So kann man zusammen ein Lied singen
oder Gedichte aufsagen. Sanfte Musik hat nachgewiesenermaßen einen schmerz-
lindernden Effekt. Bei manchen Kindern lassen sich die Schmerzen durch Atem-
übungen wie „Wegblasen“ oder durch Entspannungsübungen verringern.

Verhaltenstherapeutische Methoden
Unter dem Begriff „Lernen am Modell“ versteht man die Aneignung eines be-
stimmten Verhaltens, indem man eine Person nachahmt. So kann ein Kind zu-
schauen, wie ein anderes Kind ohne Probleme eine Spritze bekommt. Eine ande-
re Möglichkeit ist, einen geplanten Eingriff vorher mit dem Kind durchzuspielen.
Wichtige Regeln für die Anwendung:
 Welche der genannten Methoden benutzt werden, hängt vom Alter des Kin-
des ab.
 Sie sollten keinesfalls ein Ersatz für eine medikamentöse Schmerztherapie
sein.
 Wichtig ist, immer ehrlich zu sein, genau zu sagen, was man tut und Worte zu
verwenden, die das Kind versteht.
 Eine Bezugsperson, der das Kind vertraut, sollte immer anwesend sein.
 Das Kind sollte möglichst viel selbst bestimmen können und gelobt werden,
wenn es kooperativ gewesen ist.

Medikamentöse Schmerztherapie

Während sich in der Erwachsenenmedizin die postoperative Schmerztherapie in


Form von klinikinternen Konzepten durchgesetzt hat, halten viele Anästhesisten
die Schmerztherapie bei Kindern für verbesserungswürdig.
Wo Kinder operiert werden, sollte ein Konzept für die gesamte perioperative
Phase vorhanden sein:
Die Nüchternzeiten sollten so kurz wie möglich sein. Säuglinge dürfen bis vier
Stunden vor dem Eingriff gestillt werden, Milch und feste Nahrung können bis
sechs, klare Flüssigkeiten bis zwei Stunden vorher eingenommen werden. Auch
nach der Operation sollten die Kinder so rasch wie möglich etwas zum Trinken
bekommen. Damit scheidet Durst als Grund für Weinen und Unruhe aus.
Vor jeder Operation oder auch vor einer Untersuchung, die in Narkose durch-
geführt werden muss, sollten Kinder ab 6 Monaten eine ausreichende Prämedi-
kation erhalten. Im Vorschulalter hat sich die rektale Gabe von Midazolam (0,5–1
mg/kg KG) bewährt. Größere Kinder schlucken lieber Tabletten.
Schmerztherapie bei Kindern und Jugendlichen 155

Vor jeder Venenpunktion sollte eine Stunde vorher ein „EMLA“-Pflaster


(Gemisch aus Lidocain und Prilocain) geklebt werden. Die Haut wird durch die-
ses „Zauberpflaster“ betäubt und die Punktion tut nicht weh.
Für die intra- und postoperative Phase empfiehlt Martin Jöhr folgendes Vor-
gehen:

Die 3 Säulen der Schmerztherapie bei Kindern

2.
1. Paracetamol 3.
Regional- und Opiate
anästhesie NSAR

Abb. 3.
Wann immer möglich, sollte ein regionalanästhesiologisches Verfahren zu-
sammen mit einer Vollnarkose angewandt werden. Am häufigsten werden im
Kindesalter der Kaudalblock und der Peniswurzelblock durchgeführt. Beide Me-
thoden sind sehr sicher und wirksam. Sie kommen bei Leistenbrüchen, Hoden-
operationen oder Beschneidungen zum Einsatz. Die Kinder erwachen schmerz-
frei und sind auch einige Stunden danach beschwerdefrei.
Wichtig ist, dass überlappend mit einer systemischen Schmerztherapie be-
gonnen wird, damit es nicht zu einem Schmerzdurchbruch kommt, wenn die
Wirkung des Lokalanästhetikums nachlässt.
Bei kleinen Eingriffen sind Medikamente, wie Paracetamol, Metamizol und
nichtsteroidale Antirheumatika ausreichend. Sie werden vom Arzt schon wäh-
rend der Operation in ausreichender Dosierung und im fixen Zeitintervall in den
Patientenunterlagen vermerkt.
Tabelle 1. Dosierungsbeispiele: NICHTOPIOIDANALGETIKA
PARACETAMOL
Handelsname Zulassung Dosierung Darreichungsform Maximaldosis

Mexalen ab Ladedosis: Suppositorien: 100 mg/kg/die


rectal Neugeborenen- 35–45 mg/kg 125/250/500/ NG:
alter weitere Dosen: 1000 mg 60 mg/kg/die
10–15 mg/kg Ladedosis:
20 mg/kg
Mexalen größere Kinder 10–20 mg/kg Tabletten: 500 mg 100 mg/kg/die
oral
Mexalen ab 2 Jahren 10–20 mg/kg Saft: 1 ML = 5 ml 100 mg/kg/die
oral 1 ml = 40 mg NG:
60 mg/kg/die
Perfalgan ab 3 kg 15 mg/kg Infusion: 60 mg/kg/die
intravenös 1 ml = 10 mg
156 R. Krumpholz

DICLOFENAC
Handelsname Zulassung Dosierung Darreichungsform Maximaldosis

Diclobene ab 6 Jahren 1–2 mg/kg Suppositorien: 3 mg/kg/die


rectal 25/50/100 mg
Diclobene Tabletten:
oral 25/50/100 mg
Diclofenac Tabletten:
oral 25 mg
Voltaren Suppositorien:
rectal 50/100 mg
Voltaren Tabletten:
oral 25/50/100 mg
Voltaren ? größere Kinder 1 mg/kg Ampullen: 2mg/kg/die
intravenös 1 ml = 25 mg

IBUPROFEN
Handelsname Zulassung Dosierung Darreichungsform Maximaldosis

Nureflex ab 3 Monaten 10 mg/kg Saft: 40 mg/kg/die


oral 1 ml = 20 mg
Brufen größere Kinder Tabletten:
oral 400/600 mg
Nureflex ab 1 Jahr 10 mg/kg Supp. 40 mg/kg/die
rectal 125 mg, 250 mg

NAPROXEN
Handelsname Zulassung Dosierung Darreichungsform Maximaldosis

Proxen ab 1 Jahr 5–7 mg/kg Saft: 1ML = 5ml 15 mg/kg/die


oral 1 ml = 50 mg
Proxen Jugendliche Tabletten: 1000 mg/die
oral 500 mg
Proxen Jugendliche Suppositorien: 1000 mg/die
rectal 500 mg

MEFENAMINSÄURE
Handelsname Zulassung Dosierung Darreichungsform Maximaldosis

Parkemed ab 6 Monate 6,5 mg/kg Saft: 1Tl = 5ml 20 mg/die


oral 1 ml = 10 mg
Parkemed größere Kinder Tabletten:
oral 250/500 mg
Parkemed ab 6 Monate 12 mg/kg Suppositorien: 36 mg/die
rectal 125/500 mg
Schmerztherapie bei Kindern und Jugendlichen 157

METAMIZOL
Handelsname Zulassung Dosierung Darreichungsform Maximaldosis

Novalgin ab 4 Monate 12,5–25 mg/kg Tropfen: 75 mg/kg/die


oral = ½ bis 1 gtt/kg 1 Tropfen = 25 mg
20 Tropfen = 1 ml
Novalgin Jugendliche Tabletten:
oral 500 mg
Novalgin ab 4 Monate 20 mg/kg Infusion: 75 mg/kg/die
intravenös,i.m. 1 ml = 500 mg
Novalgin ab 4 Jahre 20 mg/kg Suppositorien:
rectal 300 mg
Inalgon ab 4 Monate 8,5–17 mg/kg Tropfen:
oral = ½ bis 1 gtt/kg 1 Tropfen ~ 17mg
30 Tropfen = 500mg

Bei größeren Eingriffen, die mitunter tagelang Schmerzen verursachen, kom-


men Opiate zum Einsatz. Damit es zu keinen Fehlern in der Dosierung kommt,
sollte sich jede Station auf eine bestimmte Auswahl beschränken und über
schriftliche Aufzeichnungen bezüglich Dosierungen und Verdünnungen verfügen.
Bei mäßigen Schmerzen kommen schwache Opiate, wie Nalbuphin oder
Tramadol zum Einsatz, reichen diese nicht aus, sollte man sich nicht scheuen,
stark wirksame Opiate, wie Piritramid oder Morphin einzusetzen.
Man kann diese als Bolus oder kontinuierlich verabreichen. Ganz wichtig ist
es, dass die Applikation nicht weh tut. Daher ist die intravenöse der intramusku-
lären Verabreichung vorzuziehen. Bei Kindern über 5 Jahren kann man bei gro-
ßen Eingriffen eine „Patientenkontrollierte Analgesie“ wie bei den Erwachsenen
überlegen. In der Palliativmedizin wird Morphin auch oral eingesetzt.
Werden stark wirksame Opiate verwendet, müssen die Kinder ausreichend
überwacht werden. Wegen des Risikos einer Atemdepression ist bei Neugebore-
nen und Säuglingen die Überwachung auf einer Intensivstation zu empfehlen.
Auf der Normalstation kommen standardisierte „Schmerzprotokolle“ zum
Einsatz, nach denen die Vitalparameter, der Schmerzscore, die verbrauchte Men-
ge des Schmerzmittels und eventuelle Nebenwirkungen dokumentiert werden.

Tabelle 2. Dosierungsbeispiele

Medikament Bolus Kontinuierlich PCIA

Tramadol 1–2mg/kg 0,25 mg/kg/h 0,2 mg/kg


Nalbuphin 0,1–0,2 mg/kg 0,04–0,1 mg/kg/h 0,02 mg/kg
Piritramid 0,05–0,1 mg/kg 0,02–0,05 mg/kg/h 0,015–0,025 mg/kg
Morphin 0,05–0,1 mg/kg 0,02–0,04 mg/kg/h 0,015–0,025 mg/kg
Bei NG
0,01–0,02 mg/kg/h
158 R. Krumpholz

Bei Übelkeit oder Erbrechen werden folgende Medikamente gemäß den Leit-
linien des Wissenschaftlichen Arbeitskreises Kinderanästhesie der DGAI emp-
fohlen.

Tabelle 3. Empfohlene Dosierungen für die intravenösen Gabe von Antiemedia zur
PONV-Prohylaxe

Substanz Klasse Dosierung Prophylaxe Dosierung Prophylaxe


(i.v. Erwachsene) (i.v. Kinder)

Dexamethason Kortikoide 4 mg 0,15 mg/kg KG


Ondansetron 5-HT3-Antagonisten 4 mg 0,1 mg/kg KG
Tropisetron 2 mg 0,1 mg/kg KG
Granisetron 1 mg 0,02 mg/kg KG
Dolasetron 12,5 mg 0,35 mg/kg KG
Droperidol Butyrophenone 0,625–1,25 mg 0,01 mg/kg KG
Haloperidol 1–2 mg Keine Daten verfügbar
Dimenhydrinat Antihistaminika 62 mg 0,15 mg/kg KG
Scopolamin Anticholinergika Scopoderm TS®, Keine Kinderdosie-
1 mg/24 Stunden rung verfügbar

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass praktisch alle Pflegekräfte, die


im Krankenhaus mit Kindern zu tun haben, mit Schmerzen konfrontiert werden,
die als Folge von Eingriffen, Untersuchungen und Behandlungen auftreten oder
zur Grunderkrankung gehören.
Wir wissen, dass Schmerzen den Genesungsvorgang verlangsamen können
und es zur Ausbildung von chronischen Schmerzen über das so genannte
„Schmerzgedächtnis“ kommen kann. Gleichzeitig wird mehr und mehr Wert auf
Behandlungs- und Pflegequalität gelegt.
Wenn man letzteres ernst nimmt, ist es unerlässlich, auch für Kinder
Schmerzstandards zu erarbeiten und damit die Schmerzen unserer Kinder zu
verhindern oder zumindest zu lindern.

Literatur
Anand KJS, Hickey PR (1987) Pain and its effects in the human neonate and fetus. N Engl J
Med 317: 1321–1329
Dalens B (1995) Regional anesthesia in infants, children, and adolescents. Williams and Wilkins,
Baltimore
Jöhr M (1995) Kinderanästhesie. Fischer, Stuttgart
Kuiper M (1999) Schmerz und Schmerzmanagement bei Kindern. Ullstein Medical, Wiesbaden
Taddio A, Katz J, Illersich A, Koren G (1997) Effects of neonatal circumcision on pain response
during subsequent routine vaccination. Lancet 349: 599–603
Wissenschaftlicher Arbeitskreis Kinderanästhesie (2007) Postoperative Schmerztherapie im
Kindesalter. Anaesth Intensivmed 48: S99–S103
Wissenschaftlicher Arbeitskreis Kinderanästhesie (2007) Risikoeinschätzung, Prophylaxe und
Therapie von PONV. Anaesth Intensivmed 48: S94–S98
Revision

Schmerzbehandlung im Alter

M. THOMM
M. Thomm

Einleitung

In den letzten Jahren haben die Schmerzforscher und auch die Geriater erkannt,
dass das Thema „Einfluss des Alters auf die Schmerzbehandlung“ ein for-
schungswürdiges Problem darstellt. Vorangegangen ist die Erfahrung, dass Alter
und Schmerz nicht untrennbar miteinander verbunden sein müssen. Das heißt,
eine adäquate und wirksame Schmerzbehandlung ist auch für ältere Patienten
durchführbar und hilft, die im Alter oft fatalen Folgeschäden unbehandelter
Schmerzen zu vermeiden. Hierzu zählen vor allem der soziale Rückzug aus dem
gesellschaftlichen Leben, Vereinsamung, Immobilität und schließlich die Pflege-
bedürftigkeit. Die moderne Medizin hält zwar ein umfangreiches algesiologi-
sches Instrumentarium bereit, dennoch ist die schmerztherapeutische Versorgung
älterer Menschen in Deutschland unzureichend. In der Literatur finden sich ei-
nige wenige Studien, z. B. aus Spanien (Bassals et al. 2002) und Schweden (An-
tonov et al. 1996), die sich mit der Behandlung chronischer Schmerzen und der
Komorbidität im höheren Lebensalter auseinandersetzen.
Ein weiterer Grund für die Notwendigkeit der verstärkten Befassung mit dem
Problem „Schmerz im Alter“ liegt in der demographischen Entwicklung der Be-
völkerung.

Demographische Daten

Derzeit leben in der gesamten Bundesrepublik 82,5 Millionen Menschen. Ende


2005 waren 20 % (16,5 Mill.) der Bevölkerung jünger als 20 Jahre, auf die 65-
jährigen und Älteren entfielen 15,1 % (12,5 Mill.) und auf die über 80-jährigen
3,8% (3,1 Mill.) Die übrigen 61 % (50,4 Mill.) stellten Personen im so genannten
Erwerbsalter (20 Jahre bis unter 65 Jahre). Die Relationen zwischen alten und
jungen Menschen werden sich im Jahre 2050 insofern stark verändern, dass nur
160 M. Thomm

etwa 55 % (45,4 Mill.) der Bevölkerung im Erwerbsalter sein wird, ca. 18 % (14,8
Mill.) werden 65 Jahre und älter sein, 12 % (9,9 Mill.) über 80-jährig und ca. 15 %
(12,4 Mill.) unter 20 Jahre sein. (Statistische Ämter der Länder und des Bundes,
Stand Dezember 2005).
Der allgemein höhere Lebensstandard und vor allem eine bessere medizini-
sche Versorgung haben seit den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Anstieg der
Lebenserwartung bewirkt. Die aus der Statistik bekannte grafische Darstellungs-
form, die noch immer als „Alterspyramide“ beschrieben wird, mit vielen jungen
und wenigen alten Menschen, hat ihre Form schon längst verloren. So gleicht ihr
Bild heute eher einer „zerzausten Wettertanne“, wie der Bevölkerungsstatistiker
Flaskämper treffend beschrieben hat. Obwohl die Älteren das „Spiegelbild un-
serer eigenen Zukunft“ sind, ist es umso erstaunlicher, dass immer noch nur
wenige wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema vorliegen.

Abb. 1. Altersaufbau der Bevölkerung Deutschlands am 31.12.2005

Komorbidität im Alter: Was ist ein geriatrischer Patient?

Ein geriatrischer Patient hat nicht nur ein erhöhtes Risiko der kognitiven und
sensorischen Beeinträchtigung, sondern auch der Komorbidität, der Multimedi-
kation und multipler therapeutischer Interventionen und des Verlustes an Akti-
vitäten und Partizipation, d. h. an Art und Umfang der Teilhabe am sozialen Um-
feld. Deshalb treten bei der Diagnostik und Behandlung von älteren Menschen
oftmals Probleme auf, die bei der Therapie jüngerer Menschen seltener von Be-
deutung sind. Scharfe Grenzen – beispielsweise das Lebensalter betreffend –
Schmerzbehandlung im Alter 161

sind nicht zu ziehen und würden so mancher rüstigen Mittsiebzigerin auch nicht
gerecht. Anstelle des kalendarischen Alters ist vielmehr das biologische Alter als
notwendiges Kriterium zu sehen.
Für Ärzte, Pflegekräfte und andere Berufsangehörige, die an der Behandlung
alter Menschen beteiligt sind, ist es oft schwer zu erkennen und zu beurteilen,
welche Probleme der eigentlichen Grunderkrankung und welche dem Alte-
rungsprozess zugrunde liegen. Des Weiteren fällt damit die Entscheidung
schwer, welche Probleme mit der Behandlung der Krankheit bereits mitthera-
piert werden bzw. welche davon unabhängig einer separaten Therapie bedürfen
(Pientka 2000). Darüber hinaus ist bei dieser Problematik der Aspekt des Thera-
pieziels zu beachten: Während bei jüngeren Patienten überwiegend die Heilung
vordergründig ist, steht bei alten Menschen „…eine Ausrichtung an den indivi-
duellen Ressourcen oder eine an der Optimierung der Lebensqualität ausgerich-
tete Behandlungsplanung…“ im Vordergrund (Pientka 2000).
Eine geriatrische „Karriere“ beginnt nicht selten mit dem Verlust der Mobili-
tät. Erkrankungen des Bewegungsapparates fesseln den Patienten an die Woh-
nung und führen oftmals zur sozialen Isolation und Vereinsamung. Die häufigs-
ten Schmerzdiagnosen, die bei älteren Menschen gestellt werden, sind
– degenerative Wirbelsäulenerkrankungen,
– Koxarthrose,
– Gonarthrose,
– Osteoporose,
– arterielle Verschlusskrankheit,
– Trigeminusneuralgie,
– rheumatische Erkrankung,
– Angina pectoris,
– postzosterische Neuralgie (Butler – Gastel 1979).
In einer Studie von Basler et al. (2003) berichten 75 % der befragten älteren
Menschen (263) über Schmerzen im unteren Rücken, in der Hüfte und im Bein
und bezeichnen ihren Schmerz in der letzten Woche als stark bis unerträglich.
Auch kommen bei den Älteren häufiger sturzbedingte Verletzungen vor, die
chronische Schmerzen auslösen können (Rubinstein und Robbins 1984). Mehr
als ein Drittel der 65-jährigen und Älteren stürzt einmal pro Jahr, in der Hälfte
der Fälle wiederholt (Tinetti 1988). Annähernd einer von zehn Stürzen verursacht
eine schwerwiegende Verletzung wie Oberschenkelhalsfraktur, subdurales Hä-
matom oder Weichteil- und Kopfverletzung (Nevitt 1991).
Risikofaktoren für Stürze bei selbstständig lebenden Senioren (Tromp 1998;
Brown 2000):
Anstieg des relativen Risikos
– Balancedefizit x 1,7
– Gangdefizit x 2,3
– Schwierigkeiten aufzustehen x 2,2
– Kognitive Beeinträchtigung x 1,9
162 M. Thomm

– Zentral wirksame Medikamente x 1,9


– Inkontinenz x 2,3
– Visuseinschränkung x 1,6
– Stürze in den vorausgegangenen 3–(6) Monaten x 3–8
Zusätzlich zur Schmerzerkrankung leiden die älteren Menschen unter mul-
tiplen Organ- und anderen Erkrankungen – der Komorbidität (Basler et al. 2003):
– Muskuloskelettales System
– Herz-Kreislauf
– Atmungssystem
– Augen, HNO
– Nervensystem
– Gastrointestinaltrakt
– Urogenitaltrakt
– Endokrinium
– Psyche
Zusammen mit dem Nachlassen sensorischer und kognitiver Leistungen und
weiteren Erkrankungen entsteht „ein Merkmalskomplex aus Immobilität, intel-
lektuellem Abbau, Instabilität und Inkontinenz. „Diese „vier geriatrischen I“ un-
terhalten einen fatalen Automatismus sich gegenseitig verstärkender Einschrän-
kungen und stellen die größte Bedrohung für einen erfüllten Lebensabend dar.“
(Arbeitskreis Schmerz im Alter 1999). Das primäre Ziel sollte die Wiederherstel-
lung der Mobilität sein; sinnvoll ist es, die Ursache der Bewegungseinschränkung
zu beseitigen, z. B. durch Implantation einer Totalendoprothese. Zusätzlich oder
ersatzweise ist der Einsatz von Unterarm-Gehstützen und/oder Rollatoren sinn-
voll, um die körperliche Funktionseinschränkung teilweise zu kompensieren,
auch dann, wenn die Heilung des Grundleidens nicht mehr möglich ist. Die
Krankengymnasten und die Pflegekräfte leisten dabei die entscheidende Hilfe-
stellung.
Merke:
Schmerzdiagnostik in der Geriatrie muss die sensorischen, kognitiven und
funktionellen Kompetenzen der Patienten berücksichtigen.
Die Häufigkeit von Schmerzdiagnosen im Alter ist abhängig von der Metho-
de der Erhebung!

Inzidenz von Tumorerkrankungen

Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, an einem Tumorleiden zu erkranken,


deutlich an (Crawford et al. 1987). Krebs ist neben Herz-Kreislauf-Erkrankungen
die häufigste Todesursache bei Patienten über 65 Jahre (D’Agostino et al. 1990).
Es ist anzunehmen, dass Tumorschmerzen bei geriatrischen Patienten ein immer
häufiger anzutreffendes Problem darstellen werden. Charakteristische Krebs-
arten für die ältere Bevölkerungsgruppe sind Prostatatumore bei Männern und
Schmerzbehandlung im Alter 163

Mammakarzinome bei Frauen (American Cancer Society 1995). Sie sind jedoch
weniger von Bedeutung als die altersbedingten Einschränkungen der Reaktion
von Körper und Psyche auf die Erkrankung, die Verträglichkeit von Behandlun-
gen, die kognitive Verarbeitung des Patienten mit seiner Erkrankung und des fa-
miliären Umgangs mit dem Patienten.
Bis heute gibt es keine differenzierten Regeln der Krebsdiagnostik, -therapie
und -nachsorge für Menschen verschiedener Lebensalter, das Vorgehen muss
sich den alterstypischen Bedingungen im somatischen, psychischen und sozialen
Bereich anpassen.
Krebs beim alten Menschen bedeutet zunächst einmal Addition von vorbe-
stehenden altersbedingten Behinderungen mit dem Leiden der Krebserkran-
kung. Auftretende Schmerzen müssen erkannt, diagnostiziert und wie bei allen
anderen Altersgruppen entsprechend behandelt werden. Die Krebserkrankung
im Alter sollte jedoch gesondert und differenziert bewertet werden, sowohl von
der Krankheit her, als auch von deren Träger. Der natürliche Verlauf der Krebser-
krankung in den verschiedenen Organsystemen bei alten Menschen variiert er-
heblich. Manche Tumore zeigen eine so geringe Malignität, dass sie ohne weite-
res konservativ behandelt werden können, andere Tumore sind so bösartig und
prognostisch ungünstig, dass bei derzeitigem Wissensstand nur unterstützende
und palliative Maßnahmen in Frage kommen. Die Therapie maligner Erkrankun-
gen sollte beim alten Krebspatienten folgende Gesichtspunkte berücksichtigen:
– verkürzte Lebenserwartung berücksichtigen;
– der alte Mensch stirbt häufiger mit einem bösartigen Tumor als an einem bös-
artigen Tumor;
– ältere Menschen streben im Gegensatz zu jüngeren nicht ein längeres Leben
um jeden Preis an;
– im Einzelfall sorgfältige Abwägung von Nutzen und Risiko therapeutischer
Maßnahmen;
– die spirituelle Einstellung des Patienten zu Leben und Tod;
– bei diagnostischen und/oder therapeutischen Maßnahmen die individuellen
Bedürfnisse des Patienten berücksichtigen;
– den Patienten nicht zu einer Behandlung drängen;
– bestmögliche Gestaltung für die verbleibende Zeit (eigene Umgebung).
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen gewinnen symptomatische pallia-
tive Maßnahmen eine größere Bedeutung gegenüber kurativem medizinischem
Vorgehen.

Altersphysiologische Veränderungen

Eine sichere und effektive Anwendung von Analgetika bei der Behandlung chro-
nischer Schmerzen im Alter erfordert genaue Kenntnisse der altersphysiologi-
schen Veränderungen und der altersspezifischen pharmakodynamischen Wir-
kung der Analgetika; denn „... das Altern ist ein besonderer und individueller
164 M. Thomm

Prozess, der sich bei jedem Menschen unterschiedlich vollzieht.“ (Pagliaro-


Pagliaro 1983) Das Wissen um die Verteilung der Medikamente im Organismus,
den Metabolismus und deren Ausscheidung ist Voraussetzung, um beim Alters-
patienten die unterschiedlichen Reaktionen auf Analgetika zu verstehen.

Verteilung der Medikamente im Körper


Die Faktoren, die für die Verteilung von Medikamenten im Körper verantwortlich
sind, verändern sich mit zunehmendem Alter (Pagliaro-Pagliaro 1986; Reiden-
berg 1982; Schmucker 1984):

Körperfettgewebe und Gesamtkörperwasser


Die relative Zunahme des Körperfettgewebes kann bei Verabreichung lipophiler
(fettlöslicher) Analgetika, z. B. Buprenorphin und Fentanyl zu verzögerter Wir-
kung führen. Folglich muss die zu verabreichende Dosis mit zunehmendem Alter
nach individueller Wirkung und Nebenwirkung vorsichtig angepasst werden.
Im Alter vermindert sich das Gesamtkörperwasser. Die Applikation hydrophi-
ler (wasserlöslicher) Analgetika, wie z. B. Morphin, führt folglich zu einer höhe-
ren Analgetikumwirkung gegenüber jüngeren Patienten. Es empfiehlt sich, mit
einer niedrigeren Anfangsdosis zu beginnen und nach individueller Wirkung zu
erhöhen oder zu senken.
Empfehlung:
– initiale Einstellung mit niedrigeren Analgetikadosierungen als bei jüngeren
Patienten;
– Anpassung der Medikamente nach individueller Wirkung und Nebenwir-
kung.

Serumproteine
Bei vielen Medikamente, wie z. B. aus der Gruppe der Nichtsteroidalen Analgeti-
ka, die sich in hohem Maße an Serumproteine binden, bleibt ein Rest ungebun-
den, der frei im Blut zirkuliert und pharmakologisch aktiv wird. Obwohl der
normale Alterungsprozess wahrscheinlich keinen Einfluss auf die Konzentration
und Zusammensetzung der Serumproteine hat, können krankheitsbedingte Ver-
änderungen und Kachexie zu einer Abnahme der Proteine beitragen (Lamy
1983). Wenn weniger Proteine im Blutkreislauf zirkulieren, haben verabreichte
Medikamente aufgrund des höheren Anteils an ungebundenen Substanzen eine
größere Wirkung. Somit steigt das Risiko der Nebenwirkungen und Toxizität.
Beachte:
Abnahme der Serumproteine durch chronische Erkrankungen und unzurei-
chende Ernährung!
Medikamente mit hoher Eiweißbindung, z. B. nichtsteroidale Analgetika,
können bei älteren Patienten eine verstärkte pharmakologische Wirkung zeigen
und zu Toxizitätserscheinungen führen!
Schmerzbehandlung im Alter 165

Leber- und Nierenfunktion


Im Alter nimmt die Enzymaktivität der Leberzellen ab. Die verabreichten Medi-
kamente werden langsamer metabolisiert, wodurch sich der hepatische Abbau
von Analgetika, z. B. Naproxen, und von Psychopharmaka, z. B. Diazepam, ver-
ringert und deren Wirkdauer verlängert.
Der Alterungsprozess verursacht in der Niere strukturelle und funktionelle
Veränderungen mit Abnahme der Nierengröße, verminderte renale Durchblu-
tung, sinkende glomuläre Clearance und abnehmende tubuläre Sekretion. Die
im Alter häufig auftretende Herzinsuffizienz trägt zusätzlich zu einer einge-
schränkten Nierenfunktion bei. Die Medikamente werden langsamer eliminiert
und haben somit eine verlängerte Wirkdauer und/oder Intoxikationen zur Folge.

Schmerzmessung

Für die Gruppe der älteren Menschen gelten ebenfalls die ausgesprochenen
Empfehlungen, der Selbstauskunft immer Vorrang vor einer Fremdeinschätzung
zu geben und zu Beginn jeder Pflegemaßnahme die Schmerzsituation zu erfra-
gen (Herr-Garand 2001). Nur derjenige kann die Schmerzintensität beurteilen,
der den Schmerz tatsächlich hat.
Für die Bedürfnisse der Schmerztherapie beim alten Menschen gilt es, aus der
Fülle der angebotenen Verfahren zur Schmerzerfassung einfache und den Patien-
ten wenig belastende, aber validierte und sensible Skalen auszuwählen. Vor Be-
ginn der analgetischen Therapie sollten im Rahmen der Schmerzdiagnose nicht
nur die Schmerzintensität, sondern auch Informationen zur Schmerzqualität so-
wie zur Vorgeschichte, Vormedikation und zum sozialen Hintergrund erhoben
werden.
Fragen nach Lokalisation, Qualität, Intensität, auslösenden und verstärken-
den Faktoren oder lindernden Maßnahmen können zu einer differenzierteren
Schmerzdiagnose führen. Patientenfragebögen, z. B. von der Deutschen Gesell-
schaft zum Studium des Schmerzes (DGSS), können hierbei hilfreich sein. Ne-
ben diesen standardisierten Schmerzerfassungsbögen empfehlen sich gerade bei
älteren Patienten auch alltagsbezogene Fragen:
„Können Sie morgens schon wieder selbst das Frühstücksbrötchen einkau-
fen“?
„Können Sie selbständig die Körperpflege durchführen“?
Die Antworten auf diese oder ähnliche Fragen lassen wertvolle Rückschlüsse
auf die Wirksamkeit der Behandlung zu.
Wichtiger als die initiale Schmerzmessung ist jedoch die wiederholte Über-
prüfung anhand einer eindimensionalen Skala in Ruhe und Bewegung, wie z. B.
VRS (verbale Rangskala) oder NRS (numerische Rangskala). Diese Skalen bieten
gegenüber Analogskalen, besonders bei geriatrischen Patienten, Vorteile in der
Handhabung, der guten Verständlichkeit und des geringen Zeitaufwandes. Als
Variante bietet sich auch ein Schmerzthermometer als Modifikation einer verba-
len Skala an (AGS Panel on persistent pain in older persons 2002).
166 M. Thomm

Eine amerikanische Vergleichsstudie über sechs verschiedene Methoden zur


Schmerzerfassung, die 1986 von Jensen et al. durchgeführt wurde, zeigte folgen-
des Ergebnis: Die Schmerzmessung mittels der VAS (visuelle Analogskala) war
bei 40% der älteren Patienten aufgrund des mentalen Status und kognitiver Ein-
schränkung nicht möglich, sodass die einfachen Skalen wie VRS und NRS bevor-
zugt werden sollten. Wird eine numerische Skala eingesetzt, zeigen Studiener-
gebnisse, dass ältere Menschen diese zuverlässiger anwenden, wenn die Skala
vertikal gehalten wird (AGS Panel on persitent pain in older persons 2002).
Die erhobenen Werte sollten in der täglichen Routine standardisiert im Kran-
kenblatt dokumentiert werden, sodass die regelmäßige Überprüfung erleichtert
wird. Ein bis zwei Stunden nach Gabe eines neuen oder zusätzlichen Analgeti-
kums – je nach Pharmakokinetik – sollte durch eine zusätzliche Befragung die
Wirkung überprüft werden. Bei mangelnder Effektivität könnten bestimmte
Grenzwerte automatisch eine Überprüfung der Schmerzdiagnose einleiten.
Nicht zuletzt sollte der Patient mit Hilfe eines kurzen Fragebogens nicht nur zum
Erfolg, sondern auch zu seiner Zufriedenheit mit der Schmerztherapie befragt
werden.
Beachte:
Einer der wichtigsten Regeln im Umgang mit Alterspatienten lautet: Glauben
Sie dem Patienten, wenn er über Schmerzen klagt (McCaffrey 1997)!
Empfehlung:
– Besonders bei alten Menschen immer das gleiche Schmerzmessinstrument
benutzen.
– Initiale Schmerzmessung zu Beginn des pflegerischen Auftrags (Schmerzex-
pertenstandard 2005).
– Verlaufskontrolle: beinhaltet tägliche Messung der Schmerzintensität, min-
destens 2x/Schicht einfache Skalen wie VRS oder NRS bevorzugen (ebenda).
– Dem Patienten ausreichend Zeit zur Beantwortung lassen.
– Dokumentation der erhobenen Messwerte im Krankenblatt.

Strukturiertes Schmerzinterview
Ein weiteres Erhebungsinstrument zur Erfassung von Schmerz und schmerzbe-
dingten Problemen im Alter bietet das strukturierte Schmerzinterview, das vom
Arbeitskreis „Alter und Schmerz“ der DGSS entwickelt wurde (Basler et al.
2002). Die Erhebungsbögen erfassen folgende Parameter:
– Schmerzlokalisation,
– Schmerzintensität und -häufigkeit,
– Schmerzverstärkung und -linderung,
– Schmerzbedingte Behinderung,
– erlebte Kontrolle über den Schmerz,
– Stimmung,
– kognitives Screening.
Schmerzbehandlung im Alter 167

Das strukturelle Schmerzinterview ist an geriatrischen Schmerzpatienten ab


75 Jahre – mit und ohne kognitive Beeinträchtigung (operationalisiert durch die
Mini-Mental State Examination, Folstein et al. 1975) – erprobt worden. Es liefert
für Patienten mit leichter und mittlerer kognitiver Einschränkung gut verwertba-
re Resultate.

Schmerzwahrnehmung
In der Literatur sind nur wenige Daten über altersbedingte Veränderungen der
Verarbeitung der nozizeptiven Signale (Schmerzwahrnehmungssignale) im peri-
pheren und zentralen Nervensystem vorhanden. Die klinische Erfahrung zeigt
jedoch, dass im Alter häufiger schmerzlose Herzinfarkte und fehlende abdomi-
nelle Schmerzen bei Magengeschwüren oder -perforationen anzutreffen sind.
Das hat zu der Hypothese einer altersbedingten Abnahme der Nozizeption
(Wahrnehmung von Schmerz) geführt. Diese Erfahrung lässt aber nicht darauf
schließen, dass Alter allein zu einer Verminderung der Schmerzsensibilität oder
der Schmerzwahrnehmung führt. Wegen der oft bestehenden Multimorbidität
alter Patienten ist in diesen Fällen jedoch meist nicht feststellbar, ob die Verände-
rungen in den Schmerzäußerungen auf altersbedingte funktionelle Veränderun-
gen in den Schmerzwegen zurückgehen oder auf andere altersbedingte Faktoren.
So klagen nur 2 % der alten Patienten, besonders solche mit Demenz, nach einer
Lumbalpunktion unter Kopfschmerzen, während dies 40 % der jüngeren tun
(Farrell et al. 1996). Die Gründe für diesen Unterschied sind unbekannt und soll-
ten dazu anregen, intensivere Forschungsarbeit auf diesem Gebiet zu betreiben.
Merke:
Die Schmerzwahrnehmung bleibt auch im Alter erhalten. „Age is not an an-
algesic“! Harkins-Price (1992) zitiert in Basler et al. (1998) (Übers. M. Th.: „Alter
ist kein Analgetikum!“)

Unabsichtliches Leugnen von Schmerzen


Es gibt ältere Patienten, die das Wort „Schmerz“ in ihrem Sprachgebrauch nicht
benutzen. Es bereitet ihnen oftmals Mühe, ihre Probleme und Bedürfnisse aus-
zudrücken. Ein Grund ist vielleicht, dass die so genannte Kriegsgeneration es
nicht gelernt hat „zu jammern“ oder sich zu beklagen, nach dem Motto „er-
leiden, erdulden!“. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie die Frage nach
Schmerzen verneinen. Werden Schmerzen verneint, obwohl der Patient eine
Diagnose hat, die mit Schmerzen assoziiert ist, empfiehlt es sich, nachzufragen
(Herr-Garant 2001). Als Alternative kann der Arzt oder das Pflegepersonal zur
Schmerzerfassung verwandte Begriffe, wie z. B. Leiden oder Qualen verwenden.
Mögliche Fragen hierbei sind „Tut es Ihnen irgendwo weh?“ „Ist Ihnen nicht
wohl“? „Quält Sie etwas“? Wichtig ist, dem Patienten ausreichend Zeit zur Ant-
wort zu lassen (Herr-Garant 2001; McCaffery et al. 1997). Basler et al. 2001 wei-
sen darauf hin, dass ältere Menschen eher die Folgen von Schmerzen thematisie-
168 M. Thomm

ren, wie z. B. Lustlosigkeit, Schlafstörungen oder Beeinträchtigungen der Alltags-


funktionen.
Andere ältere Patienten sehen und akzeptieren ihren Schmerz als schicksal-
hafte Folge des Alterungsprozesses in der Annahme, dass ihre Schmerzen nicht
zu behandeln sind. Oft messen sie ihren körperlichen Beschwerden eine gerin-
gere Bedeutung zu, um anderen nicht zur Last zu fallen oder sie befürchten eine
Verschlechterung ihrer Erkrankung.
Besonders die älteren Patienten sind häufig der Meinung, dass das Pflegeper-
sonal wissen muss, wann sie unter Schmerzen leiden („Passive Pflegekonsumen-
ten“). Die Pflegenden sollten den Patienten wissen lassen, dass sie über ihre
Schmerzen informiert werden müssen, um therapeutische Schritte einleiten zu
können (Thomm 2005).
Patienten, die in einer Zeit aufgewachsen sind, in der Krankenhäuser vielfach
als „Sterbehäuser“ eingestuft wurden, können ihre Schmerzen auch dann leug-
nen, wenn sie gezielt darauf angesprochen werden, möglicherweise aus Angst
vor stationärer Einweisung oder vor schmerzhaften diagnostischen Untersu-
chungen – „Underreporting of Pain“ – (Nikolaus 1994).
Merke:
Das Auftreten von Schmerzen darf nicht als normales Begleitsymptom des
Alterungsprozesses missverstanden oder hingenommen werden, denn dieser
verbreitete Mythos stellt einen wesentlichen Grund für die Unterversorgung äl-
terer Menschen mit Schmerzmedikamenten dar (Herr-Garant 2001).

Kommunikationsprobleme
Die Kommunikationsfähigkeit älterer Patienten kann durch Schwerhörigkeit und
Fehlsichtigkeit beeinträchtigt sein, die eine Schmerzmessung auch mittels einfa-
cher Skalen, wie der VRS, NRS oder eines Schmerztagebuches erheblich er-
schweren können. Oftmals ist es für das Pflegepersonal nicht ersichtlich, ob der
Patient unter diesen Behinderungen leidet. Hier können Beobachtungen und
Fragen wie z. B. „Beschreiben Sie Ihre Schmerzen“ oder „Lesen Sie mir bitte das
Etikett auf Ihrem Medikamentenröhrchen vor“ Klarheit schaffen. Ist der Patient
auch dazu nicht in der Lage, sollte das nonverbale Verhalten des Patienten wie
Mimik und Körperhaltung und direkte Schmerzäußerung, z. B. Stöhnen, zur Dia-
gnostik und Messung des Schmerzes herangezogen werden sollten.
Die Familienangehörigen können bei der Interpretation der Verhaltensmuster
nützliche Hinweise geben.

Empfehlung:
Multidimensionaler Ansatz zur Schmerzerfassung (McCaffery et al. 1997):
– Überblick der gesamten Krankengeschichte.
– Erhebung des funktionellen Status.
– Wenn möglich, Evaluierung der Schmerzintensität mittels einer Schmerz-
skala, die der Patient versteht, evtl. „Kinderskala“ benutzen. Verwenden Sie
Schmerzbehandlung im Alter 169

die gleiche Skala immer wieder beim gleichen Patienten und erklären Sie,
wenn nötig, die Bedeutung der Skalierung jedes Mal aufs neue.
– Da der ältere Patient häufig mehr als ein Schmerzsyndrom aufweist, bitten
Sie ihn, mit dem Finger die Schmerzstellen zu lokalisieren und die Schmer-
zen der Intensität nach einzuordnen.
– Gehen Sie nicht davon aus, dass der Patient ohne Aufforderung über seine
Schmerzen spricht.
– Machen Sie dem Patienten und seiner Familie klar, dass das Pflegeteam nicht
immer wissen kann, wann der Patient unter Schmerzen leidet.
– Kann der Patient nicht über seine Schmerzen sprechen, ermuntern Sie die
Angehörigen, alle auf Schmerzen hinweisenden Verhaltensmuster des Patien-
ten zu beschreiben.
– Versuchen Sie, Informationen bezüglich der Schmerzen vom Patienten selbst
zu erfahren; bei verwirrten Patienten sollten Sie die Angehörigen um Hilfe
bitten.
– Achten Sie auf verändertes Kommunikationsverhalten, z. B. ein ehemals ge-
sprächiger Patient wird schweigsam.
– Achten Sie auf den Gesichtsausdruck, z. B. gerunzelte Stirn, fest geschlossene
oder weit aufgerissene Augen.
– Beobachten Sie die Körperbewegungen, achten Sie z. B. auf ständiges Hin-
und Herbewegen des Kopfes, Anziehen der Beine an den Unterleib, Unfähig-
keit, die Hände still zu halten.
– Fragen Sie nach Veränderungen der täglichen Aktivitäten oder sonstigen ver-
änderten Verhaltensweisen, z. B. Reizbarkeit, Abbau von sozialen Kontakten
oder plötzliches Einstellen von Routinearbeiten. Kurzfristig auftretende Ver-
wirrtheitszustände können auf Schmerzen hindeuten, haben aber oft andere
Ursachen, wie z. B. Infektionen, Kachexie oder Störungen des Elektrolythaus-
haltes.
– Verabreichen Sie, nach Verordnung des behandelnden Arztes, die Initialdosis
eines Analgetikums und achten Sie auf die Wirksamkeit.

Medikamentöse Schmerztherapie

Der Einsatz von Analgetika sollte sich an dem WHO-Stufenplan (WHO 1986),
insbesondere jedoch an den individuellen Bedürfnissen des Patienten orientie-
ren. Welches Analgetikum eingesetzt wird, ist auch beim Alterspatienten abhän-
gig von der Schmerzursache und der Schmerzlokalisation.

Adjuvantien
Koanalgetika wie die Antikonvulsiva (z. B. Pregabalin, Gabapentin) und Anti-
depressiva (Amitriptylin, Clomipramin) sind Medikamente, die nicht zur Gruppe
der Analgetika zählen, die jedoch bei spezifischen Krankheitsbildern, wie z. B.
einer Trigeminusneuralgie oder postzosterischer Neuralgie, zu einer Schmerz-
170 M. Thomm

reduktion führen können. Sie können auf jeder Stufe der Analgetikatherapie in-
diziert sein. Bei älteren Patienten wird aufgrund der physiologisch eingeschränk-
ten Leber- und Nierenfunktion eine geringere Dosierung empfohlen.
Merke:
Bei anhaltenden Nebenwirkungen wie Müdigkeit und Schwindel sollte auf
eine Dauertherapie mit Antikonvulsiva und/oder Antidepressiva verzichtet wer-
den und auf ein anderes Medikament, wie z. B. ein Opioid umgestellt werden.
Kortikosteroide und Bisphosphonate können gleichermaßen unter Berück-
sichtigung der Nebenwirkungen auch für ältere Patienten eingesetzt werden; die
Begleitmedikamente wie z. B. Laxanzien und Antiemetika ebenfalls.

WHO-Stufe I: Nichtopioidhaltige Analgetika (NSAID)


Die Anwendung von Paracetamol stellt beim Alterspatienten eine sichere Nicht-
opiodtherapie dar. Zu beachten ist jedoch die verlängerte Halbwertszeit bei
chronischer Lebererkrankung.
Cave: unerkannter Alkoholismus!
Metamizol ist ebenfalls ein sicheres Analgetikum. Als Nebenwirkungen kön-
nen bei allen Altersgruppen Blutbildveränderungen, allergische Reaktionen und
bei schneller i.v. Injektion Blutdruckabfall auftreten.
Die Verabreichung der Nichtsteroidalanalgetika (NSAID) weist für ältere Pati-
enten mit altersbedingten Begleiterkrankungen ein deutlich erhöhtes Risiko in
der Langzeittherapie auf.
Sie sollten nur bei akut entzündlichen Erkrankungen eingesetzt werden.
Zur Risikogruppe zählen Patienten mit
– durch Diuretika bedingten Flüssigkeitsverlust,
– Herzinsuffizienz in Verbindung mit Stauungslunge,
– eingeschränkter Nierenfunktion,
– Leberzirrhose.
Die häufigsten der schweren Nebenwirkungen von NSAID:
– Magenulzera und deren Komplikationen im Gastrointestinaltrakt,
– renale Nebenwirkungen
– unerwünschte Effekte auf das kardiovaskuläre System wie Hypertonie, Herz-
insuffizienz, Begünstigung von Herzinfarkt, Apoplex.
Coxibe (z. B. Celecoxib) haben bei gleicher Wirksamkeit einen Sicherheitsvor-
teil im Gastrointestinalbereich, jedoch keinen Vorteil renaler Nebenwirkungen.
Das kardiovaskuläre Risiko ist bei Einnahme von Coxiben erhöht!

Merke:
Aufgrund der potentiellen Organtoxizität von NSAID beim Alterspatienten
ist eine strenge Indikation für eine Medikation mit Nichtsteroidalanalgetika er-
forderlich!
Schmerzbehandlung im Alter 171

Opioide
Opioide finden ihren Einsatz bei mittelstarken bis starken tumorbedingten
Schmerzen. Bei nichttumorbedingten Schmerzen ist eine Verordnung von Opi-
oiden gleichermaßen gerechtfertigt. Sie stellen beim Alterspatienten durchaus
eine sinnvolle therapeutische Alternative zu einer Medikation mit NSAID dar.
Die Verabreichung sollte zwar nach festem Zeitschema vorgenommen, jedoch
den individuellen Bedürfnissen des Patienten angepasst werden. Eine Tabletten-
einnahme kann z. B. regelmäßig nach dem Aufstehen oder nach den Mahlzeiten
vorgenommen werden.
Für die Dauermedikation werden beim älteren Schmerzpatienten vorzugs-
weise Opioide in Retardform (Wirkdauer 8–72 Stunden, z. B. Tramadol, Morphin,
Fentanyl) eingesetzt, die ausreichend lange Einnahmeintervalle und gleichzeitig
einen zusammenhängenden Nachtschlaf gewährleisten können, der nicht durch
Analgetikaeinnahmen unterbrochen werden muss und nicht zuletzt zur Patien-
tencompliance beitragen.

WHO-Stufe II: Niederpotente Opioide


Aus der Medikamentengruppe der schwachen Opioide haben sich besonders für
den alten Patienten Tilidin-Naloxon und Tramadol bewährt.
Die Dosierung ist jedoch immer abhängig von der Nieren- und Leberfunk-
tion. Tilidin hat sich bei Leberfunktionsstörungen als ungeeignet erwiesen (AK
Schmerz im Alter 1999).

WHO-Stufe III: Hochpotente Opioide


Bei starken bis unerträglichen Schmerzen sind die hochpotenten Opioide das
Mittel der Wahl auch für geriatrische Patienten, wie z. B. Morphin, Fentanyl-
Pflaster, Hydromorphon.
Pflastersysteme werden häufig bei älteren Patienten bevorzugt. Als Gründe
werden eine geringere Obstipationsrate (Kulbe et al. 1997) und ein ungestörter
Nachtschlaf angegeben.
Zu den in der Therapie chronischer Schmerzen bei Älteren eher ungeeigne-
ten starken Opioiden zählen Pethidin und Pentazocin. Pethidin kann Krampf-
anfälle und Pentazocin psychotische Effekte, wie Verwirrtheit oder Halluzinatio-
nen auslösen.

Empfehlung:
– individuelle Indikationsstellung unter Abwägung von Nutzen und Risiko;
– Medikamenteneinnahme den individuellen Bedürfnissen des Patienten an-
passen;
– Therapiebeginn mit reduzierter Dosis;
– Dosisanpassung im Laufe der Behandlung: „Dosistitration am Schmerz“;
172 M. Thomm

– Zusatzmedikation in nichtretardierter Form bereitstellen, z. B. Tramadol-


Tropfen (WHO-Stufe II), nichtretardierte Morphintabletten (WHO-Stufe III)
je nach Erkrankung.
Merke:
Körpergröße und -gewicht sind keine Parameter für die Anfangsdosierung
von Opioiden!
Für die Titrierung im Alter gilt die Faustregel: Start low, go slow!

Nebenwirkungen von Opioiden


Die häufigsten Nebenwirkungen einer Opioiddauertherapie sind Müdigkeit, Se-
dierung, Übelkeit, Erbrechen und Obstipation, die jedoch in der Regel mit ent-
sprechenden Begleitmedikamenten behandelt werden können.
Die Obstipation ist unter der Gabe von Opioiden ein häufig hartnäckiges
Problem. Es sollte prophylaktisch regelmäßig ein Laxans verordnet werden. Da
viele ältere Patienten ihre eigene Methode zur Behandlung der Obstipation ent-
wickelt haben, werden neue Methoden oftmals abgelehnt. Es empfiehlt sich da-
her, soweit wie möglich, die „altbewährte Methode“ weiterzuführen.
Schwere Nebenwirkungen unter Opioiden sind auch bei älteren Patienten
sehr selten, wenn die Analgetika in einer der Schmerzstärke angepassten Dosie-
rung verordnet werden. Atemdepression, Sucht- oder Toleranzentwicklung sind
bei korrekter Therapie nicht zu befürchten. Bei Hinweisen auf „… Angststörun-
gen, Depression, Persönlichkeitsstörungen, somatoformen Störungen und bei
Abhängigkeit/Missbrauch von psychotropen Substanzen ist eine Opioidtherapie
in ein interdisziplinäres Behandlungskonzept einzubetten, das die Komorbidität
berücksichtigt.“ (Sorgatz 2002)
Empfehlung:
Bei therapieresistenten Nebenwirkungen und/oder unzureichender Anal-
gesie, Umstellung auf ein anderes orales/transdermales Opioid oder eine andere
Applikationsform wie z. B. eine subkutane Opioiddauerinfusion.
Merke:
Vor Beginn einer Langzeittherapie mit Opioiden ist die psychische und soma-
tische Komorbidität abzuklären!

Lokale Schmerzblockaden mit Lokalanästhetika


Auch bei älteren Menschen werden Nervenblockaden zur Linderung von
Schmerzsyndromen durchgeführt.
Triggerpunktinfiltrationen bei myofaszialen Schmerzen mit Lokalanästhetika
(1–2 ml) sollen den Teufelskreis Schmerz  Muskelverspannung  verstärkter
Schmerz durchbrechen. Die Maßnahme ist jedoch in jedem Falle mit funktionel-
len Behandlungsansätzen zu kombinieren.
Bei älteren Menschen können auch spezifische invasive Verfahren bei ent-
sprechender Indikation zum Einsatz kommen, wie z. B. Grenzstrangblockaden
Schmerzbehandlung im Alter 173

am Ganglion stellatum und/oder ganglionäre Opioidanalgesien am Ganglion


cervicale superius bei z. B. postzosterischer Neuralgie oder sympathischer Reflex-
dystrophie.

Multimodale Therapie
Primäres Ziel einer Schmerztherapie im Alter ist neben der Schmerzlinderung
der Erhalt und die Förderung der Funktion. Deshalb sollte die Therapie chroni-
scher Schmerzen auch bei dieser Patientengruppe multimodal erfolgen. Nicht-
medikamentöse Therapieverfahren haben additiv zur medikamentösen Schmerz-
therapie auch im Alter einen hohen Stellenwert, vorausgesetzt, die Behandlung
wird der Zielgruppe angepasst. Eine weitere Voraussetzung ist eine gezielte
Schulung und Beratung – ein Hauptaufgabengebiet der Pflege – (Schmerzexper-
tenstandard 2005) über das Krankheitsbild und die Bedeutung der aktiven Mit-
arbeit des Patienten in der Therapie. Alte Menschen haben häufig falsche Vorstel-
lungen bezüglich der Bedeutung des Schmerzes, z. B. chronischen Schmerz als
Warnsignal zu interpretieren. Weiterhin sind sie der Meinung, dass körperliche
Aktivität die Ursache für den Schmerz ist und somit schadet und dass Ruhe heilt
und Aktivität Gefahren birgt (Basler et al. 2004). Die Erwartung, dass Aktivität
unkontrollierbare Gefahren hervorruft, ist ein wesentliches Hemmnis, den Emp-
fehlungen nach mehr körperlicher Aktivität zu folgen. Diese Erwartungen wer-
den als „fear avoidance beliefs“ (Basler et al. 2004) bezeichnet.
Skala „Fear Avoidance Beliefs“:
„Wenn ich täglich mindestens 30 Minuten körperlich aktiv bin, dann ….“
1. kann das meinem Rücken schaden,
2. kann ich mir dabei Verletzungen zuziehen,
3. verstärken sich dabei meine Schmerzen,
4. besteht ein Risiko zu fallen,
5. kann ich meinen Rücken nicht genug schonen.
Die Edukation darf sich daher nicht nur auf die Information über den Nutzen
körperlicher Aktivität beziehen, sie muss auch die vorhandenen Ängste anspre-
chen und Wege aufzeichnen, wie diese überwunden werden können. Den besten
Erfolg bei der Überwindung der Angst –wie bei der Behandlung anderer Angst-
zustände – verspricht die Konfrontation mit dem ängstlichen Verhalten. Aufbau-
end auf einer Analyse der Verhaltensweisen, die von den Patienten ohne Angst
ausgeführt werden können, muss eine allmähliche Steigerung des Schwierig-
keitsgrades der Übungen stattfinden (Guideline of the American Society, Ameri-
can Ger Ass 2002). Vorraussetzung für aktivierende Maßnahmen bzw. für die
Teilnahme an einem Trainingsprogramm ist eine angemessene und ausreichende
Schmerzmedikation.
Beispiele nichtmedikamentöser Maßnahmen:
– Aktivierende Physiotherapie oder Sporttherapie;
– Physikalische Maßnahmen wie Kälte-Wärme Applikation;
174 M. Thomm

– Elektrotherapie, z. B. transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS);


– Hydrotherapie wie Fango, Heusäckchen, Lehm, Moorbäder;
– Krankengymnastik und Ergotherapie;
– Biofeedback.
Merke:
Die passiven physikalischen Maßnahmen spielen eine untergeordnete Rolle
in der multimodalen Therapie!
Psychologische Verfahren:
– Entspannungsverfahren,
– Imagination,
– Visualisierung,
– Aufmerksamkeitslenkung (Bewältigungsstrategien),
– Kognitive Verfahren.
Merke:
Motivation zu körperlicher Aktivität ist ein unverzichtbarer Bestandteil der
Schmerztherapie!
Edukation durch das Pflegepersonal bewirkt Inanspruchnahme der angebo-
tenen Maßnahmen, Mitarbeit und Bewegungsverhalten!
Edukation ist der Schlüssel zum Erfolg der Schmerztherapie bei geriatrischen
Patienten!

Zusammenfassung

Die Behandlung von Schmerzsyndromen im Alter stellt an alle um den Patienten


bemühten Personen hohe Anforderungen. Um erfolgreich zu sein, verlangt die
Durchführung einer solchen Schmerztherapie umfangreiche Kenntnisse der
Physiologie, bzw. der altersbedingten Veränderungen, der Pharmakologie und
Grundkenntnisse im psychosozialen und seelsorgerischen Bereich. Durch die
Vielschichtigkeit der altersbedingten Erkrankungen kommt es zu häufig wech-
selnden Symptombildern, die durch gezielte Krankenbeobachtung erkannt wer-
den können und eine gewisse Einschätzung des Krankheitsverlaufs ermöglichen.
Daraus können im therapeutischen Team folgerichtige Handlungsweisen für die
weitere Behandlung abgeleitet werden. Denn gerade die Krankenbeobachtung
und das Erkennen der Bedürfnisse durch nonverbale Verhaltensweisen haben in
der Schmerzbehandlung des älteren Menschen einen hohen Stellenwert.
Die Pflege des alten Menschen beruht nicht nur auf pflegerischen Verrich-
tungen und Fertigkeiten, sondern beinhaltet eine ganzheitliche Sicht, die den
Patienten als „Ganzes“ wahrnimmt und auch die Familienangehörigen und
Freunde integriert. Je besser es den Pflegenden gelingt, sich in den Patienten ein-
zufühlen, je besser er deren Bedürfnisse und das soziale Umfeld kennt, desto
besser wird sich der ältere Mensch verstanden fühlen und desto größer wird
auch das gegenseitige Vertrauen sein. Dass eine so verstandene Pflege-Patient-
Schmerzbehandlung im Alter 175

Beziehung auch Probleme aufwerfen kann, versteht sich von selbst. So gilt denn
für beide, für Patient und Pflegende, der Satz von Maria Ebner-Eschenbach:
„Nicht wie die Dinge sind, sondern wie wir sie betrachten, macht unser Schick-
sal aus.“

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Revision

Einfluss der Ernährung auf Alterungsprozesse,


oxidative Schäden und Anti-Aging-Empfehlungen

W. KULLICH
W. Kullich
Einfluss der Ernährung auf Alterungsprozesse

Ernährung im höheren Lebensalter

Bei älteren Menschen lassen bestimmte Funktionen und der Geschmacksinn


nach. Das Durstgefühl wird vermindert gespürt. Durch fehlende Zähne oder
mangelhaften Zahnersatz können alte Menschen oft nicht mehr richtig kauen.
Salz wird weniger intensiv, aber Saures und Bitterstoffe intensiver wahrgenom-
men (Seib 2003). Oft bestehen gastrointestinale Beschwerden und die Nah-
rungsstoffe werden nicht mehr so effizient resorbiert. Eine ausgewogene Ernäh-
rung, die den Bedarf an allen Makro- und Mikronährstoffen deckt, ist die
wesentliche Voraussetzung für ein gesundes Altern. Ernährungsbedingte Erkran-
kungen wie Unter-/Übergewicht, Hypertonie, Herz/Kreislauferkrankungen, Dia-
betes, Gicht, Verstopfung und Divertikulitis lassen sich durch eine altersgerechte
Ernährung vermeiden; an Antioxidantien reiche Nahrungsmittel können den Al-
terungsprozess bremsen.

Alterungsprozess – Radikale – Ernährungsweise


Richtige Ernährung und guter Lebensstil sind Voraussetzungen für ein physiolo-
gisches Altern. Ein Fehlverhalten bei der Ernährung kann den Alterungsprozess be-
schleunigen. Im Mittelpunkt der exogenen Einflüsse auf Alterungsmechanismen
steht die Produktion Freier Radikale. Durch Radikale vermittelte strukturelle
Schäden an Membranen, Proteinen und Nukleinsäuren verursachen Funktions-
einbußen auf zellulärer Ebene und vermindern die Lebensfähigkeit des Orga-
nismus im Alter. Hauptursache für diesen oxidativen Stress kann qualitative
Fehlernährung sein. Ernährungsformen, die mit hoher Lebenserwartung verbunden
sind, sind Ernährungen mit hohem Anteil an pflanzlichen Stoffen. Eine derartige
Kostform führt Antioxidantien zu, die das körpereigene enzymatische antioxida-
178 W. Kullich

tive Abwehrsystem ergänzen, welches ja bekanntlich auch auf die Zufuhr von
Mineralien und Spurenelementen angewiesen ist. Mediterrane Diät, insbesonde-
re in Verbindung mit ausreichender Bewegung, ist ein idealer Lebensstil im Alter,
der eine positive Wirkung auf das Gefäßsystem besitzt und gleichzeitig syste-
misch antiinflammatorische Effekte hat (Esposito et al. 2004). Bereits 1956 sprach
Harman vom Alterungsprozess als Folge akkumulierter oxidativer Schäden durch
die Einwirkung Freier Radikale auf den Organismus. Seitdem wurde in vielen
Untersuchungen getestet inwieweit Alterungsprozesse durch Antioxidantien ge-
hemmt werden können. Aufgrund widersprüchlicher Ergebnisse dieser Studien
können jedoch keine generellen Aussagen getroffen werden.

Ernährung und Lebensstil als Prävention im Alter


Untersuchungen deuten darauf hin, dass die mediterrane und teilweise auch die
asiatische Ernährungsweise mit einer relativen Langlebigkeit der Bevölkerung
korreliert. Die speziell durch diese Ernährungsweise aufgenommenen antioxi-
dantienreichen Nahrungsmittel senken die oxidativen Belastungen durch Freie
Radikale, denen der Organismus ausgesetzt ist (Grune 2002; Colombo et al.
2005).
Die mediterrane Diät beruht weitgehend auf Pflanzenbasis, verwendet Oli-
venöl mit einer idealen Fettsäurekombination reich an Omega-3-Fettsäuren, arm
an Arachidonsäure und neben Milchprodukten Geflügel und vor allem Fisch als
tierischer Proteinquelle.
Es gibt genügend Hinweise für den protektiven Effekt einer an Obst, Gemü-
se, Nüssen, Vollkornprodukten und Hülsenfrüchten reichen Ernährung (Ströhle
et al. 2006). Sowohl in Hinblick auf kardiovaskuläre Risikofaktoren wie auch en-
dotheliale Faktoren (C-reaktives Protein, Selektine), aber auch auf die Insulin-
konzentration erwies sich diese Ernährung als risikosenkend (Fung et al. 2001;
Lopez-Garcia et al. 2004). Ebenso besteht eine entsprechende Assoziation zum
Diabetes mellitus Typ-II und zum Gesamtmortalitätsrisiko.

Oxidativer Stress im Gehirn


Verschiedene neuronale und nicht neuronale Erkrankungen werden kausal mit
oxidativem Stress in Verbindung gebracht. Das Gehirn ist besonders anfällig ge-
genüber Oxidationen, vor allem aufgrund des hohen Sauerstoffumsatzes. Alte-
rungsprozesse sowie altersassoziierte Veränderungen und verschiedene Erkran-
kungen des ZNS (Mb. Alzheimer, Mb. Parkinson, Schlaganfall) sind mit einer
erhöhten oxidativen Last verbunden. Eine Reihe von Neurotoxinen kann oxidati-
ven Stress direkt verursachen. Dazu zählt auch die Aminosäure Glutamat sowie
verschiedene Arzneimittel aus dem Bereich der Neurologie und Anästhesie, wel-
che die Peroxidation von Membranlipiden und damit oxidativen Nervenzelltod
induzieren können. Ein glutamathaltiges Essen ist insbesondere im Alter zu ver-
meiden! Glutamat wird gerade in Großküchen, Restaurants und in Fertigproduk-
ten viel zu häufig als Geschmacksverstärker eingesetzt.
Einfluss der Ernährung auf Alterungsprozesse 179

Einfluss der Ernährung auf den Immunstatus

Die modulierende Wirkung ausgewählter Ernährung auf Parameter der Immun-


antwort ist heute ohne Zweifel gesichert. Die Immunmodulation über die Er-
nährung (= Immunonutrition) wird wahrscheinlich über antioxidative Mecha-
nismen vermittelt. Immunaktive Wirkungen sind bislang verschiedensten
Bestandteilen einer vollwertigen Ernährung zugeschrieben worden, nämlich
Glutamin, Arginin, Zystein, Lysin, Tryptophan, die Aminosäuren Valin, Leukin
und Isoleukin, weiters Betakarotinoide, Glutathion, Vitamine, Selen und Zink,
Omega-3-Fettsäuren, Nukleoside und Nukleotide sowie verschiedenste sekun-
däre Pflanzeninhaltsstoffe.
Die heute angenommenen Wirkungsmechanismen betreffen sowohl Teile des
für die Immunreaktion zuständigen Abwehrsystems und Mediatorsysteme wie
inflammatorische Zytokine und Eikosanoide als auch den Radikalmetabolismus.
Da im Alter durch verschiedene Krankheiten die körpereigenen Antioxidations-
mechanismen überfordert werden, kann sich die Zufuhr von antioxidativen Nah-
rungsfaktoren als günstig erweisen, um die körpereigenen antioxidativen Schutz-
systeme hilfreich zu unterstützen (Gaßmann 2002).

Gesundheit durch Polyphenole?

Polyphenole zählen zu den am weitest verbreiteten sekundären Pflanzeninhalts-


stoffen in Obst und Gemüse. Da Phenole potentielle Antioxidantien sind und die
Oxidation von LDL als ursächlicher Prozess der Arteriosklerose gilt, erscheint
eine Rolle dieser pflanzlichen Nahrungsinhaltsstoffe auf die Gesundheit sowie
Entzündungsmechanismen logisch. Polyphenole spielen eine wichtige Rolle im
Antioxidantienstatus aufgrund ihres hohen antioxidativen Potentials, sie besitzen
auch antimikrobielle Eigenschaften. So hemmen verschiedene Hydroxyzimtsäu-
ren das Wachstum gramnegativer Bakterien; sogar eine antivirale Wirkung konn-
te nachgewiesen werden. Auch Flavonoide des grünen Tees und von Zitrusöl
wirken antimikrobiell. Querzetin aus Äpfeln wirkt antiviral, immunsuppressiv
und entzündungshemmend. Die Phenolsäuren Tyrosol und Kaffeesäure, vor-
kommend in Olivenöl und Wein, können eine signifikante Hemmung von Ent-
zündungsreaktionen bewirken (Heizmann 2004). Es gibt auch zahlreiche Hin-
weise auf schützende Eigenschaften in Bezug auf Herz und Krebsbildung.
Die entzündungshemmenden Effekte können zum längeren Erhalt eines
funktionsfähigen Knorpels beitragen, womit die Entstehung intensiver Gelenks-
schmerzen bei arthrotischen Veränderungen deutlich verlangsamt wird.
Obwohl nur wenig über den Gehalt von Phenolen in Getränken bekannt ist,
ist es empfehlenswert, viel dunkle Fruchtsäfte (Johannisbeere, Aronia etc.) und
schwarzen bzw. grünen Tee reichlich zu sich zu nehmen. Eine Aufstellung des
Vorkommens der Polyphenole gibt die nachstehende Tabelle wieder (Tabelle 1).
180 W. Kullich

Tabelle 1. Polyphenolquellen

Phenolsäuren Vorkommen

Hydroxyzimtsäuren Schalen, Blätter, Kaffee, Olivenöl,


(z. B. Kaffeesäure, etc.) Weizenvollkorn
Hydroxybenzolsäuren Kaffee, Wein, Walnüsse, Tee, Kohl
(Gallussäure, Ellagsäure, Vanillinsäure,
Gentisinsäure, etc.)

Flavonoide Vorkommen

Flavonole Salat, Zwiebel, Rotwein


(Querzetin, Rutin, Kampferol, etc.)
Flavone Sellerie, Paprika
(Apigenin, Luteolin)
Flavonole/Katechine Rotwein, Äpfel, Tee
(Katechin, Epikatechin)
Isoflavonoide Sojabohnen
Anthozyane Blaue Trauben, Kirschen, Johannisbeeren,
(Malvidin, Zyanidin) Aronia

Präventives Potential der Ernährung auf Krebserkrankungen

Sekundäre Pflanzenstoffe können durch Abwechslung in der Auswahl pflanzli-


cher Lebensmittel ein vielfältiges Zusammenspiel von antikanzerogenen Sub-
stanzen bewirken. Bestimmte Inhaltsstoffe verschiedener Gemüsesorten, Früch-
te- und Getreidearten haben im Tier und in vitro eine vorbeugende Wirkung
gegen verschiedene Krebsarten (Stangl 2001). Die Ernährung kann krebshem-
mend über verschiedene Wege wirken. Nahrungsinhaltsstoffe können in den
Zellzyklus sowie in den programmierten Zelltod eingreifen. Dazu kommen auch
Effekte auf die Verständigung von Zellen untereinander, das Gefäßwachstum bei
Metastasen, die Immunabwehr und den Schutz des genetischen Materials.
Karotinoide scheinen die Kommunikation und damit die gegenseitige Wachs-
tumskontrolle der Zellen zu beeinflussen. Die Schutzwirkung der Ernährung ist
natürlich auch begrenzt, aber In-vitro-Studien zufolge entfalten Omega-3-
Fettsäuren, Flavonoide und Selen eine antiangiogenetische Wirkung. Die wohl
bekannteste antikanzerogene Wirkung von Nahrungsbestandteilen ist die
antioxidative. Isotiozyanate aus Kreuzblütlern sowie Terpene aus Limonen
stimulieren die Bildung von Entgiftungsenzymen. Zahlreiche sekundäre Pflan-
zenstoffe wirken antioxidativ als Auslöscher (Quencher) oder Fänger (Scavenger)
von Radikalen. Dies sind vor allem Karotinoide und Polyphenole. Beide sind
große Gruppen von Verbindungen, die in zahlreichen Obst- und Gemüsearten
enthalten sind.
Einfluss der Ernährung auf Alterungsprozesse 181

Kalorienbewusste, aber nährstoffdichte Kost – kontra


Mangelernährung im Alter

Als gesichert gilt die mitochondriale Theorie des Alterns, die besagt, dass eine
kalorienreduzierte Ernährung durch Herabsetzen des Stoffwechsels die Bildung
reaktiver Sauerstoffradikale senkt, die oxidativen Schäden in der Mitochondrien-
DNA vermindert und damit Alterungsprozesse verlangsamt (Sanz et al. 2006).
Die Ernährungsform von Ovo-Lakto-Vegetariern mit einer Kalorienrestrik-
tion, aber einer bedarfdeckenden Zufuhr von Mikronährstoffen kann zu einer
Zunahme der Lebenserwartung führen (Gladisch 2007).
Eine Reduktion der Nahrungsaufnahme, insbesondere bei Übergewicht,
scheint auch günstige Effekte bei einer rheumatoiden Arthritis auf verschiedene
Variablen wie artikulären Schmerz, Steifigkeit und Entzündungsaktivität zu be-
sitzen (Hafström et al. 1988). Fasten ist jedoch abzulehnen, da dieses eine anerge
Reaktion darstellt (Nenonen 1998). Längerfristige Vorteile können nur von einer
Umstellung auf bioaktive Ernährung mit hohem Anteil an Antioxidantien sowie
der Senkung eines Übergewichtes erwartet werden, wodurch Entzündung sowie
Gelenkbelastung und Schmerz günstig beeinflusst werden können.
Die Proteinbiosynthese im Alter ist gegenüber den Jüngeren deutlich vermin-
dert. Daher ist der Proteinbedarf im Alter höher; die Eiweißzufuhr soll bei der Frau
mindestens 0,8 g/kg Körpergewicht und beim Mann 1,2 g/kg Körpergewicht be-
tragen (Gladisch 2007). Im Gegensatz zu Eiweiß soll sich die Zufuhr von Fett und
vor allem Kohlehydraten am unteren Limit orientieren, da die Verschiebung von
Verhältnis Muskulatur zu Fettgewebe diabetesfördernd ist. Die Muskelmasse
bestimmt im Wesentlichen den Ruhe-Nüchtern-Umsatz und ist somit im
Alterungsprozess für das Absinken des Energiebedarfs verantwortlich. Der ver-
minderte Energiebedarf ist mit der altersbedingten Inappetenz verbunden,
gleichzeitig schränkt die Einnahme von vielen Medikamenten die Geschmacks-
wahrnehmung und damit den Appetit ein.
Es ist sehr wesentlich, da häufig die Gesamtenergiezufuhr mit steigendem Al-
ter sinkt, die Nährstoffdichte hochzuhalten. Obst und Gemüse haben infolge des
niedrigen Energiegehalts die höchste Nährstoffdichte. In Hinblick auf ältere
Menschen ist der niedrige glykämische Index einer Ernährung mit Obst und
Gemüse hervorzuheben. Der Bedarf an Mikronährstoffen bei älteren Menschen
hat eine große Bedeutung, da er eher steigt. Insbesondere enzymatische, körper-
eigene Antioxidantien und Reparaturenzyme sowie Immunreaktionen sind auf
die Zufuhr von Mineralien und Spurenelementen angewiesen.

Beachte folgende Empfehlungen:


– Vermeidung von Mangelzuständen
– Hohe Nährstoffdichte mit viel Obst und Gemüse
– Kalorienreduktion (wenig Kohlehydrate, wenig Fett!), aber ausreichende Ei-
weißzufuhr
182 W. Kullich

– Viel trinken (Fruchtsäfte, Tee)!


– Keine Gewichtszunahme!
– Verzicht auf tierische Fette beim Kochen
– Bedarfsgerechte Zufuhr von Mikronährstoffen und Vitaminen

B-Vitamine bei Schmerz

Von Vitamin B6 (Pyritoxin) ist eine hemmende Wirkung auf psychische und phy-
sische Schmerzzustände sowie ein positiver Einfluss auf Depressionen bekannt.
Patienten mit Rheumatoider Arthritis haben erniedrigte B6-Blutspiegel; für die
rheumatoiden Gelenkschmerzen ist diese Tatsache als negativ zu werten, da B6
Aufgaben im Knochenstoffwechsel besitzt und die Knorpelqualität beeinflussen
kann (Miehlke et al. 1985; Bermond 1989).
Vitamin B12 (Cobalamin) spielt beim Aufbau der Myelinscheide von Nerven
eine Rolle. Eine schmerzstillende Wirkung von B12 ist allgemein bekannt.
Auch bei Arthroseschmerzen, die im Alter häufig auftreten, können Kombi-
nationspräparate mit Vitamin B6 und B12 eine Besserung bewirken und helfen,
die Dosis nichtsteroidaler Antirheumatika zu reduzieren.

Knochenabbau – Vitamin-D-Bedarf – Sonnenlicht –


körperliche Aktivität im Freien!

Zu wenig berücksichtigt wird auch der im Alter steigende Vitamin-D-Bedarf. Die


älteren Menschen gehen weniger ans Licht und die Niere kann im Alter weniger
Vitamin D in aktives Kalzitriol umbauen. Dies beeinflusst Knochenstoffwechsel,
Muskelkraft und neuromuskuläre Koordination, die im Alter besonders wichtig
ist. Wichtig ist, dass gemeinsam mit adäquater Ernährung im höheren Lebens-
alter (Tabelle 2) auch die körperliche Aktivität mit regelmäßigen Spaziergängen
(heilsame UV-B-Strahlung) sowie leichtem Kraft- und Balancetraining einherge-
hen soll, wodurch die Proteinsynthese gesteigert und Muskelverlust vermindert
werden kann. Gleichzeitig wird die myokardiale und kardiovaskuläre Funktion
erhöht und einer Dyslipoproteinämie infolge Inaktivität entgegengearbeitet. Re-
gelmäßiger Aufenthalt im Freien hilft Knochen- und Muskelabbau zu reduzie-
ren! Ausreichende Vitamin D-Spiegel verringern insbesondere im Alter über 55
auch das Risiko für alle Krebsarten.

Ernährungsempfehlungen für osteoporosegefährdete Personen:


– kalziumreiche Lebensmittel (fettarmer Käse / Milch);
– Fisch mehrmals in der Woche (enthält Vitamin D!);
– salzarm, da mit Natrium auch Kalzium ausgeschieden wird;
– kalziumreiches Mineralwasser bevorzugen;
– wenig Kaffee – er erhöht die Ca-Ausscheidung.
Einfluss der Ernährung auf Alterungsprozesse 183

Tabelle 2. Einfluss von Nahrungsinhaltsstoffen auf die Knochen

Nährstoff Quelle Funktion Wirkung auf


Knochendichte
Kalzium Milchprodukte Knochenbildung Erhöhung
Mandeln
Dörrpflaumen
Vitamin D Sonnenlicht Erhalt und Bildung Erhöhung
EMPFEHLENSWERT

Eier des Knochens,


Käse Kalziumstoffwechsel,
Blattgrün (Salat) Krebs- und
Datteln Infektionsprophylaxe
Vitamin K Bohnen Synthese von Erhöhung
Soja Knochenproteinen
Obst (z. B. Osteokalzin)
Gemüse
Blattgrün
Isoflavone Obst Erhalt der Erhöhung
Gemüse Knochendichte
ZU VERMEIDEN

Natrium Gesalzenes Essen Fördert Kalziurie Verminderung

Koffein Kaffe Erhöht Frakturrisiko Verminderung


Energydrinks
Cola

Milchkonsum – positiv oder negativ?


Obwohl der positive Einfluss eines Milchkonsums auf das Osteoporoserisiko von
verschiedensten Seiten gelobt wird, ergab eine Metaanalyse von 6 Kohortenstu-
dien keinen Zusammenhang zwischen dem Milchverzehr und dem Risiko osteo-
poroseassoziierter Frakturen (Kanis et al. 2005). Die Evidenz für einen risikosen-
kenden Effekt von Milchprodukten bei Osteoporose ist deshalb derzeit als zu
gering zu bewerten. In einer gepoolten Metaanalyse von 10 Studien wurde be-
stätigt, dass mit der Höhe des Milchkonsums das Darmkrebsrisiko sinkt (Cho et
al. 2004). In Hinblick auf Eierstock- und Brustkrebs zeigen Studien keinen das
Risiko modifizierenden Einfluss (Parodi 2005; Qin et al. 2005). Im Gegensatz
dazu verdichten sich die Hinweise, dass ein sehr hoher Verzehr von Milchpro-
dukten das Prostatakrebsrisiko möglicherweise erhöhen kann (Boeing 2004).

Nahrungsfettsäuren und schmerzhafte Entzündungen


Fettsäuren liefern Energie, sind aber auch Vorläufer der Eikosanoide, die mit den
meisten entzündlich schmerzhaften Erkrankungen verbunden sind. Gebildet
184 W. Kullich

werden diese Eikosanoide aus Arachidonsäure, daher sollen arachidonsäurehal-


tige Nahrungsmittel bei schmerzhaften, entzündlichen Erkrankungen gemieden
werden. Eine Übersicht über den Arachidonsäuregehalt in Lebensmitteln zeigt
Tabelle 3.

Tabelle 3.

Arachidonsäuregehalt in: mg pro 100g


Schweineschmalz 1700
Schweineleber 870
Eidotter 297
Leberstreichwurst 230
Schweinefleisch 120
Hühnerfleisch 112
Rindfleisch 70
Kalbfleisch 53
Kuhmilch 3,5% Fett 4
Kuhmilch 1,5% Fett 2
Alle pflanzlichen Lebensmittel 0

Bei einer Kost ohne Arachidonsäure nimmt diese im Körper ab; es werden
vermindert Prostaglandine, die vermehrt bei Entzündungen vorkommen, gebil-
det, dadurch bessern sich Entzündungsprozess und Schmerz (Adam et al. 2003).
Zusätzlich kann die Supplementierung von Fischölfettsäuren, also eine an Ome-
ga-3-Fettsäure reiche Ernährung (Lachs, Makrele, aber auch Soja- und Walnuss-
öl) bei Rheumatoider Arthritis mit entzündlichen Schüben den Verbrauch von
schmerzstillenden, nichtsteroidalen Antirheumatika senken (Kremer et al. 1995).
Der Verzehr von diesen langkettigen, ungesättigten Omega-3-Fettsäuren bein-
haltet aber auch neben der Reduktion schmerzhafter Gelenke antiatheroskleroti-
sche Wirkungen und eine Verminderung der Aggregation der Blutplättchen; bei-
de Effekte sind gerade bei älteren Menschen sehr günstig bei der Vermeidung
von Arteriosklerose und Thrombosen.

Nahrungsergänzung im Alter sinnvoll?

Eine ausgewogene Ernährung ist die Basis für die Versorgung mit allen notwen-
digen Nährstoffen. Nur wenn eine gesunde Ernährung nicht oder nur bedingt
möglich ist oder bei krankheitsbedingtem Mangel bzw. Infekten ist eine Nah-
rungsmittelergänzung anzuordnen.
Einfluss der Ernährung auf Alterungsprozesse 185

Tabelle 4.

Ernährungsgewohnheit Möglicher Mangel Ergänzungsprodukte

Wenig Obst Vitamine, Antioxidantien, Ascorbinsäure, Hagebutten-


Sekundäre Pflanzenstoffe, saft, Aroniabeerensaft,
Ballaststoffe schwarze Johannisbeeren,
Sanddornsirup, grüner oder
schwarzer Tee, mäßig Rotwein
Kein Gemüse Folsäure, Karotin, Vitamin C, Grüner Tee, flavonoid- und
Ballaststoffe, Antioxidantien, polyphenolreiche Ernährung,
B-Vitamine Karottenprodukte, Obst,
Vitaminersatzprodukte
Wenig Vollkornprodukte Vitamin B1, B2, B6, Magnesium, Vitamin-B-Komplexpräparate,
Ballaststoffe Weizenkeime, Hefeprodukte,
Kleie, Leinsamen,
Magnesiumpräparate
Kein Fleisch und wenig Eisen, Zink, Vitamin B12, Eisenpräparate, Hefeprodukte,
Milchprodukte (Veganer) Eiweiß Spurenelemente, Eiweiß
Keine Milchprodukte Kalzium, Vitamin B12 Kalziumpräparate, Hefepro-
dukte, Weizenkeimprodukte
Keine Bewegung im Vitamin D Sonnenlicht, Vitamin D +
Freien Kalziumpräparate
Raucher Vitamin C und E, Selen Ascorbinsäure (Vitamin C),
Weizenkeimprodukte, Karotin,
Selenpräparate
Alkoholismus Zink, Magnesium, Vitamine, Weizenkeime, Mikronährstoff-
Kalzium präparate mit Zink,
Magnesium, Kalzium,
Vitamin C

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Revision

Einsatz von Mikronährstoffen in der


Schmerztherapie

C. MUSS
C. Muss
Einsatz von Mikronährstoffen in der Schmerztherapie

Einleitung
Die Mikronährstofftherapie kann bei entsprechendem Mangel kausal bei ver-
schiedenen neurologischen Erkrankungen eingesetzt werden. Es sei an dieser
Stelle daran erinnert, dass die frühen Wurzeln der wissenschaftlich orientierten
Mikronährstoffmedizin in der Behandlung neurologischer und psychiatrischer
Patienten liegen (z. B. Dr. Pfeiffer). Die Indikationen zur Mikronährstofftherapie
liegen insbesondere bei klinisch nachgewiesenem Mangel vor. Der entsprechen-
de Nachweis ist an eine valide Labordiagnostik gebunden, da z. T. sehr niedrige
Konzentrationen erfasst werden müssen und an die Präanalytik hohe Ansprüche
zu knüpfen sind (Böhm et al. 2003). Mikronährstoffverluste machen sich bei den
Patienten häufig erst nach längerer Krankheitsdauer bemerkbar. Zahlreiche un-
terversorgte Patienten leiden dabei an einem sogenannten „Latency Defiency
Syndrome“. Dies bedeutet, dass klinische Zeichen einer Unterversorgung sich oft
nur schleichend bemerkbar machen (Böhm und Muss 2008 im Druck).
Das Verständnis dieser Zusammenhänge ist für die Beurteilung von Studien-
daten in der Mikronährstoffmedizin und beim klinischen Einsatz von Mikro-
nährstoffen äußerst wichtig. Verschiedene Studien berücksichtigen das Problem
der Malabsorption von Mikro- und Makronährstoffen zu wenig und kommen
daher häufig zu dem Schluss, dass für viele Vitalstoffe keine Unterversorgung in
der Bevölkerung vorliegt. Insbesondere bei chronischem Krankheitsverlauf trifft
der erhöhte Verbrauch an Vitalstoffen häufig aber noch auf eine verminderte
Aufnahme (Malabsorbtion), sodass sich über einen längeren Zeitraum schlei-
chend Vitamin- und Mineralstoffverluste aufbauen können. Da im Organismus
Mangelsituationen zunächst durch entsprechende Verschiebung zwischen den
Kompartimenten (Körperspeichern) ausgeglichen werden, können bei länger
andauernden Beschwerden auch nur selten schnelle Erfolge mit einer oralen
Vitalstoff-Ergänzung erwartet werden. Das Auffüllen der verschiedenen Körper-
188 C. Muss

speicher mit Vitalstoffen erfolgt dabei in einer bestimmen Reihenfolge und benö-
tigt demnach ebenfalls eine bestimmte Zeit. Eine langfristige Supplementierung
mit ausgewählten Mikronährstoffen kann bei einigen neurologischen Erkran-
kungsbildern jedoch grundsätzlich zu einem guten Therapieerfolg führen. Der
Einsatz von Mikronährstoffen ist sowohl in der Prävention als auch für die Be-
handlung von neurologischen Erkrankungen geeignet. Die Auswahl und Dosie-
rung der verschiedenen Vitalstoffkombinationen richten sich dabei nach dem in-
dividuellen Bedarf der Patienten. Es ist besonders wichtig, im Erkrankungsfall
mögliche Interaktionen zwischen den eingesetzten Mikronährstoffen zu berück-
sichtigen.

Abb. 1. Entwicklung von klinischen Symptomen bei chronischem Vitalstoffmangel nach


Brubacher

Eine bewusste Vollwerternährung mit möglichst hohen Anteilen an Obst und


Gemüse bzw. Omega-3-Fettsäuren ist eine wertvolle Basis für die allgemeine
Gesundheitsvorbeugung. Zusätzliche Supplemente mit bestimmten Vitalstoffen
können bei Mehrbedarf eine Versorgungslücke möglicherweise sinnvoll ausglei-
chen. Beim Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln wird die Primärprävention
zur reinen Vorbeugung von Erkrankungen gegenüber der Sekundärprävention
bei Vorliegen eines Risikos und der Tertiärprävention im Erkrankungsfall unter-
schieden. Die Dosierung und die Zusammensetzung der Nahrungsergänzungen
unterscheiden sich daher auch nach ihrem Einsatzgebiet (Indikation).

Indikationen für eine Vitalstoffsupplementierung

Bei neurodegenerativen Erkrankungen wie z. B. dem Morbus Alzheimer und M.


Parkinson hat sich die Primärprävention durch eine gesunde mediterrane Voll-
Einsatz von Mikronährstoffen in der Schmerztherapie 189

wertkost und die Einnahme von Antioxidantien als effektiv erwiesen (Böhm und
Muss 2009; Scarmeas et al. 2009; Dai et al. 2006; Zandi et al. 2004; Engelhart et al.,
2002). Das Gehirn ist gegenüber der Exposition mit freien Radikalen besonders
empfindlich. So führt der erhöhte oxidative Stress mit neurotoxischen Hydroxyl-
Radikalen z. B. bei M. Parkinson zum Verlust an dopaminergen Neuronen und
Defiziten des mitochondrialen Komplexes 1 in der Substantia nigra (Etminan
et al. 2005). Antioxidantien wie z. B. das Kurkumin schützen möglicherweise die
Gehirnmitochondrien gegen oxidierendes Peroxynitrit und erhöhen dadurch die
die antioxidative Kapazität in den Gehirnzellen (Ebadi et al. 1996).
Neben der Prophylaxe sind antioxidative Vitalstoffe aber auch bei neurolo-
gischen Erkrankungen (z. B. in der Sekundär- und Tertiärprävention) indiziert.
Interventionsstudien haben den klinischen Nutzen von Vitalstoffen bei Schmerz-
patienten belegt. Der Wirkungsmechanismus beruht wohl u. a. auf der antioxi-
dativen und antiinflammative (entzündungshemmenden) Eigenschaft bestimm-
ter Mikronährstoffe (Mythri et al. 2007; Weber et al. 2006; Zandi et al. 2004). Zu
den wichtigen neurotropen Vitalstoffen gehören ferner B-Vitamine und soge-
nannte Vitaminoide (wie z. B. das L-Karnitin und die Thioktsäure), die in den
Zellmetabolismus eingreifen und dadurch vor einer Neurodegeneration schützen
(Masaki et al. 2000). Vitaminoide sind Substanzen, die der Körper zwar im be-
stimmten Umfang selbst synthetisieren kann, in besonderen Anforderungssitua-
tionen wie bei chronischen Erkrankungen kann sich darüber hinaus jedoch ein
erhöhter Bedarf einstellen. Die Zufuhr mit solchen Vitaminoiden ist dann eben-
falls wichtig, da diese ähnlich wie Vitamine selbst wichtige Stoffwechselfunktio-
nen im Organismus übernehmen.

Studien zur Vitalstoffsupplementierung bei neurologischen


Störungen

In 2 randomisierten und placebokontrollierten Interventionsstudien konnte bei


der diabetischen Polyneuropathie eine signifikante Verbesserung des Vibrations-
empfindens und eine Schmerzreduktion durch 500 oder 1,000 mg Azetyl-L-
Karnitin (ALC) erzielt werden (Passeri et al. 1988). In einer weiteren Studie mit
3 x 500–1000 mg Azetyl-L-Karnitin nahmen Fasern und Cluster regenerieren-
der Fasern sowie das Vibrationsempfinden deutlich zu und der Schmerz signifi-
kant ab (Sima et al. 2005). Auch die Thioktsäure (Alpha-Liponsäure) kann signi-
fikant zur Reduktion von Schmerzen im diabetischen Fuß beitragen (Sima et al.
2005). Spurenelemente scheinen ebenfalls eine wichtige Funktion bei der Poly-
neuropathie zu haben. In einer Studie zeigte sich beispielsweise bei Diabetikern
mit Polyneuropathie ein signifikant erniedrigter Zinkspiegel; durch die entspre-
chende Zink-Supplementierung mit 660 mg Zinksulfat über 6 Wochen konnte
eine hochsignifikante Zunahme der motorischen Nervenleitgeschwindigkeit in
einer doppelblind-randomisierten Studie erzielt werden (Ziegler et al. 1997). Die
Supplementierungen mit Thiamin (Vitamin B1) und Pyridoxin (Vitamin B6) er-
wiesen sich bei dieser Indikation ebenfalls als erfolgreich (Hayee et al. 2005).
190 C. Muss

Auch Vitamin B12 konnte Schmerzen und polyneuropathische Beschwerden bei


Diabetikern signifikant lindern (Abbas et al. 1997).
Vitamin B2 ist auch besonders bei Schmerzpatienten indiziert. Die Gabe von
400 mg Riboflavin (Vitamin B2) war in einer randomisierten, placebokontrollier-
ten, doppelblinden Studie in der Reduktion der Anfallshäufigkeit und der Mini-
mierung von Kopfschmerztagen überlegen. Das Verhältnis bei einer 50%igen
Besserung betrug 59 % gegenüber 15 % unter Placebo (NNR = 2,3). Die Studie
erstreckte sich über 3 Monate (Sun et al. 2005). Weiterhin scheint für die Regula-
tion von neurologischen Beschwerden der Einsatz so genannter mitogener Sub-
stanzen wichtig zu sein. Solche Vitalstoffe, welche die Aktivität der Mitochond-
rien schützen bzw. fördern sind in der Schmerztherapie daher unbedingt
indiziert. In einer randomisierten doppelblinden placebokontrollierten Studie mit
n = 42 Patienten führten 3 x 100 mg Koenzym Q10 zu weniger Attacken, zu we-
niger Attackentage und zu weniger Attackentage mit Übelkeit bei guter Verträg-
lichkeit. (Responderrate 47,6 % gegenüber 14,4 % unter Placebo) (Schoenen et
al. 1998).

Mikronährstoff-Rezepturen bei neurologischen


Beschwerden und Schmerzen

Die Indikation für Mikronährstoffe in der Prophylaxe und Therapie von neurolo-
gischen Erkrankungen ist sehr umfangreich. Es liegen gute Evidenzdaten für
zahlreiche Anwendungsgebiete in diesem Bereich vor. Im Folgenden werden ex-
emplarisch einige Mikronährstoffrezepturen für bestimmte neurologische Be-
schwerdebilder tabellarisch zusammengefasst. Es handelt sich dabei um soge-
nannte bewährte Rezepturen die nach den Studienergebnissen verschiedener
Untersuchungen zusammengestellt wurden (Böhm und Muss 2009). Selbstver-
ständlich ersetzen diese Rezepturen keine schulmedizinischen Therapiekonzep-
te. Sie können jedoch nach sorgfältiger Abwägung unter Fachkontrolle ggf. zu
einem bestehenden Therapieansatz mit aufgenommen werden. Wie bereits dar-
gelegt, ist der individualmedizinische Zugang mit Einsatz einer speziellen Dia-
gnostik diesem Rezepturansatz in der Mikronährstoffmedizin überlegen. Auf die
spezielle Diagnostik für den individualmedizinischen Einsatz von Mikronährstof-
fen sei hier verwiesen (Sandor et al. 2005) (Tabellen 1–5).
Einsatz von Mikronährstoffen in der Schmerztherapie 191

Tabelle 1. Mikronährstoffe bei neurodegenerativen Erkrankungen

Erkrankung Mikronährstoff Dosierung/die und Erläuterung Evidenzgrad

Demenz/ Vitamin C 500–2000 mg; reduziert I


M. Alzheimer oxidativen Stress
Vitamin E 400 mg; reduziert oxidativen I
Stress
Vitamin B12 1 mg; reduziert nitrosativen I
Stress
Folsäure 1 mg. Schutzfaktor des I
Homozysteins
Omega-3-Fettsäuren 2–4 g, starke antioxidative I
Eigenschaften
L-Karnitin 1–2g; Fettstoffwechsel I
Vitamin B6 100 mg; Metabolismus II
Cholin (Lezithin) 1000 mg; Stoffwechsel II

Morbus Parkinson Vitamin E 400–800 mg. Antioxidantien I


schützen vor oxidativem Stress
im ZNS
Vitamin B6 50 mg. Mangelhafte B6 I
Versorgung kann die Symptome
verschlimmern. Keine höheren
Dosen in Verbindung mit
L-Dopa.
Vitamin C 1000 mg. Mildert die Symptome II
in Verbindung mit L-Dopa.
Folsäure 1 mg Folsäuremangel bei M. II
Parkinson häufig
Niazin 50 mg (Cave: häufig Flush) II
Koenzym Q 10 300–1200mg (verhindert II
Mitochondropathie)
Gamma-Linolensäure 2 g reduziert Zittern II
L-Tyrosin 100 mg/Kg KGW. II
Wird im Gehirn zu Dopamin
metabolisiert.
Alpha-Liponsäure 600 mg. Schützt Membranen II
vor Radikalstress und erhöht
den Glutathiongehalt im ZNS.
Leitet Schwermetalle aus.
l- Methionin 500 mg. Steigende Dosierung II
bis zu mehreren Gramm ver-
bessern Beweglichkeit, Kraft
und Schlafbehalten.
Glutathion 400 mg, antioxidativ II

Amyotrophe Vitamin E 600–1200 mg. Antioxidative I


Lateralsklerose Kapazität
Zystein/N-Azetyl- 600–1200 mg. Antioxidative I
Zystein Kapazität
192 C. Muss

Erkrankung Mikronährstoff Dosierung/die und Erläuterung Evidenzgrad

Omega-3-Fettsäuren 2–4 g antiinflammative I


Eigenschaften
Koenzym Q10 30–120mg. Mitogene Substanz II
L-Karnitin 1–3 g; Fettstoffwechsel II
Kreatin 1–2 g; Muskelzuwachs I

Multiple Sklerose L-Karnitin 1 g; verbessert Fatigue; I


Kalzium 1–1,5 g I
Magnesium 300–500 mg I
Vitamin D3 20 mcg; immunregulierend. I
Vitamin A 0,6-1,5 mg I
Beta-Karotin 25 mcg I
Vitamin B12 1 mg; tägliche Injektion. Ist für I
die Synthese von Fettsäuren in
der Myelinschicht unerlässlich.
Im Krankheitsverlauf können
Intervalle vergrößert werden.
Omega-3-Fettsäuren 2–4g; können den Schubverlauf I
vermindern
Vitamin C 500 mg. Wichtiges Antioxidans I
dass Glutathionversorgung im
ZNS verbessert
Vitamin E 800 mg; Schützt I
Myelinsubstanz vor Neuro-
degeneration
Selen 400 mcg; schwermetallbindend II
und schützt Myelinsubstanz
vor Neurodegeneration
Vitamin B6 50 mg. Häufig ist bei I
M. Parkinson ein Folsäureman-
gel zu beobachten. Mangelhafte
B6 Versorgung kann die
Symptome verschlimmern.
Keine höheren Dosen in
Verbindung mit L-Dopa.
2 g; Nachtkerzenöl ist eine gute
Gamma-Linolensäure Grundlage für die Synthese II
körpereigener Sphingomyeline. II
D, L-Phenyalanin 1–2 g; Verbessert die Stimmung
und ist schmerzlindernd
Einsatz von Mikronährstoffen in der Schmerztherapie 193

Tabelle 2. Mikronährstoffe bei neuropathischen Beschwerden.Therapie einer Polyneuro-


pathie (z. B. diabetisch, alkoholoisch, u. a.)

Erkrankung Mikronährstoff Dosierung/die und Erläuterung Evidenzgrad

Polyneuropathie Vitamin E 200–600 mg; Antioxidans I


Pyridoxin (B6) 40 mg I
Zink 10-30mg I
Selen 100 mcg I
Alpha-Liponsäure 600 mg I
L-Karnitin 1–3 g; I
Benfotiamin (B1) 100–300mg; Vitamin-B1- II
Blutspiegel ist bei Diabetikern
(Typ 1 und 2) um 75 %
reduziert*.
Konsequenz: Ein B1-Mangel
bedeutet: Die toxische Wirkung
erhöhter Zuckerspiegel wird
verschärft und es kommt zu
Kapazitätseinbußen der Ge-
hirn- und Herzleistung, denn
Nerven- und Muskelzellen sind
auf die Energiebereitstellung
aus dem Zuckerstoffwechsel
angewiesen.
Pantothensäure 30 mg II
Chrom 50–200 mcg II
Gamma-Linolensäure 600 mg II

Tabelle 3. Mikronährstoffe bei Schmerzsyndromen. Therapie peripherer Nervenläsionen


am Beispiel des Karpaltunnelsyndroms CTS

Erkrankung Mikronährstoff Dosierung/die und Erläuterung Evidenzgrad

Peripheres Schmerz-Pyridoxin (B6) 50–100 mg; Bildung von Sero- II


syndrom tonin wird angeregt. Serotonin
ist ein Neurotransmitter, der
Schmerzempfindungen zentral
dämpft
Vitamin B2 100 mg; Mangel verschlimmert II
peripheres Schmerzempfinden
Vitamin C 200 mg; reagiert abschwellend II
Omega-3-FS 2 g; entzündungshemmende II
Wirkung
Vitamin E 400 1200 mg ; antioxidative II
Wirkung
Magnesium 300–500 mg II
Proteolytische 100–150 mg; lösen II
Enzyme Entzündungsödeme auf.
194 C. Muss

Tabelle 4. Mikronährstoffe bei chronischen Schmerzen

Erkrankung Mikronährstoff Dosierung/die und Erläuterung Evidenzgrad

Chronisches Pyridoxin (B6) 50–100 mg; Bildung von II


Schmerzsyndrom Serotonin wird angeregt.
Serotonin ist ein Neurotrans-
mitter, der Schmerzempfindun-
gen zentral dämpft; besonders
wichtig bei Frauen mit
Menstruationsbeschwerden
Vitamin B1 500 mg; unterdrückt die II
Impulsübertragung und kann
Schmerzen lindern (besonders
Neuralgien)
5 HTP (5- 100–300 mg; Anwendung nur II
Hydroxytrophan) durch erfahrende Therapeuten.
Vorläufersubstanz von
Serotonin einem Neurotrans-
mitter-Botenstoff.
Vitamin B12 1–5 mg; 1 x wöchentlich i.m. II
Reduziert krebsbedingte
Schmerzen und Schmerzen der
Wirbelsäule 400–1200 mg;
Antioxidative Wirkung gegen-
über nitrosativem Stress
Vitamin C 500 mg; gegen Knochen- II
schmerzen, Rückenschmerzen
und bei Krebsleiden
Vitamin E 400 mg; reduziert den II
Schweregrad der Migräne
Omega-3-FS 1–2 g; antientzündlich II
Magnesium 400 mg; relaxierend bei II
Rückenbeschwerden
D,L-Phenylalanin 1–4 g; regt das Endorphin- II
system und damit die körper-
eigene Schmerzlinderung an

Tabelle 5. Mikronährstoffe bei weiteren neurologischen Erkrankungen

Erkrankung Mikronährstoff Dosierung/die und Erläuterung Evidenzgrad

Epilepsie (Begleit- Pyridoxin (B6) 250 mg; unterdrückt die II


therapie) Impulsübertragung und kann
Schmerzen lindern
(besonders Neuralgien)
Vitamin B3 1–3 g; hat antiepileptische II
(Niazinamid) Wirkung
Taurin 500 mg–2000 mg; hat
antiepileptische Wirkung
Einsatz von Mikronährstoffen in der Schmerztherapie 195

Erkrankung Mikronährstoff Dosierung/die und Erläuterung Evidenzgrad

Glyzin 100–200 mg Glyzin hat II


antiepileptische Wirkung durch
sedierende Wirkung
(wirkt membranstabilisierend)
Magnesium 400 mg; relaxierend bei II
Rückenbeschwerden
400 mg; Epileptiker haben
häufig einen niedrigeren

Praxistipp: Epileptiker sollen hohe Dosen an Omega-3-Fettsäuren und Folsäure meiden,


da diese Substanzen die Empfindlichkeit für Anfälle erhöhen können.

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Arch Neurol 61:82–88
Ziegler D, et al (1997) Alpha-lipoic acid in the treatment of diabetic peripheral and cardiac au-
tonomic neuropathy. Diabetes 46: S62–S66
Revision

Medikamentencocktails im Alter – Gefahr


von klinisch relevanten Arzneimittelinteraktionen*

M. ANDITSCH
Medikamentencocktails im Alter
M. Anditsch

Ein 79-jähriger Patient wird mit ausgeprägter Bradykardie (Puls 35) nach Sturz,
im verwirrten und desorientierten Zustand, auf der Kardiologie unseres Hauses
aufgenommen. Ein Blick in seine Medikamentenkurve gibt ein sehr bekanntes
Bild: 12 verschiedene Medikamente pro Tag, manche sogar mehrmals täglich ver-
abreicht: Aufgrund bekannter tachykarder Herzrhythmusstörungen eine Kombi-
nation aus Amiodaron, ß-Blocker und Digitalis, zur Blutdrucksenkung und The-
rapie einer bestehenden Herzinsuffizienz einen ACE-Hemmer, ein K-sparendes
Diuretikum, ein Schleifendiuretikum, zusätzlich ASS 100mg, ein Inkontinenzmit-
tel, ein NSAR, einen Magenschutz, und seit kurzer Zeit aufgrund diagnostizierter
Alzheimer-Demenz einen Azetylcholinesterasehemmer. In der Apotheke kauft er
sich noch zusätzlich ein Ginko- und ein Knoblauchpräparat.
Eigentlich ist der Einsatz all dieser Präparate gemäß der gestellten Diagnosen
und der vorhandenen Guidelines gerechtfertigt. Die Frage ist aber, was passiert
bei der gleichzeitigen Einnahme all dieser Arzneistoffe, die oft mit nur einem
Schluck Wasser hinuntergespült werden. Bei der Zulassung eines Arzneistoffes
werden in Phase-I-Studien an gesunden Probanden mögliche Interaktionen
zwischen zwei, max. drei verschiedenen Wirkstoffen getestet. Sind diese Ergeb-
nisse aber übertragbar auf den alten, multimorbiden Patienten mit eingeschränk-
ten Organfunktionen und 12 verschiedenen Medikamenten???
Unter dem Begriff „Wechselwirkungen“ oder „Interaktionen“ werden in der
Regel unerwünschte gegenseitige Beeinflussungen von Pharmaka verstanden,
mit der Folge entweder eines unzureichenden Effektes oder von Intoxikationen
durch Überdosierungen.
Desto größer die Zahl der gleichzeitig verabreichten Arzneimittel ist, desto häu-
figer muss man mit klinisch relevanten Wechselwirkungen rechnen. Bei mehr als 5
Pharmaka steigt das Risiko um das bis zu 10-Fache an. Der alte Patient ist durch

* Teile aus dem Buchbeitrag wurden im Jatros Neurologie und Psychiatrie 07/07 veröffent-
licht, mit freundlicher Abdruckgenehmigung von Universimed Verlag.
198 M. Anditsch

seine physiologisch reduzierten Dekompensationsmechanismen besonders ge-


fährdet, unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) zu entwickeln. 17 % –33 %
dieser unerwünschten Wirkungen sind Arzneimittelinteraktionen zuzuschreiben,
wobei sie mehr als die Hälfte der durch UAW ausgelösten Kosten ausmachen!
(Levy et al. 1980; Bates et al. 1997; Pirmohamed et al. 2004)
Es ist aber keine Seltenheit, dass der alte multimorbide Patient 10 bis 15 ver-
schiedene Medikamente verschrieben bekommt. (Routledge et al. 2004) Oft wer-
den dann die Nebenwirkungen dieser Kombinationen therapiert und die Liste
verlängert sich immer mehr. Durch das gleichzeitige Aufsuchen mehrerer ver-
schiedener Ärzte wird die Liste leider auch nicht kürzer! Diese Polymedikation
wirft sehr viele Probleme auf: Es sinkt die Bereitschaft, die Medikamente jeden
Tag einzunehmen, dramatisch ab – insbesondere bei Therapien, die zur Vorbeu-
gung von Komplikationen eingesetzt werden, wie z. B. Antihypertensiva, niedrig
dosierter Azetylsalizylsäure –, und es steigt die Gefahr der Verwechslungen mit
zunehmendem Alter stark an.
Eine rezente Erhebung der niederösterreichischen Gebietskrankenkassa er-
gab, dass 5 % der Krankenhauseinweisungen auf unerwünschten Arzneimittel-
wirkungen zurückzuführen sind. In geriatrischen Abteilungen sind sie mit Ab-
stand die häufigsten Ursachen der Einweisung. (Runciman et al. 2003) Diese
Daten bestätigen Ergebnisse aus den USA, Kanada, England und Deutschland
(Hallas et al. 1992; Muehlberger et al. 1997; Lazarou et al. 1998; Pirmohamed
et al. 2004), wo sogar bis zu 15 % beschrieben werden. Die häufigsten uner-
wünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) waren gastrointestinale Blutungen,
Hirnblutungen, Nierenversagen, Elektrolytstörungen und Hypotonie, verursacht
vor allem durch unsachgemäßen Einsatz von Rheumamittel, Diuretika, Anti-
hypertensiva, und starke Schmerzmittel. Auch bei der Entlassung aus dem Spital
erhalten Patienten häufig Arzneimittelkombinationen, die potentielle Interaktio-
nen beinhalten, die in 12 % –15 % der Fälle als schwerwiegend bezeichnet wur-
den.(Klotz et al. 2003; Juurlink et al. 2003; Steffens 2004) In einem großen Pro-
zentsatz könnte durch die individuelle Auswahl der richtigen Medikamente und
die häufige Kontrolle der Verordnungen diese schwerwiegenden UAW vermie-
den werden. – Zum Wohle des Patienten und zur Kostensenkung! [1–3]
Nahezu die Hälfte der Patienten über 65 Jahre kaufen sich noch zusätzlich frei
erhältliche Nahrungsmittelergänzungen, die aber ebenfalls ein nicht zu vernach-
lässigbares Interaktionspotential aufweisen. (Z. B. Ginko, Ginseng kann das Blu-
tungsrisiko bei gleichzeitiger Einnahme von NSAR, ASS, und SSRI potenzieren;
Knoblauch in hoher Dosis hat einen ausgeprägten blutdrucksenkenden Effekt;
Magnesium, Zink, Kalzium beeinträchtigen die Resorption gleichzeitig verab-
reichter Antibiotika; viele OTC Präparate, die zur kognitiven Verbesserung ange-
priesen werden, enthalten einen hohen Gehalt an Koffein, das in Kombination
mit Theophylin Herzrhythmusstörungen, Nervosität und Schlafstörungen be-
günstigen kann.)
Oft ist die Beurteilung der klinischen Relevanz einer im Lehrbuch beschrie-
benen Wechselwirkung sehr schwierig, da die Ergebnisse meistens von kleinen
Studien an gesunden Probanden erhoben werden. Die derzeit zur Verfügung ste-
Medikamentencocktails im Alter 199

henden Softwareprogramme stellen nur begrenzt eine Hilfestellung dar, da die


aufgezeigten Interaktionen oft nicht praxisrelevant sind und auch Begründungen
bzw. Vorschläge für Alternativpräparate fehlen.
Sehr hilfreich wäre ein Arzneimittelinformationszentrum, wo Experten der
Pharmakologie bzw. Pharmazie Medikamentencocktails auf Anfrage der Ärzte
durchchecken und Änderungsvorschläge anbieten. So ähnlich wie es mit großen
Erfolg in den skandinavischen Ländern schon seit einigen Jahren angeboten wird
und dessen ökonomischer Nutzen eindeutig aufgezeigt werden konnte.
Als Faustregel gilt: Wenn aufgrund mehrerer Erkrankungen die Zahl der
verschriebenen Medikamente nicht reduziert werden kann, so sollte bei der
Auswahl der einzelnen Vertreter einer Indikationsgruppe besonders auf
Nebenwirkungen und das Wechselwirkungspotential geachtet werden.
Man unterscheidet prinzipiell zwischen pharmakodynamischen und pharma-
kokinetischen Wechselwirkungen, wobei bei Multimedikation natürlich beide
Typen überlappend vorliegen können und die Gefahr einer klinischen Sympto-
matik verstärken können.
Die pharmakodynamischen sind immer dann zu erwarten, wenn zwei
Wirkstoffe an einem Rezeptor, einem Erfolgsorgan oder in einem Regelkreis
synergistisch oder antagonistisch wirken. Sie unterliegen zumeist weniger inter-
individuellen Schwankungen als die pharmakokinetischen Interaktionen. In
dem eingangs beschriebenen Beispiel war sicherlich die gleichzeitige Verab-
reichung von 4 verschiedenen bradykardisierenden Medikamenten (Amiodaron,
ß-Blocker, Digitalis und Azetylcholinesterasehemmer) ein wesentlicher Verur-
sacher von Sturz, Verwirrung und massiv reduzierter Herzfrequenz.
Beispiele für pharmakodynamische Interaktionen:
– Hyperkaliämie
Seit die RALES-Studie aufgezeigt hat, dass die zusätzliche Gabe von niedrig-
dosierten Spironolakton (25–50 mg/Tag) zu ACE-Hemmern bzw. Sartanen bei
Herzinsuffizienz einen entscheidenden gefäßprotektiven Gewinn bringen
kann, ist die Zahl der Krankenhauseinweisungen aufgrund von Hyperkaliä-
mie von 2,4/1000 Patienten 1994 auf 11/1000 Patienten 2001 angestiegen!
(Juurlink 2004). Oft wurde dabei ein Einsatz von 50–100 mg Spironolakton
beschrieben! Gerade beim diabetischen Patienten, aber auch bei der zusätzli-
chen Gabe von NSAR sollten die Elektrolyte häufig kontrolliert werden, um
Spitalseinweisungen aufgrund von Herzrhythmusstörungen bzw. Nieren-
funktionsverminderung bei bestehenden Nierenschäden zu verhindern.
– Hyponatriämie
Vor allem bei alten und sehr alten Patientinnen stellt die Hyponatriämie
(Na < 135 mmol/l) eine große Gefahr für ein erhöhtes Sturzrisko, aber auch
erhöhte Krampfneigung dar. Die ersten Symptome eines Natriummangels
sind reduzierter Allgemeinzustand, Schwäche, Müdigkeit, Übelkeit und Er-
brechen. Neben verschiedenen Erkrankungen wie Lungenerkrankungen,
Herzinsuffizienz, Leberinsuffizienz, onkologischen Erkrankungen, können
auch viele Arzneistoffe Hyponatriämien verursachen bzw. verstärken (Abb. 1).
200 M. Anditsch

Dabei sollte man besonders auch auf Psychopharmaka, besonders Oxkarba-


zepin, Karbamazepin, aber auch Antidepressiva (z. B. SSRI, SNRI, trizyklische
Antidepressiva) achten, die durch eine verstärkte Vasopressinfreisetzung zu
einer hypoosmolaren Hyponatriämie führen können (SIADH Syndrom).
Dauersubstitutionen von peroralen Natriumchloridkapseln führen bei weiter
bestehen dieser Arzneimittel nicht zum Erfolg.

Cytochrom P450 3A4

Inhibitoren von CYP 3A4 Induktoren von CYP 3A4


Fluconazol, Ketokonazol, Barbiturate
Itraconazol, Amiodaron, Carbamazepin, Phenobarbital
Verapamil, Diltiazem Phenytoin
Erythromycin, Clarithromycin Johanniskraut,
Fluvoxamin, Fluoxetin, Rifampicin, Glucocorticoide
Metronidazol, Voriconazol,
Proteaseinhibitoren
Cimetidin, Grapefuitsaft, Propofol

Substrate von CYP 3A4


Alprazolam, Midazolam, Triazolam,
Diazepam, Zolpidem, Atorvastatin,
Konz. Simvastatin, Lovastatin, Buspiron, TCA, Konz.
Trazodon, Mirtazapin, Fentanyl, Methadon
Amlodipin, Nifedipin, (Es) Omeprazol
Hydrocortison, Paracetamol, Coumarine
Sildenafil, Theophyllin, ...

Abb. 1.

– Delir
Delir durch Kombination anticholinerger Substanzen: Beim alten Patienten
sollten anticholinerg wirkende Substanzen wenn möglich vermieden werden.
Das gilt besonders für demente Patienten oder Patienten im Prädemenz-
stadium, bei denen eine weitere Abnahme des zentralen Azetylcholin zu
einer massiven Verschlechterung des Zustandes führen kann. Mehr als drei
solcher Medikamente in Kombination steigern das Risiko für ein Delir um
das 10-fache! Infekte (Pneumonie, Harnwegsinfekt,), Operationen, Exikose,
psychische Belastung wirken dabei noch zusätzlich als Risikofaktor.
Medikamentencocktails im Alter 201

Tabelle 1. Medikamente, die eine Hyponatriämie induzieren

Gruppe 1: Interaktion mit der renalen Natrium-Ausscheidung


– Karboanhydrasehemmer
– zykl. Amidinderivate (Amilorid, Triamteren)
– Osmodiuretika
– Schleifendiuretika
– Thiaziddiuretika
Gruppe 2: Interaktion mit dem Renin-Angiotensin-Aldosteron System (RAAS)
– Aldosteron-Antagonisten
– Angiotensin-II-Rezeptor-Antagonisten (Sartane)
– Angiotensin-Converting-Enzym (ACE)-Hemmer
– Heparine
Gruppe 3: SIADH
– Antiarrhythmika
– Antikonvulsiva
– Antipsychotika
– Benzodiazepine
– Dopamin-Rezeptor-Agonisten
– Monoaminooxidase-(MAO)-Hemmer
– NARI (selten)
– Nikotinersatztherapie
– NSAR
– Opioide
– Protonen-Pumpen-Inhibitoren (PPI, nur Omeprazol und Esomeprazol)
– SNRI
– SSRI
– Tetrazyklische und trizyklische Antidepressiva
– Vasopressin-Analoga
– Zytostatika
Gruppe 4: Sonstige Ursachen
– NK-1-Rezeptor-Antagonisten
– Sulfonylharnstoffe
Gruppe 5: Theoretisch möglich
– Azetylcholinesterasehemmer (Erbrechen)
– Antibiotika (Erbrechen und Durchfall)
– Ergotpräparate (Erbrechen)
– Herzglykoside (Erbrechen)

Quellen:
– Ellison DH, Berl T (2007) The syndrome of inappropriate antidiuresis. NEJM 356: 20
– Manger MA (2007) New agents for managing hyponatremia in hospitalized patients. Am J Health
Syst Pharm 64: 253–265
– Luippold G (2007) Hyponatriämie durch Antidepressiva? Arzneimitteltherapie 25: 306–307
– Austria-Codex Fachinformation 2007/2008. Österreichische Apotheker, Wien
– Foulanos S, Greenberg P (2003) Managing drug-induced hyponatremia in adults. Australian Pre-
scriber 26: 114–117
– Yeates KE, Singer M, Morton RA Salt and water: a simple approach to hyponatremia.
http://www.cmaj.ca/cgi/content/full/170/3/365
202 M. Anditsch

Nicht nur die direkten Parasympatholytika mit ZNS-Gängigkeit haben zent-


rale anticholinerge Wirkungen bzw. Nebenwirkungen, sondern auch eine
Vielzahl anderer Substanzen. Zu überlegen ist also auch der länger dauernde
Einsatz so gebräuchlicher Präparate wie Dominal forte“, Saroten“ bei
Schlafstörungen, oder Ditropan“ bei Inkontinenz.
Pharmakokinetische Interaktionen sind arzneistoffspezifisch und von vielen
Faktoren wie Resorption, Verteilung, Metabolismus und damit Organfunktio-
nen, Alter, Geschlecht, genetischen Faktoren, Nahrungsaufnahme abhängig.

Der Metabolismus in der Leber über das Zytochrom-P450-System spielt da-


bei mit eine entscheidende Rolle: Vor allem bei der Verabreichung von Inhibito-
ren kann die Plasmakonzentration eines Wirkstoffes, der gerade über dieses ge-
hemmte Unterenzym abgebaut werden sollte, massiv ansteigen und die Gefahr
von Nebenwirkungen zunehmen. Es sollte bei Multimedikation vor allem dem
Einsatz von Arzneistoffen, die weder Hemmer noch Induktoren dieses Enzym-
systems sind, der Vorrang gegeben werden. Am idealsten sind Stoffe, die über-
haupt nicht über das CYP-System abgebaut werden. Innerhalb einer Indika-
tionsgruppe unterscheiden sich die Vertreter hinsichtlich ihres Abbauweges
entscheidend (s. Abb. 2: Antidepressiva).

CYP 450 Inhibitoren


3A4 1A2 2D6 2C19
Bupropion 0 0 +++ 0
Escitalopram 0 0 + 0
Citalopram 0 0 + 0
Fluoxetian +++ 0 +++ +
Fluvoxamin + ++ +++ +++
Paroxetin +++ 0 +++ +
Sertralin 0/+ 0 0 0/+
Venlafaxin 0 0 +/++ 0
Handbuch Psychopharmaka Bandelow, 2004; De Battista 2005;
Interaktionen für die Kitteltasche Ziegelmeier 2003; Fachinformation

Abb. 2. Antidepressiva

Amiodaron ist einer der stärksten Inhibitoren zahlreicher Untergruppen des


CYP-450-Systems und kann die Plasmakonzentration von vielen Substanzen,
wie ß-Blockern, bestimmten Azetylcholinesterasehemmern (Donepezil, Ga-
lanthamin), bestimmten Statinen (Simvastatin, Atorvastatin, Lovastatin) klinisch
relevant erhöhen (siehe Tabelle 1).
Medikamentencocktails im Alter 203

Nicht auf den Grapefruitsaft zu vergessen, dessen Flavonoide eine ausgepräg-


te CYP-3A4-hemmende Wirkung ausüben. (Bereits 2 Gläser a 200 ml 100%iger
Saft hemmen sowohl den Abbau, als auch den Transport vieler gleichzeitig ver-
abreichter Arzneistoffe über 6 Stunden.) Johanniskrautextraktpräparate dagegen
erhöhen den Abbau von Phenprocoumon, Statine und Virustatika, wodurch un-
zureichende Wirkspiegel auftreten können (Abb. 3).
Bei kinetischen Interaktionen spielen aber auch andere Mechanismen, wie
die Beeinflussung des PGP (P-Glykoprotein) bei der Ausscheidung vieler Arznei-
stoffe oder die gegenseitige Beeinflussung der tubulären Resorption (Li mit
NSAR, ACE-Hemmern, Diuretika), die Verdrängung aus der Plasmaproteinbin-
dung und Erhöhung des freien und wirksamen Wirkstoffanteils (z. B. NSAR und
Phenprocoumon) eine nicht unwesentliche Rolle.

Wechselwirkungen mit Nahrungsmitteln

Komplexbildung
Mit Ballaststoffen: Mit Eiweiß: Mit Ca, Mg, Zn, Al:
Digoxin Phenprocoumon Quinolone
L-Thyroxin Doxycyclin
Metformin
Penicillin

Konkurrenz beim Transport


Levodopa, Carbidopa
L-Thyroxin Konkurrenz mit AS
Theofillyn (Wirkverlust)
Leibovich et al.; Gerialtircs 2004
Huang et al.; J Clin Pharmacol, 2004
Wonnemann et al.; Int J Clin Pharmaco Ther 2006

Abb. 3.

Markante Beispiele für solche Interaktionen sind z. B.


– Die gleichzeitige Gabe von L-Dopa mit der Nahrung: L-Dopa wird dabei
nicht resorbiert, da die Aminosäuren der Nahrung den Transportweg blockie-
ren. Es ist für einen optimalen Therapieerfolg unbedingt nötig, L-Dopa-
Präparate mindestens 45 Minuten vor dem Essen zu verabreichen.
– Magensäurehemmer (Antazida, H2-Blocker, Protonenpumpenblocker) er-
höhen den pH-Wert des Magens , wodurch die Resorption von Eisen, Vitamin
B12, Itrakonazol und auch Cefuroxim und Cefpodoxim reduziert werden
kann.
204 M. Anditsch

Tetrazykline und Gyrasehemmer sollten nicht in Kombination mit zweiwer-


tigen Ionen (Antacida, Kalzium, Magnesium, Milch, ...) eingenommen wer-
den, da ebenfalls durch Komplexbildung unzureichende Wirkspiegel erreicht
werden.
Cholestyramin hemmt die Resorption von Kumarinderivaten, Schilddrüsen-
hormonen, Tetrazyklinen
Quetiapin, Ziprasidon, Spironolakton, Phenytoin, sollten mit der Nahrung
eingenommen werden, um ihre Bioverfügbarkeit zu erhöhen.
Bisphosphonate und Schilddrüsenhormone unbedingt nüchtern, sonst keine
Wirkspiegel

Zusammenfassung

Die Verabreichung von „Medikamentencocktails“ ist besonders beim alten


Patienten mit schon eingeschränkter Organfunktionen und verändertem Anspre-
chen auf viele Arzneien ein großes Problem:
– Unregelmäßige Einnahme der Medikamente
– Gefahr der Verwechslung
– Verstärktes Auftreten klinisch relevanter Nebenwirkungen und Wechselwir-
kungen der Medikamente sind die Folge.
Es sollte daher:
– beim alten multimorbiden Patienten die bestehende medikamentöse Thera-
pie regelmäßig auf Ansprechen und Verträglichkeit hin überprüft werden.
– trotz des Trends der „Guideline-orientierten Therapie“ unter Berücksichti-
gung der individuellen Situation das eine oder andere „empfohlene “ Medi-
kament weggelassen werden.
– bei der Auswahl der einzelnen Vertreter einer Indikationsgruppe besonders
auf Nebenwirkungen und Wechselwirkungspotential (Dosisanpassungen bei
Nierenschäden, Interaktionen mit anderen Arzneimitteln, Nahrungsmitteler-
gänzungen, Nahrung,…) geachtet werden.
– Jeder Wechsel von einem Ursprungspräparat auf ein Generikum bzw. auf ein
anderes Generikum bedeutet beim alten Patienten Neueinstellung mit inten-
sivierter ärztlicher Betreuung und Verunsicherung des Patienten in seine The-
rapie, Verschlechterung der Compliance und des Therapieerfolges speziell
beim Einsatz von Antiepileptika, Psychopharmaka und Opiaten, wo die psy-
chische Komponente beim Therapieerfolg eine besondere Rolle spielt.
– Gute Dokumentation von UAWs und regelmäßiger Austausch mit den Kolle-
gen erhöht die Sicherheit in die Verabreichung von Arzneimitteln bei Multi-
morbidität (Abb. 3).

Literatur
Literatur beim Verfasser
Revision

Hörgerät, Rollator, Badelift & Co. – Hilfsmittel und


Heilbehelfe in Alltag und Pflege

I. MÜLLER
I. Müller

Allgemeines
Es beginnt schleichend, aber plötzlich ist es so weit: Unsere Arme sind nicht
mehr lang genug, um die Speisekarte beim Lieblingsitaliener zu entziffern. Es
schmerzt, sich einzugestehen: Die Arme sind nicht der eigentliche Grund dafür!
Auch wenn der erste Weg zum Augenarzt oder Optiker für viele mit Wehmut
verbunden ist, so wird er doch von fast allen Menschen früher oder später be-
schritten. Dabei speist sich die Wehmut keineswegs aus dem Nachlassen der
Sehschärfe an sich, sondern aus dem, was wir landläufig damit verbinden: dem
endgültigen Abschied von der Jugend, dem ersten Wink des Älterwerdens. Doch
die Tatsache, dass auch wesentlich jüngere Menschen einer Brille bedürfen, ver-
mag uns in vielen Fällen zu trösten.
Und was, wenn unser Gehör nachlässt?
Sehhilfen und Hörgeräte gehören zu den bekanntesten und verbreitetsten
Hilfsmitteln, die schon seit Jahrhunderten (von der Lupe zur Kontaktlinse, vom
Hörrohr zum digitalen Hörgerät) dazu beitragen, uns den Alltag zu erleichtern,
wenn wir uns auf unsere Sinne nicht mehr ausreichend verlassen können.
Schlagen wir im Duden nach, so finden wir unter dem Stichwort Hilfsmittel
folgende Erklärung: Ein Hilfsmittel ist ein „…Mittel zur Arbeitserleichterung oder
zur Erreichung eines bestimmten Zweckes.“
Unser ganzes Leben lang arbeiten wir an der Verwirklichung von Zwecken
und Zielen. Daher begleiten uns Hilfsmittel im weiteren Sinn vom ersten Lebens-
tag an: Bereits das Baby beruhigt sich mit Schnuller schneller als ohne, eine Win-
del schützt es vor Nässe und Wundwerden. Spielsachen und Lernmaterialien
helfen dem Kleinkind beim Erfassen der Umwelt und ihrer Geheimnisse. Fläsch-
chen, Schnabeltassen und speziell geformte Löffel unterstützen es beim Essen
und Trinken. Brillen und Kontaktlinsen schärfen – soweit nötig – bereits den
Blick auf die Schultafel. Später korrigieren orthopädische Einlagen leichte Fehl-
stellungen der Füße, Zahnspangen sorgen für ein werbetaugliches Lächeln, Ban-
206 I. Müller

dagen stützen Gelenke, die wir im Sport über Gebühr beanspruchen. Wander-
stöcke stützen uns in unebenem Gelände oder sorgen für die gleichmäßige Be-
anspruchung möglichst vieler Muskeln.
Der Begriff Hilfsmittel im engeren Sinn wird durch die jeweilige Sozialgesetz-
gebung und das Leistungsangebot der verschiedenen Krankenkassen erläutert.
So definiert beispielsweise das deutsche Sozialgesetzbuch für den Bereich der
Rehabilitation Hilfsmittel als „…Gegenstände, die im Einzelfall erforderlich sind, um
den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzu-
beugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit sie nicht als allgemeine Ge-
brauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind (SGB § 33).“
Eine Untergruppe der Hilfsmittel bilden die sog. Heilbehelfe oder Heilmittel.
Heilbehelfe (Heilmittel) dienen – in jedem Alter – der Heilung und Linderung von
Krankheitszuständen. Zu ihnen zählen etwa Inhalatoren, Sauerstoffgeräte,
Gummistrümpfe und dgl.
Was wir über Jahre als selbstverständlich erachten, kann ganz schnell einen
unangenehmen Beigeschmack bekommen. „Von heute auf morgen“, so scheint
es, durch einen Sturz, einen Schlaganfall oder eine Erkrankung, sehen wir uns
gezwungen, Hilfsmittel auch in Lebensbereichen zuzulassen, für die unsere Kör-
perkräfte bislang völlig ausreichten: für den täglichen Plausch mit der Nachbarin,
beim Fernsehen, auf dem Weg zum Supermarkt an der Ecke, in der Körperpflege
oder zur Ausscheidung.
Das Nachlassen der eigenen Sinne und Kräfte wird von vielen Menschen als
massive Beschädigung ihrer körperlichen und seelischen Integrität erlebt. Das ei-
gene Selbstbild, die selbst zugeschriebene Identität, geraten ins Wanken. Noch
mehr als den faktischen Verlust an Gesundheit und Kraft fürchten viele Patienten
die Wahrnehmung durch andere Menschen als „alt“, „gebrechlich“, als „hoff-
nungsloser Pflegefall“. Diese nicht unberechtigte Angst kann emotional stark be-
setzte Abwehrreaktionen auslösen. Gefühle wie Wut, Verzweiflung und Scham
über die eigene Lebenssituation wenden sich häufig gegen die Hilfsmittel, die
zum Ausgleich der verlorenen Fähigkeiten dienen sollen – und gegen Personen
(in erster Linie pflegende Angehörige und professionell Pflegende), die deren
Gebrauch oft recht vehement nahelegen. Nicht wenige alte und pflegebedürftige
Menschen stehen dem Einsatz von Hilfsmitteln ablehnend gegenüber, da sich in
ihrem Gebrauch die eigene Gebrechlichkeit, ihre persönliche Kränkung, nach
außen manifestiert. Die Reaktionen auf gut gemeinte Angebote schwanken zwi-
schen Abwehr – „Ich brauche doch noch keinen Rollator/Badewannenlift…!“, Hoff-
nungslosigkeit – „Was soll das in meiner Situation noch nützen!“ und Rationalisie-
ren – „Wenn ich jetzt diesen Rollator verwende, lerne ich nie mehr, selbständig und
sicher zu gehen!“ Aus den genannten Gründen erscheint aber eine Reduktion der
Erklärung für die Abwehrhaltung auf „Eitelkeit“, „Starrsinn“ oder „Sich-gehen-
Lassen“ als kurzsichtig und kontraproduktiv.
Niemand kann zum Gebrauch von Hilfsmitteln gezwungen werden. Oft ste-
hen daher Angehörige und Pflegende der Ablehnung notwendiger oder sinnvol-
ler Behelfe hilflos gegenüber. Nur durch einen sensiblen Beziehungsaufbau zum
betroffenen Patienten, durch Wertschätzung seiner Selbstwahrnehmung und
Hörgerät, Rollator, Badelift & Co. – Hilfsmittel und Heilbehelfe in Alltag und Pflege 207

Stärkung seiner Identität, Einlassen auf seine Bedenken und Ängste, die aktivie-
rende Förderung seiner Entscheidungskompetenz und unter Bereitstellung des
eigenen Fachwissens kann es gelingen, Motivationsarbeit zu leisten und die Vor-
teile des Gebrauchs notwendiger Hilfsmittel und Heilbehelfe im Alltag und in
der Pflege erfolgreich zu kommunizieren.

Hilfsmittel und Heilbehelfe für Alltag und Pflege

Zeitlebens leiten wir unsere Lebensqualität aus dem Maß unserer körperlichen
und seelischen Integrität und der Befriedigung unserer diesbezüglichen Bedürf-
nisse ab. Während eines Großteils dieser Jahre befinden wir uns meist auch in
der glücklichen Lage, über ausreichend individuelle und soziale Ressourcen zu
verfügen, unser Leben adäquat zu führen und viele unserer Wünsche zu erfüllen.
Lassen unsere Gesundheit und unsere Kräfte nach, laufen wir damit auch in Ge-
fahr, ein Stück Lebensqualität einzubüßen.
Der Verzicht auf notwendige Hilfsmittel und Heilbehelfe zum Ausgleich der
verlorenen Fähigkeiten birgt viele Gefahren: Denn Hilfsmittel erleichtern nicht
nur die Bewältigung des Alltags und der Pflege, sie tragen auch viel zur sozialen
Integration und Sicherheit des Menschen bei, der sie anwendet.
Dazu einige Beispiele:
„Wer ein Hörgerät benützt, hört wieder besser als vorher.“ So kurz und bündig
könnte die Wirkung eines gut eingestellten und gewarteten Hörgeräts beschrie-
ben werden.
Oder aber: Menschen, die auf Grund ihrer Schwerhörigkeit Gesprächen nicht
mehr folgen können, neigen unter Umständen dazu, verbale und nonverbale
Äußerungen anderer – der Angehörigen, Nachbarn, Bekannten oder Pflegenden
– falsch zu interpretieren oder fälschlich auf sich zu beziehen. Die Folgen davon
sind nicht selten Missverständnisse, Verunsicherung und ein Rückzug aus der
Gesellschaft – einerseits, um nicht „aufzufallen“, andererseits aus Misstrauen ge-
gen eine unverständlich gewordene Umwelt. Dadurch werden aber stimulieren-
de sensorische Umweltreize immer seltener und beschränkter aufgenommen
und verarbeitet. Daraus resultierende Informationsdefizite können zu stark ver-
einfachter, eindimensionaler Wahrnehmung, zur Verminderung geistiger Tätig-
keit, zur Rückbildung der Handlungskompetenz, zu Vereinsamung und Depres-
sion, letztlich zu vermehrter Betreuungs- bzw. Pflegebedürftigkeit führen. Ein
sorgfältig eingestelltes und gewartetes Hörgerät kann zwar die verloren gegange-
ne Hörfähigkeit nicht wiederherstellen, ermöglicht aber weitgehend störungs-
freie Kommunikation mit anderen Menschen, eine ausreichende Versorgung mit
stimulierenden sensorischen Reizen und beugt überdies einem Voranschreiten
des Hörverlustes vor. Es fördert die soziale Integration seines Benutzers und trägt
somit beträchtlich zu seiner Lebensqualität bei.
Gehhilfen erleichtern die Fortbewegung und verringern die Sturzgefahr.
80 % aller Verletzungen von Menschen über 60 Jahre sind auf Stürze – meist im
eigenen Wohnbereich – zurückzuführen. Allein in Deutschland ereignen sich
208 I. Müller

jährlich etwa 9000 tödliche Unfälle in privaten Haushalten. Die Konsequenzen


des „Ausrutschens“ oder „Stolperns“ sind auch im Überlebensfall nicht selten
erheblich. Für manch älteren Menschen endet damit abrupt der Wunsch nach ei-
nem Lebensabend in den eigenen vier Wänden. Die Benützung von Gehhilfen
trägt daher unter Umständen auch dazu bei, möglichst lange selbstbestimmt und
autonom in der eigenen Wohnumgebung bleiben zu können. Gehhilfen erwei-
tern den räumlichen Aktionsradius ihres Benutzers, erleichtern somit das Auf-
rechterhalten sozialer Kontakte und tragen somit beträchtlich zur Lebensqualität
bei.
Da jedoch auch Gehhilfen nicht jeden Unfall verhindern können, ist außer-
dem darauf zu achten, dass zumindest die Unfallfolgen durch rechtzeitige Entde-
ckung und Heilbehandlung weitgehend in Grenzen gehalten werden können. So
liegt etwa bei der Behandlung von Oberschenkelhalsbrüchen – die nicht selten
eine dauerhafte Pflegebedürftigkeit auslösen – die oberste Priorität auf der mög-
lichst schnellen Stabilisierung des Bruches, damit die Betroffenen so schnell wie
möglich wieder auf die Beine kommen und mobilisiert werden können. In die-
sem Sinn kann die Verwendung eines Mobiltelefons, eines Notruftelefons oder ei-
ner anderen Form von Alarmsystem wertvolle Dienste für die Akutversorgung
leisten.
Es wäre aber zu kurz gegriffen, das Thema „Hilfsmittel“ ausschließlich unter
dem Aspekt der Sicherheit und Lebensqualität für alte, kranke und pflegebedürf-
tige Menschen zu betrachten. Denn gerade in Pflegesituationen gilt es, auch die
Gesundheit und Lebensqualität von pflegenden Angehörigen und professionel-
len Pflegepersonen ins Zentrum des Interesses zu rücken.
Pflegende sind im Pflegealltag großen körperlichen Belastungen ausgesetzt,
die selbst bei Anwendung grundlegender ergonomischer Bewegungs- und Trans-
ferprinzipien nicht selten zu arbeitsbedingten Muskel- und Skeletterkrankungen
(vgl. Lehmann 2007) führen können. Hilfsmittel wie Transferhilfen (Rutschbret-
ter, Drehscheiben), Badehilfen (Sitzbretter, Badewannenlift), dreiseitig zugängli-
che Pflegebetten, Umlagerungshilfen etc. sorgen für die körperliche und seeli-
sche Entlastung der Pflegenden und beugen Gesundheitsschäden und Burnout
vor. In diesem Zusammenhang können Hilfsmittel auch dazu beitragen, die
Drop-out-Rate unter den Pflegenden zu verringern und die Pflege in den eige-
nen vier Wänden so lange wie möglich sicherzustellen.
Vor allem professionelle Pflegedienste sehen sich zudem mit der Verpflich-
tung konfrontiert, ihren Patienten und deren Angehörigen größtmögliche physi-
sche Sicherheit im Pflegeprozess zu garantieren. Unabdingbare Voraussetzung
zur Schadensvermeidung kann in manchen Fällen der Einsatz geeigneter Hilfs-
mittel sein. Es liegt also im ureigensten Interesse von Pflegenden, sich über das
aktuelle Angebot, die Anbieter und die Finanzierungsmöglichkeiten am Laufen-
den zu halten. Pflegeorganisationen sind gut beraten, Standards zur Verwendung
von Hilfsmitteln zu erstellen und eine sorgfältige Dokumentation über ihren Ein-
satz (bzw. über die Ablehnung ihres Einsatzes) zu führen, um Schadenersatzan-
sprüchen – etwa nach einer Verletzung im Zuge eines Transfers vom Bett in den
Rollstuhl – hintanzuhalten.
Hörgerät, Rollator, Badelift & Co. – Hilfsmittel und Heilbehelfe in Alltag und Pflege 209

Die folgende Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, soll


aber einen groben Überblick über das aktuelle Angebot zur Erreichung spezifi-
scher Ziele geben:

Hilfsmittel zur Sicherung beim Gehen und Stehen:


– Gehstöcke
– Vierfußgehstöcke
– Achselstützen
– Krücken
– Rollatoren (auch mit integriertem Einkaufskorb)
– Hüftprotektoren
– Sicherheitswandgriffe
– Rutschfeste Matten für Bad und Dusche

Hilfsmittel zur Sicherung der Fortbewegung gehunfähiger Personen:


– Rollstühle (mechanisch, elektrisch)
– Elektrofahrzeuge

Hilfsmittel zur Sicherung beim Bücken und Beugen:


– Stockhalter für Gehstöcke oder Krücken
– Lange Schuhanzieher/Schuhlöffel
– Strumpfanzieher, Ausziehstäbchen, Anziehhilfen (Erlernen der Technik erfor-
dert geistige Fähigkeiten, nicht geeignet für demente Personen)
– Handfeger/Kehrblech mit langem Griff
– Greifhilfen zum Aufheben von Gegenständen

Hilfsmittel zur Sicherung beim Aufstehen/Niedersetzen:


– Sicherheitswandgriffe
– Bettgalgen
– Toilettensitzerhöhung
– Sitzkissen mit Aufstehhilfe
– Möbelerhöhungen (für Stühle, Couchen, Betten etc.)
– Katapultsitz

Hilfsmittel zur Sicherung der häuslichen Pflege:


– Badewannenlift
– Sitzbretter, Duschstühle, Duschklappstühle
– rutschfeste Matten
– Gleitlaken / Gleitmatten
– Betterhöhungen
– Elektrisch höhenverstellbare Einlegerahmen
– Pflegebetten
– Motorbetriebene Antidekubitussysteme
– Fahrbare Zimmertoilette
210 I. Müller

– Heimbeatmungsgeräte
– Rutschbretter zum Transfer
– Drehscheibe zum Umsetzen

Herbeirufen von Hilfe:


– Festnetztelefon mit mobilem Sprechgerät
– Mobiltelefon
– Großtastentelefone, Bildtastentelefone
– Notrufsysteme mit Handsender („Alarmknopf“)
– Notrufsysteme mit Falldetektor (regiert auf Erschütterungen)

Kenntnisse über die Beschaffung und den Einsatz von Hilfs- und Heilmitteln
gehören zur Grundqualifikation von Pflegekräften. Der optimale Nutzen derarti-
ger Behelfe kann jedoch nur im Zusammenhang mit einer Analyse der Wohnsi-
tuation/Pflegeumgebung bzw. der individuellen Ressourcen des Patienten erzielt
werden. Gezielte Beratung in dieser Hinsicht findet man bei Anbietern von Sozi-
alen Diensten, Wohlfahrtsverbänden, ErgotherapeutInnen und Pflegefachkräften.

Wie kommt man zu Hilfsmitteln und Heilbehelfen/


Heilmitteln?

Hilfsmittel und Heilbehelfe sind grundsätzlich in ausreichender und zweckent-


sprechender Ausführung im Fachhandel (Sanitätshäuser) und in handwerklichen
Fachbetrieben (Bandagisten, Orthopädieschuhmacher, Orthopädietechniker, Op-
tiker), in Apotheken oder bei Wohlfahrtsverbänden zu unterschiedlichen Preisen
erhältlich. Ein Preisvergleich zwischen unterschiedlichen Anbietern lohnt sich.
Heilbehelfe und Hilfsmittel im engeren Sinn erhält man in der Regel über ärztli-
che Verordnung und in spezifischen Fällen nur nach Bewilligung durch den zustän-
digen Versicherungsträger.
Die gesetzlichen Regelungen über die Bewilligung von Hilfsmittel und Heil-
behelfe finden sich im Österreichischen Recht in den §§ 137, 154, 154 a und 202
ASVG (Allgemeines Sozialversicherungsgesetz) und in den Satzungen der ein-
zelnen Krankenkassen. In Deutschland normieren die §§ 32 und 33 SGB (Sozial-
gesetzbuch) den Anspruch auf den Bezug von Hilfsmitteln und Heilmitteln. Das
Schweizer Rechtssystem regelt die Abgabe von Hilfsmitteln in der Verordnung
zur Abgabe von Hilfsmitteln durch die Altersversicherung (SR 831.135.1) und die
Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung
(SR 831.232.51)
Die Erstversorgung mit verordneten und bewilligten Hilfsmitteln und Heilbe-
helfen geschieht meist durch die oben genannten Fachbetriebe. In der Folge ent-
steht ein neuerlicher Anspruch erst dann, wenn der Behelf kaputt oder auf
Grund anatomischer Veränderungen nicht mehr zu gebrauchen ist (sofern weder
Vorsatz, grobe Fahrlässigkeit noch Missbrauch vorliegen). Im Regelfall bieten die
Fachbetriebe jedoch bereits im Vorfeld fachkundige Beratung an, schulen ihre
Hörgerät, Rollator, Badelift & Co. – Hilfsmittel und Heilbehelfe in Alltag und Pflege 211

Kunden in der Bedienung und Handhabung der Behelfe sorgfältig ein und ste-
hen auch in der Folge als Ansprechpartner bei Problemen in der Anwendung, für
Serviceleistungen, Reparatur, Wartung und Justieren zur Verfügung.
Sowohl für Hilfsmittel als auch für Heilbehelfe ist vom Versicherten bzw. von
Angehörigen ein Kostenanteil zu leisten. Die Kostenübernahme durch die jewei-
lige Krankenkasse erfolgt bis zu einer in deren Satzung festgesetzten Höhe.
Manche Versicherungsträger – aber auch Wohlfahrtsverbände – stellen bestimm-
te Hilfsmittel und Heilbehelfe (Krankenfahrstühle, Sauerstoffgeräte, Notrufsys-
teme und dgl.) leihweise oder zur Miete zur Verfügung bzw. vermitteln den Kon-
takt zu entsprechenden Anbietern. Es ist daher unbedingt empfehlenswert, sich
vor dem Erwerb von Hilfsmitteln oder Heilbehelfen mit dem jeweiligen Sozial-
versicherungsträger in Verbindung zu setzen, um sich über das angebotene Leis-
tungsspektrum, die Bewilligungserfordernisse, die medizinischen Voraussetzun-
gen und die Höhe der Kostenbeteiligung zu informieren.
Nicht alle Hilfsmittel in Alltag und Pflege sind teuer oder nur in mühsamer
Recherchearbeit von Versicherungsträgern, Wohlfahrtsverbänden oder gewerbli-
chen Anbietern zu beziehen. In vielen Fällen können kleine Maßnahmen und
technische Hilfen den Alltag und die Pflege erleichtern. So kann es da und dort
ausreichend sein, zu bestimmten Zwecken auf einfache, ihrer ursprünglichen Be-
stimmung entfremdete Objekte des Alltags zurückzugreifen. Ein stabiler, rutsch-
fester Gartensessel kann beispielsweise in der Dusche ebenso gute Dienste leis-
ten wie ein teures Markenprodukt aus dem Sanitätshaus. Selbst bemalte Schilder
mit plakativen Symbolen, an den Zimmertüren angebracht, erleichtern demenz-
kranken Menschen die Orientierung im eigenen Wohnumfeld, Wasserkocher
verhindern, dass der Herd überhitzt. Der Kreativität und Findigkeit sind hinsicht-
lich der Hilfen zur Alltagsbewältigung und der Verbesserung der Lebensqualität
alter Menschen keine Grenzen gesetzt.
In diesem Sinn sei abschließend auf die größte Ressource verwiesen, die al-
ten, kranken und pflegebedürftigen Patienten das Leben erleichtern: die
menschliche Zuwendung.

Literatur
Lehmann Iris (2007) Krankenstände senken – Motivation steigern: Arbeitsschutz in der Häusli-
chen Pflege durch Hilfsmitteleinsatz und Schulung. Häusliche Pflege 12: 43–45
Revision

Überleitung palliativer Patienten in den


häuslichen Bereich

A. PARTHUM und D. MÄRKERT


Überleitung palliativer Patienten in den häuslichen Bereich
A. Par thum und D. Mär ker t

Einleitung

Die negative Folge des rasanten medizinischen Fortschrittes ist die Institutionali-
sierung des letzten Lebensabschnittes (Brathuhn 1999). Der Kampf der kurativ
ausgerichteten Medizin um das Leben ist gleichsam ein Kampf gegen den Tod.
Zeitgleich wuchs der Wunsch, dem Prozess des Sterbens die Würde zu erhalten.
Somit entwickelte sich die Palliativbetreuung mit den Schwerpunkten Schmerz-
therapie und Symptomkontrolle. Der Beginn der Palliativversorgung in Deutsch-
land ging zunächst mit der Verortung in speziellen Stationen und Hospizen ein-
her (Schindler et al. 2000). Viele Menschen scheiden daher in Einrichtungen des
Gesundheitswesens aus dem Leben.
Die Rolle von Angehörigen und engen Freunden hat sich im Zuge dessen ge-
ändert, es fehlen häufig Erfahrungen im Umgang mit Sterbenden (Kern 2000).
Bei den meisten besteht der Wunsch, zuhause, in vertrauter Umgebung, sterben
zu können. Wird man nun mit der Situation konfrontiert, einen Menschen auf
seinem letzten Weg zu begleiten, können Ängste, das Gefühl von Überforderung
oder der Unsicherheit, das richtige zu tun, die Folge sein (Kern 2001). Auch
Hausärzten fehlen häufig eingehende Erfahrungen in der Versorgung von Pallia-
tivpatienten, was zu unbefriedigender Schmerztherapie und Symptomkontrolle
führen kann (Kern 2000).
In diesem Abschnitt werden einige Problembereiche der Überleitung von Pa-
tienten in die häusliche Versorgung erörtert und Entscheidungshilfen angeboten.
Dabei stehen Patienten mit dem Bedarf palliativer Versorgung im Vordergrund, da
eine Optimierung in dieser Situation nach wie vor die größte Herausforderung
an alle Beteiligten stellt.
Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin definiert ihr Aufgabenfeld „in
der Behandlung und Betreuung von Patienten mit einer nicht heilbaren, progre-
dienten und weit fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwar-
214 A. Parthum und D. Märkert

tung.“ (DGP 2002). Palliativmedizin umfasst Versorgungsleistungen aller beteilig-


ten Berufsgruppen sowie der Angehörigen. In diesem Sinne wird im vorliegen-
den Artikel der Begriff „Palliativversorgung“ verwendet.

Anforderungen der Patientenüberleitung aus Sicht


der Pflegenden
Zur Einführung wird eine 64-jährige Patientin vorgestellt, sodass die Aufgaben
der Überleitung anschaulich und nachvollziehbar werden. Die Patientin ist
164 cm groß bei einem Körpergewicht von 50 kg.
– Onkologische Diagnosen:
o Peritonealkarzinose bei Zustand nach Rektumextirpation,
o mechanische Ileussymptomatik, durch Tumorinfiltration bedingt.
– Anamnese:
Die Patientin beschreibt abdominal-viszerale Schmerzen mit wechselnder In-
tensität. Die durchschnittliche Stärke der Schmerzen liegt auf einer elfstufi-
gen numerischen Rangskala (0 = kein und 10 = stärkster vorstellbarer
Schmerz) in Ruhe bei drei, unter Belastung erreicht die Intensität einen Wert
von acht. Anhaltende Übelkeit mit drei- bis viermaligem Erbrechen pro Tag
werden ebenfalls geschildert. Es liegt eine Ileussymptomatik vor, die medi-
kamentös nicht behandelbar scheint. Ein intravenöses Portsystem wurde im-
plantiert.
– Vortherapie:
o Radiochemotherapie
o Medikamentöse Schmerztherapie:
ƒ Durogesic 125 μg/h (transdermal),
ƒ Dipidolor 90 mg/die (kontinuierliche, intravenöse Infusion über PCA)
ƒ Perfalgan 3 x 1000 mg/die (intravenöse Applikation über Port)
– Therapievorschlag:
Die bisherige Analgetikatherapie sollte abgesetzt und eine intravenöse, pati-
entenkontrollierten Analgesie (PCA) mit Morphin eingeleitet werden.
o Programmierung:
ƒ Kontinuierliche Rate: 6 mg/h (144 mg/die),
ƒ Bolus von 6 mg (alle 60 Minuten)
ƒ zusätzliche Dauerinfusion von 5 g Metamizol über 24 h;
Des Weiteren wird eine PEG-Anlage zur Sekretableitung empfohlen.
– Therapieverlauf:
Die Schmerzstärke verringerte sich unter PCA-Therapie auf Werte von eins in
Ruhe und sechs unter Belastung. Unter der laufenden Therapie konnte die
Patientin in die häusliche Versorgung entlassen werden. Die Beschwerden der
Darmobstruktion waren zu diesem Zeitpunkt weniger ausgeprägt, sodass die
Patientin einer PEG-Anlage nicht zustimmte. Ernährt wurde die Patientin
parenteral. Das Trinken von kleinen Mengen war noch möglich.
Überleitung palliativer Patienten in den häuslichen Bereich 215

Die beschriebene Patientin soll aus der Klinik entlassen und daheim weiter-
versorgt werden. Die Weichen dafür müssen rechtzeitig während des Klinikauf-
enthaltes gestellt werden. Handlungsgrundlage für Pflegende sind hierbei die
nationalen Expertenstandards für Schmerz- sowie Entlassungsmanagement in
der Pflege.

Wer kann die Patientin versorgen?


In erster Linie kommen Angehörige oder enge Freunde für die häusliche Be-
treuung in Betracht. Zu berücksichtigen sind ebenfalls Nachbarn, sofern ein ent-
sprechendes Vertrauensverhältnis besteht und diese ihre Unterstützung anbieten.
Eine solche Unterstützung muss nicht zwangsläufig die Pflege des Patienten be-
deuten, hier ist vor allem an Erledigungen zu denken, die frühere Aufgaben des
Patienten kompensieren oder die Angehörigen zeitlich entlasten (z. B. Einkau-
fen).
Wichtigster Ansprechpartner außerhalb der Klinik ist der Hausarzt. In Ab-
hängigkeit vom Pflegebedarf der Patienten müssen weitere Berufsgruppen (Pfle-
gedienst, Palliativdienst) und unterstützende Einrichtungen (Apotheke, Sani-
tätshäuser, Schmerztherapeuten, Ernährungsteam, Hospiz, Kirchenvertre-
ter) eingebunden werden. Adressen für ambulante und stationäre Palliativ- und
Hospizeinrichtungen können im Internet (http://www.hospiz-und-palliativ
führer.de/) recherchiert werden. Zahlreiche weitere nützliche Informationen zum
Thema Palliativversorgung sind als Linksammlung (http://www.hospizlink.de/)
erhältlich.
Welche der genannten Bereiche mit einbezogen werden, muss bis spätestens
24 Stunden vor Entlassung aus der Klinik anhand geeigneter Pflegebedarfs-
instrumente feststehen. Als solche finden in Deutschland der FIM® (Functional
Independence Measure) und der Barthel-Index verbreitet Anwendung. Einen
ungefähren Anhalt für den Grad der Pflegebedürftigkeit bietet zudem die in
Deutschland häufig zur Leistungserfassung eingesetzte Pflegepersonalregelung
(PPR). Hier lässt sich anhand der Stufen sowie Kriterien für allgemeine und spe-
zielle Pflegeleistungen der Bedarf an Unterstützung abschätzen. Speziell für Tu-
morpatienten geeignet ist der Karnofski-Index (siehe Abb. 1), hier werden mittels
Fremdeinschätzung krankheitsbedingte Einschränkungen schnell erfasst.
Bevor ein Patient in die häusliche Versorgung überführt werden kann, müssen
alle Beteiligten kontaktiert und deren Ressourcen bestätigt worden sein. Kurzfris-
tige Entlassungen nach Hause, etwa unmittelbar vor dem Wochenende oder ei-
nem Wochenfeiertag bergen die Gefahr von Versorgungslücken und damit ver-
bundener Unzufriedenheit.
216 A. Parthum und D. Märkert

Besuchsbericht
Patient

Name Krankenkasse Pflegekraft

Straße geboren am Telefon (Pflegekraft)

PLZ, Ort Besuchsdatum Therapiebeginn

Zugangsart Nebenwirkungen
(0: o.B., 1: leicht, 2: mittel, 3: schwer)
Port
Hickman Angst/Unruhe Fieber
p.d. Sedierung Miktionsstörungen
s.c. Atemdepression Schwitzen
spinal Erbrechen Juckreiz
Übelkeit Dyspnoe

Schmerzlokalisation Schmerzwerte
(0: kein Schmerz, 10: stärkster Schmerz)
Kopf/Hals Steiß/LWS
Thorax obere Extremitäten nach NRS Ruhe
Rücken untere Extremitäten nach NRS Belastung
Abdomen mehrere Regionen Patient zufrieden
Becken/Genitalbereich Patient NICHT zufrieden

Kanofsky-Index
Schlaf 100 Normale Aktivität, keine Beschwerden, kein Hinweis für Tumorleiden
(0: kein Schlaf, 3: tiefer Schlaf)
90 Geringfügig verminderte Aktivität und Belastbarkeit
Schlafqualität 80 Normale Aktivität nur mit Anstrengung, deutlich verringerte Aktivität
Stunden Schlafdauer 70 Unfähigkeit zu normaler Akitivität, versorgt sich aber selber
60 Gelegentliche Hilfe erforderlich, versorgt sich noch weitgehend selbst
Ernährungszustand 50 Ständige Unterstützung und Pflege, häufige ärztliche Hilfe notwendig
kg Körpergewicht 40 Überwiegend bettlägrig, spezielle Hilfe erforderlich
m Körpergröße 30 Dauernd bettlägrig, geschulte Pflegekraft notwendig
BMI ([Gewicht]/[Größe]2) 20 Schwerkrank, Hospitalisierung, aktive supportive Therapie
10 Moribund

Medikation Analgetika Medikation Coanalgetika und Adjuvantien


Tagesdosis

Tagesdosis
Medikation

Medikation

Pumpe und Einstellungen

Pumpentyp Applikationssystem

Konzentration mg/ml Boluszeit min Anforderungen Batterie

Kontinuierlich mg/h Sperrzeit min davon positiv Kassette

Bolusgröße mg Verbrauch ml PCA-Verbrauch mg Uhrzeit

Abb. 1. Besuchsbericht zur Schmerztherapie

Welche Informationen benötigen die betreuenden Personen?


Grundlegende Information für alle an der Betreuung beteiligten ist die Anamne-
se des Palliativpatienten mit Krankheits- und Behandlungsverlauf. Zudem sollten
alle involvierten Berufsgruppen und Einrichtungen die Möglichkeit haben, mit-
Überleitung palliativer Patienten in den häuslichen Bereich 217

einander in Kontakt zu treten. Hierzu schlagen wir eine Checkliste (siehe Abb. 2)
vor, die beim Patienten sowie dem Hauptansprechpartner für die Koordination
der Versorgung hinterlegt wird. Diese Aufgabe können sogenannte Home-Care-
Netzwerke übernehmen, sofern diese regional vorhanden sind. Auskunft darüber
gibt die zuständige Krankenkasse.

Datenblatt Patientenüberleitung
Anlagen: 5 Instrument zur Pflegebedarfserhebung
Patientenname
5 Verordnungsblatt zur Schmerztherapie
Anschrift
5 ___________________________________
Telefonnummer
5 ___________________________________

Ansprechpartner der entlassenden Einrichtung Ansprechpartner nach der Entlassung Ansprechpartner der
Ansprechpartner der uständigen
zuständigen Kranken-/Pflegekasse
Kranken-/Pflegekasse

Name Name Name


Anschrift Anschrift Anschrift
Telefonnummer, Email Telefonnummer, Email Telefonnummer, Email

an der Versorgung beteiligte Personen/Einrichtungen • Aufgaben Termine für....

Name • Tätigkeiten • Schulung/Beratung


Anschrift • bereitgestellte Hilfsmittel • (Erst-)Besuch beim Patient
Telefonnummer, Email • .... • Hilfsmittelbereitstellung

..... .... ....

Abb. 2. Datenblatt für die Überleitung zum Verbleib beim Patienten


218 A. Parthum und D. Märkert

Pflegedienste und pflegende Angehörige müssen über den Grad der Pflege-
abhängigkeit informiert sein. Hierzu werden die zur Erfassung eingesetzten In-
strumente als Grundlage herangezogen. So kann beispielsweise anhand des
FIM® der Bedarf an Hilfspersonen und das Ausmaß der Hilfestellung bei Körper-
pflege, Ankleiden oder Nahrungsaufnahme angegeben werden (siehe Abb. 3).

MOTORISCHE ITEMS Punkte


A Essen / Trinken 1 bis 7
B Körperpflege 1 bis 7
C Baden / Duschen / Waschen 1 bis 7
Selbstversorgung
D Ankleiden oben 1 bis 7
E Ankleiden unten 1 bis 7
F Intimhygiene 1 bis 7
G Blasenkontrolle 1 bis 7
Kontinenz
H Darmkontrolle 1 bis 7
I Bett / Stuhl / Rollstuhl 1 bis 7
J Transfers Toilettensitz 1 bis 7
K Dusche / Badewanne 1 bis 7
L Gehen / Rollstuhl 1 bis 7
Fortbewegung
M Treppensteigen 1 bis 7
KOGNITIVE ITEMS Punkte
N Verstehen 1 bis 7
Kommunikation Ausdruck
O 1 bis 7
(sich verständlich machen)
P Soziales Verhalten 1 bis 7
Q Soziales Problemlösungsfähigkeit 1 bis 7
R Gedächtnis 1 bis 7

Völlige Unselbständigkeit (Selbständigkeit weniger als 25 %) 1


Ausgeprägte Hilfestellung (Selbständigkeit 25 % oder mehr) 2
Mäßige Hilfestellung (Selbständigkeit 50 % oder mehr) 3
Kontakthilfe (Selbständigkeit 75 % oder mehr ) 4
Beaufsichtigung / Vorbereitung (keine Berührungshilfe) 5
Eingeschränkte Selbständigkeit (ohne Hilfsperson) 6
Völlige Selbständigkeit 7
Abb. 3. FIM-Items, eigene Darstellung aus Schulz 2002

Der Pflegedienst des Universitätsklinikums Erlangen bietet für die Überlei-


tung spezielle Vorlagen zu verschiedenen Pflegesituationen an1; diese schriftliche
Dokumentation minimiert Informationsverluste im Versorgungsprozess und er-
1 http://www.klinikum.uni-erlangen.de/e1768/e2321/e3145/e3783/e3818/index_ger.html
Überleitung palliativer Patienten in den häuslichen Bereich 219

füllt zudem die Anforderungen des Expertenstandards für Entlassungsmanage-


ment (DNQP 2002).
Besonderes Augenmerk liegt auf der Schmerztherapie. Diese ist im Zusam-
menhang mit der Symptomkontrolle wichtigstes Element der Palliativversor-
gung. Hier ist über die Art der medikamentösen Schmerztherapie, die dauerhaft
sowie bedarfsorientiert eingesetzten Medikamente zu informieren. Unser Pallia-
tivteam benutzt für die Schmerzbehandlung und Symptomkontrolle ein Proto-
koll, in dem alle wichtigen Daten zusammengefasst sind (siehe Abb. 1).

Welche Hilfsmittel müssen bereitgestellt werden?


In Abhängigkeit vom Schweregrad der Erkrankung und dem Pflegebedarf sind
eventuell Hilfsmittel zu beschaffen. Thomm bietet hierfür eine Auflistung (2005),
die im Folgenden entsprechend den Einschränkungen der Aktivitäten des tägli-
chen Lebens zugeordnet werden (Tabelle 1). Ausführlicher eingegangen wird an-
schließend auf die technischen Möglichkeiten der Schmerztherapie.
Tabelle 1. Hilfsmittel für die Versorgung daheim

Atmen Inhalatoren, Absaugsysteme, Beatmungsmöglichkeit


(invasiv/nichtinvasiv), Vernebler, Luftbefeuchter (aktiv/passiv),
Sauerstoffreservoir
Kommunizieren Telefon, Schreibvorrichtung, Glocke, Klingel, Babyphon
sich Beschäftigen Radio, Fernseher (Fernbedienung)
sich Bewegen Bett (elektrisch verstellbar), Aufrichthilfen, Bettgitter, Weichlage-
rungssysteme, Hilfsmittel zur Druckentlastung (Kissen, Keile,
Decken), Rollstuhl, Gehstützen, Gehwagen, Schemel, Trittstufen
Ernährung Nachttisch (höhenverstellbar), spezielles Geschirr/Besteck
Systeme zur enteralen oder parenteralen Ernährung
Ausscheidung Systeme zur Harnableitung, Urinflasche mit Halterung, Bett-
pfanne, Toilettenstuhl, Materialien zur Enterostomaversorgung,
Unterlagen, Windeln, spezielles Abfallbehältnis, Nierenschalen
sich waschen/kleiden Waschschüssel, Wannenlifter, spezielle Körperpflegemittel,
Nachthemden
für Sicherheit sorgen Verbandmaterialen, Uhr

In der Schmerztherapie werden zunächst orale oder transdermale Applika-


tionen bevorzugt. Stehen dem Nebenwirkungen, therapieresistente (starke)
Schmerzen oder krankheitsbedingte Gründe entgegen, kommen parenterale Ver-
fahren zum Einsatz (Tabelle 2).
Für die Wahl des geeigneten Systems sind folgende Punkte entscheidend:
Wohnt der Patient im Versorgungsgebiet mit schmerztherapeutisch versierter
Betreuung (z. B. durch Hausarzt, Pflegedienste), so ist eine elektronische Pumpe
zu empfehlen (Abb. 4). Kann diese Betreuung nicht vorgehalten werden, kom-
220 A. Parthum und D. Märkert

men als Alternativen einfache, mechanische oder elastomere Systeme zum Ein-
satz (vgl. Hintzenstern 2004) (Abb. 5–7).

Tabelle 2. Möglichkeiten der Medikamentenapplikation

Applikationsformen Intravenös Subkutan Rückenmarknah

Implantierter Katheter Port, Dauernadel mit Peridural- oder


Hickmann-Katheter Infusionsset Spinalkatheter

Externe elektronisch, computergesteuerte Infusionssysteme


Pumpensysteme Mechanische Infusionspumpe
Elastomere Infusionspumpe

Elektrisch, über Batterie und Netzstrom betriebene, computergesteuerte Infu-


sionspumpen arbeiten mit einer peristaltischen Volumenverschiebung. Die För-
dergenauigkeit liegt bei ca. ± 5%. An die Infusionspumpe können verschieden
große Medikamentenreservoirs (50–1000 ml) angeschlossen werden. Ein solches
System ermöglicht sowohl die kontinuierliche Infusion als auch Bolusapplika-
tion. Vorteilhaft ist die einfache, schnelle Anpassung der programmierten Abga-
bemengen. Dem Einsatz entgegenstehen können die notwendige Geräteeinwei-
sung (Hausarzt, Pflegedienst, Angehörige) und ausschließliche Betreuung durch
geschulte Personen (Abb. 4).

Abb. 4. Elektrisch betriebenes Pumpensystem (CADD-Legacy™; Smiths-Medical)

Mechanisch angetriebene Infusionsspritzenpumpen bedienen sich beispiels-


weise eines Federuhrwerkes als Antriebssystem. Hiermit können kleine Volumina
mit verschiedenen Förderraten und einer Fördergenauigkeit von ca. ± 5% verab-
reicht werden. Diese Pumpen sind kleiner und leichter als die elektrisch betrie-
benen. Bolusapplikationen sind jedoch nicht möglich (Abb. 5).
Überleitung palliativer Patienten in den häuslichen Bereich 221

Abb. 5. Mechanische Infusionspumpe mit Federantrieb (Perfusor® M; Braun)

Abb. 6. Mechanisch angetriebenes, kapillargesteuertes Pumpensystem (beeLine®;


Smiths-Medical)

Abb. 7. Elastomere, kapillargesteuerte Pumpensysteme. links: Surefuser®; Medac/rechts:


Infusor®; Baxter

Andere mechanische und elastomere Pumpensysteme regulieren die Fluss-


rate über eine definierte Kapillare. Dabei wird die Medikamentendosis durch die
Konzentration und die Infusionsdauer durch das Füllvolumen bestimmt. Sollen
Bolusgaben erfolgen, sind Zusatzausstattungen erforderlich. Ein weiterer Nach-
teil ist das Fehlen von Alarmfunktionen (Verstopfung!). Zudem ist die tatsächli-
222 A. Parthum und D. Märkert

che Flussrate des Medikaments von der Temperatur an der Kapillare, der Viskosi-
tät der Flüssigkeit sowie dem Höhenunterschied zwischen Reservoir und Patient
(> 20 cm) abhängig (Abb. 6, 7).

Wer organisiert die Überleitung?


Entlassungen von Palliativpatienten nach Hause sollten zentral von einer Person
der verlegenden Institution organisiert werden. Diese könnte je nach strukturel-
ler Gegebenheit dem Schmerzdienst beziehungsweise Palliativteam angehören,
zum Teil halten Kliniken und Pflegeeinrichtungen spezielle Stellen für das Ma-
nagement von Überleitungen vor. Von hier aus wird ein Netz zu Ansprechpart-
nern und einzubeziehenden Einrichtungen aufgebaut.
Ideal ist das Vorhandensein eines regionalen Home-care-Netzwerkes, hier
sind bereits alle für die Versorgung von Palliativpatienten notwendigen Anlauf-
stellen integriert. Home-care-Netzwerke vermögen somit, in kurzer Zeit Pflege-
leistungen sowie Hilfsmittel bereitzustellen. Besteht kein solches Netzwerk, sind
der Hausarzt oder die Krankenkasse mit der Bereitstellung notwendiger Versor-
gungsleistungen und Hilfsmittel zu beauftragen.
Die Einrichtung, aus der ein Patient entlassen wird, übernimmt die Initiative.
Die zentral organisierende Person ermittelt den Pflegebedarf. Dieser sollte
schriftlich, bis spätestens 24 Stunden vor der Entlassung vorliegen. Das weitere
Procedere umfasst:
– Weiterleitung des Bedarfs an Pflegeleistungen und Hilfsmitteln an Hausarzt,
Home-care-Netzwerk oder Krankenkasse;
– Anfrage an ambulanten Pflegedienst, inwieweit Spezialleistungen (Umgang
mit Geräten zur Schmerztherapie, Atemunterstützung, Wundversorgung etc.)
erbracht werden können. Eventuell müssen Schulungen für Mitarbeiter des
Pflegedienstes stattfinden.
o entfällt bei Einschalten eines Home-care-Netzwerkes;
– Absprache von Zeiten für die Bereitstellung von Hilfsmitteln, der Verlegung
sowie den ersten Besuch beim Patienten;
– Bereitstellung aller bei Entlassung mitzugebenden Unterlagen, Materialien
und Medikamente;
– Rezeptabwicklung
(Starke Opioide dürfen nur bis zum nächsten Tag beziehungsweise entspre-
chend dem Reservoir des Applikationssystems mitgegeben werden. Für die
lückenlose Weiterversorgung muss der Hausarzt oder ein niedergelassener
Schmerztherapeut ein spezielles Betäubungsmittelrezept ausstellen.
o http://www.gelbe-liste.de/10_therapie/start.html);
– Organisation des Transportes, eventuelle Mitnahme von Bezugspersonen.
Speziell bei einer Entlassung nach Hause müssen im Vorfeld folgende Fragen
beantwortet sein:
– Ist die Entlassung nach Hause der ausdrückliche Wunsch des Patienten und
seiner Bezugsperson(en)?
Überleitung palliativer Patienten in den häuslichen Bereich 223

– Welche Versorgungsleistungen können vom Patienten oder von den Bezugs-


personen übernommen werden? Eventuell müssen Schulungen zum Um-
gang mit Geräten (Schmerz-, Ernährungspumpen, Atemgeräten etc.) oder zu
Pflegetechniken (Hilfestellung bei Bewegung, Druckentlastung, endotrachea-
les Absaugen, Verbandtechnik etc.) stattfinden.
o kann in Absprache vom Home-care-Netzwerk angeboten werden;
– Eignet sich die Wohnung für die anstehende pflegerische Versorgung? Wo
werden Bett und Hilfsmittel platziert? Ist eine Mobilität des Patienten (mit
oder ohne Hilfsmittel/-personen) innerhalb und außerhalb der Wohnung
(Bad, Küche, Balkon, Terrasse/Garten etc.) gewährleistet?
o Eventuell müssen kleinere Umbauten erfolgen (Schwellen für Rollstuhl,
Türen aushängen, Möbel verschieben etc.).
Nach Entlassung sollte die verantwortliche Person der Einrichtung die Über-
leitung evaluieren. Dies erfolgt in erster Linie telefonisch innerhalb von 48 Stun-
den nach der Entlassung (DNQP 2002).

Anforderungen an die Überleitung aus Sicht der Patienten


und ihrer Bezugspersonen
Für die Bezugspersonen ergeben sich durch die Überleitung Pflegebedürftiger
in den häuslichen Bereich zum Teil schwerwiegende Einschnitte. Neben Ein-
schränkungen in Umfang und Ausfüllung von Freizeit sowie Urlaub ist dies die
Übernahme zeitintensiver Pflege, wodurch sich eventuell der gewohnte Tagesab-
lauf völlig neu strukturiert. Folge kann das Gefühl sozialer Isolierung sein. Viele
pflegende Angehörige erfahren darüber hinaus finanzielle Einbußen, etwa durch
eigene berufliche Einschränkungen oder gestiegene Ausgaben (Hartig et al. 2002).
Im Zuge der Erkrankung treten körperliche Beschwerden wie zum Beispiel
Schmerzen auf, die Patienten und betreuende Personen gleichermaßen beein-
trächtigen (Kern 2001). Ebenso erleben Patienten und ihre Bezugspersonen
Hoffnung, Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung (Benzein und Berg 2005). Vor
diesem Hintergrund ist es bedeutend, im Vorfeld der Überleitung genau zu ana-
lysieren, welche Ressourcen die Patienten und ihre Bezugspersonen haben. Dar-
aus ergibt sich, welche Unterstützungssysteme notwendig sind. Hier sind die
Übernahme von Pflegetätigkeiten, Bereitstellung von Hilfsmitteln, Durchführung
von Informationen/Schulungen sowie emotionale Unterstützungsangebote zu
unterscheiden (Fridriksdottir et al. 2006). Gemäß dieser Einteilung lassen sich für
den Bereich der Schmerztherapie folgende Fragen stellen:
– Kennen Patient und Bezugsperson(en) das Ziel der Schmerzbehandlung?
– Sind Patient und Bezugsperson(en) mit dem eingesetzten System vertraut?
– Sind Patient und Bezugsperson(en) in der Lage, das Medikament (und die
Zuleitung) zu erneuern?
– Können Patient und Bezugsperson(en) eventuelle Verbände erneuern?
– Wer besorgt ein Rezept und Medikamente?
224 A. Parthum und D. Märkert

– Wer ist Ansprechpartner für Fragen zur Schmerztherapie (insbesondere bei


Verschlechterung der Schmerzsituation)?
– Kennen Patient und Bezugsperson(en) Nebenwirkungen und Komplikatio-
nen der eingesetzten Medikamente und Verfahren? Welches Ausmaß an un-
erwünschten Effekten ist akzeptabel (Müller-Mundt 2001)?
– Kennen Patient und Bezugsperson(en) die zur Therapiekontrolle eingesetzten
Skalen (Schmerzmessung, Übelkeit/Erbrechen, Grad der Sedierung etc.)?
Die Beantwortung der letzten Frage soll vor allem ermöglichen, regelmäßig
ein Schmerztagebuch zu führen. Hierin sind mehrmals im Tagesverlauf Schmerz-
intensität, auftretende Nebenwirkungen und zusätzlich verabreichte Bedarfs-
analgetika zu vermerken. Die Aufzeichnungen bilden die Grundlage für die Eva-
luation der Schmerzbehandlung bei Visiten des Hausarztes oder eines Schmerz-
therapeuten.
Als große Barriere in der adäquaten schmerztherapeutischen Versorgung er-
weist sich häufig die Einstellung der Beteiligten zur Einnahme stark wirksamer
Analgetika. Der Morphinmythos, der bei Betroffenen und Professionellen hart-
näckig präsent ist, kann eine ausreichende Analgetikaversorgung verhindern.
Dabei sollte die Einstellung dahingehend gelenkt werden, dass Tumorschmerz-
therapie nicht allein die Linderung, sondern auch die Prävention von Schmerzen
zum Ziel hat (Müller-Mundt 2001). Patienten und Bezugspersonen benötigen,
vor allem bei Langzeittherapie mit Opioiden, neben der initialen Wissensver-
mittlung eine begleitende Information und Anleitung (Müller-Mundt 2001).
Spezielle Schulungsprogramme für die Tumorschmerztherapie sollten:
– das Wissen von Patienten und Bezugspersonen zu Möglichkeiten der
Schmerzkontrolle erweitern,
– Fähigkeiten der Selbstbeobachtung sowie des Managements unerwünschter
Nebenwirkungen der Analgetikatherapie vermitteln,
– falsche Vorstellungen über Toleranz, Sucht und Abhängigkeit thematisieren
beziehungsweise abbauen,
– die Compliance mit der Schmerztherapie gewährleisten (Müller-Mundt 2001).
Auf diese Weise erreichen Betroffene ein hohes Maß an Handlungskompe-
tenz, ihre Eigenverantwortung und Selbständigkeit steigt. Diese Möglichkeit der
Mitwirkung im Schmerzmanagement verringert bei den Patienten und Bezugs-
personen die Angst, unerträglichem Leid ausgesetzt zu sein, sowie das Gefühl
von Hilflosigkeit. Die Befähigung zu aktivem Handeln wird sich auf die Zufrie-
denheit mit der Betreuungssituation daheim positiv auswirken.

Literatur
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u. a. Methoden in der Schmerztherapie
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer
Berücksichtigung der Hypnosetherapie

G. S. BAROLIN und A. K AISER-REKK AS


G. S. Barolin und A. Kaiser-Rekkas
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer Berücksichtigung der Hypnosetherapie

Einleitung
In der von uns so genannten „Integrierten Psychotherapie“ geht es darum,
möglichst optimal die verfügbaren psychotherapeutischen Methoden mit den
anderen Behandlungsmethoden (medikamentös, physiotherapeutisch etc.) zu
kombinieren.
Es geht um „berufsspezifische“ und „basale“ Psychotherapie. Letztere wirkt
einerseits bereits an sich positiv auf Stimmung und damit Gesundheit des Pati-
enten, sie ist aber auch ein Wegweiser und eine wichtige Begleitung für eine spe-
ziellere Psychotherapie.
Daher sollten in einer systematischen Fort- und Ausbildung allen Ärzten und
Sozialberufen einerseits die wichtigsten Fragen der basalen Psychotherapie ver-
mittelt werden, andererseits die Kenntnis der spezifischen Psychotherapie so-
weit, dass man die notwendige Verstärker- und Begleitwirkung einsetzen kann.

Erster Teil:
„Berufsspezifische“ und „basale“ Psychotherapie
Gerhard S. Barolin

Psychotherapie ist eine Behandlung der somato-psycho-sozialen Gesamtheit


Mensch und kennt bei Krankheiten, Leiden und/oder Krisen folgende wesentli-
che Zielpunkte:
– heilen,
– bessern (entspricht häufiger der Realität als das komplette „Heilen“),
– begleiten, dort, wo Beschwerden weiter bestehen oder schlechter werden.
230 G. S. Barolin und A. Kaiser-Rekkas

Besonders der letzte dieser drei Zielpunkte wird in unserem medizinischen


Unterricht kaum berücksichtigt oder ganz vernachlässigt. Neben den Ärzten be-
trifft es besonders auch Pflegende und alle benachbarten Sozialberufe.
Mit dem Hypothalamus besitzen wir eine zentrale Drehscheibe, über welche
Soma und Psyche einander ständig wechselseitig beeinflussen: Stimmung,
Gestimmtheit (Freude, Angst Depression etc.), Motorik, Sensorik und vor allem
das Vegetativum. Über jene wichtige Schaltstelle entfaltet auch die Psychothera-
pie ihre Wirkung auf die gesamte somato-psycho-soziale Einheit Mensch (also
nicht – wie vielfach immer wieder fälschlich angenommen – isoliert auf „die Psy-
che“). Das konnte in modernen neurobiologischen Untersuchungen auch bild-
gebend nachgewiesen werden.
Die (Berufs-)spezifische Psychotherapie gilt seit der gesetzlichen Regelung
in Österreich und Deutschland in den 90er Jahren als selbständiger Berufszweig
mit etwa 2000 Stunden Ausbildung (Deutschland und Schweiz mit einigen Ab-
weichungen ähnlich). Sie kennt unterschiedliche psychotherapeutische Metho-
den (Abb. 1).
Die basale Psychotherapie hingegen ist kein streng umschriebener Begriff, je-
doch als psychotherapeutische Grundhaltung von großer Wichtigkeit. Sie ist das,
was erst den Weg zu speziellen Psychotherapie weist und diese begleiten muss,
damit der optimale Erfolg entsteht. Es müssen Psychotherapeuten, Ärzte und Pfle-
gepersonen sowie alle mit dem Patienten arbeitenden Sozialberufe an einem
Strang ziehen. Basale Psychotherapie ist also keine „Schmalspurpsychotherapie“,
sondern wesentliches Ingredienz einer komplexen Psychotherapie, und nur kom-
plexe – nicht aber isolierte – Psychotherapie kann das Bestmögliche erreichen.
Wenn zum Beispiel ein unheilbar kranker Mensch durch einfühlsame psychothera-
peutische Begleitung langsam daraufhin geführt wird, sich mit seiner Unheilbarkeit aus-
einanderzusetzen, ist es absolut kontraproduktiv, wenn gleichzeitig vom Pflegepersonal
oder einem uninformierten Arzt schöne Sprüche gesagt werden, wie „es wird schon wer-
den“, „das bekommen wir schon in den Griff“ etc.
Überdies wirkt entsprechende basale Psychotherapie deutlich hebend auf
Stimmung und Befinden des Patienten. Dies bringt mehr als nur „Laune“,
sondern ist ein wesentlicher Gesundheitsfaktor, durch verbessertes Mitarbeiten
des Patienten und auch durch das, war wir „Psychoimmunologie“ nennen.
Es bedarf also die basale Psychotherapie der Lehre und systematischen Pflege
in jeder fortschrittlichen Arbeitsgruppe, die mit Patienten zu tun hat.

Einige Hauptpunkte
des basal-psychotherapeutischen Gesprächs
Das Gespräch (wie es in Abb. 1 bei den Methoden an erster Stelle genannt wird)
ist bei aller scheinbarer Selbstverständlichkeit ein sehr wichtiges Instrument in
der basalen Psychotherapie, das systematischer Lehre und Pflege bedarf.
Bibelzitat: „Die Zunge ist zwar ein kleines Organ, kann aber Beträchtliches an-
richten“. Das gilt im Guten wie im Schlechten!
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer Berücksichtigung der Hypnosetherapie 231

Abgrenzung der vordergründigen Faktoren


bei gängigen psychotherapeutischen Verfahren
Ubiquitär wirksam sind die mehrdimensional mitspielenden Grundverhaltensmuster wie:
Übertragung, Gegenübertragung, Regression, Verdrängung, Identifikation,
Kompensation, Projektion, Narzissmus, etc.

Alltagsgespräch
1. Verbale Kommunikation
Gespräch
Pharmakotherapie

Logotherapie
Beschützende Werkstätte

Analyse
Alltagsgruppierungen

Analytische Kurztherapie
(Narko-Analyse, Psycholyse)
Club, Verein

2. Soziodynamik
Gruppentherapie
Arbeitstherapie
Familientherapie

3. Darstellung
Kunst

Psychodrama
Bildnerei
Spieltherapie

4. Hypnoid
Hypnose
Meditation

Autogenes Training
Imaginative Arbeit am Symbol
– Katathyme Imagination
– Autogene Imagination
– Defokussierende Imagination

Schule, Training 5. Üben und Lernen


Physiotherapie

Verhaltens-Therapie
Gymnastik
Tanz,

6. Primär über den Körper


Konzentrative Bewegungs-Therapie
Bioenergetik
Atem-/Musik-Therapie
Tanztherapie
Hippotherapie, Tiertherapie

Abb. 1. Um sich im Dschungel der etwa 300 psychotherapeutischen Schulen leichter zu-
rechtzufinden, habe ich ein einfaches Schema zur Einteilung vorgeschlagen, das alles ent-
hält, was heute auf dem Markt ist („Nach den vordergründigen Faktoren“ bedeutet, dass
die Faktoren auch mehrfach in unterschiedlichen Psychotherapieformen vorkommen –
insbesondere [natürlich] das Gespräch). Hier näher behandelt werden Punkt 1 und 4. Die
übrigen Methoden sind nur erwähnt, um einen gewissen Überblick zu schaffen. Pfeile be-
zeichnen Zusammenhänge mit Nicht-Psychotherapeutischem sowie Übergänge dazu.
(Ich habe übrigens 100,– Euro für den Ersten ausgesetzt, der mir ein Psychotherapiever-
fahren nennt, welches in diesem Schema nicht unterzubringen ist.)
232 G. S. Barolin und A. Kaiser-Rekkas

1. Das Wichtigste ist immer Empathie (auf Deutsch Mitgefühl, nicht zu ver-
wechseln mit Mitleid). Der Patient muss merken, dass wir an ihm und seinen
Sorgen interessiert sind und ihn nicht nur routinemäßig „abschasseln“. Das
bedarf einerseits der prinzipiellen humanen Grundeinstellung (ohne die kein
Mensch in einen Sozialberuf gehen sollte). Anderseits muss gelehrt und
trainiert werden, wie man diese Haltung in geeigneter Form dem Patienten
vermittelt. Die Balance zwischen Mitgefühl („Empathie“) und Sachlich-
keit ist bei allen Sozialberufen nötig und man muss lernen, sie in ständiger
Selbstreflexion an jedem Patienten wieder neu zu strukturieren. Man beachte
dass die Empathie, die der Arzt und jeder andere Angehörige eines Sozialbe-
rufes dem Patienten weitergibt, gleichzeitig seiner eigenen Persönlichkeit
entscheidend hilft. Ohne Empathie ist er bereits auf dem besten Wege zum
Burn-out-Syndrom.
2. Die einfache Forderung der „Verfügbarkeit“ ist natürlich bei Personal- und
Zeitknappheit besonders schwer zu verwirklichen. Aber auch hier muss ein
Ausweg gefunden werden, nicht immer alles auf „nachher“ oder „andere“ zu
schieben.
3. Die Koordination mit allen anderen medizinischen Maßnahmen ist nötig
(mangelnde und kontraproduktive Koordination zeigte schon das vorange-
führte Beispiel). Zu einer sinnvollen Gesprächskoordination gehört auch All-
gemeinwissen über den Patienten, nämlich
– wie weit es in seiner Behandlung schon gekommen ist bezüglich Aufklä-
rung,
– was man ungefähr von der Krankheitserwartung und der Therapie wissen
kann etc.
4. Es ist zur guten Koordination eine gewisse Kompetenz nötig, die natürlich
nicht alle medizinischen Feinheiten im Detail verfügbar haben kann, aber
doch die Grundlinie weiß. Dazu gehört auch, dass man klar zum Ausdruck
bringt, wo die Grenzen der eigenen Kompetenzen sind und Hinweis auf
weitere Gespräche (etwa ein Visitengespräch) gibt. Das ist viel besser, als
in nichtssagenden Allgemeinsätzen herumzureden, um die eigene Unin-
formiertheit zu kaschieren.
5. Gezielte Pflege der Verständlichkeit gehört unabdingbar dazu. Wenn man
sich bemüht, können auch die kompliziertesten Zusammenhänge für Patien-
ten verständlich und klar dargestellt werden, statt in das berufliche Amts-
chinesisch zu flüchten.
6. Wahrhaftigkeit ist allemal gefragt. Es ist absolut abzulehnen, irgendwelche
schönfärberischen Unwahrheiten und Beruhigungsfloskeln abzugeben. Man
soll aber dort, wo man Unangenehmes weiß und zum Ausdruck bringen
muss, (etwa zu erwartende Schmerzen oder unangenehme Untersuchungen
etc.) einfühlsam und vorsichtig sprechen (keine „Holzhammermethode“!)
und zugleich
7. „Positivieren“. Das heißt, dass man die in unvermeidlichen unangenehmen
Mitteilungen enthaltenen positiven Inhalte in den Vordergrund stellt, also
etwa den großen Gesundheitswert einer Untersuchung etc.
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer Berücksichtigung der Hypnosetherapie 233

Es geht also nicht nur um das einmalige Lernen und Unterrichten der basalen
Psychotherapie, sondern um deren ständige Pflege in einer positiven Teamar-
beit, die vom humanistischen Grundtenor geprägt ist, so auch den Teilnehmern
die eigene Lebens- und Arbeitsqualität erhöht und damit zu einem wesentlichen
Prophylatikum gegen das Burn-out-Syndrom wird – dazu gehören auch regel-
mäßige Supervision, Abwechseln zwischen Stationen mit leichteren und schwe-
reren Kranken, soziale Unternehmungen etc. Gute Stimmung im Team spiegelt
sich zurück auf den Patienten und bessert dessen Stimmung.

Einige Schlaglichter zum Wissen über Psychotherapie speziell


in der Schmerztherapie
Psychotherapie hat 2 wesentliche Strategien:
– das Angreifen an der Wurzel,
– das Angreifen am Symptom.
Etwas einseitig hat man das früher als aufdeckende oder als zudeckende
Maßnahme bezeichnet. Die moderne Psychotherapie sucht heute beide Wege
möglichst sinnvoll zu kombinieren, was ja auch ganz logisch ist.
Man denke an eine Zahnbehandlung. Es wäre ebenso falsch, nur die Schmer-
zen lindern zu wollen, ohne sich um die Schädigung der Zahnwurzel zu
kümmern, wie es falsch wäre, nur eine Wurzelbehandlung zu machen und den
Patienten ruhig weiterhin Schmerzen leiden zu lassen, ohne sich um diese zu
kümmern.
Man kann keineswegs „den Schmerz“ über einen Leisten schlagen. Es
gibt sehr wesentliche Unterschiede in der Entstehung des Schmerzes, die auch
deutlich unterschiedliche Anwendungsmöglichkeiten für Psychotherapie haben
(Abb. 2).
x Der Akutschmerz mit klar absehbarem Beginn und Ende bedarf prinzipiell
keiner Psychotherapie. Nebenwirkungsarme und gut wirkende Schmerzmit-
tel für eine begrenzte Zeit sind die Methode der Wahl (z. B. Postoperations-
schmerz). – Es kann aber sehr wohl durch eine hypnotische Operations-mit-
Vorbereitung die folgende Schmerzproduktion zusammen mit bestimmten
vegetativen Entgleisungen gemildert werden. Beispiel: ausgezeichnete Mög-
lichkeiten der hypnotischen und/oder selbsthypnotischen Schmerz- und
Angstreduktion für Zahnarztbehandlungen speziell bei Kindern.
x Der Schmerz als „Freund und Warner“ ist keineswegs einfach zuzudecken
(sei es durch Medikamente, sei es etwa durch Hypnose), ohne den Hinter-
grund zu ergründen und dort anzusetzen (man denke an eine Appendizitis,
die „zugedeckt“ unter Umständen lebensgefährlich werden kann).
x Als chronifizierte Schmerzen bezeichnen wir solche, welche nicht durch
eine Ursachenbereinigung gebessert werden können und bei denen es in der
Natur der Sache liegt, dass sie weiter bestehen, sich unter Umständen auch
verschlechtern (man denke an Osteoporoseschmerzen, Metastasenschmer-
234 G. S. Barolin und A. Kaiser-Rekkas

zen etc.). Hier hat die Psychotherapie einen wesentlichen Stellenwert, soll
dabei keineswegs isoliert eingesetzt werden. Besser ist (im Sinne dessen, was
wir als „Integrierte Psychotherapie“ bezeichnen): eine sinnvolle Kombi-
nation mit medikamentösen, physikalischen und anderen schmerz mindern-
den Maßnahmen.
Die hypnotischen und selbsthypnotischen Maßnahmen decken ein großes
Gebiet ab und können sehr viel leisten. Es sei daran erinnert, dass hypnoti-
sche Maßnahmen keineswegs nur psychische Wirkung haben, sondern auch
wesentlich auf das Vegetativum wirken.

(Kopf-) Schmerz
Differenzierung und Psychotherapie-Indikation

Psy. – 1. (Leit-)Symptom,
„Freund und Warner“

Psy. ± 2. Begleitsymptom

Klinische Relevanz
3. (Haupt-)Teil eines Syndroms
Psy. + – Migräne
besteht

– Schmerz in Rehabilitation

Psy. + 4. Chronifiz. Leiden

5. Weg zu einer (definierten)


Psy. ± Krankheit/Abusus und Folgen

Psy. + 6. Symbolisch
– Appell-Instrument
– sekundärer Leidens-Gewinn

Psy. 0 7. Therapeutikum besteht nicht mehr

Psy. 0 8. Lustgewinn
(Sado-Masochismus) Menschliches
Negativ-Verhalten
Psy. 0 9. Haupt-Instrument einer
pervert. „Folter-Medizin“

Abb. 2. Der Schmerz hat verschiedene Funktionen im menschlichen Organismus und


auch in der menschlichen Gesellschaft. In der Psychotherapie ist es wesentlich, sich des-
sen bewusst zu sein, um nicht nur den Schmerz als letzte Station einer Endstrecke zu se-
hen, sondern im Rahmen einer tiefergehende Analyse die verschiedenen Möglichkeiten
auszuloten und dadurch (Mit-)Ursachen besser therapeutisch angreifen zu können.
Psy. bedeutet: (Mit-)Angehbarkeit durch Psychotherapie (wie im Folgenden noch näher
ausgeführt wird)
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer Berücksichtigung der Hypnosetherapie 235

Im Extremfall ist das nachgewiesen worden bei der wesentlich besseren Abheilung
von schweren Verbrennungen, wo einerseits die Schmerzlinderung durch Hypnose zum
Tragen kommt, andererseits aber die bessere vegetative Situation, die die Wundheilung
per se fördert und Infektion verhindert (Neuroimmunologie ist dazu das Schlagwort).

Schmerz und organische Fassbarkeit

Organisch fassbare Substrate einerseits und Schmerzempfindungen andererseits


sind keineswegs obligat aneinander gekoppelt, vielmehr gibt es jeweils das eine
auch ohne das andere.
Bei den Schmerzen ohne organisches Substrat gibt es einerseits diejenigen,
bei denen man etwa Stoffwechselprozesse annimmt, die bisher nicht fassbar sind
(Beispiel: Migräne); andererseits solche mit deutlich erkennbaren psychischen
Faktoren, die derartige Schmerzen mitbedingen, unterhalten oder fördern. Dabei
spricht man von „funktionellen Schmerzen“ (oder in der heutigen ICD-Nomen-
klatur von somatoformen Beschwerden). Es wäre falsch, diese funktionellen
Schmerzen (früher gebrauchte man den Ausdruck „hysterische“) einfach abzu-
tun oder gar mit Aggression zu beantworten. Denn auch die psychische Auslö-
sung oder Mitförderung von Schmerzen ist eine Art von „Causa“.
Bei der Migräne (als Beispiel eines häufigen Schmerzsyndroms ohne fassbare
organische Ursache) kann man einerseits die vegetative Fehlsteuerung auf
(selbst-)hypnotischem Weg beeinflussen, andererseits gewisse psychische Belas-
tungsfaktoren, welche die Migräne fördern, entschärfen.

Psychotherapeutische Wege bei der Schmerztherapie

Die Gesprächstherapie, die gewisse psychodynamische Konstellationen aufde-


cken und entschärfen kann (man spricht von psychischem Fokus respektive psy-
chodynamischer Fokaltherapie) ist dabei ein Hauptweg.
Hypnoidmaßnahmen werden leider in der Literatur häufig kurzschlüssig als
Entspannungsmaßnahmen bezeichnet. Jedoch ist die Entspannung nur eine
Komponente ihrer Wirksamkeit.
Wie Abb. 3 zeigt, gelangt man bei Hypnose und Selbsthypnose (bezüglich
Selbsthypnose: am verbreitetsten und bekanntesten das Autogene Training) in
einen vegetativen Umschaltvorgang, der einerseits direkt über das Vegetativum
wirken kann (siehe vorher erwähntes Beispiel bei Verbrennungen), andererseits
einen Zustand der erhöhten psychischen Sensibilität kanalisiert, der mit stärkerer
Selbsterkenntnis und stärkerer Suggestibilität einhergeht. Es geht darum, diese
neue körperliche Zuständigkeit entsprechend psychotherapeutisch zu nützen.
Im Rahmen der „funktionellen Schmerzen“ sind überdies Fälle mit „sekun-
därem Krankheitsgewinn“ zu beachten. Das heißt, der Patient „braucht“ das
Schmerzsyndrom, um davon gewisse Vorteile abzuleiten. Es gilt differenzierend
zu diagnostizieren und zu behandeln.
236 G. S. Barolin und A. Kaiser-Rekkas

Das Hypnoid

a) Ein dritter menschlicher Grundzustand neben Wachen und


Schlafen; wird erreicht über unterschiedliche Wege:

1. Fremdhypnose; unterschiedliche Indikationstechniken


2. AT: über muskuläre Entspannung
3. RFB: über respiratorische Rückkopplung
4. Diverse Meditationstechniken

Hypnoid

Wachen

Schlafen

b) Wirkkomponenten der Psychotherapie mittels Hypnoid


(AT, Hypnose, RFB); Somatotrop + Psychotrop

1. Muskuläre Entspannung
- Direkt-Wirkung
- Schiene zum Hypnoid
2. Vegetative Umschaltung zum Hypnoid
- Direkt-Wirkung
- Förderung der Introspektion („emotional insight“)
- Erhöhte Suggestibilität
3. Dynamisierendes Zurücknehmen
4. Gezielte Organ-Beeinflussung
5. Einbau verbal-psychotherapeutischer Inhalte, insbesondere
„formelhafte Vorsatzhildung“

Abb. 3. Das Hypnoid wurde in unseren neurophysiologischen Untersuchungen klar als


dritter menschlicher Grundzustand definiert (unterschiedlich von Wachen und Schlafen).
Die wesentlichen Kriterien sind
– Entspannung, die zur
– Vegetativen Umschaltung führt und eine neue psychische Zuständlichkeit mit vermehr-
ter
– Introspektion und verbesserter
– Suggestibilität bedingt. Daraus ergibt sich als fünftes eine stärkere
– Dynamisierung bei gezieltem Auftauchen aus diesem Zustand. Die einzelnen fünf
Komponenten können und sollen in gezielter psychotherapeutischer Führung entspre-
chend differenziert genützt werden.
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer Berücksichtigung der Hypnosetherapie 237

Es kann das mehr oder weniger bewusst sein, mit fließenden Übergängen:
– Neurotisch bezeichnet man einen nicht voll bewussten Einsatz des Schmerz-
syndroms.
– Agravatorisch bezeichnet man Schmerzsyndrome, die auf einer organischen
Ursache entstehen (etwa Rückenschmerzen bei degenerativen Wirbelerschei-
nungen), aber in ihrer Ausprägung verstärkt dargestellt werden, um gewisse
Vorteile zu erreichen.
– Simulativ nennt man die klar bewusste Vortäuschung eines Krankheits- oder
Leidensbildes.
– Bewusste Selbstbeschädigung (Artefakt-Syndrom).
Das kommt besonders im Rahmen der von uns so genannten pathoplasti-
schen Wirkung einer Gutachtenssituation zum Tragen. Es können Unfallgut-
achten mit Entschädigungsansprüchen sein, der Wunsch vorzeitig in die Rente
zu gehen, aber auch (außerhalb von Gutachten im wörtlichen Sinne) psychody-
namisches Streben nach menschlicher Zuwendung, Angst vor Vereinsamung, etc.
Das kommt z. B. bei älteren Menschen nach Erkrankungen vor, wenn sich
„nichts bessert“, weil sie sich fürchten heimzugehen, etwa in eine schlechte Fa-
miliensituation oder Ähnliches. In solchen Fällen ist klärende Einflussnahme
über das Umfeld angezeigt.
In allen diesen Situationen wäre es absolut der falsche Weg, die Leute grob
mit ihrer Eigenproduktion von Schmerzen zu konfrontieren. Es kommt dann
sehr häufig zu einer Verhärtung und Weiterverfolgung der Schmerzsyndrome.
Der psychotherapeutisch Denkende versucht „goldene Brücken“ zu bauen. Das
heißt vorsichtig darauf hinzuweisen, dass die Schmerzen eben „nicht nur“ orga-
nisch bedingt sind, sondern auch eine „nervöse Komponente“ haben (dieser
Ausdruck kann vom Patienten leichter akzeptiert werden, als wenn wir die Worte
„hysterisch“ oder gar „simulativ“ ins Gespräch bringen), und dass man die Be-
schwerden auch durch Besprechung psychodynamischer Grundlagen und/oder
durch Anwendung von physikalischer Therapie etc. laufend bessern kann. Dazu
ist es sehr wichtig, dass der psychotherapeutisch tätige Arzt den Kontakt mit den
Physiotherapeuten und den Pflegepersonen aufrechterhält, damit alle an einem
Strang ziehen.
In der Behandlung gewisser schwieriger Lebensumstände, die zwar Schmer-
zen nicht erzeugen, diese aber deutlich verstärken und perpetuieren können, soll
man – neben dem therapeutisch orientierten Gespräch, das überall an erster
Stelle und weiterhin begleitend zu stehen hat – auch an verschiedene andere
psychotherapeutische Maßnahmen (einer berufsspezifischen Psychotherapie)
denken, die in Abb. 1 schematisch aufgelistet sind und hier nicht näher erklärt
werden. Es soll nur zeigen, dass uns in der Psychotherapie sehr viele Möglichkei-
ten offenstehen (nicht nur reden und/oder hypnotisieren). Dazu wäre es wün-
schenswert, dass natürlich zwar nicht alle am Patienten Arbeitende jene Metho-
den erlernen, aber sie doch in einer Fortbildung kennenlernen, damit sie ihre
eigene wichtige Verstärkerwirkung (im Sinne basaler Psychotherapie) sinnvoll
bedenken und anwenden können.
238 G. S. Barolin und A. Kaiser-Rekkas

Kopfschmerz

Das Kopfschmerzkapitel wird hier herausgegriffen, da es sich um ein sehr häufi-


ges und spezielles Schmerzleiden handelt (etwa 5 % in der Allgemeinpopula-
tion). Es ist dadurch ein großer Markt für die Industrie und eigene „Kopf-
schmerzgesellschaften“ nehmen sich der Frage vielfach an.
Es wurde schon bei der Psychotherapie der „Dschungel der Nomenklatur“ apostro-
phiert, es gibt auch einen „Kopfschmerz-Nomenklatur-Dschungel“. Es werden heute
etwa 500 unterschiedliche Kopfschmerzformen unterschieden, was von sehr fraglicher
Brauchbarkeit ist, aber dafür vielen (wiederum analog zum „Psychotherapiedschungel“)
ermöglicht, ihr eigenes „Namenschilderl“ auf irgendeine „neue“ Kopfschmerzart zu hän-
gen.
Wie beim Schmerz allgemein gilt es auch beim Kopfschmerz, die Zusam-
menhänge zwischen somatischen und psychischen Faktoren zu berücksichtigen.
Es ist aber leider (vielleicht auch durch das geringe Interesse der Pharmaindust-
rie) die Psychotherapie beim Kopfschmerz reichlich unterrepräsentiert. Die Ei-
genbefassung mit dem Kopfschmerz wird in aktuellen Literatur ausführlich und
weiterführend dargelegt. Hier nur einige Schlaglichter:
Wir haben seinerzeit ein simples, aber praktisch gut brauchbares Diagno-
seschema ausgearbeitet und darauf ein simples und logisches Therapie-
schema aufgebaut, welches speziell ausweist, welche Kopfschmerzarten auch
psychotherapiebedürftig respektive empfänglich sind (Abb. 4).
Psychotherapie ist dabei wiederum „integriert“ zu verstehen, das heißt in
sinnvoller Kombination mit medikamentösen, physikalischen und lebenshygie-
nischen Maßnahmen.
In einem großen Erfahrungsgut konnte sich auf dieser Basis ein relativ hoher
Prozentsatz von Erfolgen zeigen, der allerdings (wie vordem schon aufgezeigt)
nicht nur im Heilen bestehen, sondern auch im Bessern und letztlich Begleiten
bei chronifizierten Fällen. Jedenfalls kann sich aber in einer solchen gesamthaf-
ten Betrachtung des Kopfschmerzkomplexes mehr und besseres für den Patien-
ten ergeben, als wenn man (wie leider weitgehend nicht unüblich) versucht, nur
von einer Seite zu kommen, also entweder nur medikamentös oder nur physio-
therapeutisch oder nur psychotherapeutisch. Kopfschmerzen gehören zwar nicht
zu den erfolgreichsten Indikationen für Psychotherapie, aber die wiedergegebe-
nen Resultate verpflichten uns doch, jene Möglichkeiten auch auszuschöpfen. Es
ist das umso mehr zu betonen, als Diener (2002, 2003) und demzufolge das deut-
sche Konsensuspapier zu Kopfschmerzbehandlung die betreffenden Möglichkei-
ten völlig negieren.
Im Rahmen unserer „zweistufigen Gruppenpsychotherapie mit integrier-
tem Autogenen Training“ (Abb. 5) konnte eine umschriebene Gruppe durch
Baghaei Yazdi erfasst werden. Es zeigte sich, dass von 24 Kopfschmerzpatienten
16 eine günstige Wirkung angaben. Je nach Art der Kopfschmerzen zeigte sich
jedoch eine unterschiedliche Art der Wirkung.
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer Berücksichtigung der Hypnosetherapie 239

2-stufige Einteilung des internationalen Arbeitskreises für


Kopfschmerzforschung im deutschen Sprachraum

A) nach der Phänomenologie


1. Anfallsartiger Kopfschmerz für Stunden bis Tage mit kopfschmerzfreiem In-
tervall dazwischen, meist mit vegetativer Begleitsymptomatik (vor allem Er-
brechen, aber auch Harnflut, allgemeine Abgeschlagenheit, etc.) = Migräne.
2. Nicht streng anfallsartiger Kopfschmerz (wellenförmig, episodisch oder
„dauernd“) – wird laut IHS als „Spannungskopfschmerz“ bezeichnet, auch
wenn keine Anzeichen einer (Ver-)Spannung muskulär oder durch Druck-
punkte fassbar sind. – Früher nannten wir das Bild „Cephalea“ und kannten
nur den Spannungskopfschmerz im engeren Sinn. Ich verbleibe beim älteren
Ausdruck Cephalea, ohne damit die Ätiologie zu präjudizieren.
3. Kombinations- und/oder Übergangsformen dieser beiden Kopfschmerz-
formen, von mir als migränoide Cephalea bezeichnet (IHS: „Kombinations-
kopfschmerz“).
4. Etwa 1/4 Stunden dauernde Schmerzanfälle im vorderen Kopfquadranten mit
autonomer Begleitsymptomatik des geröteten Auges, Augentränen, Nasen-
fluss, etc.; wird heute Cluster-Kopfschmerz genannt, hieß früher Bing-
Horton-Syndrom oder neuralgoide Migräne.
5. Blitzartig einschießende Schmerzen für Sekunden bis Halbminuten-Dauer in
einer Gesichtshälfte sind die Neuralgien (nach neuer und nach alter Nomen-
klatur).

B) nach Ätiologie und Pathophysiologie (multifaktoriell):


Patho-physiologisches a) „Ursachen“
Grund-Prinzip b) Auslöser
(auch „Prädisposition") c) Modifikatoren, Folgen
ad a 1) „idiopathisch“
x Heredität ad a 2) lokale Irritation: Narbe, Degeneration,
x Vegetativ-masomot. Überbeanspruchung, Trauma
x Stoffwechsel (insbesondere HWS),
x (Endo-)Toxine Entzündung, Raumforderung.
(insbesondere Meningen, UNO, Zahn)
ad b) Nahrung, Wetter, Menses. Wachstum
ad c) Gutachtensituation. Abusus, etc.

C) Psychische Komponenten insbesondere Depression,


aber auch psychodynamisch belastende Faktoren in der Ausgangslage
oder als Modifikator

Abb. 4. A) Phänomenologisch werden die 5 wesentlichen Erscheinungsformen


differenziert, welche klinisch eine Rolle spielen und auch wesentlich unter-
schiedliches Angehen verlangen.
B) In Ätiologie und Pathophysiologie kommen einerseits Grundprinzipien re-
spektive Grundstörungen zum Tragen, andererseits (Mit-)Faktoren.
C) Die depressiven Komponenten können einerseits als depressive Grundver-
stimmung wirken, andererseits Folgen oder Ausdruck chronischer Schmerzen
sein.
240 G. S. Barolin und A. Kaiser-Rekkas

2-stufige Gruppen-Psychotherapie
mit integriertem Autogenen Training

a) Jeweils etwa 7 Monate / geschlossene Gruppe /


einmal wöchentlich 2 Std. AT + Gespräch / Alternierende Führung /
Psychogene + Somatogene

224 Patienten
Eine 7-Jahres-Serie mit Wöllersdorfer
Eine 9-Jahres-Serie mit Baghaei Yazdi

2/3 gute Erfolge

Besonders gutes Ansprechen:


Senioren, Rehabilitations-Patienten

Besserung
b) Diagnose n weitgehend teils/fraglich keine

1. Kopfschmerz 24 12 8 4

2. Sonst. Schmerzsyndrom 7 4 3 –

3. Schlafstörungen 5 5 – –

4. Exogene Belastungs-Situation 9 6 1 2

5. Subdepressiv 14 5 7 2

6. (Alters-)Rehabilitation 31 21 8 2

Summe 90 53 27 10

Abb. 5. Unser Modell der „zweistufigen Gruppenpsychotherapie mit integriertem Auto-


genem Training“ wurde über viele Jahre im Rahmen vielfacher Modifikationen ausgebaut
und hat sich zu einem bewährten Instrument entwickelt. Es besteht wechselseitige
Verstärkerwirkung: Autogenes Training fördert Gruppendynamik; die Gruppendynamik
fördert das Erlernen des Autogenen Trainings plus introspektive Erkenntnisse (Näheres
im aktuellen Buch „Integrierte Psychotherapie“ von Barolin). Bei einer systematischen
9-Jahres-Auswertung zeigten sich die Erfolge bei den Schmerzsyndromen nicht gerade im
Spitzenfeld der Erfolge, aber immerhin so häufig, dass sie einen verpflichten, Psychothe-
rapie bei den Schmerzsyndromen entsprechend anzuwenden. (Die Erfahrung im sonsti-
gen Klientel sind nicht systematisch ausgewertet, entsprechen aber eindrucksmäßig etwa
den hier angegebenen Proportionen.)

6 von 9 Migränepatienten gaben eine deutliche Besserung an, die ich als
„Entschärfung der Auslösungssituation“ bezeichne. Es kam zu größerer allge-
meiner Gelassenheit. Die Anfälle wurden weniger häufig und weniger stark.
Zwei davon gaben an, ihre Migräne mit dem AT meist kupieren zu können, nur
„ganz schwere“ kämen manchmal durch (eine Patientin). Die zweite konnte nur
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer Berücksichtigung der Hypnosetherapie 241

die Migräneanfälle untertags kupieren, aber nichts dagegen ausrichten, wenn sie
schon morgens damit erwachte. Bei den drei weiteren Patienten war der Erfolg
mäßig bis fraglich.
Bei 7 von 11 Cephalea-Patienten kam es zu einer eindeutigen Besserung, bei
zweien blieb die Besserung fraglich, und die zwei restlichen waren hinsichtlich
ihrer Kopfschmerzen erfolglos. Davon brach einer die Therapie vorzeitig ab.
Vier Patienten litten an dem, was in unserer vorgegebenen Einteilung als
migränoide Cephalea bezeichnet wird (Mischform), davon stellte sich bei drei-
en eine deutliche Besserung ein.

Konklusion zum ersten Teil


„Schmerz“ eignet sich besonders dafür, um daran paradigmatisch die Regelkreis-
zusammenhänge in der somato-psycho-sozialen Einheit Mensch aufzuzeigen.
Die unterschiedlichen Ausdrucksformen und Bedingtheiten des Schmerzes las-
sen die integrierte Anwendung der Psychotherapie wünschenswert erscheinen.
Jedenfalls ist es falsch, dabei „nur-somatisch“ vorzugehen. Erst die komplexe
kombinierte Therapie, die von allen Seiten kommt, hat optimale Erfolgschancen.
Es folgt nun die Darstellung einer der führenden Hypnose-Therapeutinnen
des deutschen Sprachraums. Außerdem hat es sich schon mehrfach bewährt das
gleiche Thema von einer Frau und einem Mann darstellen zu lassen.

Zweiter Teil:
Hypnosetherapie beim Schmerz

Agnes Kaiser-Rekkas

Hypnotische Analgesie und Anästhesie sind ohne Zweifel die atemberaubend-


sten Phänomene in der Hypnose. Hat der Schmerz seine Signalfunktion erfüllt,
führt er als chronischer Schmerz ein Eigenleben; wünscht man präventiv einem
zu erwartenden Schmerzgeschehen besser zu begegnen, bietet die Hypnose viel-
fältige und erfolgreiche Möglichkeiten der Beeinflussung und eventuellen Bewäl-
tigung. Als sekundärer Gewinn lassen die Reduktion der Angst, gekoppelt mit
der Schmälerung von Intensität und Dauer des Schmerzerlebnisses, sowie eine
veränderte psychische Bewertung die Stressparameter sinken, was wiederum das
Immunsystem stabilisiert und Heilungskapazitäten fördert.
Das akute Schmerzgeschehen wird oftmals überlagert von der Erinnerung an
erlebten Schmerz und von der Angst vor dem zu erwartenden Schmerz. Die
Hypnotherapie kann auf allen Ebenen wirkungsvoll ansetzen. Allgemeine Ziele
der hypnotherapeutischen Intervention sind somit:
– Ausschaltung oder (meistens) Reduzierung des Schmerzes;
– Geringere Dosierung von Anxiolytika, Analgetika, Anästhetika;
– Therapie des Schmerzes ohne Nebenwirkungen;
242 G. S. Barolin und A. Kaiser-Rekkas

– Anheben des allgemeinen Wohlbefindens durch Hypnose mit dadurch be-


dingter erhöhter Immunabwehr und besserer Heilungstendenz;
– Selbstständigkeit in Bezug auf das Ausüben der Schmerzkontrolle mithilfe
von Selbsthypnose, was einen Gewinn an Selbstvertrauen und Selbstrespekt
bewirkt;
– Indirekte positive Beeinflussung der sekundären Depression, die sich häufig
bei lang andauernden Schmerzgeschehen einschleicht.

Wie ist es nun zu erklären, dass Hypnose gerade beim Schmerzpatienten so


leicht und wirkungsvoll anzuwenden ist?
Ein Aspekt liegt sicher in der Besonderheit der psychischen Situation des Pa-
tienten. Man kann von einer erhöhten suggestiblen Verfassung sprechen, deren
Ursache Leid ist. Die Erwartungshaltung und Motivation zur Veränderung dieses
Leides öffnen den Patienten auf besondere Weise. Er zeigt sich fokussiert, absor-
biert und in die Therapie involviert, die optimale Voraussetzung für eine thera-
peutische Intervention mit Hypnose.
Je akuter und dramatischer sich der Fall darstellt, umso direktiver sollte die
hypnotherapeutische Intervention formuliert sein. Je länger das Schmerzgesche-
hen schon anhält, so auch bei Schmerzen chronischer Krankheitsbilder, umso
mehr müssen wir uns dem hintergründig psychischen Anteil, wie z. B. der Be-
deutung des Schmerzes für den Patienten, widmen. So heißen die Leitlinien:

– Die Signalfunktion des Schmerzes respektieren!


– Bei akutem Schmerz direktiv vorgehen!
– Bei starken Schmerzen Restschmerz erlauben!
– Bei chronischem Schmerz psychische Beteiligung (Bedeutung) berücksichti-
gen!

Wichtig ist die konkrete Beschreibung der sensorischen Aspekte des


Schmerzes auf der kinästhetischen und visuellen Ebene.
Dies kann im Folgenden für die Intervention genutzt werden, wie für die di-
rekte oder indirekte Suggestionen von z. B. Schwere, Leichtigkeit, Kühle, Wärme
oder auch Gefühllosigkeit/Taubheit.
Einfach bildhafte Vorstellungen sprechen den Menschen in seiner Eigen-
schaft als „Augentier“ besonders gut an. Die Vorstellung von einem inneren
Schalter, mit dem man Schmerz reduziert, von einem magischen Schwamm, der
Schmerzen aufsaugt, einer kühlen Farbe, die den Schmerz „abkühlt“. Der
„Schmerzmagnet“, der auf einer Wolke daherschwirrt, sich richtig zum Körper
positioniert und dann die „Schmerznadel/-pfeile“ herauszieht.
Absichtliches An- und Abschwellenlassen von Schmerz, das Fokussieren auf
den Schmerz, „hineinwandern“ und dann verändern sind weitere Varianten, mit
dem Schmerz zu „spielen“ und damit die Oberhand über ihn zu gewinnen.
Die sog. Handschuhanästhesie, evtl. mit „Nadeltest“, überzeugt auch den
kritischen Patienten von der eigenen Fähigkeit, Schmerz ausschalten zu können.
Wenn er dann die Anästhesie aus dieser Hand in den entsprechenden Körperbe-
reich fließen lassen kann, hat er viel gelernt.
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer Berücksichtigung der Hypnosetherapie 243

Als Letztes steht die Technik der Distraktion, d. h. andere Körperbereiche in


der Gefühlswahrnehmung intensiver erscheinen lassen, zur Verfügung.
Bei all dem stehen wir in direkter Kommunikation mit dem Unbewussten
des Patienten durch ideomotorische Signale (das heißt, es werden kleine Körper-
bewegungen, etwa Fingerhebung, als Ja- und Nein-Zeichen verwendet) und der
Patient reagiert dann auf in der Hypnose gestellte Fragen ohne bewusstes Spre-
chen oder Signalisieren, sondern durch seine minimalen Körperfunktionen.
Im Gegensatz dazu können ungeschickte Äußerungen sehr verunsichern:
Sie brauchen keine Angst zu haben. Das ist nicht so schlimm.
Nach dieser Operation kann es einem schon ganz schön schlecht gehen.
Müssen Sie vielleicht erbrechen? Ich stelle schon mal die Schale hin.
Was macht der Schmerz?
Die Wunde hat ja bislang nicht geeitert.
An einem Ileus stirbt man nicht gleich.
Sie haben ja noch keine Metastasen.
Damit endet man im Rollstuhl.
Übliche Redewendungen mit schlechtem Ausgang. Weshalb? Weil sie
eine schlechte Suggestion ausüben. Wenn wir das ganz neutral mit dem schönen
Beispiel vom blauen Elefanten betrachten, wird alles deutlich: „Wetten, Du
kannst Dir keinen himmelblauen Elefanten vorstellen!“ Was passiert? ... Na, bitte.
Die verstärkte Suggestibilität des Menschen durch Schmerzen wurde schon
erwähnt. Es gilt das für jede Traumatisierung, Schockzustand, etc. Kognitive, logi-
sche Leistungen funktionieren vermindert, das kindhafte bildliche Vorstellungs-
vermögen bekommt die Oberhand und somit können Abstraktionen und Nega-
tionen nur begrenzt verstanden werden. Was bleibt, ist das Bild; die Imagination
von Angst, Erbrechen, Schmerz, Kollaps, Übelkeit, eiternden Wunden, von Me-
tastasen, Rollstuhl und Tod. Wir sollen also das betonen, was wir im Positiven er-
reichen wollen: Ruhe und Sicherheit, Wohlbefinden, Selbstvertrauen, vegetative
Balance, Heilung. Barolin hat schon im einfachen Gespräch dieses Prinzip des
„Positivierens“ betont, dass auch aus schlechten Situationen das möglichst Bes-
te herausholt. Umso mehr gilt es in der stärkeren Suggestibilität der Hypnose.
Bei chronischen Schmerzen kann es sich als sinnvoll erweisen herauszufin-
den, wie der innere Bezug des Patienten zu dem gequälten/quälendem Körper-
bereich ist. Oft ist – verständlicherweise – zu hören, dass dieser Bereich ausge-
grenzt oder sogar verwünscht wird. Der Patient sollte animiert werden, sich dem
schmerzenden Körperteil im Positiven zuzuwenden. Erzählen Sie ihm von der
liebevollen Mutter, die das gestürzte Kind hätschelnd in den Arm nimmt und das
aufgeschlagene Beinchen küsst und versorgt.
Die Veränderung von Schmerzerleben steht hier im Vordergrund. Dafür kann
die ganze Palette der typischen Hypnosephänomene zum Einsatz kommen.
– Amnesie für erfahrenen Schmerz/für die letzte Schmerzattacke;
– Zeitverzerrung (um Minuten, Stunden, Tage) bzw. veränderte Zeitwahrneh-
mung, z. B. die schmerzfreie Zeit „verlängern“ und umgekehrt;
244 G. S. Barolin und A. Kaiser-Rekkas

– Zeit-Dissoziation, Zeitprogression/-regression, jeweils in schmerzfreie Zeit


(Situation des Wohlbehagens, Urlaub);
– Imagination schöner Szenarien und Phantasien;
– Reinterpretation der Schmerzerfahrung, z. B. als Körpersignal bei Nichtbe-
achtung der eigenen Kräfte;
– Erhöhung der Schmerztoleranz mit posthypnotischen Suggestionen: für
den inneren Dialog, für geistige Arbeit, mit dem Schmerz umzugehen und für
die Desensibilisierung bezüglich der Schmerzauslöser;
– „Innerer Ratgeber“-Technik, d. h., die Installation einer projektiven Instanz
zur Förderung eines inneren, hilfreichen Dialoges;
– Körperliche Dissoziation, z. B. den Körper ruhen lassen und geistig auf die
Reise gehen;
– Halluzination, Beispiel „Tiger“ von Erickson (Der Phantasie-Tiger unter ih-
rem Bett hielt die ganze Aufmerksamkeit seiner krebskranken Patientin im fi-
nalen Stadium gefangen.);
– Training von intensiver Dissoziation bei sehr starkem Schmerzerleben.

Der Patient mit chronischen Schmerzen sollte zur Selbsthypnose verpflichtet


werden. Dabei wird nach erhaltener Anleitung durch einen qualifizierten Hypno-
therapeuten freier Raum für eigene Versionen der Induktion und Utilisation ge-
geben.
So beschrieb mir eine Rheumapatientin (Carlotta), wie sie sich ihren schmer-
zenden Körper als zu prall gefüllten Sack Reis vorstelle. Sie würde in Hypnose
dann unten ein paar Löcher öffnen, sodass der „Schmerzreis“ herausriesele. Der
Sack erleichtere sich und fühle sich nach und nach geräumiger und wohliger an.
Ähnliches unternahm Eva, die mit Selbsthypnose ihre Skolioseschmerzen be-
einflussen konnte: Durch ihre morgendlichen Schmerzen animiert, versetzt sich
Eva anfangs gleich nach dem Aufwachen in Trance. Sie wendet einfach an, was
sie in der Hypnoseausbildung gelernt hat: Augenfixation, beruhigtes und verzö-
gertes Ausatmen, begleitet von dem Satz „Ich lasse los, ich entspanne mich ...“,
Erfühlen des Körpers auf der Matratze, sukzessives Entspannen aller Körperteile,
Zählen von eins bis zehn, Handlevitation. Da sie in ihrem ersten Beruf als Physi-
otherapeutin zeitweise in einem Thermalbad arbeitete und um die heilende Wir-
kung dieses „besonderen Wassers“ weiß, imaginiert sie folgende Szene:
Nahe der Spitze ihres Kreuzbeines ist eine Öffnung, durch welche in Wellen-
bewegungen wohltemperiertes Thermalwasser ein- und wieder ausströmt ...,
ein- und wieder ausströmt ..., ganz im Rhythmus ihrer Atmung. Dieses Ther-
malwasser umspült die Wirbelkörper, die Bandscheiben und Ligamente und er-
zielt damit Linderung des Schmerzes. Verhärtungen lösen sich aus dem Gewebe,
dieses wird schmiegsamer, der skoliotische Rücken erfährt Reinigung und Ent-
lastung.
Darauf stellt sich Eva vor, ihren gesamten Körper in Thermalwasser zu baden
und dabei von einer leichten Strömung sanft hin- und hergewiegt zu werden.
Weiterhin strömt Thermalwasser über die Öffnung in der Kreuzbeingegend, wel-
che mittlerweile faustgroß geworden ist, ungehindert ein und aus und flutet
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer Berücksichtigung der Hypnosetherapie 245

letztendlich von dort in die Muskelpartien. Die Schlacken in den Muskeln wer-
den als Körnchen visualisiert, welche vom Wasser aufgelöst und dann abtrans-
portiert werden. Von oben beginnend konzentriert sie sich zuerst auf Schulter-
und Nackenmuskulatur, dann auf die gesamte Länge des Rückens, wonach sie
ihre gedankliche Aufmerksamkeit auf die Hüft- und Beinmuskulatur lenkt. Sie
hört das Glucksen des Wassers und spürt die sanfte Wärme sowie das leichte Flu-
ten des Wassers.
Nachdem sie ein Gefühl von tiefer Entspannung erlebt hat, beendet sie ihre
Übung, nicht ohne sich vorher eine posthypnotische Suggestion zum Andauern
der im Laufe der Hypnose tatsächlich eingetretenen Schmerzreduktion auch
nach der Trance gegeben zu haben.
Es können unendlich viele Metaphern gefunden werden, wie Schmerzen
„heruntergekühlt, ausgebleicht, abgeschält, geschmolzen oder einfach abgeat-
met“ werden. Das selbst gefundene Bild ist meist das wirkungsvollste.
Chronische Schmerzerkrankungen ohne körperlich-organischen Befund wie
die Fybromyalgie, der chronische Rückenschmerz, Unterleibsschmerz und der
orofaziale Schmerz erklären sich nach neueren Untersuchungen oft durch trau-
matische Ereignisse während einer bestimmten Lebensphase. Der bewussten
Kontrolle entzogen bildet sich ein Schmerzgedächtnis heraus, das in späteren
Belastungssituationen zum Ausgangspunkt chronischer Schmerzen werden
kann.
Die Hypnotherapie bietet hierfür alle Vorteile:
– Die entspannte Trance mit einer positiven vegetativen Reaktion;
– Die schützende Dissoziation, in der unter Vermeidung der Re-Traumatisie-
rung zum Beispiel gewalttätige Bilder aus der Kindheit mit Distanz und im
Zeitraffer betrachtet und bearbeitet werden können;
– Die Mobilisation des Körpergedächtnisses für natürliche, gesunde Funktion;
– Der „Top-down“-Effekt, mit dem Altes gelöscht und Neues installiert wird;
– Und vor allem die Technik der Ideomotorischen Arbeit, welche in der hypno-
tischen Trance durch Körpersignale den Dialog mit dem Unbewussten er-
möglicht.

Der chirurgische Eingriff – perioperative Unterstützung

Die Intention der hypnotischen Anästhesie liegt nicht in der Anästhesie ohne
Pharmakotherapeutikum. Vielmehr strebt sie das Wohlbefinden des Patienten bei
Reduktion der Anästhetika während der Intervention und der von Analgetika
danach an. Außerdem erwies sich, wenn Hypnose im Spiel war, eine verbesserte
Wundheilung. Zudem ist es natürlich von großem Vorteil, mit einem entspannt-
zuversichtlichen Patienten zu arbeiten.
Für den Patienten ist der Hinweis wichtig, dass im Unterschied zur medika-
mentösen Anästhesie die Sensibilität für Druck, Berührung und Temperatur be-
stehen bleibt.
246 G. S. Barolin und A. Kaiser-Rekkas

Direktive Suggestionen vor dem chirurgischen Eingriff


Auch dabei befindet sich der Patient analog den vorbeschriebenen anderen
„Notfallsituationen“ durch Trauma und/oder Schmerz in einer erhöhten sug-
gestiblen Phase. Man kann deshalb auch im einfachen Gespräch folgende Anre-
gungen, die wie gute Suggestionen wirken – ganz mit eigenen Worten, versteht
sich –, einstreuen:
– Warum sollten Sie sich die bevorstehende Zeit nicht so angenehm wie mög-
lich machen?
– Denken Sie heute abend vor dem Einschlafen an etwas Schönes, das Ihnen
gut tut. Atmen Sie dabei ruhig und tief und schließen die Augen.
– So können Sie heute Nacht ruhig ein- und erholsam durchschlafen.
– Morgen früh erwachen Sie mit einem Gefühl der Ruhe und Zuversicht. Sie
wissen, dass Jedermann sich hier bestens um Sie kümmert und dass alles für
Sie getan wird.
– Sie können sich innerlich mit einem frohen Erlebnis beschäftigen. Während
die Anderen hier ihren täglichen Aufgaben nachgehen, ignorieren Sie alles,
was um Sie herum geschieht und sind vielleicht erstaunt, wie gelassen und
wohl Sie sich fühlen.
– Alles, was Sie sonst vielleicht gestört hätte, verhilft Ihnen jetzt nur, Ihre Ruhe
zu vertiefen.
– Alle Geräte um Sie herum, alle Lichter und alle Geräusche, sind ausschließ-
lich zu Ihrer Sicherheit da. Alles ist nützlich und sinnvoll und hilft, gut und
sorgfältig zu arbeiten.
– Während des Narkoseschlafes wissen Sie, dass wir ständig für Sie Sorge tra-
gen. Ihr Körper wird zur richtigen Zeit die richtigen Signale geben, damit das
Richtige getan wird.
– Gegebenenfalls: Ich werde auch während der Narkose ab und an zu Ihnen
sprechen, denn man kann zeitweise auch unter Anästhesie hören. Sie werden
meine Stimme wiedererkennen und es wird Ihnen gut tun.
– Wenn Sie nach der Operation aufwachen werden, können Sie sich freuen,
dass der Eingriff schon hinter Ihnen liegt.
– Wenn Sie den Druck des Verbandes/der Kompresse verspüren, werden Sie
wissen, dass die OP vorüber ist, und der Körper bereits begonnen hat, die
Wunde zu verschließen.
– Im Moment des Wundverschlusses setzt sofort die Heilung ein. Und diese
Heilung vollzieht sich umso schneller und besser, je wohler Sie sich fühlen.
– Machen Sie deshalb ruhige, regelmäßige und tiefe Atemzüge und stellen sich
etwas Schönes vor, was Ihnen angenehme Gefühle bereitet.
– Vielleicht werden Sie sich besser fühlen, als erwartet. Achten Sie weiterhin
nur darauf, dass Sie sich wohl fühlen. Alle äußeren Einflüsse sind völlig un-
wichtig für Sie. Nur direkt angesprochen reagieren und antworten Sie.
– Ihr Körper hat gesunde Kontrolle über Blutstillung und spontane Heilung.
Alle körperlichen Vorgänge kommen auf natürliche Art und Weise wieder in
Gang.
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer Berücksichtigung der Hypnosetherapie 247

Zusammenarbeit
Dort, wo stark psychisch und/oder psychosomatisch mitbedingte Schmerzen be-
stehen, gehören Patienten in die Hand des fachlich versierten Psychotherapeu-
ten und Arztes, weil das Geschehen komplex ist, das Symptom vielleicht eine
Funktion im Lebenskontext erfüllt oder ein tiefes seelisches Leid oder Trauma
widergespiegelt. Hingegen kann der gut ausgebildete, feinfühlige pflegend Täti-
ge dem akuten Schmerzpatienten sehr große Dienste leisten. Eine positive Sicht
der Dinge, Vertrauen in natürliche Fähigkeiten und der Erfahrungsschatz an be-
obachteten guten Genesungsverläufen werden den Sprachgebrauch, aber auch
die nonverbale Vermittlung wie Mimik und Gestik prägen. Der Patient wird darin
Halt finden, sein Selbstvertrauen stärken, besser heilen und letztendlich auch
leichter und erfolgreicher therapierbar sein.
Auch hierbei zeigt sich also wieder, dass nur eine gut zusammenarbeitende
Arbeitsgruppe aus Ärzten und Pflegenden („Teamwork“) das Optimale für den
Patienten leisten kann, ja dass sogar bei fehlendem Verständnis bei der Pflege
manches an möglichem Erfolg verschenkt werden kann. Dies hat ja auch Barolin
im Sinne seiner Forderung nach Schulung in „basaler Psychotherapie“ betont
und das zeigt sich besonders auf dem sensiblen Gebiet der hypnosuggestiven
Therapie.

Literatur
Barolin G S (2006, aktualisiert 2009) Integrierte Psychotherapie – Anwendung in der Gesamt-
medizin und benachbarten Sozialberufen. Springer, Wien New York
Barolin G S (1994, aktualisiert 2003) Kopfschmerzen multifaktoriell. Ferdinand Enke, Stuttgart
· Grundlagen · Praxisgerechte Diagnostik · Medikation · Physiotherapie · Psychotherapie ·
Alternativtherapie · Begutachtung · Patientenratgeber
Kaiser Rekkas A (2007) Klinische Hypnose und Hypnotherapie – praxisorientiertes Lehrbuch
für die Ausbildung, 4. Aufl. Carl Auer Systeme, Heidelberg
Kaiser Rekkas A (2007) Die Fee, das Tier und der Freund – Hypnotherapie in der Psychosoma-
tik, 2. Aufl. Carl Auer Systeme, Heidelberg
Kaiser Rekkas A (2005) Im Atelier der Hypnose – Entwurf, Technik, Therapieverlauf. Carl Auer
Systeme, Heidelberg
Kaiser Rekkas A (2004) Aufrecht wie eine Palme. Hypnotherapie bei Skoliose mit chronifizier-
tem Schmerz. In: Ebell H, Schuckall H (2004) Warum Hypnose? Aus der Praxis von Ärzten
und Psychotherapeuten. Pflaum, München
Revision

Progressive Muskelentspannung nach Jacobson

G. GATTERER
G. Gatterer

Einleitung

Entspannungstechniken können in eher mentale Techniken, wie z. B. das Auto-


gene Training, immaginative Verfahren, z. B. Phantasiereisen, muskuläre Techni-
ken, z. B. Jacobson Progressive Muskelentspannung, und Kombinationen aus
beiden, z. B. Tai-Chi, eingeteilt werden. Auch verschiedenste Verhaltensweisen,
wie etwa Laufen oder Saunabesuche können entspannend wirken. Nicht uner-
wähnt bleiben sollte der oft missbräuchliche Einsatz von Substanzen zur Ent-
spannung, wie Alkohol, Beruhigungsmitteln oder Drogen. Einen guten Überblick
zu Entspannungstechniken findet man bei Vaitl und Petermann (1993).
Die Progressive Muskelrelaxation (PMR) ist auch als Jacobson-Entspan-
nungstraining oder Tiefenmuskel-Entspannungstraining bekannt. Sie wurde von
Edmund Jacobson entwickelt, der sich als Arzt und Wissenschaftler zu Beginn
unseres Jahrhunderts intensiv mit der Funktionsweise der Muskulatur beschäf-
tigte. Dabei fiel ihm auf, dass Anspannungen der Muskulatur häufig im Zusam-
menhang mit innerer Unruhe, Stress und Angst auftreten.
Zurück geht diese Methode auf die Beobachtung, dass auf eine kurzzeitige
Anspannung einer Muskelgruppe mit der Zeit eine vertiefte Entspannung/Er-
müdung folgt. Die bewusste Entspannung einzelner Muskelpartien bewirkt eine
Aktivierung des so genannten Parasympathikus. Der Parasympathikus ist der
Anteil des vegetativen Nervensystems, der für die Senkung des Blutdrucks, die
Abnahme der Herzschlagrate, Entspannung der Muskulatur sowie tiefe und
langsame Atmung zuständig ist. Die PMR wirkt somit über die Wahrnehmung
der Muskelanspannung und -entspannung indirekt auf die Befindlichkeit einer
Person. Dabei lernt man, die durch unabgebauten Stress verspannt gebliebenen
Muskeln wieder zu entspannen. Wird sie regelmäßig praktiziert, können unter
anderem Entspannung und Ausgeglichenheit in Stresssituationen erreicht wer-
den. Bei der Progressiven Muskelrelaxation wird davon ausgegangen, dass eine
Verringerung der Muskelanspannung zu einer Reduzierung von Nervosität oder
250 G. Gatterer

sonstiger emotionaler Anspannung führt. Indem man die Spannungszustände


der Muskulatur aktiv minimiert, lässt sich allgemeinen Stressreaktionen vorbeu-
gen. Die Technik beruht wie auch das autogene Training auf dem psychophysio-
logischen Einheitsprinzip: Wenn der Körper sich entspannt, entspannt sich auch
die Psyche – und andersherum.
Die Vorteile der Progressiven Muskelrelaxation gegenüber anderen Verfahren
liegen in ihrer für den Übenden leichten Nachvollziehbarkeit, ihrer Effektivität
und in ihrer schnellen und einfachen Erlernbarkeit. Bei regelmäßigem Training ist
nach kurzer Zeit eine selbstständige körperliche und psychische Entspannung
möglich. Der Nutzen der Progressiven Muskelrelaxation ist bei Beschwerden wie
Ängsten, Bluthochdruck und Schmerzen, vor allem Migräne, nachweisbar.
Die Technik liegt in verschiedenen Versionen vor. Anbei wird die Langfassung
und eine sehr leicht einzusetzende Kurzfassung, die sich auch im Bereich der
Verhaltenstherapie bewährt hat, vorgestellt.

Durchführung

Die PMR ist leicht zu erlernen und ohne großen Aufwand und zusätzliche Uten-
silien durchführbar. Grundprinzip ist die kurzfristige (meist 5–10 Sekunden dau-
ernde) Anspannung der betreffenden Muskelbereiche und daran anschließend
die Entspannung (ca. 30–50 Sekunden) derselben. Die Aufmerksamkeit sollte
diesen Prozess begleiten. Man beginnt bei den Händen und arbeitet gezielt die
einzelnen Muskelpartien des Körpers durch.
Am Anfang empfiehlt es sich etwa 2–3x/Tag zu üben, um den Lernprozess zu
beschleunigen. In weiterer Folge ist ein gezieltes Üben zur Bewältigung von
Stress, Schmerzen oder sonstiger psychischer Beschwerden präventiv, vor Auftre-
ten bzw. auch in der Situation möglich.
Die PMR kann in der Gruppe oder auch einzeln mit Unterstützung eines
Therapeuten erlernt werden. Zusätzlich sollte auch zuhause geübt werden. Eine
Unterstützung durch eine Anleitungskassette kann den Lernprozess erleichtern,
bewirkt jedoch auch eine gewisse Gewöhnung an die Stimme des Trainers und
eine suggestive Wirkung. Dadurch kann der Einsatz im Alltag etwas erschwert
sein. Ein Erlernen der PMR nur mit Buch und Kassette wird nur bei Personen
empfohlen, die keine Beschwerden aufweisen und es als „Wellness-Übung“ ler-
nen.
Die Vermittlung erfolgt meist in vier Abschnitten:
– der Vorbereitungsphase
– der Lernphase
– der Anwendungsphase
– des gezielten therapeutischen Einsatzes bei Krankheitsbildern.
In der Vorbereitungsphase werden das Wirkungsprinzip der Übung, die
Übungshaltung, der Ablauf und die Übungen erklärt. Als Grundhaltung hat sich
das entspannte Sitzen bewährt. Die Beine sind dabei leicht geöffnet, die Augen
Progressive Muskelentspannung nach Jacobson 251

geschlossen, die Arme ruhen entweder auf den Oberschenkeln oder der Lehne
auf (nicht hinunterhängen lassen!). Ängstliche Personen können die Augen am
Anfang auch geöffnet lassen. Es kann jedoch auch im Liegen, später auch im
Stehen (einzelne Übungen) geübt werden.
Die Lernphase beinhaltet das gezielte Erlernen der Übungen, wobei der ge-
samte Block meist in Teilen vermittelt wird. Die Größe der Blöcke richtet sich
nach der Fähigkeit des Patienten die Übungen durchzuführen, die Aufmerksam-
keit zu fokussieren, aber auch nach der Schwere der Störung und der Belastbar-
keit. Am Anfang ist das Vorsprechen durch den Therapeuten hilfreich, mit Fort-
dauer der Übungen sollte jedoch die Eigenkompetenz des Übenden verstärkt
einbezogen werden. Der Therapeut sollte hierbei den Fokus auf die An- und Ent-
spannung legen und gezielte Anweisungen geben (z. B. zum Faust schließen und
wieder öffnen). Der Übende soll sich auf die Wahrnehmung von An- und Ent-
spannung konzentrieren.
Der Prozess der An- und Entspannung ist schematisch in Abb. 1. dargestellt.

Anspannen – Spannung halten – Entspannen und locker lassen


Abb. 1. Prozess der Anspannung und Entspannung

Im Anschluss an die gesamte Übung erfolgt der Prozess des „Zurückholens“


aus der tiefen Entspannung. Dieser ist sowohl für den Erfolg der Übung, aber
auch die Integration derselben in den Alltag wichtig, da eine gewisse Müdigkeit
entsteht. Meist erfolgt das „Zurückholen“ durch „tiefes einatmen, Arme anwin-
keln, sich strecken, ausatmen und dabei die Augen wieder öffnen“.
Anschließend wird die Übung nachbesprochen, was gefühlt wurde, ob unan-
genehme Gefühle auftraten, welche Erwartungen die Person hatte, etc.
In der Anwendungsphase sollen die Übungen regelmäßig durchgeführt
werden. Die Regelmäßigkeit der Übungen soll zu einer festen Verankerung der
erreichten Entspannung und einer Automatisierung des Prozesses der Entspan-
nung führen. Dabei sollen die Muskeln „lernen“, sich bereits bei bestimmten
Hinweisreizen (z. B. entspannt hinsetzen, Schließen der Augen, Anspannen der
Hände und Unterarme) automatisch zu entspannen, ohne dass alle Muskelgrup-
pen bewusst und systematisch an- und entspannt werden müssen. Das bedeutet,
dass es vielen Personen nach vier Wochen kontinuierlichen Übens gelingt, den
252 G. Gatterer

Zustand der tiefen Entspannung bereits nach wenigen Minuten „auf Komman-
do“, z. B. durch Anspannen der Hände, „abzurufen“. Mögliche Erweiterungen
der Technik sind Gruppentherapien und im späteren Stadium eine Kombination
mit Autogenem Training, Imaginationsverfahren wie Phantasiereisen, der Ver-
wendung suggestiver Begriffe aus der Hypnose, zusätzlicher Entspannungsmusik
oder der Meditation.
Der gezielte Einsatz von PMR bei verschiedenen körperlichen und psychi-
schen Krankheitsbildern sollte unter medizinischer, psychologisch/psycho-
therapeutischer oder sonstiger Fachaufsicht erfolgen, um negative Effekte zu
vermeiden. So kann PMR bei Schlafstörungen, Schmerzen, Angststörungen, zur
Stressbewältigung, aber auch bei Depressionen und Belastungsreaktionen einge-
setzt werden.

Die Übungen

Die Progressive Muskelrelaxation (PMR) liegt in verschiedenen Langversionen


und Kurzversionen vor. Die hier dargestellten Versionen haben sich im klinischen
Alltag bewährt, können jedoch natürlich durch das Einbeziehen von zusätzlichen
Muskelgruppen erweitert bzw. durch deren Weglassen verkürzt werden. Das
Grundprinzip der Übung (Anspannung – Entspannung – Aufmerksamkeitslen-
kung) bleibt jedoch in allen Fällen erhalten.
Die festgelegte Übungsfolge geht üblicherweise von der dominanten Hand
aus (Faust machen), dann folgen beide Hände, Unterarm und Oberarm, Schul-
tern und Nacken, manchmal Rücken und Gesicht (Lippen, Zunge, Stirn), At-
mung, Bauch, Gesäß, Oberschenkel und Unterschenkel.

Langfassung-Anweisung

Die Langfassung beinhaltet alle von Jacobson in der Originalversion angeführten


Muskelgruppen und ist ein sehr umfassendes Programm, welches cirka eine
Stunde Zeit erfordert und im Sitzen durchgeführt wird. Jede Muskelgruppe wird
dabei etwa 1–2 Minuten angespannt und dann 3–4 Minuten locker gelassen. Die
Aufmerksamkeit begleitet diesen Prozess. Die Übungen, vor allem die Zeit des
Anspannens und Entspannens, können jedoch individuell angepasst werden. Es
sollten keine Schmerzen beim Üben auftreten. Jede Übung wird zuerst mit der
dominanten Hand und dann mit der nicht-dominanten Hand durchgeführt.
Im Folgenden sind diese Übungen nach Muskelgruppen geordnet angeführt
(leicht modifiziert nach Vaitl/Peterman):
1. Armübungen
a. Auf Sessellehne aufliegende Hand nach oben wölben, sodass die Finger
nach oben deuten;
b. Hand nach unten wölben, sodass die Fingerspitzen gegen den Boden wei-
sen;
Progressive Muskelentspannung nach Jacobson 253

c. Faust machen;
d. Arme anwinkeln;
e. Handgelenk gegen die Sessellehne drücken.
2. Beinübungen
a. Fußspitze nach oben, sodass Zehenspitze gegen die Decke deutet;
b. Zehenspitze gegen den Boden drücken;
c. Fuß heben;
d. Ferse gegen den Boden drücken;
e. Fuß gegen den Boden drücken.
3. Rumpfbereich
a. Bauch einziehen;
b. Aufrecht mit Hohlkreuz hinsetzen;
c. Tief einatmen und Luft anhalten;
d. Schultern nach hinten drücken;
e. Arm von der Brust weg nach rechts/links ausstrecken;
f. Schultern heben.
4. Nackenübungen
a. Kopf nach hinten drücken;
b. Kopf zur Brust;
c. Kopf nach rechts;
d. Kopf nach links.
5. Augenregion
a. Augenbrauen nach oben ziehen, Stirn runzeln;
b. Augenbrauen zusammenziehen, sodass vertikale Falten entstehen;
c. Augen fest schließen;
d. Ohne Kopfbewegung nach rechts, links, oben und unten schauen.
6. Visualisationsübung
In dieser Übung soll sich der Proband Bewegungen visualisierter Objekte
vorstellen. Diese sind mit Mikrobewegungen der Augen assoziiert, auf die
sich der Proband konzentrieren soll, z. B. vorbeifahrendes Auto.
7. Sprechwerkzeuge
a. Backenzähne zusammenbeißen;
b. Mund öffnen;
c. Zähne zeigen;
d. Lippen spitzen (Kussmund);
e. Zunge nach vorne gegen die Zähne drücken;
f. Zunge nach hinten gegen den Gaumen drücken.
Die Übungen werden dabei vom Therapeuten durch ein ruhiges Vorsprechen
unterstützt (siehe Kurzübung). Diese Langversion wurde von verschiedensten
Autoren (z. B. Bernstein und Borkovec 2002) modifiziert, wobei vor allem die Zeit
der Anspannung auf das derzeit übliche Maß von 5–10 Sekunden Anspannung
und 30 bis 50 Sekunden Entspannung verändert wurde.
254 G. Gatterer

Kurzfassung-Anweisung (Zahl in Klammer ist die Zeit in Sekunden bis zur


nächsten Anweisung; sie kann natürlich individuell angepasst werden, jedoch
sollte nicht zu rasch geübt werden).
Die hier dargestellte Kurzfassung fasst die wesentlichsten Bereiche der
Übungen zusammen und wird häufig aus Zeitgründen durchgeführt. Sie hat sich
in der klinischen Praxis des Autors bewährt und dauert etwa 10–15 Minuten. Die
Übungen sollten vorher mit offenen Augen gezeigt werden und werden dann bei
geschlossenen Augen langsam vorgesprochen. Jede Übung wird normalerweise
3x durchgeführt. Beim ersten Mal wird vorgesprochen, danach sollte es die Per-
son selbst versuchen. Bei Personen, die damit Schwierigkeiten haben, kann auch
öfter vorgesprochen werden.

Anweisung
„Setzen Sie sich möglichst bequem auf ihrem Stuhl zurecht und schließen
Sie Ihre Augen (2), machen Sie jetzt mit Ihrer rechten Hand eine Faust (1), ach-
ten Sie auf die Spannung (5) und lassen sie wieder ganz locker (15–20) und ach-
ten Sie auf die Entspannung in Ihren Fingern. Suchen Sie gedanklich Ihren Dau-
men (1), den Zeigefinger (1), Mittelfinger (1), Ringfinger (1) und den kleinen
Finger (1). Wiederholen Sie nun die Übung mit beiden Händen (3x durchführen
lassen).
Winkeln Sie nun ihre Arme an, spüren Sie Ihren Bizeps (5) und lassen Sie
Ihre Arme wieder sinken und entspannen Sie (2), achten Sie auf die Entspan-
nung in Ihren Armen (15–20). Wiederholen Sie nun auch diese Übung 2-mal.
Ziehen Sie nun ihre Schultern nach oben, aber so, dass sie nicht schmerzen
und achten Sie auf die Spannung (5), lassen Sie nun Ihre Schultern wieder lang-
sam sinken und achten Sie auf die Entspannung in Ihren Schultern (15–20).
Wiederholen Sie auch diese Übung 2-mal selbstständig.
Bewegen Sie nun ihren Kopf langsam nach vorne bis zur Brust und achten
Sie auf die Spannung im Nacken (2), nun langsam zurück, aber nicht überdeh-
nen, und achten Sie auf die Spannung vorne (2), nun langsam nach rechts (2)
und nach links (2) und pendeln Sie nun den Kopf in der Mitte ein, wo es am an-
genehmsten ist und bleiben Sie in dieser Stellung (15–20). Wiederholen Sie auch
diese Übung 2-mal.
Atmen Sie nun tief aus (3), tief einatmen (3), Atmung anhalten (5) und aus-
atmen und so weiteratmen, wie sich ihr Atmen ergibt (15–20). Lassen Sie den
Atem einfach ein- und ausströmen. Wiederholen Sie nun auch diese Übung
2-mal.
Drücken Sie nun Ihren Bauch heraus, achten Sie wieder auf die Spannung (5)
und lassen Sie ihre Muskeln wieder ganz locker (2) und achten Sie auf die Ent-
spannung in Ihrem Bauch (15–20). Machen Sie auch diese Übung 2-mal selbst-
ständig.
Drücken Sie nun Ihre Fersen gegen den Boden (2), achten Sie auf die Span-
nung (5) und lassen Sie wieder ganz locker (1) und entspannen Sie (15–20). Ma-
chen Sie auch diese Übung 2-mal selbstständig.
Progressive Muskelentspannung nach Jacobson 255

Drücken Sie nun Ihre Zehenspitzen gegen den Boden (2), achten Sie auf die
Spannung im Unterschenkel (5) und entspannen Sie wieder. Machen Sie auch
diese Übung 2-mal selbstständig.“
Zurücknehmen: „Winkeln Sie nun Ihre Arme an, atmen Sie tief ein, strecken
Sie sich, atmen Sie aus und öffnen Sie Ihre Augen wieder. (Kann auch öfter ge-
macht werden).“

Kurzes Entspannen zwischendurch

Bei Personen, die PMR bereits länger geübt haben, kann eine ganz kurze Form
für den Einsatz im Alltag verwendet werden. Dazwischen sollte aber immer wie-
der die längere Form geübt werden. Dazu werden verschiedene Muskelpartien
gleichzeitig angespannt und dann wieder locker gelassen. Die Übung soll 2–3x
wiederholt werden. Das Zurücknehmen erfolgt wie normal. Diese Form hat sich
für Personen, die tagsüber viel Stress aufbauen, aber kaum Zeit zum Entspannen
haben, in der klinischen Praxis des Autors sehr bewährt.

Anweisung
„Setzen Sie sich bequem auf Ihrem Stuhl zurecht und schließen Sie Ihre Augen
(2). Machen Sie nun mit beiden Händen eine Faust (1), winkeln Sie die Arme an
(1), atmen Sie tief ein (1) und pressen Sie die Beine fest gegen den Boden (5–10),
und nun lassen Sie alle Muskeln wieder ganz locker und entspannen Sie sich
wieder (60).“

Wirkungen und Nebenwirkungen von PMR

Die Wirksamkeit der Progressiven Muskelentspannung ist durch verschiedenste


Studien (vgl. Vaitl/Petermann, 1993) belegt. Primär führt die Technik zu einer Ent-
spannung im Muskelbereich (EMG-Ableitung), eine Senkung der Herzrate und
Atemfrequenz und einem hypnoseähnlichen Zustand. Ein wesentlicher Faktor in
allen Studien war jedoch die „Geübtheit“ der Person, sodass nur ein regelmäßi-
ges Üben auch den gewünschten Effekt bringt. Wenn die PMR lange geübt wur-
de stellen sich Entspannungsreaktionen meist bereits bei den ersten Übungen
ein, da der Prozess automatisiert abläuft.
Alle Entspannungsverfahren können bei Menschen mit Angstzuständen die-
se auch verstärken, dies ist bei der progressiven Muskelentspannung seltener als
beim Autogenen Training oder anderen Entspannungsverfahren, die mehr dazu
auffordern in sich hineinzuhören, kann aber auch hier vorkommen. Kribbeln in
den Fingern, Herzklopfen und Muskelzucken können als Zeichen einer Hyper-
ventilation auftreten. Seltener treten auch Magenknurren, Gähnen, Frösteln auf,
bei Menschen mit niedrigem Blutdruck kann dieser während der Entspannung
weiter absinken. Asthmabeschwerden können während Entspannungsübungen
zunehmen. Ähnliches gilt für Depersonalisations- und Derealisationsphänomene
256 G. Gatterer

bei Menschen, die an dissoziativen Störungen oder Psychosen leiden. Entspan-


nungsverfahren helfen bei Kopfschmerzen und Migräne vorzubeugen, dennoch
gilt: Entspannung kann bei allgemein sehr angespannten Menschen Übelkeit
und Kopfschmerzen auslösen, auch der Beginn einer Migräneattacke durch eine
Entspannungsübung ist möglich. Bei akuten Migräneattacken können diese
durch Entspannungsverfahren verschlimmert werden. Die Progressive Muskel-
entspannung ist zur Vorbeugung von Kopfschmerzen gut geeignet, während der
Migräneattacke kann sie aber zur Verschlimmerung der Beschwerden führen.
In solchen Fällen empfiehlt es sich, die Übungen leicht zu modifizieren, zu
verkürzen, kurz zu unterbrechen und dann zu steigern bzw. geben sich manche
Symptome von allein, da sie Zeichen der inneren Anspannung sind. Sich auf-
drängende Gedanken sollte man einfach „durchziehen“ lassen.

Einsatzbereiche von PMR

Die Einsatzbereiche von PMR sind breit gefächert und reichen von Stresskon-
trolle über Angstbewältigung, der Therapie von Schlafstörungen, Schmerzen,
Bluthochdruck bis zu somatoformen Störungen, Persönlichkeitsstörungen und
Belastungsreaktionen. Die PMR kommt dort häufig in Verbindung mit anderen
Verfahren, vor allem Psychotherapie und medikamentöser Therapie, zum Einsatz
(Petermann und Vaitl 1994). Außerdem wird durch sie die Leistungsfähigkeit ver-
bessert und das vegetative Nervensystem positiv beeinflusst. Vor allem im Rah-
men der Verhaltenstherapie kommt das Verfahren oft zum Einsatz, da es rascher
erlernt wird als Autogenes Training oder andere meditative Techniken.
Studien belegen die Wirksamkeit besonders im Bereich von Spannungskopf-
schmerz, Rückenschmerzen und der Migränetherapie (Goebel 2003; Kröner-
Herwig 2000; Bischoff und Traue 2004). Auch nach schweren Erkrankungen, z. B.
Herzinfarkt, kann die Methode eingesetzt werden. Manchmal wird sie auch mit
Biofeedback kombiniert, um dem Probanden die Wirksamkeit zu zeigen bzw. die
Sensibilität der Wahrnehmung zu verbessern. Ebenso ist sie eine gute Methode
zur Psychohygiene in helfenden Berufen bzw. bei Angehörigen von chronisch er-
krankten Menschen, z. B. Demenzerkrankungen (Gatter und Croy 2005).

Zusammenfassung

Die Progressive Muskelentspannung ist eines der am häufigsten angewandten


und am besten untersuchten Entspannungsverfahren. Ihre klinische Effektivität
ist für eine Reihe von Störungsbildern belegt; bei vielen anderen Bereichen, wie
etwa Asthma, Tinnitus, Colon irritabile, koronarer Herzkrankheit aber auch neu-
rologischen und psychiatrischen Erkrankungen, kann sie jedoch ebenfalls nach
kritischer Reflexion eingesetzt werden. Der Wirkmechanismus wird durch EMG-
Untersuchungen und Veränderungen anderer physiologischer Erregungsparame-
ter bestätigt und kann als unspezifische Entspannungsreaktion zusammengefasst
Progressive Muskelentspannung nach Jacobson 257

werden. Die genauen Wirkprinzipien sind jedoch nur wenig untersucht. Unter-
schiede zwischen der Urfassung von Jacobson, den längeren Verfahren und den
Kurztechniken sind kaum untersucht. Ebenso sind der Einfluss suggestiver Ele-
mente z. B. durch das Vorsprechen durch den Therapeuten oder Anleitungs-CDs
intervenierende Variablen. Das Verfahren ist jedoch bei Probanden sehr beliebt,
da es leicht erlernt werden kann und rasch Erfolge zeigt.

Literatur
Bernstein DA, Borkovec TD (2000) Entspannungstraining. Handbuch der progressiven Muskel-
entspannung nach Jacobson. Klett-Cotta, Stuttgart
Bischoff C, Traue HC (2004) Kopfschmerzen. Fortschritte der Psychotherapie, Hogrefe, Göttin-
gen
Gatterer G, Croy A (2005) Leben mit Demenz. Springer, Wien New York
Goebel G (2003) Tinnitus und Hyperakusis. Fortschritte der Psychotherapie. Hogrefe, Göttin-
gen
Jacobsen E (2002) Entspannung als Therapie. Progressive Relaxation in Theorie und Praxis.
Klett-Cotta, Stuttgart
Kröner-Herwig B (2000) Rückenschmerz. Fortschritte der Psychotherapie. Hogrefe, Göttingen
Petermann F, Vaitl D (Hrsg) (1994) Handbuch der Entspannungsverfahren. Bd 2: Anwendun-
gen. Beltz, Weinheim
Vaitl D, Petermann F (Hrsg) (1993) Handbuch der Entspannungsverfahren. Bd 1: Grundlagen
und Methoden. Beltz, Weinheim
http://www.schmerzakademie.de (gratis download)
Revision

Qigong

F. WENDTNER
F. Wendtner

Einleitung

In unseren Breiten kennt man Qigong – „Arbeit mit Lebensenergie“ – vor allem
als Bewegungsmeditation und als eine zunehmend im Wellnessbereich vermit-
telte Methode, etwas für das eigene Wohlbefinden zu tun. Allerdings wird man
so nur einem Teilaspekt dieses Weges zur Entwicklung Innerer Harmonie – und
damit auch zum Gesund-sein – gerecht.
Im Qigong versteht man Gesund-sein als Zustand der Ausgewogenheit im
Zusammenspiel der „Vitalen Substanzen“ Qi, Jing und Shen, sowie auch Xue
(Blut), Jin und Ye (Körpersäfte). Fließen diese vitalen Substanzen regelrecht im
Menschen, äußert sich das in körperlichem, geistigem, seelischem und spirituel-
lem Wohlbefinden. Ist dieses Fließen dagegen gestört, ist ein Zustand der Dis-
harmonie gegeben, der langfristig über verschiedene Befindlichkeitsstörungen zu
Krank-sein, vielfach verbunden mit Schmerzen, führt. Akupunktur ist bei dieser
Indikation dann eine in der medizinischen Schmerztherapie weit verbreitete und
wirksam angewandte komplementäre Behandlungsform. Qigong beeinflusst die
gleiche Energie, die in der Akupunktur durch das Stechen von Nadeln reguliert
wird und ist als Bestandteil der TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) ein
Weg, in innerer Achtsamkeit sowohl in langsamen, sanften Bewegungen als auch
in „Stillen Übungen“ ohne körperliche Bewegung ein Zuviel und Zuwenig im
Fließen des Qi zu regulieren, damit auch die eigene Schmerzsituation wohltuend
zu beeinflussen. Wärme, Entspannung, das Gefühl lebendiger innerer Ruhe und
mehr Energie zur Verfügung zu haben, werden erfahrbar, Schmerzen können ge-
lindert werden.
Imagination, Visualisierung und Vorstellungskraft sind dabei ebenso wichtig
wie die Bereitschaft, sich (wieder) sich selbst zuzuwenden. Langfristig kann
Qigong auch eine Lebenshaltung werden, geprägt von innerer Ruhe, Gelassen-
heit und einer tiefen Verbindung zum eigenen inneren Wesenskern.
260 F. Wendtner

Geschichte und Entwicklung

Verschiedene Quellen datieren die Ursprünge des Qigong in eine Zeit von 3000
bis 5000 Jahre vor dem Beginn unserer Zeitrechnung und zumindest eine Quelle
legt sich auch örtlich fest. Sie geht davon aus, dass Qigong „in der nördlichen
Schleife des Großen Flusses“ aus der Nachahmung von Tierbewegungen im
Rahmen schamanischer und kultischer Tänze entstand.
Erste Artefakte wie Steinschalen oder auch Steinnadeln, bei denen man da-
von ausgeht, dass sie zur frühen Akupunktur verwendet wurden, schätzt man auf
ein Alter von ca. 5000 Jahren. Erste schriftliche Dokumente finden sich als „Jade-
inschrift über das Führen und Leiten des Qi“ mit einem Alter von 2400 Jahren
oder in Form von Grabbeigaben, wie z. B. das „Daoyin tu (Plan der Übungen
zum Dehnen und Leiten)“ in Gestalt eines Seidenbildes mit den Abmessungen
110 mal 53 Zentimeter, auf welchem in 44 Darstellungen Übungen wie „das
Gleiten des Bären“ oder „Taubheit dehnend lösen“ abgebildet sind. Diese 1973
in Changsha in der Provinz Hunan im Mawangdui Grab Nr. 3 gefundene Seide
wird auf das Jahr 168 vor Christus datiert (Engelhardt 1998). Über die Jahrhun-
derte und die verschiedenen Herrscherperioden weitergegeben und entwickelt,
entstanden viele verschiedene Richtungen und Schulen, besonders von der Tang-
bis zur Yuan-Dynastie (618–1368). Während der Ming- und Ching-Dynastien
(1368–1912) kam es dagegen zu einer verstärkten Integration des Qigong. Ele-
mente der Hauptrichtungen – des taoistischen, buddhistischen und konfuzia-
nistischen – Qigong flossen ineinander. Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts
wurde schließlich die Chinesische Akademie für TCM (Traditionelle Chinesische
Medizin) gegründet und damit der Grundstein für eine naturwissenschaft-
lich/medizinisch angelegte Schule des Qigong. Gegenwärtig üben allein in China
zwischen 60–80 Millionen Menschen täglich Qigong und Tai Chi, vielfach am
frühen Morgen, unter anderem in den Parks der Städte. Aber nicht nur in China,
weltweit nimmt die Zahl der Qigong-Übenden ständig zu. Ob zur Gesundheits-
fürsorge, zur Unterstützung bei Genesung oder als Weg zu sich selbst, Qigong
bietet viele Facetten und Zugänge für die Übenden.
„...Seit diesen alten Zeiten sind dem Hauptstamm des Qigong viele ver-
schiedene Zweige der Praxis entsprossen, jeder mit einem eigenen Stil und einer
eigenen Zielrichtung; doch alle schenken Gesundheit und ein langes Leben,
physiologisches Gleichgewicht und emotionale Ausgeglichenheit, geistige Klar-
heit und spirituelle Harmonie.“ (Reid 2000)

Yin, Yang und die Wu Xing

Yin und Yang sind zwei der bekanntesten Begriffe aus TCM und Qigong. Erste
schriftliche bzw. bildliche Darstellungen finden sich um etwa 700 v. Christus
im „Buch der Wandlungen“. Angelegt im Ursprung Wuji, hervorgegangen aus
dem im dynamischen Wechselspiel entstandenen Tayji wird Yin ursprünglich mit
Qigong 261

„… die im Schatten liegende Seite des Berges ...“ und Yang mit „… die in der
Sonne liegende Seite des Berges …“ übersetzt. Daraus geht bereits hervor, dass
es sich hierbei um zwei polare Aspekte handelt, welche in einem ständigen
Übergang ineinander begriffen sind, wobei auf dem Höhepunkt des einen das
andere zu wachsen beginnt. Eines ist ohne das andere nicht möglich und jedes
braucht das jeweils andere, um zum Ausdruck kommen zu können. So braucht
die Funktion die Substanz, um wirksam werden zu können, die Ruhe ist die Ba-
sis der Bewegung. Dieses System erfuhr um rund 300 vor Christus eine bedeut-
same Erweiterung – es kam zur Einführung der Fünf-Elemente-Lehre Wu Xing.
In dieser Lehre werden die fünf Elemente oder auch Wandlungsphasen Holz,
Feuer, Erde, Metall und Wasser abstrakt als umfassendes Prinzip für alle Naturer-
scheinungen aufgefasst. Indem sie einander bedingen und sich gegenseitig be-
einflussen, wirken sie zyklisch aufeinander ein und stehen in einem definierten,
ständig in Fluss befindlichen Verhältnis zueinander. Sie stehen in einem unmit-
telbaren Zusammenhang mit dem Konzept Yin und Yang, bilden gleichsam die
detaillierte Darstellung des beständigen Wandels von Yin und Yang ab. Dabei ste-
hen Holz und Feuer für das zunehmende Yang, Metall und Wasser für das zu-
nehmende Yin und die Erde steht für den ausgeglichenen Zustand der Mitte, sie
ist zugleich der Speicher aller Energien und Quelle der Kraft für die anderen
Elemente. Im Lauf der Jahrhunderte entstand so nicht nur ein System von unter-
schiedlich aufeinander einwirkenden zyklischen Wechselbeziehungen, sondern
darüber hinaus ein Entsprechungssystem, welches den Menschen als Mikrokos-
mos im Makrokosmos mit einbezieht, ihn eingebunden in die beständigen Ab-
läufe und Wandlungen sieht (Kapchuk 2001) (Tabelle 1).

Tabelle 1

Holz Feuer Erde Metall Wasser

Zang (Vollorgane-YIN) Leber Herz Milz Lunge Niere


Fu (Hohlorgane–YANG) Gallenblase Dünndarm Magen Dickdarm Blase
Sinnesorgan/Bereich Auge Zunge Mund Nase Ohren
Gewebe Sehnen Blutgefäße Fleisch Haut Knochen
Emotion Ärger, Zorn Freude, Hektik Sorge, grübeln Trauer Angst
Stimmlicher Ausdruck rufen, schreien lachen singen weinen stöhnen
Geschmack sauer bitter süß scharf salzig
Fähigkeit Initiative Kommunikation Verhandlung Unterscheidung Phantasie
Tugend Güte Freundlichkeit Zuverlässigkeit Aufrichtigkeit Tatkraft
Entwicklung Geburt Jugend Reife Alter Tod, Wandel
Jahreszeit Frühling Sommer Spätsommer Herbst Winter
Klimatischer Faktor Wind Hitze Feuchtigkeit Trockenheit Kälte
Himmelsrichtung Osten Süden Mitte Westen Norden

Diese Tabelle ist als beispielhafte, nicht als vollständige Übersicht zu den o. a. Entspre-
chungen zu sehen.
262 F. Wendtner

Qi, Jing und Shen


Im „Baopuzi“ (Der Meister, der am Einfachen festhält), einem der wichtigsten
Kompendien der TCM aus dem 3. Jh. n. Chr., wird Qi wie folgt verstanden:

„Der Mensch lebt inmitten von Qi, und Qi erfüllt den Menschen. Angefangen
bei Himmel und Erde bis hin zu den zehntausend (= alle)Wesen. Alles bedarf des
Qi, um zu leben. Wer das Qi zu führen weiß, nährt im Inneren seinen Körper
und wehrt nach außen hin alle schädigenden Einflüsse ab.“

Qi wird hier als Basis, als die alles durchdringende, jegliches Leben im Kosmos
erst ermöglichende Kraft in verschiedenen Ausprägungen begriffen. Jing ent-
spricht demnach dem materiellen (Substanz) und Shen dem immateriellen
(Geist/Psyche) Aspekt von Qi – und alle Aspekte sind in ständigem Wandel und
einem Auseinander hervor und einem Ineinander übergehen begriffen. In uns
Menschen fließt das Qi in einem Netzwerk, bestehend aus den auf beiden Kör-
perhälften symmetrisch angelegten Leitbahnen oder Meridianen (Wentao et al.
2003), sowie in den Gefäßen oder Mai und verschiedenen weiteren Verbindun-
gen in einem als „Organuhr“ bekannten Rhythmus. Dabei bilden immer – wie in
Tabelle 1 angeführt - ein Yin- und ein Yang-Organ einen „Funktionskreis“, wie
z. B. Herz/Dünndarm oder Leber/Gallenblase und arbeiten besonders eng zu-
sammen. Qi wird beständig zur Aufrechterhaltung der Lebensvorgänge ver-
braucht und wird neben dem ererbten und im Funktionskreis der Nieren ge-
speicherten Anteil aus der Nahrung, der Atmung und aus der Umgebung
aufgenommen und gewandelt. Dies geschieht im Rahmen von Qihua – der
Transformation von Qi (vgl. dazu Wenzel 1999). Erfolgt diese regelrecht, und
ebenso der Fluss des Qi im oben angesprochenen Netzwerk, fühlen wir uns aus-
geglichen und gesund. Kommt es zu deutlicheren Abweichungen und ist der
Mensch nicht mehr in der Lage, diese Schwankungen abzupuffern, sind Un-
wohlsein bis hin zu Kranksein, oft auch verbunden mit dem Auftreten von
Schmerz die Folge. Im Qigong wird – wie auch in der Akupunktur oder Aku-
punktmassage – Schmerz als „Schrei des Gewebes nach fließender Energie“ in-
terpretiert.

Qigong bei Kopfschmerzen


Laut Statistik leiden vier bis fünf Prozent der Bevölkerung – überwiegend Frauen
– an Dauerkopfschmerzen, häufig verbunden mit Depressionen, Ängsten und
Medikamentenmissbrauch. Kopfschmerzen, vor allem Spannungskopfschmer-
zen, sind die am häufigsten diagnostizierten Schmerzen. Sie gehen oft von
psychosozial und beruflich bedingtem Stress aus, der Verspannungen im Na-
ckenbereich auslöst. Das führt zu Minderdurchblutung und reduzierter Sauer-
stoffversorgung im Gewebe, verbunden mit immer stärker werdenden Schmer-
zen. Diese können in der Folge über habituierte Ausweich- und Schonhaltungen
Qigong 263

dauerhafte Fehlbelastungen der Halswirbelsäule bedingen, wodurch es wie-


derum zu Schmerzen kommt – der Circulus vitiosus schließt sich… Auch Migrä-
ne – in Deutschland leiden 16 % der Frauen daran – führt bei vielen Betroffenen
zu exorbitanten Schmerzen und damit verbundenen Krankenständen, welchen
man in der Regel mit Medikamenten begegnet, die ihrerseits wieder Schmerzen
auslösen können. Was mittlerweile – überwiegend bei den rezeptfrei erhältlichen
– Präparaten bestätigt werden konnte.
Dass man Kopfschmerzen aber durchaus auch ohne die Einnahme von Me-
dikamenten verhindern oder bessern kann, hat Elisabeth Friedrichs (2003) nach-
gewiesen.
Sie untersuchte in ihrer Doktorarbeit Qigong bei Spannungskopfschmerz
und Migräne im Rahmen einer prospektiv und multizentrisch angelegten Pilot-
studie und konnte zeigen, dass Qigong eine geeignete Begleitbehandlung bei
Migräne und Spannungskopfschmerz sein kann.
Dazu untersuchte sie in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Gesellschaft
für Qigong Yangsheng und der Deutschen Ärztegesellschaft für Akupunktur 166
TeilnehmerInnen und konnte letztlich Daten von 95 (90 davon Frauen) auswer-
ten. Dabei kam in verschiedenen Institutionen eine Reihe von Fragebögen zur
Anwendung, dreizehn Kursleiter und verschiedene prüfende Ärzte waren invol-
viert.
Die mehrere Monate dauernde Studie wurde im Wesentlichen den Empfeh-
lungen der IHS (Internationale Kopfschmerzgesellschaft IHS – International
Headache Society) folgend durchgeführt und kam u. a. zu dem Ergebnis, dass
sich sowohl die Anzahl der Schmerztage der TeilnehmerInnen verringerte – bei
27 ProbandInnen um mindestens 50 % –, als auch die Anzahl der Schmerzanfäl-
le und deren Intensität. Damit verbunden war eine Zunahme der Lebensqualität.
Dass diese Ergebnisse dauerhaft waren, erwies sich nach einem Follow-up, einer
Nacherhebung ein Jahr nach der Studie. Es wurden 32 Personen (also rund ein
Drittel der ProbandInnen) randomisiert ausgewählt und angeschrieben. 25 ant-
worteten und 21 von ihnen gaben an, nach wie vor regelmäßig zu üben. Bei die-
sen zeigten sich weder hinsichtlich der Schmerzintensität, der Anzahl der
Schmerzanfälle oder der Schmerztage signifikante Verschiebungen seit Studien-
ende.

Qigong bei Rückenschmerzen

Rückenschmerzen sind neben Kopfschmerzen die am häufigsten diagnostizier-


ten Schmerzen und führen sehr oft zu Langzeitbehinderungen bis hin zu Früh-
pensionierungen. In den Industrienationen berichtet mehr als die Hälfte der Ar-
beitenden, im vergangenen Jahr unter Rückenschmerzen gelitten zu haben und
nicht nur die österreichischen Versicherungsstatistiken weisen eine steigende
Zunahme von Krankenständen infolge von „Störungen des Bewegungs- und
Stützapparates“ aus. Allerdings leiden 85 % aller Patienten an sogenannten
„idiopathischen Rückenschmerzen“, also Schmerzen, deren Ursache neurophy-
264 F. Wendtner

siologisch oder organdiagnostisch nicht fassbar ist. Es ist also davon auszugehen,
dass sowohl den psychischen als auch den funktionellen Aspekten bei Rücken-
schmerzen immer noch zu wenig Beachtung geschenkt wird (vgl. Haak und
Scott 2007).
Darüberhinaus sind hierzulande die diesbezüglichen energetischen Zusam-
menhänge und Bedingungsgefüge noch nicht ausreichend erforscht oder (an)-
erkannt, denn aus chinesischen Studien geht klar hervor, dass Rückenschmerzen
bei Qigong-Übenden wesentlich seltener auftreten. Die Ärztin Dr. Andrea
Zauner-Dungl empfiehlt Qigong sowohl zur Prävention wie zur Therapie von
Rückenschmerzen: „… Betrachten wir die Körperhaltung beim Qigong-Training,
so ist sie mit den Empfehlungen der modernen Haltungsinstruktionen weitge-
hend ident. Das Fließgleichgewicht von phasischer und tonischer Aktivität kann
nur durch das Gesetz der reziproken Innervation ungestört erhalten werden.
Qigong-Übungen werden diesen bewegungsphysiologischen Grundsätzen in
vollem Ausmaß gerecht. Qigong erfüllt alle Kriterien der modernen Präventions-
richtlinien für idiopathischen Rückenschmerz.“ (Zauner-Dungl 2004)
Bei bestehenden Schmerzen übt man den eigenen Möglichkeiten entspre-
chend in der eingangs angeführten inneren Achtsamkeit nach dem Prinzip „Das
Qi folgt der Vorstellung“, d. h. nur in angedeuteten Bewegungen, denn die Verin-
nerlichung der jeweiligen Übung und ihre Visualisierung sind von wesentlicherer
Bedeutung als die Perfektion der Ausführung.

Qigong bei Krebsschmerzen

Im Rahmen des 1999 am Center for Integrative Medicine at Stanford Hospital


and Clinics entwickelten Programmes „Stanford Cancer Supportive Care Pro-
gram (SCSCP)“ (Rosenbaum et al. 2004) zur Unterstützung von Krebspatient-
Innen und ihren Angehörigen wurde neben Ernährungsberatung, Gymnastik
oder komplementären und alternativen Ansätzen sowie Schmerztherapie auch
Qigong angeboten. Es wurde die Wirkung der einzelnen Module im Hinblick
auf die Lebensqualität sowohl von neu diagnostizierten wie auch palliativen
KrebspatientInnen erhoben. Im Qigong erlernten die TeilnehmerInnen einfache
Übungen:
“... patients learned a number of simple techniques that could be performed
from sitting, standing or moving positions ...” (Rosenbaum et al. 2004, p. 9).
Sie sollten im wöchentlichen Rhythmus alle Veränderungen im Hinblick auf
Schmerz, Stress, Energie, Wohlergehen und Schlafqualität mittels Visueller Ana-
log-Skalen (VAS) einschätzen.
Im Zeitraum von Februar 2001 bis Mai 2002 konnten Daten von 1183 Patien-
tenbesuchen erhoben werden. 334 PatientInnen hatten Qigong geübt und wie
folgt beurteilt:
22 % der TeilnehmerInnen berichteten eine Schmerzreduktion, 78 % eine
Stressverminderung, 74 % eine Verbesserung ihres Wohlergehens, 58 % einen
Anstieg ihres Energielevels.
Qigong 265

Somit erscheint auch bei dieser PatientInnengruppe Qigong sowohl zur Ver-
besserung der subjektiven Schmerzsituation als auch zur Hebung der Lebens-
qualität geeignet.

Zusammenfassung

Schmerz, vor allem chronischer Schmerz, ist ein hochkomplexes Ganzes, das den
Menschen in seiner gesamten Existenz und in allen Lebensbereichen betrifft –
und doch von vielen Betroffenen in noch nahezu ausschließlich organisch ausge-
richteter Sichtweise verstanden wird. Dass bei Schmerzen der erste Weg zur Me-
dizin führt, ist in unserer Kultur selbstverständlich. Nur sollte das – auch im Hin-
blick auf die Kosten für unser Gesundheitssystem (Göbel 2001) – besonders bei
chronischen Schmerzen nicht die einzige Handlungsalternative bleiben. Neben
etablierten komplementären Herangehensweisen (Bernatzky et al. 2007) kann
Qigong ein Weg sein, selbständig die Schmerzen zu lindern und damit den Grad
der Autonomie zu erhöhen. Gerade die Erfahrung, selbst nachhaltig Hilflosigkeit
und Ausgeliefertsein reduzieren zu können, verändert Erwartungshaltungen und
trägt nachweislich dazu bei, Schmerzen zu reduzieren (Kamolz 1996). Darüber-
hinaus kommt es zur Hebung sowohl der internalen Kontrollüberzeugung
(Rotter 1966) als auch der Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura 1977) und
damit zu mehr Zuversicht, letztlich zu mehr Lebensqualität.
Qigong ist – wie bereits in der Einleitung angedeutet – ein angenehmer, sanf-
ter Weg bei bereits bestehenden Schmerzen, eigenverantwortlich, wirksam und
spürbar etwas für sich selbst zu tun, aber auch präventiv regulierend die innere
Balance im Sinne von „Yangsheng – Lebenspflege“ zu fördern und so auf eine
wohltuende Weise und nachhaltig das eigene Gesundbleiben zu fördern (Mayer
1999).

Literatur
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Revision

TCM – Ist diese Medizin auch für den


Westen geeignet?

J. WALTER
J. Walter
TCM – Ist diese Medizin auch für den Westen geeignet?

Einleitung

Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) ist eine naturheilkundliche Thera-


pieform, die in China schon vor Christi Geburt angewendet wurde. Sie ist in ein
philosophisches System eingebettet und umfasst mehrere „Disziplinen“. Die im
Westen mit Abstand am weitesten verbreitete dieser Therapieformen ist die Aku-
punktur, die seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen starken Auf-
schwung genommen hat. Die Akupunktur verdankt ihren Durchbruch im Wes-
ten der Akupunkturanalgesie, welche zunächst vor allem bei Operationen im
Hals-Nasen-Ohren-Bereich angewendet wurde. Inzwischen ist der Einsatz der
Akupunktur zur Analgesie bei Operationen verschwindend, ihre Verbreitung und
Bedeutung in der Therapie verschiedenster Schmerzzustände und Erkrankungen
nimmt jedoch stetig zu. Dies läßt sich auch an der wachsenden Zahl an Interes-
senten in den westlichen Industrieländern erkennen, die diese alternative Thera-
pieform erlernen möchten.
Neben der Akupunktur stellen jedoch auch die Kräutertherapie, die Ernäh-
rungslehre, Massageformen (Tuina), sowie spezielle Bewegungs- und Atemtech-
niken (Qigong) wichtige Pfeiler der TCM dar. Diese Therapieformen basieren auf
denselben medizin-philosophischen Grundüberlegungen und wirken daher
auch einander ergänzend.

Yin und Yang

Die herausragendste und wichtigste Theorie der TCM ist das Prinzip von Yin und
Yang. Alle Erscheinungen der Welt werden in dieses System eingebunden, wobei
Yin und Yang zwar gegensätzliche, aber doch einander ergänzende Eigenschaften
repräsentieren. Sie stehen damit im Gegensatz zur westlichen Logik, in der sich
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gegensätzliche Eigenschaften ausschließen. Eine sinnvolle und Erfolg verspre-


chende Therapie im Sinne der TCM, insbesondere auch eine Akupunkturthera-
pie, baut auf dem Prinzip von Yin und Yang auf und ist unter diesen Gesichts-
punkten auch im Westen hervorragend anzuwenden.
Das Prinzip von Yin und Yang baut auf der Philosophie auf, dass das gesamte
Universum aus Gegensatzpaaren besteht, die aber zusammen eine Ganzheit bil-
den. Ausdruck findet es im Bild der Monade (Abb. 1), wobei der schwarze Anteil
dem Yin und der weiße Anteil dem Yang entspricht. Es zeigt zwei Stadien einer
zyklischen Bewegung, wobei einerseits der eine Teil zunimmt, wenn der andere
abnimmt. Andererseits beinhaltet aber auch jeder Teil etwas vom Anderen, was
veranschaulichen soll, dass es kein absolutes Yin oder Yang geben kann.

Abb. 1.

Die chinesischen Schriftzeichen für Yin beziehen sich auf die „Schattenseite“
eines Hügels, die des Yang auf die „Sonnenseite“. Für die Zuordnung jedes Na-
turphänomens, jedes physiologischen und pathologischen Vorganges sowie jedes
Symptoms ist dieses Bild sehr hilfreich. Dementsprechend steht das Yin unter
anderem für Eigenschaften wie dunkel, kalt und feucht, während Yang für hell,
warm und trocken steht. Auch medizinische Begriffe lassen sich in dieses System
einordnen (Tabelle 1), wie generell die gesamte chinesische Medizin ihre Diag-
nose- und Behandlungsmethoden auf die fundamentale Theorie von Yin und
Yang zurückführt (Fung Yu-Lan 1966).
Tabelle 1

Yin Yang
Parasympathikus Sympathikus
Schlaf Wachsein
Ruhe Bewegung
Hypofunktion Hyperfunktion
Dilatation Kontraktion
Diastole Systole
Exspiration Inspiration
Chronische Zustände Akute Zustände
Körpersubstanz Körperfunktion
Wärmebedürftigkeit Verlangen nach Kühlem
Hohlorgane Parenchymatöse Organe
TCM – Ist diese Medizin auch für den Westen geeignet? 269

Die fünf Grundsubstanzen des Lebens

Die chinesische Medizin kennt fünf Grundsubstanzen des Lebens, deren rei-
bungslose Interaktion und ausreichende Verfügbarkeit entscheidend für das
Funktionieren von Körper und Seele, und damit für Leben, ist.
Die zentrale Grundsubstanz ist das Qi, das auch die Basis der anderen Sub-
stanzen des Lebens darstellt. Qi ist ein medizinphilosophischer Begriff und hat
keine wörtliche Entsprechung im Deutschen. Am ehesten könnte es mit „Ener-
gie“ oder „Lebensenergie“ übersetzt werden. Nach den Vorstellungen der TCM
kreist es ständig im Körper, in den Organen und in „Energiebahnen“ an der
Körperoberfläche, den „Meridianen“. Eine Behinderung des reibungslosen und
ungehinderten Fließens des Qi hat Schmerzen und Funktionseinschränkung
zur Folge, ein komplettes Sistieren des Qi-Flusses bedeutet den Tod des
Organismus. Qi tritt in verschiedenen Formen auf, die wichtigsten sind die Erb-
energie („Yuan-Qi“), die Nahrungsenergie („Gu-Qi“) sowie die Atmungsenergie
(„Zong-Qi“).
Die Gewebsflüssigkeiten und Körpersäfte („Jin Ye“), das Erbgut („Jing“), der
Intellekt oder Geist („Shen“) sowie das Blut („Xue“) stellen die vier anderen
Grundsubstanzen dar und sind lediglich besondere Formen von Qi (von sehr
dicht und materiell wie das „Blut“ zu gänzlich immateriell wie der „Geist“)
(Maciocia 1994).

Meridiane (Leitbahnen) und Organsysteme (Funktionskreise)

Das anatomisch-histologische Substrat der Meridiane, die schon in der Han-


Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) beschrieben wurden, ist bis heute nicht ge-
klärt. Es ist demnach unklar, ob sie als noch unentdeckte eigenständige Struktu-
ren existieren, oder ob die bekannten Strukturen wie Blutgefäße, Lymphbahnen
und Nervensystem Funktionen im Sinne der Meridiane haben, die noch nicht er-
forscht sind. Nach Vorstellung der TCM sind die Meridiane Energiebahnen, die
auch an der Körperoberfläche verlaufen und in denen unter anderem das Qi
kreist. Das ungehinderte, harmonische Fließen des Qi ist auch Voraussetzung für
die ungestörte Funktion der mit den einzelnen Meridianen in Verbindung ste-
henden Organe. Jeder der 12 paarig angelegten Meridiane bildet mit einem Or-
gan einen sogenannten Funktionskreis. Die Verbindung zwischen Meridianen
und inneren Organen stellt die Grundlage der therapeutischen Wirkung der Rei-
zung von Meridianpunkten auf der Körperoberfläche dar, wie dies z. B. bei der
Akupunktur und der Meridianmassage (Tuina) durchgeführt wird. Elf der 12
Hauptmeridiane werden auch nach den mit ihnen verbundenen Organen be-
nannt, lediglich der 3-Erwärmer-Meridian hat keine für den westlichen Anwen-
der leicht verständliche Entsprechung. Jedem Funktionskreis werden unter ande-
rem auch bestimmte Sinnesorgane, Farben, Emotionen, sensorische Qualitäten
und Wetterfaktoren zugeordnet. Diese Entsprechungen spielen sowohl für die
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Diagnostik als auch für die Therapie im Sinne der TCM eine wichtige Rolle und
helfen auch dem westlich geschulten Denken, ein entsprechendes Verständnis
für die Zusammenhänge der chinesischen Medizin zu erlangen.

Pathologische Faktoren

Die TCM kennt in erster Linie zwei Arten von pathologischen Faktoren, nämlich
äußere und innere. Während die westliche Medizin erst seit ein paar Jahrzehnten
die Bedeutung von psychischen Faktoren als Krankheitsauslöser verstärkt beach-
tet, spielen diese als Gruppe der inneren pathologischen Faktoren in der TCM
schon seit Jahrtausenden eine zentrale Rolle. Sie versteht emotionale Zustände
wie Angst, Sorge, Freude, Trauer, Zorn u. a. als integrale und untrennbare Be-
standteile der inneren Organe. Zur Krankheitsursache werden Emotionen jedoch
erst dann, wenn sie besonders stark sind oder, was häufiger vorkommt, wenn sie
über lange Zeit bestehen. So gehören die Angst zur Niere, die Sorge zur Milz, die
Freude zum Herzen, die Trauer zur Lunge und der Zorn zum Funktionskreis der
Leber. In einer der TCM typischen Wechselbeziehung kann einerseits das Organ
leiden, wenn der jeweilige emotionale Faktor entgleist. Andererseits kann jedoch
auch durch eine Schwäche oder Erkrankung des Organs die jeweilige Emotion
auftreten (Huang Ti Nei Jing Su Wen 1979)
Diese Körper-Geist-Wechselbeziehung tritt auch bei den äußeren pathologi-
schen Faktoren auf. Darunter versteht die TCM in erster Linie klimatische Bedin-
gungen wie Wind, Hitze Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit. Naturgemäß haben
sie eine enge Beziehung zu Wetter und Jahreszeiten. Ähnlich wie bei den inneren
Faktoren werden die Einflüsse erst dann krankmachend, wenn sie entweder in
extremer Ausprägung auftreten oder der Körper geschwächt ist. Hier korrespon-
dieren der Wind mit der Leber, Hitze mit dem Herzen, Kälte mit der Niere, Tro-
ckenheit mit der Lunge und die Feuchtigkeit mit dem Funktionskreis der Milz.
Diese pathologischen Faktoren stechen gegenüber den anderen insofern heraus,
als sie sowohl für Ursachen, als auch für Syndrome stehen. Das heißt, es kann
einerseits das innere Organ durch den pathologischen Faktor in Mitleidenschaft
gezogen werden, andererseits sich diese Schwächung des Organs in Form des
pathologischen Faktors manifestieren (z. B. Wind-Symptome bei Beschwerden
mit wechselnder Lokalisation und Intensität, meist im Kopf-Hals-Bereich auftre-
tend).
Neben den inneren und äußeren Krankheitsursachen können auch andere
Faktoren eine Rolle spielen. Hier sind unter anderem eine schwache Konstitu-
tion, Überanstrengung, falsche Ernährung sowie falsche Behandlungen zu nen-
nen.

Diagnostische Möglichkeiten

Die Erstellung einer guten Diagnose nach TCM ist ein mehrschichtiger Prozess,
in dessen Zentrum die Wahrnehmung des Arztes steht. Da den Ärzten in den
TCM – Ist diese Medizin auch für den Westen geeignet? 271

Frühzeiten der TCM, also vor mehr als 2000 Jahren, lediglich die eigenen Sinnes-
organe zur Verfügung standen, und es noch keine Möglichkeiten einer apparati-
ven Diagnostik gab, stehen Sehen, Fühlen, Riechen, Schmecken und Hören ne-
ben dem gezielten Befragen des Patienten zu Beginn jeder Diagnosefindung.
Dabei werden nicht nur die zum aktuellen Krankheitsgeschehen gehörenden
Symptome einbezogen, sondern auch Manifestationen, die damit auf den ersten
Blick oft gar nichts zu tun haben. Insbesondere fließen auch emotionale und psy-
chische Zustände ein. Eine TCM-Diagnose stützt sich daher nicht nur auf Befun-
de, sondern immer auch auf das Befinden des Patienten.
Unter den verschiedenen Techniken seien vor allem die Zungen- und Puls-
diagnose erwähnt, denen eine große Bedeutung zukommt. Beide Methoden
basieren auf der Korrespondenz der einzelnen inneren Organe und ihrer Funk-
tionskreise mit Arealen auf der Zunge bzw. Pulslokalisationen.
Zweifellos sind diese Techniken auch für westliche Mediziner bei entspre-
chender theoretischer Befassung und praktischer Übung problemlos zu erlernen
und anwendbar. Generell sollte jedoch jeder TCM-Diagnose auch eine westliche
schulmedizinische Diagnose vorausgehen oder zumindest angeschlossen sein,
um nicht eine möglicherweise konventionell besser heilbare oder eine operative
Therapie erfordernde Organerkrankung zu übersehen.

Therapiemöglichkeiten

Nach der Erstellung der genauen Diagnose durch Identifizierung der vorherr-
schenden Syndrome erfolgt die Erstellung eines Behandlungsprinzips. Wie schon
erwähnt kennt die TCM verschiedene Therapieformen, wobei sie jeweils durch
unterschiedliche Techniken gekennzeichnet sind, allen aber das Behandlungs-
prinzip im Sinne der TCM gemeinsam ist. Allgemein werden zunächst die vor-
herrschenden und akuten Symptome behandelt, gleichzeitig erfolgt jedoch meist
auch schon eine Behandlung der zugrunde liegenden Ursachen und Syndrome;
die TCM spricht hier von der „Wurzel“. Letztlich bleibt eine Behandlung, die
ausschließlich auf die Symptome ausgerichtet ist, auf längere Sicht erfolglos,
wenn nicht auch die Wurzel mittherapiert wird. Es bleibt allerdings der Kunst des
TCM-Therapeuten überlassen, wie diese beiden Aspekte in den Behandlungs-
plan integriert werden.
Zu den verschiedenen Therapieformen zählen unter anderem die Akupunk-
tur, die im Westen sicherlich am weitesten verbreitete Methode, die Akupressur,
die Tuina-Massage sowie die Kräutertherapie. Unterstützend kann zusätzlich die
Ernährung nach den 5 Elementen eingesetzt werden. Allen diesen Therapiefor-
men ist gemeinsam, dass sie Gestörtes harmonisieren und wieder in Einklang
bringen, zerstörte Strukturen jedoch nicht heilen können.
Die Akupunktur ist eine klassische Reiztherapie, bei der über Nadelung be-
stimmter Punkte der Fluss des Qi angeregt wird und dadurch Selbstregulations-
kräfte des Körpers in Gang gesetzt werden. Vor allem in China wird großes Au-
genmerk auf das vom Patienten verspürte „Deqi-Gefühl“ gelegt, das der Patient
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infolge des Einstiches der Akupunkturnadel verspüren soll. Damit ist jedoch
nicht das Spüren des Einstiches gemeint, sondern ein lokales oder entlang des
Meridians ausstrahlendes, schwer definierbares Gefühl von Ziehen, Schwere,
Wärme, Parästhesie oder Kribbeln. Wörtlich übersetzt bedeutet es „Ankunft des
Qi“ und signalisiert die Wirkung der entsprechenden Nadel.
Prinzipiell kann jeder Punkt der Körperoberfläche als Akupunkturpunkt ver-
wendet werden, der Großteil derselben liegt jedoch auf den Meridianen. Unter
diesen gibt es solche mit segmentalem Bezug (Alarm- und Zustimmungspunk-
te), mit direktem Organbezug (Quell-, Durchgangs-Punkte u. a.), antike Punkte
(Tonisierungs-, Sedierungs-, Ho-Punkte) sowie die, eher den europäischen
Schulen der Akupunktur entstammenden, Meisterpunkte. Wichtig ist, dass trotz
der Zuordnung vieler Punkte zu einer bestimmten Punktkategorie jeder Aku-
punkturpunkt je nach dem vorherrschenden Syndrom des Patienten verschiede-
ne bzw. auch mehrere Wirkungen haben kann. Einzelne Punktkategorien, vor al-
lem die antiken Tonisierungs- und Sedierungspunkte, die der konfuzianischen
Vorschrift, Arme und Beine der Patienten nur bis zum Ellbogen bzw. Knie unter-
suchen und behandeln zu dürfen, entsprungen sind, haben heute an Bedeutung
etwas eingebüßt.
Noch älter als die Akupunktur ist die Akupressur, bei der die Punkte mit den
Fingern massiert werden, eine Therapie-Technik, die der Patient nach entspre-
chender Einschulung zum Teil auch selber weiterführen kann.
Die Tuina-Massage ist eine Form der manuellen Medizin im Rahmen der
TCM. Sie vereint Aspekte der Akupressur, der Chiropraktik, verschiedener Mas-
sagetechniken und aktive und passive Gelenksmobilisationen.
Dem Kaiser Shen Nung schreiben die Chinesen die Entdeckung der Kräuter-
therapie zu. Es existieren mehrere tausend verwendeter Substanzen pflanzlicher,
tierischer oder mineralischer Herkunft. In der Praxis werden 300 bis 400 regel-
mäßig benutzt. Durch die Mischung verschiedener Kräuter in einer Rezeptur
können sie sich in ihren positiven Wirkungen verstärken und Nebenwirkungen
vermieden werden. Das Erlernen der einzelnen Arzneimittelwirkungen ist schon
aufgrund des Umfangs Ziel einer zu Recht langjährigen Ausbildung, die sich
nicht auf einfache „Kochrezepte“ reduzieren lässt.
Eine entscheidende Philosophie der TCM ist, dass das Ganze mehr ist als die
Summe seiner Teile, d. h., dass eine sinnvolle Diagnostik und Therapie nur dann
möglich ist, wenn der Patient in einem ganzheitlichen Zusammenhang gesehen
wird. Das erfordert neben einem profunden theoretischen Wissen über die ein-
zelnen Organmuster und Syndrome zur Erstellung der richtigen Diagnose auch
die genaue Kenntnis über die Möglichkeiten und Details der verschiedenen The-
rapieformen. Die Erlangung dieser Voraussetzungen ist auch für westliche Ärzte
und Pflegepersonen problemlos möglich. Notwendig sind allerdings eine gewis-
se Loslösung von westlich-schulmedizinischen Fachbegriffen und ein „Eintau-
chen“ in die Gedankenwelt und Terminologie der TCM.
Da die TCM versucht, den Patienten in seiner Individualität und Gesamtheit
zu sehen, lassen sich nur schwer allgemein gültige konkrete Behandlungspläne
erstellen. Dies umso mehr als oft nicht nur eine, sondern wie oben dargestellt
TCM – Ist diese Medizin auch für den Westen geeignet? 273

mehrere Behandlungsformen in das Therapiekonzept einfließen. Trotzdem kön-


nen vor allem bei akuten Schmerzen und Funktionsstörungen einzelne spezielle
Akupunkturpunkte auch vom „TCM-Laien“ einfach massiert werden. Auch
wenn dies nicht mit einer echten TCM-Therapie zu vergleichen ist, sollen einige
Akupunkturpunkte und deren Hauptwirkung nachfolgend dargestellt werden.

Auswahl von Anwendungsmöglichkeiten für den


„TCM-Laien“

Analgetische Wirkung: Dickdarm 4 (Di 4)


Der Punkt Di 4 liegt auf dem Dickdarm-Meridian und ist am Handrücken, etwas
distal vom Winkel, den die Metakarpalia I und II bilden, lokalisiert. Er ist der
wichtigste Punkt, um Wind und Hitze aus dem Gesicht zu vertreiben. Dement-
sprechend wirkt er besonders bei Heuschnupfen, bei verstopfter Nase und bei
juckenden Augen. Da er dem sogenannten Thalamus Punkt am Ohr entspricht,
wirkt er auch als Haupt-Analgesie-Punkt, vor allem im Kopf- und Halsbereich.
Zusätzlich kann er den Geburtsvorgang beschleunigen und ist deshalb in der
Schwangerschaft nur vorsichtig anzuwenden.

Förderung des Qi-Flusses: Leber 3 (Le 3)


Dieser Punkt liegt auf dem Lebermeridian im proximalen Winkel zwischen
Metatarsale II und III. Er hat durch die Förderung des ungehinderten Qi-Flusses
eine ausgesprochen harmonisierende Wirkung, vor allem auch bei psychischer
Anspannung und bei Stress und Zorn. Durch seine Verbindung mit der Gallen-
blasen-Leitbahn ist er auch bei der Gallenblasen-Migräne häufig gut wirksam.

Allgemeine Stärkung: Magen 36 (Ma 36)


Dieser Punkt liegt einen Querfinger lateral der Tibiakante und zwei Querfinger
unterhalb des Unterrandes des Fibulaköpfchens und ist einer der wichtigsten al-
ler Akupunkturpunkte. Viele Chinesen behandeln ihn auch bei völliger Gesund-
heit prophylaktisch mit lokal erwärmendem Moxa-Kraut zur Stärkung der
Krankheitsabwehr. Er ist bei allen Leere-Zuständen (vor allem Magen und Milz)
wirksam und stärkt daher Körper und Psyche unter anderem auch bei chroni-
schen Erkrankungen.

Nasen und Nasennebenhöhlen: Dickdarm 20 (Di 20)


Dieser Punkt liegt in der Nasolabialfalte in Höhe der Mitte des Nasenflügels. Er
ist ein besonders wirksamer Punkt für Probleme der Nase und der Nasenneben-
höhlen, wie allergische Rhinitis, Sinusitis und Schleimhautpolypen.
274 J. Walter

Literatur
Fung Y-L (1966) A short history of chinese philosophy. Macmillan, New York
Huang T, Nei J, Su W (1979) Des Gelben Kaisers Klassiker des Inneren – Reine Fragen, S 221
Maciocia (1994) Die Grundlagen der Chinesischen Medizin. Verlag für Ganzheitliche Medizin,
Wühr, S 39–61
Revision

Massage in der Schmerztherapie

A. WICKER
A. Wicker

Einleitung

Die Massage ist eine seit Jahrhunderten bekannte differenzierte Heilmethode,


die aber erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Schulmedizin Anerkennung
in Klinik und Praxis fand. Die Massage ist in ihren verschiedenen Varianten, an-
gefangen bei der so genannten klassischen Massage über Spezialmassagen bis
hin zur Unterwasserdruckstrahl-Massage, gerade in der Schmerzlinderung ein
oft und gern angewandter Bestandteil in der schulmedizinischen Behandlung
geworden. Richtig angewandt und gekonnt durchgeführt können Massage-
techniken einen ausgezeichneten Beitrag in der ganzheitlichen Behandlung von
Patienten mit Schmerzen leisten.
Die in der Schmerzbekämpfung am häufigsten angewandten Massageformen
können in 3 Gruppen eingeteilt werden:
– Die Techniken der klassischen Massage
– Die Spezialmassagen (Bindegewebsmassage und Reflexzonenmassage, Fuß-
reflexzonenmassage, Akupunktmassage, Lymphdrainage, Extensionsmassage)
– Die Unterwasserdruckstrahlmassage
Die Anwendung von Massageformen sollte selten als alleinige Behandlung
erfolgen, sondern immer in ein Therapiekonzept integriert werden.

Wirkungen der Massagebehandlungen

Von den verschiedenen Massageformen und Massagetechniken gehen unter-


schiedliche Wirkungen aus. Neben den bewusst vom Patienten wahrgenommenen
taktilen Reizen wirken sich auch unbewusste Effekte auf das Zentralnervensystem
aus. Dadurch werden nicht nur das autonome Nervensystem beeinflusst, sondern
auch Mechanismen der Schmerzübertragung und der Schmerzmodulation (Rulffs
276 A. Wicker

1995). Bei jeder physikalischen Behandlung muss auch immer berücksichtigt wer-
den, dass jede Stimulation der Haut (besonders mit den Händen durchgeführt)
mit psychischen Einflüssen verbunden ist, die ausgehend von der Dosierung und
der Art der Durchführung sedierend oder stimulierend wirken kann.
Ein wesentliches Ziel in der Anwendung von Massagetechniken ist die Lin-
derung von Schmerzen, die in der Muskulatur oder aber auch in inneren Orga-
nen lokalisiert sind.
Es kommen hier muskeltonussenkende, entkrampfende, durchblutungsför-
dernde, reflexanregende oder entstauende Massagegriffe zur Anwendung.
Durch besondere Massagegriffe sind von bestimmten Arealen der Körper-
oberfläche aus zielgerichtete Einflussnahmen auf innere Organe möglich. Dies
führt nicht nur zu einer zumeist spasmolytisch bedingten Schmerzlinderung,
sondern kann auch als Reflexzonentherapie zur Normalisierung gestörter Or-
ganfunktionen ausgenützt werden.
Bei den meisten Massagetechniken, die in der Schmerzbehandlung ange-
wendet werden, kommt es zu einer lokalen Hyperämie durch eine Erweiterung
der peripheren Strombahn. Es ergibt sich dadurch nicht nur ein vermehrter Ab-
transport von Stoffwechselprodukten, sondern es findet auch eine vermehrte Zu-
fuhr von nähr- und immunmodulierenden Stoffen in das Gewebe hinein statt.
Weiters kommt es zu einer allgemeinen Stoffwechselwirkung, zur Verbesse-
rung der Sauerstoffausnutzung, zur Steigerung des Gewebsturgors und generell
zu einer Verbesserung der Ernährungssituation des Organismus. Durch die da-
durch erfolgte Entlastung der Gewebe von Stoffwechselend- und Stoffwechsel-
zwischenprodukten, die ja in vielen Fällen Reizstoffe sind und insbesondere die
Schmerzsensoren anregen, tritt eine Schmerzlinderung ein.
Neben der eben genannten schmerzsenkenden Wirkung fördern Massagerei-
ze im Sinne der „Gate-Control-Theorie“ den Einstrom anderweitiger mechani-
scher Reize in die diese Afferenzen verarbeitenden Hirnareale.

Klassische Massage

Steht das Ziel Schmerzlinderung im Vordergrund, so kommen vor allem 3 Griff-


techniken der klassischen Massage zum Einsatz:
Streichungen: Die Griffe können einhändig oder beidhändig mit der Handin-
nenfläche oder den Fingerkuppen ausgeführt werden. Die Richtung der Strei-
chungen wird durch die Muskeltopographie und den Verlauf der Abflussbahnen
bestimmt, ist also vorwiegend in Richtung Herz orientiert. Bei Streichungen steht
die beruhigende, Spannung vermindernde und vegetativ glättende Wirkung im
Vordergrund.
Reibungen: Reibungen, auch bekannt unter dem Namen Friktionen, sind in-
tensiv wirkende, eher kleinflächige, kreisförmige Bewegungen, die mit der Kuppe
des Zeigefingers oder des Mittelfingers ausgeführt werden. Sie wirken örtlich
stark durchblutungsfördernd und schmerzlindernd durch die Erzeugung eines
Gegenschmerzes (Counter Irritation und Gate-Control-Theorie). Außerdem be-
Massage in der Schmerztherapie 277

wirken Friktionen eine vermehrte Wachaktivität im Gegensatz zu der beruhigen-


den Wirkung der Streichungen (Muschinsky 1992).
Klopfungen: Klopfungen sind senkrecht auf den Körper treffende Schlagbewe-
gungen, die entweder mit der Hohlhand oder der ulnaren Handkante ausgeführt
werden. Werden die Klopfungen mit niedererer oder mittlerer Intensität ausge-
führt, wirken sie durchblutungsfördernd und schmerzlindernd und sind beson-
ders bei großflächigen Verspannungen aber auch bei der Behandlung spastischer
Muskulatur angezeigt.
Vibrationen: Vibrationen werden vom Patienten meistens als sehr angenehm
empfunden. Es sind örtliche Zitterbewegungen, die ohne Fortbewegung mit der
flachen Hand, einhändig oder beidhändig ausgeführt werden. Die Vibrationen
wirken detonisierend, entspannend und beruhigend und können auch am bett-
lägerigen Patienten mit chronischen Schmerzzuständen durchgeführt werden.
Die rhythmische Schüttelung von locker gehaltenen Extremitäten hat denselben
Effekt wie Vibrationen.
Prinzipiell muss betont werden, dass die oben genannten Grifftechniken
nicht isoliert betrachtet oder angewandt werden sollten, sondern dass erst ihre
sinnvolle Kombination, eventuell unter Einsatz zusätzlicher Dehn- oder Manipu-
lativtechniken, die Kunst der Massage und den optimalen Schmerzlinderungsef-
fekt ausmacht.

Spezialmassagen
Bindegewebsmassage, Reflexzonenmassage
Die Bindegewebsmassage geht auf die deutsche Krankengymnastin Dick zurück
die durch spezifische Grifftechniken reflektorisch veränderte Zonen im Bindege-
webe beeinflussen konnte (Schiltenwolf 2006). Die Bindegewebsmassage ist eine
Form der Reflexzonenmassage. Durch den Einsatz der Fingerkuppen in variie-
renden Techniken und auch in etwas unterschiedlicher Ausprägung ist beiden
Massagearten gemeinsam eine intensive mechanische Beeinflussung von Haut,
Unterhaut und den Faszien. Es gelingt mit beiden Techniken, durch die Behand-
lung organspezifischer Zonen sowohl auf Funktionsstörungen der segmental zu-
geordneten Eingeweideorgane einzuwirken, als auch eine vegetative Gesamtum-
schaltung herbeizuführen. Wir wissen heute, dass das Bindegewebe nicht nur
„verbindende“ Funktionen aufweist, sondern auch direkte Verbindungen zum
Immunsystem ermöglicht und zu einer positiven Stimulierung dieses für die
Funktion des Organismus so wichtigen Systems beiträgt. Da bei jeder dieser
zwei Massageformen selbst eine starke Stimulierung von Nozizeptoren erfolgt,
sind sie nicht angenehm, sondern eher schmerzhaft in der Anwendung. Der Ef-
fekt stellt sich dann aber als vegetativ glättend und schmerzlindernd ein.

Fußreflexzonenmassage
Eine Sonderform der Reflexzonentherapie stellt die Fußreflexzonenmassage dar.
Die Wirkprinzipien sind die gleichen wie bei den bereits beschriebenen Reflex-
278 A. Wicker

zonenmassagen. Über eine empirisch entwickelte „Landkarte“ an den Fußsoh-


len, an der verschiedenen Fußsohlenbereichen Organe zugeordnet werden, kann
durch Massagetechniken an diesen Fußreflexzonen ein Reflexgeschehen ausge-
löst werden, das ebenfalls zur Stoffwechsel-Normalisierung und zur Verminde-
rung einer Schmerzsymptomatik beitragen kann.

Akupunktmassage
Diese Spezialform einer Massage verwendet als Basis die Prinzipien der Aku-
punktur nach der Meridianlehre. Durch richtige Strichführung mit speziellen
Stiften wird hier der Energiestrom aktiviert und gefördert. Auch diese Sonder-
form der Massage kann in der Therapie von Schmerzen eingesetzt werden.

Lymphdrainage
Die manuelle Lymphdrainage setzt auch am Bindegewebe an, das nach Pischin-
ger als komplettes Organ zu sehen ist. Ziel der manuellen Lymphdrainage ist es,
Stoffwechselprodukte aus dem Bindegewebe abzutransportieren, die Stoffwech-
selsituation zu verbessern und den Stauungsdruck im Gewebe zu verbessern.
Die manuelle Lymphdrainage wirkt in erster Linie mechanisch auf das Lymphge-
fäßsystem, verwendet ganz spezielle, zarte Grifftechniken und regt die Eigenpe-
ristaltik und damit die Flussgeschwindigkeit in diesem System an. Diese mecha-
nischen Reize haben aber auch eine direkte Wirkung auf das Vegetativum,
insbesondere auf den Sympathikus (Kasseroller 2002). Bei richtig angewandter
manueller Lymphdrainage tritt eine Entspannung und Schmerzlinderung ein.
Die manuelle Lymphdrainage kann auch bei akuten Schmerzzuständen einge-
setzt werden, wenn keine Kontraindikationen dem entgegenstehen.

Extensionsmassage
Bei Verspannungen mit Schmerzen im Schulter-Nackenbereich kann sehr effi-
zient die Extensionsmassage eingesetzt werden. Durch die massierenden Hände
wird ein dehnender Zug in Längsrichtung der Wirbelsäule ausgeübt. In Verbin-
dung mit Vibrationen kann diese Traktionsmassage der Halswirbelsäule umge-
hend zur Verbesserung der Schmerzsymptomatik führen. Diese Massageform
kann sowohl am sitzenden als auch am liegenden Patienten angewendet wer-
den.

Unterwasserdruckstrahlmassage

Die Unterwasserdruckstrahlmassage ist eine großflächige Behandlung der Haut


und der Muskulatur in Spezialbadewannen. Mithilfe eines regulierbaren Düsen-
Druckstrahles können unter Ausnützung der Wirkfaktoren des Wassers (Auftrieb,
Widerstand, hydrostatischer Druck, Temperatur und Wasserzusammensetzung)
positive Wirkungen auf den Organismus erzielt werden.
Massage in der Schmerztherapie 279

Der Unterwasserdruckstrahlmassage liegt technisch ein Wasserumwälzver-


fahren zugrunde. Durch ein Pumpenaggregat mit einer Leistung von 5–6 Atmo-
sphären wird das erforderliche Wasser aus der Wanne angesaugt und über ein
Druckregelventil durch einen Schlauch gepresst. Der Wasserstrahl wird unter der
Wasseroberfläche auf den im Wasser liegenden Patienten gerichtet. Der Anstell-
winkel des Wasserstrahles zur Körperoberfläche ist variabel. Er sollte zwischen 45
und 90 Grad liegen. Der Abstand der Düsenöffnung zum Körper ist im Allge-
meinen handbreit (um die 10 cm). Die Behandlungszeit liegt bei 10 bis 20 Minu-
ten. Nach der Behandlung ist eine Ruhezeit von einer halben Stunde notwendig.
Schon bei Anwendungen mit geringen Druckwerten lassen sich schonende und
schmerzlose Auflockerungen in auch tieferen Gewebeschichten erzielen.
Die Wirkung dieser Massageform ist deshalb so intensiv, weil die Muskulatur
im warmen Wasser gut gelockert wird. Diese Muskellockerung kann noch da-
durch gesteigert werden, dass der Patient vor der Behandlung bereits 5 Minuten
im warmen Wasser ruht. Durch die entspannende Wirkung des Wassers wird
beim Patienten auch die Angst vor Schmerzen und den therapeutischen Mobili-
sierungen der Gelenke reduziert. Angst stört immer den Rhythmus eines Bewe-
gungsablaufes und verzögert dadurch auch den Heilungsprozess (Wicker 2007).

Indikationen
Bewährt hat sich die Unterwasserdruckstrahlmassage besonders zur Behandlung
von schmerzhaften Muskelverspannungen, Muskelkater, Muskelkontrakturen,
spastischen Paresen und bei degenerativ und operativ bedingten Schmerzzu-
ständen, die nicht akut sind.

Kontraindikationen
Vorsicht bei der Unterwasserdruckstrahlmassage ist geboten und eine Behand-
lung sollte nur nach Absprache mit dem Arzt und fehlenden anderen Möglich-
keiten bei folgenden Diagnosen in Betracht gezogen werden:
Herzinsuffizienz, fixierte essentielle renale Hypertonie, infektiöse und näs-
sende Hauterkrankungen, schwere arterielle Verschlusserkrankungen, ausge-
prägte Varikose, Thrombose und Phlebitis.

Kontraindikationen der Massagebehandlungen

Allgemeine Kontraindikationen
Nicht angezeigt sind Massagebehandlungen bei fieberhaften Erkrankungen und
akuten Verletzungen und Entzündungsprozessen. Weiters sind eine Lymphangi-
tis, Phlebitis, frische Thrombose, eine Osteomyelitis und eine aktive Myositis
nicht mit Massagen zu behandeln. Ebenso sind Massagetechniken nicht erlaubt
bei pathologischer Blutungsneigung, nach inneren Blutungen und bei unklaren
abdominellen Erkrankungen.
280 A. Wicker

Bei malignen Tumoren ist die Massage immer dann kontraindiziert, wenn die
Gefahr besteht, dass die Verbreitung von Tumorzellen über direkte mechanische
Stimulierung auf dem Blut- oder Lymphweg gefördert werden könnte.

Lokale Kontraindikationen
Im Bereich von Entzündungsprozessen einzelner Gelenke und noch nicht kon-
solidierter Frakturen. Frische Ulzera sollten ebenfalls nicht direkt im Massagege-
biet liegen. Infektiöse Hauterkrankungen stellen absolute Tabuzonen für den
Masseur dar.
Während einer Schwangerschaft sollten Massagen im Bereich des Rumpfes
normalerweise nicht durchgeführt werden. Ist während der Schwangerschaft
wegen Rückenbeschwerden eine Massagebehandlung angezeigt, so wird diese
immer nach Rücksprache mit dem Arzt üblicherweise in Seitenlage oder an der
sitzenden Patientin durchgeführt.

Zusammenfassung
Im Rahmen der in den letzten Jahren zunehmend mehr an Bedeutung gewin-
nenden Behandlung des kranken Menschen in seiner „Ganzheit“ nach dem bio-
psycho-sozialen Modell gewinnen Therapiemodalitäten der Physikalischen Me-
dizin, zu denen die verschiedenen Formen der Massage gehören, zunehmend an
Bedeutung. Zur Behandlung von Schmerzen, besonders bei pflegebedürftigen
und chronisch kranken Menschen, aber auch im Akutkrankenhaus, bieten sich
Massagetechniken, immer eingebunden in ein Gesamttherapiekonzept, als ein
effektives Therapiemittel an. Richtig indiziert und angewandt hat dieses „Medi-
kament“ Massage keinerlei negative Nebenwirkungen. Die manuellen und ver-
balen Interaktionen des Therapeuten mit dem Patienten erschließen über einen
körpertherapeutischen Weg den Zugang in die Seele des Patienten (Häfner
2005).
Massageanwendungen erfordern neben einem theoretischen Basiswissen be-
sonders aber praktische Fertigkeiten. Massieren sollte daher immer wieder prak-
tisch geübt werden, denn nur wenn Massage auch praktisch mit hoher Qualität
angeboten werden kann, bringt es letztlich auch dann den gewünschten Erfolg
am Patienten.
In diesem kurzen Artikel konnte ich nur einige Prinzipien der Massage auf-
zeigen und ich hoffe, dass Interesse geweckt wurde, sich mehr mit dieser Materie
auseinanderzusetzen und diese Therapieform zum Wohle des Patienten qualitativ
hochwertig einzusetzen.
Für alle in diesem Beitrag angeführten Massageformen werden an verschie-
denen Institutionen Kurse zum Erlernen und zur Vertiefung dieser Techniken an-
geboten, die es wert sind daran teilzunehmen, um es dann am Patienten umset-
zen zu können.
Massage in der Schmerztherapie 281

Literatur
Craig JE, Kaelin D (2000) Physical modalities. In: Grabois M (ed) Physical medicine and reha-
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Revision

Das Lymphödem – ein multifaktorielles,


chronisches Krankheitsbild
Diagnose und Therapie

W. DÖLLER
W. Döller
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild

Einleitung

Das Fachgebiet der Lymphologie umfasst die wissenschaftliche Lehre des


Lymphsystems. Das Lymphsystem besteht aus Lymphgefäßen, Lymphknoten
und lymphatischen Organen (Tonsillen, Thymus, lymphatisches Gewebe der
Magen-Darmschleimhäute, Milz). Während das Lymphgefäßsystem in der Mikro-
zirkulation eine wichtige Funktion innehat, besteht seine Hauptaufgabe im Ab-
transport von eiweißreicher Flüssigkeit und korpuskularen Bestandteilen aus
dem Interstitium. Gemeinsam mit den lymphatischen Organen erfüllt es eine
wichtige Funktion in der Immunabwehr.
Erkrankungen der Lymphknoten und anderer lymphatischer Organe werden
ausreichend in den einzelnen Fachgebieten behandelt.
Erkrankungen der Lymphgefäße dagegen werden in Lehre und Wissenschaft
nicht in dieser Intensität berücksichtigt. Daraus ergibt sich, dass Lymphödeme
nicht in dem Ausmaß erkannt und therapiert werden, wie es heute nach dem
wissenschaftlichen Stand möglich wäre. Unbehandelt aber verschlimmert sich
diese chronische Erkrankung und führt damit nicht selten zu erheblichen Be-
schwerden.
Schmerzen werden nicht selten bei Schwellungen allgemein ( z. B. Lipödem)
beobachtet, sind aber bei Lymphödem nur in wenigen Fällen vorhanden – sie
sind hier symptomatisch für ein Lymphödem durch Krebsprogression und müs-
sen daher gerade hier besonders beachtet werden.
Im folgenden Artikel wird daher nur auf Erkrankungen der Lymphgefäße ein-
gegangen.
284 W. Döller

Allgemeines

Definition
Das Lymphödem (Abb.1 a) unterscheidet sich wesentlich von eiweißarmen soge-
nannten „internistischen Ödemen“. Diese sind lediglich Symptome des jeweili-
gen Krankheitsbildes und bedürfen keiner speziellen Ödemtherapie. Mit der er-
folgreichen Behandlung der Grundkrankheit bilden sich diese Ödeme wieder
vollständig zurück. Ein Lymphödem entsteht infolge einer Lymphangio- bzw.
Lymphonodopathie. Die Transportkapazität der Lymphgefäße ist zu niedrig, um
die anfallende Lymphe (lymphpflichtigen Lasten) aufzunehmen. Infolgedessen
sammelt sich eiweißreiche Flüssigkeit im Interstitium an, welche für die beim
Lymphödem typischen fibrosklerotischen Umbauprozesse verantwortlich ist.
Proteinhältige Flüssigkeit im Interstitium führt zu Veränderungen der betroffenen
kutanen und subkutanen Gewebsstrukturen, wie sie bei chronischen Entzün-
dungen gefunden werden. Wird der Proteinstau nicht beseitigt, kommt es zum
Fortschreiten des Prozesses und zu einem sich verschlimmernden chronischen
Krankheitsbild (Abb. 1 b).

Abb. 1 a.
Milde Form eines
primären
Beinlymphödems

Abb. 1 b. Sekundäre Lymphödeme können oft extrem ausgeprägt sein (Bein und Arm-
lymphödem)
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild 285

Lymphödeme können fast überall vorkommen; am häufigsten werden sie an


den Extremitäten, aber auch an Kopf und Genitale als sichtbare und tastbare
Schwellungen beobachtet.
An den inneren Organen treten Lymphtransportstörungen meist als chylöse
Ergüsse auf (Chylothorax, Chyloperikard, lymphostatische Enteropathie).
Lymphödeme sind im Allgemeinen auf Grund des langsamen Fortschreitens
schmerzlos, können aber bei rascher Progredienz, wie es bei sekundären malig-
nen Lymphödemen (bedingt durch Primärtumor oder Metastase) der Fall ist,
stärkste Schmerzen verursachen.

Epidemiologie
Die Häufigkeit des Lymphödems wird sehr kontroversiell diskutiert, da es keine
exakten epidemiologischen Untersuchungen gibt. Während die Inzidenz der er-
worbenen (sekundären) Lymphödeme, besonders die nach Krebstherapie, sehr
unterschiedlich angegeben wird, gibt es für die angeborenen (primären) Lymph-
ödeme eher konstante Angaben.
Danach leiden ca. 8 % der Gesamtbevölkerung an einem Beinlymphödem.
Frauen (13.7 %) sind 10-mal häufiger betroffen als Männer (1.4 %) (U. Schwarz).
Bestätigt werden diese Zahlen durch eine erst vor kurzem publizierte Studie.
(Rabe et al. 2003; Bonner Venenstudie).

Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie


Zum besseren Verständnis der Krankheitsentstehung und der Therapie soll kurz
auf die Anatomie, Physiologie und Pathologie eingegangen werden. Zudem sind
Kenntnisse in Anatomie und besonders in der Pathophysiologie des Lymph-
ödems die Voraussetzung für eine erfolgreiche Diagnose und Therapie dieser Er-
krankung.

Anatomie des Lymphgefäßsystems


Die Lymphgefäße
Das Lymphgefäßsystem ist ein dem Venensystem parallel geschaltetes Drainage-
system und besteht aus unterschiedlich aufgebauten Gefäßabschnitten und zwi-
schengeschalteten Lymphknoten. In der Funktion ist das Lymphgefäßsystem als
Halbkreislauf zu bezeichnen.
Dem Lymphgefäßsystem vorgeschaltet sind so genannte prälymphatische
Kanäle, die keine Endothelzellauskleidung besitzen und sich in Interzellularräu-
men des lockeren Bindegewebes befinden (Tabelle 1).
Das Lymphgefäßsystem beginnt mit einem subkutanen dichten Kapillarnetz
der Haut und ist in zwei Schichten, mit einem feinmaschigen englumigen und
einem grobmaschigen, breiten polygonalen Netz ausgestattet. Dieses klappen-
lose Lymphkapillarnetz ist durchgehend mit unterschiedlicher Dichte subpapillär
über das ganze Hautareal ausgebreitet und liegt dem Blutkapillarnetz eng an.
286 W. Döller

Wenn auch der Lymphfluss, dem geringsten Widerstand folgend, in die ihm un-
mittelbar angeschlossenen Präkollektoren abfließt, ist die Lymphe doch auch ho-
rizontal in alle Richtungen mobilisierbar.
Tabelle 1. Aufbau des Lymphgefäßsystems

– Initiale Lymphgefäße
(klappenlose) Lymphkapillaren
Präkollektoren
– Lymphkollektoren
– Lymphstämme

Der Aufbau der Lymphkapillaren ist dem der Blutkapillaren ähnlich. Die sich
überlappenden flachen Endothelzellen der Lymphkapillaren sind einschichtig
angeordnet, von einem retikulären Faserfilz umgeben und mit Ankerfasern in der
Matrix des Bindegewebes verankert. Diese steuern die Öffnung der Interzellular-
fugen und ermöglichen so die Aufnahme von Gewebsflüssigkeit sowie von kor-
puskularen Elementen. Dieses initiale Lymphgefäßnetz, das oft fingerförmige
Ausstülpungen aufweist, hat somit die Funktion der Lymphaufnahme in das
Lymphgefäßsystem.
Die Präkollektoren sammeln die Lymphe der Lymphkapillaren aus um-
schriebenen Arealen. Sie bestehen neben den Endothelzellen aus einer
„Membrana accessoria“, kollagenen Fasern und einzelnen Muskelzellen. Sie ha-
ben vereinzelt Lymphgefäßklappen ausgebildet, die in Abständen von einigen
Millimetern angeordnet sind. Dies ermöglicht den Transport der Lymphflüssig-
keit in Richtung Lymphkollektoren. Diese besitzen bereits einen mehrschichti-
gen Wandaufbau gleichsam dem Blutgefäßnetz und haben ähnlich den Venen ta-
schenförmige Gefäßklappen ausgebildet. Bündel von Muskelzellen in den
Wänden der Lymphkollektoren ermöglichen eine Kontraktion und bewerkstelli-
gen so den Lymphtransport. Der Abschnitt eines Lymphkollektors zwischen
zwei Klappen wird als Lymphangion (Lymphherz) bezeichnet. Durch wech-
selnde Kontraktion und Dilatation dieser Lymphangione wird die Lymphe pater-
nosterförmig zentripetal befördert.
Weitere wichtige unterstützende Transportmechanismen für den Lymph-
transport sind die Muskelpumpe der Extremität, die Arterienpulsationen der na-
heliegenden Arterien (besonders bei subfaszialen Lymphkollektoren) und die
Atmung, indem bei Einatmung ein Sog auf die Lymphstämme ausgeübt wird.
Topographisch und organbezogen sind diese Lymphkollektoren sehr variabel
angelegt. Während sie zentral hin an Kaliber zunehmen, nimmt ihre Anzahl
deutlich ab. Im Laufe des Transportes werden diese Lymphkollektoren durch
Lymphknoten (Filterstationen) unterbrochen.

Die Lymphknoten
Die Lymphknoten sind in Gruppen oder Ketten angeordnet und als lymphati-
sche Organe Bestandteil des Immunsystems. Form, Zahl und Größe der Lymph-
knoten sind sehr variabel.
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild 287

Die Lymphknoten sind von einer bindegewebigen Kapsel umgeben, die auch
einzelne glatte Muskelfasern enthält. Neben lymphatischem Gewebe besteht der
Lymphknoten aus einem inneren Gerüst von Bindegewebszellen, fibroplasti-
schen Retikulumzellen und Lymphsinus. Die Lymphflüssigkeit erreicht den
Lymphknoten über afferente Lymphkollektoren, die in die Kapsel münden. Nach
Durchströmung des Marginal-, Intermediär- und Terminalsinus verlässt die Lym-
phe den Knoten im Hilusbereich über die efferenten Lymphgefäße.
Neben der mechanischen und immunologischen „Filterung“ der Lymphe fin-
det im Lymphknoten durch beträchtlichen Wasserentzug auch eine Konzentra-
tion der Lymphflüssigkeit statt.

Lymphstämme
Die neuerlich an Kaliber zunehmenden, zentral gelegenen Lymphgefäße werden
als Lymphstämme bezeichnet; hiezu zählt der Ductus thoracicus und der Ductus
lymphaticus dexter.
Der aus der Cisterna chyli abgehende Ductus thoracicus sammelt die Lymphe
aus den inneren Organen des Abdomens, aus den unteren Extremitäten sowie
aus den beiden unteren Rumpfquadranten. In seinem weiteren Verlauf werden
Lymphgefäßkollektoren aus Lunge, Herz und Mediastinum sowie aus dem
linken oberen Rumpfquadranten, dem linken Arm und dem linken Kopf-/Hals-
bereich aufgenommen. Der kaliberschwächere Lymphstamm Ductus lymphati-
cus dexter sammelt die Lymphe des oberen rechten Rumpfquadranten, des rech-
ten Armes und der rechten Hals- und Kopfregion. Beide Lymphstämme münden
an der jeweiligen Seite in das Venensystem (Angulus venosus) ein.
Die Extremitäten verfügen über ein oberflächliches und ein tiefes Lymphge-
fäßsystem. Während die epifaszialen Lymphgefäße die Lymphe der Haut, des
Unterhautbindegewebes und Fettgewebes drainieren, erfolgt die Entsorgung der
Muskulatur und Gelenke über das subfasziale System. Zahlreiche, die Faszie per-
forierende Lymphgefäße verbinden beide Systeme und ermöglichen so einen
Flüssigkeitsaustausch. Oberflächliches und tiefes Lymphgefäßsystem münden
jeweils in die regionalen Lymphknoten. Diese auch als Primärlymphknoten be-
zeichneten Lymphknoten sind einem umschriebenen Drainagegebiet (Tributar-
gebiet) angeschlossen.

Tributargebiet
Lymphterritorien und Tributargebiete sind durch lymphatische Wasserscheiden
(lymphgefäßarme Interterritorialzonen) voneinander getrennt. Aus einem Tribut-
argebiet oder Territorium ins andere kann die Lymphe über die Wasserscheiden
praktisch nur über das initiale Lymphgefäßnetz gelangen. So ist das Tributarge-
biet der regionären (primären) Lymphknoten der Axilla der obere gleichseitige
Rumpfquadrant und der gleichseitige Arm, wogegen dem Tributargebiet der re-
gionären (primären) Lymphknoten der Leiste der untere, gleichseitige Rumpf-
quadrant, das gleichseitige Bein und das Genitale zugerechnet ist.
288 W. Döller

Komplexer ist die Topographie der Lymphgefäße der inneren Organe; sie zu
beschreiben, würde den Rahmen dieses Artikels überschreiten.

Physiologie – Pathophysiologie
Für den Stoffwechselaustausch zwischen Blutendstrombahn (Mikrozirkulation)
und Interstitium sind Vorgänge wie Diffusion, Osmose, und – da die Kapillar-
wand wie eine semipermeable Membran wirkt – Ultrafiltration und Reab-
sorption notwendig. Die dafür verantwortlichen Steuerungskräfte sind der
Blutkapillar- und Gewebsdruck sowie der kolloidosmotische Druck im Blutge-
fäßsystem (kapillarer Bereich) und in der Gewebsflüssigkeit (Starling’sches
Gleichgewicht).
Mit jedem Pulsschlag verlassen auch Eiweißkörper das Blutgefäßsystem, um
in das Gewebe zu gelangen. Diese hochmolekularen Eiweißkörper können aber
nicht mehr über die kapillaren Venolen zurück aufgenommen werden.
Während in der Reabsorptionsphase zirka 90 % der über das arterielle Ka-
pillargebiet filtrierten Flüssigkeitsmenge über die kapillaren Venolen zurück in
den Blutkreislauf gelangt, werden zirka 10 % der Flüssigkeit (in Wasser gelöste
Eiweißkörper u.v.m.) über das Lymphgefäßsystem abtransportiert (Nettofiltrat).

Die lymphpflichtigen Lasten


Diejenigen Substanzen, die aus dem Interstitium nicht über das Blutgefäßsystem
entsorgt werden können, werden nach M. Földi als „lymphpflichtig“ bezeichnet.
Dazu zählen die lymphpflichtige Eiweiß-, Wasser-, Fett- und Zelllast (Im-
munzellen, Krebszellen, Schmutzpartikel, Zellbruchstücke, Bakterien, Viren
u. v. m.).
Ein suffizientes Lymphgefäßsystem ist in der Lage, die physiologisch anfal-
lenden lymphpflichtigen Lasten aus dem Interstitium in die Blutbahn zurückzu-
befördern und die Zirkulation der Immunzellen zu gewährleisten.
Diese lymphpflichtige Flüssigkeitsmenge (Nettofiltrat pro Zeiteinheit =
Lymphzeitvolumen) lässt sich durch die Formel nach „Landis und Pappenheimer“
(Starling’sches Gesetz) berechnen und darstellen. Täglich werden ca. 2 Liter
Lymphe nach „Reinigung“ und Konzentration dem Blutgefäßsystem wieder zu-
rückgeführt.
Unter physiologischen Bedingungen ist aber das gesunde Lymphgefäßsystem
befähigt, die zehnfache Flüssigkeitsmenge des Lymphzeitvolumens zu transpor-
tieren (Sicherheitsventilfunktion) und hat somit eine wichtige „ödemprotek-
tive“ Aufgabe.
Übersteigt die lymphpflichtige Flüssigkeitsmenge die Transportkapazität des
gesunden Lymphgefäßsystems (Hochvolumeninsuffizienz), entsteht ein Ödem.
Wird das Lymphgefäßsystem in seiner Transportkapazität so sehr beeinträchtigt,
dass diese unter das physiologische Ruhelymphzeitvolumen gelangt, spricht man
von einer mechanischen Insuffizienz der Lymphgefäße. Es entsteht ein eiweißrei-
ches Ödem im Interstitium – das Lymphödem.
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild 289

4. Klinische Stadien und Klassifizierung des Lymphödems


4.1 Klinische Stadien des Lymphödems
Bei der Diagnosestellung sollten je nach Ausprägung des Lymphödems verschie-
dene Stadien unterschieden werden, da sie für die Therapieplanung große Rele-
vanz haben.
Aufgrund der klinischen Befunde werden Lymphödeme in vier Stadien einge-
teilt (Abb. 2):

Klinische Stadien des Lymphödems


nach FÖLDI
Stadium 0: Latenz- Intervallstadium
Stadium I: Spontan reversibel
Stadium II: Spontan irreversibel
Stadium III: Elephantiasis

Abb. 2. Stadieneinteilung nach Ausprägung des Lymphödems

– Stadium 0 – Latenz-/Intervallstadium
In diesem Stadium ist klinisch noch keine Schwellung nachweisbar; die
Transportkapazität der Lymphgefäße ist jedoch herabgesetzt. Es besteht zwi-
schen lymphpflichtiger Last und Transportkapazität ein, wenn auch labiles,
Gleichgewicht.
– Stadium I – spontan reversibles Stadium
Es besteht eine weiche teigige Schwellung und es lässt sich – wenn auch mi-
nimal ausgeprägt – eine Delle gut eindrücken. Das Stemmer’sche Hautfaltenzei-
chen ist negativ oder grenzwertig. Es kommt zur spontanen Rückbildung nach
Schonung oder Hochlagerung.
– Stadium II – spontan irreversibel
Die klinisch deutlich sichtbare und tastbare Schwellung geht spontan nicht
mehr zurück, ist zum Teil verhärtet und zeigt eine deutlich ausgeprägte Fibrosie-
rung, ebenso ist das Stemmer’sche Zeichen eindeutig positiv. Die Ausprägung
der Schwellung kann mehr oder minder stark sein. Hautveränderungen, wie
Hyperkeratose, Papillomatosis cutis lymphostatica, Lymphzysten und -fisteln
sind meist vorhanden. Komplikationen wie Pilzinfektionen und Erysipelinfekte
können auftreten.
– Stadium III
Aufgrund der massiven Ausprägung – kombiniert mit Komplikationen – wird
dieses Stadium auch „Elefantiasis“ bezeichnet.
Die Schwellungen nehmen eine monströse Form mit ausgeprägten Haut-
veränderungen an.
290 W. Döller

Klassifizierung des Lymphödems

Neben der klinischen Einteilung des Lymphödems nach Stadien ist auch eine
Klassifizierung nach Entstehung (Äthiologie) und Verlaufsform notwendig.
Die eiweißreichen lymphostatischen Ödeme basieren auf einer primären (an-
geborenen) Störung oder sekundären (erworbenen) Schädigung eines gesunden
Lymphgefäßsystems und treten gehäuft an den Extremitäten auf.

Primäre (= idiopathische) Lymphödeme


Ursachen für ein primäres Lymphödem sind anlagebedingt durch angeborene
Dysplasien (Aplasie, Hypoplasie oder Hyperplasie) der Lymphgefäße und/oder
der Lymphknoten. Auch Leistenlymphknotenfibrose kann ein Lymphödem aus-
lösen. Je nach Missbildung des Lymphgefäßsystems sind Lymphaufnahmestö-
rungen (der Lymphkapillaren) oder Lymphtransportstörungen (Aplasie, Hypo-
und Hyperplasie der Lymphkollektoren) die hauptsächlichen Auslöser und ver-
schieden stark ausgeprägt. Je nach Zeitpunkt des Auftretens der ersten klini-
schen Zeichen unterscheidet man bei primären Lymphödemen zwischen:
1) Hereditäres Lymphödem
Hereditär kongenitales Lymphödem Hereditär nicht kongenitales
(Nonne-Milroy Syndrom) Lymphödem (Meige-Syndrom)
2) Sporadisches Lymphödem
Lebensalter der Manifestation:
Lymphoedema congenitum
Lymphoedema praecox (vor dem 35. Lebensjahr)
Lymphoedema tardum (nach dem 35. Lebensjahr)

Die Unterscheidung des Lymphoedema praecox vom Lymphoedema tardum


ist bedeutend und auch wegen der Therapieplanung wichtig. Da ein primäres
Lymphödem nach dem 35. Lebensjahr selten auftritt, muss in diesem Falle eine
mögliche auslösende Ursache (z. B. Malignom!) ausgeschlossen werden. Unter-
suchungen haben gezeigt, dass bei bis zu 10 % der Lymphödeme ein noch nicht
erkanntes Malignom die Ursache war.
Nicht zu unterschätzen ist, dass es eine Reihe von Syndromen gibt, die mit
einer Dysplasie des Lymphgefäßsystems verbunden sind und nicht selten das
Lymphödem maskieren, dazu zählen das Ullrich-Turner-Syndrom, Noonan-
Syndrom, Angiodsyplasiesyndrome wie das Klippel-Trenaunay-Weber-Syndrom,
Prader-Willi-Syndrom, Lymphödem und Distichiasis, um die wichtigsten aufzu-
zählen.
Zum Teil besteht auch eine autosomal dominante Vererbung dieser seltenen
Syndrome und diese haben damit auch bei der Beratung von PatientInnen Be-
deutung.
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild 291

Sekundäre Lymphödeme
Sekundäre Lymphödeme entstehen auf Grund einer Schädigung eines gesunden
oder eines suboptimal funktionierenden Lymphgefäßsystems. Die Ursachen sind
vielfältig und können hier nicht zur Gänze dargestellt werden. Die häufigsten
Ursachen sind:
posttraumatisch, postrekonstruktiv (nach Gefäßoperationen, Rekonstruk-
tionen oder Venenentnahme für Bypass-Operation), postentzündlich, artifiziell
(Selbstabschnürung von Extremitäten im Rahmen von Rentenbegehren, auf
Grund von psychiatrischen Erkrankungen), angeborenes Ringband, postope-
rativ und nach Krebsbehandlung. Bei Lymphödemen nach Krebstherapie
muss wegen der therapeutischen Konsequenz klar zwischen sekundär benignen
und malignen Lymphödemen unterschieden werden.
Während sekundär benigne Lymphödeme als Folge der notwendigen
Therapiemaßnahmen, wie Operation, Strahlentherapie und Chemotherapie, also
einer erfolgreichen Krebsbehandlung, zu klassifizieren sind, stellen sich sekun-
däre maligne Lymphödeme nur als ein Symptom einer progressiven Krebser-
krankung dar.
Dementsprechend sind auch die Therapieregime unterschiedlich.

Lymphödeme in Kombination mit und ohne chylösen Reflux


Durch Dysplasien (Hyperplasie) von Lymphkollektoren oder lang anhaltenden
Stau des Lymphtransportes kommt es zur Erweiterung der Lymphkollektoren
und in der Folge zu Klappeninsuffizienz (organisch oder funktionell) in den
Lymphkollektoren. Wird die Blockade der Lymphgefäße nicht aufgehoben (z. B.
durch Bildung von Umgehungsanastomosen und/oder Neubildung von lympo-
lymphatischen Anastomosen), setzt sich der Rückstau nach distal fort. Mit ei-
nem besonders schweren Krankheitsbild verbunden ist das Lymphödem mit
chylösen Reflux, wenn sich durch Klappeninsuffizienz chylöse Lymphe aus den
Magen-Darmlymphkollektoren in die unteren Extremitäten und in das Genitale
ausbreitet.

Kombinationsformen von Lymphödemen


Nicht selten sind Gefäßerkrankungen (chronische venöse Insuffizienz) nicht nur
Ursache für die Entstehung eines Lymphödems (Phlebolymphödem), sondern
auch in Kombination dieser Erkrankungen mit Lymphödem möglich. In vielen
Fällen besteht auch ein Ulcus cruris, welches das Krankheitsbild verschlimmert.
Außerdem können ödemrelevante Erkrankungen Lymphödeme negativ be-
einflussen. Die wichtigsten Kombinationsformen seien hier aufgezeigt:
– Phlebolymphödem
– Lipolymphödem
– Lymphödem und orthopädische Erkrankungen
– Lymphödem und morbide Adipositas
– Lymphödem und Diabetes mellitus
292 W. Döller

Diagnose
Die Diagnose des Lymphödems ist meist einfach, kann aber auch erhebliche
Schwierigkeiten bereiten.
Ziel der Diagnose ist die Feststellung der Äthiologie, der Ausprägung des
Lymphödems und der eventuell bestehenden Begleiterkrankungen.
Für die Feststellung eines Lymphödems hat sich die Stufendiagnostik be-
währt. Die lymphologische Basisdiagnostik (Anamnese, Inspektion, Palpation) ist
in den meisten Fällen ausreichend. Frühformen von Lymphödemen, Kombina-
tionsformen und/oder Begleiterkrankungen fordern eine erweiterte Diagnostik.
Das Erkennen von Begleiterkrankungen ist aber für eine erfolgreiche Therapie
unumgänglich und fordert interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Basisdiagnostik
– Anamnese
Eine sorgfältig erhobene Anamnese – besonders über Beginn (schleichend,
rapide), Erstlokalisation (ein- oder beidseitig, symetrisch, asymetrisch) und Aus-
breitung der Schwellung, vorangegangene Operationen, Verletzungen, Entzün-
dungen (Erysipelhäufigkeit) oder zusätzliche Erkrankungen (Herz-Kreislauf,
Niere, Arterien, Venen) kann richtungweisend sein. Rasche Ödembildung ver-
bunden mit Schmerzen und neurologische Symptome (besonders der Extremitä-
ten) können auf ein bis dahin nicht erkanntes Malignom (Metastase) hinweisend
sein.
– Inspektion
Die Inspektion sollte prinzipiell nach Entkleiden des Patienten stattfinden
und dient der Erfassung von Lokalisation und Ausbreitung der Schwellung sowie
zur Beurteilung der Haut- und Gewebsbeschaffenheit. Wichtig zu beachten sind
Narben nach Operationen oder Verletzungen, Hautkolorit und Venenzeichnung
sowie Vertiefungen der natürlichen Hautfalten, besonders bei Extremitäten peri-
pher; diese sind auch ohne ausgeprägte Ödembildung auf ein Lymphödem hin-
weisend.
Ausbreitung und Lokalisation ermöglichen eine Zuteilung und Klassifikation
des Lymphödems.
In der Regel sind peripher beginnende und aszendierende Lymphödeme als
primäre Lymphödeme (angeborene Lymphödeme) einzuordnen, wogegen
zentral betonte (in der Gliedmaßenwurzel beginnende) Ödeme mit Tendenz zur
Ausbreitung in die Peripherie eher für sekundäre Ödemformen sprechen.
– Palpation
Auch der Palpationsbefund sollte beim entkleideten Patienten erhoben wer-
den. In erster Linie werden alle Lymphknotenstationen vom Hals bis zur Leiste
palpatorisch untersucht. Im Weiteren erfolgen die Beurteilung der subkutanen
Strukturveränderungen und die Kutisdicke.
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild 293

Das Stemmer’sche Hautfaltenzeichen ist dazu das wichtigste diagnostische


Kriterium und prüft die Verdickung, nicht abhebbare Hautfalten an Finger und
Zehenrücken, die für eine Lymphostase hinweisend sind (Abb. 3).
Die Gewebsbeschaffenheit ermöglicht eine Aussage über Grad und Ausmaß
der Fibrosierung (chronisches Lymphödem); so lässt eine weiche, Dellen hinter-
lassende Konsistenz auf ein frühes Stadium des Lymphödems schließen.

Abb. 3.
Palpationsbefund:
Stemmer’sches Zeichen

Funktionsdiagnostik
Besonders geachtet werden muss bei Extremitäten-Lymphödemen auf Funk-
tionsdefizite, die durch eine orthopädische und neurologische Untersuchung ab-
geklärt werden müssen.

Erweiterte Diagnostik
Bei Verdacht auf Begleiterkrankung sind neben Laboruntersuchungen die übli-
chen klinischen und apparativen internistischen Untersuchungen notwendig.
Übliche bildgebende Verfahren, wie Nativröntgen, Sonographie, Computer-
tomographie (CT) und Magnetresonanz-Tomographie (MRI) sind besonders
zum Ausschluss sekundärer Lymphödeme (z. B. Malignomrezidiv, Primärtumor)
erforderlich.
Ist durch die Basisdiagnostik kein eindeutiger Befund möglich oder besteht der
Verdacht auf Begleiterkrankungen, so sind weitere diagnostische Schritte notwen-
dig. Neben den üblichen klinischen Untersuchungsmöglichkeiten stehen noch
spezielle lymphologische apparative Untersuchungstechniken zur Verfügung.

Lymphologische Spezialdiagnostik
Unter lymphologischer Spezialdiagnostik versteht man den Einsatz von bildge-
benden Untersuchungsverfahren, die vorwiegend bei Früh- oder Kombinations-
formen sowie bei gewissen speziellen Fragestellungen zum Einsatz gelangen.
294 W. Döller

Ultraschall
Die Sonographie ist bei der Diagnose des Lymphödems unerlässlich.
Darstellung von Lymphknoten, deren Form, Anzahl und Größe und Morpho-
logie lassen auf pathologische Veränderungen schließen. Hochauflösender Ultra-
schall (> 12 MHz) dient zur Beurteilung der Kutis und Subkutis und Differenzi-
aldiagnose bzw. Evaluierung des Therapieerfolges des Lymphödems.

Farbkodierte Duplexsonographie
Ist zur Beurteilung des venösen, aber auch des arteriellen Gefäßsystems beson-
ders bei kombinierten Lymphödemformen wichtig.

Indirekte Lymphographie
Diese röntgenologische Methode ermöglicht die Darstellung epifaszialer Lymph-
gefäße durch subepidermale Injektion von wasserlöslichen Kontrastmitteln. Die
Ausbreitungsform des Kontrastmittels, die Darstellung des initialen Lymphge-
fäßnetzes und den anschließenden Kollektoren ermöglichen eine Aussage über
Lymphaufnahmestörungen, aber auch über Rückstau des Lymphtransportes
(„dermal back flow“).
Form und Anzahl der dargestellten Kollektoren lassen auf eine Hyper-,
Hypo- oder Aplasie von Lymphkollektoren schließen.

Direkte Lymphographie
Nach Aufsuchen eines Lymphkollektors (z. B.: am Fußrücken) wird öliges Kon-
trastmittel injiziert und die Lymphgefäße dargestellt. Diese Untersuchung ist
wegen ihrer Nebenwirkungen (Fibrosierung der Lymphknoten und der Lymph-
gefäße und damit Potenzierung von Lymphödemen) obsolet.

Interstitielle MRI-Lymphangiographie
Diese neue, im Aufbau begriffene Technik ist noch nicht Standard. Erste Ergeb-
nisse lassen aber den Schluss zu, dass hier eine Untersuchung zur Verfügung ste-
hen könnte, die nicht nur das Lymphgefäßsystem, sondern auch Gewebsverän-
derungen und Ausmaß des mobilen Ödems zu beurteilen ermöglicht.

Quantitative Funktionslymphszintigraphie
Sie ermöglicht die Erfassung dynamischer Vorgänge des Lymphtransportes und
wird durch subepidermale und/oder subkutane Injektion von geeigneten Tracern
durchgeführt. Standardisierte Untersuchungsmethoden ermöglichen eine Aussa-
ge über Lymphtransportstörungen.

Fluoreszenz-Mikrolymphographie
Die heute nur an wenigen Stellen mögliche Untersuchungsmethode erlaubt
annähernd eine atraumatische Darstellung oberflächlicher Lymphkapillaren
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild 295

der Haut. Durch Einbringung von fluoreszierenden Farbstoffen intradermal wer-


den unter dem Fluroeszenzmikroskop die Lymphkapillarnetze beurteilt, die auf
den Funktionszustand und die Anatomie der initialen Lymphgefäße schließen
lassen.

Therapie des Lymphödems


Konservative Therapie
– Die komplexe physikalische 2-Phasen-Entstauungstherapie (KPE)
Vor Erstellung eines Therapiekonzeptes ist die Beurteilung des Lymphödems
auf Ausprägung (Lymphödemstadium), Genese (primäres, sekundäres benignes
oder malignes Lymphödem) sowie auch Kombinationsformen und Komorbidität
unumgänglich.
Bei sekundären malignen Lymphödemen steht die onkologische Therapie im
Vordergrund. Begleiterkrankungen müssen optimal eingestellt oder zumindest
stabilisiert werden.
Je nach Lymphödemstadium stehen verschiedene Therapieoptionen zur Ver-
fügung.

Abb. 4 . Hand-, Armlymphödem und Beinlymphödem vor und nach erfolgreicher Ent-
stauungstherapie (KPE)
296 W. Döller

Beim klinischen Stadium 0 und I des Lymphödems haben sich Präventiv-


maßnahmen bewährt. Sie haben das Ziel, durch erlernte Verhaltensweisen der
Patienten eine Verschlimmerung zu verhindern. Eine Entstauungstherapie im
Sinne der KPE ist selten notwendig.
Bei manifesten Lymphödemen des Stadiums II und III ist die komplexe physi-
kalische Zwei-Phasen-Entstauungstherapie (KPE) die Therapie der ersten Wahl. Ziel
dieser heute wissenschaftlich anerkannten Methode ist es, in der
– Phase I (Entstauungsphase) durch intensivierte Behandlung mittels Hautsanie-
rung (Hautpflege und Hauthygiene), manuellen Lymphdrainagen und spe-
ziellen lymphologischen Kompressionsbandagen sowie Entstauungsgym-
nastik das mobile Ödem zu entfernen und die Bindegewebsvermehrung zu
reduzieren, um in der
– Phase II (Erhaltungs- und Optimierungsphase) durch Anlegen individuell an-
gefertigter Kompressionsbehelfe den Entstauungszustand zu halten und zu
optimieren. Laufende exakte Hauthygiene und Hautpflege sowie tägliche
Durchführung der erlernten Entstauungsgymnastik müssen streng eingehal-
ten werden.
Die KPE wird in der Dosierung (Dauer und Frequenz/Tag) an die Ausprägung
des Lymphödems angepasst. Durchschnittlich ist bei täglicher Durchführung
eine 3-wöchige Therapiedauer notwendig (Abb. 4 ).

Komplexe Physikalische
Entstauungstherapie

Absolute Kontraindikationen

allgemeine:
Herzinsuffizienz (Dekompensation)
akute Entzündung (bakteriell)

Abb. 5. Kontraindikationen der komplexen physikalischen Entstauungstherapie

Die komplexe physikalische Entstauungstherapie (KPE) ist nebenwirkungs-


los, wenn die absoluten und relativen Kontraindikationen beachtet werden
(Abb. 5). Nur wenn die KPE konsequent und fachlich kompetent durchgeführt
wird, erreicht man damit eine optimale Wirkung.

Erweiterte Therapie bei Lymphödem


Bei Lymphödem relevanten Begleiterkrankungen (internistische und/oder ortho-
pädische Erkrankungen) ist eine begleitende fachspezifische Behandlung Voraus-
setzung.
Entsprechend dem klinischen Befund sind oft zusätzliche Therapiemaßnah-
men der physikalischen Medizin notwendig. Besonders Ergotherapie kann sehr
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild 297

hilfreich sein. Bei sekundären Kopflymphödemen nach Malignomen im Mund-


Kiefer-Bereich mit radikaler Halslymphknotenentfernung („neck dissection“)
sind auch logopädische Behandlungen sehr wichtig.
Ein wesentlicher Faktor ist die Compliance des Patienten. Dazu ist eine aus-
reichende Aufklärung und Schulung des Patienten über sein Krankheitsbild und
die Verhaltensweisen sowie Möglichkeiten zur Selbstbehandlung unabdingbar.
Da das Lymphödem eine chronische und lebenslang behandlungsbedürftige
Erkrankung ist, ist eine regelmäßige lymphologische Verlaufskontrolle mit dem
besonderen Ziel der Führung des Patienten wichtig.

Intermittierende pneumatische Kompressionstherapie (IPK)


Die heute vielerorts bekannte apparative pneumatische Kompressionstherapie
sollte beim Lymphödem – wenn überhaupt – nur in Kombination mit der kom-
plexen physikalischen Entstauungstherapie (KPE) und bei bestimmten Krank-
heitsbildern des Lymphödems eingesetzt werden. Wegen möglicher Komplika-
tionen beim unkontrollierten und vom Patienten selbst bestimmten Einsatz wird
davor gewarnt.

Medikamentöse Therapie
Eine spezielle lymphologische medikamentöse Therapie mit sicherer Wirksamkeit
gibt es nicht. Als adjuvante Therapie bei Kombinationsformen des Lymphödems,
wie Phlebo- und Lipolymphödem, ist der Einsatz von Flavonoiden sinnvoll.

– Benzopyrone
Cumarin oder cumarinhältige Präparate zeigen zwar eine positive Wirkung,
wurden aber wegen schwer wiegender Nebenwirkungen bei Langzeitbehand-
lungen aus dem Handel gezogen.
– Enzympräparate
Der adjuvante Einsatz von Enzymtherapien ist wissenschaftlich nicht ge-
sichert und in der Anwendung problematisch.
– Diuretika
Die Gabe von Diuretika (z. B. Lasix) ist bei isoliert vorliegenden Lymphöde-
men kontraindiziert. Wenn ein Lymphödem mit einer Krankheit kombiniert ist,
die eine Behandlung mit Diuretika erforderlich macht, so müssen diese unter
laufenden Kontrollen eingesetzt werden.
– Antibiotika
Antibiotika sind nur bei Auftreten von Komplikationen wie Erysipelinfekten
notwendig. Hier sollten sie ohne Verzögerung verordnet werden.

Operative Behandlung
Chirurgische Maßnahmen sollten nur bei lokalen Lymphabflussstörungen und
nach Ausschöpfung der konservativen Therapie überlegt werden. Operative Be-
298 W. Döller

handlungsmöglichkeiten der ersten Wahl mit dem Ziel der Erhöhung der Trans-
portkapazität sind die mikrochirurgischen Rekonstruktionsverfahren:
– autologe Lymphgefäß-Transplantation,
– lympho-venöse Anastomosierung.
Dissektionsverfahren mit dem Ziel der Reduktion der fibrosklerotischen Ge-
websvermehrung, wie sie heute mit der Lipo-Lymphosuktion beworben werden,
sind nicht ausreichend untersucht und können nach dem heutigen Wissenstand
nicht allgemein empfohlen werden.
Dissezierende Verfahren wie Dermolipektomie stellen lediglich eine komple-
mentäre Maßnahme nach erfolgreicher Entstauungstherapie dar, wenn schlaffe
Hautsäcke vorliegen, die bei der weiteren konservativen Therapie hinderlich sind
und daher abgetragen werden müssen.

Sonderformen der Lymphödemtherapie


Eine besondere Anwendung der komplexen physikalischen Entstauungstherapie
(KPE) muss bei der Behandlung von sekundären malignen Lymphödemen beachtet
werden. Je nach Tumorausbreitung (z. B. Lokalrezidiv) können durch verdrän-
gendes Wachstum des Tumors nicht nur neurologische Ausfälle, sondern auch
beträchtliche Schmerzen zusammen mit einen Lymphödem auftreten (Abb. 6).

Abb. 6.
Sekundäres malignes
Amlymphödem
mit Plexopathie

Es ist daher vor Durchführung einer palliativen Entstauungstherapie (KPE)


eine Tumortherapie (Bestrahlungstherapie, Chemotherapie und auch Chirurgie)
einzuleiten, da bei Ansprechen der palliativen onkologischen Therapien meist
schon ein Rückgang des Lymphödems zu erwarten ist.
Erst in der Folge, in einzelnen Fällen auch bei laufender onkologischer Thera-
pie, ist eine palliative Entstauungstherapie (KPE) sinnvoll. Die oft notwendige
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild 299

Schmerztherapie erhöht die Bereitschaft der Mitarbeit der PatientInnen. Um ei-


nen nachhaltigen Therapieerfolg gewährleisten zu können, ist eine schmerzarme,
besser eine schmerzlose Entstauungsgymnastik unabdingbar. Dauer und Intensi-
tät der manuellen Lymphdrainage und der lymphologischen Bandagen sind der
Situation anzupassen und benötigen oft viel Erfahrung. Besonders schwierig
wird die Behandlung bei Vorliegen von neurologischen Symptomen in Form von
sensiblen oder motorischen Ausfällen verbunden mit Schmerzen, die durch Tu-
morkompression (Plexopathie) hervorgerufen wird. Hier ist meist eine optimale
Schmerztherapie im Vordergrund. Ergotherapie ist gerade hier in einigen Fällen
sehr hilfreich und kann durch Versorgung mit zusätzlichen Behelfen die Therapie
erleichtern.
Wenn auch die lymphologische Therapie nur palliativ angewendet wird, muss
sie auf Lebensdauer durchgeführt und immer wieder dem aktuellen Krankheits-
bild angepasst werden. Ziel der Therapie soll es sein, bei gleichzeitiger psycho-
onkologischer Betreuung und Zuwendung die Lebensqualität der PatientInnen
zu verbessern.

Ambulante und/oder stationäre Lymphödembehandlung

Ob die Behandlung des Lymphödems ambulant oder stationär durchgeführt


werden soll, ist von der Ausprägung und Ausdehnung des Lymphödems, vor-
handener Begleiterkrankungen und auch von den Umweltfaktoren, wie Entfer-
nung zur nächsten Therapiemöglichkeit, abhängig. Dazu gibt es Empfehlungen
der einzelnen Fachgesellschaften (Abb. 6).

Behandlungsmöglichkeiten:
Ambulante Therapie Stationäre Therapie

Ausgeprägte Lymphödeme der


Gliedmaßen (Stadium II und III)
Lymphödeme der Lymphödeme mit Multimorbidität
Gliedmaßen
Stadium I und II Kopflymphödeme, Genitallymphödeme

Behandlung in der Chylothorax, Chylopericard


Phase II der KPE
Eiweißverlierende Enteropathie

Chylarthros

Abb. 7. Ambulante und stationäre Behandlung des Lymphödems

Am Zentrum für Lymphologie im LKH Wolfsberg werden nach Abklärung an


der Akut-Station die – im Rahmen eines durch die Pflichtversicherung zu bewil-
ligenden Rehabilitationsaufenthaltes – diagnostizierten Lymphödeme jeder Aus-
300 W. Döller

prägung und in jedem Alter behandelt. Beratungen betreffend primäre und se-
kundäre Lymphödeme, Lipödemsyndrom und Angiodysplasien werden über un-
sere Ambulanz angeboten.

Komplikationen bei Lymphödemen

Unbehandelt führt jedes Lymphödem unweigerlich zu einer Verschlimmerung


und gehäuften Komplikationen und beeinträchtigt deutlich die Lebensqualität
der Betroffenen. Wenn auch selten kann ein ausgeprägtes Lymphödem zur Ar-
beitsunfähigkeit oder sogar zur Invalidität führen.
Die häufigsten Komplikationen sind Pilzinfektionen und bakterielle Infektio-
nen (Erysipel), Veränderungen der Haut wie Hyperkeratosen, Papillomatosis cutis
lymphostatica, Lymphzysten und Lymphfisteln. Es muss nicht extra betont wer-
den, dass diese Komplikationen nicht nur die Lebensqualität beeinträchtigen,
sondern auch psychisch sehr belastend sind.
Nicht selten führen ausgeprägte Lymphödeme zu orthopädischen Begleiter-
krankungen.

Psychosoziale Rehabilitation

Selbst wenn das chronische Krankheitsbild des Lymphödems oft organisch kei-
nen großen Leidensdruck erzeugt, ist es psychisch sicher belastend und führt zu
sozialem Rückzug.
Es ist daher notwendig – wie bei jeder chronischen Erkrankung – unter Anwen-
dung von psychosozialen Maßnahmen die Patienten auch ärztlich zu begleiten.
Die Summe der genannten Therapiemaßnahmen, besonders die Phase I der
komplexen physikalischen Entstauungstherapie (KPE), sind nur zielführend,
wenn sie in der geeigneten Dosierung und konsequent durchgeführt werden.
Isoliert angewendete manuelle Lymphdrainagen sind für die Therapie des
Lymphödems in der Regel nicht geeignet. Die Entscheidung, ob die Lymph-
ödemtherapie ambulant oder stationär durchgeführt werden soll, hängt von vie-
len Faktoren ab, wie sie oben beschrieben wurden.
Frühe Erkennung des Lymphödems, striktes Einhalten der genannten Thera-
pien und optimale Mitarbeit der PatientInnen unter ärztlicher Führung vermeidet
nicht nur Komplikationen und Spätschäden, sondern ermöglicht durch Lang-
zeitwirkung eine optimierte Lebensqualität für die PatientInnen. Bereitstellung
der Ressourcen, wie lymphologisch geschulte Ärzte, Therapeuten und Banda-
gisten, sowie hochwertige Materialien der Kompressionsbehandlung durch das
Gesundheitswesen sind für den Therapieerfolg Voraussetzung.
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild 301

Literatur
Bringezu G, Schreiner O (2000) Lehrbuch der Entstauungstherapie, Band 1: Theroretische
Grundlagen, Beschreibung und Bewertung der Verfahren. Springer, Berlin Heidelberg, ISBN
3-540-64985-9
Bringezu G, Schreiner O (2000) Lehrbuch der Entstauungstherapie, Band 2: Behandlungskon-
zepte für die Praxis. Springer, Berlin Heidelberg, ISBN 3-540-66927-2
Földi M, Kubik S (Hrsg): Lehrbuch der Lymphologie für Mediziner, Masseure und Physiothera-
peuten, 5. Aufl. Urban & Fischer, ISBN 3-437-45321-1
Földi M, Földi E: Das Lymphödem, Vorbeugung und Behandlung, 7. Aufl. Urban & Fischer,
ISBN 3-437-45580-X
Földi M, Strößenreuther R: Grundlagen der Manuellen Lymphdrainage. Gustav Fischer, ISBN
3-437-45360-2
Loose DA, Weber J: Angeborene Gefäßmißbildungen (Angiodysplasien). Interdisziplinäre Dia-
gnostik und Therapie von Hämangiomen und Gefäßmalformationen Verlag Nordlanddruck
GmbH, Lüneburg, ISBN 3-922 639-03-8
Rabe E, Pannier-Fischer F, Poncar C, et al (2003) Bonner Venenstudie der Deutschen Gesell-
schaft für Phlebologie. Phlebologie 32: 1–14
Schingale FJ: Lymphödeme Lipödme. Diagnose und Therapie Ein Ratgeber für Betroffene.
Viavital Verlag GMBH, ISBN 3-87706-649-6
Strößenreuther RHK: Lipödem und Cellulitis sowie andere Erkrankungen des Fettgewebes.
Viavital Verlag GMBH, ISBN 3-934371-26-4
Sir Browse N, Brunand KG, Mortimer PS: Diseases of the lymphatics. ISBN 0-340-76203-9
Weissleder H, Schuchhardt C (Hrsg) Erkrankung des Lymphgefäßsystems, 4. erw. vollst.
überarb. Aufl. Viavital Verlag GmbH, ISBN 3-934371-36-1
Revision

Schmerztherapie mit Laser

V. SADIL
V. Sadil

Einführung

Obwohl Albert Einstein bereits 1917 das Prinzip der stimulierten Emission for-
mulierte, sollte es noch 41 Jahre dauern, bis Shalow und Townes ein erstes Patent
für die Beschreibung der stimulierten Emission im sichtbaren Lichtbereich er-
hielten. Die weitere technische Entwicklung schritt dann rascher voran, bereits
2 Jahre später wurde 1960 der erste Festkörperlaser (Rubinlaser mit Xenonblitz-
lampe), 1961 der erste kontinuierlich arbeitende Gaslaser (He-Neon) und der
erste Festkörperlaser im Infrarotbereich (Neodym-YAG), 1962 der erste Halblei-
terlaser (Gallium-Arsen) und der UV-Laser (Argon) und 1964 der CO2-Laser
entwickelt.
Da die Phototherapie, die Therapie mit Licht, eine lange Tradition hatte – be-
reits Hippokrates behandelte Hautkrankheiten mit Sonnenlicht – dauerte es
nicht so lange, bis die neue Technik in der Medizin eingeführt wurde. Bereits
1963 wurde eine verbesserte Epithelisation von schlecht heilenden Wunden nach
Laserbestrahlung beschrieben und 1969 wurde in der ehemaligen Sowjetunion
systematisch mit der Biostimulation verschiedener Gewebestrukturen durch Iny-
uschin begonnen, während in Europa und in den USA überwiegend die photo-
thermischen Effekte des Lasers in der Chirurgie, Augenheilkunde, Dermatologie
und Onkologie verwendet wurden. Erst in den späten 70er Jahren wurde hier der
sogenannte Low-Level-Laser auch in verschiedenen anderen Therapiebereichen,
unter anderem zur Schmerzbehandlung, eingesetzt.
Laser sind heute aus vielen Bereichen nicht mehr wegzudenken und werden
zur Erzeugung extremer Hitze für Kernfusionsexperimente genauso verwendet
wie zum Schweißen oder Bohren, zum Schneiden verschiedener Materialien, zur
Materialprüfung, zur Entfernungsmessung, zur Übertragung von Telefongesprä-
chen oder in CD- bzw. DVD-Laufwerken und in Laser-Druckern.
304 V. Sadil

Definition
Laser ist das Akronym für „Light Amplification by Stimulated Emission of Radia-
tion“ (Lichtverstärkung durch stimulierte Aussendung von Strahlung). Licht aus-
strahlen können einmal die sogenannten Temperaturstrahler. Dazu zählen die
Sonne, eine Kerze oder die Glühlampe. Bei anderen Lichtquellen ist es die Strah-
lung elektrisch angeregter Atome, z. B. bei den Neonröhren oder bei den Xenon-
lampen.
Zu einer spontanen Emission von Licht kommt es, wenn ein Atom einer
Strahlung ausgesetzt wird und ein Elektron, das sich in einer inneren Bahn be-
findet, auf ein höheres Energieniveau angehoben wird und damit in eine äußere
Bahn wechselt. Nach einer für jedes Atom typischen Zeit fällt dieses „angeregte“
Elektron wieder in den Grundzustand zurück (es kehrt zur inneren Bahn zu-
rück), dabei wird ein Photon, ein Lichtquant, emittiert.
Zu einer stimulierten Emission von Licht kann es nur kommen, wenn sich
mehr Atome im angeregten Zustand als im Grundzustand befinden (man nennt
diesen Zustand Inversion). Um das zu erreichen, benötigt man eine sogenannte
Pumpquelle, beim Festkörperlaser z. B. eine Xenon-Blitzlampe. Die so angereg-
ten Atome des Lasermediums senden beim Zurückfallen in den Grundzustand
Photonen aus, einige dieser Photonen bewegen sich dabei in der Längsachse ei-
nes zylinderförmigen Resonators (im Resonator befindet sich das Lasermedium).
An den Enden des Resonators befinden sich Spiegel, die Photonen werden hin
und her reflektiert, es entsteht eine stehende Welle. Ist die Intensität der Welle
ausreichend hoch, verlassen einige Photonen den Resonator durch den an einem
Ende teilweise lichtdurchlässigen Spiegel.
Im Gegensatz zum sichtbaren Licht ist die Laserstrahlung monochromatisch
(je nach Lasermedium wird eine Strahlung ganz bestimmter Wellenlänge ausge-
sendet, s. Tabelle 1) und sowohl zeitlich als auch räumlich kohärent (jedes Pho-
ton befindet sich in derselben Schwingungsphase). Ein Laserstrahl weist nur eine
geringe Streuung auf und lässt sich gut fokussieren.
Tabelle 1. Wellenlängen verschiedener Laser

Lasermedium nm
Argon-Fluorid (UV) 193
Krypton-Fluorid (UV) 248
Xenon-Chlorid (UV) 308
Stickstoff (UV) 337
Argon (blau) 488
Argon (grün) 514
Helium-Neon (grün) 543
Helium-Neon (rot) 633
Rhodamin 6G 570–650
Rubin (CrAlO3, rot) 694
Nd:YAG (nIR) 1064
CO2 (fIR) 10600
Schmerztherapie mit Laser 305

Das Lasermedium kann fest (Rubinlaser), gasförmig (He-Neon-, CO2-Laser,


Excimer-Laser) oder flüssig (Farbstoff-Laser, Dye-Laser) sein. In der Schmerz-
therapie werden meistens Halbleiter-Laser (Dioden-Laser) verwendet, die
Strahlung wird hier mit Hilfe elektronischer Bauteile erzeugt. Laser können kon-
tinuierlich (CW-Laser, Continuous-Wave-Laser) oder gepulst Strahlung aus-
senden.

Biophysikalische Grundlagen

Das Wichtigste vorweg: Low-Level-Laser, wie sie für die Schmerztherapie ver-
wendet werden, haben keinerlei photothermische Effekte. Die größte Gefahr
ist eine Schädigung der Augen, vor allem, wenn optische Instrumente wie Linsen
verwendet werden und man direkt in den Laserstrahl blickt. Das diffuse Streu-
licht ist unter bestimmten Voraussetzungen meistens ungefährlich. Die biologi-
sche Wirkung hängt von der Verteilung der Strahlung im Gewebe ab.
Streulicht entsteht unter anderem durch Reflexion der Laserstrahlung an
Grenzflächen verschiedener Dichte, also z. B. beim Auftreffen auf die Haut
(4–7 % bei senkrechtem Auftreffen, 30–50 % bei schrägem Auftreffen). Zu einer
Verstärkung der Reflexion kann es bei feuchter oder fettiger Haut, bei starker Be-
haarung oder bei interstitiellen Ödemen kommen.
Beim Eindringen der Laserstrahlung in ein dichteres Medium als der Haut
kommt es auch zu einer Ablenkung des Laserstrahles von der Einstrahlungsrich-
tung (Brechung) und zur Streuung. Vor allem wenn tiefere Gewebeschichten
„getroffen“ werden sollen, ist damit die Zielsicherheit beeinträchtigt. Die Bre-
chung wird verstärkt durch Cremen oder Gele, die auf die Haut aufgetragen
werden, verringert wird sie durch Aufsetzen der Applikatorspitze auf die Haut,
eventuell unter leichtem Druck. Eine Streuung erfolgt auf das 2- bis 5-fache der
Austrittsfläche, Diodenlaser haben dabei eine geringere Streuung. Folge der
Streuung ist eine breitere Verteilung der Energie und Reduktion der flächenbezo-
genen Energie.
Die optische Eindringtiefe in die Gewebe (Transmission) hängt ab von der
Wellenlänge, von der Leistung und vom Gewebe mit seinen optischen Barrieren
(Pigmente, interstitielle Flüssigkeit). So ist z. B. die Transmission in Granulations-
gewebe 2,5 x größer als in normale Haut.
Die beste Eindringtiefe haben Laser mit einer Wellenlänge zwischen 760 und
800 nm. In diesem „optischen Fenster“ können 65 % der eingestrahlten Energie-
dichte in der Oberhaut und 21 % im Unterhautfettgewebe wirksam werden. Bei
10 mW Leistung beträgt die direkte Tiefenwirkung 1 cm, die indirekte Tiefen-
wirkung (durch interzellulären Energietransfer der darüberliegenden stimulier-
ten Zellen im Sinne eines „Schneeballeffektes“) 5 cm.
An den reaktionsfähigen Chromoproteinen der Zellen bzw. der Mitochond-
rien (Zytochrome, Flavoproteine, Porphyrine, Katalasen, Peroxidasen u. a.) wer-
den die Photonen absorbiert, die absorbierenden Moleküle ändern ihre Konfi-
guration und setzen Energie frei, die den Stoffwechsel anregt.
306 V. Sadil

Wirkmechanismen
Die Wirkungen der Laserstrahlung kann man einteilen in:
– Zelluläre Wirkmechanismen: Dazu gehören die Stimulierung des Zell-
stoffwechsels, eine Erhöhung der Synthese des „Brennstoffes“ ATP (um 150–
400 %) und eine Stimulation verschiedener Enzyme (Flavin-Dehydrogenase,
Zytochrome, Zytochromoxidase).
– Entzündungshemmende Wirkmechanismen: Hier sind vor allem die Er-
höhung der arteriellen Mikrozirkulation, die lokale Anreicherung von Phago-
zyten, die verbesserte Elimination von Gewebenekrosen, diversen Mediatoren
und Mikroorganismen, die Senkung der Prostaglandinsynthese, die Verringe-
rung der Freisetzung von freien Radikalen, die Verringerung der Mastzellen-
degranulation und die Steigerung der Immunglobulinsynthese zu nennen.
– Antiödematöse Wirkmechanismen: Sie hängen eng mit den entzündungs-
hemmenden Wirkmechanismen zusammen. Durch die verringerte Prosta-
glandinsynthese wird das lokale interstitielle Ödem reduziert bzw. seine Ent-
stehung verzögert, die Verringerung der Mastzellendegranulation und der
vasoaktiven Amine verringert die bei Gewebetraumen erhöhte Gefäßperme-
abilität und die verbesserte Mikrozirkulation fördert die Resorption. Zusätz-
lich werden Wirkungen auf die kapilläre Lymphdrainage diskutiert.
– Zirkulatorische Wirkmechanismen: Durch die Bestrahlung werden lokal
Neuropeptide freigesetzt (Substanz P, CGRP), die eine lokale Vasodilatation
(z. B. beim Raynaud-Syndrom) unterstützen. Die Erhöhung der Mikrozirkula-
tion ist auch Folge einer Dilatation des präkapillären Sphinkters und durch
die Bestrahlung normalisieren sich die rheologischen Eigenschaften des Blu-
tes, u. a. wird die Strömungsgeschwindigkeit gesteigert. Neben einer fibrino-
lytischen Wirkung werden Rekanalisierungs- und Vaskularisationsprozesse
nach Gewebezerstörung aktiviert und die Lymphzirkulation verbessert.
– Gewebereparative Wirkmechanismen: Antiphlogistische, zirkulatorische
und antiödematöse Wirkmechanismen verbessern zusammen mit einer Akti-
vierung des Wachstumhormons, einer Stimulierung der Fibroblasten und der
Verbesserung der Phagozytose durch verstärkt einwandernde Leukozyten die
Reparaturprozesse nach einer Gewebetraumatisierung.
– Analgetische Wirkmechanismen: Neben den entzündungshemmenden
und abschwellenden Wirkmechanismen sind es eine Anhebung der Schmerz-
schwelle, die reflektorische Auslösung einer Muskelrelaxation und die Erhö-
hung der Produktion und Freisetzung von Schmerzmodulatoren (Enkephali-
ne), die zu einer Schmerzverringerung bei Laserbestrahlung beitragen.
Daneben kann der Laser auch zur Akupunktur verwendet werden. Ähnlich
wie bei der Nadelakupunktur können auch bei der Laserpunktur gestörte ener-
getische Balancen ausgeglichen werden. Zum einen ist dafür die photoenergeti-
sche Reaktionsbasis mit Erhöhung der ATP-Reserve, gesteigertem Zellstoffwech-
sel und vermehrter Substratsynthese verantwortlich, zum anderen werden kuti-
viszerale und kuti-zerebrale Reaktionen in Gang gesetzt (neurophysiologische
Schmerztherapie mit Laser 307

Reaktionsbasis) und auf der biochemisch-humoralen Reaktionsbasis kommt es


zu erhöhter Transmitter-, Mediatoren-, Modulatoren- und Enzymaktivität.

Anwendung in der Schmerztherapie


Der klinischen Anwendbarkeit des Lasers in der Behandlung diverser Schmerz-
zustände sind auf der Basis der verschiedenen Wirkmechanismen unter Beach-
tung der biophysikalischen Grundlagen eigentlich keine Grenzen gesetzt. Neben
Weichteilverletzungen und Wundbehandlungen eignen sich die meisten Tendo-
pathien, Periarthropathien und Arthropathien für einen Therapieversuch mit
Laser. Im neurologischen Bereich können Polyneuropathien, Neuralgien, Kopf-
schmerzen und periphere Neuropathien mit Laser bestrahlt werden. Gute Er-
gebnisse lassen sich bei verschiedenen Gefäßerkrankungen erzielen, unter
anderem beim M. Raynaud und beim Ulcus cruris. Im HNO-Bereich spricht vor
allem der Tinnitus, der Herpes simplex und eine Stomatitis sowie die Otitis
externa, Rhinitis und Sinusitis empirisch gut auf eine Laserbehandlung an. Bei
verschiedenen Hauterkrankungen ist ein Therapieversuch immer indiziert, neben
anderen Indikationen vor allem bei der Psoriasis, diversen Ekzemen, bei der
Neurodermitis, einer Urtikaria, bei Akne, beim Herpes zoster bzw. postherpeti-
schen Schmerzen und bei einer Hyperhidrose. Verschiedene Entzündungen wie
eine Vulvovaginitis, Balanitis oder Urethritis sowie Kondylome reagieren häufig
positiv auf eine Laserbestrahlung. Bei onkologischen Patienten scheint eine La-
serbehandlung die für den Patienten äußerst unangenehme Schleimhautentzün-
dung (Mukositis) zu verhindern bzw. rasch zu bessern.
Die Dosierung hängt u. a. von der Indikation ab, es gibt allerdings in der Lite-
ratur nur wenig konkrete Hinweise auf eine „optimale“ Dosierung, empirische
und individuelle Behandlungsprotokolle dominieren. Dadurch sind die einzelnen
Studien auch nur schwer miteinander vergleichbar.
Um ein bisschen Mathematik kommt man nicht herum, allerdings berechnen
viele moderne Geräte die Bestrahlungszeit schon automatisch.
Die Leistung (Watt) wird als Energie (Joule) pro Zeiteinheit (s) angegeben:
1 mW = 0,001 J/s.
Ein Lasergerät mit 5 mW Leistung liefert 1/200 J/s, d. h., man muss das Gerät
(unter der Voraussetzung, es ist ein CW-Laser) 200 s emittieren lassen, um 1 J zu
erhalten.
Ein weiterer wichtiger Parameter ist die Energiedichte, angegeben in J/cm².
Die Bestrahlungszeit t errechnet sich aus:
t = (Energiedichte x cm²)/Leistung

Nebenwirkungen und Kontraindikationen


Nebenwirkungen kommen nur selten vor (1–5 %) und sind meist nur gering
ausgeprägt. Beschrieben werden:
– Erytheme
– Schwindel, Müdigkeit
308 V. Sadil

– Verstärktes Schwitzen
– Hyperpigmentierung
– Parästhesien
– Gewebereizung, lokale und fortgeleitete Schmerzen
– Netzhautschäden
Absolute Kontraindikationen sind:
– Gesteigerte Photosensibilität, z. B. Lichtdermatosen
– Akute Schübe chronischer Hauterkrankungen, wie Lupus erythematodes,
Ekzeme usw.
– Hautschäden nach UV-Bestrahlung oder Radiatio
– 3–6 Monate nach einer Chemotherapie, Behandlung mit Immunsuppressiva
oder Kortison (wegen der erhöhten Photosensibilität)
– Malignome und Präkanzerosen
– Offene Fontanellen und Epiphysenfugen
– Unbehandelte Epilepsie
– Dekompensierte Herzinsuffizienz
– Akuter fieberhafter Infekt
– Gravidität ab dem 6. Monat
– Thrombose und Thrombophlebitis
– Bestrahlung des Auges und des Orbitarandes
Relative Kontraindikationen sind:
– Schrittmacher-Patienten (bei Thoraxbehandlung und älteren SM-Modellen)
– Kopfbehandlung bei therapeutisch eingestellter Epilepsie
– Herzrhythmusstörungen, koronare Herzkrankheit (Thoraxbehandlung)
– Hyperthyreose (Hals- und Nackenbehandlung)
– Dysmenorrhoe (Unterbauch, Lendenwirbelsäule)
– Unbekannter Nävus
– Gravidität vor dem 6. Monat (unterer Thorax, Abdomen, LWS)
– Großflächige Hämatome (u.U. verstärkte Blutungsneigung)
– Erysipel, Phlegmone
– Endokrine Organe

Evidence-Base
Mehrere Cochrane Reviews mit bis zu 8 randomisierten kontrollierten Studien
(RCTs) wurden 2006 publiziert (Brosseau et al. [2 Reviews], Yousefi-Nooraie
et al.). Brosseau et al. stellten fest, dass eine Low-Level-Lasertherapie zu einer
kurzzeitigen Schmerzlinderung und Reduktion der Morgensteifigkeit bei Poly-
arthritis-Patienten beitragen kann. Im zweiten Review von Brosseau et al., die
8 RCTs an degenerativen Schmerzpatienten untersuchte, fanden die Autoren
allerdings keine eindeutigen Hinweise für eine Schmerzlinderung durch eine
Laserbehandlung.
Bjordal et al. (2003) analysierten 11 RCTs an insgesamt 565 Patienten mit
degenerativer Gelenkserkrankung und konnten, bei relativ hoher Qualität der
Schmerztherapie mit Laser 309

Studien (PEDro Score 6,9), eine durchschnittliche Reduktion der Schmerzen um


29,8 mm auf einer visuellen Analog-Skala feststellen.
Bei allen Reviews wurde aber die Heterogenität der Patientenstichproben und
der Behandlungsprotokolle, vor allem hinsichtlich Dosierung, Behandlungsdauer
und Behandlungsort betont, die eine Generalisierung der Ergebnisse schwierig
bzw. unmöglich machen.
In den letzten Jahren wurden zahlreiche RCTs sowohl mit positivem als auch
negativem Ergebnis publiziert.
Studien mit negativem Ergebnis stammen von:
– Basford et al. (1987) bei der Rhizarthrose
– Rogvi-Hansen et al. (1991) bei der Chondropathia patellae
– Thorsen et al. (1992) beim myofaszialen Schmerzsyndrom
– Vecchio et al. (1993) bei einer Rotatorenmanschetten-Tendinitis
– Bülow et al. (1994) und Gür et al. (2003) bei Gonarthrose
– Papadopoulos et al. (1996) beim Tennisellbogen
– De Bie et al. (1998) bei Knöchelverstauchungen
– Bakhtiary und Rashidy-Pour (2004) beim Karpaltunnelsyndrom
– Zinman et al. (2004) bei der diabetischen Polyneuropathie
– Brosseau et al. (2005) und Hall et al. (1994) bei Heberden-Bouchard-Arthrosen
– Venancio et al. (2005) bei Kiefergelenksschmerzen
Folgende Autoren haben Studien mit positivem Ergebnis publiziert:
– Vasseljen et al. (1992) beim Tennisellbogen
– Basford et al. (1999) und Gür et al. (2003) beim Kreuzschmerz
– Bensadoun et al. (1999) bei der strahleninduzierten Mukositis
– Gür et al. (2002) bei der Fibromyalgie
– Naeser et al. (2002) beim Karpaltunnelsyndrom
– Hakgüder et al. (2003) und Ilbuldu et al. (2004) bei myofaszialen Schmerz-
syndromen
– Kulekcioglu et al. (2003) bei Kiefergelenksschmerzen
– Saunders (2003) bei der Tendinitis des M. supraspinatus
– Al-Awami et al. (2004) und Hirschl et al. (2002) beim M. Raynaud
– Ebneshahidi et al. (2005) bei der Laserpunktur von Spannungskopfschmerzen
– Bjordal et al. (2006) bei der Achillessehnenentzündung

Laserklassifizierung und Sicherheitsvorschriften


Die Laser werden nach ihrer potentiellen biologischen Schädlichkeit bei unsach-
gemäßer Anwendung (Augen!) in verschiedene Klassen eingeteilt:
– Klasse 1: < 1 mW Leistung, bei bestimmungsgemäßen Betrieb keine Gefähr-
dung, Laserquelle „eigensicher“ (z. B. CD-Player); keine Kennzeichnungs-
pflicht, Hinweis in der Betriebsanleitung des Gerätes;
– Klasse 1M: Laserquelle nicht „eigensicher“ (z. B. Scanner an der Supermarkt-
kassa), keine Gefährdung der Augen, solange der Strahlungsquerschnitt nicht
durch optische Vorrichtungen (Linsen) verkleinert wird.
310 V. Sadil

– Klasse 2: max. 2,5 mW/cm², entspricht 1 mW Leistung (sog. „Grenzwert der


zugänglichen Strahlung“ GZS) bei 7 mm Pupillendurchmesser (z. B. Laser-
Pointer), Expositionszeit < 250 ms (Schutz durch reflektorischen Lidschluss);
– Klasse 3R: Laser bis 5 mW und aufgeweitetem Strahl, nicht mehr als
2,5 mW/cm² können in die Pupille eintreten;
– Klasse 3B: Leistungsbegrenzung bei kontinuierlichen Lasern (CW) und Infra-
rot-Lasern 0,5 W; gepulste Laser: Leistungsbegrenzung abhängig von der
Impulslänge, Auge ist gefährdet, potentielle Gefährdung der Haut, Streulicht
meist ungefährlich;
– Klasse 4: alle anderen Laser, bei jeder Exposition der Augen oder der Haut ist
mit Schädigungen zu rechnen, auch Streustrahlung ist gefährlich und es be-
steht Brandgefahr.
Für das Betreiben von Lasergeräten gibt es zahlreiche Vorschriften und Si-
cherheitshinweise. Ab der Laserklasse 3B muss ein Laserschutzbeauftragter
(LSB) ernannt werden, der eine Teilnahme an einem anerkannten Laserschutz-
kurs gemäß ON S 1100 nachweisen muss. Solche Kurse bieten sowohl die AUVA
als auch die Firmen, die entsprechende Lasergeräte verkaufen, an.
Zu den Aufgaben eines LSB gehören unter anderem:
– Abgrenzung und Kennzeichnung des Laserbereiches
– Schulung des mit dem Laser arbeitenden Personals (1x jährlich)
– Verwahrung des Schlüssels zur Inbetriebnahme des Lasergerätes
– Sicherstellung der Verwendung geeigneter Schutzbrillen für Therapeuten und
Patienten
Auf der Webseite der AUVA (http://www.auva.at) finden sich zahlreiche all-
gemeine Hinweise über den Gebrauch von und den Umgang mit Lasern, unter
anderem auch die Broschüre M 140 Sicherheit kompakt „Medizinische Anwen-
dung des Lasers“ (http://www.auva.at/mediaDB/114612.PDF).

Klinische Beispiele
Fall 1: Die 78-jährige Patientin hatte nach einer Kreissägenverletzung der rech-
ten Hand Schmerzen sowie Dysästhesien im 4. und 5. Finger. Außerdem war der
5. Finger stark geschwollen. Sie wurde im Laufe von 2,5 Wochen insgesamt 8 x
bestrahlt (Behandlungsfläche 5 x 15 cm, 2 J/cm²) und war nach der Behandlungs-
serie bis auf geringe Restdysästhesien beschwerdefrei (Abb. 1).

Fall 2: Die 51-jährige Patientin erlitt eine Luxation des PIP-Gelenkes der rechten
Hand und entwickelte im Anschluss daran ein CRPS I mit Schmerzen, bläulich-
livider Verfärbung und Schwellung der rechten Hand, vermehrter Schweiß-
neigung, Überwärmung und verstärktem Haarwachstum. Nach 12 x Laserbe-
handlung (6 x 5 cm, 15 min, 2 J/cm²) in 3 Wochen war sie schmerzfrei, die Hand
abgeschwollen und der Fingerkuppen-Hohlhandabstand von 8 cm auf 2 cm ver-
bessert.
Schmerztherapie mit Laser 311

Abb. 1.
Oben vor, unten nach
8 Laserbehandlungen

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Revision

Elektro-Magnetfeldtherapie

W. A. K AFK A
W. A. Kafka

Einleitung

Auf der einen Seite, gemessen am wissenschaftlichen Datenmaterial, ist der the-
rapeutische Einsatz elektro-magnetischer Felder grundsätzlich prospektiv einzu-
schätzen. Auf der anderen Seite stehen dem oft vollmundige, auf einem ge-
schickten Mix aus fragwürdigen Text-, Bild- und Filmmaterial gestützte, meist auf
die Reizform bezogene, systemspezifische Heilversprechen der Unternehmer
entgegen. Ungeachtet des schlechten Dienstes an der eigenen Sache steht hier
offensichtlich die Gewinnsucht, keinesfalls aber die beim Umgang mit gesund-
heitsrelevanten Produkten gebotene Seriosität im Vordergrund.
Hinzu kommt, dass – leider auch immer noch in Fachkreisen – die erzielten
Ergebnisse unabhängig von der Unterschiedlichkeit der ihnen zugrunde liegen-
den Stimulationsbedingungen vielfach, obwohl wissenschaftlich völlig unhaltbar,
als für die „Elektro-Magnetfeldtherapie“ allgemein gültig gewertet werden. Die-
se Unzulänglichkeiten führen, besonders wenn die erhoffte Wirkung ausbleibt,
entweder zur pauschalen Ablehnung dieser Behandlungsform, zumindest aber
zur Verunsicherung in der Entscheidung für das eine oder das andere Behand-
lungssystem.
Im Folgenden werden einfache Hilfestellungen zur Bewertung von Elektro-
Magnetfeldtherapie-Systemen geboten.

Gesundheit als Funktionszustand komplex vernetzter


molekularer Interaktionen

Im allgemeinen Sinn bezeichnet Gesundheit einen Zustand des körperlichen,


seelischen, sozialen und somit auch des psychischen und geistigen Wohlbefin-
dens. Gemäß der englischen Wortbedeutung „well-being“ handelt es sich um ei-
nen über Anamnese, Laborparameter, genetisch oder anderweitig definierte
314 W. A. Kafka

Marker objektiv beschreibbaren Zustand, unter anderem gekennzeichnet durch


eine altersgerechte körperliche und geistige Leistungsfähigkeit. Sie reflektiert die
naturgegebene – sich mit der Evolution ständig fortentwickelnde – auf Lebens-
erhalt ausgerichtete Anpassungsfähigkeit an innere und äußere Belastungen.
Letztlich basiert die Gesundheit auf im Organismus zeitlich und räumlich
hochkomplex vernetzt ablaufenden molekular gesteuerten Regulationsprozes-
sen. Der durch Signalstoffe über Adhäsionsmoleküle und das genetische Mate-
rial vermittelten Bildung und Aktivierung von Proteinen kommt hierbei eine
spezielle Rolle zu.
Besondere Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen – insbesondere fal-
sche Ernährung, mangelnde Bewegung und sozialer Stress – können diese Regu-
lationsprozesse überfordern und zu nachhaltigen, häufig durch Vorboten wie
Unwohlsein, Schmerz, Angst und Depression angezeigten gesundheitlichen Stö-
rungen führen. Die zu ihrer Kompensation einzusetzenden therapeutischen
Maßnahmen sind (grundsätzlich) ausgerichtet auf die Unterstützung dieser na-
türlich vorgegebenen Regulationsmechanismen.

Symptom-orientierte Interventionen sind problematisch

Aus naheliegenden praktischen und methodischen Gründen orientieren sich


therapeutische Maßnahmen, trotz ausgereifter Diagnostik, jedoch meist an den
durch solche Störungen induzierten Symptomen, nicht aber an deren eigentli-
chen Ursachen. Sie erfolgen häufig also erst innerhalb der Sequenz von mögli-
cherweise durch zusätzliche – oft kostenintensive – Folgestörungen verdeckte
und verschleppte, auch durch Multimedikation zusätzlich geförderte Krankheits-
entwicklungen.
Demgegenüber von Vorteil wären also Maßnahmen, die solche Störungen
möglichst ursachennah, schonungsvoll und breit gestreut bereits in deren An-
fangsstadien kompensieren oder, im Sinne der Prävention, deren Aufkommen
gar nicht erst zulassen.

Das Konzept der (modernen)


Elektro-Magnetfeldtherapie und der Begriff
„elektro-magnetische Wirkstoffeigenschaften“

Genau dies stellt sich die moderne Elektro-Magnetfeldtherapie zur Aufgabe.


Komplementär zu jeder weiteren Art von therapeutischen Maßnahmen ist sie
ausgerichtet auf eine breitest mögliche Unterstützung der diesen Selbsterhal-
tungsmechanismen zugrunde liegenden molekularen Interaktionen: im Detail
auf die jeder physikalisch-chemischen Interaktion vorausgehenden, sich im
Energiezustand der jeweiligen Elektronenkonfiguration abzeichnenden Aktivie-
rung. Mit den von den elektro-magnetischen Feldern ausgehenden Kraftwirkun-
gen zielt sie letztlich ab auf eine – eventuell auch katalytische – Beeinflussung
Elektro-Magnetfeldtherapie 315

der Reaktionsbereitschaft der an den Regulationen unterschiedlichst beteiligten


molekularen Partner. Durch die so erhöhten Reaktionswahrscheinlichkeiten
kann sie, ein Zuviel oder Zuwenig an Stoffkonzentrationen ausgleichend, letzt-
lich sogar zur Reduktion von Arzneimittelgaben beitragen.
Entsprechend den bereits beschriebenen physikalischen Gesetzmäßigkeiten
ist davon auszugehen, dass sich die angestrebten Ziele nur mit geeignet abge-
stimmtem Zeit-Intensitätsverläufen der applizierten elektro-magnetischen Fel-
der erreichen lassen.
Insofern könnte man – ähnlich den durch physikalische und chemische
Eigenschaften charakterisierbaren Wirkstoffeigenschaften eines Arzneimittels –
den zeitlichen Intensitätsverläufen der jeweils applizierten Felder „elektro-magne-
tische Wirkstoff“-Eigenschaften zuordnen. Diese lassen sich durch Angaben zur
spektralen Zusammensetzung der eingesetzten Signalformen quantifizieren, wie
beispielsweise nach den bekannten Formalismen zur mathematischen Simula-
tion des Funktionsverlaufs durch – hinsichtlich Frequenz und Amplitude geeig-
net überlagerte – Sinus- und Kosinus-Komponenten (Fourieranalyse).
Gerade hierin unterscheidet sich die vorwiegend auf Berichte aus dem Alter-
tum stützende und zunächst auf die vereinheitlichte Wirkung von Permanent-
magneten beschränkte, inzwischen jedoch auch auf zeitlich sich verändernde
Felder ausgedehnte, volkstümlich definierte „Magnetfeldtherapie“ von der mo-
dernen Elektro-Magnetfeldtherapie.
Anders als bei einem zeitlich sich ändernden magnetischen Feld üben per-
manente Magnetfelder Kraftwirkungen ausschließlich auf bewegte Ladungen
aus. Darüber hinaus ist bislang noch weitgehend ungeklärt, inwieweit sich die
biologischen Reaktionen bei der Applikation elektro-magnetischer Felder auf die
Wirkungen von Magnetfeldern reduzieren lassen. Es ist durchaus vorstellbar,
dass diese erst als Folge des mit den zeitlichen Veränderungen einhergehenden
physikalischen Wechselspiels von sich gegenseitig induzierenden elektrischen
und magnetischen Feldkomponenten zustande kommen. So könnte die biologi-
sche Wirkung aus dem Zusammenwirken der das organisches Gewebe weitge-
hend ungedämpft durchdringenden – zunächst als eine Art Träger fungierenden
magnetischen Komponente – und der bei ihrer zeitlichen Veränderung induzier-
ten elektrischen Komponente zustande kommen. In diesem Sinne versteht sich
auch die Definition des hier verwendeten Begriffs „Elektro-Magnetfeldtherapie“.

Wissenschaftlich nachgewiesene biologische Wirkungen


elektro-magnetischer Felder

Die Liste wissenschaftlicher Daten zur biologischen Wirkung magnetischer bzw.


elektro-magnetischer Felder ist äußerst umfangreich und stark im Wachsen. Mit
keineswegs widerspruchsfreien Ergebnissen umfasst sie ein breit gestreutes
Muster physiologischer Reaktionen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und
ohne auf Details der zugrunde liegenden Untersuchungen einzugehen, jedoch
unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass sich die Wirkungen ausschließlich auf
316 W. A. Kafka

die jeweils zugrunde liegenden Reizparameter beziehen, erstreckt sie sich derzeit
unter anderem auf folgende, lose aneinandergereihte Befunde:
– Reduktion polyneuropathischer Schmerzzustände als Folge von oxydati-
vem Stress nach Chemotherapie und Verletzungen;
– Stärkung körpereigener Abwehrmechanismen mit verbesserter Immunität
und Protektion gegen chemische Stressfaktoren;
– Verbesserung orthopädischer Krankheitsbilder, insbesondere im Rehabili-
tationswesen mit Reduktion lumbarisch initiierter, chronischer Rücken- und
Bewegungsschmerzen und deren Folgeerscheinungen: Schlaflosigkeit, Angst
Depression);
– Verbesserung der Schlafqualität;
– Reduktion der diabetischen Neuropathie vor allem an den Beinen;
– Beschleunigte Wundheilung;
– Reduktion psychovegetativer Störungen wie Schmerz, Angst, Depression
(Zahnarztangst, Blutdruck und Pulsfrequenz). Anders als bei den Feldintensi-
täten, welche bei der transkranialen (TCS) und transkutanen Nervenstimula-
tion (TENS) eingesetzt werden, ist eine unmittelbare Beeinflussung der Akti-
vität von Zellerregungen bei den in der Elektro-Magnetfeldtherapie
üblicherweise genutzten geringen Feldstärken von allenfalls bis in den Be-
reich von Millitesla nicht zu erwarten. – Zum Vergleich: Die Erdfeldstärke liegt
in unseren Breiten bei ca. 50 Mikrotesla;
– Verbesserung des Wohlbefindens und der Lebensqualität, insbesondere in
der Geriatrie und Palliativmedizin;
– Leistungssteigerung im Spitzensport durch verzögertes Auftreten von Mus-
kelkater, Reduktion von Erschöpfungszuständen, Bildung energiereicher Ver-
bindungen, insbesondere von Adenosintriphosphat (ATP) und Bis-2,3-
Phosphoglycerat (BPG) in humanen Erythrozyten;
– Erhöhung von Zell-Replikations- und Proliferationsraten definierter
Stammzellen des humanen Knochenmarks als Ansatz zur Behandlung von
Knochenleiden, z. B. Osteoporose und Frakturen;
– Bildung und Beeinflussung der Aktivität von Proteinen in Form differen-
tieller (up- und down-regulierter) Genexpression von Proteinen definierter
Stammzellen humaner Knochen- und Knorpelzellen als Ansatz zur Behand-
lung von Knochenleiden (s. oben);
– Beeinflussung der Aktivität unterschiedlicher Wachstumsfaktoren wie
epidermaler Wachstumsfaktor (EGF), insulinähnlicher Wachstumsfaktor 2
(IGF-2), Fibroblasten-Wachstumsfaktor (FGF), Nerven-Wachstumsfaktor
(NGF), transformierender Wachstumsfaktor Beta (TGF-ß) und den Knochen-
Morphogenese-Proteinen 2 und 4 (BMP-2, BMP-4);
– Reduktion von Medikamenteneinnahmen;
– Noch unzureichend wissenschaftlich belegt ist eine mögliche Verbesserung
des Funktionszustands der Mikrozirkulation, d. h. der von der Anpassung
an sich ändernde Stoffwechselbedürfnisse abhängigen Strömung von Blut-
zellen, Blutplasma und Signalstoffen in den kleinsten Blutgefäßen und der
Aktivierung des Stoffaustauschs. Trotz Nutzung identischer Stimulations-
Elektro-Magnetfeldtherapie 317

systeme mit zum Teil gleichen Analysesystemen ließen sich derartige Befunde
in anderen nach wissenschaftlichen Standards durchgeführten Untersuchun-
gen jedoch nicht bestätigen (vgl. hierzu auch die Anmerkungen weiter unten
Abschnitt Wissenschaftliche Dokumentation, S. 319, 3. Absatz).

Relative Kontraindikationen
– Bei den gegebenen Feldintensitäten wurden negative Auswirken auf elektro-
nische oder metallische Implantate durch induzierte Spannungen, Stromflüs-
se und -felder (z. B. elektronische Funktionsstörungen oder Wärmeentwick-
lungen durch induzierte Ströme oder/und Magnetisierungsvorgänge) bislang
nicht
gefunden und sind gemäß dem Stand der Technik auch nicht zu befürchten.
Gegebenenfalls sollte aber dennoch die individuelle elektro-magnetische Ver-
träglichkeit zwischen elektronischen Implantaten und dem jeweiligen Be-
handlungssystem überprüft werden.
– Infolge der Befunde zur Aktivierung von Abwehrreaktionen erscheint es je-
doch wegen möglicherweise eintretenden Abstoßungsreaktionen bei frischen
Fremdkörpertransplantationen bis zur hinreichend sicheren, medizinisch-
wissenschaftlichen Abklärung ratsam, mit einer elektro-magnetische Behand-
lung erst nach medizinisch diagnostizierter Normalisierung der immunologi-
schen Abwehrreaktionen zu beginnen.
Bezogen auf die unterschiedlichen Arten der durch die elektro-magnetischen
Felder induzierten Wirkungen, insbesondere die simultanen Up- und Down-
Regulationen in der Genexpression, kann trotz der obigen Einschränkungen zur
Individualität der Reizparameter im Allgemeinen davon ausgegangen werden,
dass die elektro-magnetischen Signale unterschiedliche molekulare Prozesse ak-
tivieren. Selbst wenn sich einige der Befunde erst als Folge funktioneller Über-
lappungen von primär unterschiedlich aktivierten molekularen Mechanismen
einstellen und des Weiteren noch offen ist, inwieweit sich die dabei induzierten
biologischen Wirkungen den spektralen Komponenten der applizierten Stimula-
tionssignale zuordnen lassen, liefern die vorliegenden Befunde eine Bestätigung
dafür, dass die Breite der biologisch induzierbaren Wirkungen im Sinne des hier
vorgestellten Konzepts mit der spektralen Breite der Stimulationssignale einher-
geht.

Magnetfeldtherapie: Ja, aber welches System?


Einige Entscheidungshilfen

Wegen der eingangs erwähnten systemspezifisch unterschiedlichen Stimula-


tionseigenschaften lässt sich aus den Befunden keine allgemeine therapeutische
Anwendbarkeit ableiten. Daher ist selbst bei individuell streng eingegrenzten
Therapiewünschen eine gründliche und kritische Auseinandersetzung mit den
318 W. A. Kafka

jeweils zu Verfügung gestellten Unterlagen erforderlich. Bei der Komplexität des


zugrunde liegenden physiologisch-physikalischen Hintergrunds und der Vielzahl
der derzeit auf dem Markt erhältlichen Behandlungssysteme darf allerdings da-
von ausgegangen werden, dass auf diesem Gebiet nicht einschlägig bewanderte
Interessenten – selbst Angehörige medizinischer Fachkreise – hierbei überfordert
sein dürften.
Als eine wertfreie, neutrale Hilfe bei der Entscheidung für das eine oder an-
dere System bietet sich die Prüfung auf Erfüllung folgender Kriterien an:
Technische Angaben: Sind die Angaben zur Gerätetechnik – insbesondere
zum zeitlichen Intensitätsverlauf – beschrieben und ausreichend quantifiziert?
Herkömmliche, und heute noch in der Therapie eingesetzte Systeme arbeiten
häufig mit zeitlich gepulsten sinus-, bogen-, sägezahn-, oder trapezförmig ver-
laufenden (magnetischen) Feldintensitäten von bis zu mehreren Millitesla und
Wiederholungsraten von 0,001 bis 10.0000 Hz. Die bislang häufigste Verwendung
von 50 oder 60 Hz sollte allerdings nicht als Hinweis für deren besondere Wirk-
samkeit interpretiert werden. Diese Frequenzen und Formen verdanken ihre Be-
liebtheit vielmehr ihrer bevorzugten Verwendung in elektrotechnischen Labors
aufgrund ihrer leichten technischen Umsetzbarkeit. Moderne Entwicklungen
basieren auf der Applikation komplex zusammengesetzter Signalformen mit –
gegenüber den herkömmlichen Systemen – einer um ein vielfaches breiteren
spektralen Zusammensetzung vgl. S.- 315, 3. Absatz.
Sicherheitsstandard: Sind die Sicherheitsverordnungen wie z. B. die Kon-
formität zur Gerätetechnik (CE-, GSE-, ISO-Standards usw.) angegeben und do-
kumentiert?
Wirknachweise und Werbeaussagen: Beruhen die behaupteten Wirkungen
tatsächlich auf Untersuchungen mit dem ausgewählten Behandlungssystem
oder, wie häufig und irreführend geäußert, auf mit völlig anderen Stimulations-
formen erzielten Befunden?
Bedienungsanleitung, Hotlines: Sind die Inhalte von Bedienungsanleitun-
gen, Anwenderhinweisen, Schulungen, Hotlines usw. wissenschaftlich belegt?
Dies betrifft vornehmlich die Angaben zur Dauer, Häufigkeit und Intensitätsein-
stellung bei der Behandlung medizinisch eindeutig definierter Indikationen. Oft
wird hier unter Vorgabe wissenschaftlich belegter Fakten auf so genannte Erfah-
rungswerte Bezug genommen. Abgesehen davon, dass Erfahrungswerte grund-
sätzlich keiner wissenschaftlichen Überprüfung gleichzusetzen sind (siehe un-
ten), sind derartige Angaben aber auch schon deshalb untauglich und letztlich
widersinnig, als den Nutzern durch Empfehlung bereits von vornherein jede an-
dere Wahl von Einstellungen abgenommen wurde. Es ist somit keinesfalls auszu-
schließen, dass andere als die jeweils vorgeschlagenen Einstellungen nicht doch
zu besseren Therapieergebnissen geführt hätten. – Wenn auch in solchen Fällen
eher eine Entscheidung gegen dieses System zu treffen wäre, sei immerhin fest-
gehalten, dass hier nicht die Tauglichkeit des Systems kritisiert werden sollte,
sondern die Beratung durch vielfach selbsternannte, mit wissenschaftlicher
Denkweise wenig vertraute und/oder vom Hersteller für die Verbreitung von
Wunschvorstellungen bezahlte „Experten“.
Elektro-Magnetfeldtherapie 319

Wissenschaftliche Dokumentation: Wurden die vorgestellten Untersu-


chungen nach wissenschaftlichen Standards („Studien“) durchgeführt, aus de-
nen insbesondere eindeutig hervorgeht, dass die beobachteten und bewerteten
Wirkungen ausschließlich auf den jeweils applizierten Reiz zurückzuführen sind?
Im Einzelnen geht es hier um die Prüfung des Untersuchungsprotokolls auf
möglichst verblindete, multizentrisch durchgeführte Untersuchungen an einer
hinreichend großen, randomisiert auf Kontrolle, Placebo- und Verum-Gruppen
verteilten Population von Probanden und der vergleichend und quantifiziert
durch (im Bereich von 0,5 oder besser 0,01 liegenden) Signifikanzwerte darge-
stellten Resultate. So genannte Case Reports (Fallbeschreibungen) erfüllen –
ähnlich wie die oben erwähnten Erfahrungswerte – nicht die Bedingungen wis-
senschaftlicher Eindeutigkeit. Sie dienen allenfalls als mögliche Arbeitshypothe-
sen für weitere Untersuchungsplanungen.
Auf eine detaillierte Prüfung von Untersuchungsparametern und Ergebnissen
kann verzichtet werden bei Studien, welche in einem sog. Peer-Reviewed Fach-
organ mit ggf. hoher Impact-Nummer publiziert wurden. Bei diesen Publikatio-
nen hat ein von der Autorenschaft unabhängiges Gremium (international) re-
nommierter Wissenschaftler das zur Publikation eingereichte Material bereits
geprüft.
Andere Publikationsorte, insbesondere Publikationen in der Tagespresse, im
Eigenverlag erstellte Broschüren und Bücher, selbst mit ISBN-Nummer, sind zur
Überprüfung der Wissenschaftlichkeit weniger bis nicht geeignet. Stehen jedoch
nur derartige Publikationen zur Verfügung, sollte ersatzweise durch Intuition ge-
prüft werden, ob die gewählten Untersuchungsmethoden die beschriebenen
Wirksamkeiten überhaupt zulassen. So könnten die oben erwähnten Einflüsse
auf den Funktionszustand der Mikrozirkulation angesichts der im Mikrometer-
bereich durchgeführten Untersuchungen beispielsweise die Frage nach der
Zuverlässigkeit der entsprechenden „Vorher-Nachher“-Dokumentationen in-
sofern aufwerfen, als die tatsächliche Wiederfindung in diesen Dimensionen be-
sonderer technischer Vorkehrungen bedarf. Dies gilt umso mehr, wenn beschrie-
ben ist, dass die Nachbeobachtungen erst nach Zeiträumen von mehreren Tagen
oder gar Wochen erfolgten, innerhalb derer üblicherweise mit histologisch-
morphologischen Veränderungen zwar zu rechnen ist, diese jedoch in den Nach-
beobachtungen keinesfalls in irgendeiner Form erkennbar sind.
Zusatzgeräte bzw. -applikationen: In den Angebotssortimenten vieler Her-
steller finden sich immer häufiger Zusatzgeräte, mit deren Hilfe sich unter Bei-
ziehung anderweitig ermittelter Referenzwerte angeblich individuell optimal ab-
gestimmte Reizbedingungen unmittelbar „vor Ort“ ermitteln lassen. Häufig
handelt es hierbei etwa um in Finger- oder Ohrenklipps eingebaute Sensor-
systeme, mit denen sich über die Messung von beispielsweise Widerständen oder
Lichtabsorptionen gewisse physiologische Parameter (Hautfeuchte, Pulsabstand,
usw.) erfassen lassen. Ein derartiges Vorhaben setzt voraus, dass solche „Refe-
renzwerte“ einen wissenschaftlich abgesicherten, von der elektro-magnetischen
Behandlung abhängigen, insbesondere einen für die zu behandelnde Person zu-
treffenden gesundheitlichen Zustand reflektieren. Hinzu kommt, dass die Vor-
320 W. A. Kafka

Ort-Messwerterhebungen, anders als häufig bei Geräte-Demonstrationen z. B.


auf Messen oder dergleichen, unter ebensolchen, standardisierten Untersuchungs-
bedingungen durchgeführt werden müssen. Ohne strenge Einhaltung dieser
Vorgaben sind solche Aussagen grundsätzlich als wertlos und unseriös einzustu-
fen. Offensichtlich soll damit der Interessent von einer üblicherweise sensorisch
nicht wahrnehmbaren Wirkung eines applizierten elektro-magnetischen Feldes
überzeugt werden.
Ansonsten gelten auch hier die im Abschnitt „Bedienungsanleitung“ ge-
troffenen Bemerkungen:
Preisverleihungen, Siegerurkunden, Patentierungen oder eine Zertifizie-
rung als Medizinprodukt ersetzen keine wissenschaftlichen Wirknachweise.
Patente zeugen von technischen Innovationen, Preise, Urkunden, Medaillen u. a.
Auszeichnungen sind nicht selten käuflich und werden ohne Prüfung auf thera-
peutisch sinnvolle Verwendung verliehen. Die Zertifizierung bestätigt vornehm-
lich die technische Erfüllung medizinischer Sicherheitsstandards. – Wie die Praxis
immer wieder zeigt, dienen derartige Zertifikate vielmehr der Werbung um den
Interessenten bzw. dazu, den potentiellen Käufer von der Wirksamkeit eines
Produktes zu überzeugen.

Schlussfolgerung und Ausblick


Zusammenfassend zeigt sich, dass das von Seiten der Hersteller vielfach prokla-
mierte Interesse zur Förderung medizinisch wissenschaftlicher Erkenntnisse häu-
fig nur als ein dem Marketing dienendes Argument anzusehen ist, um die zur
Wirksamkeit der Produkte vorgelegten Dokumente seriöser erscheinen zu lassen.
Es bleibt zu hoffen, dass sich künftig von Hersteller und Vertreibern unabhängi-
ge wissenschaftliche Institutionen stärker als bisher mit den gesundheitlichen Wir-
kungen elektro-magnetischer Felder befassen. Die dafür notwendigen, im Sinne
einer breitgestreuten Effizienz variabel auf spektral noch breitere Zusammenset-
zung der Stimulationssignale ausgerichteten, wissensbasierten konsequenten
Weiterentwicklungen stehen offensichtlich bereits in naher Zukunft zur Verfügung.
Mit diesen Vorgaben und gerade weil die nicht-invasive Anwendung eine für
den Arzt einfache und den Patienten angenehme und praktisch nebenwirkungs-
freie Therapieoption darstellt, kann die moderne Elektro-Magnetfeldtherapie als
prospektiver neuer Ansatz gelten, der effizient und kostensenkend zur Verbesse-
rung des allgemeinen Gesundheitswesen beiträgt, sowohl in der privaten Heim-
anwendung als auch in der medizinischen Praxis.

Literatur
Aus Gründen der Übersichtlichkeit und des Platzbedarfs wurde auf eine Dokumentation der
überaus umfangreichen Literatur verzichtet. Gegebenenfalls steht der Autor für eine systemun-
abhängige Beratung zur Verfügung.
Revision

TENS zur Schmerztherapie

B. DISSELHOFF
B. Disselhoff

Einleitung

Die TENS (transkutane elektrische Nervenstimulation) ist ein verbreitetes Verfah-


ren der Schmerztherapie, das dem Patienten die Möglichkeit einer eigenständi-
gen Behandlung gibt.
TENS kann, bei ausgezeichneter Verträglichkeit, sehr effektiv sein und läßt
sich unproblematisch mit weiteren Therapien kombinieren.
Die folgenden Anwendungstipps sollen die TENS-Anwendung erleichtern,
die individuell angepasst werden muss. Dies betrifft auch die auf den Fotos ge-
zeigten Elektrodenanlagen, die als Vorschläge gemeint sind.

Indikationen im Schmerzbereich

Akute und chronische, leichte bis starke Schmerzen können mit TENS behandelt
werden. Ein Behandlungsversuch ist immer sinnvoll (Johnson et al. 1991).
Dazu zählen:
– Traumatische und postoperative Schmerzen
– Kopfschmerzen
– Rückenschmerzen
– Arthrose der großen und kleinen Gelenke
– Überlastungssyndrome wie Epikondylitiden und Tendinopathien
– Karpaltunnelsyndrom
– Myalgien
– Neuralgien
– Amputationsschmerzen
– Polyneuropathische Schmerzen
– Dysmenorrhoe
322 B. Disselhoff

Abb. 1. Trigeminusneuralgie*. Anode vor das Ohr;


Kathode auf den Endpunkt des betroffenen Nervenastes

Abb. 2. HW-Syndrom*. Anode auf den


Hauptschmerzpunkt, Kathode in den Ausstrahlungs-
bereich des Schmerzes

Abb. 3. BWS-Syndrom*. 2-Kanal-Anlage.


Anode auf den Hauptschmerzpunkt,
Kathode spiegelbildlich gegenüber
TENS zur Schmerztherapie 323

Abb. 4. Ischialgie*. 2-Kanal-Anlage:


Ein Elektrodenpaar paravertebral im LWS-Bereich, das
andere in den Ausstrahlungsbereich des Schmerzes

Abb. 5. Schultergelenkschmerzen*. Anode auf den


Proc. coracoideus, Kathode gegenüber

Abb. 6. Sprunggelenkschmerzen*.
Anode oberhalb des Knöchels,
Kathode unterhalb

* Fotos mit freundlicher Genehmigung der schwa-medico GmbH.


324 B. Disselhoff

Abb. 7. Fersenschmerzen/ Achilles-


sehnenschmerzen*. Anode auf den
Hauptschmerzpunkt, Kathode in den
Ausstrahlungsbereich des Schmerzes

Abb. 8. Gonarthrose*. Anode auf den Hauptschmerz-


punkt; Kathode auf die gegenüberliegende Seite

TENS-Handhabung: Kurzanleitung in 7 Schritten


1. Haut reinigen und trocknen
2. Kabel mit den Elektroden und Gerät verbinden
3. Elektroden auf den Anlagestellen befestigen
4. Gerät einschalten, Frequenz (Impulsbreite) bzw. Programm wählen
5. Stromintensität langsam erhöhen
6. Nach Beendigung der Stimulation die Intensität ganz zurückregeln und das
Gerät ausschalten
7. Elektroden von der Haut entfernen und auf Folie zurückkleben

Das typisches TENS-Gerät


Das Gerät wird über Batterien oder Akkus versorgt. Es erzeugt elektrische Impul-
se, die über Hautelektroden an den Körper abgegeben werden.
Die Stromstärke (Intensität) kann zwischen 1 und 70 mA gewählt werden
und muss zu jeder Behandlung individuell eingestellt werden.
TENS zur Schmerztherapie 325

Der Frequenzbereich umfasst 1–120 Hz (ein Hertz bedeutet ein Impuls pro
Sekunde). Die Frequenz kann in Form von Behandlungsprogrammen für be-
stimmte Indikationen festgeschrieben oder frei einstellbar sein.
Die Impulsbreite liegt zwischen 0,1–0,2 msec und ist oft fest programmiert.

Zur Wahl von Frequenz, Intensität und Impulsbreite

Frequenz
In der TENS werden die niederfrequente und die hochfrequente Stimulation
unterschieden:
a) „Niederfrequentes“ TENS
Besonders chronische Schmerzen eignen sich für die niederfrequente Stimu-
lation. Die Wirkung der niederfrequenten TENS betrifft den ganzen Körper. Sie
tritt nicht sofort ein, sondern bedarf längerer und wiederholter Stimulation und
kann nach der Behandlung für längere Zeit anhalten.
Verwendet wird eine Frequenz von 2 Hz bis maximal 10 Hz. Die Intensität
muss ausreichend sein, um Muskelzuckungen im Bereich der Elektroden hervor-
zurufen. Dadurch werden Neurotransmitter freigesetzt, die analgetisch und
schmerzmodifizierend wirken. Im Gegensatz zur hochfrequenten Stimulation,
die am gesamten Körper angewendet werden kann, setzt die niederfrequente
Stimulation also eine gewisse Muskulatur unter den Elektroden voraus.
Eine Sonderform der niederfrequenten Stimulation ist die Kaada-Stimulation
(s. dort).
b) „Hochfrequentes“ TENS
Die Wirkung der hochfrequenten Stimulation kann schon nach einigen Mi-
nuten eintreten und ist deshalb besonders bei akuten Schmerzen hilfreich. Sie
wird oft mit 100 Hz durchgeführt, umfasst aber insgesamt den Bereich von 50–
100 Hz. Die Intensität wird so gewählt, dass ein deutliches, aber nicht schmerz-
haftes Stromgefühl wahrgenommen wird. Muskelzuckungen sind nicht er-
wünscht. Aktiviert werden so körpereigene Hemmsysteme im Bereich des Rü-
ckenmarks (segmentale Hemmung).

c) Die Han-Stimulation – Kombination aus hoch- und niederfrequenter


Stimulation
Der chinesische Neurophysiologe J. S. Han empfiehlt eine Stimulation, bei
der alle 3 Sekunden zwischen 2 Hz und 100 Hz gewechselt wird. Auch hier müs-
sen in der 2-Hz-Phase Muskelzuckungen ausgelöst werden. Die schmerzlin-
dernde Wirkung beider Frequenzbereiche wird aktiviert und eine verstärkte
Analgesie erreicht (Han 2003).
Die Han-Stimulation wird als Behandlungsprogramm von einigen TENS-
Herstellern angeboten und ist, falls verfügbar, bei fast allen Schmerzen die erste
Behandlungswahl.
326 B. Disselhoff

Stromstärke
Die Stromstärke (Intensität) des Stromes wird in Milliampere (mA) ausgedrückt.
Die Einstellung der Intensität sollte so gewählt werden, dass die Stimulation als
kräftig und angenehm empfunden wird. Bei der hochfrequenten Stimulation ist
dann ein deutliches Kribbeln wahrnehmbar. Bei der niederfrequenten Stimula-
tion benötigt man eine etwas höhere Stromstärke, damit es zu leichten Muskel-
zuckungen kommt.
Während zu Beginn der Behandlung vor allem unerfahrene Patienten niedri-
gere Intensitäten bevorzugen, nimmt im Laufe der Behandlung die Stromtole-
ranz oft deutlich zu. Dies ist ein erwünschter Effekt. Eine übertrieben intensive
Stimulation kann dagegen zu Nebenwirkungen führen. Es ist immer hilfreich,
wenn der Patient bei seinen Praxisterminen das TENS-Gerät mitbringt und den
Umgang damit demonstriert.

Impulsbreite
Die Impulsbreite ist bei den meisten Geräten vorgegeben und liegt zwischen
0,1–0,2 msec. Die hochfrequente Stimulation erfordert gegenüber der niederfre-
quenten Stimulation etwas geringere Impulsbreiten.

Die Elektroden

Allgemeine Hinweise: Die Elektroden müssen vollständig auf der Haut haften
und einen Abstand von mindestens 2 cm voneinander haben. Sicherheitsschal-
tungen können zur Abschaltung des Gerätes bei unvollständigem Elektroden-
kontakt führen. Bei laufendem Gerät die Elektroden nicht von der Haut lösen.

Elektrodentypen
– Die selbstklebende Elektrode (SKE) ist einfach in der Handhabung. Sie kann
ohne weiteres direkt auf die Haut geklebt werden. Die Haut sollte vor der
Elektrodenanlage gereinigt sein. Bei nachlassender Klebefähigkeit die Klebe-
fläche mit ein paar Tropfen Wasser anfeuchten.
– Die Silikongummielektrode bietet eine gute Leitfähigkeit und eine lange
Haltbarkeit von bis zu 2 Jahren. Sie muss mit Elektrodengel vollständig be-
strichen und mit Heftpflaster befestigt werden.
– Die Aluminiumelektroden können in ihrer Länge zugeschnitten werden. Mit
Elektrodengel versehen werden sie ohne Pflaster auf die Haut aufgebracht.
Der Kontakt wird über Krokoklemmen hergestellt.
– Socken- oder Handschuhelektroden eignen sich z. B. zur Therapie der Poly-
neuropathie oder der rheumatoiden Arthritis. Vor dem Anziehen der Elektro-
den zur besseren Leitfähigkeit die Haut leicht befeuchten. Alternativ eignet
sich auch das
TENS zur Schmerztherapie 327

– „Wasserbad-TENS“ zur Behandlung von Schmerzen im Bereich der Unter-


schenkel und Unterarme. Dabei wird in 2 Plastikeimer, die mit Leitungswas-
ser gefüllt werden, jeweils eine Elektrode (Silikongummielektrode) hineinge-
hängt und dann die Extremität eingebracht. Das Wasser dient als vergrößerte
Elektrode. Zusätze wie Salz oder Medikamente sind nicht nötig.
– Aufgrund der austrocknenden Wirkung des Wassers muss besonders bei der
Polyneuropathie auf Verträglichkeit und sorgfältige Hautpflege geachtet wer-
den.
– Der Pierenblock eignet sich besonders für die Stellatum- und andere Blocka-
den nach Jenkner.

Elektrodengröße
Die Größe der Elektrode soll der des Schmerzareals entsprechen. Zu kleine oder
zu große Elektroden beeinträchtigen den Behandlungserfolg.
Tiefere Schmerzlokalisationen werden mit kleineren Elektroden behandelt, da
aufgrund der höheren Stromdichte der Strom tiefer eindringt. Bei der niederfre-
quenten Stimulation wird durch eine kleinere Elektrode die motorische Stimula-
tion (Muskelzuckung) erleichtert.

Anlage der Elektroden


Bei der Elektrodenanlage gilt folgendes Stufenschema:
– lokale Anlage im Schmerzareal
– Anlage über den peripheren Nerven
– paravertebrale Anlage über der Spinalwurzel
Die lokale Anlage, wie auch auf den Fotos dargestellt, ist in der Regel am ef-
fektivsten. Eine Elektrode wird auf den Hauptschmerzpunkt platziert, die andere
an den Extremitäten gegenüberliegend bzw. am Rumpf kontralateral und bei
ausstrahlenden Schmerzen an den Endpunkt der Schmerzausstrahlung. Bei
segmentalen Schmerzen werden sowohl bei der hoch- wie bei der nieder-
frequenten Stimulation die Elektroden möglichst segmental angeordnet.
Neben der direkten Behandlung des Schmerzortes besteht auch die Möglich-
keit, die Elektroden unmittelbar ober- und unterhalb des Schmerzpunktes zu kle-
ben und so den Bereich mit Strom zu durchfluten. Diese Anlage ist etwas schonen-
der und hilft, Erstverschlechterungen bei Beginn der Behandlung zu vermeiden.
Falls eine lokale Anlage nicht möglich ist, wird der periphere Nerv stimuliert.
Zur Anlage bieten sich dazu besonders die Stellen an, an denen der Nerv relativ
oberflächlich verläuft. Bei idealer Anlage breitet sich dann das Stromgefühl im
Schmerzareal aus.
Bei der paravertebralen Stimulation werden die Elektroden neben den Dorn-
fortsätzen angebracht und so die Spinalwurzeln erreicht. Es kann beiderseits
oder auch nur auf der betroffenen Seite stimuliert werden, wobei dann eine
Elektrode peripher verbleibt.
Eine Anlage auf hypästhetischen Arealen sollte möglichst vermieden werden.
328 B. Disselhoff

Kontralaterale Stimulation
Falls aus bestimmten Gründen die Stimulation auf der betroffenen Körperseite
nicht möglich ist, kommt auch eine Behandlung der Gegenseite in Betracht
(kontralaterale Stimulation). Die Gegenseite wird bei der Elektrodenanlage ge-
nauso wie die Erkrankte behandelt. Auch wenn es zunächst unlogisch erscheint,
so liegt der Behandlungserfolg nicht wesentlich unter dem der ipsilateralen Be-
handlung.
Die kontralaterale Stimulation kann bei Neuralgien nötig sein, bei denen im
betroffenen Areal die Stimulation nicht toleriert wird, bei amputierten Patienten
oder auch bei Hauterkrankungen. Sie hilft auch, bei sensibel reagierenden Pati-
enten eine Erstverschlimmerung zu vermeiden. Im Laufe der Behandlung kann
dann ggf. auf die eigentlich betroffene Seite gewechselt werden.

Elektrodenpolung
Man unterscheidet zwischen der positiven Elektrode (Anode, rotes bzw. weißes
Kabel) und der negativen Elektrode (Kathode, blaues bzw. schwarzes Kabel). Am
Gerät ist häufig am Eingang des Kabels die Polung noch einmal gekennzeichnet.
Die positive Elektrode wirkt etwas stärker schmerzlindernd. Sie wird deshalb
unmittelbar auf das schmerzende Areal angebracht, während die negative Elekt-
rode in den Bereich geklebt wird, in den der Schmerz ausstrahlt bzw. das dem
Schmerzareal benachbart ist.

Anwendungszeiten
Sitzungsdauer
Die Dauer einer Behandlung beträgt 30 Minuten. Bei Bedarf, wie z. B. bei neuro-
pathischen Schmerzen, kann auch deutlich länger behandelt werden. Eine Dau-
erstimulation ist aber nicht zu empfehlen, da Gewöhnungseffekte die Wirkung
mindern können.

Behandlungshäufigkeit
Anfänglich wird täglich ein- bis mehrmals behandelt. Bei einer Besserung der
Beschwerden kann der Abstand zwischen den Sitzungen ausgedehnt und in
größeren Intervallen behandelt werden. Die Länge der Behandlung ist nicht limi-
tiert und kann sich bei Bedarf lebenslang erstrecken.

Registrierung der Anwendungszeit


Bei einer Anzahl von Geräten lässt sich durch einen Betriebsstundenzähler und
durch die Registrierung der Einschaltzeiten die häusliche Anwendung beurteilen.
Diese sehr sinnvolle Maßnahme ermuntert den Patienten zur regelmäßigen Be-
handlung und steigert die Therapieaussichten erheblich.
TENS zur Schmerztherapie 329

Die ersten TENS-Sitzungen


Bei der ersten TENS-Sitzung ist die hochfrequente Stimulation und eine lokale
Elektrodenanlage der schnellste Weg, um eine Rückmeldung über den Behand-
lungserfolg zu erhalten. Um der nicht seltenen Angst vor dem Strom zu begeg-
nen und dem Patienten Gelegenheit zu geben, sich an das Stimulationsgefühl zu
gewöhnen, sollte die Intensität eher gering gewählt werden.
Nicht immer tritt eine Schmerzlinderung schon in der ersten Sitzung ein.
Trotzdem ist es oft sinnvoll, es noch einige Tage mit den gleichen Stimulationspa-
rametern weiter zu versuchen. Wenn nach 1–2 Wochen täglicher Stimulation
keine Besserung erzielt wurde, ist ein Wechsel zu einem anderen Frequenzbe-
reich bzw. eine Korrektur der Elektrodenanlage empfehlenswert.
Alternativ zur hochfrequenten Stimulation stellt die Han-Stimulation einen
idealen Einstieg dar, da abgesehen von der stärkeren analgetischen Wirkung
auch alle Teil- bzw. Nonresponder gegenüber einzelnen Frequenzen erfasst wer-
den. Das Finden der richtigen Intensität mit der Balance zwischen Muskelzu-
ckung im 2-Hz-Bereich und keiner Muskelaktivität im 100-Hz-Bereich kann et-
was Zeit erfordern.
Die gefundenen Geräteeinstellungen werden notiert (bzw. vom Gerät gespei-
chert) und die Elektrodenanlage auf der Haut aufgezeichnet. Auch wenn der Pa-
tient nun für die weitere Behandlung nach Hause entlassen wird, sind regelmä-
ßige Rücksprachen und Gerätekontrollen wichtig, um auf Probleme reagieren zu
können. Leere Batterien, unzureichend klebende Elektroden u. a. mehr erfordern,
besonders bei älteren Menschen, öfters eine Hilfestellung.

TENS-Sonderformen
Kaada-Stimulation
Eine besondere Form der niederfrequenten Behandlung ist die sogenannte Kaa-
da-Stimulation, bei der die Elektroden unabhängig von den vorliegenden
Schmerzen immer auf die dominante Hand geklebt werden.

Abb. 9. Kaada-Stimulation. Kathode zwischen


dem 1. und 2. Metakarpale, die Anode auf die ulnare
Handkante gegenüber*
330 B. Disselhoff

Stimuliert wird mit 2 Hz unter kräftigen Muskelzuckungen.


Die schmerzlindernde Wirkung der Kaada-Stimulation betrifft den ganzen
Körper. Sie bietet sich dann an, wenn Schmerzen an mehreren Körperstellen
zugleich behandelt werden müssen, wie z. B. bei der Polyarthritis oder wenn eine
Elektrodenanlage im Schmerzareal selbst nicht möglich ist.

Jenkner-Stimulation
Bei der Jenkner-Stimulation werden sensible und sympathische Nerven mittels
monophasischer TENS-Impulse (nur bestimmte TENS Geräte; beim Hersteller
zu erfragen) blockiert. Eine kleine Anode mit hoher Stromdichte wird dabei
möglichst dicht über den zu blockierenden Nerven angelegt und zudem oft noch
manuell in Richtung Nerv oder Ganglion gedrückt. Die Elektrodenanlage richtet
sich nach der Nervenlokalisation, wobei auch spezielle Elektroden wie der Pie-
renblock verwendet werden.
Die groß gehaltene Kathode dient nur zur Schließung des Stromkreises und
wird meist der Anode gegenüber angelegt. Die Frequenz beträgt 30–40 Hz.

Kontraindikationen der TENS

– Träger von Herzschrittmachern oder anderen elektronischen Implantaten


– Metallimplantate bei Verwendung von Impulsen mit Gleichstromanteil
(Elektrolyse-Gefahr). Bei Verwendung der AKS-Schaltung (s. u.) ist diese Ge-
fahr deutlich vermindert.
– Schwangere
– Epileptiker
– Auf Wunden und erkrankten Hautstellen dürfen keine Elektroden angebracht
werden.

Nebenwirkungen

– Schmerzverstärkungen durch zu intensive Stimulation, insbesondere bei neu-


ropathischen Schmerzen. Durch eine geringere Stromstärke, reduzierte Be-
handlungshäufigkeit oder kontralaterale Elektrodenanlage kann diese Ne-
benwirkung vermieden werden.
– Strombedingte Hautirritationen. Diese können durch eine AKS-Schaltung
fast immer vermieden werden. Die AKS (Ausgangskurzschlußschaltung)
sorgt für gleichstromfreie Impulse und ist deshalb besonders hautfreundlich.
– Hautirritationen aufgrund einer Unverträglichkeit des Elektrodengels bzw.
des Elektrodenmaterials.
– Karotissinus- oder Larynxreaktionen bei einer Elektrodenanlage im Halsbe-
reich kann in seltenen Fällen zu Kreislaufreaktionen führen.
TENS zur Schmerztherapie 331

Kombination der TENS mit anderen Therapien

Die TENS wird meist in Kombination mit anderen Therapien eingesetzt. Dies ist
problemlos möglich. Zu beachten ist bei den Analgetika, dass sich der Schmerz-
mittelbedarf reduzieren kann und dann eine Anpassung erfordert.
Dies gilt insbesondere bei einer gleichzeitigen Opioid-Therapie, bei der die
hochfrequente oder Han-Stimulation verwendet werden sollte, um eine Kreuz-
toleranz zwischen der niederfrequenten TENS und den Opiaten zu vermeiden.

Literatur
Weiterführende Literatur
Zur TENS allgemein:
TENS transkutane elektrische Nervenstimulation – eine bewährte Schmerztherapie. AMI,
Gießen
Likar R, Sittl R (2004) Praxis der transdermalen Schmerztherapie, 2. Aufl. Uni-Med Science
Zur Jenkner-Stimulation
Jenkner F (1992) Elektrische Schmerztherapie. AMI, Gießen

Verwendete Literatur
Han J (2003) Acupuncture: neuropeptide release produced by electrical stimulation of different
frequencies. Trends Neurosci 26: 17–22
Johnson MI, Ashton CH, Thompson JW (1991) An in-depth study of long-term users of
transcutaneous elecrical nerve stimulation (TENS). Implications for clinical use of TENS.
Pain 44: 221–229
Revision

Biofeedback in der Pflege

I. PIRKER-BINDER
I. Pir ker-Binder

Durch nichts als die Seele


sind die Sinne zu heilen,
und durch nichts als die Sinne
ist die Seele zu heilen.
Oscar Wilde

Einleitung

Biofeedback ist eine wunderbare Errungenschaft der neuesten Technologie und


ein Medium der Zeit. Es spiegelt innerpsychische Prozesse auf dem Computer-
bildschirm wieder und unterstützt das Erlernen von Selbstregulierungsmecha-
nismen. Es ist ein hervorragendes Werkzeug sich selbst und das Wunderwerk
Organismus wahrzunehmen und verstehen zu lernen. Daraus entstehen das Er-
kennen, was ist, das Verstehen der Reaktionen, was geschieht mit meinem Körper,
mit mir und in mir. Diese Rückmeldung physiologischer Körpersignale (Atem-
frequenz, Herzrate, Pulsamplitude, Muskelspannung, Fingertemperatur, Haut-
leitwert) lässt uns Einblick in biologische Veränderungsprozesse nehmen, schult
die Wahrnehmung, eröffnet ein Verständnis für die Möglichkeiten zur Selbstregu-
lation, öffnet das Tor zu den inneren Ressourcen und den Selbstheilungskräften
(Pirker-Binder 2004).

Stressmanagement und Burnout-Prävention

Lebensenergie ist ein kostbares Gut. Sie steht uns nicht unbegrenzt zur Verfü-
gung, sondern bedarf der konstanten Pflege (Pirker-Binder 2005). Auch die Liebe
zum Beruf kann zum vorzeitigen Burnout führen, deshalb bedeutet Professiona-
lität auch immer Selbstpflege. Tägliche Belastungen, zu starke Identifizierung mit
den beruflichen Aufgaben ohne Abgrenzung und Distanzierung, emotionaler
334 I. Pirker-Binder

Stress und Zeitdruck zerren an unseren Ressourcen. Oft überhören wir den Ruf
des Körpers nach Ruhe, Distanz und Regeneration. Energietanken erfolgt nicht
automatisch, Regeneration will gelernt sein. Stress und Burnout sind kein Thema,
das immer nur die anderen betrifft. Chronische Belastung kommt schleichend
und langsam, führt zum Verschleiß, oft zu Depression; Abschalten fällt dann im-
mer schwerer, der Organismus läuft ständig auf Hochtouren, bis zur totalen Er-
schöpfung.

Abb. 1.
Patientin beim Training

Das muss nicht sein. Der Körper hat große Ressourcen und kann sich nahezu
jeder Belastung anpassen und die nötige Energie liefern. Er zeigt uns ganz deut-
lich, wann er Zeit für eine Regeneration braucht. Deutliche Anzeichen sind be-
reits Gereiztheit, Verspannungen, Schlafprobleme, Müdigkeit, Lustlosigkeit, ge-
reizter Darm und Magen, Kopfschmerzen uvm.
Mithilfe von Biofeedback gelingt es einerseits die eigene Wahrnehmung so zu
schulen, dass keine Energie verloren geht, das heißt, nur so viel Energie einzu-
setzen, wie die Tätigkeit erfordert und andererseits Regeneration zu erlernen. Ein
ruhiger Körper ermöglicht erst, in Distanz zu gehen, Probleme aus der Ferne zu
betrachten, Emotionen in den Griff zu bekommen.
Ressourcenarbeit ist viel mehr als Entspannung, sie führt uns über
; Loslassen: innerer Druck, Hektik, Sorgen, Ängste, Ärger, Alltagsprobleme, …
; Ent–Spannen: Entkrampfen der Muskulatur, der täglichen Spannung …
; zur Regeneration: innere Ruhe und Balance.
Am Computerbildschirm zeigt sich tiefe Regeneration durch einen Gleich-
klang der Atmung und der Herzrate, einem niederen Hautleitwert, hoher Puls-
amplitude, niederer Muskelspannung, steigender Fingertemperatur.
Biofeedback in der Pflege 335

Die einzelnen Lernschritte sind:


; Atemtraining: das Tor zum autonomen Nervensystem
; Herzratenvariabilitätstraining: Gleichklang zwischen Herzrate und Atmung,
steigert die Stresstoleranz des Organismus
; Muskelspannungsreduktion: Wahrnehmen und Vermeidung chronischer An-
spannung
; Handerwärmungstraining: Entspannungstraining
; Regulation des Hautleitwertes: Kontrolle der Aktivierung, mentales Abschal-
ten

Zu Beginn des Biofeedbacktrainings zeigt ein Stress- und Regenerationstest,


wie der Körper auf einen Reiz reagiert, welches System sich schnell und welches
sich langsam erholt und besonderer Aufmerksamkeit bedarf, aber auch wo es ein
Energieeinsparungspotential gibt, wie z. B. eine ständige Erwartungshaltung, was
denn passieren könnte, oder zu langes Nachgrübeln und Sorgen machen.
Das Tor zu unseren inneren Ressourcen ist die Atmung. Einatmen ist Aktivie-
rung, Beschleunigung, Ausatmen hingegen Ruhe, Loslassen. In der täglichen
Hektik verändert sich das Atemmuster, die stabilisierende Bauchatmung geht
verloren, wir neigen zum Hyperventilieren, Luftanhalten. Aus diesem Grund ist
Atemtraining (und damit verbunden auch das Herzratenvariabilitätstraining – je
höher die Herzratenvariabilität, desto stressresistenter der Organismus) – derzeit
eine der effizientesten Methoden den Körper wieder ins Lot zu bringen.

Abb. 2. Atemtraining: beim Einatmen wird der Ballon größer, beim Ausatmen kleiner
336 I. Pirker-Binder

Das Handerwärmungstraining ist eine der ältesten Entspannungsmethoden


und für jeden Menschen leicht erlernbar. Für Kinder gibt es besondere Anima-
tionen, die den Erfolg der Selbstregulation am Computerbildschirm zeigen.
Ist der Kontakt mit den inneren Ressourcen wieder hergestellt, Körper und
Geist in Balance, ist es ein Leichtes durch gezielte Kurzregeneration das tägliche
Energiesackerl hoch zu halten.

Biofeedback in der Operationsvor- und -nachsorge –


der entstresste Patient

Eine akute Verletzung, eine bevorstehende Operation, ein Spitalsaufenthalt


und/oder Schmerzen sind außergewöhnliche Situationen. Sie verursachen Stress
und Angst. Stress hat nicht nur Auswirkungen auf die aktuelle Situation, sondern
auf das gesamte Immunsystem. Er verzögert die Wundheilung, kann zu Kompli-
kationen im Heilprozess führen und erhöht die Notwendigkeit von Medikamen-
ten. Angst blockiert, verspannt, verringert die Schmerztoleranz und löst eine
Bereitstellungsreaktion an unnötiger Energie aus. Gedanken und Emotionen be-
einflussen psychophysiologische Prozesse wie Blutfluss, Muskelspannung, das
Freisetzen von Hormonen, Peptiden und Entzündungsreaktionen. Sie verändern
das Immunsystem, das in der Entwicklung von Schmerz eine bedeutende Rolle
übernimmt. Die vom Kortex und Thalamus ausgehenden Informationen verän-
dern die Schmerzwahrnehmung. Abgesehen von dem realen physischen Erle-
ben, dem Schmerzreiz, hängt das tatsächliche Intensitätsempfinden in einem
großen Ausmaß von Gedanken, Glaubenssätzen und Emotionen ab. Biofeedback
bietet, ergänzend zur medikamentösen Behandlung des Schmerzes, Methoden
zum Erlernen von Selbstregulationstechniken und Selbsthypnose an (Pirker-
Binder 2006).
Wer in Panik ist, hat eine negative Sichtweise, sieht keine Lösungsmöglich-
keiten, fürchtet sich vor der Zukunft und verharrt wie in einer Angststarre.
Die Angst vor einer Operation ist oft so groß, dass die Patienten an ein Da-
nach gar nicht denken. Um die Selbstheilungsmechanismen des Körpers anzu-
regen, bedarf es aber eines dynamischen Prozesses, der auch die Wundheilung
mit einschließt. Präoperativ mit Patienten arbeiten, könnte bedeuten, sie darauf
vorzubereiten, sich von dem kranken Organ zu verabschieden und den Körper
auf die Operation vorzubereiten.
Postoperativ könnte der Patient aktiv an seiner Gesundung teilnehmen. Da-
mit der Körper sich mit seiner Heilung beschäftigen kann, braucht er einen Zu-
stand der tiefen Entspannung, der Ruhe. Biofeedback unterstützt die Patienten
beim Erlernen von Selbstregulation und Selbsthypnose. Darin integriert können
Meditation und Visualisierungsübungen die Selbstheilungskräfte mobilisieren
und das Immunsystem unterstützen.
Die Arbeit mit Selbsthypnose und inneren Vorstellungsbildern hat eine unge-
heure Kraft und ist in ihren kreativen Möglichkeiten nicht eingeschränkt. Sie
wirkt dem Gefühl des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit entgegen.
Biofeedback in der Pflege 337

Viele Patienten befinden sich in einer ängstlichen Erwartungshaltung, immer


auf der Hut, ob sich die Krankheit und/oder der Schmerz verschlechtert, bessert
oder der momentane Iststatus erhalten werden kann. Es scheint so, als ob sie in
der Zeit erstarrt sind (Pirker-Binder 2008). Wenn wir im Zustand der absoluten
inneren Ruhe mit Visualisierungen arbeiten, um mit unserem Inneren in Kontakt
zu kommen, beginnt ein neuer Prozess des Heilens. Lerner (2000) beschreibt
Heilen als inneren Prozess, wodurch der Mensch wieder heil oder ganz wird. Er
kann sich in allen Ebenen vollziehen, der körperlichen, der emotionalen, der psy-
chischen, der geistigen und der spirituellen. Was wir unseren Patienten vermit-
teln sollen, ist ein unerschütterlicher Glaube an und Vertrauen in sich selbst und
die eigenen Möglichkeiten. In diesem Sinne ist Heilung ein Prozess der Selbst-
entdeckung, der zur Selbstentwicklung führen kann.

Biofeedback für das kranke Kind

Selbstregulationstechniken geben den Kindern eine aktive Rolle, unterstützen


Selbstvertrauen und Selbstwert. Sie können damit dem Gefühl der Hilflosigkeit,
des Ausgeliefertseins etwas entgegensetzen, sind eingebunden in ihre Therapie
und Heilung (Pirker-Binder 2006).
Viele Kinder entwickeln durch eine frühe Schmerzerfahrung oder durch eine
chronische Krankheit eine antizipatorische Angst vor ärztlichen Untersuchungen
und Interventionen. Im Schmerzmanagement-Training mit Biofeedback lernen
sie, wie sie mit dieser speziellen Angst fertig werden können (z. B. Nadelphobie).
Geübt werden kann auch zuhause mit den Eltern im Trockentraining mit der
Lieblingspuppe.
Einmal erlernte Techniken und Strategien sind Fertigkeiten, die sich als indivi-
duelle Fähigkeiten etablieren. Sie bleiben ein Leben lang erhalten und können
den Menschen in vielerlei Hinsicht von Nutzen sein. Kinder erlernen Selbstregu-
lations-Techniken nicht nur viel schneller als Erwachsene, sie nehmen sie auch
schneller in ihr Repertoire der Fähigkeiten auf und setzen sie bei Bedarf ein. In ei-
ner Langzeitstudie (durchgeführt an der Universität Vancouver) wurden Kinder 10
Jahre nach ihren Krebsleiden befragt, was ihnen während ihres Spitalsaufenthal-
tes am meisten geholfen hat, mit den Schmerzen und der Angst fertig zu werden.
Übereinstimmend wurden dabei Selbstregulationstechniken, die tiefe Zwerchfell-
atmung und spezielle Entspannungstechniken genannt. Leora Kuttler, Professorin
an der Universität von Vancouver, bezeichnet diese Techniken auch als entschei-
dende Hilfe für Kinder und Jugendliche, die am Ende ihres Lebens ankommen.
Sie war es auch, die mich vor Jahren durch ihren hinreißenden Vortrag über ihre
Arbeit mit krebskranken Kindern überzeugt hat, dass hier noch viel getan werden
kann, um das Leid der Kinder zu lindern – und es sind nicht immer die großen
Dinge im Leben, die helfen können – eine kleine Geschichte tut’s auch!
Nicht selten tragen die kleinen Patienten auch ein Schuld- oder Schamgefühl
mit sich. Es beunruhigt sie, dass sie den Eltern Sorgen machen, dass etwas mit
ihnen nicht in Ordnung ist. Ein Hauptaugenmerk in der Arbeit mit Kindern liegt
338 I. Pirker-Binder

darauf, die Krankheit als etwas Separates darzustellen; als etwas, das gemanagt
werden kann, an dem sie nicht Schuld sind.
Das Kind hat eine Krankheit, aber das Kind ist nicht die Krankheit!

Geschichten unterstützen Biofeedback


Kinder sind perfekte Biofeedbacklerner. Es ist nicht nur das Medium ihrer Zeit,
sie sind auch höchst suggestibel. Ihr Organismus besitzt einen erheblichen Vorrat
an Ressourcen und Selbstheilungsmechanismen, die durch Visualisierungen,
Imaginationen, Entspannungs- und Fantasiegeschichten gestärkt werden. Die
verwendeten Geschichten bauen auf dem Biofeedbacktraining auf. Ihre Inhalte
verstärken die Selbstheilungskräfte.
Besondere Themen sind:
– Schmerzgeschichten
– Entspannungsgeschichten
– Fantasiereisen mit dem inneren guten Freund
– Visualisierung und Handlungsstrategien bei bevorstehenden chirurgischen
Interventionen und Nachbehandlungen
Was macht die Geschichten so besonders?
– Die Geschichten bauen auf dem Biofeedbacktraining auf und helfen die Inhal-
te in die kindliche Vorstellungswelt zu integrieren. Die Krankheit, das Leid, der
Schmerz bekommt einen Namen, einen Körper, ein Gesicht und wird je nach-
dem als Freund oder Feind dargestellt. Er repräsentiert eine Figur, mit der man
es aufnehmen kann, die man bekämpfen oder lieben kann. Wesentlich ist, dass
sich die Kinder mit diesem Teil ihres Körpers auseinandersetzen, eine Bezie-
hung aufbauen können. „Mache deinen Feind zum Freund!“, ist das Motto. Bei
Kindern mit Migräne ist es das Kopfschmerzmonster „Bad Fred“, nervöse Kin-
der haben meistens einen „Nervösi“, usw. Es gibt auch den kleinen Schreiteufel,
den Neinsager, das Schmerzmonster, uvm. Kinder wissen gerne, mit wem sie es
zu tun haben. Das Kind sieht sich selbst auf diese Weise als gesund. Die
Krankheit wird dann zu einem Lebensteil, mit dem sie umgehen lernen, für
den sie Hilfestrategien entwickeln können. Begleitet werden die Kinder immer
von ihren inneren FreundInnen oder Helfern (Pirker-Binder 2005, 2006).
– Jede Geschichte enthält eine therapeutische Vorgabe, den Rest darf das Kind
mitgestalten, seine eigene Geschichte erzählen. Die Inhalte werden so besser
verinnerlicht. Sie können auch kreativ dargestellt werden, gezeichnet, model-
liert, etc. Die Kinder steigen aktiv in einen Prozess ein, lernen sich von der
Krankheit, vom Schmerz zu distanzieren und Hilfen zur Bewältigung anzu-
nehmen.
– Alle Geschichten bauen auf einer Atemübung auf und integrieren ein Hand-
erwärmungstraining. Die Atembalance ist Hauptträger der Entspannung, sie
reguliert das sympathische und parasympathische Nervensystem. Das Hand-
erwärmungstraining unterstützt die allgemeine Entspannungsfähigkeit des
Körpers, speziell des Oberkörpers.
Biofeedback in der Pflege 339

Biofeedback in der Geburtsvorbereitung


Die meisten werdenden Mütter haben Sorgen und Ängste in Bezug auf die
Schwangerschaft, die Geburt und das Muttersein. Biofeedback hilft in der Vorbe-
reitung auf die Geburt, aber auch während der Wehen. Dabei ist die richtige
Zwerchfellatmung ein wesentlicher Bestandteil der Übungen, da sie die Mutter
geistig und körperlich entspannt und beim Fokussieren während des Geburts-
prozesses hilft. Ein Muskelentspannungstraining (M. gastrocnemius) schult die
Entspannung des Unterkörpers und während der Geburt, die Passage für das
Baby zu öffnen. Aufbauend auf die Entspannungsübungen mit Biofeedback füh-
ren Selbsthypnose und spezielle Visualisierungsübungen die werdende Mutter
aus dem Gefühl des Ausgeliefertseins hin zu einer aktiven Rolle.

Biofeedback in der Onkologie


Um die Selbstheilungskräfte aktivieren zu können, braucht der Körper verschiede-
ne Voraussetzungen. Zuerst einen Zustand der tiefen Regeneration. Gerade die hat
er aber in den meisten Fällen verlernt, weil ja gerade die Diagnose Krebs Stress im
Körper und der Seele verursacht und sich belastend auf das gesamte familiäre
Umfeld auswirkt. Wie wir wissen, verändert chronische Belastung den gesamten
Prozessablauf im Körper. Es ist daher notwendig, Ruhe im Körper zu schulen,
das heißt, das parasympathische System zu unterstützen, bzw. wieder zu aktivie-
ren. Atem-, Temperatur- und HRV-Training (Herzratenvariabilitäts-Training) eignen
sich dazu als Einstieg sehr gut.
EMG-Biofeedback (Muskelentspannung) hat hier eine große Bedeutung, wenn
Schmerzen vorhanden sind und/oder Angst. Angst kann das Wiederaufflammen
von Krebs begünstigen. Im EMG-Training lernt der Patient keine unnötige
Spannung (Dysponesis) zu halten, sondern loszulassen.
Im Hautleitwerttraining lernt der Patient auch mentales Loslassen. Allerdings
gehört zuerst das Aufarbeiten und Loslassen von Emotionen dazu. Jede Diagno-
se „Krebs“ ist ein Trauma, das schwere seelische Belastungen, vor allem Angst
vor Schmerzen, Hilflosigkeit, Leid und Tod mitbringt (Pirker-Binder 2008).
Ein Patient, der seine Krebskrankheit überwunden hat, fasst seine Erfahrun-
gen wie folgt zusammen: „Ich habe eine Menge gelernt über meine Verantwortung für
die Erkrankung und über meine Verantwortung für die Heilung, und ich habe erfahren,
dass es bestimmte Techniken gibt, um die Kräfte, die jeder von uns in sich hat, zu entfal-
ten“ (Simonton 2005).

Perspektiven und Aussichten


In vielen Spitäler gibt es bereits Biofeedbackgeräte. Die neueste Generation ist
sogar wireless und sehr klein, lässt sich leicht in Krankenzimmer mitnehmen.
Die Einsatzgebiete im Bereich der Pflege sind vielfältig und reichen vom Stress-
340 I. Pirker-Binder

management und Burnout-Prävention, Schmerzmanagement, Operationsvor-


und -nachsorge, bis zur Geburtsvorbereitung.
Biofeedbacktraining ist sehr wirkungsvoll und ich würde mir wünschen, dass
möglichst viele Personen in heilenden oder helfenden Berufen diese Methode
kennenlernen, sowohl für die eigene Gesundheit als auch als Hilfe für ihre gro-
ßen und kleinen Patienten.

„Körper und Geist sind eine Einheit, jede bewusst oder unbewusst erzeugte Ver-
änderung des geistig-emotionalen Zustandes erzeugt eine Veränderung des phy-
siologischen Zustandes und umgekehrt. … Die Biofeedbackforschung erbringt
die ersten medizinisch nachprüfbaren Hinweise darauf, dass geistige Kräfte so-
wohl Krankheiten zu heilen als auch hervorzurufen vermögen.
(Simonton 2005)

Literatur
Lerner M (2000) Krebs – Wege zur Heilung, alle wichtigen Therapien von der Naturheilkunde
bis zur Schulmedizin. Piper, München, S 44
Pirker-Binder I (2004) Biofeedback: Auf dem Weg zu den inneren Ressourcen. Promed Kom-
plementär 9: 14–20
Pirker-Binder I (2005) Schmerzmanagement für Kinder – mit Geschichten helfen. Procare 9:
8–12
Pirker-Binder I (2006) Schmerzmanagement; Selbstregulationstechniken und Biofeedback
Pädiatrie Pädologie 3: 20–22
Pirker-Binder I (2006) Biofeedback in der Praxis. Band I Kinder. Springer, Wien New York, S 31 ff
Pirker-Binder I (2008) Biofeedback in der Praxis. Band II Erwachsene. Springer, Wien New York,
S 115 ff
Simonton OC (2005) Wieder gesund werden; eine Anleitung zur Aktivierung der Selbsthei-
lungskräfte für Krebspatienten und ihre Angehörigen, 4. Aufl. Rowohlt, Hamburg, S 45
Revision

Neue Aspekte pflegerischer Maßnahmen


in der Radioonkologie

K. BRINDA-RAITMAYR und G. HOHENBERG


Neue Aspekte pflegerischer Maßnahmen in der Radioonkologie
K. Br inda-Raitmayr und G. Hohenberg

Die Radioonkologie nimmt heute sowohl in der kurativen als auch in der pallia-
tiven Behandlung onkologischer PatientInnen einen wichtigen, interdisziplinären
Stellenwert ein. Moderne Therapie- und vor allem Fraktionierungskonzepte ha-
ben zu einer wesentlichen Verbesserung der Heilungschancen beigetragen. Den-
noch bestimmen in größerem Ausmaß subjektiv empfundene akute und späte
Nebenwirkungen, besonders der Haut und Schleimhäute, die Akzeptanz der
therapeutischen Maßnahmen. Dank der Weiterentwicklung therapiebegleitender,
pflegerischer Maßnahmen ist heute eine Linderung – besonders der akuten Be-
schwerdesymptomatik –, und eine auch weitgehende Verringerung des Ausprä-
gungsgrades später Reaktionen, problemlos möglich, wobei hierfür dem Wandel
der Zeit entsprechend verschiedene Konzepte zur Verfügung stehen. Für den
modernen Radiotherapeuten und sein multiprofessionelles Team gilt dennoch,
dass, auch wenn eine Therapie sorgfältig geplant ist, hochwirksame Strahlen zu
unerwünschten Begleiterschienungen führen. Diese sind verglichen mit den Ne-
benwirkungen, mit denen man früher rechnen musste, heutzutage schon sehr
gering. Noch in den 70er Jahren gab es bei manchen PatientInnen zum Teil er-
hebliche Spätfolgen, die damals einerseits durch die verwendete, energiereiche
Röntgenstrahlung, andererseits auch durch großvolumige Strahlenfelder verur-
sacht wurden. Heute können Strahlenqualität, Bestrahlungsfelder und somit
auch die Nebenwirkung weitgehend gesteuert werden; dennoch ist eine intensi-
ve, pflegerische Mitbetreuung der PatientInnen in der modernen Radioonkologie
unumgänglich.
Im Wesentlichen unterscheiden wir drei große Bereiche der Nebenwirkun-
gen: Solche, die sich vorwiegend auf die Haut beziehen, Nebenwirkungen in
unmittelbarer Umgebung des Tumorgebietes (Blase, Rektum, Lunge) und Ne-
benwirkungen der Schleimhäute. Und wir unterscheiden akute und chroni-
sche Nebenwirkungen.
342 K. Brinda-Raitmayr und G. Hohenberg

Was passiert mit der Haut während der Bestrahlung?

Die tiefen, für den Aufbau der Haut verantwortlichen Zellschichten werden bei
jeder Bestrahlung etwas beschädigt. Zur Ausheilung dieser kleinen Strahlen-
schäden benötigen die Zellen normalerweise nur wenige Stunden. Unter radio-
therapeutischer Behandlung erfolgt diese Regeneration nicht mehr vollständig.
Der Säuerschutzmantel der Haut wird schwächer, die Verhornung ist nicht mehr
stabil, die Haut wird trocken und schuppig und in weiterer Folge auch dünner
und anfälliger für mechanische Reaktionen.
Wir finden solche Reaktionen daher bei der Behandlung von:
– Mammakarzinomen
– HNO-Tumoren
– Tumoren der Haut und der Extremitäten
– Hirntumoren
Akute Hautreaktionen infolge der Strahlentherapie machen sich zumeist
2–3 Wochen nach Beginn der Behandlung in Form von Rötung oder Schwellung,
Schuppung, aber auch bräunlicher Hyperpigmentierung bemerkbar. Die Haut
wird gegenüber mechanischen Reizen (Tragen von Büstenhaltern, beengender
Kleidung) deutlich empfindlicher als die nichtbestrahlte Haut. In weiterer Folge
nimmt die Hautrötung zu. Diese Hautreaktion ist mit den Symptomen eines
Sonnenbrands vergleichbar und geht genauso wie dieser gegen Ende der Strah-
lentherapie in eine Braunverfärbung (Hyperpigmentierung) über. Durch die
Konsistenzveränderung der Hautoberflächenschichten wird die Haut auch rot, es
kann zu roten Flecken, Jucken, Nässen, aber auch Schälen der Haut kommen.
Wirken zusätzlich noch mechanische Reize ein, können sich auch die oberfläch-
lichsten Hautschichten schälen, blasenförmig aufwerfen und Defektbildungen im
Sinne von Epitheliolysen bilden. De facto ist es aber so, dass die individuelle
Hautreaktion von der genetischen Ausstattung abhängig ist und sich in den
meisten Fällen nicht vorhersagen lässt. Prinzipiell sind Personen, die einem Hell-
typus angehören, häufiger und stärker betroffen. Haarausfall kommt nur in di-
rekt bestrahlten Bereichen des Körpers vor (Bestrahlung im Kopfbereich, Verlust
der Schambehaarung bei Bestrahlung im Bereich des kleinen Beckens, Verlust der
Schambehaarung axillär bei Frauen, die in dieser Region bei Mammakarzinom
mitbestrahlt werden). Die Haarzellen an den Haarwurzeln, aus denen die Haare
heranwachsen, teilen sich oft und werden durch direkte Bestrahlung stark beein-
trächtigt. Die Folge ist ein teilweiser oder vollständiger, meist aber nur vorüber-
gehender Haarausfall. Die Kenntnis dieser biologischen Vorgänge erleichtert die
Akzeptanz der PatientInnen .
Eine sehr häufig bei radioonkologisch behandelten PatientInnen gestellte
Frage ist die nach der Hautreinigung und Pflege während der Strahlentherapie.
Die Körperpflege nicht bestrahlter Hautareale kann wie gewohnt erfolgen. Auch
die Haut im Bereich des Bestrahlungsbereiches darf im Allgemeinen – entgegen
dem veralteten Waschverbot – gewaschen werden. Experten empfehlen dabei,
Neue Aspekte pflegerischer Maßnahmen in der Radioonkologie 343

die bestrahlte Haut täglich kurz und schonend mit klarem, lauwarmem Wasser
abzuduschen oder abzuspülen. In einigen Zentren ist auch die gelegentliche
Anwendung von Haut- oder pH-neutralen Waschsubstanzen zur gründlichen
Reinigung erlaubt und schadet bei häufigem Gebrauch sicher auch nicht. Vorsicht
ist auf alle Fälle bei Substanzen geboten, die Hautveränderungen in Kombina-
tion mit Strahlentherapie verstärken können (Antikörpertherapie, z. B. Hercep-
tin). Wie auch immer, nach dem Waschen sollte die Haut entweder an der Luft
getrocknet werden oder mit einem weichen Tuch vorsichtig trocken getupft wer-
den. Auf alle Fälle ist es zu unterlassen, die Haut mit einem warmen Fön zu be-
arbeiten. Neben Seifenverbot ist auch äußerste Vorsicht bei der Benützung von
Cremen, Ölen oder Salben sowie rückfettenden Anteilen in cremigen Duschgels
gegeben. Fett verzögert den Heilungsverlauf und erschwert die Regeneration, da
es den betroffenen Hautrealen keine Atmungsmöglichkeit lässt. Zudem verstop-
fen diese Substanzen die Poren der Haut, sodass die durch die Strahlentherapie
entstandene Wärme nicht aus dem Körper abgeleitet werden kann. Die früher
ausschließlich zur Anwendung zugelassenen Puder können zudem zu Verkle-
bungen und Infektionen führen, sodass sich das Trockenpflegeprogramm mittels
Puder hinsichtlich der Milderung der Hautreaktionen aus vielen Erfahrungen
und in einigen Pflegestudien nicht überzeugend dargestellt hat.
Wichtig für PatientInnen ist auch die richtige Kleidung zu tragen. Mit lockerer,
nicht scheuernder Kleidung aus weicher Baumwolle, Leinen oder Seide können
mechanische Reizungen der Haut vermieden werden. Der Feuchtigkeitsaus-
tausch und die Belüftung der Haut sollten sichergestellt und Reibestellen weit-
gehend vermieden werden.

Wie sieht es nun mit der akuten Reaktion in Bezug auf


die Schleimhäute aus?

Schleimhäute reagieren speziell immer dann, wenn sie auch direkt im Bestrah-
lungsfeld liegen. Das gilt vor allem für PatientInnen, deren
– HNO-Bereich,
– Gastrointestinaltrakt (Speiseröhre, Magen, Rektum)
– Lunge und Pleura
– Gynäkologische Tumore
bestrahlt werden. Schleimhäute haben – ähnlich wie die Haut – einen sehr ho-
hen turn over und können daher auch sehr rasch und heftig während einer
Strahlentherapie, speziell in Kombination mit Chemotherapie oder Antikörper-
therapie, reagieren. Bei diesen PatientInnen sind begleitende, pflegerische Maß-
nahmen auch im Sinne einer Diätberatung, eines individuell abgestimmten
Mund- und Spülprogramms sowie Anfertigen von Plexiglasschienen zur Verhin-
derungen von Sekundärelektronen bei zahntragenden Kieferbereichen ange-
zeigt. Anders als auf der Haut dauert die Regeneration der betroffenen Schleim-
hautareale im Wesentlichen länger. Speziell bei HNO-PatientInnen kommt es
344 K. Brinda-Raitmayr und G. Hohenberg

auch zu einer deutlichen Verminderung der Speichelproduktion. Hier ist eine in-
tensive Beratung der PatientInnen unumgänglich. Durch die Verminderung des
Speichels und die pathologische Zusammensetzung kommt es zu einer radio-
genbedingte Karies bei immerhin 60 % aller PatientInnen nach kombinierter
Radio-/Chemotherapie im HNO-Bereich.
Patientinnen, die im gynäkologischen Bereich bestrahlt werden, können durch
die Kombination einer Teletherapie mit intrakavitärer Therapie auch Schleim-
hautreaktionen entwickeln. Hier ist vor allem ein Verhindern der Verlötung des
Vaginalbereiches sowohl durch mechanische als auch pflegerische Maßnahmen
anzustreben. Hier empfehlen sich kühle Sitzbäder, Vaginalspülungen und das
Vermeiden von Kunststoffvorlagen. Auch die Pflege von Körperfalten ist mit gro-
ßer Sorgfalt durchzuführen, den gerade hier können neben Hautreaktionen auch
Pilzinfektionen entstehen. Bei PatientInnen mit starker Sekretion aus der Analre-
gion sind neben Sitzbädern und Spülungen auch das Verwenden von Abdeck-
cremen zum Schutz der umgebenden Haut wichtig.

Was passiert mit dem Gewebe in unmittelbarer Umgebung


des Tumors in der Tiefe?
Neben Schleimhautreaktionen können gesunde Organe oder Gewebe, die in
unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Tumor liegen, mitreagieren. Die Kenntnis
der Toleranzdosen spielt hier eine wichtige Rolle. Zu beachten ist dies beispiels-
weise bei
– Prostatakarzinomen (liegt zwischen Blase und Enddarm)
– Gynäkologische Tumoren
– Mediatinaltumoren (liegen zwischen den beiden Lungenflügeln)
– Retroperitonealtumore (liegen zwischen den Nieren)
Hier ist eine regelmäßige Befragung im Bezug auf Nebenwirkungen ent-
scheidend. Reaktionen der Blase manifestieren sich in Dysurie und Schmerzen.
Schluckstörungen sind oft Folge einer Ösophagitis, Schmierblutungen können in
Folge einer Tumornekrose bei gynäkologischen Patientinnen auftreten. Hier be-
darf es aber neben der Pflege auch einer begleitenden Medikation.

Was sollte man während der Strahlentherapie aus


pflegerischer Sicht unterlassen?
Die Anwendung von Sonnenschutzcremes mit hohem Lichtschutzfaktor ist nicht
sinnvoll, da die angewendeten Strahlen von den auf der Haut auftretenden Pig-
menten nicht absorbiert werden. Der Einsatz von Vitamin A als Bräunungsbe-
schleuniger ist nicht nur unnötig, sondern auch gefährlich, da dieses Vitamin die
Strahlenempfindlichkeit bestimmter Körperregionen erhöhen und auch verstär-
ken kann. Grundsätzlich sind alle chemisch-thermischen, mechanischen Rei-
zungen der Haut während einer strahlentherapeutischen Behandlung zu ver-
Neue Aspekte pflegerischer Maßnahmen in der Radioonkologie 345

meiden. Das heißt vor allem bei Frauen, auf synthetische Büstenhalter und Spit-
zenunterwäsche zu verzichten. Als Ersatz dienen im Wesentlichen Baumwoll-
unterwäsche, reifenlose BH’s oder Bustiers. Für Männer kann unter Umständen
die Behandlung im Hals-Kopf-Bereich für einige Zeit ein Nassrasierverbot mit
sich bringen. Weiters ist das Reiben, insbesondere beim Abtrocknen, ebenfalls zu
verhindern. Man sollte auch Kratzen, Bürsten, Frottieren der Haut weitgehend
unterlassen, auch Massagen dürfen in den Bestrahlungsregionen während der
Therapie nicht zur Anwendung kommen. Vorsicht ist auch mit dem Tragen von
Schmuck geboten; einerseits, um mechanische Reizungen zu verhindern, ande-
rerseits, um allergische Reaktionen auszuschließen. Sowohl Sonnen- als auch
Infrarot- oder UV-Bestrahlung der Haut im Bereich der bestrahlten Areale sind
während der Strahlentherapie absolut verboten. Bereits eine kurze, intensive
Sonnenbestrahlung kann wegen einer möglichen, extremen Hautreaktion die
Durchführbarkeit einer länger währenden kombinierten Radio-/Chemotherapie
in Frage stellen. Das gleiche gilt auch für das Solarium. Ebenfalls eingeschränkt
anwendbar sind Wärmeanwendungen wie Saunabesuche, Heißluftmassagen,
warme und heiße, aber auch eiskalte Packungen und Umschläge sowie Fango-
packungen und Moorbäder. Gleiches gilt für heißen Fön und Heizkissen.

Was sollten PatientInnen bezogen auf die Körperpflege


nach Abschluss ihrer Strahlenbehandlung bedenken und
wie kann man chronische Nebenwirkungen vermeiden?
Die akuten Reaktionen auf die Bestrahlung bezogen auf die Haut gehen im All-
gemeinen in wenigen Wochen, in seltenen Fällen 3–4 Monate nach Abschluss
der Therapie wieder vollständig zurück. Die Hautzellen erholen sich, die Haut-
schicht schließt sich wieder. Mit gesteigertem Wohlbefinden und Ernährungszu-
stand bilden sich auch wieder Binde- und Fettgewebsschichten nach. Eine selte-
ne Spätfolge der Strahlentherapie, bezogen auf die Haut, kann eine verstärkte
Pigmenteinlagerung sein, bei oberflächlichen Strahlenqualitäten (Elektronen)
können auch kleine, besenartig erweiterte Blutgefäße (so genannte Teleangiekta-
sien) auftreten. Spätkomplikationen wie Fibrosen (Vernarbungen), speziell nach
Neck-Dissektion, aber auch durch ausgedehnte plastisch-chirurgische Operatio-
nen an der Brust, sind heute eher Raritäten und oft Zufallsbefund bei Patienten,
die Jahre zurück mit einer konventionellen Röntgentherapie bestrahlt wurden.
Sehr wichtig ist auch die Beobachtung von Pigmentveränderungen (seborrhoi-
sche Warzen oder Naevi), die innerhalb des Bestrahlungsfeldes liegen. Diese
können sich während der Strahlentherapie durch die natürliche Pigmentver-
schiebung verändern und bedürfen nach Abschluss der Therapie einer fachärztli-
chen Kontrolle. Durch kombinierte Therapiemodalitäten kommt es zu einer Ver-
minderung und Beeinträchtigung der Geschmackspapillen. Diese Nebenwirkung
legt sich in den meisten Fällen 6–12 Wochen nach Therapieabschluss, wobei die
Geschmackspapillen zunächst überschießend, in weiterer Folge eingeschränkt
und erst in späterer Folge wieder normal ihre Arbeit aufnehmen.
346 K. Brinda-Raitmayr und G. Hohenberg

Eine im Anschluss an die Strahlentherapie zeitversetzte Sanierung der Zähne


ist ebenfalls anzustreben, da die pathologische Speichelqualität die Bildung von
Strahlenkaries fördert. Schleimhäute regenerieren sich nach Abschluss der The-
rapie ebenfalls. Länger anhaltende Stuhlunregelmäßigkeiten und Schleimabgän-
ge können aber noch 6–18 Wochen nach Therapieende vorhanden sein.
Reaktionen an kritischen Organen in der Umgebung des Tumors legen sich
durch eine Begleitmedikation ebenfalls 6–8 Wochen nach Therapieabschluss.
Die Pflege in der Folgezeit orientiert sich am vorliegenden, klinischen Er-
scheinungsbild bei Abschluss der Strahlentherapie. Daher können auch keine
Allgemeinempfehlungen und feste Zeitangaben festgelegt werden. Wie bereits
erläutert darf, sofern keine Kontraindikation von Seiten des Radioonkologen be-
steht, weiterhin täglich kurz geduscht werden. Abreibungen, Massagen sowie die
Durchführung einer Lymphdrainage sind allerdings erst nach Abklingen der aku-
ten Strahlenreaktionen wieder erlaubt und auch sinnvoll. Danach darf auch wie-
der gebadet werden. Bewegungsbäder anlässlich eines geplanten Kuraufenthal-
tes sind möglich. Saunabesuche und lokale Wärmeanwendungen sind in der
Regel erst mehrere Wochen nach Bestrahlungsende wieder ein Thema, Sonnen-
bestrahlung frühestens nach einem halben Jahr. Solarium ist sicher sehr indivi-
duell zu sehen, aufgrund möglicher Zusatzbelastungen bei bereits vorgeschädig-
ter Haut ist ein Besuch im Solarium prinzipiell nach einer radioonkologischen
Therapie zu überdenken. Diätmaßnahmen können langsam abgesetzt werden,
Rasierverbot aufgehoben und Sitzbäder und Salbenanwendungen reduziert wer-
den. Regelmäßige Kontrollen auch in einer Radioonkologischen Nachsorgeam-
bulanz sind unbedingt zu empfehlen.
Zusammenfassend lässt sich jedoch sagen, dass mit den modernen, pflege-
rischen Maßnahmen das Ausmaß der subjektiv beeinträchtigenden Akut- und
Spätnebenwirkungen im Haut- und Schleimhautbereich deutlich reduziert wer-
den kann und damit auch die Akzeptanz der Behandlung durch die PatientInnen
stetig steigt. Eine genaue Aufklärung der PatientInnen, nicht nur in Bezug auf die
geplante Therapie, sondern auch auf die begleitenden, additiven, pflegerischen,
aber auch komplementärmedizinischen Möglichkeiten ist in der heutigen Zeit,
auch aus forensischen Gründen, unumgänglich.

Literatur
Schreck U, Schmidt R, et al (2000) Pflege in der Radioonkologie. Onkologe 6: 516–528
www.curado.de/Brustkebs/Radioonkologie und Pflege
Revision

Craniosacrale Therapie

I. SCHMUCK und E. WOLFSLEHNER


I. Schmuck und E. Wolfslehner

„Ziel des Arztes sollte es sein, Gesundheit zu finden. Ein jeder kann Krankheit
finden.“ Andrew Taylor Still

Einleitung

Von der Aura des Geheimnisvollen umgeben ist die Craniosacrale Therapie. Das
liegt nicht nur an ihrem vermeintlichen heiligen Namen, sondern auch an den
feinen, kaum wahrnehmbaren Manipulationen, die der Therapeut im Bereich von
Schädel, Wirbelsäule und Kreuzbein vornimmt. Daher die Bezeichnung „cranio-
sacral“, abgeleitet von den lateinischen Wörtern für Schädel: Cranium, und
Kreuzbein: Sacrum.
Durch die subtilen Bewegungen an den Knochen wird ein körpereigener
Flüssigkeitsrhythmus – ausgehend vom Gehirnwasser (Liquor) – unterstützt und
belebt.

Der Atem des Lebens

Auf einer tiefen Ebene des physiologischen Funktionierens „atmen“ alle Gewebe
des Körpers in ihrer eigenen Weise und produzieren rhythmische Wellen, welche
die Flüssigkeitssysteme des Körpers durchdringen. Alle lebenden Knochen, Or-
gane, Faszien, Muskeln usw. bestehen aus Wasser, d. h., wir bestehen zu 70 % aus
Wasser.
Der menschliche Organismus ist ein Zusammenspiel rhythmischer Körper-
funktionen unterschiedlichster Art. Der Herzrhythmus zum Beispiel bringt das
Blut in Bewegung, die Tätigkeit der Lungen bewirkt ein regelmäßiges Ein- und
Ausatmen. Das sind zwei leicht wahrnehmbare Rhythmen. Andere Körper-
rhythmen dagegen sind weniger offensichtlich. Die Craniosacral-Therapie be-
schäftigt sich mit dem Rhythmus der Hirnflüssigkeit, die im Schädelinnenraum
und entlang der Wirbelsäule pulsiert. Wenn dieser Rhythmus sich mit Fülle und
348 I. Schmuck und E. Wolfslehner

Ausgeglichenheit ausdrückt, so zeigt sich in natürlicher Weise unsere ursprüngli-


che Gesundheit mit einer Empfindung von Ganzheit, welche automatisch mit
Wohlbefinden einhergeht.

Ursprung der Craniosacralen Therapie

Das Vorhandensein des Craniosacralen Rhythmus wurde vor etwa 100 Jahren
von Dr. William Sutherland, Schüler des Begründers der Ostheopathie Andrew
Taylor Still, entdeckt. Er widerlegte die bis dato verbreitete Ansicht vom festen,
unbeweglichen Schädel des Erwachsenen. Der Schädel besteht aus sieben das
Gehirn umschließende Knochen und vielen großen und kleinen Gesichtskno-
chen, die scharnierartig ineinandergreifen und an den Nahtstellen (Suturen) be-
weglich sind. Anhand von Untersuchungen mit straff um den Schädel gebunde-
nen Eisenbändern gelangte er zur Erkenntnis, dass sich die Schädelknochen
bewegen. Beim Erwachsenen beträgt die Beweglichkeit 0,1–1 Millimeter. Er
spürte, dass sich das Volumen des Schädels in einer regelmäßigen Frequenz ver-
größert und verkleinert. Gleichzeitig beobachtete er, dass der Druck auf die ver-
schiedenen Schädelknochen bestimmte Beschwerden auslösen kann, von Kopf-
schmerz, Migräne, Tinnitus und Sehstörungen bis hin zu Depressionen. Wird der
Bewegungsrhythmus und die damit verbundene Frequenz gestört, wirkt sich das
negativ auf das körperliche und psychische Wohlbefinden aus.
Ebenso führt eine Blockierung an den Suturen der Schädelknochen zu Ver-
drehungen in der Wirbelsäule und am Kreuzbein. Die Folgen davon sind Unbe-
weglichkeit und Verzerrung im Muskel-Skelett-System, die Rhythmen der Flüs-
sigkeiten sind eingeschränkt.

„Bewegung ist Leben – alles was lebt, fließt“


Andrew Taylor Still

Bewegung ist das bedeutendste Kennzeichen und Voraussetzung für das Leben.
Sind Bewegung und Beweglichkeit der Gewebe vermindert oder eingeschränkt,
sodass Flüssigkeiten (Blut, Lymphe, Liquor etc.) nicht mehr ungehindert fließen
können, entsteht eine mehr oder minder ausgeprägte Stauung. Die nervale Ver-
sorgung der Gewebe kann dadurch beeinträchtigt werden. Die Folge ist eine Ein-
schränkung der Nährstoff- und Sauerstoffversorgung sowie ein verminderter
Abtransport von Stoffwechselprodukten (Metaboliten) im Gewebe. Das Gewebe
verliert seine Vitalität – der Körper ist bereit für eine Erkrankung, das Leit-
symptom ist der Schmerz.
Hier setzt die Craniosacrale Therapie mit feinsten manuellen Manipulationen
ein. Diese subtilen Berührungen mögen im Gegensatz zum Bild des harten
Schädels stehen, aber sie stimmen durchaus mit der geringen Beweglichkeit der
Knochen und der Feinheit des Hirnflüssigkeitspulses überein.
Ziel der Therapie ist der gesunde, regelmäßige Craniosacral-Rhythmus. So
können die Heilungsprozesse körpereigener Selbstregulierungsmechanismen,
Craniosacrale Therapie 349

wie etwa das Immun- und Hormonsystem oder die Stressverarbeitung in Gang
kommen.
Der Craniosacral-Rhythmus ist der „Heiler“ selbst. Durch das Lösen der Blo-
ckierungen leistet der Therapeut nur beistehende Vorarbeit. Er bringt damit den
ganzen Körper in Schwingung, Vibration und Resonanz mit diesem Rhythmus
und überlässt den Patienten in den darauf folgenden Tagen der „Selbstheilung“,
wodurch traumatische Verletzungen aus dem Zellgedächtnis entlassen werden
können.

Craniosacrale Therapie und Schmerz

Der Schmerz an sich ist von wichtiger Bedeutung und hat eine lebenserhaltende
Aufgabe. Schmerzen machen auf äußere Reize und Erkrankungen im Inneren
des Körpers aufmerksam. Er signalisiert eine Gewebeschädigung und unter-
streicht die Notwendigkeit einer Ruhigstellung, damit sich das Gewebe regene-
rieren kann.
Chronischer Schmerz hat scheinbar keine biologische Funktion, er ist eine
Bürde, eine Pein, eine Last, eine Qual …
Chronische Schmerzpatienten wollen „gehört“ werden; die innere und äuße-
re Beweglichkeit soll wieder hergestellt werden.
Schmerz entsteht nicht zuletzt aus gespeicherten Erinnerungen in Organen,
Geweben oder direkt in den Abschnitten des Cranialen Systems, die sich dem
bewussten Erinnern des Patienten entzogen und sich auf Körperebene manifes-
tiert haben. Diese „frozen states“, „Energiezysten“ oder „biokinetischen Kräfte“,
wie sie in den unterschiedlichen Schulen der Craniosacral Therapie genannt
werden, erzeugen Spannung an bestimmten Stellen des Körpers oder direkt im
Zentralnervensystem und bündeln dort viel Energie, die dem Patienten in seiner
alltäglichen Lebenssituation nicht zur Verfügung steht.
Bereits bei der Empfängnis erhält der Körper Muster, Formen und Konditio-
nierungen bezüglich unserer Reaktionsweise auf Stress und Trauma. Überwältigt
ein physisches oder psychisches Trauma den naturgegebenen Stresslevel, werden
diese Ereignisse im Körper eingeschlossen. Dort verbleiben sie, bis der Mensch
fähig ist, die nötigen Ressourcen zu nutzen, um Stress und Trauma zu verändern
und zu lösen. Solche Stressmuster kreieren Verzerrungen in den normalen
rhythmischen Bewegungen der Flüssigkeiten bzw. auf der muskolo-skelettären
Körperebene. Dies führt von allgemeinem Unwohlsein, Unfähigkeit der Selbst-
heilungsregulierung bis hin zur Manifestierung einer Erkrankung. Erlittener
Schmerz auf seelischer und/oder körperlicher Ebene hinterlässt ebenfalls eine
Erlebnisspur in Gehirn und im Gewebe. Wie der Körper auf dieses Ereignis rea-
giert bzw. seine Konditionierung ist, so wird dieses Schmerzerleben von kurzer
Dauer sein oder es wird sich chronifizieren.
Durch die Lösung von Blockaden auf der Körperebene (in der Form und in
der Zeit, in der es der Körper des Patienten zulässt; der Therapeut begleitet den
Prozess nur mit seinen Händen, seiner Präsenz und seinem Wissen um somato-
350 I. Schmuck und E. Wolfslehner

emotionale Zusammenhänge) wird diese gebundene Energie freigegeben.


Schmerz oder „gehaltene“ Bewegungsmuster können sich lösen und ein Zu-
stand von vermehrter innerer und äußerer Beweglichkeit stellt sich ein. Dies geht
oft einher mit einem Gefühl von vermehrter Vitalität und besserem Antrieb.
In Bezug auf die Pflege dürften besonders drei Aspekte von Bedeutung sein,
die durch die Behandlung des Craniosacralen Systems auftreten.
Dies sind:
1. Die Berührung während der gesamten Sitzung für eine bestimmte absehbare
Zeit, in einer Form, die meist schmerzfrei ist und als angenehm erlebt wird.
Bei jeder Berührung baut sich zwischen dem Körper des Klienten und den
Händen des Behandelnden ein Energiefeld auf, das Veränderung und Ent-
spannung des Gewebes bewirken kann.
Durch die besonderen Techniken der Craniosacral-Therapie werden diese
Effekte noch verstärkt.
Die Patienten berichten von einem tiefen und verlässlichen Gehaltensein,
dass viele gar nicht kennen oder schon lange nicht mehr erlebt haben und
das für manche eine Voraussetzung ist, um überhaupt eine tiefe Entspannung
zulassen zu können.
Besonders für ältere und alleinstehende Menschen, die oft unter einem chro-
nischen Mangel an Berührung leiden, bedeutet dies häufig schon einen Hei-
lungsfaktor an sich.
Vertrauen und Öffnung gegenüber dem behandelnden System und den be-
handelnden Personen werden oft leichter, neue Wahrnehmungsweisen kön-
nen neue Verhaltensweisen ermöglichen.
Für den Patienten ist dies subjektiv wahrnehmbar durch:
– Schmerzminderung durch allgemeine Entspannung und bessere Durch-
blutung bzw. besonders bei chronischem Schmerz durch Veränderung der
metabolischen Aktivitäten im Zentralnervensystem.
– Minderung von Spannung und Ängstlichkeit (Unterbrechung des Kreis-
laufes Schmerz – Spannung – Schmerz bzw. Spannung – Schmerz –
Spannung). Ein neues Muster im Umgang mit diesen Zuständen kann
sich zeigen.
– Ressourcenvollerer Gesamtzustand, der einen hoffnungsvolleren Blick auf
die momentane Situation, den Krankheitsverlauf etc. ermöglichen kann
und eine bessere Kooperation mit dem Patienten ermöglicht.
– Eine verbesserte Möglichkeit, die Wahrnehmung wieder mehr nach außen
zu richten und somit die Fokussierung auf den Schmerz zu unterbrechen
und neue Ressourcen wahrnehmen zu können.
2. Die sehr tiefe Entspannung des Zentralnervensystems:
Die Craniosacral-Therapie ist eine stille Arbeit, die viel Einstimmung und
Sensibilität erfordert und den Patienten bei den lange dauernden Berührun-
gen ins Zeitlose versinken lässt. Es wird eine tiefe Entspannung empfunden,
die eine Wahrnehmung von emotionalem Wohlbefinden mit sich bringt.
Craniosacrale Therapie 351

3. Die somato-emotionale Ebene der Craniosacral-Therapie, die ein Freigeben


von traumatischen Einflüssen auf körperlicher und seelischer Ebene ermög-
licht und die Inhalte dem Bewusstsein wieder zugänglich macht. Veränderung
und Heilung der Inhalte werden wieder dadurch möglich.
Im Laufe einer Sitzung können auch Erinnerungen in Form von Bildern oder
Emotionen auftauchen, die auf der seelischen Ebene mit diesen Körpererin-
nerungen verknüpft sind.
Dies können sein: Erinnerung an Unfälle, Verletzungen körperlicher oder see-
lischer Art, Operationen, eigene Geburtserfahrungen oder schwere Traumata.
Durch das Auftauchen dieser, zum Zeitpunkt des Erlebens überwältigenden
Eindrücke in das Bewusstsein des Patienten, ergibt sich die Möglichkeit – mit
Hilfe verschiedener therapeutischer Techniken und durch das Vorhandensein
des stabilen sicheren Rahmens der Craniosacralen Sitzung – eine schrittweise
Heilung dieser Inhalte zu ermöglichen.
Hilfreich und ganz wichtig hierbei ist die Möglichkeit der tiefen Entspannung
des Zentralnervensystems durch die Cranialen Techniken, wie z. B. das Setzen
von Stillpunkten, um immer wieder einen ressourcevollen Zustand herstellen
zu können. Dadurch kann der Prozess des Wiedererinnerns gut begleitet,
Retraumatisierung effektiv vermieden und die Möglichkeit geschaffen wer-
den, traumatische Inhalte in der subjektiven Wahrnehmung des Patienten zu
verändern.
Dieser Prozess kann durch verschiedene therapeutische Techniken, wie z. B.
NLP, Therapeutischer Dialog, Traumaarbeit nach Peter Levine, Arbeiten mit
Ressourcen etc., begleitet werden.
Man spricht an diesem Punkt auch von der „tiefen Stille“ (gemeint ist die
Ruhe im Craniosacralen Rhythmus), in der Heilung auf vielen Ebenen von
ganz alleine geschehen kann und sich das gesamte System neu ausrichtet.
Die „gesunden Anteile“ der Person bekommen mehr Raum und ein tiefgrei-
fender Prozess hin zu mehr seelischer und körperlicher Gesundheit kann be-
ginnen.
Die Craniosacral-Therapie gehört nicht zu den Körpertherapien, die umschu-
len, umstrukturieren und konditionieren. Es ist die Kontaktaufnahme mit ei-
nem dem Körper innewohnenden Rhythmus, einem Instinkt. Es wird der
ganze Mensch angesprochen, und die Verbindungen zwischen dem Denken,
dem Körper, der Natur und dem Geist werden respektvoll anerkannt.

Literatur
Literatur bei den Verfassern
Revision

Die Feldenkrais-Methode in der Schmerztherapie

M. WITTELS
M. Wittels

Moshé Feldenkrais über das Lernen:


„Sie tun es, ob Sie es wollen oder nicht.“

Wer war Dr. Moshé Feldenkrais?


Für das Verständnis der Bewegungslehre Feldenkrais ist ein kurzer Abriss über
sein Leben unverzichtbar (Feldenkrais 1949; Feldenkrais 1981; Hanna 1984).
Die weitere Lebensgeschichte dieses Mannes könnte den Stoff für einen gro-
ßen Roman liefern:
Zu Studienzwecken ging Feldenkrais nach Paris und promovierte 1933 an der
Sorbonne in angewandter Physik. Noch im selben Jahr begann er bei Frédéric
und Irène Joliot-Curie im berühmten Institut du Radium, in dem schon Marie
Curie ihre mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Arbeit geleitet hat, am Kernspal-
tungsprogramm zu arbeiten. Immer bleibt die Hingabe an Bewegung und
Kampfsport für Moshé Feldenkrais ein Lebenselixier; so begegnete er bei einem
Vortrag Prof. Igoro Kano, dem Erfinder des Judo, und wird dessen Privatschüler –
Feldenkrais’ Fragen an Kano hatten die Neugier des alten Herrn geweckt. In der
Folge erkämpfte sich Feldenkrais als erster Europäer den schwarzen Gürtel und
gründete die erste Judoschule in Frankreich.
1935 bekam das Ehepaar Joliot-Curie den Nobelpreis für Chemie für die Syn-
these eines Radionuklids. Als Frankreich von den Deutschen besetzt wird, been-
den die Joliot-Curies 1940 ihre Arbeit und gehen in den Widerstand. Es gibt
Quellen, die besagen, dass Feldenkrais durch die Hilfe der französischen Unter-
grundbewegung unbeschadet mit zwei Koffern nach England fliehen konnte. In
den Koffern befand sich das gesamte Dokumentationsmaterial der ersten franzö-
sischen Kernspaltung! Die englische Regierung nimmt sich eines Grüppchens
hochdotierter Wissenschafter – darunter Moshé Feldenkrais – an und bringt sie
im schottischen Ort Fairlie unter. Feldenkrais arbeitete dort für die Versuchsabtei-
lung der U-Boot-Abwehr, da es aber an diesem abgelegenen Ort an vielem
mangelte, nutzten die Wissenschafter die Zeit, um sich gegenseitig Vorträge über
354 M. Wittels

wissenschaftliche Themen zu halten. Aus den Vorträgen für diese illustre Runde,
die den klingenden Namen „Association of Scientific Workers in Fairlie“ trug,
mündeten Feldenkrais Gedanken und provozierende Thesen in einer ersten
Publikation über eine neue Art des neuronalen Lernens. Dieses Buch, das in der
deutschen Übersetzung langweilig mit „Der Weg zum reifen Selbst“ betitelt ist,
klingt im englischen Original wie die moderne Odyssee: „Body and Mature Be-
haviour – A Study of Anxiety, Sex, Gravitation and Learning“. In dieser Studie
geht Feldenkrais der Beobachtung von Phänomenen einer menschlichen Ur-
angst – der Angst zu fallen – nach, räsoniert über die physikalischen Grundlagen
des aufrechten Gangs des Menschen, die Bedeutung des kinästhetischen – soge-
nannten sechsten – Sinnes und zieht aus seinen Behauptungen Schlüsse, die fast
alles über Bord werfen, was das damalige Glaubenssystem über Motorik, Gehirn,
Gefühle und die Seele auf einem soliden Sockel ruhen ließ. Er zieht die Psycho-
analyse in Zweifel, indem er behauptet, dass alle menschliche Angst dieser Ur-
angst des Fallens, einer automatischen Reaktion, die durch Reizung des Nervus
vestibularis getriggert wird, entspringt und dazu führt, dass sich die gesamte
Beugemuskulatur zusammenzieht und eine gleichzeitige Hemmung der ge-
samten Streckmuskeln einsetzt. Feldenkrais glaubte nicht daran, dass sich das
Individuum ausschließlich durch Bewusstmachung seiner unbewussten Ängste
verbessern kann, viel eher sind seiner Beobachtung und Erkenntnis nach Bewe-
gungsübungen, die sanft und ohne Anstrengung, ohne vordergründiges Ziel, nur
mit der Hinwendung auf sensorische Prozesse durchgeführt werden, geeignet,
Menschen von ihrer übermäßigen Spannung zu befreien. Durch Regulierung der
verkürzten Beugemuskulatur im Bauchbereich, der eingeengten Atmung in ei-
nem steifen Brustkorb und der Unbeweglichkeit im Beckenbereich lösen sich die
somatischen Zeichen der Angst auf und in der Folge das dazugehörende Gefühl.
Wenn man mit Menschen in der Feldenkraismethode arbeitet, entweder inner-
halb der vierjährigen Ausbildung oder danach als FeldenkraislehrerIn, stellt man
genau dieses fast magisch anmutende Phänomen fest: Menschen aller Altersstu-
fen, der unterschiedlichsten intellektuellen Prägungen und Berufe, erheben sich
nach Abschluss einer solchen verbal geleiteten Bewegungsübung – genannt Be-
wusstheit durch Bewegung – vom Boden, und sehen sich verwundert um, fühlen
sich breiter, größer, freier, leichter, flinker und sind meistens gut gelaunt.

Die Methode

Die Feldenkraismethode, wie sie heute gelehrt wird, besteht aus zwei Teilen: Be-
wusstheit durch Bewegung und Funktionale Integration. Bewusstheit durch Be-
wegung wird in der Gruppe gelehrt, der Feldenkraislehrer führt die Schüler ver-
bal durch eine der über 1000 Bewegungsanleitungen, die Feldenkrais entwickelt
hat. Feldenkrais hat keine Heilmethode sondern ein Lernmethode entwickelt,
daher gibt es eigentlich keine Therapeut-Patient-Beziehung, sondern ein Lehrer-
Schüler-Konstrukt, das sich über das große Thema Lernen austauscht. Die Bewe-
gungen werden meist im Liegen durchgeführt, bei Schmerzpatienten empfiehlt
Die Feldenkrais-Methode in der Schmerztherapie 355

es sich auch, Anleitungen zu geben, die auf einem Stuhl sitzend ausgeführt wer-
den können. Oft ist das Zu-Boden-gehen und das Aufstehen vom Boden für
Menschen mit chronischen Schmerzen nur schwer oder gar nicht möglich. Im
Liegen aber auch im Sitzen werden die Kräfte der Schwerkraft, gegen die wir uns
im Lot halten, weitgehend ausgeschaltet. So wird ein Teil der Anstrengung aus
unserem Handeln herausgenommen und damit die Voraussetzung für optimales
Lernen geschaffen: Leichtigkeit, Entspannung und durch die Hinwendung zu
inneren Prozessen eine konzentrierte Wachheit folgen. Ähnlich wie in Hypnose,
in der wir leichter seelische Zusammenhänge unter Ausschaltung des Bewusst-
seins aufspüren können, scheint es, dass wir unter der Ausschaltung der Schwer-
kraft besser motorische Suchprozesse einleiten können, die uns zu neuen Bewe-
gungsmustern führen. Wenn wir neue Bewegungsmuster entwickeln, verlassen
wir alte, eingefahrene und oft auch schädliche Muster, die irgendwann zu passen
schienen. Innerhalb dieses ruhigen, zentrierten Arbeitens einer Bewusstheit-
durch-Bewegung-Lektion werden Bewegungen Stück für Stück in kleinen
Schritten angewiesen. Etwa eine Armbewegung in Seitenlage, der nach vielen
Wiederholungen und eingeschobenen kleinen Ruhepausen eine Beinbewegung
folgt. Durch die verbale Anleitung werden die Liegenden immer wieder aufge-
fordert, sich in ihrer Wahrnehmung auch um Teile ihres Körpers zu kümmern, die
anfangs in die Bewegung nicht eingebunden sind. Wenn am Ende der Stunde die
Ausführenden sich leicht wie Kinder von einer Seite auf die andere rollen, in der
Seitenlage zusammengekauert, am Rücken langgestreckt und wohlig gedehnt, in
einer Bewegung wie aus einem Guss – eine Bewegung, die jederzeit umkehrbar
ist und im gesamten Bewegungsablauf in die Gegenrichtung fortgeführt werden
kann –, dann hat man das Gefühl, dass ein uraltes Bewegungsmuster wieder
entdeckt worden ist. Das Rollen findet nun unter Einbeziehung des Nackens, des
Kopfes, der sich zu Beginn der Anleitung nicht von der Stelle gerührt hat, eines
beweglicheren Beckens und einer wenig überraschenden Gelöstheit der Beteilig-
ten statt. Bat man zu Beginn die Gruppe, sich von der linken Seitenlage auf die
rechte Seite zu drehen, dann konnte man beobachten, dass dieser Seitenwechsel
auf vielen ungelenken, ruckartigen und umständlichen Bewegungsteilen basiert,
obwohl so ein Seitenwechsel eine alltägliche Handlung ist.
Da wir uns in all unserem Handeln nie nur der Bewegung hingeben können,
ohne die anderen drei Instanzen, die am Handeln beteiligt sind – Sinnesempfin-
dung, Gefühl und Denken – einzuschließen (Feldenkrais 1967), wird bald klar,
dass eine Veränderung unserer Haltung, eine Erweiterung unserer Bewegungs-
möglichkeiten, ein freieres Atmen, bewusstere Hände oder das überraschende
Nachlassen von lange bestehenden Beschwerden nicht ohne Auswirkungen im
Denken, Fühlen und im Bereich der Sinnesempfindung bleiben kann. Das heißt
umgekehrt aber auch, dass wir uns bewegen, wie wir denken, fühlen und wie wir
mit unseren Sinnen die Welt wahrnehmen.
Funktionale Integration hingegen ist eine Einzelarbeit, in der mit sanften Be-
rührungen und passiven Bewegungen der meist liegende Körper des Schülers auf
einer speziell für diese Arbeit konstruierten Liege vom Lehrer bewegt wird, um
Bereiche des Körpers, die im Verlauf von bestimmten Bewegungen erreicht wer-
356 M. Wittels

den sollten, aber unerreicht bleiben, aufzuspüren. Durch Berührung werden dem
Nervensystem diese „leblosen“ Teile gemeldet (Wadler 2005). Alsbald wird dort
aber Bewegung entstehen, denn das Nervensystem ist vergleichbar mit einem
Ohr, das ohne Unterlass fragend die Welt abhorcht. Jede Informationsaufnahme
ist notwendigerweise die Aufnahme einer Nachricht von einem Unterschied.
„Keine neue Ordnung oder kein neues Muster kann ohne Information hergestellt
werden.“ (Ginsburg 2004). Auch wird das Nervensystem dort Bewegung entste-
hen lassen, wo es durch Funktionalität überzeugt wird. Das heißt, dort wo der
Lehrer Bewegungen initiiert, die ein größeres Ganzes anregen, werden Muskeln
plötzlich stimuliert, weil die zerebrale Repräsentanz komplexer Bewegungsabläu-
fe ihre Beteiligung fordert. Hier scheint das Ohr nach innen gewandt zu sein.
Wenn Funktionale Integration gelingt, wird für das Nervensystem eines Men-
schen ein erkennbarer Unterschied geschaffen, den die Person aufnehmen und
in ihr Selbstbildnis integrieren kann (Ginsburg 2004), dann ist die Kommunika-
tion zweier Nervensysteme – desjenigen der berührt und bewegt, mit jenem, der
berührt und bewegt wird – geglückt. Ist bei einer Funktionalen Integration die
Ausschaltung eines Schmerzes gefragt, so wird man sich nicht nur dem schmer-
zenden Bereich zuwenden, sondern davon ausgehen, dass der schmerzende Teil
jener Körperteil ist, der am meisten durch eine Fehlbelastung ausgenutzt wird.
Man wird versuchen, das Bewegungsmuster des Schmerzgeplagten zu erkennen,
um auf Bewegungsabläufe hinzuweisen, die viel eher geeignet sind, die Arbeits-
belastung auf sämtliche Körperteile gleichmäßig zu verteilen. Damit wird der
Reiz aus dem schmerzenden Bereich entfernt (Wadler 2005). Die Bewegungen,
die innerhalb der Funktionalen Integration durchgeführt werden, haben viel mit
den Bewusstheit-durch-Bewegung-Lektionen zu tun, und die Qualität der Ver-
änderungen, die beim anderen herbeigeführt wird, hängt in großem Maße von
Geschick und Feingefühl der Lehrerin und des Lehrers ab.

Wissenschaftliche Forschung

Kaum überraschend ist es, in der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur nur


wenige Arbeiten zu finden, die sich mit der Feldenkraismethode auseinanderset-
zen. In fast allen dieser Arbeiten beklagen die Autoren, dass die bereits durchge-
führten Studien Mängel im Design aufweisen. Es existieren reale Probleme, die
es erschweren, gute klinische Studien zur Evaluierung der Feldenkraismethode
durchzuführen. Die Schwierigkeiten beziehen sich auf die Kosten und den Zeit-
aufwand des Anwenders (Feldenkraislehrer), die lange Studiendauer und die
Etablierung von Kontrollgruppen oder Placebogruppen. Wenn Anwendungen in-
teraktiv sind, führt dies fast immer zur Unmöglichkeit, verblindete Protokolle zu
führen. Es ist nicht einfach auf die notwendigen Probandenzahlen zu kommen
und die Abweichungen, die durch die unterschiedlichen Anwender der Methode
verursacht werden, zu berücksichtigen; und es fehlt an objektiven, standardisier-
ten Wirksamkeitsnachweisen (outcome-measures) (Jain et al. 2004). Dennoch
gibt es einige interessante Arbeiten, die hier genannt werden sollen.
Die Feldenkrais-Methode in der Schmerztherapie 357

Eine gut kontrollierte, randomisierte Studie zeigt signifikante funktionelle


Veränderungen nach Feldenkraislektionen. Die Autoren untersuchten über eine
Studienperiode von einem Jahr weibliche Fabriksarbeiterinnen mit Nacken- und
Schulterschmerzen. Es gab eine Kontrollgruppe, eine Physiotherapiegruppe, und
die Teilnehmerinnen wurden den Gruppen randomisiert zugewiesen. Es wurden
in der Physiotherapiegruppe geringe oder keine Veränderungen von Funktion
und Schmerz gefunden, die Kontrollgruppe verschlechterte sich teilweise und
die Feldenkraisgruppe verbesserte sich in Funktion und Schmerz (Lundblad et al.
1999).
Malmgren-Olsson untersuchte 78 Patienten mit unspezifischen muskuloske-
lettalen Erkrankungen und verglich drei Gruppen: eine Feldenkraisgruppe, eine
Physiotherapiegruppe und eine Gruppe erhielt Body Awareness Therapy, kurz
BAT genannt. In jeder Gruppe wurden 20 Einheiten angeboten. Die Felden-
kraisgruppe erhielt sowohl Gruppenlektionen als auch Stunden in Funktionaler
Integration. Untersucht wurde psychischer Stress, Schmerz und Selbstbild über
ein Jahr lang. Vom statistischen Standpunkt aus differierte keine der drei Grup-
pen in diesen Parametern signifikant, es zeigte sich aber tendenziell eine Besse-
rung in der BAT- und der Feldenkraisgruppe. Somit scheinen BAT und Fel-
denkrais die gesundheitsbezogene Lebensqualität und die Selbstwirksamkeit im
Umgang mit Schmerz in einem höheren Maß zu beeinflussen (Malmgren-
Olsson und Bränholm 2002).
Eine Arbeit von Dunn und Rogers versucht die Auswirkungen von sensori-
schen Vorstellungen auf das Ausmaß einer Beugebewegung des Oberkörpers zu
beurteilen. Diese Studie lehnt sich an eine Feldenkraisthese an, die besagt, dass
sensorische Aufmerksamkeit zur Verbesserung in der funktionalen Bewegung
führt. Eine verbale Anleitung wurde gegeben, in der die Probanden aufgefordert
wurden, sich 30 Minuten lang eine weiche Borstenbürste, die über eine Hälfte ih-
res Körpers streiche, vorzustellen, während der Körper regungslos am Boden lag.
Danach wurde in einer „sit-and-reach-box“ die Beugung für jede Körperhälfte
bestimmt. Zehn der zwölf Testpersonen, die berichteten, dass sie jene Körper-
hälfte, die in der Vorstellung von der Bürste bestrichen worden ist, leichter und
länger empfänden, zeigten eine Verbesserung der Vorwärts-Beugung um durch-
schnittlich 2,4 cm. Im Gegensatz zum Ansatz vieler anderer Studien, die mit der
Vorstellungskraft arbeiten, um funktionelle Bewegungen zu verbessern, hat diese
ausschließlich die Vorstellung auf sensorische Veränderungen gerichtet und kei-
nerlei Bewegungen durchführen oder sich vorstellen lassen (Dunn und Rogers
2000).
Die Feldenkraismethode findet erst langsam Einlass in verschiedenen medi-
zinischen Institutionen. Vermehrt trifft man auf Angebote in psychosomatischen
Einrichtungen, in Schmerzkliniken, in Rehabilitationseinrichtungen und Spezial-
kliniken (etwa für Multiple-Sklerose-Patienten oder für Patienten mit Essstörun-
gen). Das Interesse von leitenden Personen, die Budgets verteilen, kann aber nur
zögernd oder gar nicht für die Feldenkraismethode geweckt werden und somit
verbleibt die Anwendung der Feldenkraismethode vorerst überwiegend im priva-
ten Bereich und entzieht sich so einer wissenschaftlichen Beurteilung. Vereinzelt
358 M. Wittels

werden Anwendungen von privaten Krankenversicherungen übernommen,


wodurch die Methode aber noch nicht als Heilmethode verifiziert ist. So gesellt
sich zu den Mängeln im Design der Mangel an Bereitschaft, den Nachweis der
Feldenkraismethode zu finanzieren.
Wenn man davon ausgeht, dass innerhalb der Feldenkraisarbeit neuronales
Lernen stattfindet, würden Studien interessieren, die durch Neuroimaging (PET
oder MRT) versuchten, das neuronale Lernen darzustellen. Man könnte bei-
spielsweise die Gehirne einer Gruppe von Menschen zu Beginn ihrer vierjähri-
gen Feldenkraisausbildung – immerhin um die vierzig Menschen – in Zusam-
menhang mit verschiedenen alltäglichen Bewegungen aufzeichnen und mit den
Aufzeichnungen nach der vierjährigen Ausbildung vergleichen. Als Vergleichs-
gruppe könnte man vierzig Probanden nehmen, die in den vier Jahren weiterle-
ben wie bisher. Wenn die These des Lernens stimmt, müssten sich die Gehirne
der Feldenkraisabsolventen durch die Neuroplastizität strukturell und hinsicht-
lich ihrer Aktivitätsmuster sichtbar verändern. Vielleicht gibt es einmal einen Mä-
zen, dem durch die Feldenkraismethode geholfen wird und der diese Studie in
Dankesbezeigung finanzieren würde? Anzunehmen ist aber, dass die Felden-
kraismethode vorerst eine gut wirksame Methode am Rande der Schulmedizin
bleiben wird und sich jene glücklich schätzen können, denen sie geholfen hat.

Der Mensch im Schmerz

„Die Mehrzahl der Menschen hört auf, sich weiterzuentwickeln, wenn sie ge-
schlechtsreif ist. Sie gilt als erwachsen und empfindet sich auch so. Was man
danach noch lernt, hat vorwiegend nur gesellschaftliche Relevanz“, stellt
Feldenkrais im Vorwort zu seinem Buch „Die Entdeckung des Selbstverständli-
chen“, fest. Auch stellt er Überlegungen dahingehend an, dass der Mensch in
seinen motorischen Funktionen im Lauf seines Lebens zurückbleibt und viele
Bewegungen aus seinem Repertoire ausscheiden, „etwa das Springen, das Über-
den-Kopf-Rollen, auch die Drehbewegungen. Sie werden abgebaut oder so
vernachlässigt, dass es bald vollends unmöglich wird, sie noch auszuführen.“
(Feldenkrais 1981)
Hat man beruflich mit vielen Menschen zu tun, die an chronischen Schmer-
zen leiden – mit den von uns so benannten Schmerzpatienten – und beobachtet
man diese Menschen gut, weiß man bald, dass sie im obigen Sinne noch viel
mehr motorische Funktionen verkümmern lassen. Befasst man sich mit der Fel-
denkraismethode und versucht diese in den Krankenhausbetrieb einzubinden
und auch dort mit den Augen einer Feldenkraislehrerin zu sehen, dann wird es
nicht mehr verwundern, dass Patienten, die ursprünglich Schmerzen im Len-
denwirbelsäulenbereich hatten, nun auch welche im Halswirbelsäulenbereich
bekommen. Es wird auch nicht verwundern, dass verletzte Körperteile sich im-
mer mehr verschlechtern, wenn Menschen sich ihnen nicht mehr zuwenden, sie
ausgrenzen aus ihrem Körperbild, uns manchmal sogar bitten, Teile ihres Körpers
zu amputieren, weil diese Teile nur mehr schmerzen und stören würden. Er-
Die Feldenkrais-Methode in der Schmerztherapie 359

wähnt muss aber auch werden, dass die Krankenhausmedizin vielen dieser
Patienten nicht dauerhaft helfen kann. Schmerz wird zusehends als ein biopsy-
chosoziales Phänomen wahrgenommen, doch viel Wohltuendes ist vorerst nicht
verankert. Es wird mechanisch repariert, medikamentös therapiert, physikalisch
Strom, Ultraschall, Schlamm und Wasser angewandt und in der Physiotherapie
soll sich der Schmerzpatient nun bewegen. Der aber sagt: „Kann ich nicht. Es tut
mir weh.“
Die Feldenkraismethode wäre ungeachtet einer noch ausständigen wissen-
schaftlichen Nachweisbarkeit eine sinnvolle Ergänzung der praktizierten Medi-
zin. Einerseits, weil sie das Verständnis für andere Zusammenhänge wecken und
damit die Auseinandersetzung über das Thema Schmerz variieren würde, ande-
rerseits, weil sie eine Methode ist, die vorsichtig, schmerz- und ziellos, und ohne
Anforderungen an die Leistung des Schmerzpatienten angewendet werden
kann, ohne dabei wirkungslos zu bleiben. Wie Feldenkrais sagt, gibt es keinen
Menschen, der eine freundliche Berührung nicht von einer unfreundlichen zu
unterscheiden vermag. Ich denke, dass wir unsere Patienten wieder mehr berüh-
ren sollten, auch innerhalb einer aufmerksamen klinischen Untersuchung und
dass wir darauf achten sollten, durch eine freundliche Berührung den Einlass zu
einer anderen Kommunikation mit dem Nervensystem des Patienten zu finden.
Dies wäre ein erster Schritt, mit Funktionaler Integration im Krankenhaus zu be-
ginnen.

Literatur
Dunn P, Rogers D (2000) Feldenkrais sensory imagery and forward reach. Percept Motor Skills
91: 755–757
Feldenkrais M (1949) Der Weg zum reifen Selbst. Junfermann, Paderborn
Feldenkrais M (1967) Bewusstheit durch Bewegung. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Feldenkrais M (1981) Die Entdeckung des Selbstverständlichen. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Ginsburg C (2004) Die Wurzeln der Funktionalen Integration. Bibliothek der Feldenkrais-Gilde
Deutschland, München
Hanna T (1984) Moshé Feldenkrais: the silent heritage. Somatics 5: 22–30
Jain S, Janssen K, DeCelle S (2004) Alexander technique and Feldenkrais method: a critical
overview. Phys Med Rehabil Clin N Am 15 811–825
Lundblad I, Elert J, Gerdle B (1999) Randomized controlled trial of physiotherapy and Fel-
denkrais interventions in female workers with neck-shoulder complaints. J Occup Rehabil
9: 179–194
Malmgren-Olsson E, Bränholm I (2002) A comparison between three physiotherapy approa-
ches with regard to health-related factors in patients with non-specific musculoskeletal
disorders. Disabil Rehabil 24: 308–317
Wadler E (2005) Grundlagen Funktionaler Integration, Hinweise zur Feldenkraisarbeit. Loeper,
Karlsruhe
Revision

Ergotherapie in der Behandlung von


Schmerzpatienten

H. TRABE
Ergotherapie in der Behandlung von Schmerzpatienten
H. Trabe

Definition Ergotherapie

Ergotherapie wird von den griechischen Worten „to ergon“ und „therapeia“
abgeleitet und bedeutet:
to ergon: Werk, Tat, Handlung, Tatsache; Arbeit, Verrichtung, Unterneh-
men, Geschäft, das durch die Arbeit Hervorgebrachte
therapeia: Dienen, Bedienung, Achtungsbezeichnung, Dienstleistung,
Wartung, Pflege, Heilung, Putz des Körpers, Dienerschaft, Ge-
folge
Der ergotherapeutische Dienst umfasst die eigenverantwortliche Behandlung
von Kranken und Behinderten nach ärztlicher Anordnung durch handwerkliche
und gestalterische Tätigkeiten, das Training der Selbsthilfe und die Herstellung,
den Einsatz und die Unterweisung im Gebrauch von Hilfsmitteln einschließlich
Schienen zu Zwecken der Prophylaxe, Therapie und Rehabilitation; ohne ärztli-
che Anordnung die Beratung und Schulungstätigkeit sowohl auf dem Gebiet der
Ergonomie als auch auf dem Gebiet des allgemeinen Gelenksschutzes an Ge-
sunden. (Auszug aus dem Gesetzestext, BGBl. 460/1992)
Ergotherapie beruht auf medizinischer, sozialwissenschaftlicher und handlungs-
orientierter Grundlage.

Der ganzheitliche Ansatz der Ergotherapie

Ergotherapie verbindet das fachliche, klinisch erprobte und vertiefte Wissen mit
einem individualpädagogischen Ansatz. Therapie wird so zur individuellen Be-
handlung, Beratung und Präventionsschulung der Betroffenen. Bei und durch die
Therapie werden alle Potenziale und Ressourcen des Patienten genützt.
362 H. Trabe

Ergotherapeuten unterstützen kranke Menschen, sich im Alltag wieder besser


zurechtzufinden. Vom Ergotherapeuten wird die gesamte Persönlichkeit des
Patienten berücksichtigt. Der Patient in seiner individuellen Lebenssituation soll
wieder handlungsfähig und selbstständig werden. Daher variieren Aufgabenstel-
lungen und Zielsetzungen ergotherapeutischer Behandlung je nach Patient: Sie
richten sich nach dessen Fähigkeiten beziehungsweise Defiziten.
Die Motivierung des Patienten ist ein entscheidender Faktor für den Behand-
lungserfolg. Fortschritte können nur gemeinsam mit ihm/ihr erreicht werden.
Daher ist es sinnvoll, mit dem Patienten die Ziele der therapeutischen Maßnah-
men zu entwickeln und zu verfolgen und ihnen die Bedeutung der Maßnahmen
verständlich zu machen.
Der Mensch, der in seinem normalen und gesunden Leben schöpferische,
funktionelle und kommunikative Tätigkeiten braucht, hat als Kranker nur sehr
eingeschränkte Möglichkeiten, seine Bedürfnisse danach zu befriedigen. Er wird
unzufrieden, unruhig, und diese schlechte Stimmung beeinflusst alle seine Le-
bensäußerungen, die geistig/seelischen ebenso wie die körperlichen.
Später gewöhnt er sich eventuell an den durch die Krankheit bedingten Zu-
stand der Inaktivität, er wird passiv und interesselos (Presber und de Néve 1997).

Grundprinzip der Ergotherapie ist die physische und


psychische Aktivierung

In unserer Schmerzambulanz werden hauptsächlich Patienten mit unterschied-


lichsten Krankheitsbildern wie dem Komplexen Regionalen Schmerzsyndrom
(CRPS), Multipler Sklerose (MS), Amyotropher Lateral-Sklerose (ALS) und dem
Fibromyalgie-Syndrom behandelt. Ebenso werden chronische Schmerzpatienten,
Patienten mit Tumorerkrankungen, mit Bandscheibenschäden der gesamten Wir-
belsäule, mit rheumatischen Erkrankungen und mit Zuständen nach Phantom-
schmerzen betreut. Letztere sowie CRPS Patienten gehören zu meinem Spezial-
gebiet.
Unsere Patienten kommen aus allen medizinischen Bereichen und sind jeden
Alters. Die ergotherapeutische Aufgabe ist es, Probleme wie Störungen der sen-
somotorischen Bewegungsabläufe, der höheren Hirnleistungsfunktion, Probleme
mit der Bewältigung des Alltags sowie mit der Wiedereingliederung in den Beruf
zu erfassen und zu therapieren.
Unter Störungen der sensomotorischen Bewegungsabläufe fallen Defekte der
Grobmotorik, der Feinmotorik, der Sensibilität, der Greiffunktionen und der bi-
manuellen Koordination.
Weiters beinhalten die Störungen der höheren Hirnleistungsfunktionen
Probleme mit der allgemeinen Orientierung, mit dem Gedächtnis und der Merk-
fähigkeit, sowie mit der Konzentration und der Aufmerksamkeit als auch mit der
Handlungsplanung, dem Handlungsablauf und der Raumerfassung.
Zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Alltags gehören eine gestörte
Mobilität, eine Einschränkung in der Bewältigung von Alltagssituationen, Prob-
Ergotherapie in der Behandlung von Schmerzpatienten 363

leme bei der Handhabung von Alltagsgegenständen, der nicht adäquate Umgang
mit Hilfsmitteln wie auch die krankheits- bzw. behindertengerechte Wohnungs-
adaptierung.

Diagnostik – Befunderhebung

Um sich ein reales Bild des Patienten und seiner Probleme zu verschaffen, ist ei-
ner der wichtigsten Punkte der ergotherapeutischen Aufgabe die Erhebung des
Ist-Zustandes, das heißt eine genaue Anamnese sowie die Beobachtung, die In-
spektion und die Palpation als auch die Einschätzung der Schmerzempfindung.
Schmerzart, Schmerzzeiten, schmerzauslösende, -verstärkende oder -lindernde
Faktoren sind bei der Befunderhebung ein bedeutendes Kriterium (und sollten
auch in anderen Fachrichtungen als Standarduntersuchung noch mehr berück-
sichtigt werden); ebenso der Muskeltest, die Umfangmessungen, die Untersu-
chungen der Durchblutung an der Hand und den Fingern, die Messungen des
Bewegungsumfanges der Gelenke (aktiv/passiv) sowie die Prüfung der Gesamt-
funktionen, der Greiffunktionen und der Gebrauchsbewegungen als auch die
Kraftmessung samt der Sensibilitätsuntersuchung. Weiters sollte der/die Ergo-
therapeut/in die Selbständigkeit bei Verrichtungen des täglichen Lebens, die Ar-
beitssituation wie die Arbeitsfähigkeit und die Hobbys und Freizeitaktivitäten
des Patienten abklären und die Auswirkung der Verletzungsfolgen auf die per-
sönliche Situation des Patienten einschätzen.

Weitere diagnostische Verfahren: technische Hilfsmittel


Digitalbild: um einen Ausgangswert zu haben – als Dokumentation

Abb. 1. Patient mit CRPS, rechte Hand

Infrarotaufnahme (Thermographie)
ist ein bildgebendes Verfahren, das die für das menschliche Auge unsichtbare
Wärmestrahlung (Infrarotlicht) eines Objektes oder Körpers mit Hilfe von Spe-
zialkameras sichtbar macht; es dient zum Erkennen von Temperaturdifferenzen
und Durchblutungsverhältnissen.
364 H. Trabe

Abb. 2.
Infrarotaufnahme der Hand mit CRPS

Neuro-Sensory-Analyzer (NSA)
ist ein computergesteuertes Gerät, um Fehlfunktionen kleiner Nervenfasern
quantitativ beurteilen zu können. Es misst sensorische Schwellenwerte wie zum
Beispiel Wärme- und Kälteempfindung oder durch Hitze bzw. Kälte hervorge-
rufenen Schmerz.

Abb. 3.
NSA-Befund
Ergotherapie in der Behandlung von Schmerzpatienten 365

Der Vibrationstest ist eine optimale Testmethode, der die quantitative Beurteilung
von Fehlfunktionen großer Nervenfasern erlaubt.
Am Ende der Sitzung wird ein Protokoll ausgedruckt.

Angio Experience
Das AngioE-PC-System ist eine nichtinvasive Messmethode zur Erfassung des
Gefäßzustandes peripherer Gefäße. Über vier Druckmanschetten werden die
Druckoszilationen an Fingern und Zehen gemessen und deren Amplitude inter-
pretiert.

Abb. 4. AngioE-Befund

Therapiemöglichkeiten: Ergotherapeutische Maßnahmen


Therapeutische Gespräche
Sind für mich sehr wichtig, um genügend Informationen über den Patienten und
seine Lebensgewohnheiten zu erhalten, weil diese in der Therapie miteingebaut
werden.
366 H. Trabe

Funktionelles Training
Mit Hilfe von kreativen Techniken, Spielen und Alltagsaktivitäten werden Mus-
kelkraft, Gelenksbeweglichkeit, Koordination, Sensibilität gefördert und in ge-
brauchsfähige Funktionen des Alltags umgesetzt.

Abb. 5. Solitärspiel mit Spitzgriff Abb. 6. Solitär mit Lumbrikalgriff

Hirnleistungstraining
Unter Hirnleistungstraining versteht der/die Ergotherapeut/in das Training kog-
nitiver Leistungsdefizite bezüglich Konzentration, Aufmerksamkeit, Raumsinn
und Verarbeitung räumlicher Informationen, Merkfähigkeit und logischem Den-
ken, Planen und Handeln.
Vorwiegend wird es bei Apraxie, beim Neglect und bei Hemianopsie als The-
rapie eingesetzt.

Abb. 7. Turm von Harnoi

Selbsthilfetraining ATL und Hilfsmittelversorgung


(Rollstuhl, Rollmobil …)
Mit der Hilfsmittelversorgung und dem dazugehörigen Training sowie mit dem
Selbsthilfetraining (ATL) sollte der/die Ergotherapeut/in dem Patienten seine
Ergotherapie in der Behandlung von Schmerzpatienten 367

größtmögliche Unabhängigkeit von fremder Hilfe im Alltag ermöglichen. Bei Be-


darf ist eine Abklärung der Wohnsituation vor Ort durchzuführen.

Schienenversorgung
Die Schienenversorgung lässt sich in statische Schienen, die zur Prophylaxe und
Korrektur von Schonhaltungen und Deformitäten oder Kompensation bei Funk-
tionsausfällen dienen und in dynamische Schienen, die zur Vergrößerung des
Bewegungsumfanges sowie zum Krafttraining eingesetzt werden, einteilen.

Abb. 8. Lagerungschiene bei CRPS

Gelenkschutzberatung
Die Gelenksschutzberatung wird zum Erlernen entlastender, achsengerechter
Gelenksbeweglichkeit und zur Vermeidung von Gelenksdeformitäten benötigt.

Rückenschule und Wirbelsäulenberatung


Dies bedeutet eine konsequente Verhaltensveränderung bei allen Tätigkeiten des
persönlichen Alltags wie beim Liegen, beim Sitzen, beim Stehen, beim Gehen,
beim Heben, beim Tragen und beim Arbeiten.

Wöchentliche Gruppensitzungen gemeinsam mit Psychologen


Einmal wöchentlich wird gemeinsam mit dem Psychologen über das Thema
„Schmerz lass nach ...“ sowohl mit ambulanten als auch stationären Patienten
eine Gruppensitzung abgehalten. Ziel dieser Gruppe ist es, Informationen über
diverse Krankheitsbilder sowie Behandlungsmethoden und Lösungsstrategien zu
erarbeiten. Weiters werden für zuhause Entspannungstechniken eingelernt.
368 H. Trabe

Um die ursprünglichen Funktionen zu erreichen werden


folgende Mittel eingesetzt
Handwerkliche Techniken
– Textiles gestalten – wie Seidenmalerei, Weben;
– Specksteinbearbeitung
– Arbeiten mit Ton
– Holzbearbeitung

Abb. 9. Seidenmalen

Abb. 10. Flechten mit Peddiggrohr


– Lederbearbeitung
– Metallbearbeitung – Drahtbiegearbeiten
– Hinterglasmalerei
– Buchbinden
– Künstlerisches Gestalten

Abb. 11. Wanddekoration Abb. 12. Bilderrahmen aus Nudeln


Ergotherapie in der Behandlung von Schmerzpatienten 369

Spiegel-Therapie
durch kognitive Imaginationsstrategien lernt der Patient sich bestimmte Bewe-
gungen der Hand bewusst vorzustellen ohne diese auszuführen. Der Spiegel bie-
tet dem Patienten hier die Möglichkeit, eine schmerzfreie Bewegung der betrof-
fenen Seite im Spiegel zu sehen. Diese Techniken scheinen bestimmte Hirnareale
zu aktivieren, die einen positiven Einfluss auf das Körperschema und Bewe-
gungsprogramm haben.

Abb. 13. Spiegeltherapie bei Verletzung


der linken Hand

Computertraining
Das Computertraining wir vom/von der Ergotherapeut/in eingesetzt, um kogniti-
ve Defizite zu trainieren.

Physikalische Maßnahmen und deren Wirkung


Magnetanwendung mittels
Permanentmagnet und Magnetfeldtherapie
Elektromagnetische Felder zeigen ihre primäre Wirkung in den molekularen Be-
reich der Organismen. Sie liefern einen energetischen Beitrag zur Aktivierung
biochemischer Prozesse.

Abb. 14. Permanentmagnetanwendung


370 H. Trabe

Lasertherapie
Laserstrahlen stimulieren im Gewebe komplexe Heilprozesse. Sie wirken ent-
zündungshemmend und analgetisch, regenerieren das Gewebe und verbessern
die Mikrozirkulation.

Paraffinbad
Die Wärme von Paraffin hat eine wohltuende Wirkung. Sie lockert steife Gelenke,
verbessert die Durchblutung, spendet trockener Haut Feuchtigkeit und macht sie
geschmeidig, entspannt die Muskeln und lindert Schmerzen.

Schröpfen und Schaben


Sowohl vom/von der Ergotherapeuten/in (mit Zusatzausbildung) als auch
vom/von der Physiotherapeuten/in wird das Schröpfen und Schaben als eine alt-
bewährte alternative Heilmethode zur Behandlung von chronischen wie auch
akuten Beschwerden angewandt.

Abb. 15.
Schröpfen bei Muskelverspannung

Die Aufgabe des Therapeuten ist es, das Krankheitsbild korrekt zu interpretie-
ren, um die richtige Wahl der Therapiemöglichkeiten – sowohl der handwerkli-
chen Techniken als auch der physikalischen Maßnahmen – zu treffen.
Trotz aller medizinischen und technischen Hilfsmittel hängt der Erfolg der
Therapie zum größten Teil von der Motivation zur Mitarbeit und den unter-
schiedlichsten Lebensumständen des Patienten ab.
Ergotherapie in der Behandlung von Schmerzpatienten 371

Abb. 16. Ergotherapie Befund Dokumentation


372 H. Trabe

Literatur
Füchtenbusch A, Bringmann W (2004) Lasertherapie und Laserpunktur. Füchtenbusch und
Kolbeck, München
Hagedorn R (2000) Ergotherapie: Theorien und Modelle. Thieme, Stuttgart
Hasselblatt A (1985) Ergotherapie in der Orthopädie. Bardtenschlager, München
Presber W, Déneve W (1997) Ergotherapie: Grundlagen und Techniken. Ullstein, Berlin
Scheppers C, Steding-Albrecht P J (2000) Ergotherapie: Vom Behandeln zum Handeln. Thieme,
Stuttgart
Tierra M (2005) Heilen mit Magneten. Windpferd, Oberstdorf
Waldner N (1997) Ergotherapie in der Handrehabilitation. Springer, Wien New York
Zittlau J (2005) Schmerzen lindern mit Magneten. Südwest, München

Weiterführende Links
www.klinikum.uni-heidelberg.de/Ergotherapie
www.afgib.de/Nichtarztliche_Berufsgruppen/Ergotherapie
www.ergotherapie-dve.de
www.ergotherapie.at
Revision

Musik in der Pflege

H.-P. HESSE und G. BERNATZKY


H.-P. Hesse und G. Ber natzk y

Mensch und Musik

Ziel dieses Beitrages ist es nicht nur, Beispiele für die Anwendung von Musik in
der Pflege zu bringen, sondern es geht vorrangig darum, den Gründen für die
Wirkung von Musik nachzugehen. Einblicke in diese Zusammenhänge sollen
dabei helfen, das Potenzial der Musik in der Pflege sinnvoll zu nutzen.
Der Einfluss von Musik auf Körper und Psyche zählt für fast alle Menschen
zu den alltäglichen Erfahrungen. Musik kann den menschlichen Körper aktivie-
ren, eine frische Morgenmusik vermag die Reste des Schlafs aus Kopf und Glie-
dern zu vertreiben. Ihr mitreißender Antrieb kann zu Bewegung anregen, zu Ge-
selligkeit und Tanz auffordern und Menschen bei gemeinsamen Tätigkeiten
verbinden. Die beflügelnde Wirkung eines Wanderliedes kann die müden Beine
bei langem Marsch ermuntern. Damit verbunden, kann Musik die Stimmung
positiv beeinflussen. Ihr aktivierender Effekt zieht Optimismus nach sich und
drängt trübsinnige Gedanken zurück. Musik hilft bei Einsamkeit, kann von
Sorgen und Problemen ablenken und das Gefühl des Dazugehörens, der Ge-
meinschaft mit Gleichgesinnten vermitteln. Sogar im Extremfall einer Trauerfeier
kann sie zum Mitsingen anregen und dadurch aus dem Gefühl der Hilflosigkeit
herausführen.
Auf der anderen Seite beruhigt Musik von bestimmtem Charakter Körper
und Seele. Ein Wiegenlied kann einem Kind Geborgenheit vermitteln, Musik
kann Jugendliche und Ältere aus den Zwängen des Alltagsgetriebes lösen und
ihnen Entspannung schenken. Ihre psychischen Kräfte können sich auf innere
Welten richten, sie können Erinnerungen auslösen, zum ziellosen Träumen anre-
gen oder für tiefe mystische Empfindungen öffnen. Es gibt nur wenige Men-
schen, die musikalischen Klängen gegenüber so gleichgültig sind, dass sie diese
Wirkungen nicht verspüren oder nicht verspüren wollen. Solche antimusikalische
Einstellung gibt es zwar; man findet sie unter extremen Materialisten, vor allem
bei Menschen, deren Psyche in der Kindheit gewaltsam verbogen wurde. Aber
374 H.-P. Hesse und G. Bernatzky

glücklicherweise bilden sie relativ seltene Ausnahmen. Es überrascht daher nicht,


wenn seit jeher vielerlei Versuche – zum Teil mit großem Erfolg – unternommen
werden, die angesprochenen Wirkungen der Musik in den unterschiedlichsten
Bereichen von Therapie und Pflege zu nutzen (Decker-Voigt 2001).

Musik und Therapie


Ehe wir mögliche Beispiele ihrer Anwendung erläutern, sollen zwei Sachverhalte
klargestellt werden. Häufig, aber nicht selten zu Unrecht, wird der Begriff Musik-
therapie pauschal benutzt, um die Verwendung von Musik im Rahmen von The-
rapie und Pflege zu bezeichnen. Man sollte in dieser Hinsicht jedoch differenzie-
ren: Musiktherapie ist eine wissenschaftlich fundierte, diagnosespezifische Nutzung von
Musik oder von musikalischen Elementen zu Heilzwecken. Nicht jede Darbietung
oder Ausführung von Musik ist also im engeren Sinne Therapie; ebenso wenig
wie gute Nahrung, auch wenn sie die Gesundheit fördert, als Medizin zu be-
zeichnen oder jedes Gespräch ein psychotherapeutisches Gespräch ist. Die
Durchführung einer Therapie erfordert speziell ausgebildete Therapeuten, und
das gilt auch für die Musiktherapie, insbesondere für ihre Anwendung im Bereich
der Psychiatrie. Hier wird Musiktherapie im Rahmen einer umfassenden Psycho-
therapie eingesetzt, wobei der Patient nicht mit der Musik sich selbst überlassen
bleibt, sondern die Musik in eine therapeutische Beziehung zwischen Patient und
Therapeut eingebunden wird. Wichtige Ziele sind hier:
1. die emotionale Aktivierung der Patienten, um eine neurotisch gestörte Ein-
schränkung des Erlebnisspektrums zu überwinden;
2. die Entwicklung der Bereitschaft, mit anderen Personen zu kommunizieren
und gruppendynamische Prozesse zu entwickeln;
3. die Regulierung vegetativer Prozesse, um psychisch bedingte organische Stö-
rungen zu reduzieren bzw. zu heilen.
4. Musiktherapie als Psychotherapie erfordert differenzierte methodische
Kenntnisse.
Außer derartigen, im eigentlichen Sinne therapeutischen Verfahren aber kann
Musik in vielen Bereichen als mediko-funktionale Musik eingesetzt werden und
andere therapeutische Maßnahmen komplementär ergänzen (Spintge 2001),
ohne dass in jedem Falle eine spezifische musiktherapeutische Ausbildung der
Pflegepersonen erforderlich wäre. Musik kann im Rahmen der Operationsvorbe-
reitung angstinduzierte Verspannungen verringern, bei Schmerzpatienten helfen,
die Aufmerksamkeit zu verschieben und das Gefühl der Hilflosigkeit aufzuheben
und sie vermag auch in Phasen der Rekonvaleszenz eine natürliche Spannungs-
regulierung zu unterstützen (Miller 2005). Im Rahmen der Pflege älterer Men-
schen kann selbst dann, wenn es der ärztlichen Kunst nicht möglich ist, eine
vollkommene Genesung zu erreichen, durch Singen die Atemfunktion und
durch die Verknüpfung von Musik und Tanz die körperliche Beweglichkeit akti-
viert werden (Tüpker und Wickel 2001) Diese gemeinsamen Unternehmungen
fördern außerdem das Gemeinschaftserlebnis und tragen dazu bei, die Lebens-
Musik in der Pflege 375

qualität der Patienten so weit zu heben, dass ihnen das Leben wieder lebenswert
erscheint (Hesse und Bernatzky 2005).

Musik und ihre Wirkung

Weit verbreitet – und damit sei der zweite vorab zu klärende Sachverhalt ange-
sprochen – ist die Vorstellung, dass Musik und ihre Wirkung fest aneinander ge-
koppelt seien, dass also jede Musik stets eine genau feststehende Wirkung auf
den Gesamtorganismus oder auf ein bestimmtes Organ habe. Diese Anschauung
ist eindeutig falsch! Nicht nur die Stärke, sondern auch die Art der Wirkung
hängt davon ab, wie der Mensch das beurteilt, was auf ihn einwirkt. Das gilt für
eine körperliche Berührung ebenso wie für die Wahrnehmung von Musik. Musik
kann zwar unterhalb der Bewusstseinsschwelle Bewegungsreflexe auslösen und
auf das vegetative Nervensystem wirken, aber die Bewertung der Effekte ist teils
an bewusste, teils an unbewusste Erfahrungen geknüpft, die sich naturgemäß bei
verschiedenen Menschen unterscheiden. Musik kann Erinnerungen an emotio-
nal positiv oder negativ gefärbte Erlebnisse wecken und entsprechende Gefühle
aktivieren. Ein schlichtes Heimatlied kann den Einsamen in der Fremde zu Trä-
nen rühren, während es andere völlig kalt lässt oder bei diesen sogar Aversionen
hervorruft. Die Beliebtheit musikalischer Gattungen ist sowohl vom Alter als
auch vom Bildungsstand abhängig. Beide Faktoren prägen die persönlichen Vor-
lieben und die Einschätzung erklingender Musik. Art und Stärke der Musikwir-
kung sind daher individuell durchaus verschieden.
Darüber hinaus ist eine weitere Differenzierung zu berücksichtigen. Musik
kann den Menschen auf verschiedenen Ebenen seiner Lebensfunktionen anspre-
chen. Musik wirkt als Klang auf das Nervensystem und löst Reflexe aus, die sich
äußerlich sichtbar z. B. im rhythmischen Wippen der Fußspitze zeigen, außerdem
innerlich in der Ausschüttung von Hormonen, deren Wirkung als Stimmung be-
wusst wird. Musik kann als Symbol verstanden werden, kann – wie oben erwähnt
– Erinnerungen wecken und daran gekoppelte Gefühle aktivieren. Bei aufmerk-
samem Hören kann Musik drittens kognitive Prozesse in Gang setzen, die in den
Beziehungen der Töne eine Sinn tragende Struktur, z. B. Frage und Antwort, Wie-
derkehr oder Verwandlung erkennen, und nun von der mentalen Ebene auf den
Körper zurückwirken, indem sie ein Wechselspiel von Spannung und Entspan-
nung generieren. Einzig diese Art und Weise des verständnisvollen Musikhörens
wollte Adorno als angemessen, als strukturelles Hören anerkennen (Adorno 1968).
Doch gerade die beiden anderen Funktionsebenen – Klangwirkung und
Symbolverstehen – können im Rahmen von Pflegeprozessen sinnvoll genutzt
werden. Grundsätzlich gilt, dass insbesondere bei aktiver Musikausübung, beim
Singen wie beim Spiel eines Instrumentes etliche, auch weit voneinander ent-
fernte Zentren des Gehirns tätig werden. Wenn jemand in einem Ensemble
spielt, so muss er zur gleichen Zeit die Noten lesen, sein Instrument spielen, d. h.
komplexe Bewegungsabläufe steuern, mit dem Gehör die erzeugten Klänge kon-
trollieren, auf die anderen Musiker hören, um Tempo und Intonation in Überein-
376 H.-P. Hesse und G. Bernatzky

stimmung zu halten, den Dirigenten und seine Handzeichen beobachten, oder


Pausen zählen, um Einsätze zu treffen, und – über all dies hinaus – die selbst
gespielte Stimme auf den klanglichen Gesamtprozess beziehen und sie in der
rechten Gewichtung in das musikalische Gemeinschaftsprodukt einfügen. Dies
erfordert nicht nur, die Aufmerksamkeit gleichzeitig auf verschiedene Wahrneh-
mungsbereiche zu richten, sondern auch, eine Vielzahl unterschiedlicher Aktivi-
täten wohl koordiniert zu steuern, nämlich physische und mentale, intellektuelle
und emotionale, willentliche und automatisierte, nach innen und nach außen ge-
richtete, bewusste und unbewusste. Wenige Handlungen sind so vielschichtig
wie das Spiel eines Musikinstruments. Und entsprechend groß ist das Glücksge-
fühl bei erfolgreicher Bewältigung der hochkomplexen Aufgabe.

Musik hören

Natürlich können alte, kranke oder genesende Menschen diese komplizierten


Abläufe in den meisten Fällen nur partiell bewältigen; daher steht in diesem Zu-
sammenhang nicht das aktive Musizieren sondern das Hören von Musik im Vor-
dergrund. Aber auch dann, wenn man Musik nicht selbst ausführt, sondern
wenn man einer musikalischen Darbietung zuhört, kann sie den Menschen in
verschiedenen Bereichen seiner Lebensfunktionen ansprechen und innerlich
bewegen. Eine der tiefsten Musikwirkungen stellt die sogenannte Gänsehaut dar,
die im Gehirn in Regionen, die unsere Emotionen steuern, starke Aktivitäten
auslösen (Blood und Zatorre 2001). Wie bei einem Konzertbesuch kann ein Pati-
ent sich unabhängig von allen äußerlichen Bewegungen kontemplativ den emo-
tionalen Prozessen hingeben und innere Bewegungen erleben, oder auch – im
Sinne Adornos – mit geistiger Konzentration die musikalische Struktur als span-
nungsvolles Gefüge erfahren.
Zwar in schwächerem Maße als beim aktiven Spiel in einem Ensemble – doch
in der Tendenz weitgehend vergleichbar – ist das Netz der beim Spielen aktiven
Hirnareale auch beim Hören von Musik aktiv. Selbst die motorischen Zentren,
die beim aktiven Musizieren die komplexen Bewegungsabläufe steuern, sind da-
von nicht ausgenommen. Soll eine Bewegung willentlich ausgeführt werden, so
müssen die Steuerungsareale des Gehirns in jedem Falle vorher aktiv werden,
um die Abfolge und das Zusammenspiel der verschiedenen Muskelgruppen auf
der Basis früherer Erfahrungen optimal zu koordinieren. Mit bildgebenden Ver-
fahren, die in den letzten Jahrzehnten entwickelt worden sind, konnte die Hirn-
forschung zeigen, dass die motorischen Zentren, die beim aktiven Musizieren die
Bewegungen vorbereiten und deren Ausführung steuern, bereits beim Hören von
Musik und bei der Vorstellung der die Klänge hervorbringenden Spielbewegun-
gen aktiv werden. Dies ist besonders deutlich ausgeprägt, wenn der Hörer die
betreffenden Bewegungsabläufe selbst beherrscht. Die Bewegungsimagination hat
heute im wissenschaftlich fundierten Sporttraining eine große Bedeutung ge-
wonnen und spielt auch in der Ausbildung von Musikinstrumentalisten als Men-
tales Training eine bedeutende Rolle (Amler et al. 2006).
Musik in der Pflege 377

Quantitativ den erheblichsten Anteil unter den Patienten bilden sicherlich


diejenigen, die Musik ohne eine spezifische Beziehung zur Sache nur als Unter-
haltung hören und in ihrem bisherigen Leben Musik nicht als Sinnzusammen-
hang verstanden, sondern nur als Reizquelle benutzt haben. Doch auch in diesen
Fällen kann Musik die Bedingungen für den Genesungsprozess verbessern oder
den Patienten helfen, einen Zuwachs an Lebensqualität zu gewinnen, indem
man Wirkungen von Musik nutzt, die auch ohne aktiven Beitrag des Patienten
zustande kommen. Grundvoraussetzung ist dabei, dass beim Patienten eine po-
sitive Erwartungshaltung vorhanden ist, indem man die persönlichen Vorlieben
des Patienten berücksichtigt und vor allem beachtet, welche musikalischen Gat-
tungen er ablehnt. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob dessen Einstellung
auf vernünftige Gründe oder einfach auf Vorurteile zurückzuführen ist. Innere
Spannungszustände lassen sich am besten lösen, indem man eine vertraute Um-
gebung herstellt, zu der Musik beitragen kann. Sie sollte Erinnerungen wachru-
fen und dadurch Geborgenheit vermitteln. (Weitere Details zur Erwartungshal-
tung: s. Beitrag Placebo/Nocebo in diesem Buch, S. 47–55).

Musik und Vegetativum

Ein Teil des menschlichen Nervensystems – der als Vegetativum oder vegetatives
Nervensystem bezeichnet wird – hat die Aufgabe, die lebenswichtigen chemi-
schen und physikalischen Vorgänge und Zustände innerhalb des Körpers zu
regeln und untereinander in einem dynamischen Gleichgewicht zu halten. Seine
zentralen Funktionen sind die Aufrechterhaltung der Körpertemperatur, die
Sauerstoffversorgung durch Atmung, Herzschlag und Blutkreislauf, die Steue-
rung von Blutzucker- und Hormonspiegel, die Kontrolle des Muskeltonus und
die Regelung vieler anderer biologischer Prozesse, die unterbewusst ablaufen
und deren Existenz wir normalerweise erst dann bemerken, wenn irgendeine
Störung der Funktionen aufgetreten ist.
Die höchst komplexe Steuerung dieser eng miteinander verzahnten Lebens-
vorgänge wird von entwicklungsgeschichtlich alten, an der Basis des Gehirns
zwischen den beiden Großhirnhemisphären liegenden neuronalen Netzwerken
im Zusammenwirken mit Teilsystemen des peripheren Nervensystems und che-
mischen Botenstoffen geleistet. Die einzelnen Zentren sind nicht nur unterein-
ander, sondern auch mit den für kognitive Verarbeitungsprozesse zuständigen
Regionen des Neokortex durch Nervenbahnen verknüpft, aber sie arbeiten selb-
ständig, autonom, und ihre Tätigkeit wird nicht unmittelbar bewusst. Die kom-
plizierten Regelungsvorgänge verblieben im Verlaufe der Evolution aus guten
Gründen im unterbewussten Bereich, denn lebensnotwendige Prozesse dürfen
nicht durch zeitaufwändige Überlegungen, Schwankungen der Aufmerksamkeit
oder gar Schlaf gefährdet werden. Erst der Zustand der Ausgewogenheit bzw.
dessen Störung wird dem Menschen schließlich als Stimmung bewusst.
Die verschiedenen, an den Steuerungsvorgängen beteiligten Nervennetze
werden durch überregional wirkende Zentren des Gesamtsystems aktiviert bzw.
378 H.-P. Hesse und G. Bernatzky

gehemmt. Entscheidende Bedeutung haben in dieser Hinsicht der Thalamus, ein


u. a. für die Schmerzempfindung wichtiges Zentrum, Hypothalamus und Hypo-
physe, die Zentrale für die hormonale Steuerung, und das Limbische System, in
dem die Gefühle generiert werden (Hesse 2003). Hier werden die von den Sin-
nesorganen ankommenden Erregungen aufgrund früherer Erfahrungen bewer-
tet, wodurch eine Gefühlstönung – Angst, Wut, Ekel, Freude oder Glück – zur
Sinnesempfindung hinzutritt. Bei neuen, aufregenden Ereignissen jeglicher Art
wird der Stoffwechsel im Körper gesteigert, um die körperliche und geistige Leis-
tungsfähigkeit zu erhöhen, bei Zufriedenheit dagegen werden Muskulatur und
innere Organe entspannt, schädliche Stoffwechselprodukte werden ausgeschie-
den, und der gesamte Organismus kann sich erholen. Viele emotionale Tönungen
gehen auf Erfahrungen in der frühen Kindheit zurück und bilden die Grundlage
für ein emotionales Gedächtnis (Hüther 2004).

Rhythmus

Ein charakteristisches Merkmal der autonom geregelten körperlichen Vorgänge


besteht darin, dass diese rhythmisch und nicht kontinuierlich verlaufen. Man
denke an Atmung, Herzschlag, Puls oder mit längeren Perioden die Zyklen von
Wachen und Schlafen, Verdauung und Ausscheidung. Die zeitlich-rhythmische
Ordnung umfasst die verschiedensten Körperfunktionen, deren Periodendauern
von Millisekunden bis zur Größenordnung von Jahren reichen. Die zahllosen
rhythmischen Lebensprozesse bilden eine geordnete Ganzheit, innerhalb derer
eine hierarchisch geordnete Abstimmung besteht (Haken und Koepchen 1991;
Hildebrandt et al. 1998). Viele der erwähnten Einzelvorgänge verlaufen synchron
oder bilden untereinander relativ feste rhythmische Verhältnisse, Puls- und
Atemfrequenz beispielsweise stehen im Ruhezustand im Verhältnis 4 :1.
Die Frequenzkoppelung wird im Allgemeinen bei Ruhe intensiviert, kann
bei Erregung dagegen in zunehmendem Maße gestört sein. Wut, Angst oder
Schmerz aktivieren instinkthafte Abwehrmechanismen, die Motorik, Atmung,
Herz-Kreislauf-Funktionen, Stoffwechsel und Wahrnehmung in Anspannungs-
zustände versetzen, denen nicht die natürlichen Entspannungsphasen folgen
(Cannon 1978). Allgemein gilt, wenn aus der Außenwelt Information einfließt,
werden – auch wenn es sich nicht um Alarm-Reaktionen handelt – in jedem Fal-
le die internen rhythmischen Prozesse modifiziert, d. h., der Organismus reagiert
auf die Bedingungen der Außenwelt. Wirkt ein regelmäßiger externer Rhythmus
auf die inneren Prozesse ein, so beeinflusst er deren Periodizität. Man bezeichnet
diese unterbewusste Rückwirkung als Magneteffekt.
Es ist evident, dass der metrisch geordnete zeitliche Verlauf von Musik im
menschlichen Körper eine Reihe von Prozessen beeinflussen kann, die unter der
Kontrolle des vegetativen Nervensystems stehen und daher vom Willen weitge-
hend unabhängig sind. Musik kann erwünschte Regulierungen bewirken, indem
sie bestimmte Frequenzen innerhalb des komplexen Systems anregt bzw. dämpft
und den Menschen auf diesem Wege zu aktivieren bzw. bei entsprechendem
Musik in der Pflege 379

Charakter zu beruhigen vermag. In vielen klinischen Studien wurde die anxioly-


tische (angstlösende) Wirkung von Musik – insbesondere durch Analysen des
Hormonspiegels – systematisch untersucht. Die Ergebnisse zeigten eindeutig
positive Effekte, nicht zuletzt eine erhebliche Reduzierung der ohne Musikan-
wendung üblichen Medikationsdosierung (Bernatzky et al. 2006). Spintge bietet
eine umfassende Übersicht über psychophysiologische Effekte von Musik in der
Anästhesie und Schmerztherapie (Spintge 1992).
Das Forschungsnetz Mensch und Musik am Mozarteum in Salzburg widmete
eine Studie der Wirkung unterschiedlicher Musik auf Funktionen des menschli-
chen Körpers, in denen sich sein Erregungsniveau spiegelt. Als Indikatoren wur-
den der elektrische Hautleitwert, Körpertemperatur, Pulsamplitude und Pulsfre-
quenz, Atemfrequenz und Atemamplitude, Blutdruck und Elektromyogramm
fortlaufend registriert. Die Messwertreihen erwiesen deutliche, mit dem Charak-
ter der Musik korrelierende Verschiebungen der Frequenz- und Amplitudenwer-
te, und bestätigten damit die Stress mindernde Wirkung von Musik durch exakte
Messwerte (Hesse et al. 2003).
Oberhalb einer Lautstärke von etwa 65 Phon – die beim Betrieb elektro-
akustischer Geräte in der Umgangssprache als Zimmerlautstärke bezeichnet
wird – ist es allerdings nicht möglich, sich der elementaren Klangwirkung
zu entziehen, auch wenn man sich willentlich dagegen auflehnen sollte. Daher
ist es äußerst wichtig, einen Patienten nicht durch Musik zu „vergewaltigen“,
ohne dass er ihr entfliehen kann, sondern dass man seinen individuellen Zu-
stand und unter Umständen sein Ruhebedürfnis respektiert. Denn neben dem
Einfluss konstitutioneller Unterschiede sind Art und Stärke der Musikwirkung
(s. oben) teils an unbewusste, teils an bewusste Erfahrungen geknüpft und aus
diesen Gründen individuell sehr verschieden. Darüber hinaus ist die Bewertung
nicht festgelegt, sondern kann sich durch neue Erfahrungen lebenslang verän-
dern.
Grundsätzlich gilt, dass Musik nicht nur ausschließlich auf ein bestimmtes
Organ wirkt, sondern dass sie die Fähigkeit des Organismus, seine internen Pro-
zesse zu regulieren, anregt. Aufgrund der Wechselwirkungen zwischen organi-
schen und psychischen Vorgängen richtet sich Musik an die gesamte Person und
deren körperliche, emotionale und geistige Funktionen. Diese sind bei den
einzelnen Personen einerseits verschiedenartig entwickelt und können anderer-
seits – dem augenblicklichen Zustand des Patienten entsprechend – zu verschie-
denen Zeiten in unterschiedlichem Maße angesprochen werden. In dieser Hin-
sicht ist also Fingerspitzengefühl erforderlich. Keinesfalls darf der Patient einer
akustischen Dauerberieselung ausgesetzt werden, wie sie in manchen Kaufhäu-
sern praktiziert wird und sensible Menschen eher zum raschen Verlassen des
Hauses drängt als zum Kauf zu animieren. Der Patient kann seine Umgebung
nicht frei wählen. Grob übertrieben könnte man diese Form auch als „musikali-
sche Umweltverschmutzung“ bezeichnen.
380 H.-P. Hesse und G. Bernatzky

Grundsätzliche Regeln

Bei der Entscheidung, welche Musik unter welchen Bedingungen für welche
Patienten ausgewählt werden soll, müssen grundsätzlich die persönlichen Präfe-
renzen des Patienten respektiert werden. Individuelle Erinnerungen und Assozia-
tionen haben wesentlichen Einfluss auf Art und Stärke der Reaktionen. Die Bereit-
schaft des Patienten, sich überhaupt auf das Hören von Musik einzulassen, hängt
in hohem Grade von dessen grundsätzlicher Einstellung zur Musik – genauer ge-
sagt von dessen Wertschätzung bzw. Ablehnung musikalischer Stilrichtungen –
ab. Diese geht in vielen Fällen nicht auf objektive Gründe, sondern auf die Ab-
grenzung gesellschaftlicher Gruppen zurück, die sich durch Alter, Bildungsgrad
oder sozialen Status unterscheiden und aufgrund von wenigen Merkmalen oder
Vorurteilen mit einem bestimmten musikalischen Genre identifiziert werden. Für
einen „gebildeten Bürger“ hat ein Brandenburgisches Konzert Johann Sebastian
Bachs eine andere Bedeutung als beispielsweise für einen Bergbauern, dem im
Gegensatz zu jenem der Klang der steirischen Harmonika vertraut ist, was jedoch
dem sogenannten „gebildeten Bürger“ wiederum fremd sein kann.
Weil aber die Musikwirkung nur zum Teil auf strukturelle Merkmale der Mu-
sik zurückzuführen ist, sollte man bei der Auswahl der Musikstücke die Wünsche
des Patienten berücksichtigen bzw. dem Patienten die Möglichkeit geben, zwi-
schen verschiedenen stilistischen Richtungen auszuwählen. So wie nicht jedem
Patienten dasselbe Medikament genau gleich gut tut, kann auch nicht jedem
Menschen dieselbe Musik angeboten werden. Jeder Mensch hat seine eigene
Geschichte, die Einfluss sowohl auf die Medikamentenwirkung als auch auf die
Musikempfindung hat!

Es könnte Musik aus folgenden Kategorien angeboten werden:


1. Speziell für diesen Zweck komponierte Entspannungsmusik. Eine Reihe derar-
tiger Kompositionen mit sanft und behaglich wirkenden Klängen und stati-
schem, in sich ruhendem Charakter werden im Handel angeboten. Teilweise
ist die Musik mit verbalen Anleitungen zur Selbstsuggestion unterlegt und in
dieser Form besonders wirksam (Bernatzky et al. 2007).
2. Aktuelle Popmusik, die dem Patienten aus den täglichen Rundfunkprogram-
men geläufig ist. Sie kann vor allem jüngeren Leuten in einer Stress-Situation
von situationsbedingten Ängsten und auch von Schmerzen ablenken, sowie
dabei helfen, Wartezeiten bis zu einem bevorstehenden medizinischen Ein-
griff zu überbrücken.
3. Ältere Schlager, Evergreens. Patienten in reiferem Alter ziehen in den meisten
Fällen eine vertraute, ruhige Hintergrundsmusik den moderneren Musiktiteln
vor.
4. Volksmusik. Landschaftstypische Instrumentalmusik kann ein Wir-Gefühl ver-
mitteln und dem Gefühl der Verlassenheit entgegenwirken.
5. Klassik. Dieser unscharfe, aber übliche Begriff bezeichnet ein riesiges Reper-
toire unterschiedlichster Musikstücke, das zweifellos die größten Möglichkei-
Musik in der Pflege 381

ten zur Auswahl bietet. Eingängige lyrische Musikstücke mit beziehungsrei-


chen melodischen Wendungen können den Kortex derart gefangen nehmen,
dass andere Reize kaum oder gar nicht mehr ins Bewusstsein dringen, sodass
eine Harmonisierung der vegetativen Prozesse und damit verbunden auch
eine Schmerzlinderung eintreten kann.
Instrumentalmusik ist Vokalmusik fast immer vorzuziehen, da der gesungene
Text analytische Denkvorgänge auslösen kann, die den erwünschten unterbe-
wussten Regulationsprozess beeinträchtigen können. Ein längeres Musikpro-
gramm sollte aus einzelnen, relativ kurzen Musikstücken mit einer Dauer von
etwa fünf bis acht Minuten zusammengestellt werden. Die Übergänge sind je-
weils sanft ein- und auszublenden. Dadurch wird dem Patienten der Einstieg in
das Programm ebenso wie dessen Beendigung zu einem gewünschten Zeitpunkt
erleichtert. Selbst zusammengestellte Musikprogramme können heute mit relativ
leicht bedienbarer Computer-Software auf CD gebrannt werden. Der Fachhandel
kann darüber Auskunft geben.
Als Faustregeln für die Auswahl geeigneter Musik aus einer der genannten
Kategorien kann man sich an folgenden Zusammenhängen zwischen musikali-
scher Charakteristik und deren körperlicher Wirkung orientieren (s. Tabelle 1):
Schnelles Tempo, häufige Tempowechsel und tänzerischer Dreiertakt wirken
anregend, während zweizeitige (gerade) Taktarten in gleichmäßigem Tempo un-
terhalb der Herzfrequenz beruhigend wirken.
Musik in großer Lautstärke mit starken Akzenten stimuliert, während sanft
pulsierende Musik in geringer Lautstärke entspannt.

Tabelle 1. Musikalische Charakteristik und deren körperliche Wirkung

Aktivierende Wirkung Beruhigende Wirkung

Intensität
große Lautstärke geringe Lautstärke
große Lautstärkeänderungen geringe Lautstärkeänderungen
starke Akzente weiches Pulsieren
Zeitablauf
schnelles Tempo Tempo in oder unterhalb der
Herzfrequenz
häufige Tempowechsel gleichmäßiges Tempo
tänzerischer Dreiertakt zweizeitige (gerade) Taktarten
Tonhöhenstruktur
großer Tonhöhenumfang geringer Tonhöhenumfang
weite Intervalle (melodische Sprünge) enge Intervalle (Tonschritte)
aufwärts gerichtete Intervalle abwärts gerichtete Intervalle
Klangcharakter
hell strahlende Klangfarbe gedämpfte Klangfarbe
dissonante Zusammenklänge konsonante Zusammenklänge
weiter Bereich der Harmonik einfache Harmonik
382 H.-P. Hesse und G. Bernatzky

Hell strahlende Klangfarben (z. B. Trompete) und reibungsvolle Zusammen-


klänge aktivieren, konsonante Klänge in weichen Klangfarben wirken harmonisie-
rend.
Weite, aufwärts gerichtete melodische Sprünge aktivieren wie eine entspre-
chende Bewegung, während enge, eher abwärts gerichtete Tonschritte eine Er-
regung dämpfen.

Technische Möglichkeiten zur optimalen Musikwiedergabe

Unverzichtbar ist eine einwandfreie technische Qualität der wiedergegebenen


Musik. Infrage kommen heute praktisch nur noch digitale Tonträger wie die CD.
Während früher in der Musiktherapie ohne Probleme Schellackplatten eingesetzt
werden konnten, kann ein damals unvermeidliches Rauschen, Knistern oder
Knacken aufgrund der heute üblichen Hörerfahrungen jede erhoffte Wirkung ins
Gegenteil verkehren. Gerade die gerne verwendeten CD-Player sind wegen ihrer
leichten Entfernbarkeit bzw. mangelnder Reinigungsmöglichkeit (aufgrund ihrer
Beschaffenheit) schwierig in der Verwendung. Auch muss auf die Problematik,
dass häufig zu kleine Knöpfe zur erleichterten Bedienung vorhanden sind, hin-
gewiesen werden. In einer Zusammenarbeit mit der Fa. Reditune (Salzburg,
www.reditune.at) wurde daher eine Anlage entwickelt, die alle Forderungen zur
praktischen Umsetzung einer rezeptiven Musiktherapie im Krankenhaus erfüllt.
Die Musikwiedergabe über Kopfhörer oder durch in die Kopfkissen integrier-
te Minilautsprecher ist derjenigen durch Raumlautsprecher vorzuziehen. Für den
Patienten haben Kopfhörer den Vorteil, dass sie neben guter klanglicher Wieder-
gabe gegenüber Umgebungsgeräuschen abschirmen und für die Personen in der
Umgebung, dass die Musik für sie keine ungewollte Geräuschkulisse bildet. Da
die Hörempfindlichkeit sehr unterschiedlich ist, sollte der Patient unbedingt die
Möglichkeit haben, die Lautstärke nach individuellem Bedürfnis stufenlos selbst
zu regeln. Es versteht sich von selbst, dass die benutzten Geräte abwaschbar und
desinfizierbar sein müssen. Diese wichtige Forderung wird letztlich von dem für
die speziellen Zwecke der Krankenhausanwendung entwickelten Geräte mit
Einwegkopfhörer erfüllt (Fa. Reditune Österreich Bornhauser KG, A-5016 Salz-
burg, Guggenmoosstraße 1b Tel.: +43 (0)662 833915-22 Fax: -53, Mail: office@
reditune.at <mailto:office@reditune.at>, URL: www.reditune.at). Besonders wich-
tig ist, dass mit diesem neu entwickelten Gerät sowohl medizinisches als auch
individuelles Musikprogramm abgespielt werden kann.

Linderung und Genesung

Gute Pflege umspannt ein breites Spektrum von Maßnahmen, die dem Patienten
eine Linderung seiner Beschwerden verschaffen (Bernatzky et al. 2006) und ihm
so weit wie möglich bei der Wiederherstellung seiner Gesundheit helfen. Beide
Intentionen können durch Musikhören erheblich unterstützt werden. Dabei
Musik in der Pflege 383

greifen physische und psychische Wirkungen, die wir aus Gründen der Über-
sichtlichkeit nacheinander ansprechen, wechselseitig ineinander.
Wenn ein Hörer sich angenehm empfundener Musik hingibt und sich in ih-
ren Rhythmus hineinziehen lässt, so werden aufgrund des oben angesprochenen
Magneteffekts die durch Angst oder Schmerzen ausgelösten körperlichen Span-
nungen gelockert. Das limbische System wird durch angenehm erscheinende
Musik unmittelbar angesprochen und aktiviert, sodass es dadurch zu einer
Muskelrelaxation kommt und sich nach und nach ein Wärmegefühl im Körper
ausbreitet. Parallel dazu harmonisieren sich aus der Balance geratene, vom Vege-
tativum gesteuerte Lebensprozesse. Das Herz-Kreislaufsystem reagiert, indem
sich der Atemrhythmus stabilisiert und das Atemvolumen abgesenkt wird. Die
Ausschüttung von Botenstoffen wie Adrenalin, Dopamin, ACTH und Cortisol
nimmt ab und in entsprechendem Maße geht der Grundumsatz zurück. Als Fol-
ge wächst die Schlafbereitschaft. Über die heilsame, wohltuende Wirkung des
Schlafes braucht man kein weiteres Wort zu verlieren.
Gelingt es dem Patienten nicht unmittelbar, sich von der musikalischen Be-
wegung gefangen nehmen zu lassen, so ist es hilfreich, das emotionale Gedächtnis
anzusprechen und Erinnerungen an glückliche Zeiten auszulösen. Die assozia-
tive Verknüpfung der erklingenden Musik mit inneren Bildern lenkt die Auf-
merksamkeit von der Beobachtung körperlicher Schmerzen und angstinduzierter
Spannungen ab, und stärkt das Gefühl der Geborgenheit, das Verkrampfungen
entgegenwirkt, den Körper für die erwünschten Magneteffekte zugänglich macht
und die Toleranz gegenüber Schmerzempfindungen anhebt. In den meisten Fäl-
len ist es zweckmäßig, zunächst beruhigende, lyrische Musikstücke zu wählen,
man könnte sie „Wiegenlieder für Erwachsene“ nennen. Es kann aber auch
hilfreich sein, den Patienten zunächst mit einer beschwingten, mitreißenden Me-
lodie zu stimulieren, um ihn aus der Verspannung zu lösen. Eine später folgende,
behaglich oder verträumt klingende Komposition bewirkt dann eine umso
stärkere Entspannung. Diesen Effekt haben sich Komponisten seit jeher in mehr-
sätzigen Musikwerken zunutze gemacht.

Zusammenfassung

Musik kann einerseits auf ästhetische Ziele gerichtet sein und über den Hörsinn
Schönes vermitteln, andererseits kann sie als funktionale Musik auch außermusika-
lischen Zwecken dienen. Liegen diese im Heil- und Pflegebereich, so spricht man
im allgemeinen Sinne von Musiktherapie. Im speziellen Sinne ist zu unterscheiden
zwischen Musiktherapie als Fachgebiet innerhalb der Psychotherapie und
mediko-funktionaler Musik, die im Rahmen der medizinischen Versorgung von
Patienten mit dem Ziel eingesetzt wird, die nüchterne so genannte Apparatemedi-
zin durch die gefühlsbetonten Aspekte von Musik komplementär zu ergänzen. Sie
kann auf sanfte Weise Entspannungsvorgänge unterstützen, das Schmerzerleben
lindern oder – allgemein ausgedrückt – wirkungsvoll dabei helfen, Störungen im
biochemischen und psychischen Gleichgewicht zu überwinden.
384 H.-P. Hesse und G. Bernatzky

Die Hoffnung, einen Katalog von geeigneten Musikstücken für jede medizi-
nische Indikation zu liefern, stellt zur Zeit noch eine Vision dar. Ebenso sind die
Bestrebungen, Musik als Musikament zu betrachten, bzw. Musik im Sinne eines
Medikamentes per Rezept zu verschreiben noch reine Visionen, die hoffentlich
bald Realität werden (Bernatzky 2003; Bernatzky 2006). Wissenschaftliche Stu-
dien sind zweifelsohne wichtige Informationsquellen für die sinnvolle Verwen-
dung von Musik in der Therapie kranker Menschen (Bernatzky 2007; Hillecke
2007).
Dennoch seien als kleine Hilfe bei der Suche nach geeigneter Musik zum
Schluss einige Musiktitel angeführt, die sich vielfach bewährt haben. Diese oder
andere Musikstücke könnten dem Patienten im Laufe eines Gesprächs als klin-
gende Beispiele angeboten werden. Viele Patienten sind zwar zunächst skeptisch,
doch die persönliche Zuwendung wird ihre Bereitschaft erhöhen, sich auf das
Hören von Musik einzulassen. Deren wohltuende Wirkung wird sie endgültig
überzeugen.

Beispiele
Wolfgang Amadeus Mozart: Klarinettenkonzert A-Dur, KV 622, 2. Satz: Adagio
Edvard Grieg: Peer Gynt, Suite Nr. 1 op. 46, 1. Satz: Morgenstimmung
Peter Tschaikowsky: Konzert Nr. 1 für Klavier und Orchester b-Moll op. 23, 2. Satz
Mehrsätzig:
Antonio Vivaldi: Die vier Jahreszeiten. Konzerte für Violine, Streicher und Basso continuo op. 8,
Nr. 1–4

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Revision

Aktive Musiktherapie in der Schmerztherapie

T. HILLECKE, A. F. WORMIT, B. BAUMGARTH,


H. J. BARDENHEUER, R. OELKERS-AX und H.V. BOLAY
T. H i ll ecke e t al .

Einleitung

Der Einsatz von Musik als Medizin war schon in der Antike bekannt und ist im-
mer noch weltweit in Eingeborenenkulturen, u. a. zum Zwecke der Schmerzkon-
trolle, verbreitet. Musiktherapie beruht also auf einer langen Tradition. Aber erst
ab den 1950er Jahren bildete sich die moderne Musiktherapie, deren Entwick-
lung zunächst durch die Übernahme von Theorien aus den damals bestehenden
und seither entstandenen Psychotherapieschulen (Psychoanalyse, Verhaltensthe-
rapie und Humanistische Therapie) gekennzeichnet war. Parallel dazu verlief die
zunehmende Akademisierung von Musiktherapie, indem international Musik-
therapiestudiengänge implementiert wurden. In Amerika und Europa hat sich
Musiktherapie mit unterschiedlichen Schwerpunkten inzwischen fest in der aka-
demischen Lehre und in vielen Anwendungsfeldern etabliert. Sie ist heute zu ei-
nem wichtigen Bestandteil in der psychiatrischen, psychotherapeutischen, psy-
chosomatischen und allgemein-medizinischen Versorgung geworden. Seit den
1980er Jahren entstanden Wirksamkeitsstudien (Standley 1986), die heute in um-
fangreichen Metaanalysen zusammengefasst werden (Argstatter et al. 2007). Sie
dokumentieren eindrucksvoll die Wirksamkeit von Musiktherapie in verschiede-
nen Anwendungsbereichen.
Seit den 1990er Jahren entwickelte sich im deutschen Sprachraum neben der
rezeptiven Musiktherapie bei akuten und chronischen Schmerzen (vgl. Spintge
2000) die aktive Musiktherapie bei chronischen Schmerzen (vgl. Müller-Busch
1997; Risch 2005). In den Jahren von 1999 bis 2007 wurden von unserer Arbeits-
gruppe drei Musiktherapiemanuale nach dem Heidelberger Modell entwickelt
und entsprechend den Standards der Psychotherapieforschung evaluiert. Zu-
nächst richtete sich der Fokus auf Patienten mit chronischen, nicht-malignen
Schmerzen (Hillecke und Bolay 2000), dann auf kindliche Migräne (Leins 2006)
und schließlich auf maligne Schmerzen (Wormit 2008).
388 T. Hillecke et al.

Abgrenzung aktiver von rezeptiver Musiktherapie

Musiktherapie beinhaltet den empirisch begründeten Einsatz von Musik bei


Patienten mit psychischen und somatischen Erkrankungen. Dabei kann Musik-
therapie sowohl als psychotherapeutisches, als auch als medizinisches Verfahren
eingesetzt werden. Die Übergänge zwischen Musikpsychotherapie und Musik-
medizin sind jedoch fließend. Musiktherapie als psychotherapeutisches Verfahren
bezieht durch die Musik besonders nonverbale Aspekte des Verhaltens und Erle-
bens und insbesondere Gefühle und Emotionen, zusätzlich zu reflektierenden
Gesprächen, in den Therapieprozess ein (Gathmann 2003). Sie wird sowohl aktiv,
wenn Patient und Therapeut gemeinsam musizieren, als auch rezeptiv ange-
wandt, wenn Patienten therapeutische Musik hören.
Die aktive Musiktherapie beinhaltet alle Arten der Musiktherapie, an denen
der Patient instrumental und stimmlich beteiligt ist (Eschen 1996). Kernstück ist
die methodische Arbeit mit Improvisationen (Wigram 2004). Musiktherapeuten
spielen gemeinsam mit den Patienten nach bestimmten Vorgaben, wobei die
Patienten keine musikalischen Vorkenntnisse benötigen. Ziel dieser Improvisa-
tionstechniken ist es, spezifizierbare therapeutische Wirkungen zu entfalten, die
die Bereiche Emotion, Kognition und Verhalten umfassen. Die musiktherapeuti-
sche Improvisation kann sowohl über Vorgaben wie Lied, Komposition oder
Harmonieschema entstehen, als auch aus dem Augenblick heraus (Weymann
1996) oder sich in spezifischen Musiktherapietechniken realisieren. In der akti-
ven Musiktherapie wird gelegentlich auch komponierte Musik verwendet.
Im Gegensatz dazu steht bei der rezeptiven Musiktherapie das Hören von Mu-
sik im Mittelpunkt. Ab den 1970er Jahren verlor jedoch die rezeptive gegenüber
der aktiven Musiktherapie an Bedeutung (Frohne-Hagemann 2004).

Theoretische Begründung aktiver Musiktherapie bei


chronischen Schmerzerkrankungen

Chronische Schmerzen werden heute umfassend im Rahmen des „biopsychoso-


zialen Modells“ (Engel 1997) betrachtet. Demnach werden bei Erkrankungen
komplexe Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychologischen und so-
zialen Faktoren angenommen. Biologische Faktoren umfassen hauptsächlich die
biomedizinische Betrachtungsweise. Eigenheiten des persönlichen Erlebens und
Verhaltens sowie der individuelle Lebensstil werden dem psychologischen Faktor
zugeordnet. Soziale Aspekte beinhalten familiäre, berufliche und andere umwelt-
bezogene Lebensbedingungen bis hin zur Kultur. Krankheit und Gesundheit
werden hierbei nicht als Zustand aufgefasst, sondern als ein dynamisches Ge-
schehen (Egger 2005). Eine Integration der verschiedenen Ebenen (bio, psycho,
sozial) ist nicht nur für die Theoriebildung wichtig, sondern in besonderer Weise
für die Behandlung von Schmerzpatienten. Gatchel (1999) erachtet den biopsy-
chosozialen Ansatz als die Spitze der gegenwärtigen Entwicklung der Schmerz-
Aktive Musiktherapie in der Schmerztherapie 389

therapie. Dieser Ansatz ist daher auch die Grundlage der Musiktherapiemanuale
nach dem Heidelberger Modell.
Ausgangspunkt der Entwicklung der Musiktherapiemanuale bei Schmerzen
war das emotionspsychologische Konzept der „gehemmten Expressivität“ nach
Traue (1998, Traue et al. 2000). Demnach neigen chronische Kopf- und Rücken-
schmerzpatienten dazu, ihren emotionalen Ausdruck aktiv durch erhöhte Mus-
kelspannung zu regulieren. Sie geraten – so betrachtet – in einen psycho-
physiologischen Teufelskreis (Schmerz-Spannungs-Zirkel). Auch insgesamt wur-
de in den letzen Jahren der emotionalen Komponente chronischer Schmerzen
eine immer größere Bedeutung zugeschrieben. Neuere Untersuchungen an er-
wachsenen Schmerzpatienten belegen die Auffassung der Relevanz emotionaler
Verarbeitungsmuster bei Genese und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen.
Das Fear-avoidance-Modell (Pfingsten et al. 1997), wonach die Schmerzchroni-
fizierung durch einen sich aufschaukelnden Prozess der Aspekte Schmerz,
Schmerzangst und Vermeidungsverhalten gekennzeichnet ist, beachtet in beson-
derer Weise die Emotion Angst. Auch die Forschungsgruppe um Apkarian (2004)
erkennt in emotionalen Faktoren einen wesentlichen Bestandteil der Schmerz-
chronifizierung. Sie konnten an erwachsenen Schmerzpatienten zeigen, dass
diese in der Fähigkeit eingeschränkt sind emotionale Entscheidungen zu treffen,
während andere kognitive Fähigkeiten (Aufmerksamkeit, Kurzeitgedächtnis, In-
telligenz) nicht beeinträchtigt waren. Die Arbeiten von Craig (20031, 20032) be-
schreiben in diesem Zusammenhang die inzwischen weithin akzeptierte Auffas-
sung, dass Schmerz als homöostatische Emotion zu verstehen ist.
Geht man davon aus, dass Schmerz und Emotion zusammenhängen, dann
muss Musiktherapie als eine wichtige Behandlungsmöglichkeit angesehen
werden, denn Emotionsregulation gilt als einer ihrer zentralen Wirkfaktoren
(Hillecke und Wilker 2007). In diesem Zusammenhang finden u. a. neuere neu-
rokognitive Studien (Koelsch und Fritz 2007), die den Zusammenhang zwischen
emotionalen Musikapplikationen und neuronaler Verarbeitung untersuchen, eine
Beteilung von Gehirnarealen, die dem Emotionssystem zugeordnet werden.
Das oben beschriebene Prinzip der „gehemmten Expressivität“ wurde auf die
Musiktherapie übertragen („erstarrtes Bezugskorrelat“) und ist durch eine ge-
hemmte musikalisch-emotionale Expressivität und Flexibilität („musikalische
Starrheit“) gekennzeichnet (Hillecke und Bolay 2000). Aus psychotherapeuti-
scher und musiktherapeutischer Sicht tritt eine Erstarrung der Aktions- und Re-
aktionsweise bei den Patienten mit chronischen Schmerzen in den folgenden Be-
reichen auf:
– sensorisch: dauerhafte Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die betroffenen
Körperregionen;
– kognitiv: Fixierung auf negative Gedanken und maladaptive Bewältigungs-
strategien (Katastrophisierung);
– emotional: Zunahme des Leidens, negativer Emotionen und emotionaler
Komorbiditäten, Abnahme emotionaler Entscheidungsfähigkeit;
– motivational: Abnahme der Motivation sowie Beschränkung der Lebensziele;
– motorisch: Bewegungseinschränkung;
390 T. Hillecke et al.

– behavioral: Reduktion von Verhaltensweisen, Rückzug, Krankheitsverhalten;


– interpersonell: Beschränkungen der Beziehungen und der Konfliktfähigkeit.
Durch Musik als kreativ ausdrucksförderndes Medium kann diese Erstarrung
aufgelöst und eine emotionale Flexibilisierung über den musikalischen Ausdruck
erreicht werden (Hillecke 2005). Ergänzend zur musikalisch-emotionalen Flexi-
bilisierung wird der Musiktherapie heute ein umfassendes (heuristisches) Wirk-
faktorenmodell (Hillecke und Wilker 2007) zugrunde gelegt, das ursprünglich für
das Verständnis der Musiktherapiewirkung bei chronischen Schmerzen ent-
wickelt wurde (Tabelle 1).

Tabelle 1. Musiktherapeutische Wirkfaktoren bei chronischen Schmerzen

Aspekte Musiktherapeutischer
Musik als Therapiemedium
chronischer Schmerzen Wirkfaktor
Schmerz fokussiert die Auditive Simulation (Musik)
Aufmerksamkeit auf hat als phylogenetisches
schmerzhafte Körper- „Fernwarnsystem“ die
regionen. Seine phylogene- Kapazität, die Aufmerksam-
tische Funktion ist es, auf keit stark anzuziehen und so
Aufmerksamkeits-
Verletzungen aufmerksam zu von Schmerzen abzulenken.
modulation
machen. Schmerz verliert Dabei ist die aufmerksam-
diese Funktion während der keitsanziehende Kapazität von
Chronifizierung, die Auf- Musik teilweise sogar stärker
merksamkeitsanziehung als die von akutem und
bleibt aber vorhanden. chronischem Schmerz.
Schmerz wird als homöo- Musik beeinflusst die
statische Emotion ver- Emotionen schnell und teil-
standen. Die Einflüsse von weise unwillkürlich. Sie um-
Schmerz auf das emotionale fasst die Möglichkeit alle
Erleben sind gut belegt, und Grundemotionen (Freude,
mit der Chronifizierung ge- Angst, Ärger, Traurigkeit und
hen zunehmend emotionale Emotionsmodulation Ekel) sowie feine Übergänge
Störungen (z. B. Angst, und Emotionskombinationen
Depression) einher. zu modulieren und starke
Forschungsergebnisse zeigen Emotionen (Thrill-Effekte)
zudem eine verringerte emo- auszulösen.
tionale Entscheidungsfähig-
keit bei Schmerzpatienten.
Besonders die Chronifizie- Musik transportiert auch
rung von Schmerzen ist mit jenseits der Sprache
maladaptiven Kognitionen Bedeutungen (ästhetische
und mangelnden Aspekte und subjektiv gelern-
Bewältigungsfähigkeiten te Assoziationen). Mit Musik
Kognitionsmodulation
(z. B. Katastrophisierung) werden auch Erinnerungen
und nach außen gerichteten verbunden und veränderte
Kontrollüberzeugungen Bewusstseinszustände können
verbunden. musikalisch stimuliert werden.
Aktive Musiktherapie in der Schmerztherapie 391

Aspekte Musiktherapeutischer
Musik als Therapiemedium
chronischer Schmerzen Wirkfaktor
Schmerz äußert sich in Musik beeinflusst unwill-
Schmerzverhalten kürliche Bewegungsprozesse
(Grimassieren, Hinken, (Mitwippen auf rhythmische
Schmerzäußerungen, Stimuli, Tanz) und stellt in
Motorik- und Verhaltens-
Rückzugsverhalten usw.). Form des Musizierens selbst
modulation
Zunehmende Verhaltens- eine komplexe, den gesamten
einschränkungen stellen Körper fordernde
ein zentrales Merkmal der Verhaltensweise dar.
Chronifizierung dar.

Chronischer Schmerz wirkt Musik kommt in allen Kultu-


sich auch im zwischen- ren als Kommunikationsform
menschlichen Bereich aus. vor. Sie kultiviert besonders
Viele Patienten ziehen sich die nonverbale Verständigung
aus sozialen Zusammen- und ist so emotionaler
hängen zurück und Ausdruck; vielleicht sogar als
Kommunikations-
kommunizieren immer „Sprache der Emotionen“ zu
modulation
weniger mit anderen verstehen. Aktive Musik-
Menschen. Sie erleben sich therapie ist eine inter-
selbst als zu fürsorglich- personale Situation, wobei
freundlich und zu zwischenmenschliche
ausnutzbar-nachgiebig. Kommunikationsprozesse
beeinflusst werden können.

Aktive Musiktherapie in der Schmerztherapie

Die manualisierten Musiktherapiekonzepte sind chronologisch gemäß der Pha-


sentheorie von Frank (1992) aufgebaut. Diesem Modell entsprechend verändern
sich Patienten zuerst im Bereich „subjektives Wohlbefinden“ (Remoralisierung),
dann im Bereich „Symptome“ (Remediation) und schließlich im Bereich „allge-
meines Funktionieren“ (Rehabilitation).
Erfüllen die Patienten die Einschlusskriterien (s. Tabelle 2), wird vor dem Be-
ginn der musiktherapeutischen Behandlung eine ausführliche medizinisch-
somatische sowie psychologische Anamnese und Diagnostik durchgeführt. Im
Rahmen der musiktherapeutischen Anamnese wird die musikalische Präferenz
und Sozialisation des Patienten sowie dessen Flexibilität und Variabilität im mu-
sikalischen Ausdruck durch rezeptive und aktive musiktherapeutische Übungen
überprüft. Zu erwähnen ist jedoch, dass das Spielen eines Musikinstrumentes
keine Voraussetzung zur Teilnahme an der Behandlung darstellt.
Die Behandlungsziele der Musiktherapiemanuale sind eine deutliche Symp-
tomreduktion in Form einer Verringerung der Schmerzstärke und Schmerzquali-
tät. Aufgrund der therapeutischen Grundlage des „erstarrten Bezugskorrelats“
und der „musikalischen Starrheit“ wird durch den zentralen Wirkfaktor der „mu-
sikalischen Flexibilisierung“ in den Parametern Lautstärke, Rhythmus, Tonhöhe,
392 T. Hillecke et al.

Klangfarbe sowie Tempo eine „emotionale Flexibilisierung“ und eine Verringe-


rungen der Schmerzsymptomatik erreicht (Hillecke und Bolay 2000; Hillecke
2005). Bei erwachsenen Patienten mit malignen Schmerzen ist neben der
Schmerzreduktion die Wiederherstellung bzw. Stabilisierung von Lebensqualität
ein wichtiges Ziel in der musiktherapeutischen Behandlung.

Tabelle 2. Einschluss- und Ausschlusskriterien sowie Therapieziele der Heidelberger


Musiktherapiemanuale

Einschlusskriterien Ausschlusskriterien Therapieziele

Chronische x Chronischer Schmerz x Tumorbedingte x Verringerung der


Schmerzen (t 6 Monate) Schmerzen Schmerzstärke und
(Hillecke 2005) x Schmerzbedingte x Alter < 18 Jahre Schmerzqualität
psychische x Psychiatrische x Reduktion der
Beeinträchtigung Erkrankungen psychischen
Belastungen

Kindliche x Alter: 8–12 Jahre x alle anderen Kopf- x Reduktion der


Migräne x Diagnose nach der schmerzen nach IHS Migräneattacken
(Leins 2006) Headache x Kopfschmerzakut- im Monat
Classification medikation an mehr
Committee der IHS, als 10 Tagen pro
1998, Code 1.1 Monat
und 1.2 x Alkohol-/
x Migräne t 1 Jahr Medikamentenabusus
x mind. 2 Attacken x Schwere körperliche
im Monat mit mind. oder psychiatrische
24 h Pause zwischen Grunderkrankungen
den Attacken

Maligne x Krankheitsbedingte x Alter < 18 Jahre x Verbesserung der


Schmerzen emotionale und x Vorliegen anderer Lebensqualität
(Wormit 2008) psychische psychiatrischer x Reduktion der
Beeinträchtigung, Erkrankungen Schmerzen und
inklusive psychischen
Tumorschmerzen Belastungen

Musikalische Starrheit (Fallbeispiel)

Patientin R. ist 51 Jahre alt und verheiratet. Sie leidet seit 14 Jahren unter an-
dauernden Schmerzen im linken Bein. Die Stärke der Schmerzen gibt sie auf der
visuellen Analogskala (VAS) mit 70 % an. Weiter zeigt sich ein deutlich depressi-
ves Erscheinungsbild. Die Patientin pflegt ihre Schwiegermutter, was sie als sehr
belastend erlebt. Als „Wohlfühlbild“ beschreibt sie den letzten gemeinsamen Ur-
laub mit ihrem Mann, in dem es ihr deutlich besser ging. Der Zusammenhang
zwischen Schmerz und Erholung ist für die Patientin jedoch noch nicht spürbar.
Aktive Musiktherapie in der Schmerztherapie 393

Im Rahmen der musiktherapeutischen Diagnostik zur Ermittlung der musika-


lischen Flexibilität spielt die Patientin am Vibraphon. Der Therapeut begleitet sie
am Klavier. Nachdem der Musiktherapeut die Spielweise des Instrumentes er-
klärt hat, beginnt sie am Vibraphon von den tiefen zu den hohen Tönen zu spie-
len und wieder zurück. Der Musiktherapeut greift die Spielweise der Patientin
auf. Dann versucht er durch die Veränderung musikalischer Parameter ihre musi-
kalische Flexibilität zu ermitteln. Da sich die Spielweise der Patientin nicht ver-
ändert, versucht er es zunächst mit einer Veränderung der Lautstärke. Die Patien-
tin nimmt die Veränderung nicht auf. Sie spielt weiter unverändert. Als nächstes
versucht der Musiktherapeut das Tempo zu verändern. Die Patientin blickt kurz
auf, lässt sich aber nicht beeinflussen. Dann wird der Rhythmus variiert. Aus ei-
nem Rhythmus im Viervierteltakt wird ein Dreivierteltakt. Die Patientin wirkt
kurz überrascht, bricht aber nicht aus ihrer Spielweise aus. Sowohl die Verände-
rungen der Klangfarbe von Dur nach Moll als auch der Tonhöhe führen zu kei-
nerlei musikalischen Reaktionen der Patientin.
Die vorgestellte fallbezogene musiktherapeutische Diagnostik zeigt eine
deutliche musikalische Starrheit der Schmerzpatientin, die durch eingeschränk-
ten musikalischen Ausdruck und Flexibilität gekennzeichnet ist. Neben der ge-
hemmten musikalisch-emotionalen Expressivität und Flexibilität können Erstar-
rungen der Aktions- und Reaktionsweisen vor allem im emotionalen und
zwischenmenschlichen Bereich festgestellt werden.

Setting und Interventionstechniken


Die Behandlungsdauer beträgt bei Patienten mit chronischen, nicht-malignen
und malignen Schmerzen 20 und bei Kindern mit Migräne 12 Therapieeinheiten.
Bei der Behandlung für Kinder mit Migräne werden drei therapiebegleitende El-
tern-/Familiengespräche durchgeführt. Alle musiktherapeutischen Interventio-
nen dauern 50 Minuten und werden wöchentlich im Einzelsetting ambulant
durchgeführt.
Zur Erreichung der Behandlungsziele und Durchführung der einzelnen Be-
handlungsphasen werden spezifische musiktherapeutische Techniken eingesetzt
(Tabelle 3).

Fallbeispiele
Chronischer, nicht-maligner Schmerz
Patientin B. ist 41 Jahre alt und ledig. Sie leidet seit neun Jahren an Kopf- und Brust-
schmerzen, die auf der visuellen Analogskala (VAS) den Wert von 50 % erreichen.
Erhöhte Werte liegen auch im affektiven Schmerzempfinden vor. Die Patientin be-
richtet von einem kleinen Freundeskreis, ist gerne alleine, hat aber vor zwei Mona-
ten einen Mann kennen gelernt. Sie arbeitet als Sekretärin an einer Hochschule.
Vor allem die Zusammenarbeit mit ihrem Chef empfindet sie als sehr anstrengend
und belastend. Im Vordergrund stehen negative und ängstliche Stimmungen, so-
dass kein Zugang zu erinnerbarem Wohlbefinden vorhanden ist. Im nonverbalen
Ausdrucksverhalten ist deutlich „musikalische Starrheit“ erkennbar.
394 T. Hillecke et al.

Tabelle 3. Heidelberger Musiktherapiemanuale und deren Spezifikation

Ziele nach der Musiktherapeutische Musiktherapeutische Beschreibung


Phasentheorie Behandlungsziele Techniken

Phase I: Aktivierung von Rezeptiv-musikalische Aktivierung von im Gespräch


Verbesserung „erinnertem Klang- und eruierten Wohlfühlbildern
des subjektiven Wohlbefinden“ Phantasiereise mit durch Hören von
Wohlbefindens Entspannungsinduktion live gespielter Musik
Beziehungsarbeit Kontaktspiele Entwicklung von Dialogen aus
dem musikalischen Spiel;
Einsatz von Begrüßungs- und
Abschiedsliedern

Körperwahrnehmung Musikalisch angeleitete Musikalisches Aufgreifen von


trainieren Bewegungsabläufe, Bewegungen des Patienten,
(z. B. Erschöpfung/ Bodyperkussion, Bodyperkussion zum Lieblingslied
Ruhebedürfnis) Vibrotaktile Stimulation Instrument mit großem Klang-
körper zur Körperwahrnehmung

Phase II: Arbeit an den Variation musikalischer Aufgreifen und Variation der
Verringerung Symptomen und an Parameter in freier musikalischen Elemente des
der Symptome der gehemmten Improvisation Patienten im freien
Expressivität musikalischen Spiel ohne
Vorgaben
Stützende Improvisation Freies musikalisches Spiel zur
Erzeugung von verschiedenen
Gefühls- und Erlebensebenen
Tagtraumimprovisation Aktive musikalische
Umsetzung von im Gespräch
eruierte Wohlfühlbildern
Symptomimprovisation Inszenierung der Schmerz-
symptomatik und den damit
verbundenen Emotionen
Realitätsimprovisation Musikalisches Rollenspiel mit
problematischen Berufs- und
Alltagssituationen
Musikalische Musikalisches Rollenspiel mit
Symbolisation des schmerzauslösenden
sozialen Umfelds Familien- und Schulsituationen

Phase III: Erprobung und Realitätsimprovisation Musikalische Rollenspiele


Steigerung Implementierung mit problematischen
des allgemeinen flexibler Verhaltens- schmerzauslösenden Familien-
Funktionierens und Erlebensweisen oder Alltagssituationen

Generalisierung Musikalisches Musikalisches Stärken- und


Selbstporträt und Schwächenprofil des Patienten
Behandlungsevaluation

Legende: kursiv: Ergänzung für Kindertherapien für Kinder mit Migräne; unterstrichen: Besonderheit
bei Patienten mit malignen Schmerzen
Aktive Musiktherapie in der Schmerztherapie 395

In der ersten Behandlungsphase spricht die Patientin gut auf die Entspan-
nungsübungen an. Die Patientin beschreibt ihre Empfindungen mit den Worten:
„Durch die Musik werden meine Gefühle aus dem Innersten meines Körpers
hervorgelockt. Die Musik dringt ganz tief ein, löst aber auch meine Spannungen
auf. Weinen tut mir gut und befreit. Meine Schmerzen sind jedes Mal geringer.“
In der zweiten Behandlungsphase steht die emotionale Bearbeitung der
Schmerzen im Vordergrund. Schmerzen lösen bei der Patientin Gefühle von
Trauer und Wut aus. Traurigkeit und damit verbunden Weinen beschreibt sie als
Erleichterung, die mit einer Verringerung der Schmerzen einhergeht. Der Um-
gang mit Wut fällt ihr sehr schwer. Die Patientin ordnet ihrer Traurigkeit das Vib-
raphon und ihrer Wut die Pauke zu. In mehreren aufeinander folgenden Sym-
ptomimprovisationen gelingt es der Patientin, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen
und diese für sie negative Emotion als positiv und kraftvoll zu entdecken.
In Realitätsimprovisationen übt die Patientin in der dritten und letzten Be-
handlungsphase Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz (Chef). Sie berichtet,
dass es ihr zunehmend leichter falle, sich dort zu behaupten. Mit negativen Emo-
tionen und Erlebensweisen wie Wut oder Stress kann sie jetzt adäquater umge-
hen. Der Zusammenhang zwischen ihrem Schmerz und ihren Emotionen wurde
ihr durch die Therapie bewusst. Nach Beendigung der musiktherapeutischen Be-
handlung konnte eine ausreichende Reduktion der Schmerzstärke von VAS 50 %
auf 30 % erreicht werden. Im Bereich des affektiven Schmerzempfindens konnte
eine klinisch bedeutsame Verringerung erreicht werden.

Kindliche Migräne
K., ein elf Jahre alter Junge, leidet seit dem vierten Lebensjahr an starken Migrä-
neanfällen. Diese treten acht Mal im Monat auf und schränken ihn vor allem in
der Schule ein. Er ist sehr darauf bedacht, bei anderen Menschen einen guten
Eindruck zu hinterlassen. In den musikalischen Parametern „Lautstärke“ und
„Tempo“ zeigt sich der Junge erstarrt.
Auf die in der ersten Behandlungsphase angebotenen rezeptiv-musikalischen
Phantasiereisen kann er sich sehr gut einlassen. Große Freude bereitet ihm das
Singen seiner Lieblingslieder unterstützt durch Bodyperkussion.
Im Rahmen der Variation musikalischer Parameter zur emotionalen Flexibili-
sierung tritt in der zweiten Behandlungsphase sein ausgeprägtes soziales Norm-
und Regelverhalten in den Fokus. Er ist sehr darauf bedacht, eine Improvisation
„gut“ zu gestalten und vermeintlichen Erwartungen des Therapeuten gerecht zu
werden. Der Kopfschmerz wird in einer Symptomimprovisation musikalisch dar-
gestellt. K. teilt dem Schmerz das Becken zu. Der „Schmerz“ wird von ihm ge-
spielt, während der Therapeut ihm musikalisch etwas am Klavier „entgegen-
setzt“. Dem Jungen gelingt es, das schmerzhafte Körpergeschehen durch die
Musik greifbar zu machen. In darauf folgenden Stunden lernt er, emotional
problematische Situationen wie Streit in der Schule durch musikalische Rollen-
spiele in Realitätsimprovisationen zu inszenieren und alternative Umgangsfor-
men zu entwickeln.
396 T. Hillecke et al.

In der dritten Behandlungsphase übt K. sich in weiterführenden Realitätsim-


provisationen z.B. zu streiten. Seine musikalischen Äußerungen sind jetzt flexi-
bler. Das Singen seiner Lieblingslieder, unterstützt mit Bodyperkussion, sind für
ihn zum Wahrnehmen und Kennenlernen seines Körpers und seiner Schmerzen
sehr wichtig. Durch die Verbesserung der Körper- und Schmerzwahrnehmung
gelingt es ihm jetzt, seine Symptome frühzeitiger zu erkennen. Er geht auch mit
mehr Spaß und Freude in die Schule. Während der Laufzeit der Therapie verrin-
gerten sich die Migräneattacken des Jungens von acht auf zwei im Monat. Nach
einer Follow-up-Befragung sechs Monate später blieb die Attackenreduktion
stabil.

Maligne Schmerzen
Patientin S. ist 44 Jahre alt und verheiratet. Sie arbeitet als leitende Angestellte in
einer Ausbildungseinrichtung. Vor einem dreiviertel Jahr wurde bei ihr ein Tumor
in der linken Brust diagnostiziert. Sie wurde brusterhaltend operiert. Zum Zeit-
punkt des Beginns der Musiktherapie hat die Patientin die medizinische Akutbe-
handlung abgeschlossen. Die Stärke der Tumorschmerzen erreicht auf der visuel-
len Analogskala (VAS) einen Wert von 80 %. Ihre globale Lebensqualität erweist
sich als niedrig.
Die Patientin möchte beruflich kürzer treten, dies fällt ihr aber sehr schwer.
Ihre Wochenendbeziehung beschreibt sie als sehr gut. Die Schmerzen schildert
sie als Kribbeln im Oberkörper, in den Händen und Füßen. Das Kribbeln ist ver-
bunden mit einer ständigen Unruhe und einem ständigen inneren Druckgefühl.
In der musiktherapeutischen Anamnese zeigt sich, dass die Patientin sich mit der
rezeptiven Übung schwer tut. Eine aktive Übung am Vibraphon, begleitet vom
Therapeuten am Klavier, macht ihr sehr viel Spaß und Freude.
Der Patientin gelingt es nur schwer sich in der ersten Behandlungsphase auf
die (aktiven) Entspannungsübungen einzulassen. Während des Musikhörens
kann sie für einen Augenblick die Schmerzen vergessen, aber ihre Gefühle der
Unruhe und des „inneren Drucks“ sind ständig vorhanden.
In der zweiten Behandlungsphase lernt die Patientin vor allem mit Hilfe von
stützenden Improvisationen und Symptomimprovisationen mit ihren Schmer-
zen, ihrer Unruhe und ihrem inneren Druck besser umzugehen.
In der letzten Behandlungsphase lernt sie in Realitätsimprovisationen locke-
rer und souveräner mit beruflichen Belastungen umzugehen. Zum Schluss der
Therapie wird das bisher Erreichte noch einmal reflektiert und in einem musi-
kalischen Selbstporträt wiederholt, in dem die Patientin eigene Stärken und
Schwächen klanglich darstellt. Vor allem die Integration der Gefühle von Unruhe
und Druck in ihre neue Lebensphilosophie „alles etwas lockerer anzugehen“,
war für die Patientin bedeutsam. Nach Beendigung verringerten sich die Tumor-
schmerzen von VAS 80 % auf 20 %. Weiter konnte eine klinisch bedeutsame Ver-
besserung der globalen Lebensqualität erreicht werden.
Aktive Musiktherapie in der Schmerztherapie 397

Studienergebnisse zu den Musiktherapiemanualen

Die drei dargestellten Musiktherapiemanuale wurden in wissenschaftlichen Stu-


dien auf ihre Wirksamkeit hin überprüft. Zunächst wurde in einer inzwischen
auch replizierten erfolgreichen randomisierten und kontrollierten Studie die
manualisierte Musiktherapie bei erwachsenen Patienten mit chronischen, nicht-
malignen Schmerzen untersucht (Hillecke 2005; Wormit 2008). Musiktherapie
wurde dabei als zusätzlich zu pharmakologischer Standardtherapie eingesetztes
Verfahren erforscht. Beim Gruppenvergleich (pharmakologische Therapie vs.
pharmakologische Therapie plus Musiktherapie) zeigten sich statistisch signi-
fikante Ergebnisse in den Bereichen Schmerzminderung und Verringerung
psychologischer Symptome (v. a. Angst und Depression). Systematisch mit
Methoden der klinischen Signifikanz analysiert, ergaben sich bei etwa 70 % der
Patienten deutliche Verbesserungen im Gegensatz zu 35 % bei den nur pharma-
kologisch behandelten Kontrollpatienten. Ein ähnliches Ergebnis wurde in der
Replikation (Wormit 2007) erzielt.
In einem zweiten Schritt wurde von unserer Arbeitsgruppe die Musikthera-
pievariante für Kinder mit dem Krankheitsbild Migräne auf seine Wirksamkeit
hin überprüft (Leins 2006). In dieser Studie wurde Musiktherapie gegen ein
pharmakologisches Präparat und gegen ein medikamentöses Placebo auf seine
Wirksamkeit hin getestet. Die Ergebnisse der Studie mit 58 Kopfschmerzkindern
zeigen, dass sich durch Musiktherapie die Häufigkeit der Schmerzattacken sig-
nifikant verringerte oder die Schmerzen sogar ganz verschwanden (Oelkers-Ax
et al. 2008). Außerdem wurden mit Musiktherapie schneller klinisch relevante
Erfolge erzielt.
In einer dritten explorativen Studie wurde bei Patienten mit malignen
Schmerzen Musiktherapie in Kombination mit pharmakologischer Standardthe-
rapie untersucht (Wormit 2008). Es zeigten sich statistisch signifikante Ergebnisse
in den Bereichen Lebensqualität, Schmerzminderung und Verringerung psycho-
logischer Symptome (v. a. Angst und Depression). Systematisch mit Methoden
der klinischen Signifikanz analysiert, ergaben sich bei etwa 60 % der Patienten
deutliche Verbesserungen im Vorher-Nachher-Vergleich.

Zusammenfassung

Um Musiktherapie als kreative Psychotherapie adäquat durchzuführen, ist eine


akademische Musiktherapieausbildung (Diplom, B. A., M. A.) Voraussetzung.
Kontakte zu Musiktherapeuten können über die Fachverbände vermittelt wer-
den. Die Grenzen der Methoden sind darin zu sehen, dass bisher nur für die hier
vorgestellten Anwendungsbereiche wissenschaftliche Untersuchungen vorliegen.
Musiktherapie ist heute im deutschen Sprachraum in der Versorgung von
Schmerzpatienten weit verbreitet. Musiktherapeuten arbeiten mit an Schmerz-
ambulanzen und in Schmerzkliniken oder betreuen Schmerzpatienten in eigener
398 T. Hillecke et al.

Praxis. Musiktherapie stellt über die berichteten Ergebnisse hinaus eine wichtige
Ergänzung und Alternative für andere schmerztherapeutische Maßnahmen dar,
indem sie bei Patienten ein Bewusstsein für ihre künstlerisch-kreativen Fähigkei-
ten weckt. Damit ist sie als besonders patientenorientierte Behandlungsmethode
ein wertvoller Beitrag zur interdisziplinären Versorgung von Patienten, die unter
chronischen Schmerzen leiden.

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Revision

Moderne Aromapflege

W. STEFLITSCH und M. STEFLITSCH


W. Steflitsch und M. Steflitsch

Einleitung

Hinter den wissenschaftlichen Rahmenbedingungen der Pflege verbirgt sich die


zunehmende Diskussion über die Rolle der Ganzheitlichkeit in der Pflege. Die
Kunst der Pflege besteht darin, in die Betreuung des Patienten die physische,
psychische, soziale, geistig-emotionale und spirituelle Ebene einzubeziehen und
nicht nur auf aktuelle Symptome des Patienten zu reagieren. Keine komplemen-
tärmedizinische Methode ist im Stande, von sich aus Ganzheitlichkeit im Den-
ken und Handeln zu erzeugen. Es bedarf dazu einer innerlichen Entwicklung des
Menschen.

Grundzüge der Aromapflege (Buchmayr et al. 2007)

Die Aromapflege folgt den Prinzipien der Naturheilkunde. Sie will die Lebens-
kraft und Selbstheilungskräfte des Menschen wecken und stärken. Die ätheri-
schen Öle haben tiefe Wirkung auf unser psychisches Gleichgewicht. Sie bewir-
ken eine seelische Umstimmung, regulieren aus der Balance Geratenes und
entziehen einer Krankheit den eigentlichen Nährboden. Sie wirken gleicherma-
ßen auf den Körper und die Seele, also im ganzheitlichen Sinne.
Die meist durch Wasserdampfdestillation gewonnenen ätherischen Öle besit-
zen einzigartige Eigenschaften, aus denen sich ihre duale Wirkungsweise und die
verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten ergeben. Durch ihre unmittelbare
Wirkung auf Zentren im Gehirn und von dort aus auf Steuermechanismen regu-
lieren sie psychische und physische Vorgänge, wie zum Beispiel einerseits Erinne-
rungen, Gedächtnis, Motivation, Stimmungen, Kreativität und andererseits über
das unwillkürliche vegetative Nervensystem vielfältige Organ- und Stoffwechsel-
funktionen. Ergänzend zu diesem Wirkprinzip über das Riechen der Duftstoffe
entfaltet das „Vielstoffgemisch“ des ätherischen Öles seine starken, aber ausge-
wogenen Wirkungen durch seine reichhaltigen Inhaltsstoffe, die zum Beispiel
402 W. Steflitsch und M. Steflitsch

durch Waschungen, Einreibungen, sanfte Massagen, Inhalationen und Bäder in


den Körper aufgenommen werden können.
Bei dieser Übersicht der modernen Aromapflege, wie sie in vielen Ländern
mit hoch entwickelten Gesundheitssystemen erfolgreich angewandt wird, stan-
den mir zahlreiche fachkundige und erfahrene Aromaexpertinnen aus dem Pfle-
gebereich zur Seite. Ohne diese Expertinnen, wie Evelyn Deutsch, Lisa Marenitz,
Susanne Mild, Doris Steiner, Susanne Melnick und Monika Volkmann, wäre ein
kompetenter, praxisnaher Aromapflege-Beitrag nicht möglich. Mein Beitrag zum
Thema Aromapflege besteht primär in der sehr interessierten Beobachtung der
vielfältigen Anwendungen, der dankbaren Annahme durch die Patienten/innen
und der nachvollziehbaren Erfolge, vor allem auch in schwierigen Situationen,
wo konventionelle Pflegemethoden an ihre Grenzen stoßen.
Die Aromapflege bereichert mittlerweile in vielen Gesundheits-, Kranken-
pflege- und Sozialeinrichtungen nicht nur das Pflegeangebot, sondern dient
nicht selten auch als Aushängeschild für den Betrieb. Die Aromapflege zählt trotz
ihrer langen Tradition und Geschichte zu den neuen, modernen und fortschrittli-
chen Pflegemethoden und spiegelt den allgemeinen Trend „zurück zur Natur“
perfekt wieder.
Die Aromapflege gibt dem betreuenden Personal und auch den Angehörigen
die Möglichkeit, sich noch individueller, persönlicher und ganzheitlicher um den
Patienten zu kümmern. Sie orientiert sich an den Bedürfnissen des Patienten,
baut Ängste und Unsicherheiten ab und weckt das Vertrauen der Angehörigen,
welche die Aromapflege immer wieder als besondere Bemühung von Seiten des
Betreuerteams sehen und schätzen.
Ansatzpunkte der Aromapflege:
– deutlich spürbare Steigerung des Wohlbefindens und somit wesentliche Un-
terstützung des Heilungserfolges;
– Verbesserung der Lebensqualität;
– Förderung und Sensibilisierung der eigenen Wahrnehmung;
– Stärkung der Selbstheilungskräfte;
– Verbesserung der Immunabwehr;
– Förderung des körperlichen und seelischen Gleichgewichtes;
– Erhaltung und Unterstützung der normalen, gesunden Hautfunktionen durch
eine natürlich, gesunde Hautpflege;
– der gesamte Bereich der prophylaktischen Pflegemaßnahmen wird damit er-
folgreich unterstützt;
– die Gesundheitspflege und Gesundheitserhaltung wird mit dem Einsatz der
Aromapflege gefördert und rückt immer mehr in den Vordergrund.
Vor dem Hintergrund der berufsrechtlichen Regelungen vor allem des Ge-
sundheits- und Krankenpflegegesetzes (GuKG) wird zu beachten sein, welche
komplementäre Maßnahmen als originäre Pflegehandlungen gelten und damit
vom diplomierten Pflegepersonal eigenständig angeordnet und – von anderen
Berufsgruppen autonom – durchgeführt werden dürfen. In manchen Pflegesitua-
tionen kann es schwierig sein zu differenzieren, ob eine bestimmte komplemen-
Moderne Aromapflege 403

täre Anwendung „pflegen“ oder „heilen“ soll. „Heilende“ (= therapeutische)


Maßnahmen werden im Regelfall – wie auch andere medizinische Maßnahmen
des mitverantwortlichen Tätigkeitsbereiches – einer vorherigen ärztlichen An-
ordnung bedürfen.
Eigenverantwortung bedeutet, im gesetzlichen Rahmen Maßnahmen unab-
hängig von anderen Berufsgruppen durchzuführen. Entscheidend in der arrivier-
ten wie auch komplementären Pflege ist immer die Ziel- und Zweckorientierung.
Sorgfaltsmaßstab und Wissensstand müssen im notwendigen Umfang gegeben
sein. Die Fortbildung ist im § 63 GuKG und die Weiterbildung im § 64 GuKG
geregelt. Mit den Grundzügen der komplementären Pflege befasst sich die An-
lage 1 GuKG-AV.

Aromatologische Anamnese

Bei alten, oftmals mehrfach kranken Menschen sind mehrere Faktoren bei der
Auswahl, Dosierung und Anwendungsform ätherischer Öle zu berücksichtigen.
– Medikation
– Langzeitmedikation mit chemisch-pharmazeutischen Produkten
– Anwendung medizinischer Salben, welche vorwiegend auf Mineralölbasis
hergestellt sind, können zu Kontaktallergien führen (vorgeschädigte Haut re-
agiert anders als gesunde)
– Stoffwechsellage
– Grunderkrankungen
– Nahrungsaufnahme und Ausscheidung
– Lebensgewohnheiten
– Regelmäßigkeit
– Kreislaufsituation
– Blutdruck
– Durchblutung
– Zustand der Haut
– Exsikkose
– Langes Liegen
– Pflegemittel
– Psychische Verfassung
– Konstitution
– Alter
– Körpergewicht
– Trägere Reaktionsbereitschaft des betagten Menschen
– Soziales Umfeld
404 W. Steflitsch und M. Steflitsch

Dies alles ist zu beachten, damit es nicht zu unvorhersehbaren Reaktionen


kommt, die dann fälschlicherweise allein den ätherischen Ölen zugeschrieben
werden.

Aromapflege in der Praxis

Chronische Schmerzen (Werner und von Braunschweig 2006)


Berührung, Entspannung und Wohlbefinden spielen eine wichtige Rolle für die
Wahrnehmung von uns selbst und unserer Umwelt. Das betrifft auch die Perzep-
tion von Schmerz. Die Aromatherapie beeinflusst dabei das sensible Nerven-
system und stärkt das parasympathische Nervensystem, das eng mit den Endor-
phinen verknüpft ist (Weil 1996). Bei der Schmerztherapie darf aber niemals
übersehen werden, dass Schmerz ein Alarmsignal ist. Diese Warnung muss
zugleich mit der Schmerzstillung wahrgenommen, abgeklärt und verstanden
werden.

Die analgetischen Effekte basieren auf vier Faktoren:


1. Das Vielstoffgemisch der ätherischen Öle erreicht mit seinen Duftsignalen das
limbische System, den Hypothalamus, den Thalamus und andere entschei-
dende Gehirnzentren.
2. Analgetische Wirkstoffe der ätherischen Öle beeinflussen die Neurotransmit-
ter Dopamin, Serotonin und Noradrenalin an ihren Rezeptoren im ZNS.
3. Die Interaktion zwischen Berührung und sensiblen Nervenfasern kann die
Nozizeption abschwächen.
4. Die Steigerung der lokalen Durchblutung durch ätherische Öle bewirkt eine
Schmerzlinderung.

Ätherische Öle mit nachweisbarer Wirkung auf chronische Schmerzen:


Schwarzer Pfeffer (Piper nigrum), Gewürznelke (Syzygium aromaticum),
Weihrauch (Boswellia carterii), Ingwer (Zingiber officinale), Wacholder (Juniperus
communis), Speiklavendel (Lavandula latifolia), Lavendel fein (Lavandula an-
gustifolia), Lemongrass (Cymbopogon citratus), süßer Majoran (Origanum majo-
rana), Myrrhe (Commiphora molmol), Pfefferminze (Mentha piperita), Rose
(Rosa damascena), Rosmarin (Rosmarinus officinalis), Verbena (Aloysia triphylla)
und Ylang Ylang (Cananga odorata).
Die Anwendung dieser ätherischen Öle zur Schmerzbekämpfung erfolgt in
der Regel topisch, bei Weihrauch, echtem Lavendel, Lemongrass, Majoran, Ros-
marin und Verbene zusätzlich inhalativ. Topisch werden 2 bis 5 Tropfen des äthe-
rischen Öls mit einem pflanzlichen Trägeröl, Gel oder einer Salbe verdünnt. Für
eine Inhalation von 5 bis 10 Minuten gibt man 2 Tropfen des ätherischen Öls auf
einen Wattetupfer oder auf ein „Duftfetzerl“.
Moderne Aromapflege 405

Übelkeit und Erbrechen (Buckle 2004)

Die vielfältigen Ursachen von Übelkeit und Erbrechen liegen meist im gastroin-
testinalen, zentralnervösen oder metabolischen Bereich. Oft sind auch Arznei-
mittel für diese Beschwerden verantwortlich, zum Beispiel Antibiotika oder
Zytostatika. Obwohl die konventionellen Antiemetika wie Metoclopramid und
Serotonin-Antagonisten wie Tropisetron oder Ondansetron gut wirksam sind,
sprechen Nebenwirkungsprofil und Kosteneffizienz doch für die alleinige oder
ergänzende Anwendung von ätherischen Ölen zur Vorbeugung und Behandlung
von Übelkeit und Erbrechen.
Die mit Erbrechen verbundene Übelkeit lässt sich oft durch eine sanfte Mas-
sage des Magens oder eine warme Kompresse auf dem Oberbauch eindämmen.
Die dazu geeigneten Öle sind deutsche Kamille, Lavendel, Zitrone und Pfeffer-
minze. Wenn das Erbrechen mit Kälteschauern verbunden ist, sollte man ein
Wärme erzeugendes Öl wie schwarzen Pfeffer oder Majoran verwenden. Hängt
das Unwohlsein mit emotionaler Aufregung zusammen, können insbesondere
Kamille oder Lavendel empfohlen werden.

Antiemetisch wirksame ätherische Öle:

Kardamom Nadkarni, 1992; Arctander, Borneol als


(Elettaria cardamomum) 1994; Tisserand, 1989; Anticholinergikum
Cabo et al., 1986
Pfefferminze Leicester, Hunt, 1982; gleichwertig
(Mentha piperita) McKenzie, Gallacher, 1989; antiemetisch wie
Franchomme, 1980; Metoclopramid oder
Figuenick, 1998; Tate, 1997 Ondansetron
Ingwer (Zingiber officinale) Vutyavanich et al., 1997;
Visalyaputra et al., 1998
Lavandin Everson, 2000;
(Lavandola intermedia Ct. Super)
Nelke (Eugenia caryophyllata) Wren, 1988 Potter’s New
Cyclopaedia of Botanical
Drugs and Preparations
Thymian (Thymus granatensis) Cabo et al., 1986 Borneol, Myrcene
Spanischer Salbei Cabo et al., 1986 Borneol, Myrcene
(Salvia lavandulaefolia)

Blähungen (Meteorismus)

Jedes der als karminativ beschriebenen ätherischen Öle kann Gase aus dem Ver-
dauungssystem vertreiben und die damit verbundenen Beschwerden lindern. Die
Öle werden mit einer Trägersubstanz im Uhrzeigersinn in den Bauch einmassiert.
406 W. Steflitsch und M. Steflitsch

Bei wiederholten Beschwerden sollte auch an eine Umstellung der Ernährung


und eventuell auch an ein Programm zur Reinigung des Dickdarms gedacht
werden. Geeignete Öle sind Bergamotte, Fenchel, Deutsche Kamille, Lavendel,
Majoran und Schwarzer Pfeffer.

Durchfall (Diarrhö)

Ätherische Öle sind bei Diarrhö vielfältig einsetzbar. Einige beruhigen die
Darmwände, andere entkrampfen die Muskulatur des Verdauungstraktes, wieder
andere besitzen adstringierende Eigenschaften oder beeinflussen das Nerven-
system. Einige ätherische Öle besitzen alle diese unterschiedlichen Eigenschaften.
Stark krampflösende Öle: Eukalyptus, Deutsche Kamille, Lavendel, Neroli,
Pfefferminze, Zypresse
Starkes antivirales Öl: Eukalyptus, Melisse, Ravintsara, Teebaum
Lebensmittelallergie: Deutsche Kamille
Wärmende und karminative Öle: Benzoe, Ingwer, Fenchel, Schwarzer Pfeffer
Angst- und Stress-lösende Öle: Römische Kamille, Lavendel, Neroli
Bei Diarrhöen müssen Wasser- und Elektrolytverluste rasch ersetzt werden.
Schwere und chronische Durchfallserkrankungen sollten unbedingt diagnostisch
abgeklärt werden.

Verstopfung (Obstipation)
Die wirkungsvollste Anwendung bei Verstopfung ist eine im Uhrzeigersinn aus-
geführte Bauchmassage, die der Patient bei entsprechender Anleitung auch leicht
selbst zu Hause vornehmen kann. Diese Maßnahme kann durch den Einsatz von
ätherischen Ölen, wie Majoran, Rosmarin, Fenchel und Schwarzen Pfeffer, ver-
stärkt werden. Die Ernährung sollte auf unraffinierte Kohlenhydrate, rohes Ge-
müse und Obst, ballaststoffreiche Nahrungsmittel sowie auf viel Wasser, Frucht-
saft und Kräutertees umgestellt werden.

Angstzustände
Auf Patienten in Überwachungs- und Intensivstationen kommen oft zahlreiche
belastende und mitunter schmerzhafte invasive diagnostische und therapeuti-
sche Interventionen zu. Beispiele dafür sind Thoraxröntgen, Computertomogra-
phie, Sonographie, Koronarangiographie, Bronchoskopie, Gastroskopie oder di-
verse Punktionen, wie zum Beispiel die Drainage eines Pleuraergusses oder
Aszites. Nicht alle Eingriffe können bei ausreichender Tiefe der Sedoanalgesie
durchgeführt werden, sondern betreffen oftmals auch Patienten in wachem oder
somnolentem Bewusstseinszustand. Die Ankündigung und Durchführung dieser
Interventionen sowie die eigene Hilflosigkeit erzeugen Angst und Stress.
Moderne Aromapflege 407

Ätherische Öle, die in Form einer Einreibung, Waschung oder Raumbeduf-


tung Angst lösend wirken, sind zum Beispiel Rose, Neroli, Mandarine, Lavendel,
Geranie und Römische Kamille. Das Versprühen einer Lösung von Eucalyptus
citriodora verbessert nicht nur das Raumklima, sondern trägt auch zur Vermei-
dung von Kreuzinfektionen und zur Verhinderung der Entwicklung von resisten-
ten Krankheitserregern bei.

Druckgeschwüre (Dekubitalulzera) (Buckle 2004)

Durch ihre erzwungene Immobilität neigen Intensivpatienten trotz optimaler


pflegerischer Betreuung und Lagerung zur Entwicklung von Druck bedingten
Hautläsionen. Diese Läsionen beginnen mit einer Hautrötung, gefolgt von Bla-
senbildung und können sich vor allem unter ungünstigen hämodynamischen
Bedingungen und Katecholamin-Gabe rasch zu tiefen nekrotisierenden Ulzera
entwickeln.
Im Dekubitus-Stadium I (Rötung) und im Stadium II (Blasenbildung) steht
die Entlastung der gefährdeten Stellen im Vordergrund der Behandlung. Im Sta-
dium III (subkutane Läsion) kann zum Beispiel Allevyn® zur zusätzlichen Entlas-
tung verwendet werden. Wenn das Dekubitalulkus bis in die Muskulatur (IV)
oder bis zu den Knochen (V) reicht, wird oftmals Aquacel® und zur Abdeckung
Varihesive® angewandt. Bei infiziertem Ulkus kann Aquacel Ag® zum Einsatz
kommen, bei stark Fibrin belegtem Ulkus Intrasite®-Gel.
Wenn die Hautoberfläche noch intakt ist (Stadium I/II), können Hydrolate
von Deutscher Kamille, Immortelle, Rose und Lavendel mit sehr gutem Erfolg
angewendet werden. Bei tieferen Läsionen (Stadium III/IV/V) sollte jedoch eine
Mischung von ätherischen Ölen in einem fetten Trägeröl oder Gel verwendet
werden, um ein Verkleben der Kompresse mit der Wunde zu vermeiden. Indi-
sches Mahagoni (Calophyllum inophyllum), auch als Rosenholz bekannt, erweist
sich aufgrund seiner entzündungshemmenden und analgetischen Eigenschaften
als exzellentes Medium. Ausgezeichnete Erfahrungen gibt es auch mit Rosa rubi-
ginosa (Hagebuttenkernöl, Wildrosenöl) und Aloe-vera-Gel.
Bevorzugte ätherische Öle für die Behandlung von Dekubitalulzera:
– Lavendel (Lavandula angustifolia)
– Römische Kamille (Chamaemelum nobile)
– Weihrauch (Boswellia carterii)
– Geranie (Pelargonium graveolens)
– Schafgarbe (Achillea millefolium)
– Deutsche Kamille (Matricaria recutita)
– Thymian (Thymus vulgaris Ct. Linalool, Ct. Thujon)
– Rosmarin (Rosmarinus officinalis Ct. Verbenon)
– Myrrhe (Commiphora myrrha)
– Bergamotte (Citrus bergamia)
408 W. Steflitsch und M. Steflitsch

Bevorzugte Phytole für die Behandlung von Dekubitalulzera:


– Purpursonnenhut (Echinacea purpurea)
– Johanniskraut (Hypericum perforatum)
– Ringelblume (Calendula officinalis)
Bevorzugte Hydrolate für die Behandlung von Dekubitalulzera:
– Rosmarin (Rosmarinus officinalis Ct. Borneol)
– Myrte (Myrtus communis)
– Schwarzer Holunder (Sambucus nigra)
– Römische Kamille (Chamaemelum nobile)
– Lavendel (Lavandula angustifolia)
– Rose (Rosa damascena)
Ausgewählte Beispiele von antimikrobiell wirksamen ätherischen Ölen für die
Behandlung von Dekubitalulzera:
– Deutsche Kamille (Matricaria recutita): Staphylococcus aureus, Proteus vulga-
ris (Franchomme und Pénoël 1991; Valnet 1993)
– Lemongrass (Cymbopogon citratus): Shigella, E. coli, Bacillus subtilis (Ona-
wunmi und Ogunina 1986)
– Wacholder (Juniperus communis): Pseudomonas (Janssen und Chin 1986)
– Majoran (Origanum majorana): Klostridien, Salmonella (Deans und Svoboda,
1990)
Zur Behandlung von Wundinfektionen können vor allem zu Beginn höhere
Konzentrationen von ätherischen Ölen – bis zu 20 % – notwendig sein. Wenn der
Heilungsprozess bereits eingesetzt hat, genügen oft 3 bis 10 %ige Mischungen.
Hartman und Coetzee beschrieben 2002 erfolgreiche Anwendungen von 8%igen
Mischungen. Bei infizierten Hautläsionen sollten ätherische Öle verwendet wer-
den, in deren Keimspektrum der relevante Krankheitserreger fällt.

Palliative Betreuung (Kralik 2005)

Angenehme Düfte und sanfte Berührung können viele Barrieren überwinden. Sie
können Barrieren zwischen dem Betreuungsteam und dem Patienten ebenso
verschwinden lassen wie zwischen den Lebensphasen mit dem Ziel der Akzep-
tanz der Krankheit und des nahenden Todes. Über die Berührung der Haut und
über die Empfindung von angenehmen Düften können viele palliativ betreute
Menschen auf einer niedrigeren Ebene kommunizieren, die sich in diesem Le-
bensabschnitt oft als besonders wertvoll herauskristallisiert.
Die Aromapflege ist dabei nicht selten der Katalysator für einen mitfühlenden
Dialog unter Familienmitgliedern. Die Anwendung ätherischer Öle kann kom-
plementär im Management des individuellen Beschwerdebildes, zum Beispiel
zur Behandlung von Schmerzen und Übelkeit, eingesetzt werden. Die größte
Stärke der Aromatherapie im Rahmen der palliativen Betreuung liegt aber in
ihrer Fähigkeit, die Kommunikation auf einer emotionalen und spirituellen
Moderne Aromapflege 409

Ebene zu erleichtern und das Gefühl von Wohlbefinden, Frieden und Freude zu
vermitteln.
Dem Patienten sollte eine Selektion ätherischer Öle angeboten werden. Die
Auswahl trifft der Patient selbst. Bei trauriger Stimmung eignen sich ätherische
Öle mit sanften antidepressiven Eigenschaften, zum Beispiel Citrus bergamia
und Boswellia carterii. Im Vordergrund sollte aber eine ästhetische Aromapflege
stehen, die den Patienten in ganzheitlichem Sinne erfasst und sich nicht auf spe-
zielle Problembereiche konzentriert.

Auswahl wirksamer ätherischer Öle für die Palliativpflege und Sterbebegleitung


(Shirley und Len Price 2003)
– Stressabbau: Chamaemelum nobile (Römische Kamille), Citrus limon per.
(Zitrone), Origanum majorana (Majoran), Pelargonium graveolens (Geranie)
– Stress und Insomnie: Chamaemelum nobile (Römische Kamille), Cananga
odorata (Ylang Ylang), Citrus reticulata per. (Mandarine), Lavandula angusti-
folia (Lavendel), Origanum majorana (Majoran)
– Depression: Ocimum basilicum var. album (Europäisches Basilikum), Thymus
vulgaris Ct. Geraniol (Thymian), Citrus bergamia (Bergamotte), Citrus auran-
tium var. amara flos (Neroli)
– Depression und Immunmodulation: Boswellia carterii (Weihrauch), Citrus ber-
gamia (Bergamotte), Melaleuca viridiflora (Niaouli)
– Angst und Verzweiflung: Boswellia carterii (Weihrauch), Citrus reticulata per.
(Mandarine), Citrus aurantium var. amara flos (Neroli), Cananga odorata
(Ylang Ylang)

Ätherische Öle in der letzten Lebensphase

Phase 1: Nicht wahrhaben wollen


Diese Phase ist bei vielen alten Menschen nicht wirklich ein Problem, da sie ihr
Leben gelebt haben und scheinbar zum Sterben bereit sind oder den Tod sogar
herbeisehnen.
Dennoch – im Verhalten äußert sich dieses Negieren manchmal in impulsi-
ven, unkontrollierten Reaktionen, auch mit Gedanken an einen Suizid.
Diese Öle bieten sich an:
– Rosmarin (Rosmarinus officinalis): wirkt aufrichtend, Bewusstsein stärkend,
gibt geistige Klarheit.
– Sandelholz (Santalum album): löst momentane Anspannungen, gibt Ruhe,
harmonisiert, stärkt die Kontaktfähigkeit (Gespräche suchen).
– Orange (Citrus sinensis syn. Aurantium ssp. dulcis): wirkt harmonisierend, löst
Verbitterung, vermittelt ein angenehmes Raumklima.
– Rose (Rosa damascena): wirkt ausgleichend, bringt wieder ins Lot, spendet
Trost.
410 W. Steflitsch und M. Steflitsch

Phase 2: Zorn
Seinen Zorn zeigt der Bewohner in unzufriedenem, oft aggressivem und wüten-
dem Verhalten; häufig befindet er sich in einem Zustand der Orientierungslosig-
keit.
Diese Öle bieten sich an:
– Melisse (Melissa officinalis L.): wirkt ausgleichend, mildert Emotionen, löst
Wut und Ärger auf, wirkt stärkend.
– Sandelholz (Santalum album): hilft, Aggressionen abzubauen.
– Lavendel (Lavandula alternifolia): wirkt ausgleichend bei Reizbarkeit, beruhi-
gend, aufbauend.
– Bergamotte (Citrus aurantium var. bergamia): wirkt regulierend bei Gefühls-
schwankungen, nervöser Anspannung, Angst.

Phase 3: Verhandeln
Diese Phase zeigt sich bei alten Menschen oft durch den Wunsch, Zyklen abzu-
schließen, und durch Sätze wie: „Einmal möchte ich noch …“
In dieser Phase sind Mobilisierung der Eigenkräfte, Motivation und Aktivie-
rung notwendig, wobei es wichtig ist, dem Sterbenden keine falschen Hoffnun-
gen zu machen. In dieser Zeit reißen auch alte Wunden wieder auf und manche
Enttäuschung wird noch einmal erlebt.
Diese Öle bieten sich an:
– Estragon (Artemisia dracunculus): stärkt die psychische Widerstandskraft, wirkt
ausgleichend (Emotion/Verstand).
– Zeder (Cedrus atlantica): wirkt stärkend und aufbauend.
– Zitrone (Citrus limon): erfrischt den Geist, fördert die Konzentration.
– Petit Grain (Citrus reticulata): hilft bei Enttäuschung und Trauer.
Da in dieser Phase oft sehr schwierige Gespräche stattfinden, hat sich folgende
Mischung für die Duftlampe sehr bewährt:
5 Tropfen Zeder (Cedrus atlantica)
3 Tropfen Lavendel (Lavandula angustifolia)
3 Tropfen Sandelholz (Santalum album)
3 Tropfen Grapefruit (Citrus paradisi)
1 Tropfen Ylang Ylang (Cananga odorata)

Phase 4: Depression
In dieser Phase gilt es, den Rückzug des Bewohners zu akzeptieren. Ruhe ist sehr
wichtig!
Diese Öle bieten sich an:
– Lavendel (Lavandula angustifolia): wirkt beruhigend und ausgleichend.
Moderne Aromapflege 411

– Immortelle (Helicrysum italicum): hat eine starke psychische Wirkung, wirkt


wärmend und erdend, lenkt den Blick nach innen.
– Jasmin (Jasminum grandiflorum L.): wirkt antidepressiv und gegen emotionales
Leiden.
– Tonka (Dipteryx odorata): zum Verwöhnen, wirkt antidepressiv, es tut gut und
fördert das Wohlbefinden.

Phase 5: Zustimmung
Der Sterbende nimmt sein Sterben an und stimmt zu. Jetzt sind Geborgenheit,
Wohlgefühl und Ruhe das Wichtigste.
Diese Öle bieten sich an:
– Zimt (Cinnamomum verum syn. Cinnamomum ceylanicum): warmer Duft, wirkt
einhüllend, löst Verspannungen und Angst.
– Rose (Rosa damascena): lehrt Liebe und Geduld, wirkt harmonisierend, ver-
söhnend.
– Benzoe (Styrax tonkinensis): vermittelt Geborgenheit, wirkt wohltuend, beruhi-
gend, ausgleichend.
– Zeder (Cedrus atlantica Manet): wirkt tröstend, wärmend, beruhigend.
– Dies ist nur eine kleine Auswahl der genutzten ätherischen Öle; das Bedürf-
nis des Sterbenden bestimmt ihre Auswahl und ihre Anwendung.

Körperöl „Gefühlsreise“ (Frühsammer 2005)


15 ml Jojobaöl
15 ml Mandelöl
6 Tropfen Immortelle (Helicrysum italicum)
4 Tropfen Iris 1 % (Iris germanica)
3 Tropfen Rose türkisch (Rosa damascena)
4 Tropfen Tonkaextrakt 15 % (Dipteryx odorata)
2 Tropfen Jasmin Absolue marokkanisch (Jasminum grandiflorum)
4 Tropfen Oud (Aquilaria agallocha)
1 Tropfen Neroli (Citrus aurantium)

Ausgewählte Aromapflege-Anwendungen
(Haller und das Pflegeteam der onkologischen Abteilung 2007)
Mundpflege bei moribunden Patienten:
500 ml Aqua bidest. + 1 ml Alkohol 70 % + 1 Tropfen Zitrone + 2 Tropfen
Cajeput
Fieber senkende Mischung:
1 Tropfen Pfefferminze + 1 Tropfen Zitrone + 1 ml Alkohol 70 % oder 2 EL Essig
oder 2 EL Milch + mit lauwarmem Wasser gefüllte Waschschüssel, „Wickel-
tücher“ auflegen.
412 W. Steflitsch und M. Steflitsch

Kopfschmerzen/Übelkeit:
1 Tropfen Pfefferminze + 1 Tropfen Lavendel fein + 1 ml Olivenöl auf Stirn,
Schläfen, Nacken und über dem Solarplexus einreiben
„Bodylotion“ (Ganzkörperöl) zur Stärkung des Immunsystems (nach dem Duschen in
die noch feuchte Haut einzumassieren):
1 Tropfen Teebaum + 1 Tropfen Manuka + 1 Tropfen Lavendel fein + 10 ml
Olivenöl
„Wohlfühl-Waschung“
1 Tropfen Rosmarin + 1 Tropfen Lavendel fein + 1 Tropfen Eucalyptus radiata +
1 Tropfen Thymian Ct. Geraniol in das Waschwasser
„Harmonisierende Loslass-Mischung“ (Stirn, Schläfen, Handflächen, Fußsohlen,
Solarplexus):
1 Tropfen Rose 100 % + 2 Tropfen Sandelholz + 2 Tropfen Orange + 3 ml
Olivenöl
Exulzerierende Wunden:
Reinigung mit Rosen-, Rosmarin-, Myrten- oder Teebaumhydrolat (oder Ringer-
lösung bzw. physiologischer Kochsalzlösung), Jelonet Fettgaze über das gesamte
Wundareal, großzügige Befeuchtung der Fettgaze mit einer Mischung aus 1 Trop-
fen Deutsche Kamille + 1 Tropfen Basilikum + 1 Tropfen Rosmarin + 2 Tropfen
Orange oder Bergamotte + 2 Tropfen Lavendel fein oder Palmarosa + 2 Tropfen
Teebaum + 1 Tropfen Manuka + 30 ml Olivenöl, darüber Vliwin, Fixierung mit
Schlauchmull oder Netzschlauchverband
Modifikation: zusätzlich 1 Tropfen Orange bei Depression; 1 Tropfen Pfeffer-
minze zur Kühlung bzw. besseren Schmerzstillung; Thymian Ct. Geraniol anstatt
Teebaum; Lemongrass statt Orange oder Palmarosa

Hautpflege
Einreibung der gefährdeten Hautareale mit hautpflegendem Körperöl oder mit
der Wohlfühlmischung nach dem Waschen oder Baden und vor dem Zubettge-
hen.
Hautpflegendes Körperöl
5 Tropfen Lavendel (Lavandula angustifolia)
5 Tropfen Zeder (Cedrus atlantica Manet)
4 Tropfen Geranie (Pelargonium graveolens)
1 Tropfen Rosmarin (Rosmarinus officinalis Ct. 1,8-Cineol)
auf 50 ml Basisöl (40 ml Mandelöl und 10 ml Weizenkeimöl)
Wohlfühlmischung:
4 Tropfen Zeder (Cedrus atlantica Manet)
6 Tropfen Lavendel fein (Lavandula angustifolia)
5 Tropfen Orange süß (Citrus sinensis)
auf 50 ml Basisöl (40 ml Mandelöl und 10 ml Weizenkeimöl)
Moderne Aromapflege 413

Waschen nach Standard


2 bis 3 Tropfen des nach Bedürfnis ausgewählten ätherischen Öls in 50 ml Milch
tropfen. Mischung ins Waschwasser geben.
– entspannend, beruhigend: Lavendel
– angstlösend: Zeder, Lavendel
– erfrischend, anregend: Rosmarin, Zitrone (Citrus limon)
– Unterstützung bei depressiven Patienten: Bergamotte (Citrus aurantium var.
bergamia)

Baden und Waschen nach Standard


Für ein Vollbad 1 EL einer der folgenden Meersalz-Grundmischungen ins Wasser
geben, zum Waschen ½ EL.
Beruhigende und entspannende Grundmischung
10 Tropfen Bergamotte (Citrus aurantium var. bergamia)
10 Tropfen Lavendel (Lavandula angustifolia)
5 Tropfen Sandelholz (Santalum album)
5 Tropfen Zeder (Cedrus atlantica Manet)
in 250 g Meersalz verschütteln
Erfrischende und anregende Grundmischung
10 Tropfen Grapefruit (Citrus paradisi)
10 Tropfen Palmarosa (Cymbopogon martinii)
10 Tropfen Weißtanne (Abies alba)
in 250 g Meersalz verschütteln

Raumbeduftung – nur mit Hilfe einer elektrischen Duftlampe


(Aromastone)
3–8 Tropfen (je nach Raumgröße) der Grundmischung pro Anwendung direkt in
die Schale der elektrischen Duftlampe tropfen. Kein Wasser in die Schale geben;
keine Dauerbeduftungen durchführen, nicht nachtropfen.
Grundmischung zur Raumbeduftung
70 Tropfen Bergamotte (Citrus aurantium var. bergamia)
70 Tropfen Lavendel (Lavandula angustifolia)
3 Tropfen Rose (Rosa damascena)
70 Tropfen Zeder (Cedrus atlantica Manet)
Palliativpflegemischung für eine Handmassage
1 Tropfen Rose (Rosa damascena)
5 Tropfen Sandelholz (Santalum album)
4 Tropfen Zeder (Cedrus atlantica Manet)
auf 50 ml Mandelöl
414 W. Steflitsch und M. Steflitsch

Literatur
Buchmeyr B, Deutsch E, Fink M (2007) Aromapflege Handbuch. Verlag Grasl
Buckle J (2004) Clinical aromatherapy – essential oils in practice, 2nd edn. Churchill Livingstone
Fischer-Rizzi S (2002) Himmlische Düfte – Aromatherapie, Anwendung wohlriechender Pflan-
zenessenzen und ihre Wirkung auf Körper und Seele. AT Verlag, Aarau
Frühsammer R (2005) Abschied – der Weg zu einem neuen Anfang. Magazin FORUM für
Aromatherapie und Aromapflege, Leoding, Österreich
Haller E und das Pflegeteam der onkologischen Abteilung (2007) Wilhelminenspital der Stadt
Wien, Österreich
Kralik G (2005) Sterbebegleitung mit ätherischen Ölen. Magazin FORUM für Aromatherapie
und Aromapflege 27/2005, Speyer, BRD
Werner M, von Braunschweig R (2006) Praxis Aromatherapie: Grundlagen – Steckbriefe – Indi-
kationen. Karl F. Haug Verlag

Reichhaltige Informationen über Aromatherapie und Aromapflege mit zahlreichen


Buchtipps und Internet-Links: www.aroma-life.at

Offizielle Vertretung der Aromatherapie und Aromapflege in Österreich:


Österreichische Gesellschaft für wissenschaftliche Aromatherapie und Aromapflege (ÖGwA)
www.oegwa.at
Revision

Wickel und Kompressen

B. BUCHMAYR

Was bei den Chinesen die traditionelle chinesische Medizin und das Ayurveda
für die Inder, ist im deutschsprachigen Raum u. a. das Therapiekonzept nach
Kneipp mit den fünf Säulen (Hydrotherapie, Bewegungstherapie, Ernährung,
Pflanzenheilkunde und Ordnungstherapie). Diese komplementären Pflegemaß-
nahmen mit Wickel und Kompressen für die Heilpflanzen, fette Pflanzenöle und
ätherische Öle verwendet werden, sind seit Jahrhunderten in unseren Breiten für
ein ganzheitliches Konzept der europäischen Volksheilkunde als „Hausmittel“
bekannt.
Es hat sich gezeigt, dass Patienten, die der komplementären Pflege allgemein
positiv gegenüberstehen, auch im Fall von Schmerzen und Ängsten dafür zu-
gänglich sind. Das hat sowohl mit der Wirkung der Methoden selbst als auch
damit zu tun, dass natürliche Maßnahmen dazu beitragen, dass der Patient sich
ernst genommen fühlt, Vertrauen fasst und das pflegerische Handeln als kompe-
tent und unterstützend wahrnimmt.
Wickel und Kompressen wirken nicht nur lokal, sondern allgemein auf die
physische und psychische Befindlichkeit des Patienten. Wickel können bei Er-
wachsenen, schwer und schwerst Kranken oder sterbenden Patienten und bei
großer Sorgfalt und unter Beachtung der Aufsichtspflicht auch bei Säuglingen
und Kleinkindern angewendet werden – wobei das genaue Wissen um Wirkung,
Indikationen und Kontraindikationen dafür unerlässlich ist.
Wickel unterstützen den Körper im Umgang mit Stress, Unwohlsein und
Krankheit und können Schmerzen lindern. Ihre Anwendung sorgt zugleich auch
dafür, dass der Organismus während einer Krankheit – über die Dauer der An-
wendung hinaus – zur Ruhe kommt. Durch das Einhüllen geben die Wickel ein
Gefühl von „Gehalten-Werden“, daher sind sie für Kleine und Große, für Jung
und Alt geeignet!
Wichtige Regel: Stets nur ein Wickel zu einem Zeitpunkt!
Bei der Auswahl des Wickels sollen Grunderkrankungen sowie chronische
Erkrankungen mitbedacht werden, um die richtige Wahl bei Temperatur bzw. Wi-
ckelzusatz zu treffen.
416 B. Buchmayr

Wickelzusätze, die der Patient nicht mag, die er z. B. nicht riechen kann, soll-
ten auch nicht verwendet werden (Sympathie oder Antipathie).
Die Wickelzeit richtet sich grundsätzlich nach den Wickelzusätzen bzw. wie
lange es für den Patienten angenehm ist. Die der Anwendung eines Wickels fol-
gende so genannte Nachruhe ist unbedingt einzuhalten. Wird der Wickel am
Abend gemacht, dann ist der Schlaf die Nachruhe!
Bei Patienten mit akuten oder chronischen Schmerzen ist unbedingt auf die
Krankheit selbst und das Stadium der Erkrankung zu achten, aber auch ganz be-
sonders auf das eigene Gespür und die Reaktion des Patienten, sein Wohlbefin-
den, seine Sympathie oder Antipathie die Anwendung betreffend.
Die Anwendung von Wickeln und Kompressen im Zusammenhang mit
Schmerz führt zur Schmerzlinderung, zur Linderung möglicher Nebenwirkun-
gen von Schmerzmedikamenten wie Übelkeit, Verdauungsproblemen, Hautreak-
tionen, depressiven Verstimmungen etc., zu einer verbesserten Tätigkeit der Le-
ber und aller anderen Organe, zur Entzündungshemmung, zur Verbesserung der
Mobilität und insgesamt zu einer höheren Lebensqualität.

Wirkung von Wickeln und Kompressen


Feuchte Wickel (ob kalt oder warm/heiß) besitzen auf Grund des dabei verwen-
deten Wassers eine große Leitfähigkeit. Feuchte Haut kann sowohl Kälte als auch
Wärme um ein Vielfaches besser leiten als trockene Haut.
Warm-feuchte/heiß-feuchte Wickel mit warmem Wasser, Teeabsud, Wasser
mit ätherischen Ölen, Kartoffeln, Heublumen oder Leinsamen sind besonders
wirkungsvoll. Zu dieser Art von Wickeln gehören auch die heiße Dampfkom-
presse und die heiße Rolle.
Wirkung: Optimaler Transport von Nährstoffen, gesteigerte Zufuhr von
Sauerstoff durch verbesserte Durchblutung und damit insgesamt Unterstützung
und Stärkung der Organe. Auch werden durch die verbesserte Durchblutung
Stoffwechsel-Abbauprodukte wie Harnstoff, Harnsäure, Wasser und Kochsalz
über das größte Ausscheidungsorgan, die Haut, schneller ausgeschieden. Die Ent-
spannung der Muskeln, ebenfalls eine Wirkung, führt zur Linderung von Schmer-
zen und zur Lösung von Krämpfen, die Verdauungsorgane werden angeregt.
Weiters kann die Sekretion (Schleimlösung) gefördert und Hustenreiz gestillt
werden.
Durch bestimmte Wickelzusätze kann die pharmakologische Wirkung der Wi-
ckel (Inhalation ätherischer Öle, lokale und generalisierte Wirkung) zusätzlich
verstärkt werden.

Kartoffelwickel
Als wohl wichtigster Vertreter ist der Kartoffelwickel zu nennen, der hier näher
vorgestellt werden soll. Der Kartoffelwickel wird auch als „Bauernfango“ be-
zeichnet: ein wunderbarer, heiß-feuchter, lang anhaltender Wärmespender mit
besonderer Tiefenwirkung.
Wickel und Kompressen 417

Indikationen
Verspannungen und Schmerzen im Nacken, Schulter, Wirbelsäule u. Ä.; Kopf-
schmerzen auf Grund von Verspannung, Bronchitis, Halsschmerzen, chronischen
Gelenksbeschwerden; Bauchschmerzen, Blähungen, Menstruationsbeschwerden
(jedoch Vorsicht bei unklaren Bauchschmerzen!), Einschlafstörungen (auf Solar-
plexus), Harnwegsinfekte, zur Unterstützung und Entgiftung der Leber als Leber-
wickel.
Zubereitung

Abb. 1. Kartoffelwickel

Abb. 2. Kartoffelwickel.
Gekochte Kartoffeln auf ein
Baumwolltuch und in
Küchenkrepp einschlagen

Abb. 3. Kartoffelwickel.
Tuch zusammenlegen und die
Kartoffeln zerdrücken
418 B. Buchmayr

Abb. 4. Kartoffelwickel.
Temperaturkontrolle am
Unterarm und Patienten
greifen lassen

Abb. 5. Kartoffelwickel.
Die Seite mit nur einem
Stoffteil auf die entsprechende
Körperstelle auflegen

Ist der Wickel dem Patienten zu heiß: abnehmen, auskühlen lassen und noch-
mals neu anlegen.
Mit einem Zwischentuch aus Baumwolle und dem Außentuch aus Baumwol-
le, Molton oder Wolltuch befestigen.

Zeit der Anwendung


bis zu einer Stunde und länger, wenn der Wickel als angenehm empfunden wird
1-mal täglich über mehrere Tage bis Wochen.

Kontraindikationen
Bluthochdruck- oder Herzpatienten, Diabetiker, Frauen im Klimakterium, ältere
Patienten mit der Gefahr von inneren Blutungen durch Gerinnungsmedikamen-
te, verwirrte oder gelähmte Menschen, Intensivpatienten, Säuglinge und Klein-
kinder.
Besondere Vorsicht ist geboten bei jeglicher Art von unklaren Symptomen,
nach Operationen und bei Fieber.
Wickel und Kompressen 419

Kühle/kalte Wickel
Wickel finden vor allem bei akuten Entzündungen aller Art Anwendung. Allge-
mein gilt für sie die Regel: Die Anwendung ist nur erlaubt bei einem warmen
Körper bzw. Körperteil!
Wickelzusätze: Topfen/Quark, Eiskompressen sowie fiebersenkende Maß-
nahmen.

Wirkung
Kühlend, fiebersenkend, schmerzlindernd, abschwellend und entzündungs-
hemmend, Drosselung der Funktion schmerzempfindlicher Nerven, Begrenzung
von Schwellung. Bei unsachgemäßem Umgang kann eine Gewebeschädigung
durch Unterkühlung entstehen.

Topfenwickel
Magertopfen guter Qualität ist ausreichend. Immer in ein Baumwolltuch einpa-
cken, nie pur auf die Haut auflegen; der Topfen soll kühl, muss aber nicht direkt
aus dem Kühlschrank sein.

Indikationen
Akute Entzündungen, welche Gelenke und/oder Sehnen betreffen, rheumatische
Beschwerden, Halsschmerzen (den Topfen nur von Ohr zu Ohr anlegen, ansons-
ten Gefahr der Neuralgie!), Phlebitis und Thrombophlebitis, Prellungen, Verstau-
chungen, Haematome, Insektenstiche, Mastitis.

Anwendung
bis zu einer halben Stunde bzw. bis der Topfen bröckelig oder warm geworden
ist. Die Anwendung kann bei Bedarf bis zu ca. 3-mal wiederholt werden.
Hinweis! Der kühle Wickel ist für Kinder meist nicht angenehm, doch denken
Sie daran, dass er manchmal unerlässlich ist.

Temperierte Wickel
Eine sehr schnell vorzubereitende, duftende und fein wirksame Wickelanwen-
dung ist die temperierte Ölkompresse.

Wirkung
Die milde Wärme der tierischen Fette oder fetten Pflanzenöle und die ätheri-
schen Öle wirken mild durchblutungsanregend, schmerzlindernd, schleimlösend
und entzündungshemmend.
420 B. Buchmayr

Bei der temperierten Ölkompresse kommt ein Wärmeimpuls von außen, der
die ganze Nacht erhalten bleibt. Die verwendete Roh-/Heilwolle (einmal gewa-
schene Schafwolle) unterstützt die Wärme durch das Wollfett/Lanolin; der Wickel
produziert eine eigene Wärme, welche von Patienten als angenehmer empfun-
den wird als beispielsweise der Kartoffelwickel, bei dem der Körper die Wärme
nicht selbst erzeugt, sondern durch Zufuhr von Wärme von außen unterstützt
wird.
Wickelzusätze wie früher (aber auch heute noch) Schweineschmalz, Butter
oder andere tierische Fette wirken wärmend; Olivenöl leicht durchblutungsanre-
gend und wärmend, Sesamöl entgiftend, Johanniskrautöl/Mazerat schmerzlin-
dernd.

Zubereitung

Abb. 6. Temperierte
Ölkompresse. Vorbereitung:
2 Baumwollwindel/
Geschirrtücher,
Wärmeflasche, Rohwolle
in Baumwolle gehüllt und
Pflanzenöl

Abb. 7. Temperierte
Ölkompresse. Fettes
Pflanzenöl eventuell mit
Zusätzen von ätherischen
Ölen auf ein dreifach
zusammengefaltetes
Baumwolltuch träufeln
Wickel und Kompressen 421

Abb. 8. Temperierte
Ölkompresse.
Ins Plastiksäckchen geben, mit
Wärmflasche,
Baumwolltuch und
Rohwollkissen anwärmen

Abb. 9. Temperierte Ölkompresse.


Auf den betreffenden Körperteil
(ohne Plastik),
eine Windel sowie die Rohwolle
legen und befestigen.

Indikationen

Vor allem für Säuglinge und Kleinkinder, für Schwerkranke und ältere Menschen
geeignet und für alle jene, die von Schmerzen auch psychisch sehr mitgenom-
men werden.
Studien über Schmerzpatienten führen immer wieder die hohe Rate der De-
pressionen als Begleiterkrankung an, daher sind vor allem ätherische Öle eine
duftende und wirksame Unterstützung!
422 B. Buchmayr

Der temperierte Wickel vermittelt ein angenehmes, fast kuscheliges Gefühl


und wird „wie eine Art Streicheleinheit“ wahrgenommen. Er ist vor allem für
von Krankheit/Schmerz erschöpfte Patienten hervorragend geeignet.
Werden ätherische Öle als Zusätze verwendet, so sollten diese nicht täglich
gewechselt werden. Eine Pause von ca. 3 Tagen wird nach ca. 8 Tagen Anwen-
dung empfohlen.
Anbei eine sehr beliebte „Wohlfühlmischung“, die schmerzlindernd, ent-
spannend und schlaffördernd wirkt und sowohl für eine Einreibung als auch für
eine temperierte Ölkompresse verwendet werden kann:
5 gtt Lavendel fein oder Lavendel extra/Lavandula angustifolia
5 gtt Zeder/Atlaszeder Cedrus atlantica, Cedrus deodorata
5 gtt Orange/Citrus sinensis
5 gtt Tonkabohne/Dipteryx odorata in 100 ml Johannis-, Oliven- oder Sesamöl
als 1%ige Mischung, die in der Apotheke hergestellt wird (gesetzliche Aspekte
beachten!).
Ätherische Öle müssen höchste Qualität aufweisen und mit der in der Aromapflege
üblichen 1%igen Mischung mit äußerster Sorgfalt mit dem entsprechenden fachlichen
Wissen zur Anwendung kommen.

Hautreizende Wickel

Wickelzusätze wie Kren/Meerrettich, Ingwer, Senfmehl wirken stark wärmend,


durchblutungsanregend, muskelentspannend, schmerzlindernd, entzündungs-
hemmend und schleimlösend.

Kontraindikation
bei empfindlicher Haut, bei Schwerstkranken, Säuglingen und Kleinkindern so-
wie bei allen Patienten, die uns keine Rückmeldungen geben können!
Diese Wickelzusätze kommen vor allem bei sehr verspannter und schmer-
zender Muskulatur zur Anwendung, ebenso bei Nasennebenhöhlenentzündung.

Fußbad

Das Fußbad ist eine ausgezeichnete Alternative für Patienten, die kein Vollbad
nehmen können. Fußbäder sind inzwischen fester Bestandteil in manchem Kli-
nikalltag. Sie bewirken verbesserten Schlaf, warme Füße und damit leichteres,
gutes Einschlafen sowie Schmerzreduktion.

Indikationen für ein warmes Fußbad


Das Wasser sollte angenehm warm temperiert sein und bis über die Knöchel
bzw. zur halben Wade reichen, die Füße ca. 10–15 Minuten im Wasser bleiben.
Wenn erwünscht, wird warmes Wasser nachgegeben (= aufsteigendes Fußbad).
Wickel und Kompressen 423

Besonders bei älteren Menschen empfiehlt es sich, eine gefüllte Wärmeflasche


auf den Boden der Schüssel zu legen, um so die Gefahr der Verbrennung zu ver-
meiden. Zum Abschluss einen kühlen Guss – bei Venenproblemen und wenn
Salz als Emulgator verwendet wurde; danach gut abtrocknen, eventuell Socken
anziehen und die Nach- bzw. Bettruhe einhalten.
Anzuwenden ist das Fußbad bei beginnender Erkältung mit Frösteln, Kopf-
schmerzen, Migräne – zur Ausleitung und Entgiftung, bei Harnwegsinfekten und
zur Entspannung bzw. als Einschlafhilfe.

Zusätze
Meersalz: Menge je nach Person: Kind – 1 Kaffeelöffel, Erwachsener – bis zu
2 Esslöffel. Ätherische Öle als Zusatz: Lavendel fein-extra/Lavandula angustifolia,
Cajeput/Melaleuca leucadendra, Pfeffer schwarz und grün/Piper nigrum u. a., zum
Entspannen und um Schmerzen zu lindern; Bergamotte/Citrus bergamia, Angeli-
ka/Angelica archangelica, Melisse/Melissa officinalis, Palmarosa/Cymbogogon marti-
nii u. v. m., aufbauend und stärkend.
Ätherische Öle sind somit nach Symptomatik und Wirkung auszuwählen und
immer mit Milch, Schlagobers, Honig oder Salz zu emulgieren.

Zum guten Schluss

Auf die vielen Wickelanwendungen, deren Wirkung sowie deren unterschiedli-


che Zusätze kann leider in diesem kurzen Beitrag nicht eingegangen werden.
Aus ökonomischer Sicht ist positiv anzumerken, dass viele Grundstoffe für
komplementäre Anwendungen, wie Zwiebel, Kartoffel & Co., keine hohen Kos-
ten in der Anschaffung verursachen und keiner besonderen Entsorgung bedür-
fen. Der Kostenfaktor spielt vor allem auch bei chronischen Schmerzpatienten
eine Rolle, da diese oft umfangreiche Therapien auf Selbstkostenbasis absolvie-
ren (müssen).

Abb. 10. Wickelzusätze.


Alle Abbildungen
fotografiert von Andreas
Schachl, Eggelsberg
424 B. Buchmayr

Die komplementäre Pflege erfreut sich steigenden Interesses sowie wachsen-


der Akzeptanz und findet vermehrt Einzug in den Alltag vieler Kliniken, Alten-
und Seniorenheime, der Hauskrankenpflege und damit auch im privaten Bereich.
Für den guten, sicheren und wirksamen Einsatz der Anwendungen ist fun-
diertes Fachwissen und darüber hinaus hohe Sensibilität im Umgang mit Patien-
ten erforderlich. Da ein Teil der Anwendungen in den mitverantwortlichen Be-
reich gehört, ist die Absprache mit dem Arzt notwendig.
Umfangreiche Erfahrungen und Erfolge in der Anwendung komplementärer
Maßnahmen in der Gesundheits- und Krankenpflege sowie die positiven Rück-
meldungen von Patienten lassen den Schluss zu, dass komplementäre Pflege, wo
sie sinnvoll eingesetzt wird, eine sehr gute Ergänzung der Schulmedizin in der
Behandlung von akuten und chronischen Schmerzen sein kann.

Nützliche Adressen
www.bärbl-buchmayr.com – Fort- und Weiterbildungen zum Thema: komple-
mentäre Pflege, Wickel und Kompressen, Heilpflanzen, Aromapflege
www.oegkv.at/ Österreichischer Gesundheits- und Krankenpflegeverband
x Weiterbildung zur Aromapflege – Landesverband Steiermark
x Weiterbildung komplementäre Pflege – Landesverband Tirol
www.wickel.biz
www.linum-schule.de – Ausbildung zur Wickelfachfrau

Literatur
Buchmayr B, et al (2007) Aromapflegehandbuch. Grasl, Bad Vöslau
Bühring U (2009) Praxis-Lehrbuch der modernen Heilpflanzenkunde. Grundlagen – Anwen-
dung – Therapie, 2. Aufl. Sonntag, Stuttgart
Bühring U (2008 ) Heilpflanzen in der Kinderheilkunde. Das Praxis-Lehrbuch. Sonntag, Stutt-
gart
Sonn A, et al (2004) Pflegethema: Wickel und Auflagen, m. CD-Rom. Thieme, Stuttgart
Thüler M (2003) Wohltuende Wickel. Wickel und Kompressen in der Kranken- und Gesund-
heitspflege. Eigenverlag
Uhlemayr U (2001) Wickel und Co. Bärenstarke Hausmittel für Kinder. Urs, Dietikon-Zürich
von Braunschweig R (2007) Pflanzenöle, Qualität, Anwendung und Wirkung. Stadelmann,
Wiggensbach
Werner M, von Braunschweig R (2005) Praxis Aromatherapie. Grundlagen, Steckbriefe, Indika-
tionen. Haug, Stuttgart
Zeh K (2008) Handbuch ätherische Öle. Joy, Oy-Mittelberg
Revision

Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen


Wissenschaft und Empirie

R. M. BACHMANN
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie
R. M. Bachmann

Einleitung

So genannte Naturheilverfahren definieren sich häufig in Widerspruch zur


Schulmedizin. Dies ist keine reale Dissonanz, sondern bezieht sich höchstens auf
Außenseitermethoden, d. h. obskure Verfahren wie Frischzellentherapie, Au-
gendiagnostik usw., die deutlich ausgegrenzt und nicht Gegenstand der Aus-
führungen sind.
Verfahren aus dem Bereich der klassischen Methoden sind auf die hippokrati-
sche Diaita zurückzuführen und sind im Rahmen der Physiotherapie nach
Kneipp im Bereich der Prävention und Rehabilitation wirksam und wissen-
schaftlich anerkannt. Neben der bekannten Hydrothermotherapie (120 An-
wendungen in Form von Güssen, Wickeln, Bädern, Teilbädern) beinhaltet sie
weitere synergetische Wirkungsprinzipien:

Physiotherapie nach Kneipp


Phytotherapie
Die Anwendung von Pflanzen als Drogen, Badezusätze (Resorption über die
Haut), Tees, z. B. Weißdorn (Crataegus) beim behandlungs-, aber noch nicht
digitalisbedürftigen Altersherz (NYHA Stad. II), Johanniskraut zur Stimmungs-
aufhellung, Kümmel – Anis – Fenchel zur Entblähung, Verdauungsanregung etc.

Bewegungstherapie
Passive (Muskelmassage) reflektorische Beeinflussung innerer Organe (z. B.
BGM), aktivierende Mobilisation, Krankengymnastik, Atemgymnastik bis zu
sportlichen Betätigungen, vom Abendspaziergang bis zum Bewegungsbad,
Schwimmen.
426 R. M. Bachmann

Ordnungstherapie
Entspannungsmethoden wie Autogenes Training, Muskelrelaxation nach Jacob-
sen, Yoga, über gesundheitsmotivierende Vorträge bis zu zeitordnenden (chrono-
hygienischen) Anwendungsprinzipien sowie Psychohygiene.

Ernährungstherapie
Zeitgemäße vollwertige Ernährung in schonender Zubereitung auf ovolaktove-
getabiler Basis, herzentlastende Tage (Kartoffel) usw.
Diese Methoden sind meist mit den vorhandenen Strukturen (Einrichtungen
sowie personell) umsetzbar und bei folgenden Erkrankungen/Hauptindikationen
anwendbar:
– Stoffwechselkrankheiten (Diabetes, Gicht, Hypercholesterinämie)
– Erkrankungen der Verdauungsorgane (z. B. Obstipation, Reizmagen, Reiz-
darm)
– rheumatische Erkrankungen (degenerativ und entzündlich)
– Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (Hypotonie, Hypertonie, „Alters-
herz“)
– Hautkrankheiten (Atrophie, Ekzeme, Pruritus)
– Erkrankungen des Nervensystems (Kopfschmerz, Migräne)
– Erkrankungen der Atmungsorgane (Emphysembronchitis, Asthma bronchia-
le)
– Allergische Erkrankungen (Neurodermitis, Astma)
– Durchblutungsstörungen arteriell und venös, Lymphsystem
In der Geriatrie verdienen die Naturheilverfahren besondere Beachtung we-
gen ihrer medikamentensparenden Effekte (Nebenwirkungsproblematik), insbe-
sondere bei Vielfacherkrankungen.

Naturheilverfahren
Definition und Anwendung
Naturheilverfahren sind Teil der Gesamtmedizin, d. h., Schulmedizin und Natur-
heilverfahren konkurrieren nicht miteinander, sondern ergänzen sich. Sie sollen
vorwiegend in Form der so genannten klassischen Naturheilverfahren (natürli-
che Reize wie Luft, Licht, Ernährung/Fasten, Bewegung, Massage etc.) ange-
wandt werden und Körper, Geist und Seele zu positiven, heilenden, ordnenden
trophotropen Reaktionen veranlassen. Hieraus ergibt sich, dass sie in erster Linie
im Bereich der Prävention (Erstprävention = z. B. „Abhärtung“, Infektions-
prophylaxe; Zweit- und Drittprävention, also Rezidivprophylaxe) und Rehabilita-
tion eingesetzt werden. Aber auch in der Kurativmedizin finden sie Anwendung
(z. B. Wadenwickel bei fieberhaften akuten Infektionskrankheiten, warmes Sitz-
bad bei Infekten der ableitenden Harnwege). Hinzu kommen Heilverfahren wie
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 427

Neuraltherapie und Akupunktur. Naturheilverfahren gehören in die Hand des


Arztes und sollten nicht Laienmedizinern und Außenseitern überlassen werden.
Außenseitermethoden bevorzugen häufig einen derzeit mit wissenschaftlichen
Methoden nicht nachweisbaren hypothetischen Wirkungsmechanismus, wobei
teils sehr fragwürdige diagnostische und therapeutische Methoden zur Anwen-
dung kommen, z. B. Augendiagnose, Frischzellen etc.

Indikationen
Alle durch die Lebensführung, insbesondere auch durch Bewegung und Er-
nährung beeinflussbaren Erkrankungen: Zahnerkrankungen mit Parodontose-
neigung, Risikostatus (vor allem Fettstoffwechselstörungen), Diabetes mellitus,
Hyperurikämie, Gicht, Adipositas, Obstipation (atonisch und spastisch), Hyper-
tonie, degenerative rheumatische Erkrankungen der Wirbelsäule und der großen
Gelenke, weichteilrheumatische Erkrankungen, chronische Bronchitis, Erschöp-
fungszustände, funktionelle Störungen aller vegetativ gesteuerten Organsysteme
einschließlich reaktiver Verstimmungszustände, Depressionen, Schlafstörungen,
arterielle Verschlusskrankheiten, chronische Kreislaufdysregulation (insbesondere
Hypotonie), entzündliche Gelenkerkrankungen bei bekannter Familienanam-
nese, Hepatopathien, Mangel- und Fehlernährungen, allergische Diathese, vor
Operationen.

Kontraindikationen
Kontraindiziert sind Naturheilverfahren bei Patienten mit reinem Anspruchs-
denken (Gesundheit als Kassenleistung), Passivität und fehlendem Leidensdruck
bzw. fehlendem eigenverantwortlichem Gesundheitsbewusstsein, da sie einer
naturheilkundlichen Behandlung nur schwer zugänglich sind. Weiterhin sind alle
substitutionsbedürftigen Zustände (z. B. Hypothyreosen, Insulin- und hormon-
pflichtige Zustände) auszuschließen, ebenso alle durch Operationen zu behan-
delnden Situationen sowie Notfälle, die mechanische, substitutionelle oder in-
tensivmedizinische Maßnahmen erfordern. Eine weitere Kontraindikation ist
mangelnder Informationsstand des Arztes und mangelnde Compliance des Pati-
enten sowie eine unklare Zielsetzung dessen, was mit der jeweiligen Methode
erreicht werden kann.

Physiotherapie
Physiotherapie ist Naturheilkunde im weitesten Sinne, wobei vorwiegend mit
natürlichen physikalischen Mitteln (physikalische Therapie) in erster Linie die
natürlichen Selbstheilungs- und Selbstordnungskräfte des Organismus ange-
sprochen werden. Herausragendes und umfassendstes Beispiel ist die Phy-
siotherapie nach Kneipp, die den Menschen als eine Einheit von Körper, Geist
und Seele behandelt und dazu neben den physikalischen Mitteln (Wasser und
Bewegung) auch die Ernährungs-, Phyto- und die Ordnungstherapie miteinbe-
zieht.
428 R. M. Bachmann

Naturheilverfahren als Reiz-Reaktions-Prinzip

„Um gesund zu bleiben, muss sich der Mensch bewegen, schwitzen und soll das
Wasser in seiner mildesten Form gebrauchen." (Sebastian Kneipp)

Der Effekt einer Reizsetzung liegt in der zeitlichen nachfolgenden, örtlichen,


fortgeleiteten oder systemischen Reizbeantwortung. Der Körper soll dadurch zu
sinnvollen positiven Reaktionen veranlasst werden (örtlich, d. h. im Segment,
sowie im gesamten vegetativen und endokrinologischen System). Alle darge-
stellten Methoden arbeiten hinsichtlich ihrer Reizstärke nach der Gesetzmäßig-
keit: Schonung – Entlastung – Reizsetzung in folgender Dosierung:
– Zu kleine Reizstärken schwächen.
– Kleine Reizstärken regen an.
– Gut dosierte, mittlere Reizstärken kräftigen.
– Zu große Reize schaden.
(siehe Tabelle 1).

Tabelle 1. Beispiele

Reiz Therapieform

Luft Luftbad, Sauna


Licht Heliotherapie (natürliche Sonnenbe-
strahlung: Sonnenbad) Phototherapie
(künstliche Lichtbestrahlung: Infrarot,
Ultraviolett)
Wasser (Temperatur) Kneipp-Hydrotherapie: Waschungen,
Flachgüsse, Wickel, Packungen, Bäder
(Teil- bis Vollbäder)
Wasser (Temperatur + Druck] Druckstrahlmassage
Unterwassermassage
Mechanischer Reiz Klassische Massage
Bindegewebsmassage
Reflexzonenmassage
Bewegung Aktiv: Ausdauersportarten /
Intervalltraining
Passiv: Massagen, Krankengymnastik
Atmung Atemtherapie, Entspannungstherapie
Nahrung Diätetik
Fasten
Adaptogene Phytotherapie
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 429

Tabelle 2. Übersicht über Abgrenzung oder Ergänzbarkeit von Schulmedizin und Natur-
heilverfahren – Praxisrelevanz der Naturheilverfahren

„Künstliche Therapie“ „Natürliche Therapie“


(pathogenetisch orientiert) (hygiogenetisch orientiert)

Ziel Substitution Erhöhte Anpassungsfähigkeit


bei Belastung
Selektive Toxizität Behandlung des Terrains,
(z. B. Antibiotika, auf dem sich die Krankheit
Chemotherapeutika) entwickeln kann
Wirkung Direkt, primär, sofort, Indirekt, sekundär, sofort
kurz, meist nicht (ggf. auch nach
dosisabhängig Erstverschlimmerung =
Heilreaktion, Rückvergiftung),
präventiv, prophylaktisch, lang
anhaltend (Trainingsvorgänge,
vegetative Regulation), reaktiv
Substitution, Korrektur Schonung, Schulung und
Leistungssteigerung / Training,
Adaptation, Regulation
Phytotherapie Sog. forte-Präparate Sog. mite- Präparate
(z. B. Digoxin, Morphin) (z. B. Weißdorn)
Zeitpunkt des Einsatzes Vorwiegend im Akutstadium, Vorwiegend im Intervalls,
kurativ präventiv, rehabilitativorientiert,
im Akutstadium adjuvant
Diätetik Krankenkost nach dem Gesundheitsschutzkost,
Prinzip der Schonung Vollwertnahrung
Therapeutische Instanz Klinik, Krankenhaus, Arzt, Bisher leider vorwiegend Laien
Facharzt (Heilpraktiker, Patient im
Rahmen der Selbstmedikation),
naturheilkundlich informierter
Arzt
Hochschulausbildung Voraussetzung Bisher leider keine
Technische Ausstattung Hochwertig Sekundär
Patienten-Compliance Manchmal problematisch Im Allgemeinen gut
Patienten-Charakteristik Anspruch auf Gesundheit, Kooperation erforderlich,
Leidensdruck groß Motivationsproblematik
Körpereigene Keine Voraussetzung Voraussetzung
Regulationsfähigkeit
Therapie erfolgt Symptomorientiert Organübergreifend unter
Einbeziehung des sozialen
Umfeldes
430 R. M. Bachmann

Hydrotherapie
Definition
Hydrotherapie ist die Behandlung mit Wasser unter Ausnutzung seiner viel-
schichtigen Wirkung als Träger chemischer, mechanischer, elektrischer und ther-
mischer Reize. Die Hydrotherapie umfasst die Balneotherapie (z. B. Bäder mit
Peloidzusätzen, Kohlensäurebäder, Luftperl-/Luftsprudelbäder, Sauerstoffbäder,
Solebäder, Stangerbäder, subaquale Darmbäder, Inhalationstherapie, (Trinkku-
ren), die Prießnitz-Therapie, die Thalassotherapie, die Thermotherapie (unterteilt
in Kryotherapie und Wärmetherapie). Auch Sauna und richtiges Duschen (Wech-
selduschen) zählen dazu.
Besondere Bedeutung kommt der Hydrotherapie nach Kneipp mit ihren viel-
fältigen, sehr differenziert einzusetzenden Anwendungsmöglichkeiten zu. Sie hat
zudem den großen Vorteil, dass sie größtenteils mit einfachsten Mitteln und nach
einer Kur in einem Kneipp-Heilbad vom Patienten auch zu Hause weitergeführt
werden kann und somit von langanhaltender Wirkung und sehr kostengünstig
ist (Kneipp-Therapie).

Wirkung
Die Indikationen der Hydrotherapie sind sehr vielfaltig (s. u.). Ziel aller hydro-
therapeutischen Maßnahmen ist die Anregung der Selbstheilungs- und Selbst-
ordnungskräfte des Organismus, Verbesserung und Stabilisierung vegetativer,
hormoneller sowie immunologischer Vorgänge.

Balneotherapie Definition
Zur Balneotherapie zählt die Bädertherapie mit Wirkstoffzusätzen (Heilgase und
Peloide). Man unterscheidet natürliche Bäder und künstliche medizinische Bäder
als Ersatz der natürlichen. Außerdem gehören zur Balneotherapie Bäder/Teil-
bäder mit Pflanzenzusätzen und medizinische Bäder in Kombination mit weite-
ren Wirkkomponenten (hydroelektrische Bäder), ferner Trinkkuren und Inhala-
tionstherapie.

Wirkung
Die Bäder beeinflussen die Hydrostatik und wirken über die Temperatur (warme
Bäder: vagotonisierend, alkalisierend; kalte Bäder: sympathikoton, entzün-
dungshemmend, anregend). Zusätzlich erfolgt eine milde Kompression auf das
venöse und Lymphsystem (auch auf den Darm) im Behandlungsgebiet. Bei den
hydroelektrischen Bädern werden galvanische Ströme wirksam.

Indikationen einiger Bäder


– Bäder mit Peloidzusätzen: Subakute und chronische Entzündungen im Be-
reich des Bewegungsapparates, degenerative Erkrankungen des Bewegungs-
apparates, chronische, nichtentzündliche abdominelle Beschwerden (Adnexi-
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 431

tis, Prostatitis, Zustand nach Hepatitis, postoperative Zustände), Dermatosen,


Pruritus.
– Kohlensäurebad: Labile Hypertonie, essentielle Hypertonie, mäßig-gradige
Herzinsuffizienz, leichte Koronarinsuffizienz, periphere arterielle Durchblu-
tungsstörungen (Stadium I und Ha nach Fontaine), Herzinfarkt im vernarb-
ten Stadium, Nachbehandlung nach Herzoperationen, Ulcus cruris, feuchte
Gangrän.
– Luftperlbad/Luftsprudelbad: Vegetative Regulationsstörungen, Erschöpfungs-
zustände. Sauerstoffbad: Psychovegetative Erschöpfungszustände/Erregungs-
zustände, Schlaflosigkeit, vegetative Dysregulation, funktionelle Herzkrank-
heiten und Pseudostenokardien, leichte Hypertonie, leichte arterielle Durch-
blutungsstörungen (Stadium I und Ha nach Fontaine).
– Solebad: Chronische Polyarthritis im nichtentzündlichen Intervall, Morbus
Bechterew, degenerative rheumatische Erkrankungen, Psoriasis vulgaris,
Neurodermitis, vegetativ-funktionelle Störungen.
– Stangerbad: Schmerzzustände bei rheumatischen Erkrankungen (im Intervall
bzw. nichtentzündlichen Stadium), Neuralgien, Myalgien, periphere arterielle
Durchblutungsstörungen (Stadium I–II nach Fontaine), periphere Nervener-
krankungen, Polyneuropathien, chronische Hautulzera/sekundär heilende
Operationswunden, vegetative Dystonie, gynäkologische Erkrankungen.
– Subaquales Darmbad: Chronische habituelle Obstipation (spastisch und ato-
nisch), Intoxikationen, chronisch allergische Zustände, vorsichtig bei Subileus.

Kontraindikationen für alle Bäder


Nicht kompensierte Organkrankheiten (insbesondere von Herz und Kreislauf),
akut entzündliche Prozesse, Infektionskrankheiten, konsumierende Erkran-
kungen.

Bewegungsbad
Wirkung
Durch die Auftriebskraft des Wassers vermindert sich die statische Belastung auf
den Bewegungsapparat, wodurch bei Funktionseinschränkungen Bewegungen
leichter und mit weniger Schmerzen möglich sind. Positive Beeinflussung von
Bewegungsapparat, teilweise auch Kreislauf, Stoffwechsel und Vegetativum.

Indikationen
Funktionsstörungen des Bewegungsapparates bei chronisch-rheumatischen und
chronisch-degenerativen Muskel- und Skeletterkrankungen, zur Förderung der
peripheren Durchblutung und Entstauung im peripheren venösen und Lymph-
system, vegetativer Ausgleich durch Stimulation der Hautsensorik.

Kontraindikationen
Wegen des auftretenden hydrostatischen Druckes Herz-Kreislaufinsuffizienz
und/oder Ateminsuffizienz, frischer Apoplex oder Herzinfarkt, Thrombosen mit
432 R. M. Bachmann

Emboliegefahr, ausgeprägte orthostatische Regulationsstörungen bei Hypotonie,


starke Varikosis.

Besonderheiten
Das Bewegungsbad hat gegenüber der Trockengymnastik sowohl Vor- als auch
Nachteile. Von Vorteil ist die Verminderung der statischen Belastung, die Bewe-
gungen oft erst möglich macht. Nachteilig kann sich die verminderte Kontroll-
und Fixationsmöglichkeit des Patienten durch den Therapeuten auswirken.

Thermalbad
Definition
Thermalbäder sind Quellen mit gleichbleibender Temperatur über 20°C, meist
mineralreich.

Wirkung
Aufnahme von Mineralien durch die Haut, Entlastung von Muskeln, Sehnen und
Gelenken, Kräftigung und Lockerung des Bewegungsapparates.

Indikationen
Rheumatische Erkrankungen, Stoffwechselstimulation, chronische degenerative
Muskel- und Skeletterkrankungen, vegetativer Ausgleich.

Kontraindikationen
Hypertonie, frischer Apoplex, frischer Herzinfarkt, Angina pectoris, Hepatitis,
Thrombosen mit Emboliegefahr, alle akuten, insbesondere entzündlichen Er-
krankungen.

Hauff’sche Teilbäder
Definition
Hauff’sche Teilbäder sind Fuß- oder Armbäder mit langsam innerhalb von 15–20
Minuten von 35°C auf 39°C, evtl. auch auf 40–42 °C ansteigender Wassertem-
peratur, je nach Indikation kann ein entsprechender Zusatz (z. B. Kräuter) ver-
wendet werden.

Wirkung
Zentrale Kreislaufentlastung, peripher reflektorische Gefäßdilatation, Beein-
flussung und Verbesserung der Koronardurchblutung auf reflektorischem Wege,
Bronchodilatation und Sekretolyse.

Indikationen
Koronarerkrankungen, Zustand nach Herzinfarkt, Stenokardie, Hypertonie leich-
teren Grades, Herzinsuffizienz Stadium I–II (nach Einteilung der New York Heart
Association), vasomotorische gefäßbedingte Kopfschmerzen, Asthma bronchiale,
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 433

Bronchitis, Erkältungen im Kopfbereich, periphere arterielle Durchblutungs-


störungen unter Ausnutzung der konsensuellen Reaktion (z. B. bei Erkrankungen
der Beine Beginn der Behandlung an den Armen), lokale, nicht-entzündliche
rheumatische Beschwerden (Polyarthrosen der Hände, Heberden-, Bouchard-,
Rhizarthrosen).

Stangerbad
Definition
Das Stangerbad ist ein hydroelektrisches Vollbad, bei dem das Wasser als Träger
elektrischer Reize über 9 Plattenelektroden dient. Über Elektrodenpolung erfolgt
eine gezielte Steuerung des Stromflusses durch die Körperpartien.

Wirkung
Hyperämisierend, analgesierend, bei Kathode in ZNS-Nähe ionisierend, bei
Anode in ZNS-Nähe detonisierend, hydrostatisch auf Venen und Lymphgefäße.

Indikationen
Schmerzzustände bei rheumatischen Erkrankungen im Intervall bzw. nichtent-
zündlichen Stadium, Neuralgien, Myalgien, periphere arterielle Durchblutungs-
störungen (Stadium I–II nach Fontaine), periphere Nervenerkrankungen, Poly-
neuropathien, chronische Hautulzera, sekundär heilende Operationswunden,
vegetative Dystonie, gynäkologische Erkrankungen.

Kontraindikationen
Entzündliche Hauterkrankungen im Behandlungsgebiet, offene Wunden (Ero-
sionen, Rhagaden ggf. mit Zinksalbe abdecken), dekompensierte Organer-
krankungen (insbesondere Herzinsuffizienz), schwere Arteriosklerose, Malig-
nome, akut-entzündliche rheumatische Erkrankungen, Metallimplantate im
Behandlungsgebiet.

Sauna
Definition
Die Sauna ist ein trocken-heißes Raumluftbad im Wechsel mit Abkühlung durch
Außenluft und kaltem Wasser als sympathikotoner Reiz mit dem Ziel der reak-
tiven Wiedererwärmung in der nachfolgenden obligatorischen vagotonen Ruhe-
pause. Sie ist ein erstklassiges Mittel zur vegetativen Stabilisierung und Regu-
lierung, das heutzutage als Maßnahme zur Gesundheitserziehung empfohlen
werden muss, als isolierte „gesundheitsfördernde Maßnahme“ jedoch oft über-
schätzt wird. Als Luftwechselbad ist sie meist besser verträglich als balneo-
therapeutische Maßnahmen, da die Reizstärke relativ gering ist. Dem Schwitzen
durch aktive Bewegung (Ausdauersportarten) ist jedoch möglichst der Vorzug zu
geben.
434 R. M. Bachmann

Wirkung
Vasomotorentraining, milde endokrine Stimulation, Training der Wärmeregu-
lation, Steigerung der unspezifischen Abwehrleistung (Paraimmunität), neurove-
getative trophotrope Stabilisierung, psychische Aufhellung. Merke: Wichtig ist
eine ausreichende mineralien- und elektrolytreiche Flüssigkeitszufuhr nach Ab-
schluss des gesamten Vorganges einschließlich der Ruhepausen!

Indikationen
Abhärtung, Prävention bei Atemwegserkrankungen, Initialstadium von Erkäl-
tungskrankheiten (Frieren, Frösteln), Angioneuropathien (Raynaud-Syndrom),
nichtentzündliche Gelenkleiden, wenig aktive rheumatische Erkrankungen bzw.
im Intervall, Menopausen-Syndrom, arterielle Verschlusskrankheit Stadium I
und II, kompensierte Herz-Kreislauf-Krankheiten, vegetative Fehlsteuerungen,
Dystönie, Erschöpfungszustände, innersekretorische Fehlsteuerungen, Orthosta-
se-Syndrom.

Kontraindikationen
Fieberhafte Erkrankungen, akute Infektionskrankheiten, dekompensierte Or-
ganleiden, Herzinsuffizienz (Stadium III und IV nach Einteilung der New York
Heart Association), Herzinfarkt, massive fixierte Hypertonie (RR über 160/95),
Niereninsuffizienz, arterielle Verschlusskrankheiten Stadium III und IV, rheu-
matische Erkrankungen im entzündlichen Stadium, Thrombose, Anämie, Hyper-
thyreose, Lymphödem, zerebrale Anfallsleiden.

Phytotherapie
Definition
Phytotherapie ist die Anwendung pflanzlicher Heilmittel beim Menschen. Die
moderne Phytotherapie basiert selbstverständlich auf den Erfahrungen früherer
Generationen, hat aber mit der „Phytoromantik“ vergangener Zeiten, die auf der
„Nostalgiewelle“ immer wieder auftaucht, nichts mehr gemeinsam. Moderne
Phytotherapeutika sind auch nicht zu verwechseln mit Homöopathika oder
Heilmitteln im Sinne der Anthroposophie, sondern sie sind echte Arzneimittel,
meist als Stoffgemisch aus der Gesamtpflanze – im Gegensatz zur chemisch
definierten Monosubstanz. Sie umfassen schwach wirksame Mite-Präparate (z. B.
Crataegus) bis stark wirksame Forte-Präparate (z. B. Morphin).
Zwischen diesen beiden Gruppen gibt es eine große Kategorie von Übergän-
gen im Sinne so genannter Intermediärphytotherapeutika.

Prinzipien der Anwendung


Moderne wissenschaftliche (Mite-)Phytotherapie will synthetische, heute noch
bevorzugte Monosubstanzen nicht ersetzen, sondern sie versteht sich als wert-
volle Ergänzung (adjuvant auch unter dem Aspekt der Medikamentenein-
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 435

sparung) bzw. als Mittel bei Indikationen, bei denen Forte- oder allopathische
Monosubstanzen (noch) nicht erforderlich sind. Mite-Präparate gehören nicht in
die Akut- oder Notfallmedizin, wogegen viele Forte- oder allopathische Mono-
substanzen nicht zur Behandlung von Bagatellerkrankungen, funktionellen und
Befindlichkeitsstörungen herangezogen werden sollten. Bei der Behandlung
chronischer Erkrankungen (im Intervall und als Langzeittherapie) und zur
Verhütung von Krankheiten bzw. zur Stimulierung körpereigener Abwehr-
mechanismen nimmt die breite Palette der Anwendungsmöglichkeiten ständig
zu, vor allem auch, weil diese Mittel sowohl dem Wunsch der Patienten nach
nebenwirkungsarmer Therapie als auch volkswirtschaftlichen Überlegungen in
idealer Weise entgegenkommen.

Wirkung/Anwendungsbereich
Antitussiva, Expektorantien, Kardiaka, Laxantien, Magen-Darm-Mittel, Broncho-
spasmolytika, Sedativa, Leber- und Galletherapeutika, Roborantien, Urologika.

Indikationen
Krankheitsprophylaxe, gastroenterologische Erkrankungen (Stoffwechsel, Ver-
dauung), funktionelle Störungen, Befindlichkeitsstörungen, chronische Erkran-
kungen, Herzinsuffizienz Stadium I und II (nach Einteilung der New York Heart
Association).

Kontraindikationen
Akut- und Notfallsituationen, Intoxikationen, dekompensierte Organerkran-
kungen (hierbei Verwendung von Forte-Phytotherapeutika, z. B. Digitalis, Mite-
Präparate, ggf. adjuvant), substitutionsbedürftige Erkrankungen (z. B. Diabetes
mellitus, Hypothyreose), Tuberkulose.

Trinkkur
Definition
Eine Trinkkur ist die kurmäßige Anwendung von Heilwässern zu Hause oder im
Heilbad, sie wurde bereits von Friedrich Hoffmann (1660–1742) und Christoph
Wilhelm Hufeland (1762–1836) als Heilmethode erkannt.

Wirkung
Entschlackung und Verbesserung des Stoffwechsels, Verdünnung und Reinigung
des Blutes durch Ausschwemmen.

Indikationen
Allergien, Hauterkrankungen, Erkrankungen der Atemwege, Schwitzkuren,
Harnwegsinfekte, kohlensäurehaltige Wässer bei Diabetes mellitus, Gicht,
Gastritis, eisenhaltige Wässer bei Blutarmut, Hypothyreose, Unterernährung,
jodhaltige Wässer bei Arteriosklerose.
436 R. M. Bachmann

Kontraindikationen
Ödeme, hypotone Hyperhydratation, Elektrolytmangel (siehe Tabelle 3).
Tabelle 3. Mineralwässer und die Erkrankungen, bei denen sie Besserung bringen (Aus-
wahl)

Atemwegserkrankungen

Bluthochdruck [salzarm]
Blutarmut [eisenhaltig]

Lebererkrankungen
Darmerkrankungen

Stoffwechselleiden
Harnwegsleiden

Zuckerkrankheit
Magenleiden
Gallenleiden

Sodbrennen
Kalkmangel
Fettsucht

Gicht
Adelheidquelle Bad Überkingen x x x x x
Adelholzener Primus-Heilquelle x x x x x
Alexanderquelle, Bad Peterstal x x x
Birresborner Adonis-Quelle x x x x
Biskrichener Heilquelle Karlssprudel x x x x x x
Cospo-Heinrich-Quelle, Bad Driburger Brunnen x x x x
Bad Driburger Bitterwasser x x x
Dunarisbrunnen, Daun/Eifel x x x x x
Elisabethenquelle, Remstal-Quellen x x x x
Emser Kranchen x
Staatl. Fachingen x x x x x
Friedrich-Christian-Heilquelle x x x x
Göppinger Christophquelle x x x x
Heppinger Heilwasser Stilles Wasser x x x x x
Bad Hersfelder Lullusbrunnen x x x x
Bad Hersfelder Vitalisbrunnen x x x x
Hirschquelle, Bad Teinach x x
Kaiser Friedrich-Quelle x x x x x
Staatl. Bad Kissinger Rokoczy x x x x
Staatl. Bad Kissingen Luitpoldssprudel x x x
Staatl. Bad Kissingen Maxbrunnen x x
Lamscheider Stahlbrunnen x x
Bad Liebenzeller Paracelsius-Quelle x x x
Bad Mergenthaler Karls- und Albertquelle x x x x
Bad Neuenahrer Heilwasser x x x x x x
Bad Niederauer Römerquelle x x x x x x
Nürlinger Heinrichsquelle x x x x x
Rietenauer Heiligenthalquelle x x x x
Leopolds-Quelle,,Bad Rippoldsau x x x x
Romina-Quelle x x x x
St. Anna Quelle, Bad Windsheim x x x
St. Georg-Eisen-Heilquelle x x x
St. Georg Heilquelle, Gerolstein x x x x x
St. Linus-Heilquelle, Pechbrunn x x
Sankt Martin x x x
Staatl. Selters x x x x x x
Thauma-Eisen-Heilquelle x x
Bad Weilbacher Herzog-Adolf-Quelle x x x
Wildunger Helenenquelle x x
Georg-Viktor-Quelle, Bad Wildungen x x
Wildunger Reinhardsquelle x x
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 437

Atemtherapie
Definition
Passive und aktive Atemgymnastik sowie Erlernen von Entspannungstechniken
zur willkürlichen Unterstützung der Atmung.

Wirkung
Atmung bedeutet Aufnahme von Sauerstoff zur Aufrechterhaltung aller Lebens-
vorgänge in den Zellen und Abgabe von Kohlensäure als Abfallprodukt aus dem
Stoffwechsel. Bekanntlich kann der Mensch 30 Tage auf feste Nahrung, jedoch
nur 3 Minuten auf Sauerstoff verzichten, bevor es zum Untergang von Organzel-
len, d. h. zu lebensbedrohlichen Zuständen kommt. Die Steuerung des Atems er-
folgt unwillkürlich, kann jedoch auch willkürlich unterstützt werden. Hier erge-
ben sich die Ansatzpunkte für die so genannte Atemtherapie bei Behinderung der
Atmung und daraus resultierenden Sauerstoffmangelzuständen infolge akuter
und chronischer Erkrankungen (s. u.). Die bewusste Steuerung der Atmung (ins-
besondere Ausatmung) wirkt auch beruhigend auf das vegetative Nervensystem.

Indikationen
Alle Erkrankungen mit eingeschränkter Ventilation (obstruktive Veränderungen
der Lunge wie chronische Bronchitis, obstruktives Lungenemphysem, Asthma
bronchiale); restriktive Lungenerkrankungen wie Lungenfibrose, Schrumpfungs-
prozesse (Tuberkulose, Zustand nach Abszessen, nach operativen Eingriffen, Ate-
lektasen, Verwachsungen nach Pleuraempyem, Pleuraschwarten); Störungen der
Beweglichkeit nach Rippenresektion, Thorakotomie, ankylosierender Spondylitis
(Morbus Bechterew); Störungen am Bewegungsapparat (Skoliose, Fehlhaltungen
usw.); prophylaktisch bei bronchopulmonalen Erkrankungen; zur Vorbeugung
von Pleuraschwarten bei Schwerkranken und damit Vermeidung hypostatischer
Pneumonien und Beckenvenenthrombosen; prä- und postoperativ, insbesondere
bei Herzoperationen (Verkürzung der Rekonvaleszenz); im Wochenbett; Atem-
beklemmung und Globusgefühl bei vegetativer Stigmatisierung; sympathikotone
Pressatmung; Schlafstörungen.

Kontraindikationen
Extreme Schwächezustände.

Hausmittel
Hausmittel sind Heilmittel/Naturheilmittel, die der Patient zu Hause anwenden
kann, bei leichten Befindlichkeitsstörungen und Bagatellerkrankungen in eigener
Initiative (Selbstmedikation) oder (z. B. bei schwereren chronischen Erkrankun-
gen) auf Verordnung des Arztes. Der volkswirtschaftliche Nutzen von richtig an-
gewandten Hausmitteln ist somit beachtlich. In vielen Familien, besonders auf
dem so genannten „flachen Land“, sind solche Hausmittel oft über Generatio-
438 R. M. Bachmann

nen hinweg weitergegeben. Die moderne Natur-/Erfahrungsheilkunde hat sich


vieles davon, oft nach modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen modifiziert,
zunutze gemacht. Vorwiegend aus der Hydrotherapie und Phytotherapie sind
viele Maßnahmen als Hausmittel anwendbar (z. B. Wadenwickel bei Fieber).
Hervorragend geeignet ist mit Ausnahme weniger Anwendungen die gesam-
te Kneipp-Therapie, die mit einfachsten Mitteln zu Hause anwendbar ist und
zudem den Vorteil hat, dass der Patient die für ihn geeigneten Anwendungen
während des Aufenthaltes in einem Kneipp-Heilbad erlernen kann und der Kur-
arzt ihm Empfehlungen für die häusliche Weiterführung der Therapie gibt.

Wickel, Packungen, Auflagen, Kompressen


Definitionen
Beim Anlegen von Wickeln (Synonym: Umschläge) werden einzelne Körperteile
in ganzem Umfang umwickelt. Wickel, bei denen mehr als die Hälfte des Körpers
eingepackt wird, bezeichnet man als Packungen (3/4- und Ganzpackungen).
Auflagen umfassen nicht den ganzen Körper/Körperteil, sondern liegen nur ein-
seitig oder teilweise auf (z. B. Lehm-, Quark-, Leinsamenauflagen). Kompressen
entsprechen den Auflagen, bedecken aber nur kleinste Körperteile (z. B. Herz-
kompressen). Alle sind hervorragend geeignet zur häuslichen Anwendung bei
leichten Befindlichkeitsstörungen (Hausmittel), aber auch zur Behandlung
schwerer und chronischer Krankheiten (Hypertonie, Verdauungsstörungen). Sie
sind auch fester Bestandteil der Kneipp-Therapie mit ihren insgesamt ca. 120
verschiedenen Anwendungsformen.

Wirkung
Das Wirkungsspektrum ist sehr breit und reicht von Wärmeentzug über Wärme-
produktion/-stau bis hin zum Schwitzen. Die Wirkung ist abhängig von Applika-
tionsdauer, Zusatz zur Wirkungsverstärkung und Anlegetemperatur. Daraus er-
geben sich vielfältige Anwendungsbereiche, die ein differenziertes Vorgehen
erforderlich machen.

Indikationsbeispiele
– Kalte Wickel: Mit Zusatz Essigwasser: Stabilisierung des Säureschutzmantels
der Haut; mit Lehm/Lehmwasser: Venenentzündung, Lymphgefäß- und
Lymphknotenentzündungen, Ekzeme, Psoriasis, Pruritus, nässende Entzün-
dungen der Haut. Auch Quark oder pflanzliche Extrakte: z. B. Retterspitz.
– Warme Wickel: Mit Zusatz Heublumen: Zystitis, Bronchitis, degenerative,
nichtentzündliche rheumatische Erkrankungen; mit Haferstroh: Zystitis, Ent-
zündungen der Haut; mit Kamille: Entzündungen, Eiterungen; mit Eichen-
rinde: oberflächliche Entzündungen, Hämorrhoiden; mit Kochsalz oder Thy-
mian (insbesondere Brustwickel): Bronchitis, Pneumonie.
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 439

Wadenwickel Definition
Umwickeln der Unterschenkel mit nassen Tüchern, die in kaltes Wasser getaucht
wurden.

Wirkung
Entzündungshemmend (bei Arthritiden, Halsentzündungen), gewebestraffend,
schlaffördernd, analgesierend, vegetativ stabilisierend, antihypertensiv, herzent-
lastend, beruhigend. Bei einer Liegedauer bis zu 10 Minuten wärmeentziehend,
bei längerer Liegedauer Wirkung im Sinne einer ß-Sympathikolyse.

Indikationen
Generelle Überhitzungszustände (Fieber, „Hitzschlag“), lokale Entzündungen
(Thrombophlebitis, Hämatome, Prellungen), Hypertonie, Überanstrengung nach
langem Gehen und Stehen, vegetative Labilität, Einschlafstörungen, nervöse
Übererregbarkeit.

Kontraindikationen
Akut entzündliche Zustände (Zystitis, Zystopyelitis, Pyelonephritis etc.), be-
ginnende Erkältungskrankheiten und ansteigendes Fieber, Frieren, Frösteln.

Prießnitz-Wickel
Definition
Ein Prießnitz-Wickel, benannt nach dem Naturheilkundler Vinzenz Prießnitz, ist
ein feucht-kalter Leibumschlag mit trockener Wollumhüllung und dem Ziel
reaktiver Wiedererwärmung.

Wirkung
Nach Vorstellung von Prießnitz erfolgt durch kaltes Wasser eine Reizsetzung, die
der Körper mit der Erzeugung reaktiver Wärme beantwortet, wodurch die Hei-
lungskräfte angeregt werden. Vorbedingung: Der Körperteil/die Haut muss vor-
her warm sein. Prießnitz brachte seine Patienten durch forcierte Körperbe-
wegung zum Schwitzen und behandelte anschließend mit kaltem Wasser. Außer-
dem verordnete er eine hohe Trinkmenge von mehreren Litern kalten Wassers
(Entschlackung) pro Tag. Die Wirkung entfaltet sich entweder im zugehörigen
Segment (kutiviszerale Beeinflussung) oder als generalisierte Beeinflussung (ins-
besondere bei Stoffwechselleiden) über das vegetative, hormonelle und Immun-
system.

Indikationen
Stoffwechselleiden, Allergien, entzündliche rheumatische Erkrankungen im In-
tervall, chronische Infekte.
440 R. M. Bachmann

Fangotherapie
Definition
Fango ist Mineralschlamm sowohl aquatischer als auch terrestrischer Herkunft,
d. h., er findet sich am Boden von Thermalquellen, kann aber auch vulkanischen
Ursprungs sein (z. B. Eifelfango). Er wird in der Balneotherapie und mit Wasser
zu dickem Brei verrührt auch bei Packungen als Peloidzusatz verwendet.

Wirkung
Antirheumatisch, antineuralgisch, antiphlogistisch.

Indikationen
Rheumatische Erkrankungen, Neuralgien etc.

Reiztherapie
Definition
Die Reiztherapie verwendet Methoden, die die körpereigene Abwehr erhöhen.
Mit pharmakologischen Mitteln wird die antigenspezifische Abwehr („Paramuni-
tät“) durch sogenannte Reiztherapeutika, Regulationstherapeutika und Um-
stimmungsmittel gestärkt.

Wirkung
Die Wirkung beruht auf dem Reiz-Reaktions-Prinzip, d. h. der Erzielung therapeu-
tischer Effekte über den Weg der Reizsetzung und der positiven Reizbeantwortung
durch das Organ: lokal über die Haut (Head-MacKenzie-Zonen) Mehrdurchblu-
tung des Dermatoms; segmental im zugehörigen Organ, Nerv, Muskel, Myotom,
Bindegewebe; allgemein über das Hormonsystem und das vegetative Nerven-
system. Unspezifische Immunisierung mit dem Ziel, die unspezifische Abwehr
anzuregen (künstliche Erzeugung der Abwehrsymptome Fieber, Phagozytose,
Entzündung als „heilsame Abwehrreaktion“), „immunologisches Training“.

Indikationen
Infektionskrankheiten im Inkubationsstadium, Intervalltherapie, Verspannungs-
zustände, chronische Erkrankungen, degenerative Erkrankungen des Bewe-
gungsapparates.

Methoden der Reiztherapie


Eigenblutbehandlung, Bienengift- und hyperämisierende Salben, Mistelpräparate
intrakutan, Echinacinpräparate, Lipopolysaccharide, Bakterienautolysate, Diäte-
tik, Hydrotherapie, Klimamedizin, Neuraltherapie, Chiropraktik, Bewegungsthe-
rapie, ausleitende Verfahren, Lichttherapie (WA).
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 441

Klimamedizin
Wirkung
Die Wirkung der Klimatherapie beruht auf dem Zusammenwirken physikalischer
und chemischer Reize: thermisch-hygrisch (Wärme, Luftbewegung, Feuchtig-
keit), photoaktiv (photochemisch wirksame Strahlen) und luftchemisch. Die
Klimatherapie beruht auf dem Reiz-Reaktions-Prinzip, d. h. vom Schonklima
(Mittelgebirge) bis zum reizstarken Klima (Hochgebirge, Meer) muss die der je-
weiligen Gesamtsituation des Patienten angepasste Reizabstufung gewählt wer-
den. Auf Wechselreizen durch Luftbewegungen, Bewegung und nachfolgende
Ruhe bzw. Abkühlung basiert über die Thermoregulation eine stabilisierende
Wirkung im neurovegetativen und Hypophysen-Nebennierenrinden-System. Ein
unspezifischer Reizeffekt entsteht durch UV-Strahlung (u. a. Vitamin-D-Bildung).
Aerosolwirkung (z. B. NaCl am Meeresstrand) hat einen günstigen Effekt auf die
Schleimhaut und eine Reizwirkung über die Haut.

Indikationen
Allgemein zur Steigerung der Infektresistenz. Der Indikationsbereich eines Kur-
ortes kann beim Deutschen Bäderverband erfragt werden (Deutscher Bäderka-
lender kostenlos).
– Mittelgebirgsklima (schonend, milde Wärme im Sommer, Luftreinheit, „geo-
psychische Wirkung“ durch Landschaft): Industrie- und Städte-Geschädigte,
Atemwegserkrankungen, Herz-Kreislauf-Störungen.
– Hochgebirgsklima (niedriger Luftdruck und Sauerstoffpartialdruck, niedrige
Lufttemperatur und geringe Luftfeuchtigkeit, reine Luft und intensive UV-
Strahlung): chronische Erkrankungen, insbesondere der Atemwege.
– Meeresküstenklima (Allergenfreiheit, wechselnde Belastung: Wind, Wasser etc.,
Aerosolwirkung von zerstäubtem Meerwasser): Erkrankungen des Respira-
tionstraktes (chronische Tracheitis, Pharyngitis, Bronchitis, Bronchiektasen,
Emphysem, extrapulmonale Tuberkulose, Asthma bronchiale, Heuschnupfen);
kardiovaskuläre Erkrankungen (gut kompensierte Herzklappenfehler, Zu-
stand nach Herzoperationen, essentielle Hypertonie, nephrogene Hypertonie,
unkomplizierte Arteriosklerose, orhostatische Regulationsstörungen, arterielle
Verschlusskrankheiten, (Koronarinsuffizienz); endokrinologische Erkrankun-
gen (frühes Stadium und mäßiggradige Hyperthyreose, Dysmenorrhöen und
nicht dienzephal-hypophysär bedingte Zyklusstörungen); dermatologische
Erkrankungen (konstitutionelles Ekzem, Neurodermitis, Ichthyosis, Psoriasis).

Kontraindikationen
– Hochgebirgsklima: Herzinsuffizienz (insbesondere Rechtsherzinsuffizienz),
schwere pulmonale Ventilationsstörungen, exsudative Lungentuberkulose.
– Meeresküstenklima: Nephrose, chronische Nephritis, progredient chronische
Polyarthritis (PcP), Hyperthyreose (Spätstadium), Addison-Krankheit, Cu-
442 R. M. Bachmann

shing-Krankheit, Urogenitaltuberkulose, chronisch-organische Nervener-


krankungen (multiple Sklerose, amyotrophe Lateralsklerose etc.).

Physikalische Therapie
Definition
Die physikalische Therapie verwendet unter Ausnutzung des Reiz-Reaktions-
Prinzips physikalische Methoden sowohl zur Erhaltung von Körperfunktionen
(Prävention) als auch zur Therapie und Wiederherstellung (Rehabilitation) ge-
störter Funktionen und Regulationsvorgänge.

Physikalische Methoden
– Hydrotherapie: Kneipp-Therapie, Balneotherapie, Prießnitz-Therapie, Sauna,
Thalassotherapie, Thermotherapie
– Bewegungstherapie: Ausdauertraining, Ergotherapie, Massagen, Heilsport,
Krankengymnastik
– Elektrotherapie: Diadynamische Ströme, Diathermie, Gleichstrom-, Interfe-
renzstrom-, Laser-Reiz-, Magnetfeldtherapie, lontophorese, Reizstromthera-
pie, TENS (transkutane elektrische Neurostimulation), Ultraschall
– Lichttherapie: Heliotherapie, Infrarottherapie, Photoimmunotherapie, Photo-
protektion, Photoreaktivierung, Phototherapie, UV-Therapie, Klimatothera-
pie: Klimamedizin

Chiropraktik
Techniken
In der Chirotherapie kommen manuelle Behandlungstechniken, die sich auf Wir-
belsäule und Extremitäten beziehen, zur Anwendung. Die Techniken unterteilen
sich in Weichteiltechniken (Beseitigung von Gewebsverspannungen vor allem der
den großen Gelenken zugehörigen Muskulatur), Mobilisation (Wiederherstellung
reversibel gestörter Gelenkfunktionen und Manipulation gezielter Impulse mit
hoher Geschwindigkeit zur Wiederherstellung der Gelenkfunktion) und Manipu-
lationstechniken. Weichteiltechniken und Mobilisation können durch ausgebilde-
te Krankengymnasten/innen in Zusammenarbeit mit dem Arzt ausgeführt wer-
den – Manipulationstechniken nur durch den Arzt. Therapeutisches Ziel ist die
Beseitigung von Funktionsstörungen/Blockierungen von Gelenken.

Indikationen
Schmerzhafte Bewegungseinschränkung im Bereich der Wirbelsäule und der
Extremitätengelenke einschließlich Ileosakralgelenk; oberes Zervikalsyndrom (=
C 0–C 3, Symptome: Kopfschmerz, Schwindel, Hör-, Sehstörungen, Globusge-
fühl); unteres Zervikalsyndrom (= C 4–C 7, Symptome: häufig Ausstrahlung in
die Arme, Schmerzen im Schulter-Ellenbogen-Hand-Bereich mit Parästhesien,
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 443

„Durchblutungsstörungen“, berufsbedingte Zwangshaltungen bei Fließband-


arbeit, Schreibtisch-/Schreibmaschinenarbeit, Autofahren, Haushalt, hier insbe-
sondere bei falscher Arbeitsplattenhöhe); Brachialgia paraesthetica noctuma (Symp-
tome: Taubheitsgefühl, Einschlafen der Hände), Thorakal- und Lumbalsyndrom.

Kontraindikationen
Mangelnde Kenntnisse und mangelnde Erfahrung des Arztes in der praktischen
Durchführung, maligne und destruierende Prozesse im zu behandelnden Bereich
(Primärtumoren, Metastasen), akute entzündliche Prozesse, Frakturen, Luxatio-
nen, Subluxationen, Osteoporose, aktivierte und weit fortgeschrittene Arthrosen,
Zustand nach Bandscheibenoperation bis zum abgeschlossenen Vernarbungssta-
dium nach Abschluss der stabilisierenden Krankengymnastik, Hypermobilität
(Überbeweglichkeit im Sinne einer ligamentären Dekompensation, konstitutio-
nell oder hormonell (Schwangerschaft) bedingt, auch lokal durch Trauma, Über-
lastungen und Degeneration), Verdacht auf subforaminale Tumoren mit den Leit-
symptomen Nackensteifigkeit, Schmerzen im HWS- und Ausstrahlungsbereich
mit Parästhesien, dissoziierte bis komplette Sensibilitätsstörungen, Atrophie der
Nacken-Schultergürtel-Muskulatur, Atrophie der Handmuskulatur, Diaphrag-
malähmung, gastrointestinale Störungen, intensives Kältegefühl der unteren
Extremitäten.

Unterwasserdruckstrahlmassage
Definition
Bei der Unterwasserdruckstrahlmassage wird die Kombination von Wassertem-
peratur und Wasserdruck therapeutisch genutzt.

Wirkung
Beeinflusst werden vor allem das venöse und das Lymphsystem, wobei die Was-
sertemperatur auf das Herz-Kreislauf-System, der Wasserdruck örtlich und hy-
drostatisch wirkt. Die Wirkung ist muskelentspannend, reaktiv hyperämisierend
und stoffwechselanregend.

Indikationen
Primäre Muskelerkrankungen, Myogelosen, sekundäre paravertebrale und peri-
artikuläre Muskelverspannungen (insbesondere bei Arthrosen, Arthritiden, chro-
nischer Polyarthritis), Kontrakturen des Bindegewebes, Narbenkontrakturen.

Kontraindikationen
Dekompensierte Organerkrankungen (vor allem Herz-Kreislauf-Insuffizienz),
orthostatische und hypotone Regulationsstörung, Hypertonie, akute Neuralgien,
arterielle Verschlusskrankheit, entzündliche Hauterkrankungen, Schwächezu-
stände, schwere Osteoporose, akute fieberhafte Infektionskrankheiten, akut ent-
444 R. M. Bachmann

zündliche Prozesse im Behandlungsgebiet, Blutungsneigung einschließlich blut-


verdünnender Therapie, Schwangerschaft, Varikosis im Behandlungsgebiet.

Lymphdrainage
Definition
Unter Lymphdrainage versteht man therapeutische Maßnahmen, die den
Lymphabfluss aus dem Gewebe fördern.

Wirkung
Durch gezielte spezielle Manipulationen wird die Transportkapazität der Lymph-
gefäße gesteigert. Die Lymphangiomotorik wird angeregt. Durch spezielle
Ödemgriffe können Ödeme gebessert, manchmal völlig beseitigt werden.

Indikationen
Im Sinne einer komplexen Entstauungstherapie ist die Lymphdrainage indiziert
bei fast allen Erkrankungen, die mit Ödemen einhergehen oder durch Ödeme
verursacht werden: primäre und sekundäre Lymph-, Phleb-, Lid-, traumatische,
artefizielle, rheumatische, entzündliche, Inaktivitäts-, ischämische, zyklische,
Schwangerschafts-, orthostatisch-dysregulatorische und idiopathische Ödeme.
Bei kardialen, renalen, hepatogenen, Eiweißmangel-, allergischen, Höhen-, en-
dokrinen und hereditär-angioneurotischen Ödemen kommt die Lymphdrainage
in Kombination mit medikamentöser und diätetischer Therapie in Frage.

Kontraindikationen
Absolute Kontraindikationen: Alle malignen Streuungen, auch Verdacht auf
lymphogene Streuung bei Neoplasien (z. B. bei Lymphödem nach Mamma-
Operation), alle akuten Entzündungen im Behandlungsgebiet, Thrombosen, Tu-
berkulose in akuter Phase, Nävus bei Verdacht auf Malignität, Weichteilverlet-
zungen. Gefäßerkrankungen: arteriell (arterielle Verschlusskrankheit, Stadium III
und IV), venös (Ulzera), kardiales Ödem.

Relative Kontraindikationen
Behandelte Karzinome, chronische Entzündungen, Morbus Hodgkin, Strahlen-
schäden, Zustand nach Thrombosen und Thrombophlebitiden, Hyperthyreose,
Asthma bronchiale (nur im anfallsfreien Intervall behandeln).

Besonderheiten
Die Lymphdrainage ist eine vom Arzt verordnungsfähige Behandlung. Ggf. sollte
sie mit Kompressionsbehandlung, Gymnastik sowie Atemübungen (Zwerchfell-
atmung fördert Lymphstrom im Ductus thoracicus) kombiniert werden.
Die Lymphdrainage darf nur von speziell dafür weitergebildeten Therapeuten
(Krankengymnasten, Masseure) ausgeführt werden.
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 445

Höhensonne
Wirkung
Steigerung der Infektresistenz evtl. durch Lichtaktivierung der Hypophyse, pho-
tobiologische Stimulation lokaler und systemischer Vorgänge.

Indikationen
Erhöhung der Widerstandskraft und Leistungsfähigkeit, vegetativ-nervöse Stabi-
lisierung, Rekonvaleszenz, Störung des Mineralstoffwechsels, verzögerte Kallus-
bildung; UVA: Psoriasisbehandlung, Akne- und Ulkustherapie; UVB: antirachi-
tische Wirkung durch Mitwirkung bei Vitamin-D-Synthese. Cave: UV-Strahlen
sind karzinogen, deshalb ist der Gebrauch von Höhensonnen nur bedingt zu
empfehlen.

Kontraindikationen
Empfindliche Haut, Photosensibilität, Präkanzerosen im Bereich der Haut, Son-
nenallergie (auch durch Medikamente oder Kosmetika bedingte), chronische
Entzündungen, akute Infektionen, Hyperthyreose, Magen-Darm-Ulzera.

Nebenwirkungen
Sonnenbrand, Hitzekollaps, beschleunigte Hautalterung,

Weitere Therapieverfahren

Akupunktur
Definition
Akupunktur bedeutet „Nadeln“ oder „Brennen“ und ist eine aus China über-
nommene Nadeltherapie, die nicht die Krankheit, sondern den kranken Men-
schen in seiner gestörten Regulation behandeln will. Im Westen ist Akupunktur
eine Methode der angewandten Schmerztherapie.

Wirkung
Die Akupunktur ist ein Stimulationsverfahren, das auf traditioneller Wirkungs-
vorstellung beruht (Yin- und Yang-Meridiane). Durch das Nadeln soll ein Aus-
gleich zwischen Körperenergie über die einzelnen, morphologisch nicht nach-
gewiesenen Meridiane erfolgen. In Tierexperimenten zeigte sich, dass durch die
Akupunktur Endorphine (Opioidpeptide und Neurotransmitter) freigesetzt wer-
den. Es wird eine Funktionsähnlichkeit der Meridiane mit Segmenten (Head-
Zonen) vermutet.

Indikationen
Kopfschmerz, Migräne, Weichteilrheumatismus, Wirbelsäulenerkrankungen (ins-
besondere HWS- und Lumbalsyndrome), Neuralgien (insbesondere Trigeminus-
446 R. M. Bachmann

und posttherapeutische Neuralgien), alle funktionellen Beschwerden, rezidivie-


rende Sinusitiden, Morbus Meniere, Wetterfühligkeit, Gefäßprozesse (kardial, pe-
ripher und zerebral), postapoplektische Zustände, chronische Schmerzzustände,
Narkose (als Elektrostimulationsanalgesie), Störungen im seelisch-psychischen
Bereich.

Kontraindikationen
Alle für Naturheilverfahren grundsätzlich geltenden Kontraindikationen, z. B.
substitutionsbedürftige Zustände.

Akupressur
Im Gegensatz zur Akupunktur werden bei der Akupressur keine Nadeln ver-
wendet. Es handelt sich vielmehr um eine einfache, auch chirotherapeutische
Handgriffe umfassende Massagetechnik, wobei Druck oder Reibung auf die
Akupunkturpunkte und -meridiane ausgeübt wird.
Wirkung und Indikationen sind ähnlich denen der Akupunktur.

Neuraltherapie
Prinzip
Die Neuraltherapie ist eine Zufallsentdeckung des Arztes F. Huneke nach i.v.-
Gabe von Procain wegen Migräne und deren Spontanheilung. Ihre Anwendung
erfolgt nach folgenden Grundsätzen 1. Jede chronische Krankheit kann störfeld-
bedingt sein. 2. Jede Körperstelle kann zum Störfeld werden („zentraler Auftrag-
geber“). 3. Die Injektion eines Lokalanästhetikums heilt die störfeldbedingte Er-
krankung sofort (Sekundenphänomen).

Wirkung
Die Wirkung der Neuraltherapie beruht zum einen auf der pharmakologischen
Wirkung von Lokalanästhetika (analgetisch, antiphlogistisch, gefäßabdichtend,
diuresefördernd, spasmolytisch, fiebersenkend). Zum anderen ist sie aber mehr
als nur therapeutische Lokalanästhesie: Sie ist Segmenttherapie, deren Wirkung
länger anhält als der anästhesierende Effekt. Zudem kann sie eine diagnostische
Hilfe bei der Suche nach einem Krankheitsherd sein.

Indikationen
Alle Störungen in Regelkreisen mit Circulus vitiosus: Schmerz – Verspannung –
Schmerzverstärkung (vor allem der Wirbelsäule und der großen Gelenke), stör-
feldbedingte Erkrankungen/Herderkrankungen, akute Schmerz- und Entzün-
dungsvorgange im Bereich der Wirbelsäule, des Oberbauches: Magen, Duode-
num, Galle, ableitende Harnwege (z. B. Nierenkoliken, frische Traumen).
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 447

Kontraindikationen
Offensives Vorgehen des Arztes bei nicht ausreichenden Grundkenntnissen in
Theorie und Praxis, Allergie auf Neuraltherapeutika/Lokalanästhetika, Geistes-
krankheiten (auch Neurosen), Erbkrankheiten.

Risiken
Intrazisternale Injektion mit der Gefahr meningitischer Reizerscheinungen, bei
Gangliontherapie Gefahr der Bulbusperforation und Hämatombildung, Hirnblu-
tung nach Injektion in die Arteria vertebralis, bei Injektionen in die Mandelpole
Möglichkeit der Sickerblutungen, Nervenwurzellasionen, Douglas-Abszess nach
Injektion in den gynäkologischen Raum, lokale tumorähnliche Gewebereaktio-
nen nach häufigen paravertebralen Injektionen, Atemlähmung (falsche Nadel-
führung bei Stellatumblockade), Erregungs- und Krampfzustände, Atemstill-
standssyndrom (Therapie: Sauerstoffbeatmung, Infusionstherapie), Blutungen/
Hämatome.

Literatur
Bachmann RM (2006) Natürlich gesund mit Kneipp. Trias, Stuttgart
Bachmann RM (2006) Säure-Basen Kursbuch. Knaur, München
Bachmann RM (2005) Fasten und Heilen nach F.X. Mayr. Droemer-Knaur, München
Bachmann RM (2003) Rheuma-Schmerzen spürbar lindern. Trias, Stuttgart
Bachmann RM (2003) Naturheilverfahren für die Praxis. Hippokrates, Stuttgart
Bachmann RM (1996) Praxis Service Naturheilverfahren. Hippokrates, Stuttgart
Bachmann RM (1999) So hilft die Natur bei Venenleiden. Hädecke, Weil der Stadt

Internet-Info
www.rheuma-naturheilverfahren.de
www.pflege-naturheilverfahren.de
www.naturheilverfahren-bayern.de
www.kneipp-literatur.de
Revision

Die Möglichkeiten der Homöopathie in der


Schmerztherapie

E. PICHLER
E. Pichler

Akute Schmerzgeschehen sprechen ebenso gut auf die homöopathische Therapie


an wie chronische Erkrankungen. Die Voraussetzung zur Anwendung der Ho-
möopathie ist die genaue Anamnese sowie die Befunderhebung, um keine not-
fallmedizinischen Maßnahmen zu übersehen.
Die Homöopathie ist eine medizinische Therapieform mit Einzelarzneien,
welche am gesunden Menschen geprüft sind und in potenzierter Form nach dem
Ähnlichkeitsprinzip verordnet werden.
Sie ist aber auch eine individuelle, arzneiliche Regulationstherapie, welche
sich unter Berücksichtigung körperlich, seelisch, geistiger, konstitutioneller, bio-
graphischer, sozialer und umweltbedingter Faktoren als Medizin der gesamten
Person versteht.
Daraus resultiert die untrennbare Einheit des Individuums, sodass einzelne
pathologische Äußerungen (Krankheiten) fast immer im Konnex mit der Ganz-
heit zu sehen sind. Das beinhaltet jedoch nicht nur eine ausschließliche Beurtei-
lung des gesamten Erscheinungsbildes des Menschen, sondern es werden sehr
wohl einzelne Details ganz genau betrachtet, die aber dann in der Gesamtschau
die Übereinstimmung des Patientenerscheinungsbildes mit dem des Arzneimit-
telbildes beinhalten müssen.
Der Zugang zur ganzheitlichen Erfassung des Menschen geschieht meistens
über auffallende Details der betreffenden Person, wobei diese als Symptome be-
zeichnet werden.
Unter Symptomen versteht man in der Homöopathie auffallende und patho-
logische Erscheinungen des zu behandelnden Menschen. Sie sind für jeden cha-
rakteristisch in ihrer Ausprägung und dienen damit der genauen Arzneimittel-
wahl.
Erst im Einklang der Symptome mit einem Arzneimittel kann die Verordnung
der passenden Arznei erfolgen.
450 E. Pichler

Die Definition der Homöopathie


– ärztlich
– arzneilich
– geprüft am gesunden Menschen
– potenziert
– Ähnlichkeitprinzip
– Regulationstherapie
– bildet die Grundlage dieser medizinischen Behandlungsweise.
Im Detail:
– ärztlich:
Die Homöotherapie eignet sich zum Behandeln von akuten und chronischen
Erkrankungen. Die Therapie unkomplizierter, einfacher, akuter Krankheiten
ist je nach Wissensstand und Erfahrung von jeder (jedem) verantwortungs-
bewussten Homöopathieinteressierten anwendbar und kann somit zu einem
wichtigen Therapiebestandteil im Pflegedienst werden. Selbstverständlich ist
das Beachten der Grenzen der Therapiemöglichkeit und des eigenen Wissens
unabdingbar. Daher ist bei unklarem oder fehlendem Therapieerfolg unbe-
dingt fachkundige Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Chronische Krankheiten sind nur mit entsprechendem Wissen und Erfahrung
zufrieden stellend therapierbar und stellen daher die Domäne der Homöopa-
then/Homöopathinnen dar.
– arzneilich:
In der Homöopathie werden nach genauen Herstellungsvorschriften die Arz-
neien produziert. Diese stammen aus der Pflanzen-, Tier-, und Mineralwelt.
Auch Krankheitsprodukte werden im geringeren Ausmaß verwendet und
meistens als Nosoden bezeichnet.
– geprüft am Gesunden:
Werden homöopathische Arzneien von gesunden Menschen (Prüfern) einge-
nommen, so entstehen, abhängig von der Sensitivität der Personen, nach ei-
nigen Einnahmen Arzneimittelsymptome, die wie geringgradige Vergiftungs-
erscheinungen imponieren können. (Vergleichende Überlegungen können
zur Tollkirschenvergiftung – Atropa Belladonna – angestellt werden). Diese
durch die Prüfung gewonnenen Symptome werden genau registriert und im
Arzneimittelbild (AMB) mit Erkenntnissen der Toxikologie und der klinischen
Erfahrung, auch aus der Tierheilkunde, zusammengefasst.
– potenziert:
Zu einem Tropfen einer Zubereitung einer Ursubstanz (z. B.: Kamillenpflanze)
werden 9 Tropfen eines Lösungsmittels, meist 40 % Alkohol, gegeben. Dieser
Vorgang wird als Verdünnung bezeichnet. Danach wird diese Mischung meis-
tens 10 x gut durchschüttelt. Auf diese Art und Weise wird eine homöopathi-
sche Arznei mit der Bezeichnung D 1 hergestellt. (D = decem = 10).
Die Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie 451

Der Herstellungsvorgang verdünnen und verschütteln wird als potenzieren


bezeichnet.
Gibt man zu einem Tropfen einer Urtinktur 99 Tropfen einer alkoholischen
Lösung, so erhält man eine C 1. (C = centum = 100). Dieser Vorgangsweise
können beliebig viele Potenzierungsschritte angeschlossen werden.
LM (Q) Potenzen und K (Korsakoff) Potenzen werden nach anderen Herstel-
lungsverfahren produziert.
– Ähnlichkeitsprinzip:
Homöopathische Arzneien, die in der Arzneimittelprüfung bestimmte Sym-
ptome erzeugen sind in der Lage, Krankheiten mit ähnlichen Symptomen
(Erscheinungen) zu heilen.
– Regulationstherapie:
Regulationstherapien können ihre Wirkungen nur dann entfalten, wenn der
kranke Organismus noch über Selbstheilungskräfte verfügt. Die spezifischen
Reize, wie sie homöopathische Arzneien ausüben, bringen die Regelkreise wie-
der in Normalfunktion. Dadurch werden z. B. das Immunsystem, die Hormon-
systeme, Schmerzgeschehen, das Kreislaufsystem und andere kybernetische
Verkettungen im Organismus durch die Aktivierung der Eigenenergie in eine
Normalfunktion übergeführt. Eine Substitution ist mit Homöopathika nicht
möglich. Zerstörte Strukturen sind mittels homöopathischer Arzneien nicht
wieder erneuerbar, auch können keine Substanzen wie z.B. Hormone oder Mi-
neralien durch Homöopathika ersetzt werden. Dies sind auch die wesentlichen
Grenzen der homöopathischen Therapiemöglichkeiten.
Die Individualität des Menschen steht in der Homöopathie im Vordergrund
und dies ist ein entscheidender Unterschied zur konventionellen Therapie,
wenngleich auch hier die Strömungen, den Menschen als Einzelperson zu
sehen, zunehmen. Der klinische Blick wird wieder wichtig, das Befinden der
Patienten und nicht nur die Besserung der Laborwerte und anderer techni-
scher Hilfsuntersuchungen werden für die Beurteilung des Behandlungserfol-
ges maßgebend. Es ist damit nachvollziehbar, dass Dokumentationen von
Krankengeschichten die Individualität besser widerspiegeln als diagnosebe-
zogene Studien. Daher sind zur Beweisführung der Wirksamkeit der Homöo-
pathie folgende Daten
– Outcome-Studien unter Praxisbedingungen
– Selbstbefragung der Patienten
am Besten geeignet.

In diesen aus Evidence-based Medicine gewonnenen Erkenntnissen können


auch Aussagen über
– Lebensqualität der Patienten
– Zufriedenheit mit der Therapie
– Kosten
getroffen werden.
452 E. Pichler

Wissenschaftliche Studien und deren Metaanalysen

Metaanalysen sind einer der Goldstandards um randomisierte, kontrollierte Stu-


dien auf die Effizienz einer Behandlungsweise zu überprüfen. Seit 1991 wurden
fünf derartige Metaanalysen publiziert, die alle der Homöopathie eine Wirksam-
keit nachweisen, die über dem Placeboniveau liegen.
Die eindrucksvollste Metaanalyse wurde 1997 von Linde et al. im Lancet ver-
öffentlicht. Darin wurden 89 doppelblinde, randomisierte und placebokontrol-
lierte Studien analysiert. Das Resultat spricht eindeutig für die Wirksamkeit der
Homöopathie. Die Ratio für die homöopathischen Behandlungsergebnisse be-
trägt 2,45. Diese Studien wurden mehreren statistischen Analyseverfahren unter-
zogen, wobei jeweils der positive Behandlungserfolg nachgewiesen werden
konnte. Aufgrund der doch geringen Anzahl an Studien wurde als Conclusio die
Aussage gewählt: „Die Datenlage ist noch nicht ausreichend, um die Homöopa-
thie bei allen Erkrankungen als wirksam zu bezeichnen.“

Übersicht über weitere umfassende Metaanalysen der homöopathischen


Behandlungsweise:

Kleijnen K, Knipschild P (1991) et al. (1991) Clinical trials of homeopathy. BMJ 302:
306–323
77 % zeigen ein positives Ergebnis für die homöopathische Behandlung
– Alle Studien zeigen einen positiven Trend des Behandlungserfolges, unab-
hängig von der Qualität der Studien
– Conclusio der Autoren: Die Untersuchungsergebnisse berechtigen die Ho-
möopathie zum Einsatz bei bestimmten Erkrankungen …
– Es ist legitim und notwendig, weitere Studien und Analysen über den Wir-
kungsnachweis der Homöopathie durchzuführen …

Linde K, Melchart D (1998) Randomized controlled trials of individualized homeo-


pathy: a state-of-the-art review. J Alter Compl Med 4 (4): 371–388
32 Studien überprüft, 19 in die Metaanalyse aufgenommen
– Das Ergebnis:
– Die klassische Homöopathie ist signifikant effektiver als Placebo (pooled rate
ratio 1,62–95 %, confidence interval, 1,17–2,23)
– Die Ergebnisse der Studien mit bestem Design sind nicht signifikanter als die
anderen Studien
– Die Studien sollten zur Absicherung wiederholt werden
Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen auch Boissel et al. 1996 (Report for Euro-
pean Commisson), Cucherat et al. 2000 (Eur J Clin Pharmacol).
Die Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie 453

Shang A, Huwiler-Munlener K, Nartey L, Juni P, Dorig S, Sterne JA, Pewsner D,


Egger M (2005) Are the clinical effects of homeopathy placebo effects? Comparative
study of placebo-controlled trials of homeopathy an allopathy. Lancet 366: 726–32
Den Hintergrund dieser Metaanalyse bilden kassenpolitische Überlegungen in
der Schweiz. Das Ergebnis ist, das eine weitere Honorierung der Homöopathie
durch die gesetzlichen Krankenversicherungen nach fünf Jahren eingestellt
wird.
Für diese Analyse wurden 110 homöopathische Studien ausgewählt, wobei
Studien mit Komplexmittel und Isopathika den Hauptanteil einnehmen. Es be-
finden sich nur 16 Studien nach klassisch homöopathischen Kriterien in dieser
Auswahl. Diesem „Studienmix“ werden 110 konventionell medizinische Studien
mit ähnlicher Diagnose gegenüber gestellt. Das Ergebnis dieser großen Anzahl
an Studien ergab eine gute Wirksamkeit in beiden Gruppen, die auch in einer
Reduzierung auf jeweils 18 Studien nachweisbar bleibt. Diese wurde deshalb
durchgeführt, da die methodisch besten Studien nur in dieser Anzahl in die Me-
taanalyse Einschluss gefunden haben. Erst eine neuerliche Reduktion und Ge-
genüberstellung von acht placebokontrollierten homöopathischen Studien zu
sechs placebokontrollierten konventionell-medizinischen Studien ergibt eine
bessere Wirksamkeit der sechs konventionellen Studien. Im Detail sind noch etli-
che Mängel erkennbar, die aber den Rahmen sprengen würden.

Outcome Studien unter Praxisbedingungen

Zwei von vielen Studien seien hier erwähnt:

IIPCOS 1
International Integrative Primary Care Outcomes Study
Untersuchungszeitraum: 2001–2002

Studiendesign:
– Eingeschlossene Krankheiten: akute Erkrankungen der oberen Luftwege wie
Schnupfen, Halsschmerz, Ohrschmerz, Erkrankung der Nasennebenhöhlen,
Husten
– Dokumentation von Haupt – und Begleiterkrankungen
– Voraussetzung: Gesundheitsfragebogen nach Kindl
– Telefonischer Patientenkontakt nach 7, 14, 28 Tagen
– Frage: beschwerdefrei oder Besserung innerhalb von 14 Tagen
– Behandelt wurden 2055 Patienten über 12 Monate,
– die Therapie erfolgte nach Zufallsverteilung:
– 875 mit Homöopathie behandelt
– 629 Homöopathie und konventionelle Medizin
– 393 mit konventioneller Medizin therapiert
454 E. Pichler

Ergebnisse:
Homöopathie:
– Beschwerdefrei nach 7 Tagen: 32 %
– Beschwerdefrei nach 14 Tagen: 83 %
– Beschwerdefrei nach letztem Kontakt: 82 %
Konventionelle Medizin:
– Beschwerdefrei nach 7 Tagen: 26 %
– Beschwerdefrei nach 14 Tagen: 68 %
– Beschwerdefrei nach letztem Kontakt: 79 %
– Zufriedenheit:
– Homöopathisch behandelte Patienten: 79 %
– Konventionell therapierte Patienten.: 65 %
– Unerwünschte Nebenwirkungen:
– Homöopathie: 17,2 %
– Konventionelle Medizin: ca.: 20 %
– Besserungen am ersten Tag:
In der Homöopathiegruppe gab es signifikant mehr Besserungen am ersten
Tag als in der konventionell therapierten Gruppe.

IIPCOS 1, Fazit:
Bei Infekten der Luftwege:
– Homöopathie und konventionelle Medizin gleich wirksam
– Behandlungsaufwand fast gleich
– „Unerwünschte Nebenwirkungen“ in der Homöopathie geringer
– Patienten sind zufriedener
– Die Patienten werden rascher gesund!
Eine weitere Studie stammt aus dem Universitätsklinikum Charité, Humboldt-
Univerität Berlin durchgeführt von Dr. Claudia Becker-Witt
– 1130 Kinder wurden zwischen 1997 und 1999 homöopathisch betreut;
– 90 % der Diagnosen entsprachen chronischen Erkrankungen, mit mittlerer
Erkrankungsdauer von 4,3 Jahren.
– Atopische Dermatitis 20 %, Infektanfälligkeit 16 %, chronische Otitis media
9 %, Schlafstörungen 9 %.
– Reduktion der Diagnosebeschwerden anhand der VAS (visual analog scale):
– Beurteilung durch behandelnde Ärzte: von 5,9 zu 1,5
– Beurteilung durch Patienten: von 6,1 zu 2,2
– Dies entspricht einer eindeutigen statistischen Signifikanz (p < 0,001).

Das vollständige Lokalsymptom


Die Auswahl der passenden Arznei bei Akuterkrankungen erfolgt häufig mit
Hilfe des „vollständigen Lokalsymptoms“. Dabei werden die Charakteristika ei-
ner Beschwerde (Krankheit) genau erfragt, um sie mit dem Arzneimittelbild der
Die Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie 455

ähnlich wirkenden Arznei in Deckung zu bringen. Am einfachsten ist es, wenn


man sich an folgende Fragestellungen hält:
– Was? – Z. B. ein Schmerzgeschehen
– Wo? Wohin? Woher? – Topik des Schmerzes
– Seit wann? – Anfang, Verlauf, auslösende Ursachen
– Es dient zur genauen Charakterisierung einer Beschwerde bzw. eines Sym-
ptoms.
– Wie? – Brennt wie Feuer
– Wann? –Zeitliches Auftreten
– Wie lange? – Dauer des Schmerzes
– Wodurch? – Modalitäten
– Beschwerden, die gleichzeitig auftreten
– Wie reagieren sie in dieser Beschwerde?
– Gesamtbefinden?
– Was ist zu heilen?
Diese genaue Charakterisierung eines Schmerzgeschehens ist für die Arz-
neimittelfindung unabdingbar. Die Ursache liegt darin, dass fast jede Arznei auch
eine „Schmerzarznei“ sein kann. Es finden mindestens 700 Homöopathika
Verwendung! Daher ist eine genaue Differenzierung notwendig, um die dem
Schmerzgeschehen ähnlichste Arznei zu eruieren. Dabei sind untypische, auffal-
lende Schmerzcharakteristika wie Ausstrahlung der Schmerzen oder Vikariation
wichtiger als die üblichen Schmerzqualitäten wie stechend, brennend, drückend,
ziehend oder wie wund oder ähnliches. Diese exakte Differenzierung ist deshalb
von so großer Bedeutung, da für alle Schmerzqualitäten viele Arzneien zuorden-
bar sind. Um zu einer passenden Arznei zu gelangen, muss eine Eingrenzung der
in Frage kommenden Arzneimittel erfolgen. Dies bedeutet, dass mehrere Anga-
ben zu einem Schmerzgeschehen notwendig sind, um im Sinne eines Auslese-
verfahrens eine Eingrenzung der Homöopathika zu erreichen. Mit der genauen
Beschreibung des Schmerzgeschehens im Sinne des vollständigen Lokalsym-
ptoms ist dies am ehesten zu erreichen.
Die Anamnese des vollständigen Lokalsymptoms beinhaltet auch die Moda-
litäten (Verbesserung und Verschlechterung der Beschwerden). Diese sind neben
den auslösenden Ursachen einer Schmerzsymptomatik von größter Bedeutung.
Selbstverständlich sind auch die seelischen und geistigen Eigenschaften des
Individuums genauestens zu beachten.
Dadurch erfolgt eine gezielte Reduzierung der Anzahl der Arzneien. Im Ideal-
fall ist nur mehr eine Arznei das Endergebnis dieses Auswahlverfahrens.
Ist die Arzneimittelwahl getroffen, erhebt sich die Frage nach der Arzneizube-
reitung, der Potenzwahl und der Verabreichung der Arznei.

Rezeptur
– Welche Verarbeitungsmöglichkeit besteht bei der Arznei?
– Welche Potenz soll rezeptiert werden: D, C, LM, Q, Korsakow, Flux,
456 E. Pichler

– Welcher Arzneiträger – Glob. (Globuli), Tbl. (Tabletten), Dil. (Verdünnungen),


Trit. (Verreibungen), Amp. (Ampullen), Externa (Salben, Cremen, Gel) – ist
angebracht?
– Wie ist die Compliance des Patienten? Ist eine lang wirksame Hochpotenzga-
be einer täglichen Mittelpotenzgabe vorzuziehen?
– Welche Erfahrung hat sich der Verschreiber im Laufe der Jahre angeeignet?

Z. B.:
Guter Allgemeinzustand, keine pathologischen Veränderungen, hohe Intensi-
tät der Hauptsymptome: In diesen Fällen können Hochpotenzen (> D 30, C 30)
angewendet werden.
Geringe Vitalität, (Lebenskraft), Organpathologie, niedrige Intensität der
Hauptsymptome: In diesen Situationen sind Tiefpotenzen (< D 12, C 12) eher
der Vorzug zu geben.

Arzneieinnahme

Prinzipiell soll die Arzneiwirkung abgewartet werden !!!


Sollten Zweifel bestehen, so können folgende Empfehlungen für Arzneiein-
nahmen angewendet werden:
Tiefpotenz: 1–mehrmals täglich
Mittelpotenz:(D 8–D 12, C 8–C 12) 1–2x täglich
Hochpotenz: mindestens drei Wochen (bei D, C 200 und höher) abwarten bis
zur nächsten Gabe
Stopp bei Besserung!
Bei akuten Krankheiten ist eine häufigere Gabenwiederholung möglich!

Hinweise zur Einnahme homöopathischer Arzneien

Die Arzneien sind nüchtern einzunehmen, da die Resorption über die Schleim-
häute erfolgt. Daher soll gleichzeitig nichts gegessen oder getrunken werden.
Ebenso ist Nikotin und Zahnpasta ein Resorptionshindernis.
Die Einnahme soll 10 bis 30 Minuten vor oder nach einer Mahlzeit erfolgen.
Homöopathische Globuli lässt man im Mund zergehen, ebenso Tropfen, Tab-
letten und Verreibungen.
Auch das Auflösen in Wasser und die löffelweise oder schluckweise Verabrei-
chung ist üblich.
Seltener werden intravenöse, intramuskuläre, subkutane, Externa oder olfak-
torische Anwendungen verwendet.
Die Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie 457

Aus der Praxis

Der nachfolgende Überblick über wichtige, hauptsächlich akute Schmerzgesche-


hen soll die Ähnlichkeit der Arzneiwirkung mit dem vom Patienten erlebten
Schmerzgeschehen verständlich machen.
Dabei sind die wichtigsten Symptome der Arzneien, die zu dem jeweiligen
Schmerzgeschehen eine Beziehung aufweisen, angeführt.
Zwei wichtige Abkürzungen:
Agg. = Aggravation = Verschlechterung
Am. = Amelioration = Besserung
Die Behandlung hat selbstverständlich unter der Beachtung der medizini-
schen Richtlinien zu erfolgen. Die Prognostik und Diagnostik ist ein wichtiger
Bestandteil des therapeutischen Handelns.
Folgende Arzneien werden bei Kopfschmerzen häufig verwendet:
Aconitum Napellum: Blauer Eisenhut
Stürmischer Verlauf.
Bei Erkältung tritt Frösteln, Unruhe und plötzliches Fieber auf.
Empfunden wird ein reißender, brennender Kopfschmerz mit qualvoller
Angst, der Kopf ist wie durch ein Band zusammengeschnürt, die Haut ist heiß
und trocken.
Große Ängstlichkeit mit Unruhe und paroxysmaler Tachykardie.
Agg: vor Mitternacht, Wind, Zugluft, Schreck
Am.: wenn der Schweiß einsetzt
Belladonna, Atropa Belladonno: Tollkirsche
Plötzliches Einsetzen und plötzliches Aufhören vom meist spastischen Be-
schwerden. Diese sind heftig, berstend, bohrend, klopfend oder pulsierend. Auch
Empfindungen von bohrendem Kopfschmerz wie durch ein Messer oder als ob
das Gehirn herausgedrückt wird, werden beschrieben.
Am.: Druck, Kopf nach hinten beugen
Agg.: Bücken, Anteflexion, Bewegung, Licht
Die Haut ist scharlachrot, heiß und feucht, die Hände und Füße aber kühl.
Pulsierende Beschwerden, Krämpfe und etwas erweiterte Pupillen sind weiter
Kennzeichen dieser Arznei. Belladonna ist eine der wichtigsten Arzneien bei ka-
tarrhalischen Entzündungen im Stadium der Hyperämie. Die Patienten sind da-
bei unruhig, heftig und sind bei diesen hochfieberhaften Zuständen ziemlich
benommen.
Am.: Ruhe; Gegendruck, Beugen nach Rückwärts oder Streckhaltung
Agg.: Sonne, Nässe, Kälte
Gelssemium semperviens: Wilder Jasmin
Die Gesichtsfarbe ist dunkelrot, die Haut warm und feucht, der Patient ist
schwach und zittrig und fühlt sich wie betäubt bzw. wie gelähmt. Der Hinter-
458 E. Pichler

kopfschmerz ist bandförmig und heftig hämmernd. Die Extremitäten fühlen sich
kalt an und ganz typisch ist vor allem am Beginn der Erkrankung ein Frösteln
entlang der Wirbelsäule. Die Kopfschmerzen werden besser, wenn sich Harnab-
gang einstellt. Gelsemium ist auch ein wertvolles Mittel zur Bekämpfung des
„Lampenfiebers“.
Agg.: Feuchtigkeit; Darandenken; Tabakrauch; Erbrechen, seelische Erregung
AM.: Ausscheidung (Urin); Alkohol
Glonoinum: Nitroglyzerin
Wellenförmige, berstende, pulsierende, stürmische Kopfschmerzen, halten
den schmerzenden Kopf mit beiden Händen. Dieser ist heiß und rot.
Agg.: Retroflexion; Hitze, Sonne, Haarschneiden
Am.: kühl; frische Luft
Phosphor
Heftiger, klopfender Kopfschmerz, das Gesicht ist rot, Kälte verschlimmert,
außer bei Kopf- und Magenschmerzen. Menschen, die Phosphor brauchen sind
sehr extroviert und lieben die Gesellschaft.
Agg.: Wärme; Bewegung, Hinlegen, geistige Aktivitäten, Licht, Hitze
Am.: Kälte, Ruhe, kaltes Wasser (außer Kopf-und Magenschmerzen), Eis-
creme

Homöopathische Behandlungsmöglichkeiten bei


Verletzungen
Wichtig ist die Erste Hilfe, die weiteren Fragen sind die der Behandlungsmög-
lichkeiten und der Behandlungsnotwendigkeit.
Für die homöopathische Therapie ist die Erfragung des vollständigen Lokal-
symptoms von eminenter Bedeutung.
Was?: Auslösung: Sturz, Schlag, Prellung, Verheben, Überanstrengung,
Stich, Schnitt, Thermische Einflüsse, Nässe,
Wo?: Lokalisation – Kopf-zu-Fuß-Schema
Wie?: Schmerzart – als ob ..., Farbe, Schwellung, Blutung, Hautverände-
rung
Wann?: Zeitpunkt der Besserung und Verschlechterung
Wodurch?: Modalitäten: Wärme/Kälte, Ruhe/Bewegung, Druck, Berührung,
Körperhaltung,
Wer?: Aussehen, Reaktionsweisen, Verhalten,
Arnica montana
Synonyme: Bergwohlverleih, Wundkraut, Johannisblume
Das Verletzungsmittel, wenn folgende Symptome vorhanden sind: das Gefühl
wie zerschlagen zu sein, offene Blutungen oder Hämatome. Dazu gesellt sich
eine große Erschöpfung und Schwäche. Die Patienten sind extrem schmerzemp-
findlich, das Bett erscheint ihnen zu hart und Berührungen sowie bewegen ver-
schlimmert die Schmerzsymptomatik.
Die Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie 459

Schädel-Hirn-Traumata können zu Verwirrung und Gedächtnisverlust führen.


Diese Patienten befürchten, dass sie in diesem Krankheitsgeschehen nicht wie-
der gesund zu werden, dass ihre Erkrankung einen letalen Ausgang nehmen
werde und wollen so wenig als möglich Kontakt zu anderen Personen.
Arnika ist auch ein wichtiges Mittel für Hypertoniker und den Folgezustän-
den wie Apoplexie oder Myokardinfarkt.
Agg.: Verletzungen, wie Kontusionen, Distorsionen, Stauchungen, Berührun-
gen, langes ruhiges Liegen, nach dem Schlaf
Am.: im Freien, Lageänderungen, kühle Umschläge

Ruta graveolens: Weinraute


Verletzung oder Überanstrengung von Sehen oder im Bereich des Periosts.
Dabei treten verschiedene Schmerzqualitäten auf und ein Gefühl von großer
Schwäche im Bereich des verletzten Körperteiles.
Agg.: Kälte, Feuchtigkeit, Liegen auf der schmerzenden Seite, sitzen, vorm
Aufstehen, Wind
Am.: Liegen am Rücken, Wärme, Bewegung, Reiben, tagsüber, wechselt häu-
fig die Lage, ist unruhig so wie Arnika- oder Rhus toxicodendron-Patienten.

Hypericum perforatum: Johanniskraut


Nervenschmerzen nach Verletzungen im Bereich des ZNS oder der periphe-
ren Nerven, nach Operationen, Schädel-Hirn-Traumata. Dies sind heftige neu-
ralgische, teilweise unerträgliche Schmerzen entlang der Nervenbahnen. Häufig
wird eine Begleitdepression beobachtet.
Agg.: Bewegung, Anstrengung, Berührung, Wetterwechsel, feuchte Kälte,
Nebel
Am.: Die Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule bessern sich durch Rück-
wärtsbeugen und Reiben

Symphytum: Beinwell
Der Einsatz von Symphytum ist besonders lohnend bei schlecht heilenden
und komplizierten Frakturen, besonders wenn prickelnder oder schlecht heilen-
der Schmerz bestehen bleibt. Mitunter können protrahierte Entzündungen im
Operationsbereich mit Symphytum günstig beeinflusst werden. Die Haut ist in
diesem Bereich warm, glänzend rot und geschwollen.
Ein Versuch bei Mb. Sudeck führt immer wieder zu überraschenden positiven
Resultaten.

Ledum pallustre: Sumpfporst


Stichverletzungen durch spitze Instrumente, aber auch Insektenstiche mit
schmerzhaften Hämatomen. Die betroffenen Körperpartien fühlen sich kalt an,
obwohl sie objektiv warm imponieren.
Agg.: Wärme allgemein, Bettwärme, Zudecken, Bewegung, Gehen, nachts,
Alkohol, Hinlegen, Erschütterung
Am.: Kälte, betroffene Körperteile in kaltes Wasser geben, ausruhen.
460 E. Pichler

Acidum Sulfuricum: Schwefelsäure


Verletzungen bei geschwächten Menschen mit ausgeprägter Organpathologie
wie Karzinomen, Leberzirrhose, Äthylismus, Diabetes mellitus etc. Dabei treten
spontan oder bei nur sehr geringer Krafteinwirkung Sugillationen auf. Dekubi-
tus, Ulzera mit Blutungs- und Entzündungsneigung passen ebenfalls zu dieser
Arznei.
Agg.: übermäßige Hitze und Kälte als Zeichen der schwachen Regulation, da
die Adaptationsfähigkeit schon sehr eingeschränkt ist. Kaltes Wasser und kalte
Umschläge, nachts und in der Bettwärme, Kaffeegeruch
Am.: gemäßigte Temperaturen, warme Getränke, liegen auf der erkrankten
Seite, Druck
Bellis perennis: Gänseblümchen, Tausendschön
Wirkt auf die Muskelfasern der Blutgefäße.
Venöse Kongestion aufgrund mechanischer Ursachen.
Ist das erste Mittel bei Verletzungen der tieferen Gewebe, nach größeren chi-
rurgischen Operationen. Verwachsungen – Bridenileus
Folgen von Nervenverletzungen mit intensiver Schmerzhaftigkeit bei Kontakt
mit kaltem Wasser. Der Aufenthalt in warmer Umgebung verstärkt aber ebenfalls
die Beschwerden.
Trauma der Beckenorgane
Ein ausgezeichnetes Mittel für Verstauchungen und Quetschungen, wenn
nach Arnika noch eine Schwellung zurückbleibt.
Wundes zerschlagenes Gefühl
Am.: Bewegung und Reiben
Hamamelis: Virginischer Zauberstrauch
Schmerzen mit Wundheitsgefühl, Prellungen, Quetschungen mit starker Blu-
tungstendenz. Große Empfindlichkeit und Schwäche. Verstärkte Blutungen bei
Menstruation oder bei kleinsten Verletzungen.
Bei Hamamelis besteht ein große Affinität zu Phlebopathien, wie Varizen,
Thrombophlebitis, venenbedingten Stauungen.
Agg.: Hitze, Wärme, feuchtwarm, prämenstruell. Eine hervorragende Arznei
bei der Vikariation Epistaxis mit Menstruation
Am.: Ruhe, stilles Liegen, kühle Umschläge, Blutungseintritt bei Menstruation
Rhus toxicodendron: Giftsumach
Diese Arznei und Bryonia sind in der Akuttherapie der Beschwerden des Be-
wegungsapparates nicht wegzudenken. Die homöopathische Differentialdiagno-
se zwischen beiden Arzneien lässt sich am besten durch die Modalitäten stellen.
Bei Rhus tox. werden die Beschwerden durch Bewegung besser, hingegen bei
Bryonia verschlimmert die geringste Bewegung das Beschwerdebild.
Nicht nur der Bewegungsapparat sondern auch die Haut ist ein großes Ein-
satzgebiet für den Giftsumach. Hauptindikation ist ein bläschenartiges Ekzem
mit Brennen und Jucken im Sinne eines Herpes- oder herpetiformem Gesche-
hens. Die Patienten sind dabei sehr ruhelos und die Besserung der Symptome er-
folgt durch heißes Wasser.
Die Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie 461

Agg.: Zustand von Durchnässung, Kälte, Waschen, Zugluft, Klimaanlagen


auch im Fahrzeug, Frösteln nach Erhitzen oder wenn verschwitzt. Die Schmer-
zen sind bei Bewegungsbeginn kurzfristig intensiver, dann bessern sie sich. Ruhe
verstärkt die Symptomatik. Z. B. Verstauchung, Verheben (akute Lumbalgie), nach
bückender Tätigkeit, nach Mitternacht, im Winter, liegen auf der schmerzhaften
Seite, unruhig beim Liegen im Bett.
Am.: fortgesetzte Bewegung, Wärme, Hitze, warme Getränke, reiben bzw.
massieren der betroffenen Körperteile, liegen auf hartem Untergrund.

Bryonia: Zaunrübe
Berstender, zerschmetternder Kopfschmerz, von frontal nach okzipital aus-
strahlend. Verheben, Schmerzen des Bewegungsapparates nach Minimaltrauma-
ta, wenn jede Bewegung schmerzt. Diese Patienten vertragen weder psychische
noch physische Veränderungen. Alles was sich bewegt ist unangenehm! Übelkeit
und Schwäche beim Aufsitzen. Großer Durst, trockener Mund. Extrem reizbar bis
streitsüchtig. Wollen nur in Ruhe gelassen werden.
Agg.: geringste Bewegung, Husten, Essen
Am.: Ruhe, Kälte, Druck, Liegen auf der schmerzhaften Seite
Tellurium
Schmerzen der Wirbelsäule, Lumboischialgie rechts, Lumbosakralgie ins
rechte Bein ausstrahlend, Gefühllosigkeit der Finger beim Strecken der Hände.
Scharfe wundmachende Absonderungen mit Geruch nach Knoblauch oder
Fischlake.
Agg.: Berührung, Erschütterung, Lachen, Niesen, Husten, Bücken, Liegen auf
der kranken Seite. Kälte, periodische Schmerzen, die jede Woche auftreten.
Am.: Essen und Trinken verursacht Halsschmerzen
Staphisagria: Stephanskörner
Verletzungen durch Schnitt oder Stich, wobei die Wunden lange schmerzhaft
empfunden werden. Diese Verletzungen können auch psychischer Natur sein
und große seelische Verletzungen hinterlassen. Meist sind dies nachgiebige, sanf-
te Menschen, die ihre Gefühle lange Zeit unterdrücken, bis sich der Ärger plötz-
lich mit Entrüstung und Zorn entlädt.
Tabakrauch wird schlecht vertragen. Rezidivierende Zystitiden sind häufig,
ebenso berührungsempfindliche juckende Dermatosen.
Agg.: Gemütsbewegungen, Berührung, kalte Getränke, Mittagsschlaf
Am.: Wärme, Ruhe
Calendula: Ringelblume
Außerordentliche schmerzhafte Wunden mit Eiterungstendenz. Ausgezeich-
nete Wirkung nach Kombustionen, um eine Keloidbildung zu verhindern.
Agg.: Schüttelfrost bei Entzündungen, Erysipel, Verbrennungen, Verbrühun-
gen, feuchtes Wetter, abends
Am.: Wärme, vollkommen ruhiges Liegen (DD.: Bryonia), aber auch langsa-
mes Umhergehen kann die Beschwerden lindern
462 E. Pichler

Zusammenfassung
Dieser Überblick über die therapeutischen Möglichkeiten der klinischen Homöo-
pathie im Rahmen des Schmerzgeschehens dient dem Zweck, einen kleinen Ein-
blick in die Arbeitsweise der homöopathisch tätigen Ärztinnen und Ärzte sowie im
Pflegedienst zu vermitteln. Die genaue Anamnese ist eine Grundvoraussetzung,
um ein passendes Arzneimittel zu finden. Nicht nur das Krankheitsbild, sondern
auch der Mensch in seiner Ganzheit bilden die Quelle für das Erfassen der wichti-
gen Symptome in der Homöopathie. Nicht nur die körperlichen Krankheitser-
scheinungen, sondern auch die seelischen und geistigen Eigenschaften eines Men-
schen fließen in die Arzneimittelwahl mit ein. Weitere wichtige Kriterien in der
Differenzierung der Arzneien sind die verschiedenen Modalitäten, die Art und
Weise unter welchen Gegebenheiten eine Symptomatik verbessert oder ver-
schlechtert wird. Dazu zählen auch zeitliche Abläufe, Wettereinflüsse, Temperatur-
verträglichkeiten oder -unverträglichkeiten. Wichtig sind auf jeden Fall alle Verän-
derungen einer Person während ihres Krankheitszustandes. Die Wahl der Potenz
einer Arznei ist im Akutfall sicher nicht von entscheidender Bedeutung. Mit mittle-
ren Potenzen, wie C12 oder D 12, wird meistens das Auslangen gefunden.
Bei chronischen Schmerzzuständen ist eine ausführliche Anamnese notwen-
dig, die nicht nur das aktuelle Schmerzgeschehen zum Inhalt hat, sondern auch
die gesamt Biografie der/des Patientin/Patienten. Hier ist der Mensch das zentra-
le Thema im Rahmen der Arzneimittelfindung. Häufig geben in diesen Fällen die
persönlichen Charakteristika des Patienten den Ausschlag für die endgültige
Auswahl der homöopathischen Arznei.

Literatur
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Vermeulen F (1996) Synoptische Materia medica. Kai Kröger, Groß Wittensee
Vermeulen F (1999) Kindertypen in der Homöopathie. Sonntag, Stuttgart
Revision

Ayurvedische Schmerztherapie

W. SCHACHINGER
W. Schachinger

Ayurveda: Geschichte und Entwicklung


Die ältesten klassischen Texte der Ayurvedamedizin, Charaka und Sushruta
Samhita, datieren aus einer Zeit ca. 1000 v. Chr. und erklären in ihren jeweiligen
Einleitungen, dass Ayurveda-Medizin nicht menschlichen, sondern göttlichen
Ursprungs sei: ein Offenbarungswissen innerhalb der Vedischen Tradition In-
diens mit dem Zweck, „Gesundheit beim Gesunden zu vertiefen und Krankheit
beim Leidenden zu heilen“ (Charaka Samhita). Ayurveda versteht sich als Mutter
der Medizin und hat historisch gesehen wesentlich zur Entwicklung anderer tra-
ditioneller Medizinsysteme in China, Tibet, Griechenland und den arabischen
Ländern beigetragen. Die schriftliche Aufzeichnung dieser ursprünglich münd-
lich überlieferten Werke von jeweils ca. 10.000 Versen und Prosateilen dürfte vor
2500 Jahren stattgefunden haben. Alle klassischen Texte sind im Vedischen
Sanskrit, der Fachsprache der geistigen Elite der damaligen Zeit, verfasst. Aus
dieser Sprache, die in idealer Weise Klang und Bedeutung miteinander verbindet,
stammen auch alle heute unverändert verwendeten Fachausdrücke, die so be-
deutungsgeladen sind, dass sie nicht adäquat übersetzt werden können.
Ayurveda war in der Welt des alten Orients weit verbreitet, seine Erkenntnisse
von Naturgesetzmäßigkeiten wurden in verschiedenen Kulturen aufgenommen
und adaptiert. Die Traditionelle Tibetische Medizin und die Unani Medizin (Tra-
ditionelle Arabische Medizin) zeigen noch eine sehr große Ähnlichkeit, die Grie-
chische und Tradionelle Chinesische Medizin (TCM) haben sich etwas deutlicher
differenziert.

Entwicklung
Im indischen Subkontinent gab es in dieser langen Zeit divergente Interpretatio-
nen und Anwendungen aus den originalgetreu überlieferten klassischen Texten.
Deswegen liegt der Schwerpunkt heute in verschiedenen Regionen Indiens in
464 W. Schachinger

verschiedenen therapeutischen und diagnostischen Methoden. Überall in Indien


werden zwar noch immer die Originaltexte zum Studium verwendet, dennoch
zeigt sich, dass vor allem die ursprüngliche spirituelle Tiefe (im Sinn von Le-
bensweisheit, Anbindung an den Ursprung) deutlich abgeflacht oder abhanden
gekommen ist.

Ayurveda heute
Die rasche Verbreitung der Ayurveda-Medizin außerhalb Indiens wurde ausgelöst
durch die Initiative des vedischen Gelehrten Maharishi Mahesh Yogi, der zu
Beginn der 80er Jahre die ersten Symposien und Seminare organisierte, die
schulmedizinisch gebildeten Ärzten die Möglichkeit gaben, von den führenden
Ayurvedaärzten Indiens in dieses durch sprachliche und kulturelle Barrieren ge-
schützte Heilwissen eingeführt zu werden. Aus dieser Zeit stammt auch der Be-
griff Maharishi Ayurveda, eine der markantesten Schulen der Ayurvedamedizin.
Der Markenname Maharishi Ayurveda stellt sicher, dass der Ayurveda in vollem
Einklang mit dem Wertesystem der Entstehungszeit praktiziert wird, dass die
Anwendungen ganzheitlich, kulturunabhängig und systematisch sind, dass sie
nach den Standards unserer Naturwissenschaft untersucht werden und dass er
mit der modernen Medizin, soweit sie ohne Nebenwirkungen praktiziert werden
kann, voll kompatibel ist.

Ziele und theoretische Grundlagen


Um die therapeutischen Techniken der Ayurvedamedizin zu verstehen, ist ein
kurzer Einblick in die theoretischen Grundlagen notwendig:

Definition von Gesundheit


Die Sushruta Samhita definiert Gesundheit wie folgt: „Gesundheit (Svasthya)
besteht aus: ausgewogenen Doshas (Bioregulatoren des Lebens), ausgewogenem
Agni (Regelprinzip der Transformation), ausgewogenen, gleichmäßig ernährten
Dhatus (Bioregulatoren der Körpergewebe) und ausgewogenen Malas (Bioregu-
latoren der Ausscheidung); weiters aus dauerhaftem und vollkommenem Glück
(Prasanna) von Seele, Geist und Sinnen.“
In dieser Definition sind alle in den klassischen Texten beschriebenen psycho-
physiologischen Bioregulatoren und die Rolle des ausgewogenen, ruhigen und
glücklichen Geist-Seelenzustands enthalten. Jede Störung dieses äußerst sensi-
blen und labilen Gleichgewichts führt zu Unausgewogenheit von Geist und Kör-
per, die nicht als getrennt, sondern als miteinander verbunden gesehen werden.
Die Erhaltung, Verbesserung oder Wiedererlangung dieser Balance ist eine Ver-
pflichtung für das Leben, die der Patient unter fachlicher Beratung des Arztes
(vaidya – der Wissende) zu seinem eigenen Wohlergehen auf sich nimmt. Inte-
Ayurvedische Schmerztherapie 465

ressant ist auch eine Textstelle in der Charaka Samhita, in der vier gleichwertige
Faktoren für den Heilprozess beschrieben werden: Arzt, Heilmittel, Pfleger und
Patient („das große Quartett“). Ein schwaches Glied in dieser Kette verhindert
die Genesung des Patienten. In dieser Textpassage werden auch die Qualifikatio-
nen für den Pflegeberuf dargestellt. Neben fachlicher Qualifikation wird vor al-
lem Wert gelegt auf persönliche Hygiene und Psychohygiene, auf einen ehrli-
chen, einfühlsamen Charakter, und auf die Fähigkeit, den Anweisungen des
behandelnden Arztes genauestens zu folgen.

Die drei Doshas (Vata, Pitta, Kapha)


Das System der drei Doshas Vata, Pitta und Kapha steuert alle psycho-
physiologischen Vorgänge. Dabei ist Vata für Bewegung, Transport und Kommu-
nikation, Pitta für Verdauung und Wärmehaushalt, Kapha für Stabilität, Struktur
und Wasserhaushalt (Lubrikation) in Geist und Körper zuständig. Vata bewegt
also z. B. Gedanken, Muskeln oder Nährstoffe im System, Pitta verarbeitet Nah-
rung ebenso wie Emotionen, und Kapha strukturiert unser Gedächtnis so effi-
zient wie den Aufbau unserer Körpergewebe.
Jeder Mensch hat eine (genetisch festgelegte) individuelle Zusammensetzung
dieser drei Regulatoren, die seine Konstitution (Prakriti) und damit seine Fähig-
keiten und Grenzen im Leben festlegen. Abweichungen von dieser Grundkon-
stitution, die durch innere und äußere Einflüsse entstehen, werden als Vikriti be-
zeichnet und sind Schrittmacher für Krankheit und Leid. Dabei ist oft Schmerz
das erste Symptom, das als Alarmzeichen des Systems auftritt und zumindest am
Anfang den Sinn hat, den Menschen als Warnsignal auf ein Abweichen von sei-
ner inneren Natur aufmerksam zu machen. Dieses Signal soll ihn dazu bewegen,
sein Leben wieder in die richtigen Bahnen zu lenken.
Medizinisch gesehen führt ein Abweichen zur Anhäufung eines oder mehre-
rer der drei Dosha, deren Qualitäten sich vermehren. So führt ein Anhäufen von
Vata z. B. zu Kälte, Steifigkeit und/oder Unruhe, ein zu viel an Pitta zu Hitze, Säu-
re und/oder Reizbarkeit, ein vermehrtes Kapha u. A. zu Dumpfheit, Schwellung
und/oder Müdigkeit. Der Schmerzcharakter von gestörtem Vata ist wandernd,
wechselhaft, ziehend und verschlimmert sich durch trockene Kälte und nachts
zwischen 2:00 und 4:00h. Typischer Pitta-Schmerz ist brennend, heftig und to-
bend, verschlimmert sich um Mitternacht und bei Wärmereizen. Kapha-
Schmerzen sind dumpf, lang anhaltend und konstant, oft mit Schwellungen oder
Ödemen verbunden und verschlimmern sich durch feuchte Kälte und sind oft
morgens und in der Zeit von 20:00 bis 22:00 am schlimmsten.

Agni, das Regelprinzip der Transformation


Für das Verständnis der ayurvedischen Schmerztherapie erscheint mir dieses Re-
gulationsprinzip am wichtigsten. Agni regelt die Verarbeitung aller Sinnes- und
Informations-Inputs (einschließlich Ernährung, Medikamente etc.) und bewirkt,
466 W. Schachinger

dass geist-/körperfremde Stoffe oder Informationen in geist-/körpereigene Stoffe


oder Informationen transformiert werden. Zwei Beispiele: Ein Mensch trinkt
Milch. Das körperfremde Protein wird durch den Agni im Verdauungssystem zu
Aminosäuren zerlegt und dann zu körpereigenem Protein synthetisiert. Oder ein
Mensch liest ein Buch: Die visuellen Inputs der geschriebenen Wörter werden
durch Agni in Auge und Hirnstamm zu elektrischen Impulsen zerlegt und erge-
ben im Großhirn einen sinnvollen Zusammenhang.
Die klassischen ayurvedischen Texte stellen folgende bedeutsame Theorie auf:
kann der Agni den psychophysiologischen Input (Nahrung, Sinneswahrneh-
mung, Aktivität) restlos verarbeiten, dann entsteht Ojas. Ojas wird beschrieben
als die Essenz des Lebens, die subtilste Substanz, die Geist und Körper mitein-
ander verbindet und das Leben aufrecht erhält. OJAS bewirkt Vitalität, Immuni-
tät, Glück und ist in der Lage, jeden Schmerz zu neutralisieren.
Kann Agni irgendeinen Input nicht zur Gänze verdauen und verarbeiten,
dann entsteht Ama, wörtlich „das Ungekochte“, also „Komplexe“ geistiger oder
körperlicher Natur, die wie Fremdkörper das System stören und sich sehr oft
durch Schmerz äußern.
Nach dieser Theorie gibt es keinen Schmerz, der nicht mit Ama in Verbindung
steht. Die fachgerechte Beseitigung von AMA am Entstehungsort der Krankheit
(der nicht unbedingt mit dem Schmerzort identisch sein muss) ist der Schlüssel
zur ayurvedischen Schmerztherapie.

Die Kraft des inneren Glücks (Prasanna)


Schmerzerfahrung ist subjektiv. Ein objektiv gleicher Schmerzreiz kann von einer
Testperson als gering, von einer anderen als intensiv eingestuft werden. Noch
sind nicht alle Zusammenhänge zwischen Schmerzerfahrung und Psyche er-
forscht. Dennoch kann als gesichert angenommen werden, dass ein glücklicher,
ausgewogener Geist ein sicherer Schutz gegen Schmerzerfahrung ist. Auch hier
sind die bekannten Endohormone und Botenstoffe wie Endorphine, Neuropep-
tide, Serotonin etc. der physiologische Ausdruck der mentalen Glückserfahrung.
In vielen vedischen Texten, auch im ayurvedischen Klassiker Charaka Samhi-
ta, wird darauf hingewiesen, dass dieser Geisteszustand durch die Erfahrung von
Yoga (Stille) erreicht wird. Forschungen über Transzendentale Meditation, einer
von Maharishi Mahesh Yogi begründeten einfachen, wissenschaftlich sehr gut
untersuchten und vor allem absolut alltagstauglichen Methode zur Stilleerfah-
rung, zeigen, dass es die Möglichkeit gibt, mit 2x täglich 15–20 Minuten Medita-
tion auch in unserer gewohnten Umgebung die gewünschten Effekte auf
Schmerzempfindsamkeit zu erzielen. Bei einer Anwendungsbeobachtung gaben
viele Probanden an, dass chronische Kopf- oder Rückenschmerzen oft schon
nach wenigen Tagen des Übens verschwanden. Die positiven Auswirkungen der
Transzendentalen Meditation auf Gesundheit und andere Lebensbereiche sind
durch umfangreiche Forschung in mehr als 600 Studien, durchgeführt in mehr
als 250 verschiedenen Forschungsinstituten und veröffentlicht in führenden wis-
senschaftlichen Journalen, bestätigt.
Ayurvedische Schmerztherapie 467

Eine neue klinische Studie der University of California/Irvine zeigt, dass bei
Personen, die Transzendentale Meditation üben, die Schmerzreaktion im Gehirn
um 40 bis 50 % abnimmt.

Ursache und Entstehung von Krankheit (Schmerz)


Pragya Aparadha – der verhängnisvolle Denkfehler
Warum werden wir krank und erleiden Schmerzen, wenn unser Körper nach ay-
urvedischer Ansicht dem perfekten kosmischen Bauplan entspricht? Es ist unser
freier Wille, der uns gestattet, auch gegen die Gesetze des Lebens zu verstoßen
und dafür eben Lernimpulse in Form von Unwohlbefinden zu erhalten. Nach
Anschauung der klassischen Texte (Charaka, Sushruta) geschieht dies streng
nach dem Gesetz von Aktio und Reaktio (= Karma). Die Tendenz, im Materiellen
verhaftet zu sein und immer wieder die gleichen Fehler im Leben zu machen,
wird von den Klassikern als „Pragya Aparadha“, Fehler des Denkens, bezeichnet
und als Hauptursache für Krankheit, Schmerz und Leid angesehen. Wir tun uns
oft schwer, diese Erklärung zu akzeptieren, weil der zeitlich-räumliche Zusam-
menhang zwischen Ursache (Fehlverhalten) und Wirkung (Schmerz) oft völlig
verloren gegangen ist. Aus dieser Sichtweise muss eine ursächliche Schmerzthe-
rapie auch mit einer Verhaltensänderung einhergehen. Höchste Sensibilität von
Arzt, Pflegepersonal und Patient sind hier gefordert.

Diagnose und Therapieverfahren

Pulsdiagnose ist der Kern der traditionellen ayurvedischen Diagnostik und ist ne-
ben der nachträglich erfassten Anamnese und der körperlichen Untersuchung
das wesentliche Entscheidungskriterium für die Wahl der richtigen Therapie. Es
gilt herauszufinden, wo der Ursprung der Störung ist, wo sie sich manifestiert,
welche Doshas, Dhatus und Malas beteiligt sind und wie die Funktion von Agni
beschaffen ist.
Mit den diagnostischen Methoden der modernen Medizin können Krankhei-
ten oft erst diagnostiziert und behandelt werden, wenn sie organisch manifestiert
sind. Sensible Patienten, die schon in früheren Stadien wegen ihrer Beschwerden
den Arzt aufsuchen, werden oft belächelt und ohne Befund und Therapie entlas-
sen. Hier kann der ayurvedisch weitergebildete Mediziner in Diagnose und The-
rapie wesentlich früher ansetzen und das Pflegepersonal durch einfühlsame,
sanfte Therapiemaßnahmen Linderung verschaffen.

Die drei Therapiestrategien

Alle Therapieverfahren des Maharishi Ayurveda wirken regulativ und unterstüt-


zen eine Entwicklung in Richtung Gleichgewicht der Regulationskräfte und
Glück des Geistes. Dabei zeigt sich, dass es eine Hierarchie der Wirksamkeit ver-
468 W. Schachinger

schiedener Therapien gibt. Je subtiler eine Methode ist, desto größer die Lang-
zeitwirkung.
Der Ayurveda bietet Arzt und Pflegepersonal vielfältige Therapiemöglichkei-
ten an. Beispiele sind Phytotherapie, mit Empfehlungen für Ernährung, Bewe-
gung und Zeitmanagement, Heilmassagen und lokale Anwendungen, Therapie
über die Sinnesorgane (Klang, Berührung, Farben, Geschmäcker und Düfte),
Ausleitungstherapien (die klassische Pancha Karma Reinigungstherapie) und
Entspannungstherapien wie Meditation und Yoga.
Von der Zielrichtung der Therapie unterscheidet man zwischen „Shamana“
(beruhigenden, palliativen) Behandlungen, „Shodhana“ (Ama/Toxine ausleiten-
de, an der Wurzel heilende) und „Rasayana“ (Lebenskraft erhaltende oder ver-
jüngende) Behandlungen.

Shamana-Therapie: die Kraft der Heilpflanzen, Klänge und


sensiblen Punkte (Marma)

In der Charaka Samhita wird den 5 Sinnen (Hören, Tasten, Sehen, Schmecken
und Riechen) nicht nur bei der Entstehung von Krankheiten, sondern auch
bei der Therapie eine wichtige Rolle zugeschrieben. Durch übermäßigen, fehlen-
den oder falschen Gebrauch der Sinne nimmt unser System die Fehlinformatio-
nen auf, die den Geist irre leiten und auch zum Fehler des Denkens (Pragya
Aparadha) als tiefste Ursache von Krankheit führen. Also ist es nur naheliegend,
Informationsaufnahme über die 5 Sinne zur Korrektur des Systems zu nutzen.
Die Information, die zum „Fehler“ im System geführt hat, soll durch Informa-
tion, die den Fehler löscht und die ursprüngliche, geordnete Natur des Geist-
Körper-Systems wiederherstellt, ersetzt werden.

Beispiele für Therapie über die 5 Sinne


– Hören: Klangtherapie, Meditation
– Tasten: Massage, Heilreize über Vitalpunkte (Marma)
– Sehen: Farbtherapie
– Schmecken: Ernährung, Heilpflanzen, Gewürze
– Riechen: Aromatherapie

Heilpflanzen

Heilpflanzen werden in der Ayurvedamedizin fast ausschließlich als Komplex-


mittel eingesetzt. Wird nur eine Heilpflanze verwendet, wird diese in sehr auf-
wändigen Verfahren durch wiederholtes Konzentrieren der Pflanzenextrakte
potenziert. Ursprünglich war nicht der Gehalt an bestimmten Wirkstoffen aus-
schlaggebend für die Verwendung bestimmter Heilpflanzen, sondern ausschließ-
lich deren Geschmack und energetische Wirkung im Körper, die von den alten
Ärzten erforscht worden war. Die Komplexmittel, deren Formeln in den Klassi-
Ayurvedische Schmerztherapie 469

kern minutiös aufgezeichnet sind und die bis heute verwendet werden, wurden
so komponiert, dass sich bei Heilpflanzen mit ähnlicher Wirkrichtung die er-
wünschten Wirkungen addieren, die unerwünschten Wirkungen neutralisieren.

Exemplarisch für die vielen Möglichkeiten drei Beispiele:


Shallaki – Boswellia serrata – Indischer Weihrauch
Weihrauch die eine der ersten klassischen ayurvedischen Heilpflanzen, die in
Europa breit angewendet werden. Boswellia gehört zu den Balsambaumgewäch-
sen, deren Harz seit Jahrtausenden (nicht nur) medizinisch verwendet wird. Die
Boswelliasäuren haben eine Kortison ähnliche Wirkung, die den (unterstützen-
den) Einsatz von Boswellia vor allem bei Schmerzgeschehen mit entzündlicher
Ursache rechtfertigt. Dies entspricht auch den klassisch überlieferten Indikatio-
nen wie den entzündlichen Gelenkserkrankungen, aktivierten Arthrosen, ent-
zündlichen Darmerkrankungen, entzündlichen Erkrankungen des Nervensys-
tems und schmerzhaften Entzündungen im Unterleibs- und Harnwegsbereich.
Mehrere fertige Zubereitungen stehen bei uns zur Verfügung, z. B.Weihrauch-
Reinextrakt in Tabletten-Form: H 15®. Sie dienen vor allem zur begleitenden hoch
dosierten Weihrauchtherapie bei chronisch entzündlichen Krankheiten wie PCP,
Colitis ulcerosa, Asthma und bei Hirntumoren.
Komplexmittel MA 1673: Hier ist Weihrauch vor allem mit Heilpflanzen kom-
biniert, die die Wirkstoffe in Richtung Knochen und Gelenke lenken. Vor allem
bewährt zur Unterstützung der Therapie bei Schmerzzuständen nach Verletzun-
gen und bei entzündlichen Gelenkserkrankungen (z. B. aktivierten Arthrosen,
Monarthritiden, Heberden Arthrosen der Fingergelenke).

Abb. 1.
Weihrauchharz (Shallaki)

Guggulu – Balsamodendron mukul (syn. Commiphora m.) – Indische Myrrhe


Auch bei dieser Heilpflanze, die aus der gleichen botanischen Familie wie der
Weihrauchstrauch stammt, wird das Harz verwendet. Guggulu gehört zu den gut
untersuchten Heilpflanzen und ist u. A. analgetisch, desinfizierend, antihyperto-
nisch und cholesterinsenkend wirksam. Auch Guggulu wird traditionell in Kom-
bination mit anderen Heilpflanzen, die die Wirkstoffe von in bestimmte Körper-
regionen lenken, als Komplexmittel verwendet.
470 W. Schachinger

– Komplexmittel MA 572: Enthält neben Guggulu vor allem Stoffwechsel anre-


gende und ausleitende Heilpflanzen und beseitigt Ama aus den Gelenken.
Deswegen ist MA 572 zur begleitenden Therapie von Arthrosen und
Schmerzzuständen im Bereich der Wirbelsäule empfehlenswert.
– Komplexmittel MA 332: In diesem Komplexmittel ist Guggulu mit Heilpflan-
zen kombiniert, die mehr auf die oberen Körperregionen (Kopf, Nacken)
einwirken. MA 332 eignet sich sehr gut zur begleitenden Therapie von Kopf-
schmerzen, Zervikalsyndromen etc.

Abb. 2.
Strauch der indischen Myrrhe
(Balsamodendron mukul)

Eranda – Rizinus communis – Rizinus (Wunderbaum)


Von Rizinus wird bekanntermaßen das Öl verwendet. Es wirkt analgetisch,
antirheumatisch, erwärmend und purgativ. Neben der periodischen Verwendung
in hohen Einzeldosen bei der Virechana- Therapie (siehe unten) gibt es auch die
tägliche Anwendung in kleinen Dosen mit dem Ziel, vor allem die analgetische
Wirkung von Rizinus zu nutzen.

Abb. 3.
Blühender Rizinusstrauch
(Rizinius Communis)
Ayurvedische Schmerztherapie 471

Rizinusöl mit Kurkuma: Dieses einfache „Küchenrezept“ wird wie folgt zube-
reitet: Man verrührt Rizinusöl mit etwa der gleichen Menge Kurkuma-Pulver zu
einer Paste. Bei akuten Schmerzzuständen (Migräne, akute Gelenksschmerzen,
Tumorschmerzen etc.) gibt man halbstündlich ca. einen viertel Teelöffel dieser
Mischung.
Wichtig: die pflanzlichen Präparate werden nie als einzige Maßnahme, son-
dern immer in Verbindung mit anderen Therapien (Ausleitung, Ernährung etc.)
angewendet!

Therapie mit Klängen

Die Anwendung von Klängen in der Therapie ist für uns zunächst ungewöhnlich,
findet aber auch bei uns zunehmend Anerkennung. Klang ist das traditionelle
therapeutische Medium der Vedischen Tradition Indiens schlechthin. Ursprüng-
lich wurden alle Vedischen Texte ausschließlich mündlich überliefert, und ihre
tägliche Rezitation gehörte bei der geistigen Elite des Vedischen Indien zur tägli-
chen inneren Reinigung und Vorbereitung auf den Alltag.
Klang ist Schwingung, die die Seele berührt. Er erreicht den Kranken oft in
der Welt seiner verletzten Gefühle und kann diese beruhigen und harmonisieren.
Mit den richtigen Klängen kann man Schmerzzustände, die auf inneren Span-
nungszuständen beruhen, an der Wurzel beseitigen.
Entsprechend der Bedeutung von Klängen gibt es im Maharishi Ayurveda
auch eine Vielzahl von Klangtherapien, auf die hier in einigen Beispielen nur
kurz hingewiesen werden soll:
Transzendentale Meditation: Der Patient erlernt ein Klangwort (Mantra), das er
in Gedanken wiederholt. Dadurch wird ein extremer Tiefenentspannungszustand
mit hoher EEG Kohärenz erreicht. Bewährt besonders bei chronischen Kopf-
schmerzen, Migräne, Verspannungen im Bereich der Wirbelsäule. Diese Methode
kann sowohl vorbeugend, bei mobilen chronischen Schmerzpatienten auch the-
rapeutisch eingesetzt werden.
Gandharva Veda Musik: Klassische indische Musik aus der vedischen Tradition,
von Musikern live gespielt oder von Tonträgern. Es gibt eine Vielzahl verschiede-
ner Ragas (Melodien) und Talas (Rhythmen), denen jeweils verschiedene Wir-
kungen zugeschrieben werden. So ist z. B. Raga Bhairavi bewährt bei rheumati-
schen Erkrankungen, Raga Jaunpuri bei Schmerzen im Magen-Darmtrakt. Jeder
Raga zur richtigen Tages-/Jahreszeit gespielt kann Verspannungen in Kopf, Na-
cken und Lendenwirbelsäule lösen.

Lokale Schmerztherapie

Die lokale Schmerztherapie hat in der Ayurvedamedizin große Tradition. Dabei


werden ähnlich wie bei der Akupunktur oft nicht nur die betroffenen Stellen,
sondern so genannte „Marma“-Punkte als „Fernpunkte“ mit spezifischen Ölen
472 W. Schachinger

behandelt. Die Marmatherapie hat sich in unserer Ayurveda Tagesklinik als be-
sonders wirkungsvoll bei akuten und chronischen Schmerzen herausgestellt.
Für die Behandlung am Schmerzort werden medizinierte Öle, Balsame, Pas-
ten (Lepam) etc. verwendet, je nach Schmerzcharakter oft gefolgt von wärmen-
den oder kühlenden Wickeln.

Shodhana-Therapie: Ausleitungstherapie

Die gängigen ayurvedischen Ausleitungstherapien werden unter dem Begriff


Panchakarma (pancha = fünf, karma = Therapie) zusammengefasst. Dabei handelt
es sich um Therapieabfolgen, die systematisch aufeinander aufgebaut sind und
am besten stationär durchgeführt werden.
Pancha-Karma-Therapien nach Charaka
Vamana – Brechtherapie
Beseitigt Kapha im Überschuss
Shirovirechana (Nasya) – nasale Ausleitung
Virechana – Purgation Beseitigt Pitta im Überschuss
Niruha Basti – wässriges Klysma
Beseitigt Vata im Überschuss
Anuvasana Basti – öliges Klysma

Die Therapie beginnt mit der Vorbehandlung (Purvakarma), bei der vor allem
durch diätetische Maßnahmen und Anwendung von so genannten Pachanas die
belastenden Toxine (Ama) aus den Geweben gelöst werden. Wenn nach 1–2 Wo-
chen im Organismus die Anzeichen ausreichender Auflösung von Ama auftreten,
beginnt die Hauptbehandlung (Pancha Karma). Dabei wird wieder jede der fünf
Ausleitungstherapien durch Applikation von Öl und Wärme vorbereitet. Die
meist sehr angenehmen Vorbereitungstherapien der oft anstrengenden Auslei-
tung haben Ayurveda bei uns im Westen bekannt gemacht. Hier werden ver-
schiedene Massagetechniken verwendet, die meist von 2 Therapeuten ausgeführt
werden und erstaunlich entspannend und wohltuend wirken. Die sequenzielle
Anwendung dieser Therapien dauert zwischen 1 und 4 Wochen.

Abb. 4.
Synchronmassage mit zwei Therapeuten
Ayurvedische Schmerztherapie 473

Einige dieser Anwendungen haben in den Wellnessabteilungen der gehobe-


nen Hotelkategorien in Europa Einzug gehalten und werden dort – ohne Bezug
zum eigentlichen Zweck – eher im kosmetischen Bereich angewendet.
Die abschließende Nachbehandlung (Paschat Karma) steht unter dem Thema
Rasayana und sieht vor, den Kureffekt durch passende pflanzliche Zubereitungen
und Verhaltensmaßnahmen zu festigen und zu vertiefen.

Rasayana: (wiedergewonnene) Gesundheit erhalten


Rasayana heißt wörtlich „das, was die Lebenssäfte (Rasa) in Bewegung hält
(Ayana)“ und wird oft fälschlich als „Geriatrie“ übersetzt. Rasayana sollte, vor
allem nach erfolgter Shodana-Therapie, beim vitalen Menschen ansetzen und
nicht erst, wenn geriatrische Beschwerden und irreversible Altersschäden aufge-
treten sind.
Rasayana-Therapie besteht aus 2 Komponenten: erstens der Verhaltensthera-
pie (Achara Rasayana), die einfache Ernährung und einen moralisch verantwor-
tungsbewussten Lebenswandel im Einklang mit den Biorhythmen vorsieht. Hier
hat der Maharishi Ayurveda eine jahrtausende alte, gesundheitsorientierte Vor-
sorgemedizin zur Hand, die beispielhaft für unser krankheitsorientiertes „Ge-
sundheitssystem“ ist.
Die zweite Komponente der ayurvedischen Vorsorgemedizin besteht aus ge-
zielter Ernährung der Körpergewebe durch Rasayana-Zubereitungen, die als Nah-
rungsergänzungen eingenommen werden. Die klassischen Texte sehen diese
meist materiell und zeitlich sehr aufwändigen Zubereitungen als direkte Quellen
für die Bildung Ojas im Körper, um Jugendlichkeit, Vitalität, Immunität und Frei-
heit von Schmerz zu fördern.
Bei wissenschaftlichen Studien über diese jahrtausende alten Komplexpräpa-
rate aus Kräutern, Mineralien und tierischen Produkten wie Ghee (Butterreinfett)
hat sich gezeigt, dass einige dieser Zubereitungen wie z. B. Amrit Kalash hoch
potente Radikalfänger sind und dass durch diese Qualität auch die protektive
Wirkung vor Krankheit und Schmerz erklärbar ist.

Schulung
Die meisten ayurvedischen Anwendungen dürfen nach europäischem Recht nur
durch entsprechend geschultes Personal auf Anweisung von Ärzten durchgeführt
werden. In Österreich ist vom Gesundheitsministerium eine Ausbildungsord-
nung zur Aufschulung von diplomierten Gesundheitsberufen genehmigt wor-
den. Entsprechende Kurse werden von verschiedenen Organisationen und Schu-
len angeboten.

Zusammenfassung
Ayurveda-Medizin, die Heilkunst der uralten Vedischen Tradition Indiens, deren
Sanskrit-Originaltexte bis heute unverändert überliefert sind, hat ein klares theo-
474 W. Schachinger

retisches Verständnis der Ursachen von Schmerz und eine Vielzahl von regulati-
ven Methoden zur Schmerztherapie. Die verschiedenen Therapiekonzepte wie
Meditation, Ernährung, Phytotherapie, Externa, Klänge und Ausleitungsthera-
pien (Pancha Karma) sind besonders in der Behandlung subakuter und chroni-
scher Schmerzen indiziert. Viele dieser Therapieformen sind bereits ausgiebig
wissenschaftlich erforscht.
Die Ayurveda-Medizin bietet auch bewährte Konzepte zur primären und se-
kundären Rehabilitation von Schmerzpatienten und traditionelle Methoden der
individuellen und kollektiven Vorsorgemedizin.

Literatur
Schrott E, Schachinger W (Hrsg) Handbuch Ayurveda. Haug, Stuttgart
Weitere Literatur beim Verfasser.

Kontakte
Österreichische Gesellschaft für Ayurvedische Medizin (Ärztegesellschaft), Piaristengasse 1,
1070 Wien, www.ayurveda.at
Deutsche Gesellschaft für Ayurveda, Chausseestr. 29, 10115 Berlin, Deutschland,
www.ayurveda.de
Ausbildungen für Ärzte und Heilberufe: Deutsche Ayurveda Akademie, Steyrerweg 11,
93049 Regensburg, Deutschland www.ayurveda.de/ausbildung Tel: +49 9431 7589408,
mail: akademie@ayuveda-gesellschaft.de
Revision

Nichtmedikamentöse Methoden in der


Notfallmedizin

K. HOERAUF, A. KOBER und B. GUSTORFF


K. Hoerauf et al.
Nichtmedikamentöse Methoden in der Notfallmedizin

Einleitung

Die Wichtigkeit der Schmerztherapie in der Notfallmedizin wird nicht ausrei-


chend erkannt. Speziell Patienten mit leichten Traumata in einer nicht lebensbe-
drohlichen Situation erhalten nur selten oder inadäquat Schmerztherapie. Dies
ist in der lokalen Gesetzgebung begründet, die dem Personal die initiale
Versorgung von Traumapatienten – durch pharmakologische und/oder invasive
Methoden – verbietet. Diese Situation führte dazu, dass die Möglichkeit der
Schmerztherapie mit Akupressur, die vom medizinischem Personal durchgeführt
wird, untersucht wurde – eine Technik mit viel versprechenden Ergebnissen, die
gerade für die prä-hospitale Schmerztherapie in Betracht gezogen werden kann.

Trauma, körperliche Beschwerden und Schmerz

In der täglichen Notfallroutine sind polytraumatisierte Patienten in lebensbe-


drohlichen Zustand glücklicherweise selten. In einer Studie an der Denver EMS
(Paul et al. 1999) waren 44 % der Fälle traumatisch, die große Mehrheit davon
(85,6 % der Erwachsenen und 91,8% pädiatrischen Patienten zwischen 0–12 Jah-
ren) hatte geringe Traumata (klassifiziert nach ISS 1–5, mit einem Mean-ISS von
4,4 bei Erwachsenen und 3,8 bei Kindern).
So lange das Trauma keinen Einfluss auf das Überleben des Patienten
hat, sollte daher der Schmerztherapie mehr Bedeutung beigemessen und dem
Patienten die Möglichkeit gegeben werden, davon zu profitieren (Maio et al.
1999). Wenn Einflüsse auf die Patientenzufriedenheit untersucht werden
(Doering 1998), geben Patienten und ihre Verwandten an, die Höflichkeit des
Personals zu vermissen, das Unvermögen den Eingriff zu erklären und dem
Patienten die Angst zu nehmen. Des weiteren wurde die subjektiv schlechte me-
476 K. Hoerauf et al.

dizinische Versorgung und subjektiv schlechte Reaktionszeit genannt. Dies sei


nur der Vollständigkeit halber angeführt, um zu erläutern, dass die Wahrneh-
mung des Patienten und seiner Angehörigen möglicherweise eine andere ist, als
die des medizinschen Personals.
Aber selbst wenn es Sanitätern erlaubt wäre, Schmerzmittel intravenös zu
verabreichen, behandeln selbst Ärzte Schmerzen selten adäquat (Ricard-Hibon
et al. 1999; White et al. 2000) – ein Fakt, der nicht überrascht, wenn man bedenkt,
das Schmerzen auch in einer gewöhnlichen Situation an einer Notfallabteilung
nicht ausreichend behandelt werden. Obwohl gezeigt wurde, dass Sanitäter
unter speziellen Bedingungen in der Lage sind, Schmerzmedikamente sicher in-
travenös zu applizieren (Stene et al. 1988; Bruns et al. 1992), werden dennoch
Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Atemdepression, hämo-
dynamische Komplikationen und Bewusstseinsstörungen befürchtet; daher limi-
tieren viele Notfallsysteme die pharmakologische Analgesie auch wenn es nicht
per Gesetz verboten ist.
Alles zusammen zeigt, dass es keinen Unterschied macht, welches Notfallsys-
tem etabliert ist, dass aber Patienten mit geringem Trauma schlecht behandelt
werden – eine Verbesserung würden eine völlig anderen Blickwinkel verlangen,
eine Methode die in der Medizin keine Tradition hat.

Akupunktur und Akupressur

Die Behandlung mit Akupunktur geht zurück auf die Fundamente der traditio-
nellen chinesischen Medizin im 5. Jh. v. Chr. (Hsu 1996). Die ursprüngliche Theo-
rie der Akupunktur besagt, dass die Energie fließt (genannt Qi) und durch den
Körper entlang der Linien (Meridiane genannt) rinnt. Diese Energieflüsse, so
wurde angenommen, sind sowohl essentiell für die Gesundheit als auch für die
Unterbrechung der Krankheitsursachen (NIH Consensus Conference 1998). Um
diese Unbalancen zu korrigieren, werden Akupunkturnadeln entlang der Meridi-
ane gesetzt. Moderne Autoren nehmen an, dass – egal ob eine Person an den
Energiefluss glaubt oder nicht – das Meridian-System durch das sichere Einset-
zen einer großen Anzahl von Nadeln erreicht wird (Mann et al. 1973).
Des weiteren zeigten Studien, dass die Akzeptanz der Akupunktur interes-
santerweise sehr groß ist, ein Fakt, der positiv gesehen werden sollte. Die Effekte
der Akupunktur können nicht auf den Placeboeffekt zurückgeführt werden (Le-
vine et al. 1976), weil im direkten Vergleich die Akupunktur den Placeboeffekt
übertrifft. Generell kann auch der Placebeffekt genutzt werden, um einen niedri-
geren analgetischen Level zu produzieren (Richardson und Vincent 1986). Unter-
suchungen mit funktioneller magnetischer Resonanztomographie bestätigen,
dass die Akupunktur die Aktivität des Limbischen Systems und der subkortika-
len Strukturen moduliert. Durch fühlbare Stimulation wird – wie erwartet – eine
auslösendes Signal im Somatosensorischen Kortex erhöht, aber es gibt keine
Signalmodulation in den Tiefenstrukturen (Hui et al. 2000). Andere Studien zei-
gen, dass während der Akupunktur endogene opioide Peptide freigesetzt wer-
Nichtmedikamentöse Methoden in der Notfallmedizin 477

den, ein Mechanismus, der zumindest teilweise den analgetischen Effekt der
Akupunktur erklärt. Der analgetische Effekt kann durch Opioid-Antagonisten
aufgehoben werden (NIH Consensus Conference 1998). Wie die Akupunktur im
Detail wirkt, wird sicherlich Ziel von weiteren Untersuchungen sein.
Aber immer noch sind der Gebrauch und die Effektivität der Akupunktur in
der westlichen wissenschaftlichen und medizinischen Welt nicht weitreichend
akzeptiert (Hui et al. 2000). Akupunktur spielt eine wichtige Rolle in dem heuti-
gen multimodalen Ansatz der Schmerztherapie (Hsu 1996); so hat die WHO
mehr als 40 Krankheitsbilder aufgelistet, bei denen die Akupunktur als Behand-
lung durchgeführt werden könnte (NIH Consensus Conference 1998).
So ist Akupunktur hilfreich bei Übelkeit und Erbrechen bei postoperativen,
erwachsenen Patienten, bei Chemotherapie und Schwangerschaft. Akupunktur
zeigt positive Effekte bei Abhängigkeit, Rehabilitation nach einem Schlaganfall
und Asthma-Patienten. Auch bei Dymenorrhoe, Fibromyalgie, myofaszialen
Schmerzen, Osteoarthritis, Rückenschmerzen, Karpaltunnelsyndrom (NIH Con-
sensus Conference 1998) und Kopfschmerzen (Manias et al. 2000) zeigt Aku-
punktur eine gute Wirkung. Außerdem ist Akupunktur hilfreich bei chronischen
Schmerzen (Levine et al. 1976; Lee et al. 1976) unterschiedlichster Herkunft.
Natürlich wurden auch die Vorteile der Akupunktur bei chronischen Schmer-
zen untersucht; allerdings unterscheiden sich die Bedingungen von chronischen
und akuten Schmerzen sehr, sodass eine Studie empfohlen wurde (Sung et al.
1977): Postoperative Zahnpatienten wurden in 4 Grupppen unterteilt: Gruppe 1
bekam eine Placebo (Laktose) plus Placebo-Akupunktur für die Analgesie,
Gruppe 2 bekam Kodein plus Placebo-Akupunktur, Gruppe 3 bekam eine Place-
bo-Tablette plus wirksamer, richtiger Akupunktur und Gruppe 4 bekam Kodein
plus wirksamer, richtiger Akupunktur. Die Patienten mit beiden Placebo-
Behandlungen hatten die höchsten Schmerzwerte. Aber interessanterweise zeig-
te Akupunktur allein den stärksten Reduktionseffekt für die ersten 30 Minuten;
ab 2–3 Stunden hatte die Kombination von beiden tatsächlichen Behandlungen
einen signifikant größeren Effekt als beide einzeln.
Wie bei jeder anderen Behandlung sind auch bei Akupunktur unerwünschte
Ereignisse nicht unbekannt. Kleinere unerwünschte Ereignisse wie durch die
Nadel bedingte Schmerzen, Abgeschlagenheit und Blutungen wurden berichtet
(Ernst und White 2001); schwer wiegende unerwünschte Ereignisse sind rar, aber
lebensbedrohlich (Ernst und White 1997): Unsachgemäße Handhabung der Na-
del und die Wiederbenutzung ohne adäquate Sterilisation führen zu Fällen von
Hepatitis, HIV-Infektionen und subakuter bakterieller Endokarditis. Die Metho-
de, die Nadeln für einige Tage in situ zu lassen ist auch mit Infektionen verbun-
den. Abgesehen von Infektionen wurden einige schwer wiegende unerwünschte
Ereignisse wie Pneumothorax oder sogar Herzbeuteltamponade, Dermatitis, Rü-
ckenmarksverletzung und ein Fall von elektromagnetischen Interferenzen bei
der Elektroakupunktur festgestellt, die einen Demand-Herzschrittmacher unter-
drücken.
Da diese unerwünschten Ereignisse nahezu komplett auf die invasive Proze-
dur der Akupunktur zurückzuführen sind, würde Akupressur wohl diese Risiken
478 K. Hoerauf et al.

ernorm reduzieren, da die Stimulation der Akupunkte nur mit Druck erfolgt. Es
wurde gezeigt, dass Akupressur ebenfalls bei Dysmenorrhoe (Taylor et al. 2002),
postoperativen Schmerzen (Felhendler und Lisander 1996) und Kopfschmerzen
(Kurland 1976) effektiv ist.
Weiters kann Akupressur von den Patienten leicht selbst durchgeführt wer-
den, z. B. bei der Reduktion von Dyspnea bei COPD (Maa et al. 1997) oder Kopf-
schmerzen (Kurland 1976).

Akupressur durch Sanitäter

Wenn Patienten in der Lage sind, Akupressur bei sich selbst durchzuführen, dann
sollte es sicher möglich sein, Sanitäter darauf zu trainieren und Akupressur als
Teil des Schmerzmanagements zu sehen (Kober et al. 2002). Österreichische Sa-
nitäter, denen es nicht erlaubt ist invasive Eingriffe vorzunehmen, wurden trai-
niert, Akupunkte mit den Fingern zu stimulieren, um die analgetische Effektivität
zu testen. 60 Patienten mit leichtem Trauma wurden nach dem Zufallsprinzip in
drei Gruppen eingeteilt: Bei den Teilnehmern der Gruppe 1 wurde Akupressur
durchgeführt, bei den Teilnehmern der Gruppe 2 wurde keine richtige Akupres-
sur durchgeführt und die dritte Gruppe erhielt überhaupt keine Akupressur. Kei-
ner der Sanitäter hatte Vorkenntnisse in Akupressur und der Glaube an Akupres-
sur bei den Patienten war ähnlich in allen Gruppen. Beide Seiten, sowohl die
Patienten als auch die Sanitäter, waren bezüglich der Behandlung verblindet (ei-
ner Sanitäter führte die Akupressur durch, der andere erfasste die Daten). Die
Studienergebnisse zeigen, dass die richtige Akupressur, die von einem Sanitäter
durchgeführt wurde, den Schmerz bei Patienten mit leichtem Trauma signifikant
reduzierte: Gruppe 1 startete mit Schmerzen von 61,8 ± 11,8 mm VAS (Visuelle
Analog Skala) und der Schmerz sank auf 34,0 ± 16,9 mm VAS gemessen zu dem
Zeitpunkt, als sie das Krankenhaus erreichten. Die Schmerzen dagegen der
Gruppe 2 und 3 blieben im Durchschnitt unverändert. Als logische Folge sanken
außerdem die Angstzustände in der Gruppe 1 signifikant im Vergleich zu dem
nicht signifikanten Sinken der Angstzustände in den anderen beiden Gruppen.
Mit der Betonung der Tatsache, dass kein Equipment benötigt wird, um die Aku-
pressur durchzuführen, weiters die Sanitäter nicht auf Assistenz angewiesen
sind, das Training, um die Akupunkt zu finden, sehr kurz ist und dass letztendlich
die Akupressur keine Kosten verursacht, kommt der Autor zu dem Schluss, diese
Technik im Schmerzmanagement bei Patienten mit leichtem Trauma einzusetzen.
Egal, ob ein Arzt oder nicht-akademisches Personal wie Krankenschwestern oder
EMS-Personal die Akupressur durchführt.
In einer weiteren Unterschung (Kober et al. 2003) wurde bei Patienten, die ei-
nen Krankenwagentransport benötigten nach Zufallsprinzip eingeteilt, ob sie au-
rikulare Akupressur an den Entspannungspunkten (n=17) oder an Scheinpunk-
ten (n=19) erhalten (Abb. 1). Es wurde gezeigt, dass die Patienten in der Gruppe,
deren Entspannungspunkte aktiviert wurden, beim Erreichen des Krankenhauses
über signifikant weniger Angstzustände berichteten als im Vergleich dazu die
Nichtmedikamentöse Methoden in der Notfallmedizin 479

Gruppe, bei denen die Scheinpunkte aktiviert wurden (37.6 ± 20.6 auf 12.4 ± 7.8
gegen 42.5 ± 29.9 auf 46.7 ± 25.9, mm VAS, p = 0.002). Ähnlich war die Wahr-
nehmung der Patienten bezüglich der „Schmerzen während der Behandlung“
(32.7 ± 27.7 auf 14.5 ± 8.1 gegen 17.2 ± 26.1 auf 28.8 ± 21.9, mm VAS, p = 0.006)
und „dem Erfolg der Behandlung ihrer Krankheit“ (46.7 ± 29.4 auf 19.1 ± 10.4
gegen 35.0 ± 25.7 auf 31.5 ± 20.5, mm VAS, p = 0.014); die Gruppe, deren Ent-
spannungspunkte aktiviert wurden, zeigte signifikant positive Effekte. Es konn-
ten keine Unterschiede bei den anderen erfassten Variablen gezeigt werden. Die
Autoren zogen aus den Ergebnissen den Schluss, dass die aurikulare Akupressur
eine effektive Behandlung bei Angstzuständen im prä-hospitalen Notfall-Setting
ist.

Abb. 1.

Basierend auf dieser Untersuchung war es Ziel einer weiteren randomisierten,


doppelt verblindeten, durch einen Scheinarm kontrollierten Studie (Barker et al.
2006) zu bestimmen, ob aurikulare Akupressur neben dem Minimieren von
Angstzuständen auch die Schmerzen bei einer Gruppe von älteren Patienten re-
duziert, die an einer akuten Hüftfraktur leiden; durchgeführt wurde die Studie
mit Unterstützung des Wiener Roten Kreuzes. Die Patienten wurden randomi-
siert in zwei Gruppen unterteilt: Eine Gruppe erhielt tatsächliche Behandlung
und die andere diente als Kontrollgruppe. Als Baseline wurden vor der Akupres-
sur die demographischen Daten, Angstzustand, Schmerzen, Blutdruck und Herz-
rate erfasst. Die Größe der Angst, Höhe der Schmerzen, das hämodynamische
Profil und die Zufriedenheit wurden nochmals bei den Patienten erfragt, nach-
dem das Krankenhaus erreicht wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass die Patienten
in der Behandlungsgruppe weniger Schmerzen (p=0.0001) und weniger Angst
hatten (p=0.018) als die Kontrollgruppe. Außerdem ließ sich feststellen, dass die
480 K. Hoerauf et al.

Zufriedenheit der Patienten in der Behandlungsgruppe während der Fahrt in das


Krankenhaus größer war.

Diskussion

Zweifellos ist ein leichtes Trauma mit Schmerzen und körperlichen Beschwerden
verbunden. Wenn man bedenkt, dass leichte Traumata sehr selten lebensbedroh-
lich werden (Paul et al. 1999), sollte die Kapazität der Sanitäter konsequent ge-
nutzt werden, um Schmerzen minimieren zu können.
Eine Anzahl von Gründen und Vorwänden für die fehlende effektive Analge-
sie durch EMS-Personal lässt sich wie folgt zusammenfassen (Ricard-Hibon et al.
1999): 1) ein Defizit beim EMS-Personal im Bewusstsein, wie wichtig die
Schmerztherapie ist; 2) Reserviertheit gegenüber pharmakologischer Schmerz-
therapie, wegen möglicher unerwünschter Ereignisse; 3) gesetzliche Regelungen,
welche die pharmakologischen Interventionen generell und im Speziellen nicht
erlauben und damit initiale Schmerzbehandlung bei Patienten mit leichtem
Traumaschmerzen verhindern.
Diese Gründe sind je nach EMS-System unterschiedlich („Sanitätern ist es
erlaubt, invasive Eingriffe vorzunehmen“ gegenüber „Sanitätern ohne die Er-
laubnis, aber mit der Möglichkeit einen Notarzt zum Notfall zu rufen“). Interes-
santerweise zeigen beide Systeme eine nicht adäquate Schmerztherapie auf die-
sem Gebiet.

Zusammenfassung

Die Akzeptanz für Akupunktur und Akupressur variiert in der westlichen wis-
senschaftlichen und medizinischen Welt (Hui et al. 2000); die WHO empfiehlt
die Applikation unter 40 Bedingungen (NIH Consensus Conference 1998), ver-
schiedene Studien haben einen analgetischen Effekt gezeigt (NIH Consensus
Conference 1998; Levine et al. 1976; Manias et al. 2000; Lee et al. 1976; Sung et
al. 1977). Die lebensbedrohlichen unerwünschten Ereignisse, die bei der Aku-
punktur berichtet wurden (Ernst und White 1997) beziehen sich darauf, dass die-
se Methode invasiv ist und durch das Weglassen der Nadeln nicht mehr auftreten
können.
Akupressur, eine Stimulation der Akupunkte nur durch Druck, wurde weit
weniger untersucht, hat sich aber bereits als effektiv bei Schmerzen gezeigt (Tay-
lor et al. 2002; Felhendler und Lisander 1996; Kurland 1976). Weiterhin sind Pati-
enten erfolgreich trainiert worden, Akupressur bei sich selbst durchzuführen, um
ihre Situation zu verbessern (Kurland 1976; Maa et al. 1997) – ein Fakt, der impli-
ziert, dass auch nicht-akademisches Personal in der Lage sein sollte, die Anwen-
dung zu lernen. In der Tat wurde gezeigt (Kober et al. 2002), das Sanitäter ohne
jegliche Vorkenntnis bzgl. Akupunktur oder ähnlicher Behandlungen leicht ler-
nen, mit wenigen Akupunkten und Akupressur eine effektive, nicht invasive,
Nichtmedikamentöse Methoden in der Notfallmedizin 481

nicht pharmakologische prä-hospitale Schmerzreduktion bei Patienten mit leich-


tem Trauma durchzuführen.
Wenn man die Qualität dieser Behandlung bedenkt – die leicht erlernbar,
sicher und schnell anwendbar ist, kaum Technik braucht oder Kosten verursacht –
sollte Akupressur nicht nur von Sanitätern, die in einem System arbeiten, das die
Schmerztherapie limitiert, angewendet werden, sondern könnte auch generell
das prä-hospitale Schmerzmanagement bei leichten Traumata bereichern.

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Revision

Humor – eine hilfreiche Möglichkeit in der Pflege.


Darf ich lachen, wenn du Schmerzen hast?

I. PATSCH
Humor – eine hilfreiche Möglichkeit in der Pflege
I. Patsch

Wie ist eigentlich Ihre Vorstellung von Humor? Hauptsache Spaß haben und la-
chen? Oder gehören Sie zu jenen Menschen, welche die Meinung vertreten, dass
Humor dort nichts verloren hat, wo es um eine ernste Sache geht? Oder sehnen
Sie sich nach jener heiteren Gelassenheit, die es Ihnen erleichtert den normal
verrückten Pflegealltag zu bewältigen?
Kaum etwas hilft uns schwierige Zeiten so zu überwinden wie der Humor.
Der Humor, der für Sekunden Distanz schafft, ist wie ein Rettungshubschrauber.
Wenn wir uns beim Klettern im normal verrückten Alltag verstiegen haben und
nicht mehr weiter kommen oder verletzt sind, kann uns der Humor helfen. Der
Rettungshubschrauber, der uns wieder auf den sicheren Boden stellt, ist wie der
Humor, der den Augenblick an die richtige Stelle setzt. Doch der gute Humor ist
kein Dauerbrenner, der permanent und zu jeder Zeit für gute Stimmung sorgt.
Der Humor ist viel mehr ein Ausdruck von innerem Gleichgewicht und humaner
Toleranz. Der Humor ist ein unentbehrliches Element jeder höheren menschli-
chen Ordnung (Patsch 2006).
Immer wieder werde ich gefragt: „Kann ich Humor lernen?“ Humor als Le-
benskunst zu lernen ist jedem Menschen möglich. Für diese Art von Humor gibt
es kein Rezept, aber jede Menge Zutaten. Die wesentlichen Elemente sind
Selbstvertrauen, Unabhängigkeit, Beobachtungsgabe, Offenheit, Mut und die
Fähigkeit über sich selbst lachen zu können. Dazu kommt die Bereitschaft aktiv
zu einem fröhlichen Miteinander beizutragen und nicht darauf zu warten, dass
andere für eine gute Stimmung sorgen.
„Humor ist der Ausdruck eines liebevollen Miteinanders. Er macht die Unzu-
länglichkeiten etwas zulänglicher, den Schaden etwas leichter und den Schmerz
etwas erträglicher. Nur die Überheblichkeit macht er lächerlich, die lacht er aus.“
(H. Nannen) Viktor E. Frankl, der Begründer der Logotherapie, der so genannten
dritten Wiener Richtung der Psychotherapie schrieb: „Menschen vergessen, das
484 I. Patsch

der Mensch stärker sein kann als er selbst oder zumindest neugierig genug, um
mit Nestroy zu fragen: ‚Jetzt bin i wirklich neugierig, wer stärker is, i oder i.’
Oder mit anderen Worten, mit denen ich meine Patienten manchmal zu fragen
pflege, wenn sie mir vorjammern, was sie alles nicht können oder was sie alles
müssen: ‚Jetzt sagen Sie mir mal, müssen Sie sich wirklich alles von sich gefallen
lassen? ’“ (Frankl 1982)

Wo der Spaß aufhört, beginnt der Humor

Das Reduzieren auf Nützlichkeit ist eine wesentliche Gefährdung, welcher nicht
nur der erkrankte Mensch in einer Gesellschaft ausgesetzt ist, die Perfektionis-
mus und Funktionalität als Voraussetzung für ein gelingendes Leben bestimmt.
Die Wucht dieser Reduktion trifft jene Menschen besonders hart, die dem Leben
vorschreiben wollen, wie es zu sein hat.

Jede Sorge, Freund, vermeide,


jedes Weh sollst du verachten.
Sieh die Lämmer auf der Weide:
sie sind fröhlich vor dem Schlachten.
Ahnst du nicht, wie dumm es wär,
wären sie’s erst hinterher!
Heinz Erhardt

Humor für den Mut zur Unvollkommenheit

Für „drei P’s“ könnten wir alle Humor dringend brauchen:


– Planung geht schief
– Positiv denken um jeden Preis
– Perfektionismus ist Pflicht
Dies heißt jedoch auf keinen Fall, dass Planung sinnlos ist, eine positive Le-
benseinstellung nicht weiterhilft oder Verlässlichkeit und Genauigkeit nicht
wichtig sind. Schwierig bis unmöglich wird das Leben dort, wo die „drei P’s“
Macht über uns gewinnen und sich zum Tyrannen aufspielen. Das schaffen diese
„P’s“ nur, wenn wir darauf vergessen, dass sehr vieles unvollendet bleibt, was
menschliches Planen und vor allem das Handeln einschließt.
Das einseitig „Positive Denken“ bringt viele Menschen in eine schwierige
Lage. Besonders dann, wenn trotz allem Positivismus etwas Unvorhergesehens
passiert. Eine positive Lebenseinstellung schließt, im Unterschied zum positiven
Denken, weder Fehler noch Missgeschicke aus.
Der Perfektionismus liebt das Schienendasein und akzeptiert keine Ausrut-
scher. Anstatt uns für ein Missgeschick zu rechtfertigen, könnten wir humorvoll
sagen: „Ich könnte noch viel schlechter sein!“ Oder leihen Sie sich bei Ödon von
Humor – eine hilfreiche Möglichkeit in der Pflege 485

Horvath den Gedanken aus: „Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so
selten dazu!“
„Wenn ich lachen soll, muss mir schon jemand einen Witz erzählen“, hat Vik-
tor Frankl einmal gemeint. Ich brauche einen Grund. Gründe zum Lachen gibt es
im Alltag genug. Doch man hört am Lachen, wenn der Spaß aufhört. Die Gren-
zen dessen, was als Spaß gemeint ist und wo der Spaß aufhört, sind fließend.
Schließlich will niemand als humorlos gelten, und so finden Opfer übler Streiche
selten den Mut, sich zu beschweren. Besonders für den Humor in der Pflege gilt:
Das Zulässige vom Unzumutbaren und die Menschenwürde von der Menschen-
verachtung sind zu trennen. Ein Spaß ergibt sich nur dann, wenn das Lachen
von Herzen kommt und nicht auf Kosten anderer geht.

Menschenkenntnis für Anwender

Damit Sie Ihre Patientinnen und Patienten und vielleicht sich selbst besser ver-
stehen, ist im Umgang mit Humor ein wenig Menschenkenntnis ein großer Vor-
teil. Wir alle haben verschiedene Charaktereigenschaften und wir können vier
„Typen“ unterscheiden.

Die Denker
Es gibt Menschen, die könnten wir als Denker bezeichnen. Denker wollen lange
und gründlich über Dinge nachdenken. Ihr große Kompetenz liegt im Weitblick
und in der Fähigkeit ruhig zu bleiben, auch wenn es heiß hergeht. Allerdings ist
der Denker ein Kontrollfanatiker und glaubt, dass das Leben und die Arbeit wie
im Drehbuch verläuft. Ist so ein „Denker“ ans Bett gefesselt und auf ihre Hilfe
angewiesen, dann wird er wenig Verständnis für Missgeschicke haben.
Sehr treffend beschreibt Erich Kästner diese Menschen
In ihren Händen wird aus allem Ware,
in ihrer Seele brennt elektrisch Licht.
Sie messen auch das Unberechenbare
was sich nicht zählen lässt, das gibt es nicht.

Die Macher
Einen so genannten Macher, einen Menschen, der Tatkraft und Leistungsfähig-
keit auf seine Fahne geschrieben hat, trifft ein Krankenhausaufenthalt besonders
hart. Hätte er die Termine für Untersuchungen selbst vereinbart, dann stünde die
Diagnose fest und er könnte „schnell repariert“ werden. Doch dieses unnütze
Warten ist aus seiner Sicht verlorene Zeit, denn auf ihn wartet Arbeit und über
Telefon oder Laptop dirigiert er vom Krankenbett die Geschehnisse.
486 I. Patsch

Die Sozialen
Dann gibt es noch den Sozialen. Er will vor allem ein guter Mensch sein und ist
äußerst belastungsfähig und ausdauernd. Bevor er einmal Nein sagt, sagt er
hundertmal Ja. Der Soziale als Patientin oder Patient will Ihnen vor allem keine
Umstände machen. Er gehört zu jener Sorte Menschen, die still und geduldig
Schmerzen auf sich nehmen und nicht daran denken, dass die Pharmazie Hilf-
reiches bereit hält.
Erich Kästner hat diesen Charakter so beschrieben:
Die Kümmerer sind sehr begehrt,
weil sie bescheiden sind und nichts begehren.
Sie wollen keinen Gegenwert
sie wollen nichts, als da sein und verehren.

Die Darsteller
Die vierte, derzeit sehr verbreitete Charaktereigenschaft ist jene des Darstellers.
Dieser Mensch hat einen großartigen Ideenreichtum und kennt keine Scheu im
Mittelpunkt zu stehen. Er sorgt dafür, dass dem Pflegepersonal die Arbeit nicht
ausgeht, läutet oft und hat einige Sonderwünsche. Allein sein ist seine Sache
nicht, er will am Geschehen auf der Station nicht nur teilhaben, sondern er will
im Mittelpunkt sein. Diese Patientinnen und Patienten mögen es gerne, wenn die
Türe des Krankenzimmers offen steht, damit sie alles mitbekommen.

Praktische Anregungen zum Lernen und Anwenden des


Humors im Pflegealltag

– Warten Sie nicht, bis die anderen lachen, fangen Sie damit an!
– Schreiben Sie sich Sprüche auf, die Ihnen gefallen!
„Lieber eine gesunde Verdorbenheit als eine verdorbene Gesundheit.“
„Besser eine ordentliche Ruhepause, als eine pausenlose Unruhe.“
(Titze 2004)
– Lernen Sie lustige Gedichte auswendig:
„Ein Mensch ist plötzlich wie verwandelt, sobald man menschlich ihn
behandelt!“ (Eugen Roth)
„Seit früh’ster Kindheit, wo man froh lacht,
verfolgt mich dieser Ausspruch magisch:
Man nehme ernst nur das, was froh macht
und das Ernste niemals tragisch.“
(Heinz Erhardt)
– Schenken Sie sich spontan eine Kleinigkeit: Schauen Sie in den Spiegel und
lächeln Sie!
Humor – eine hilfreiche Möglichkeit in der Pflege 487

– Hängen Sie lustige Karten, Witze, Sprüche, Bilder, Cartoons an Ihrem Ar-
beitsplatz auf.
– Singen Sie im Auto so laut und so falsch wie möglich oder reden Sie „liebe-
voll“ mit sich unter dem Frankl-Motto: „Ich muss mir von mir nicht alles ge-
fallen lassen!“
– Schauen Sie sich lustige Filme, Theaterstücke, Kabarett an.
– Notieren Sie sich Pointen, die Ihnen gefallen und wenden Sie diese im Alltag
an: „So sehr wir auch kämpfen, lebend kommen wir aus der Welt nicht raus!“
– Wenn Sie jemand verbal angreift und Sie wissen nicht, was Sie sagen sollen,
stellen Sie die einfachste Frage der Welt: „Warum?“
– Überraschen Sie nach dem Nachtdienst Ihre Kolleginnen und Kollegen mit
einer Blume oder einer Karte und wünschen Sie ihnen einen schönen Tag.
– Flirten Sie! – Wissen Sie nicht mehr wie’s geht? Dann gehen Sie auf die
Suche nach Ihrem Herz … und vergessen mal das Hirn: Sein Herz zu verlie-
ren ist die beste Möglichkeit zu entdecken, dass man eines hat!“
– Lesen Sie Humorvolles: Karl Valentin, Christine Nöstlinger, Ephraim Kishon,
Erich Kästner, Eugen Roth, Heinz Erhardt … und Stilblüten und Kinderauf-
sätze!
– Sammeln Sie Cartoons – und kreieren Sie Ihre eigenen Texte dazu!

Warnung!!!

Humor und Kreativität sind nicht konservierbar – trauen Sie Ihrer Spontaneität!
Nicht alle Menschen verstehen Humor in der Pflege, weil sie meinen, Krank-
sein ist eine ernste Sache und da gibt es wenig oder nichts zu lachen. Wenn Ihre
ersten Versuche nicht „ankommen“ probieren Sie andere Anregungen aus und
entdecken Sie Ihren persönlichen Humor für ein fröhliches und gelingendes Le-
ben.

Literatur
Erhardt H (1997) Besinnliches mit Sinn und Unsinn
Frankl V E (1982) Im Anfang war der Sinn
Kästner E (1986) Lyrische Hausapotheke
Patsch I (2006) Vertrau auf dein Gefühl
Roth E (1984) Ein Mensch
Titze M Patsch Inge (2004) Die Humorstrategie
Revision

Stärkung der inneren Achtsamkeit

M. HARRER
M. Harrer

Was ist Achtsamkeit?

Wenn Sie wissen wollen was Achtsamkeit ist, können Sie sich auf ein kleines Ex-
periment einlassen: Sie können, während Sie Ihre Augen auf diese Zeilen gerich-
tet haben, ein paar Augenblicke innehalten und ganz bewusst Ihren Körper
wahrnehmen. Sie können nachspüren, wo Ihr Körper den Boden oder die Unter-
lage berührt, vielleicht den rechten oder den linken Fuß, Ihr Gesäß oder Ihren
Rücken spüren. Sie können auch bewusst wahrnehmen, dass Sie atmen, und be-
obachten, wo und wie Sie genau spüren, dass Sie einatmen: an der Nasenspitze,
dem Weiterwerden des Brustkorbes oder dem Heben der Bauchdecke. Sie kön-
nen wahrnehmen, wie Sie ausatmen, wie sich Brustkorb oder Bauchdecke sen-
ken. Sie können Ihre Aufmerksamkeit auch speziell der kleinen Pause am Ende
des Ausatmens schenken, bevor Sie wieder einatmen. Vielleicht bemerken Sie,
dass Gedanken auftauchen, Sie können diese dann zum Gegenstand Ihrer Be-
obachtung machen und feststellen, ob diese Gedanken die Vergangenheit, die
Gegenwart oder die Zukunft betreffen. Es können Bilder auftauchen – z. B. ein
Zen-Mönch. Oder Sätze gehen Ihnen durch den Kopf wie „ich habe keine Lust“
oder „was soll das?“. Vielleicht werden Sie sich eines Gefühls bewusst, bemerken
Freude oder Ärger.
Achtsamkeit bedeutet also, ganz bewusst von Moment zu Moment das wahr-
zunehmen, was ist. In innerer Achtsamkeit werden Körperempfindungen, Ge-
fühle, Stimmungen, Gedanken, innere Bilder und Impulse beobachtet wie sie
entstehen und wieder vergehen. Achtsamkeit bedeutet aber genauer noch Be-
obachtung aus einer ganz bestimmten Haltung heraus: wohlwollend zu akzep-
tieren, nicht zu bewerten, es nicht anders haben zu wollen und verändern zu
müssen, also nirgendwohin zu müssen.
490 M. Harrer

Wozu Achtsamkeit?

Wozu soll ein Mensch des 21. Jahrhunderts etwas üben und praktizieren, was
Buddha vor über 2500 Jahren als direkten Weg zur Läuterung der Wesen, zur
Überwindung der Besorgnis und zur Linderung von Leid (Nyanaponika 2000)
beschrieben hat? Warum soll die Übung von Achtsamkeit gerade in einer Welt,
die von Geschwindigkeit, Aktivität, Leistung und Zielen beherrscht wird und wa-
rum gerade in belastenden Situationen und warum in helfenden Berufen sinnvoll
und hilfreich sein? Welche Räume erschließt der Schlüssel der Achtsamkeit?
Worin besteht „Das Wunder der Achtsamkeit“ (Thich Nhat Hanh 1997)?

Achtsamkeit als bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit


und Weg in die Gegenwart

Achtsamkeit kann in ihrer ersten Bedeutung als bewusste Lenkung der Auf-
merksamkeit begriffen werden. Achtsamkeitspraxis dient dazu, in Kontakt mit
der Gegenwart zu kommen und gegenwärtig zu bleiben. Sie ermöglicht ein wa-
ches Anwesendsein im Hier und Jetzt. Durch Gegenwärtigkeit öffnet sich das
Bewusstsein für den Reichtum und die Fülle der konkret-sinnlich wahrge-
nommenen äußeren Landschaften, der visuell wahrgenommenen Landschaften,
von „Geräuschlandschaften“, „Berührungslandschaften“, „Geruchs- und Ge-
schmackslandschaften“ (Kabat-Zinn 2006), aber auch für die Innenwelt mit all
ihren Facetten. Aufmerksamkeit ist also durch einen bestimmten Fokus charak-
terisiert, wobei sie nach außen und/oder nach innen gerichtet sein kann.
Auf der Zeitachse wendet sie sich ausschließlich dem gegenwärtigen Mo-
ment zu. Dies verhilft auch dazu, weniger Zeit und Energie mit einem großteils
wenig produktivem Nachsinnen über Vergangenes oder mit Phantasien über Zu-
künftiges oder Erwünschtes, das (noch) nicht da ist, zu verbringen. Von einem
emotionalen Gefangensein in ungelösten Szenen eines „Dort und Damals“ führt
Achtsamkeit in das lebendige „Hier und Jetzt“.

Innere Achtsamkeit als Instrument der Selbsterforschung


und Weg zur Einsicht

Innere Achtsamkeit ermöglicht zu erkennen, wie Wahrnehmungen der Außen-


und Innenwelt, Bewertungen, Gefühle und Reaktionen auf äußere und innere
Reize entstehen. In Achtsamkeit wird zwischen einen Reiz und der automatisier-
ten Reaktion ein Moment des Innehaltens geschoben, ein Moment des bewuss-
ten Beobachtens des Erlebens und eines aktiven Nicht-Tuns. Diese Vergegen-
wärtigung, Beobachtung und Einsicht können helfen, aus Automatismen, aus
„alltäglichen Trancen“ (Wolinsky 1993), aus einengenden und unter Umständen
destruktiven Mustern auszusteigen. Achtsamkeit hilft zu erkennen, wie wir unse-
Stärkung der inneren Achtsamkeit 491

re Wahrnehmung organisieren, welchen Ausschnitten der Welt wir uns zuwen-


den und wie wir unsere Wirklichkeit mittels Fokussierung, Interpretation und
Bewertungen konstruieren. Ein Bewusstsein darüber eröffnet Wahlmöglichkeiten.
Wenn man sich auch Konflikten, Problemen und Schwierigem in Achtsamkeit
offen, freundlich und akzeptierend zuwendet, verliert bisher Ungeliebtes und
Ausgestoßenes oft an Bedrohlichkeit und Macht, kann enttabuisiert, eingebun-
den und integriert werden. In den 70er Jahren hat Ron Kurtz mit der Hakomi-
Methode einen Weg beschrieben, wie innere Achtsamkeit eine „assistierte
Selbsterforschung“ ermöglicht und in den psychotherapeutischen Prozess inte-
griert werden kann (Kurtz 1994, 2006).

Achtsamkeit als innere Haltung und Weg zur


Selbstakzeptanz

Aufmerksamkeit ist durch ihren Fokus und durch eine bestimmte Qualität cha-
rakterisiert. Und das ist die zweite Bedeutung von Achtsamkeit: die einer inne-
ren Haltung, die unvoreingenommen, offen, liebevoll zugewandt, achtungsvoll,
interessiert und erkundend bemerkt ohne zu bewerten, studiert ohne einzugrei-
fen. Sie ist eine Bereitschaft zum aktiven Nicht-Tun und steuert den sonst übli-
chen Automatismen entgegen. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass alles
was existiert, eine Daseinsberechtigung hat, die es zu achten gilt. Diese Achtung
ist der Beziehungsaspekt von Achtsamkeit. Das Wahrgenommene wird in die-
ser achtungsvollen Haltung weniger in Kategorien von „gut“ und „schlecht“,
von „brauchbar“ oder „unbrauchbar“ eingeteilt. Es wird vielmehr in seinem So-
Sein wahr-genommen, achtungsvoll akzeptiert und primär sein gelassen. Dieses
unvoreingenommene Betrachten im „Anfängergeist“ mit dieser Beziehungsqua-
lität kann sich in einer Wiederbelebung des Wunderns und Staunens als Berührt-
sein oder auch als Ergriffenheit und Liebe äußern. Diese lebensbejahenden Fä-
higkeiten, die positive Gestimmtheit und die Akzeptanz haben nicht nur Einfluss
auf das intrapersonelle Erleben, sondern wirken sich auch in den Beziehungen
zu Mitmenschen positiv aus (Altner 2007, S. 154).
Akzeptanz kann allerdings nicht bedeuten, destruktive Vorgänge gutzuheißen
oder zu billigen, oder ebensowenig, dass eine engagierte, wie auch kämpferische
Auseinandersetzung unterbleibt, wo sie nötig ist. Die Akzeptanz gilt zu allererst
dem Wahrgenommenen. Wie damit verfahren wird, ist der nächste Schritt (An-
derssen-Reuster 2007, S. 1).

Achtsamkeit als Bewusstseinszustand und zur Stärkung


des „inneren Beobachters“

Achtsam sein führt zu einem Bewusstseinszustand, der sich vom Alltagsbe-


wusstsein deutlich unterscheidet. Dies ist die dritte Bedeutung von Achtsam-
keit. Achtsamkeit kann also auch als Zustand verstanden werden, in dem ein
492 M. Harrer

„innerer Beobachter“ aktiv ist und gestärkt wird. Die Tätigkeit des Beobachtens
selbst rückt in den Vordergrund, während das Beobachtete selbst in den Hinter-
grund tritt bzw. in seinem Kommen und Gehen als vorübergehend, vergänglich
und weniger wesentlich erkannt wird.
Im Alltagsbewusstsein funktionieren wir gewöhnlich in einem „Handlungs-
Modus“: Die Gegenwart steht im Dienst eines finalen Ergebnisses. Achtsamkeit
hingegen führt in einen „Seins-Modus“, einen Zustand, den Menschen mit
langjähriger Meditationserfahrung mit Begriffen beschreiben wie (heitere) Gelas-
senheit, innere Stille oder einem inneren Frieden, der das ganze Wesen durch-
dringt. Ein Kursteilnehmer hat es einmal als „zu sich nach Hause kommen“ be-
zeichnet (Lehrhaupt 2007, S. 143).

Welche Auswirkungen kann nun das Üben von Achtsamkeit


haben? Wozu üben?

Achtsamkeit zur Stressreduktion: Mindfulness-Based Stress


Reduction (MBSR)
Die Methode „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ wurde 1979 von Jon
Kabat-Zinn am Klinikum der University of Massachusetts als „Mindfulness-
Based Stress Reduction“ (MBSR) entwickelt. Das Herzstück dieses Programms
ist ein intensives Training von Achtsamkeit. In acht wöchentlichen Sitzungen von
je 3 Stunden und einem ganzen „Tag der Achtsamkeit“ werden „formelle“ Acht-
samkeitsübungen unterrichtet (Body-Scan, achtsames Yoga und Sitzmeditation)
und unter CD-Anleitung täglich praktiziert. Als Schwerpunktthemen werden mit
Hilfe von Tagebuchaufzeichnungen u. a. angenehme oder unangenehme Erfah-
rungen und Stress behandelt. Die TeilnehmerInnen entscheiden sich jede Woche
für eine spezielle Routineaktivität wie Spülen, Duschen oder Essen, die sie zwi-
schen den Gruppensitzungen so achtsam wie möglich ausführen. Diese „infor-
mellen“ Übungen dienen der Integration von Achtsamkeit in das Alltagsleben
(Lehrhaupt 2007, S. 142–147).
Das Programm wird inzwischen in vielen Kliniken in Amerika und seit 1993
in Deutschland bei Schmerzpatienten, chronisch körperlich Kranken, bei beruf-
lich belasteten Menschen u. a. eingesetzt. Eine Metaanalyse von 64 empirischen
Studien kommt zur Aussage, dass der Nutzen des MBSR-Programms als Inter-
vention für ein breites Spektrum chronischer Störungen und Probleme gesichert
erscheint (Grossmann et al. 2006, S. 714).

Achtsamkeit zur Bewältigung von chronischem Schmerz


Als Jon Kabat-Zinn begann, MBSR einzusetzen und zu evaluieren, waren
Schmerzpatienten seine erste Zielgruppe. Nachhaltige Reduktion der Beschwer-
den auch bei Patienten mit langer Schmerzgeschichte konnte bei verschiedenen
Schmerzarten wie z. B. Wirbelsäulenbeschwerden, Migräne und Fibromyalgie er-
reicht werden (Altner 2007, S. 148 –158).
Stärkung der inneren Achtsamkeit 493

Schmerzen lenken den Fokus der Aufmerksamkeit unwillkürlich zum


schmerzenden Körperbereich, wo er in der Regel fixiert bleibt, solange der
Schmerz anhält. Akute Schmerzen können Handlungsbedarf signalisieren und
verschwinden zumeist, wenn der Grund beseitigt ist. Chronische Schmerzen
entziehen sich häufig direkter Einflussnahme, binden aber die Aufmerksamkeit.
Die Fähigkeit, den Fokus der Aufmerksamkeit wählen zu können, ihn zu en-
gen oder zu weiten, kann die Bedeutung eines chronischen Schmerzgeschehens
relativieren. Wenn ein Mensch mit chronischen Schmerzen z. B. im Rückenbe-
reich lernt, die Aufmerksamkeit auf eine angenehme Empfindung irgendwo an-
ders im Körper zu lenken oder sie im ganzen Körper oder im Raum, der ihn um-
gibt, zu halten, oder mit aller Aufmerksamkeit einem Musikstück zu lauschen,
kann der Schmerz die normalerweise das gesamte Bewusstsein dominierende
Qualität verlieren.
Andererseits können auch die bewusste Fokussierung auf den Schmerz und
seine Exploration unter ganz bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen
sinnvoll und heilsam sein und Veränderungsmöglichkeiten eröffnen.

Achtsamkeit zur Gesundheitsförderung und als Weg zu einem


stimmigeren Lebensstil
Die Kultivierung einer Beziehung zu sich selbst, die gekennzeichnet ist durch
eine akzeptierende leib-seelische Selbstwahrnehmung, ein regelmäßiges „Selbst-
Erinnern“ statt „Selbst-Vergessen“ führt dazu, dem eigenen Körper und der In-
nenwelt mehr Aufmerksamkeit und Raum zu schenken, „Freundschaft mit dem
eigenen Körper (zu) schließen“ (Seemann 1998). Dieses achtsame Nach-Innen-
Hören bei großen aber insbesondere auch den vielen kleinen Entscheidungen
des Alltags kann zu einem individuell stimmigeren Lebensstil führen, der von
Selbstfürsorge und Fürsorge für größere Zusammenhänge bestimmt ist. Acht-
samkeit kann als Lebensform gesehen werden mit Übergängen zum traditions-
reichen Konzept der Lebenskunst, das die bewusste Gestaltung des Da-Seins
als eine Kunstform begreift (Altner 2007, S. 155 f).
Der gesundheitsfördernde, salutogenetisch wirksame „Sense of Coherence“
besteht aus drei Überzeugungen: der Verstehbarkeit, der Handhabbarkeit und
der Bedeutsamkeit bzw. Sinnhaftigkeit einer Herausforderung. Achtsamkeit kann
alle drei Faktoren fördern. Einsicht in eigene Mechanismen, aber auch die unvor-
eingenommene Beobachtung anderer Beteiligter führt zu Verstehbarkeit. Inne-
halten und ruhiges Erwägen der Wahlmöglichkeiten aus einem Abstand und das
Aufsuchen von Ressourcenzuständen fördern die Handhabbarkeit. Sinnhaftig-
keit und Bedeutsamkeit, welche die Anstrengung und das Engagement lohnen,
zeigen sich oft erst im achtsamen Kontakt und im Verbundensein mit sich und
anderen (Antonovsy 1997, S. 36).
494 M. Harrer

Achtsamkeit zur Veränderung der Beziehung zu sich selbst


und zu anderen Menschen
Das Einüben einer wohlwollend akzeptierenden, nicht bewertenden Haltung
verändert die Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Umwelt.
Barrieren gegenüber einer Selbstakzeptanz können in Achtsamkeit selbständig
oder assistiert mittels der Hakomi-Methode erforscht werden. Man kann sich
zunächst jener inneren Bilder bewusst werden, wie man glaubt, sein zu müssen
oder sich gewahr werden, welche einengenden (negativen) Glaubenssätze man
über sich hat. In einem nächsten Schritt geht es darum, sie mittels Achtsamkeit
zu beobachten, um sich gegebenenfalls langfristig von ihnen zu distanzieren
bzw. sich nicht mehr mit Teilen zu identifizieren („Ich bin so … „), d. h. sich von
ihnen zu disidentifizieren. So wird dem „inneren Kritiker“ gelassener oder we-
niger Gehör geschenkt. Der Fokus verschiebt sich von dem, was sein sollte zu
dem, was ist.
Die „Paradoxe Theorie der Veränderung“ besagt, dass „Veränderung ge-
schieht, wenn jemand wird, was er ist. Nicht wenn er versucht, etwas zu werden,
das er nicht ist.“ Es geht also um eine kreativ-dialektische Verbindung der beiden
Pole Annehmen und Verändern. Es geht um ein Öffnen für den Augenblick und
darum, einen Sinn zu finden in den Tatsachen meines Lebens, um ein Entspan-
nen in das Leben hinein. Genau mit dieser Entspannung öffnet sich ein Raum, in
dem Wachstum geschehen kann. Wachstum und Entwicklung können nicht
„gemacht“ werden, sie geschehen – möglicherweise – gerade auf dem Boden ei-
nes akzeptierenden Gewahrseins dessen, was gerade ist (Collande 2007, S. 51).
Über konkrete Auswirkungen von Achtsamkeitspraxis berichteten Teilnehme-
rInnen eines Achtsamkeitskurses, der im Rahmen eines Programms zur Reduzie-
rung von Tabakkonsum bei Krankenhauspersonal durchgeführt wurde. Sie gaben
nach Abschluss des Kurses an, weniger gereizt, aufbrausend und aggressiv zu
sein. Stattdessen wurde von größerer Offenheit und Mitteilungsfreude, von
gewachsenem Durchsetzungsvermögen sowie von inniger gewordenen Be-
ziehungen zu ihren Kindern berichtet (Altner et al. 2004, S. 585 f).

Achtsamkeit zur Burn-out-Prophylaxe, zum Erkennen eigener


Grenzen und als Hilfe bei der notwenigen Abgrenzung
Wenn Burn-out verstanden wird als Ergebnis eines Ungleichgewichts zwischen
Anforderungen und den zu deren Bewältigung notwendigen Ressourcen, dann
wird Achtsamkeit auf beiden Seiten wirksam: Auf der Seite der Anforderungen
hilft Achtsamkeit, (äußeren) Stress zu bewältigen, z. B. mittels des MBSR. Sie
verhilft aber auch zu Einsichten darüber, wo und wie Anforderungen wirksam
werden, die von innen kommen, die wir selbst an uns stellen. Sie verhilft dazu,
freundlicher und gütiger mit uns selbst, vor allem auch mit unserer Begrenztheit
umzugehen und Grenzen zu akzeptieren. Zuallererst ermöglicht sie uns aber,
unsere Grenzen überhaupt erst wahrzunehmen, bevor sie schon längst über-
Stärkung der inneren Achtsamkeit 495

schritten sind und wir körperlich oder seelisch Schaden genommen haben, der
nicht mehr zu übergehen ist.
Auf der Seite der Ressourcen fördert Achtsamkeit die Gesundheit, einen po-
sitiven Selbst- und Körperbezug und unterstützende und stärkende Beziehungen
zu Mitmenschen, z. B. im Arbeitsteam oder der Familie. Destruktive Automa-
tismen von aggressiven Ausbrüchen bis zu selbstschädigendem süchtigen Ver-
halten können durch Innehalten, Einsicht und die Eröffnung von Wahlmöglich-
keiten unterbrochen werden.
Abgrenzung z. B. im Sinne von Abschalten nach der Arbeit funktioniert
durch Achtsamkeit nicht, indem der andere ausgeblendet wird, sondern indem
ich gelernt habe, mich an mich selbst zu erinnern. Ich wende die Aufmerksam-
keit mir selbst zu, nehme auch meine eigenen Bedürfnisse wahr und sorge so-
weit als möglich für deren Erfüllung durch mich selbst oder andere. Es geht um
eine gute Balance zwischen Mitgefühl mit anderen und mir selbst, also darum,
sich selbst ebenso wichtig zu nehmen, ebenso zu lieben, wie die anderen auch.

Achtsamkeit und Disidentifikation als Weg in transpersonale


Räume: Vom „Inneren Beobachter“ zum „Zeugenbewusstsein“
Wer die Aufmerksamkeit in Richtung Wahrnehmung des eigenen Körpers oder
psychischer Prozesse lenkt, stößt auf die Frage: Wer beobachtet? Die Antwort
darauf erscheint zunächst fast banal: „Ich“ eben oder das selbstreflexive Ich, viel-
leicht auch das Bewusstsein selbst oder Teile davon. Hinter dieser Frage scheint
Wesentliches zu liegen (Weiss 2006, S. 410–413), nämlich die zentrale Frage des
Mensch-Seins: Wer ist dieses Ich? Wer bin ich? Psychotherapeuten benennen
diese Instanz u. a. auch als „Selbst“ oder den „inneren Beobachter“, in spirituel-
len Traditionen spricht man von einem zeitlosen oder ewigen „Zeugen“ oder
vom „Zeugenbewusstsein“.
Vipassana oder „Einsichtsmeditation“ ist eine wesentliche buddhistische
Meditationstechnik, bei der das achtsame Beobachten der Daseinsphänomene
geübt wird. Sie stärkt das Zeugenbewusstsein und kann in transpersonale Räu-
me führen.

Achtsamkeit zur Veränderung der Gehirnfunktion und Stärkung


der Immunabwehr
Jedem Menschen stehen eine Reihe unterschiedlicher und reproduzierbarer psy-
chophysischer Zustände zur Verfügung. Sie sind gekennzeichnet durch ein cha-
rakteristisches Muster von Gefühlen, Gedanken, Erinnerungen und sind verbun-
den mit einer bestimmten Körperhaltung, einem speziellen Spannungsmuster im
Körper, einer bestimmten Physiologie und bestimmten Verhaltensbereitschaften.
Das wiederholte unbewusst getriggerte oder das bewusste Aufsuchen dieser Zu-
stände führt nicht nur zu vorübergehenden Funktionsveränderungen in Gehirn
und Körper, sondern verändert die Gehirnstruktur. Neue Nervenverbindungen
werden geknüpft.
496 M. Harrer

Eine achtwöchige Achtsamkeitsschulung (MBSR) führte in einem Kontroll-


gruppendesign zu einer Zunahme der Aktivität im linksseitigen Frontal-
lappen, wobei Aktivitäten dieser Hirnregion mit Angstfreiheit und positiven
Affekten in Verbindung gebracht werden. Nach Trainingsende erhielten die Pro-
bandInnen eine Grippeschutzimpfung, wobei die Achtsamkeitsgruppe eine sig-
nifikant stärkere Immunantwort zeigte. Jene TeilnehmerInnen, welche die
größte Veränderung ihrer Gehirnaktivität aufwiesen, hatten auch die intensivste
Reaktion ihres Immunsystems. Die Versuchspersonen erlebten sich als positiver
gestimmt und gesundheitlich robuster (Davidson et al. 2003).
Eine andere Untersuchung zeigt, dass die im Kernspinbild durch Abnahme
der Schichtdicke nachweisbare altersbedingte Atrophie des Gehirns in ver-
schiedenen Hirnregionen in einer Gruppe von Meditierenden im Vergleich zu
gleichaltrigen „Nicht-Meditierenden“ ausbleibt. Dabei korreliert die Verringe-
rung der Atrophie mit dem bei Meditierenden gefundenen individuellen Absin-
ken der Atemfrequenz (Lazar et al. 2005).

Übungen zur Achtsamkeit

Achtsamkeit bedarf der Anleitung und Übung. Die folgenden Übungen sind Bei-
spiele der Achtsamkeitspraxis, wie sie in Seminaren und Retreats vermittelt und
geübt werden. In der Regel ist es einfacher, sich dem Thema unter fachkundiger
Anleitung und in einer Gruppe anzunähern. Die Umsetzung in den Alltag und
regelmäßiges Üben kann durch „Auffrischung“ in der Gruppe, in Seminaren
oder Retreats unterstützt werden.
Die erste Übung zählt zu den „Klassikern“. Bei der Atemachtsamkeit wird
der Atem als jederzeit verfügbares Objekt zum Gegenstand der Beobachtung.
Das Zählen hilft, die Aufmerksamkeit beim Atem zu halten bzw. nach dem Ab-
schweifen der Aufmerksamkeit darauf zurückzukommen (Thich Nhat Hanh
1988, S. 109).
Den Atem zählen
Im Sitzen oder beim Gehen, wenn Sie einatmen, dann seien Sie sich be-
wusst: „Ich atme ein – eins.“ Wenn Sie ausatmen, dann seien Sie sich be-
wusst: „Ich atme aus – eins.“ Denken Sie daran, vom Bauch her zu atmen.
Wenn Sie mit dem zweiten Einatmen beginnen, seien Sie sich bewusst:
„Ich atme ein – zwei.“ Wenn Sie langsam ausatmen, seien Sie sich be-
wusst: „Ich atme aus – zwei.“ Machen Sie so weiter bis zehn. Wenn Sie
bei zehn angekommen sind, beginnen Sie wieder mit eins. Immer wenn
Sie das Zählen vergessen haben, kehren Sie zu eins zurück.
Die zweite Übung stammt aus der Tradition von Gurdjieff (Tart 1996, S. 80–
87). Es empfiehlt sich, den Tag damit zu beginnen, darum die Bezeichnung
„Morgenübung“. Sie lässt sich jedoch auch während des ganzen Tages immer
wieder in die alltäglichen, auch beruflichen Tätigkeiten integrieren, kostet also
keine zusätzliche Zeit. Man kann beispielsweise (mit einiger Übung) den eige-
Stärkung der inneren Achtsamkeit 497

nen Körper wahrnehmen oder zumindest Teile davon, während man mit jeman-
dem anderen spricht, telefoniert oder als Krankenschwester einen Patienten
wäscht.
„Morgenübung“
Zunächst spüren: nacheinander rechten Fuß, rechten Unterschenkel,
rechten Oberschenkel, rechte Hand, Unterarm, Ellbogen, rechten Ober-
arm, durch den Oberkörper zur linken Seite, Schulter, Oberarm, Ellbogen,
Unterarm, Hand, linken Oberschenkel, Unterschenkel, Fuß. Dann beide
Beine und beide Arme gleichzeitig spüren, dazu dann
Hören: Geräusche, Töne. Dann gleichzeitig spüren und hören und
Schauen: mit dem Blick eines neugierigen Kindes (nicht fixieren, d. h.
nicht nur auf einen Punkt schauen).
Schluß: ... im Körper sein, die Empfindungen in Armen und Beinen spü-
ren. Außerdem hören, aktiv hören auf die von Moment zu Moment vor-
handenen Klänge, Geräusche und aktiv auf die Gegenstände schauen,
wahrnehmen wie ein wissbegieriges Kind, so als ob Du die Dinge zum
ersten Mal siehst.
... Es geht darum, bewusst achtsam für den Moment zu sein, indem Du
fühlst und spürst und tatsächlich hinhörst und Dich umschaust und
gleichzeitig die kleine Willensanstrengung auf Dich nimmst, die es braucht,
um die Aufmerksamkeit absichtlich geteilt zu halten. Dies ist ganz wichtig. Nie
soll die gesamte Aufmerksamkeit nur ins Hören oder nur ins Sehen ge-
hen, sie soll geteilt bleiben. Bleibe in Verbindung mit den Empfindungen
im Körper, in Armen und Beinen und schau und höre aktiv.
... Dieses Spüren, Schauen und Hören ist der Weg in die Gegenwart, ins
Gegenwärtig-Sein.

Drittens: Übungen zur Integration in den Alltag


Nehmen Sie sich vor, eine der folgenden Tätigkeiten als Erinnerung dafür
zu nehmen, einen Augenblick innezuhalten und sich an sich selbst zu er-
innern, d. h. z. B. einen Atemzug lang bewusst das Einatmen, das Aus-
atmen und die Pause dazwischen zu beobachten oder Teile des Körpers
oder die Umwelt sinnlich wahrzunehmen:
– Kaffeetrinken (bewusst schmecken oder die Wärme spüren),
– Händewaschen (die Temperatur des Wassers bewusst spüren),
– den Computer hochstarten oder auf eine Information warten (den
Kontakt mit dem Stuhl spüren oder bewusst atmen),
– auf dem Weg zu einem Patienten (das Gehen, den Kontakt mit dem
Boden wahrnehmen),
– bei der Visite (bewusst die Schwelle der Türe zu einem Patientenzim-
mer überschreiten, den Bodenkontakt oder die Klinke in der Hand
spüren),
– beim Waschen eines Patienten (den Kontakt mit der Haut wahrneh-
men).
498 M. Harrer

Setzen Sie sich konkrete Ziele, d. h. legen Sie für sich einen Zeitraum
(z. B. einen Tag, eine Woche) fest, welche Tätigkeit Sie als Erinnerung nut-
zen wollen und wie oft Sie innehalten wollen (z. B. jedes Mal, mindestens
einmal jede Stunde, zwei Mal am Tag).

Weitere Informationen und Weiterbildung zum Thema


Achtsamkeit

1. „Integrale Achtsamkeitspraxis“: Die Homepage des Autors (M. Harrer) in-


formiert umfassend über das Thema Achtsamkeit, über ihre Wurzeln, Anwen-
dungsgebiete, Praxis, Integration in den Alltag und weiterführende Literatur
(http://www.achtsamleben.at).
2. Achtsamkeitsschulung sowie Weiterbildung zu achtsamkeitsbasierten
Interventionen (MBSR) werden im Rahmen des MBSR-Verbandes
(http://www.mbsr-verband.org) angeboten, z. B. am Institut für Achtsamkeit
und Stressbewältigung (http://www.institut-fuer-achtsamkeit.de/). In der
Schweiz gibt es ein MBSR-Netzwerk (http://www.mbsr-netzwerk.ch). In
Amerika organisiert das Center for Mindfulness an der University of Mas-
sachusetts Fortbildungen (http://www.umassmed.edu/cfm/index.aspx). Jon
Kabat-Zinn, der Gründer der MBSR bietet Materialen, Vorträge und Seminare
(http://www.mindfulnesstapes.com/index.html).
3. Thich Nhat Hanh ist ein vietnamesischer, buddhistischer Mönch und Frie-
densaktivist, der ein spirituelles Zentrum in Plum Village, in der Nähe von
Bordeaux gegründet hat. Es gibt in Europa auch andere Zentren, in denen in
Seminaren und Retreats speziell auch Achtsamkeitspraxis vermittelt wird
(http://www.plumvillage.org).
4. Selbsterforschung mit Hilfe von Innerer Achtsamkeit mit der Hakomi-
Methode kann man im Kontext von Selbsterfahrung, Psychotherapie oder
Psychotherapieausbildung in Seminaren oder bei Hakomi-TherapeutInnen
kennen lernen (http://www.hakomi.de).
5. Vipassana, die zentrale buddhistische Meditationstechnik wird an vielen Or-
ten der Welt in Zehntageskursen gelehrt (http://www.german.dhamma.org).
6. Im Rahmen von Zen werden Zazen (Sitzmeditation), Gehmeditation, Text-
lesungen und konzentriertes Tätigsein während mehrtägiger Übungsperioden
(Sesshins bzw. Retreats) vermittelt und geübt (http://www.spirituelle-
wege.de).

Zitierte und weiterführende Literatur


Altner N, et al (2004) Stressbewältigung durch Achtsamkeit als Unterstützung bei der Reduzie-
rung des Tabakkonsums bei Krankenhauspersonal – eine kontrollierte Interventionsstudie
zur Förderung des rauchfreien Krankenhauses. In: Heidenreich T, Michalak J (Hrsg) Akzep-
tanz und Achtsamkeit in der Psychotherapie. dgvt, Tübingen
Stärkung der inneren Achtsamkeit 499

Altner N (2007) Stressbewältigung durch Achtsamkeit als Intervention für Menschen mit chro-
nischen Schmerzen. In: Anderssen-Reuster U (Hrsg) Achtsamkeit in Psychotherapie und
Psychosomatik. Schattauer, Stuttgart
Antonovsky A (1997) Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. dgvt, Tübingen
Collande C (2007) Psychotherapie und Meditation in der Praxis – komplementär oder alterna-
tiv. In: Anderssen-Reuster U (Hrsg) Achtsamkeit in Psychotherapie und Psychosomatik.
Schattauer, Stuttgart
Davidson R, et al (2003) Alterations in brain and immune function produced by mindfulness
meditation. Psychosomatic Med 65: 564–570
Grossmann P, et al (2006) Ergebnisse einer Metaanalyse zur Achtsamkeit als klinischer Inter-
vention. In: Heidenreich T, Michalak J (Hrsg) Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psycho-
therapie. Ein Handbuch. dgvt, Tübingen, S 701–725
Kabat-Zinn J (1998) Im Alltag Ruhe finden. Herder, Freiburg
Kabat-Zinn J (1999) Stressbewältigung durch die Praxis der Achtsamkeit. Arbor, Freiamt
Kabat-Zinn J (2006) Gesund durch Meditation, 2. Aufl. Fischer, Frankfurt
Kabat-Zinn J (2006) Zur Besinnung kommen. Die Weisheit der Sinne und der Sinn der Acht-
samkeit in einer aus den Fugen geratenen Welt. Arbor, Freiamt
Kurtz R (1994) HAKOMI. Eine körperorientierte Psychotherapie. Kösel, München
Kurtz R (2006) Körperausdruck und Erleben in der körperorientierten Psychotherapie. In:
Marlock G, Weiss H (Hrsg) Handbuch der Körperpsychotherapie. Schattauer, Stuttgart,
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Lazar SW, et al (2005) Meditation experience is associated with increased cortical thickness.
NeuroReport 16: 1893–1897
Lehrhaupt L (2007) Schulung der Achtsamkeit – eine Einführung in die Stressbewältigung
durch Achtsamkeit nach Kabat-Zinn. In: Anderssen-Reuster U (Hrsg) Achtsamkeit in Psy-
chotherapie und Psychosomatik. Schattauer, Stuttgart
LeShan L (1997) Vom Sinn des Meditierens. Herder, Freiburg im Breisgau
Nyanaponika (2000) Geistestraining durch Achtsamkeit, 8. Aufl. Beyerlein & Steinschulte,
Stammbach
Seemann H (1998) Freundschaft mit dem eigenen Körper schließen. Über den Umgang mit
psychosomatischen Schmerzen. Pfeiffer, München
Tart Ch T (1996) Die innere Kunst der Achtsamkeit. Arbor, Freiamt
Thich Nhat Hanh (1988) Das Wunder der Achtsamkeit. Theseus, Berlin
Thich Nhat Hanh (1992) Ich pflanze ein Lächeln. Der Weg der Achtsamkeit. Arkana, Gold-
mann, München
Weiss H (2006) Bewusstsein, Gewahrsein und Achtsamkeit. In: Marlock G, Weiss H (Hrsg)
Handbuch der Körperpsychotherapie. Schattauer, Stuttgart, S 406–413
Weissman R & S (1994) Der Weg der Achtsamkeit. Vipassana-Meditation. Irisiana Hugendubel,
München
Wilber K (1996) Mut und Gnade. Goldmann, München
Wolinsky S (1993) Die alltägliche Trance. Alf Lüchow, Freiburg im Breisgau
Revision

Spiritualität: Wege – Hilfen – Ziele

H. PAARHAMMER
H. Paarhammer

Einleitung

Vom unvergessenen Wiener Erzbischof Kardinal Franz König stammen die Wor-
te. „In unserer Zeit wird es immer notwendiger, das Geistige wieder neu zu ent-
decken und nicht nur am Materiellen allein zu hängen.“ Der Mensch ist mehr als
nur organische Materie. Er ist ein geistbegabtes Wesen. Deshalb gehört Religion
zum Menschen. Der Kardinal ist dabei der Überzeugung, dass eine „ethisch-
geistige Erneuerung nur aus der Kraft religiöser Energien gelingen kann.“ Des-
halb fordert er auch ein: „Wir müssen wieder fragen nach dem Woher und Wo-
hin, nach dem letzten Sinn und Ziel unseres Lebens, nach dem tiefsten Grund
der menschlichen Existenz, und warum wir eigentlich da sind. Wir müssen wie-
der fragen nach dem Ewigen, nach Gut und Böse, nach Schuld und Gewissen.
Das tiefere Fragen führt zum tieferen Wissen, zum Gewissen und damit zur geis-
tigen Verwurzelung des Menschen.“1

Was ist Spiritualität?

Der Begriff „Spiritualität“ hat zwar einen uralten religionsgeschichtlichen Hin-


tergrund und ist in allen Kulturkreisen und Religionen zu finden, hat aber erst in
den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mehr und mehr seine Einwurzelung in
unseren Sprachgebrauch gefunden. Das alte Wort von der „Frömmigkeit“ wurde
immer mehr durch den Begriff „Spiritualität“ abgelöst.2 Im Gegensatz zu den
Grundlehren und Strukturen der Religionen umfasst Spiritualität die in den ver-
schiedenen Religionen inhaltlich wie methodologisch maßgeblichen Anstöße der

1 Franz Kardinal König (1978) Kirche und Welt. Ansprachen – Referate – Aufsätze. Herold,
Wien, S 47
2 Sudbrack J (2000) Art. Spiritualität. In: LThK, Bd. 9. Herder, Freiburg, S 852–860, hier 853
502 H. Paarhammer

Frömmigkeit und des religiösen Lebens (Askese, Mystik) bis in den Alltag hinein
(Gebet, Meditation, Kult, Körpersprache und -haltungen).3
„Spiritualität als lebendige Wirklichkeit geht der theologischen Reflexion vor-
aus. Glaube ist existentieller Lebensvollzug des ganzen Menschen mit Leib und
Seele. Er lebt nicht aus sich selbst, sondern aus Impulsen des Heiligen Geistes.
Indem der Mensch diesen folgt, entsteht Spiritualität als die konkrete geistge-
wirkte Gestalt seines Glaubenslebens.“4 Deshalb ist Spiritualität nach einem
Wort von Hans Urs von Balthasar als „praktische oder existentielle Grundhal-
tung des Menschen“ zu verstehen.5
Der Begriff Spiritualität umfasst somit ein breites Spektrum von Lebensvoll-
zügen und kann sehr viele religiöse Beziehungen betreffen und abdecken: das
Verhältnis des Menschen zu seinem Gott, zu den Mitmenschen, zur Natur und
Mitwelt, zur Kultur überhaupt, nicht zuletzt zu sich selbst. Nach christlichem Ver-
ständnis setzt Spiritualität „das Wirken des Heiligen Geistes voraus und zielt auf
ein Leben ‚aus dem Geist’. Zwischen beidem liegt das weite Feld der Erfahrung
des Geistes und der Erfahrung der Lebenswelt. In diesem Kontext erscheint Spi-
ritualität als vielgestaltige und spannungsvolle Größe.“6 Spiritualität wird immer
„mitkonstituiert von kontextuellen lebensweltlichen Erfahrungen, ermöglicht
damit nicht nur eine ‚Symbiose von Glaube und Kultur’, sondern auch solche
Verhaltensweisen und Aktivitäten, die über eine ekklesial-gemeinschaftliche
Verwirklichung hinausgehen.“7
Ganz einfach gesagt hat Spiritualität so viele Gesichter wie es Menschen gibt.
So wie jeder Mensch seine besonderen Fähigkeiten, Begabungen, Talente und
„Gnadengaben“ (Charismen) hat, so gestalten sich spirituelle Lebensäußerun-
gen und -beziehungen immer auch individuell und persönlich. Darin liegt eine
große Chance, sich persönlich zum Wohle einzelner Mitmenschen einzubringen
und zu entfalten, aber auch im Miteinander und Füreinander des größeren Gan-
zen unserer Gesellschaft ein Klima entstehen zu lassen, in dem die Erfahrung
von Geborgenheit, Angenommensein und geschenktem Heil vermittelt wird.

Der Mensch braucht den Mitmenschen

Im Johannesevangelium wird eine Begebenheit erzählt, die sehr betroffen macht.


Es heißt dort (Joh 5, 2 ff.): „In Jerusalem gibt es beim Schaftor einen Teich, zu
dem fünf Säulenhallen gehören; dieser Teich heißt auf hebräisch Betesda. In die-
sen Hallen lagen viele Kranke, darunter Blinde, Lahme und Verkrüppelte. Dort
lag auch ein Mann, der schon 38 Jahre krank war. Als Jesus ihn dort liegen sah

3 Waldenfels H (2000) LThK, Bd. 9. Herder, Freiburg, S 853


4 Fraling B (2000) LThK, Bd. 9. Herder, Freiburg, S 856
5 von Balthasar H U (1960) Verbum Caro. Johannes, Einsiedeln, S 226–244
6 Fahlbusch E (Hrsg) (1996) Art. Spiritualität. In: Evangelisches Kirchenlexikon. Internationa-
le theologische Enzyklopädie, Bd. 4. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 403
7 Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie, Bd. 4. Vanden-
hoeck & Ruprecht, Göttingen, S 404.
Spiritualität: Wege – Hilfen – Ziele 503

und erkannte, dass er schon lange krank war, fragte er ihn: Willst Du gesund
werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich,
sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt. Während ich mich hinschleppe,
steigt schon ein anderer vor mir hinein. Da sagte Jesus zu ihm: Steh auf, nimm
Deine Bahre und geh! Sofort wurde der Mann gesund, nahm seine Bahre und
ging.“
Wenn man sich in diesen schwer behinderten Mann hineindenkt und mit-
fühlt, dann macht seine Aussage sehr betroffen: „Ich habe keinen Menschen!“
Spiritualität in den verschiedensten Sparten der Medizin, vor allem auch in
der Palliativmedizin, und in den Bereichen der Pflege bis hin zur Sterbebeglei-
tung geht vom biblischen Prinzip aus: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein
bleibt!“ (vgl. Gen 2, 18)
Der Innsbrucker Altbischof Dr. Reinhold Stecher hat in seinem wunderschö-
nen Buch „Geleise ins Morgen“ ein Kapitel überschrieben: „Reise in die Gebor-
genheit“.8 Darin erinnert er sich an ein Gedicht von Friedrich Nietzsche, das er
als Student im Deutschunterricht gehört hatte: „Weh dem, der keine Heimat
hat!“ Reinhold Stecher stellt dazu fest: „Es war ein düsteres Gedicht mit Novem-
berlandschaft, Nebel und schwarzen Krähen, die in Richtung Stadt fliegen.“ Er
habe den Refrain nicht vergessen: „Weh dem, der keine Heimat hat ...“ Dieser
Satz sei ihm oft in den Sinn gekommen, bis in die Gegenwart, und komme ihm
„wie eine Hymne“ für das ausgehende 20. Jahrhundert vor, in dem es die millio-
nenfache menschliche Erfahrung des Verlustes an Geborgenheit gegeben habe,
und stellt fest: „Unsere Epoche hat zweifellos auch die größte Zahl innerlich unge-
borgener Menschen hervorgebracht, und zwar mitten in Frieden und Wohlstand.
Wir dürfen den Psychologen und Psychotherapeuten, den Ärzten, Sozialhelfern,
Pädagogen und Seelsorgern ruhig glauben: Noch nie gab es einen so hohen Pro-
zentsatz von seelisch Belasteten, Verwirrten, Verunsicherten, Verstörten, Entwur-
zelten, Depressiven, Resignierenden, Alleingelassenen, Einsamen, Isolierten und
Suizidgefährdeten wie heute.“9 Der Autor beklagt dabei die „Defizite an Zuwen-
dung“ und hält fest: „Diese ‚Entbergung‘ trifft viele Menschen zutiefst. Vor eini-
gen Jahren ging ein bewegendes Foto um die Welt. Es stammte aus der Welt der
Bootsflüchtlinge im Fernen Osten. Eine junge Mutter watet mit letzter Kraft an
den rettenden Strand und presst ihr Kind an sich. Dieses Kind ist ‚heimatlos‘ –
und doch beheimatet. Es hat eine Mutter. Und wir wissen alle aus tausend Bei-
spielen, die das Leben bietet, dass fundamentale Heimatlosigkeit darin besteht,
von niemand geliebt zu werden und sich von niemand geliebt zu wissen.
Der Mensch ist als Du-Wesen geschaffen. Und das Gelingen des Lebens
hängt weitgehend vom Gelingen der Du-Beziehungen ab.“ Reinhold Stecher be-
zeichnet den Verlust der Zuwendung als die größte Gefahr für den inneren Halt
des Menschen. Es gehe um die Fähigkeit zur „Einfühlung in den anderen“.
„Der Ruf nach bergenden Menschen“ sei in unserer Zeit unüberhörbar. Rein-
hold Stecher bringt es dabei mit folgendem Postulat auf den Punkt:

8 Stecher R (1995) Geleise ins Morgen. Tyrolia, Innsbruck, S 42–86


9 Stecher R (1995) Geleise ins Morgen. Tyrolia, Innsbruck, S 46.
504 H. Paarhammer

„Es braucht in Welt und Kirche heute Menschen, die Kraft ihrer Persönlich-
keit ein Gegengewicht zu jenen Defiziten bilden, die uns heute beeinträchtigen.
Das gelingt Menschen, die eine gewisse geistige Ausstrahlung mit Gemütstiefe
und Beständigkeit verbinden. ‚Der Mensch mit Herz‘ ist in allen Bereichen ge-
fragt. Sogar im nüchternen Raum wirtschaftlichen und betrieblichen Manage-
ments hat man erkannt, dass es mit dem ‚schnellen Schalten‘, dem großen
‚Durchsetzungsvermögen und Organisationstalent‘ allein nicht getan ist. Es gibt
viele Sünden, vor denen wir uns als Christen hüten müssen. Am meisten fürchte
ich die Herzlosigkeit.“ In allen Bereichen, wo Menschen für Menschen da sind,
brauche es das „Diplom der Herzensbildung, das Einfühlungsvermögen, Verste-
hen und schlichte Solidarität bescheinigt“.10
Bergende Menschen verstehen es auch vorzüglich, bergende Lebensvollzüge
zu vermitteln, wie sie sich in einer bunten Fülle von Ritualen zeigen. Der be-
kannte Benediktinerpater Anselm Grün weist in seinem Buch „Geborgenheit
finden – Rituale feiern. Wege zu mehr Lebensfreude“ eindrucksvoll und über-
zeugend nach, wie wichtig und unverzichtbar in unserem Leben immer wieder-
kehrende Vollzüge und Riten sind. In einer zusammenfassenden Übersicht filtert
der Fachmann der Spiritualität zwölf Merkmale heraus und stellt dabei fest, dass
viele Rituale nicht typisch christlich, sondern allgemein menschlich seien. Aber er
habe versucht, „die Rituale immer als Bestandteil eines spirituellen Weges zu zei-
gen, als Methoden auf dem inneren Weg, die mir helfen sollen, mein Leben vor
Gott bewusst zu leben und mich von Gott mehr und mehr verwandeln zu las-
sen.“11 Anselm Grün stellt dabei unter anderem fest: „Rituale feiern unser Leben,
weil es wert ist, gefeiert zu werden. In der Feier drückt sich die göttliche Würde
unseres Lebens aus. Die Freude an dem göttlichen Leben, das in uns ist, verlangt
nach der Feier. Feiern heißt, Ja sagen zu seinem Leben. Feier ist absolute Zu-
stimmung zum Dasein. Und im Feiern drückt sich zugleich die Sehnsucht nach
absoluter Geborgenheit und Liebe aus. In jedem Ritual steckt die Verheißung der
Vollendung, die Verheißung absoluten Glücks. In der Feier des Rituals tauchen
wir ein in das eigentliche Geheimnis unseres Lebens und trinken aus der göttli-
chen Quelle.“12

Das Wort, das Dir hilft, kannst Du Dir selbst nicht sagen!

Als ich im Herbst 1981 sehr schwer erkrankt im Spital war und, kaum ansprech-
bar, Besuche lieber Menschen erhielt, da stellte mir eine Jugendgruppe aus mei-
ner Pfarrgemeinde eine Bildkarte auf das Nachkästchen mit sehr liebenswürdi-
gen Genesungswünschen. Auf dieser Bildkarte leuchtete eine kräftig blühende
Feuerlilie und darunter stand der Spruch: „Das Wort, das Dir hilft, kannst Du Dir

10 Stecher R (1995) Geleise ins Morgen. Tyrolia, Innsbruck, S 71 f


11 Grün A (1997) Geborgenheit finden – Rituale feiern. Wege zu mehr Lebensfreude. Kreuz,
Stuttgart , S 145
12 Grün A (1997) Geborgenheit finden – Rituale feiern. Wege zu mehr Lebensfreude. Kreuz,
Stuttgart , S 147
Spiritualität: Wege – Hilfen – Ziele 505

selbst nicht sagen!“ In dieser Krisenzeit meines Lebens – ich war damals 34 Jahre
jung – brachte mich dieser Satz sehr zum Nachdenken. Ja, in der Tat ist es so: Wir
Menschen bedürfen in den verschiedensten Situationen des guten Wortes, das
von anderen kommt. Ein freundlicher Gruß, ein herzliches Danke, ein anerken-
nendes Lob, ein aufmerksamer Zuspruch, ein gütiger Trost, eine aufrichtige Gra-
tulation und vieles andere mehr kann Wunder wirken und unser Leben hell ma-
chen. Worte können genauso aber auch schwer verletzen, beleidigen, „töten“. Es
kommt auf den Ton an! Spiritualität hat es nachhaltig mit diesem „guten Ton“ zu
tun!
Theologisch hat dieser Gedanke „Das Wort, das Dir hilft, kannst Du Dir selbst
nicht sagen!“ in Jesus Christus eine ganz besondere und einzigartige Bedeutung
bekommen. „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt!“,
heißt es im Johannesevangelium (Joh 1, 14). Das, was Jesus uns sagt, und was der
Vater im Himmel uns durch und mit Jesus sagt, hätten wir uns selbst niemals sa-
gen können. Jesus selbst gibt seinen Aposteln den Auftrag und die Vollmacht, al-
len Menschen vom Vater im Himmel zu erzählen, ihnen Mut zu machen, Gottes
Willen zu tun, von Sünden loszusprechen und den Leuten einfach zu sagen:
„Das Reich Gottes ist Euch nahe!“ In vielen Bildern und Geschichten erklärt Je-
sus den Begriff und den Sinn dieses uns zugesagten Reiches Gottes. Er lehrt uns
vertrauensvoll beten: „Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein
Reich komme, Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden ...“ In diesem
Gebet liegt eine starke Kraft des Trostes, der Hoffnung und der Zuversicht.
Viele andere Gebete können uns in bedrängenden Situationen helfen, Gelas-
senheit und Besonnenheit zu gewinnen. Etwa jenes schöne Gebet von Charles
de Foucauld, in dem es heißt: „Mein Vater, ich überlasse mich dir; mach mit mir, was
dir gefällt. Was du auch mit mir tun magst, ich danke dir. Zu allem bin ich bereit, alles
nehme ich an. Wenn nur dein Wort sich an mir erfüllt und an allen deinen Geschöpfen,
so ersehne ich weiter nichts, mein Gott. In Deine Hände lege ich meine Seele. Ich gebe
sie dir, mein Gott, mit der ganzen Liebe meines Herzens, weil ich dich liebe und weil
diese Liebe mich treibt, mich dir hinzugeben, mich in deine Hände zu legen, ohne Maß,
mit einem grenzenlosen Vertrauen. Denn Du bist mein Vater!“
Aber nicht jeder Mensch kann so zuversichtlich und „Gott ergeben“ beten. Es
gibt Situationen, in denen wir mit Jesus am Kreuz rufen, ja schreien möchten:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Auch das ist Spirituali-
tät. Die letzten Worte Jesu am Kreuz können für uns zur Kraftquelle werden, los-
zulassen und unsere Ängste, Sehnsüchte und Wünsche zu artikulieren.
So wie es gut tut, ein gutes Wort gesagt zu bekommen, so kann es sehr be-
freiend und erlösend sein, sich selbst in der eigenen Bedrängnis und Angst durch
Worte auszusprechen. Religiöse Symbole und Zeichen können dabei sehr hilf-
reich sein: der Blick zum Kreuz oder das Schauen auf Bilder.
Die Macht der Bilder darf deshalb neben der Kraft der Worte nicht übersehen
und unterschätzt werden.
506 H. Paarhammer

Selbstwert entwickeln. Ohnmacht meistern.


Spirituelle Wege zum inneren Raum

Unter diesem Titel13 gibt der Benediktinerpater Anselm Grün Wegmarkierungen


vor, wie „Selbsterfahrung des heutigen Menschen“ zu einem gestärkten Selbst-
bewusstsein führen kann.
Er schreibt in der Einleitung: „Die Menschen, denen ich als Seelsorger be-
gegne, kreisen häufig um die beiden Pole: fehlendes Selbstwertgefühl und Ohn-
machtsgefühl. Es sind nicht nur junge Menschen, die unter mangelndem Selbst-
vertrauen leiden und sich danach sehnen, ein starkes Selbstwertgefühl zu
entwickeln. Auch von Leuten, die gerade in der Lebensmitte sind, höre ich oft,
wie sie darunter leiden, kein Selbstwertgefühl zu haben. Sie trauen sich nicht,
ihre eigene Meinung zu vertreten, wenn andere selbstbewußt auftreten. Sie trau-
en sich selbst nichts zu. Andere können es besser, so meinen sie.“14
Wie man mit eigenen Ohnmachtsgefühlen umgehen kann und soll, versucht
Anselm Grün zu konkretisieren. Da solche Ohnmachtsgefühle „zu unserer
menschlichen Existenz gehören, ohne davon bestimmt und gelähmt zu werden“,
möchte er als Seelsorger „die Wege beschreiben, wie wir ein gesundes Selbst-
wertgefühl entwickeln können.“15 Dabei gehe es ihm nicht „um die rein psycho-
logische Ebene, sondern von vorneherein um die spirituelle Dimension.“ „Der
Weg zu Gott führt nicht an unserer psychischen Wirklichkeit vorbei. Das wäre
‚spiritual bypassing‘, spirituelle Abkürzung, wie die Amerikaner das religiöse
Überspringen der Realität nennen. Es gibt keine spirituelle Abkürzung, die es uns
ersparen könnte, uns der psychischen Realität unseres Lebens zu stellen. Chris-
tus ist hinabgestiegen zu uns Menschen, damit wir den Mut finden, in die eigene
Wirklichkeit hinabzusteigen. Nur so können wir aufsteigen zu Gott.“16
Die christliche Spiritualität vermittelt uns das tröstende Geheimnis der Nähe
Gottes zu uns Menschen, vor allem im Wort Gottes (Heilige Schrift), in der Li-
turgie (Gebet, Sakramente, Segnungen) und in der liebenden Zuwendung (leib-
liche und geistliche Werke der Barmherzigkeit).

Spirituelle Lebenskultur und Daseinsbewältigung

Zur Lebenskultur tröstender und ermutigender Spiritualität gehört auch die Ge-
staltung des Wohnraumes: Blumen, Lichter, Bilder. Vor allem soll der kranke und

13 Grün A (1995) Selbstwert entwickeln. Ohnmacht meistern. Spirituelle Wege zum inneren
Raum. Kreuz, Stuttgart
14 Grün A (1995) Selbstwert entwickeln. Ohnmacht meistern. Spirituelle Wege zum inneren
Raum. Kreuz, Stuttgart, S 7
15 Grün A (1995) Selbstwert entwickeln. Ohnmacht meistern. Spirituelle Wege zum inneren
Raum. Kreuz, Stuttgart, S 13
16 Grün A (1995) Selbstwert entwickeln. Ohnmacht meistern. Spirituelle Wege zum inneren
Raum. Kreuz, Stuttgart, 13 f
Spiritualität: Wege – Hilfen – Ziele 507

pflegebedürftige Mensch seine religiösen „Lieblingsgegenstände“ bei sich haben


dürfen: Heiligenbilder, Statuen, Gebetbücher usw., die den bisherigen Lebens-
weg begleitet und geprägt haben.
Aus seelsorglicher Erfahrung weiß ich, wie dankbar und glücklich pflegebe-
dürftige Menschen sind, wenn sie das lebendige Licht einer Kerze sehen und
empfinden dürfen. Licht spendet Trost nach zwei Seiten: zum Patienten wie zu
den Angehörigen.
Die trostreichen Verse von Dietrich Bonhoeffer geben eine vorzügliche Hilfe
für trostbedürftige Menschen an: Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten
wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz
gewiss an jedem neuen Tag.
Festzeiten und Feiertage, Jubiläen und Gedenktage geben unserem Lebens-
weg wichtige Konturen, die uns aus der Eintönigkeit und dem Grau des Alltags
herausholen. Zur Spiritualität gehört deshalb auch die Gestaltung der uns ge-
schenkten Zeit und die Erfahrung von Fest und Feier.
Musik und Lied sind Hilfen und Quellen zu tief empfundener Spiritualität:
Als meine Mutter Ende Mai 2000 im hohen Alter ihren Heimgang von diesem
zeitlichen Erdenleben in die Ewigkeit antrat, waren ihre fünf Kinder sowie die
große Schar der Enkelkinder selbstverständlich um ihr Sterbebett versammelt.
Da in unserer Familie seit jeher gerne musiziert und gesungen wird, sollte das
auch beim Sterben unserer Mutter und Großmutter nicht fehlen. Ziehharmonika
und Gitarre, Flügelhorn, Fagott und Hausorgel, Flöte und Bariton spielten ab-
wechselnd religiöse Weisen und Lieder. Immer wieder hörten wir unsere Mutter
sagen: „Ist das aber schön, so schön!“ Und dann sangen wir immer wieder auch
ein Lied und sprachen ein Gebet. Vor allem der so genannte „Gute-Hirten-
Psalm“ begleitete unsere Mutter, eine von harter Arbeit gezeichnete Altbäuerin,
auf ihrem Heimgang zu Gott. Ihre letzten Worte wurden für uns zum geistlichen,
spirituellen Testament: „Ist das aber schön, so schön!“ Aus der irdischen Gebor-
genheit ihrer Familie nahm sie Abschied von dieser vergänglichen Welt und ging
sie ein in die ewige Geborgenheit bei Gott. In ihrem Leben hatte sie immer wie-
der um eine „glückselige Sterbestunde“ gebetet. Wir durften diese „glückselige
Sterbestunde“ bei ihrem Heimgang erfahren. Dankbares Gedenken an sie bleibt
für uns immer angesagt.
Psalm 23, der „Gute-Hirten-Psalm“ kann auch unsere eigene Spiritualität
nachhaltig prägen:
Der Herr ist mein Hirte,
nichts wird mir fehlen.
Er lässt mich lagern auf grünen Auen
und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.
Er stillt mein Verlangen;
er leitet mich auf rechten Pfaden treu seinem Namen.
Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht,
ich fürchte kein Unheil.
Denn du bist bei mir,
dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.
508 H. Paarhammer

du deckst mir reichlich den Tisch;


du salbst mein Haupt mit Öl,
du füllst mir reichlich den Becher.
Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang,
und wohnen darf ich im Hause des Herrn für ewige Zeit.
Revision

Nachwort: Schmerztherapie in der Pflege

B. IGLSEDER
B. Iglseder

Schmerzen gehören zu den häufigsten Problemen, mit der Pflege- und Betreu-
ungspersonen konfrontiert werden. Schmerzen zählen auch zu den häufigsten
Symptomen, die eine ärztliche Konsultation nach sich ziehen. Im Lichte der zu-
nehmenden Überalterung der Bevölkerung wird dieses Problem zunehmend an
Bedeutung gewinnen, da selbst nach vorsichtigen Schätzungen davon ausgegan-
gen werden kann, dass 25 % der älteren Menschen unter ständig vorhandenen
oder rezidivierenden Schmerzzuständen leiden, wobei bei BewohnerInnen von
Pflegeheimen sogar eine Schmerzprävalenz von 45–80 % angenommen wird.
Die Auswirkungen chronischer Schmerzen sind vielfältig, jedenfalls haben
sie erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität und auf die Qualität der Pflege,
besonders auch bei PatientInnen mit terminalen Erkrankungen und bei Bewoh-
nerInnen von Pflegeheimen. Zahlreiche Untersuchungen weisen darauf hin,
dass die Kenntnisse betreuender Professionen in Schmerzdiagnostik und
-therapie unzureichend sind.
In diesem Zusammenhang ist das vorliegende Werk besonders hervorzuhe-
ben, da es den vielfältigen Aspekten von Schmerz, Schmerzerkennung und
Schmerzbehandlung in kompetenter und vollständiger Weise gerecht zu werden
versucht.
Insbesondere den Pflegefachkräften kommt im interdisziplinären Team auf
Grund des häufigen und engen Kontaktes zu PatientInnen und BewohnerInnen
eine zentrale Rolle bei der Schmerzbehandlung zu. Ein gelungenes Schmerzma-
nagement baut auf eine personelle Kontinuität in der pflegerischen Betreuung
und auf eine gute Kooperation mit den behandelnden ÄrztInnen. Aktuelle und
systematische Schmerzeinschätzung stellen dabei ebenso wesentliche Säulen dar
wie die Stärkung der Selbstkompetenzen von Angehörigen und Betroffenen.
Ein umfangreiches Wissen über die zur Verfügung stehenden Konzepte zur
Schmerzbehandlung aus Schulmedizin und komplementär-medizinischen Me-
thoden trägt dazu bei, individuell optimal angepasste Lösungen zu finden.
In diesem Sinne ist dem vorliegenden Werk eine weite Verbreitung zu wün-
schen.
Erstversand

Stichwortverzeichnis

Stichwor tverzeichnis

ACE-Hemmer 197 f, 203 Angst 5 ff, 9, 29, 32f, 38, 41 f, 52, 71 ff, 75, 81,
Achtsamkeit 259, 264, 489 ff 83, 85, 87, 114, 127, 148, 150 ff, 168, 172,
Adjuvantien 124, 169, 216 206, 216, 225, 230, 233, 237, 241, 243, 249,
Aggravation 457 255f, 261, 270, 279, 314, 316, 329, 336 f,
Aggression 60, 90, 235, 410 339, 354, 378, 383, 390, 397, 406 f, 409 ff,
AIDS 4 457, 475, 479, 505
Akupressur 271 f, 446, 475 ff Ängste 2 f, 9, 37, 52, 173, 207, 213, 250, 262,
Akupunktmassage 262, 275, 278 334, 339, 354, 380, 402, 415
Akupunktur 27, 50, 54, 259, 262 f 267 ff, Angstzustände 42, 406 , 478f, 505
271 f, 278, 306, 427, 445f, 471, 476 ff, Anti-Aging 477
480 Antidepressiva 25, 104, 117, 128, 169
Akupunkturpunkt 272 f, 446 Antidepressiva – trizyklische 48, 112, 128, 201
Akutschmerz 101 f, 107 f, 110, 118, 141 f, Antioxidantien 177 ff, 181, 185, 189, 191
233 Antirheumatika – nichtsteroidale (NSAR)
Alkohol 4, 29, 109, 170, 185, 249, 392, 411, 107 f, 124, 135, 141, 155, 182, 184
450, 458 f Aromapflege 401 ff, 408 f, 411, 422, 424
Altenpflege 81, 86, 88f Arthritis 106, 116, 121, 308, 330, 431, 441, 443,
Alterspyramide 160 447
Alterungsprozess 32, 161, 164 f, 1168, 177 ff, Arthritis – rheumatoide 28, 31, 106, 181f, 184,
181 326
Amelioration 457 Aspirin 18, 49
Amygdala 24 Asthma 134, 255 f, 426, 432, 437, 441, 444, 469,
Analgesie 50 ff, 108, 117, 131, 134 f, 138, 157, 477
172 f, 214, 241, 267, 273, 325, 406, 446, Atemtherapie 437
476 f, 480 Ätherische Öle 404 ff, 415, 421 ff
Analgesie – patientenkontrolliert (PCA) 131, Autogenes Training (AT) 231, 240, 256, 426
135, 138, 157, 214 Ayurveda 415, 463, 467 f, 471 ff
Analgetika 48, 51, 96, 106, 110 f, 114, 116 f, Ayurvedamedizin 463 f, 468, 471, 473 f
126, 138, 151f, 163 ff, 169 ff, 214, 216, 224, Azetylsalizylsäure (ASS) 106, 113, 124, 132,
241, 245, 331 198
Analgetika – nichtopioidhaltige (NSAID) 106,
110, 124 f, 127, 131 ff, 155, 170 Balneotherapie 430, 440, 442
Analgetikum 18, 29, 70, 109, 112, 118, 164, Benzodiazepine 113, 144 f, 201
166, 169f Bewältigungsstrategie 3, 37, 174, 389
512 Stichwortverzeichnis

Bewegungsapparat 21, 103, 115, 161, 430 ff, Emotionales Gedächtnis 378
437, 446, 460 f Emotionen 31, 38, 64, 147, 269f, 334, 336, 339,
Bewegungstherapie 21, 103, 115, 161, 430 f, 351, 376, 388 ff, 394, 396, 410, 465
437, 440, 460 f Empathie 27, 59, 67f, 232
Bewusstsein 2, 20, 29, 71, 351, 375, 381, 390, Endorphine 25, 51
398, 406, 409, 427, 476, 480, 490 ff, 506 Engramm 24, 27, 30
Bindegewebsmassage 275, 277, 428 Enteropathie 285, 299
Biofeedback 42, 60, 174, 256, 333 ff Entspannung 27, 29, 34, 86, 89, 154, 175, 235 f,
Biofeedbacktraining 335, 338, 340 245, 249 f, 259, 278, 334 ff, 350 f, 355, 367,
biopsychosozial 38, 42, 359, 388 373, 375, 378 f, 394 ff, 404, 416, 423, 426,
Blähungen 405, 417 428, 437, 468, 471, 478 f, 494
Bluthochdruck 3, 250, 256, 418, 436 Entspannungsmusik 86, 252, 380
Bradykardie 197 Entstauungstherapie (KPE) 295 ff, 444
Bradykinin 22, 122 Entzündung 22 ff, 104, 108, 132, 179, 181,
Burnout 208, 333, 340 183 f, 239, 279 f, 284, 292, 296, 307, 309,
336, 419, 430, 438 f, 444 ff, 458, 459 f, 469
Ceiling-Effekt 124 Entzündungshemmung 107 f, 133 f, 137, 144,
Chemotherapie 214, 291, 298, 308, 316, 343 ff, 179, 189, 193, 306 f, 370, 407, 416, 419, 422,
477 430, 439
Chiropraktik 272, 440, 442 Erbrechen 108, 110 ff, 125 ff, 131, 134 f, 158,
Chronifizierung 26, 102, 118, 139, 141, 389 ff 172, 199, 201, 214, 216, 224, 239, 243, 405,
Cluster-Kopfschmerzen 114 458, 476 f
Compliance 41 f, 118, 122, 171, 204, 224, 297, Ernährung 164, 177 ff, 188, 215 f, 219, 264, 267,
427, 429, 456 270f, 276, 314, 345, 406, 415, 426 f, 435,
Computertomographie (CT) 293, 406 465, 468, 471, 473 f
Cortisol 383 Ergotherapie 174, 296, 299, 361ff, 442
COX-2-Hemmer 106 ff, 117, 133, 135, 137 f Erstversorgung 112, 210
Coxibe 104, 107 ff, 115 f, 118, 170 Erwartungshaltung 50 ff, 242, 265, 335, 337,
Craniosacrale Therapie 347 ff 377
Extensionsmassage 275, 278
Dekubitusprophylaxe 75
Demenz 28, 69 ff, 167, 191, 197, 200, 211, Fangotherapie 440
256 Fantasiereisen 338
Depression 3, 29, 33, 42 f, 48, 51, 108, 110 ff, Feedback 42, 50, 58, 61, 67 f, 174, 256, 333 ff
116, 131, 157, 172, 182, 207, 216, 230, 239, Feldenkraismethode 354, 356 ff
242, 252, 262, 314, 316, 334, 348, 390, 397, Fibromyalgie 28 ff, 309, 362, 477, 492
409 ff, 421, 427, 459, 476 Fibrosklerotische Umbauprozesse 284
Diabetes mellitus 178, 291, 427, 435, 460 Fourieranalyse 315
Diarrhö 406 Freie Radikale 178
Diclofenac 106 ff, 116, 124f, 127, 132 ff, 143, Freude 32, 72, 230, 261, 270, 378, 390, 395
156 Fußbad 422 f
Diuretika 134, 170, 198, 201, 203, 297 Fußreflexzonenmassage 275, 277
Dopamin 53, 189, 191, 201, 383, 404
Drogen 4, 249, 425 Gastritis 134, 435
Druckgeschwüre 407 Gate-Control-System 19, 27
Durchblutungsstörungen 115, 426, 431, 433, Geburt 9, 30, 261, 267, 273, 339
443 Gegenirritationsverfahren 24, 27, 30
Durchfall 201, 406 Gehhilfen 207 f
Gehirn 8, 16 ff, 23 f, 47, 52, 178, 189, 191 ff.
Elektro-Magnetfeldtherapie 313 ff 347 f, 354, 358, 375 ff, 389, 401, 404, 457,
Emotionale Entwicklung 149 467, 495 f
Stichwortverzeichnis 513

Geist 8, 262, 269, 336, 340, 351, 410ß, 426 f, Infusion 92 f, 96, 110, 136 f, 141, 144, 155, 157,
464 f 172, 214, 220 f, 447
Gene 8, 22 Infusionspumpe 96, 220 f
Geriatrie 76, 162, 316, 426, 473
Gesprächstherapie 235 Kinderanästhesie 158
Gicht 116, 177, 426 f, 435 f Kinderskala 168
Ginko 197 f Klangtherapie 468, 471
Ginseng 198 Klimamedizin 440 ff
Glaube 1 ff, 15, 34, 47, 54, 337, 354, 478, 494, Kneipp-Therapie 34, 430, 438, 442
502 Koanalgetika 126 f, 169
Glück 378, 464, 466 f, 504 Kognitive Methoden 153 f
Glutamat 22, 178 Kombinationspräparate 143 ff, 182
Gott 1 ff, 16 f, 502 ff Kommunikation 14 f, 20, 57 ff, 71, 74, 76 f,
Gruppenpsychotherapie 238, 240 168 f, 180, 207, 218, 231, 243, 261,356, 359,
391, 408, 465
Kommunikation – nonverbale 57, 63, 65
Hako mi-Methode 491, 494, 498
Komorbidität 159 f, 162, 172, 295, 389
Harnsäure 116, 416
Kompatibilitätsprobleme 144 f
Heilbehelfe 205 ff
Kompressen 415 ff, 438
Heilkräfte 3
Konditionierung 27, 47, 51, 54, 349
Heilpflanzen 415, 424, 468 ff
Kopfschmerzen 15, 64, 94, 104, 113 f, 167, 238,
Heilung 3, 16, 33, 53, 86, 118, 132, 142, 161 f,
241, 256, 262 f, 307, 309, 321, 334, 392, 412,
206, 235, 241 f, 245, 279, 316, 333, 336 ff,
417, 423, 432, 457 f, 470 f, 477 f
341 f, 349 ff, 361, 401 f, 408, 427, 430, 439,
Körperbewusstsein 71
446, 451
Kortikosteroide 128, 170
Heilungsprozesse 348
Krankheitsbild 115, 169, 173, 242, 250, 252,
Herzinfarkt 32, 108, 167, 170, 256, 431 ff
283, 291, 299 f, 316, 362, 367, 370, 397, 462,
Herzratenvariabilität 335, 339
477
Histamin 22, 107, 134, 143, 158
Krankheitsgewinn 235
Höhensonne 446
Kräutertherapie 267, 271 f
Homöopathie 449 ff
Krebsarten 162, 180, 182
Hörgerät 67, 205 ff
Krebserkrankung 14, 167, 180, 291
Humor 34, 483 ff
Krebsschmerzen 264
Hydrotherapie 174,415, 428, 430, 438, 440,
Krebstherapie 285, 291
442
Hyperalgesie 23 f, 54
Lähmung 17, 443, 447
Hyperämie 276, 457
Laser 303 ff, 442
Hyperkaliämie 199
Laserstrahlung 303 ff
Hypertonie 108, 170, 177, 279, 426 f, 431 f, 434,
Lasertherapie 370
438 f, 441, 443
L-Dopa 191 f, 203
Hypnoid 231, 235 f
Lebensqualität 4, 13 f, 28, 32, 39, 43, 118, 139,
Hypnose 18, 27, 229 ff, 233, 235 f, 241 f, 252,
161, 205 f, 211, 263 ff, 299f, 316, 367, 377,
255, 336, 339, 355
392, 396 f, 402, 416, 451, 509
Hypnosetherapie 241 ff
Limbisches System 24
Hyponatriämie 199 ff
Lob 88, 154, 505
Hypophyse 25, 378, 441, 445
Logotherapie 231, 483
Hypothalamus 25, 230, 378, 404
Lokalanästhesie 18, 30, 115, 138, 446
Lungenembolie 118
Immunabwehr 180, 242, 283, 402, 495, Lymphdrainage 245, 278, 296, 299 f, 306, 346,
Immunsystem 3, 8, 241, 277, 286, 336, 412, 444
439, 451, 496 Lymphgefäße 283 ff, 433, 444
514 Stichwortverzeichnis

Lymphödem 283 ff, 434, 444 Nahrungsergänzungsmittel 188


Lymphödembehandlung 299 Naloxon 51, 171
Lymphologie 283, 299 Naturheilkunde 401, 427
Naturheilverfahren 425 ff
Nebenwirkungen 32, 50, 52 ff, 106 f, 109,
Magnetfeldtherapie 313 ff, 369, 442 111 ff, 122, 124, 126, 128, 131, 133 ff, 138,
Magnetresonanz-Tomographie (MRI) 293 146, 153, 157, 164, 170, 172, 198 f, 202, 204,
Mammakarzinom 163, 342 216, 219, 224, 241, 256, 272, 280, 294, 297,
Manipulationstechniken 442 307, 326, 330, 341, 344 f, 416, 445, 454, 464,
Marma 468, 471 f 476
Massage 34, 88, 262, 267, 269, 271 f, 275 ff, Nervenfaser 18, 21
345 f, 402, 405 f, 413, 425 ff, 442 f, 446, 468, Neurodermitis 307, 426, 431, 441
472 Neuroimmunologie 236
Massagebehandlung 275, 279 f neurophysiologisch 18, 21, 236, 306
Massagetechniken 272, 275 f, 278 ff, 472 Neurotransmitter 22, 28, 193 f, 326, 404, 445
Medikamente – adjuvante 127, 297, Nikotin 4, 201, 456
Medikamentencocktail 197, 199, 204 Nocebo 50, 52, 54, 377
Meditation 89, 231, 236, 252, 259, 326, 406 ff, Noceboeffekt 47 ff
471, 474, 492, 496, 498 Noradrenalin 27, 29, 110, 404
Mentales Training 376 Notfallmedizin 111 f, 117, 435, 449, 475 ff
Meridiane 262, 269, 272, 445 f, 476 nozizeptiv 19, 22 f, 26, 28, 39, 51, 103, 112, 136,
Meridianmassage 269 167
Metaanalyse 47, 135, 183, 387, 452 f, 492 Nozizeptoren 21 ff, 26, 38, 103, 121 f, 132, 277
Metamizol 104, 106, 109 f, 117 f, 124 f, 127, Nozizeptorschmerz 21, 102, 121, 127
132 f, 135 NSAID 48, 137, 170 f
Metastasen 122, 127 f, 180, 233, 243, 443 NSAR 104, 107 ff, 115, 124, 132 ff, 141 ff, 155,
Meteorismus 31, 405 197 ff
Migräne 17, 30, 48 f, 102, 113 ff, 121, 194, Numerische Rating Skala (NRS) 39 f
234 f, 239 f, 250, 256, 263, 273, 308, 348,
387, 392 ff, 423, 426, 445 f, 471, 492 Obstipation 31, 105, 110 f, 125 ff, 171 f, 406,
Migräneanfall 114, 142, 241 426 f, 431
Mikronährstoffe 177, 181 f, 187 ff Omega-3-Fettsäure 178 ff, 184, 188, 191
Mindfullness-Based-Stress Reduction (MBSR) Onkologie 303, 339, 341
492 Operation 2, 9, 21, 24, 28 ff, 49 ff, 54, 70, 96,
Mobilität 103, 161 f, 223, 362, 416, 443, 492 102 f, 107, 121 f, 135, 142, 154 f, 200, 233,
Monosubstanzen 143, 434 f, 492 243, 246, 267, 291 f, 336, 340, 345, 351, 374,
Morbus Alzheimer 188 418, 428, 431, 437, 441, 443, 459
Morbus Parkinson 191 Operationswunden 431, 433
Morphin 18, 29, 49, 110 ff, 118, 121, 124 ff, 157, Opioid 27, 30, 51 f, 104, 108, 110 ff, 115 f, 123 ff,
164, 171 f, 214, 224, 429, 434 131 ff, 144
Motorik 53, 115, 230, 354, 362, 378, 391, 444 Opioide – retardiert 110, 125 f
Multiple Sklerose (MS) 192, 357, 442 Opioidrezeptor 106, 110
Musik 27, 86, 154, 252, 373 ff Opium 16 f
Musiktherapie 29, 34, 231, 374 ff, 382, 388ff, Organuhr 262
471, 507 Orphenadrinzitrat 107, 134, 141, 143 ff
Musiktherapie – aktive 376, 387 ff Osteoporose 78, 161, 182 f, 233, 316, 443
Musiktherapie – rezeptive 382, 388 ff
Musiktherapiemanuale 391 f, 394, 397ff Palliativ 76, 163, 213 f, 264, 298 f, 341, 408 f,
Muskelrelaxantien 113, 143 ff 468
Muskelverspannungen 279 ff, 443 Palliativdienst 216
Myokardinfarkt 115, 118, 135, 138, 459 Palliativpatienten 96, 213, 216, 221 f
Stichwortverzeichnis 515

Palliativzentren 1223 f, 123 Salutogenetisch 493


Panik 52, 161, 336 Sauna 249, 345 f, 428, 430, 433, 442
Paracetamol 49, 106, 109, 111, 114, 117, 124 f, Schlaflosigkeit 44, 149, 316, 431
132 f, 136 ff, 156, 170. 200 Schlafqualität 135, 144, 216, 264, 316
Patientenzufriedenheit 131, 139, 475 Schlaganfall 108, 135, 138, 178, 206, 477
PCA-Pumpe 131 Schmerz – Warnfunktion 118
Pflegealltag 208, 483, 4d86 Schmerzchronifizierung 141, 389
Pflegepersonal 2, 44, 78, 91 ff, 144, 151, 167 f, Schmerzeinschätzung 153, 509
174, 216, 230, 402, 467 f, 486 Schmerzempfinden 24, 28, 118, 147 ff, 193,
Pflegeprozess 62, 68, 91, 208, 375 393, 395
Phantomschmerz 21, 121, 362 Schmerzen – akute 21, 48 f, 72, 102, 105, 131,
Physiotherapie 173, 231, 357, 359, 425, 427 141 ff, 148, 241 f, 247, 273, 278, 321, 325,
Phytotherapie 423, 428 f, 434, 438, 448, 474 387, 390, 416, 424, 446, 449, 457, 471 f, 477,
Placebo 25, 47 ff 493
Placeboeffekt 47 ff Schmerzen – chronische 16, 20 f, 29 ff, 42, 44,
Placebowirkung 49 ff 48, 51, 70, 102 ff, 108 ff. 124, 141, 148 f,
Plasmakonzentration 202 158 f, 172, 173, 194, 239 ff, 265, 277, 321,
postoperativ 2, 21, 29 f, 48 f, 70, 108, 117, 131 ff, 325, 349 f, 355, 358, 362, 387 ff, 404, 416,
141f, 144, 154 f, 291, 321, 336, 431, 437, 477 f 424, 446, 462, 471 ff, 477, 492 f, 509
Posttraumatische Belastungsstörung 49 ff Schmerzen – maligne 387, 392 ff
Progressive Muskelentspannung (PMR) 249 Schmerzen – neuropathische 21, 102 ff, 112,
Prostatatumor 162 116, 121 f, 125, 127, 316, 321, 328, 330
Proteinbiosynthese 181 Schmerzen – projizierte 122
Psychoanalyse 4, 354, 387 Schmerzen – viszeral 21, 104, 117, 121 f, 127,
Psychohygiene 256, 426, 465 133, 136 f, 214, 306
Psychoimmunologie 230 Schmerzformen 21, 26, 141, 143, 238 f
Psychopharmaka 79, 166, 200, 202, 204 Schmerzfragebogen 39, 41
Psychotherapie 229 ff, 374, 383, 387f, 397, 483, Schmerzfreiheit 30, 32, 128
498 Schmerzgedächtnis 24, 27, 30, 101 f, 148, 151,
Psychotherapie – basale 229 ff, 237, 247 158, 245
Psychotherapie – integrierte 234, 240 Schmerzhemmung 19, 27, 33, 102
Psychotherapieformen 231 Schmerzimpulse 19
Pulsdiagnose 271, 467 Schmerzinformationen 17
Schmerzintensität 23, 33, 41, 50, 105, 117, 122,
Qi 259 ff, 269, 272 f, 476 152, 165 ff, 224, 263
Qigong 34, 259 ff, 247 Schmerzinterview 41, 166 f
schmerzlindernd 16, 50, 54 f, 144, 154, 192,
Radioonkologie 341 276 f, 325, 328 ff, 419 ff
Rauchen 8, 109 Schmerzlinderung 33, 48 f, 51, 53, 110, 123,
Rechtsfragen 95 128, 131, 133, 135, 139, 141, 143, 173, 194,
Reflux 31, 291 235, 275 ff, 308, 329, 381, 404, 416
Regulationstherapie 449 ff Schmerzmanagement 76, 108, 225, 337, 340,
Reiz-Reaktions-Prinzip 428, 440 ff 478, 481, 509
Reiztherapie 271, 440 Schmerzmedikamente 17, 168, 416, 476
rheumatisch 18, 161, 362, 419, 426 ff, 431 ff, Schmerzmittel 16 f, 29, 31, 53, 96, 104, 111,
438 ff, 444, 471 114, 118, 157, 198, 233, 331, 476
Risikofaktoren 3, 108 f, 161, 178 Schmerzmodulatoren 306
Rückenschmerzen 21, 43, 115, 194, 237, 256, Schmerzmodulation 27, 275
263 f, 321, 466, 477 Schmerzphysiologie 21
Rückenschmerzen – idiopathisch 253 Schmerzprävention 151
Rückenschule 367 Schmerzpumpe 96
516 Stichwortverzeichnis

Schmerzreduktion 125, 189, 245, 264, 392, subkutan 49, 92, 94, 96, 123, 126, 172, 220,
422, 481 284 f, 292, 294, 407, 456
Schmerzreiz 19, 21 ff, 29, 32, 51, 151, 336, 466 Substanz P 22, 306
Schmerzreizleitung 22, 24, 26 ff, 33 Suggestionen 242, 244, 246
Schmerzschwelle 28, 31 f, 147, 306
Schmerz-Skalen 40 TENS 27, 30, 60, 174, 316, 321, 324 ff, 442
Schmerzstärke 17, 39, 44, 172, 214, 391 f, 395 Therapieplanung 14, 289 f
Schmerztagebuch 41 f, 105, 168, 224 Thermalbad 244, 432
Schmerztherapie 13, 18 ff, 30 ff, 45, 54, 70 ff, Thermographie 363
91, 954 f, 101 ff, 121 ff, 131, 134 ff, 147ff, Thrombose 108, 115, 121, 139, 184, 279, 308,
165 f, 169, 173 f, 187 ff, 213 ff, 233, 235, 259, 431ff, 437, 444
264, 275 ff, 299, 303 ff, 321 ff, 353 ff, 379, Tinnitus 256, 307, 348
387, 391, 404, 449, 463 ff, 475 ff, 509 Tod 1 ff, 26, 163, 312, 243, 261, 269, 339, 408 f
Schmerzthermometer 165 Toxizität 110, 115, 135 ff, 164, 170, 429
Schmerztoleranz 148, 244, 336 Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) 34,
Schmerzursache 24, 26, 78, 102, 121, 169 259 f, 267, 415
Schmerzminderung 350, 397 Transaktionsanalyse 62
Schmerzwahrnehmung 18, 33, 167, 336, 396 Transkutane Nervenstimulation (TENS) 50
Schmerzzentrum 19 Transmission 51, 305
Schulmedizin 190, 271 f, 275, 358, 424, 425 ff, Transmitter 22, 27, 307
464, 509 Trauma 26, 102, 112, 116, 239, 243, 245 ff, 294,
Schwangerschaft 27, 109, 136, 273, 280, 339, 306, 321, 339, 349, 351, 443 f, 459 f, 475 ff
443 f, 477 Trigeminusneuralgie 30, 48, 161, 169, 322
Schwerhörigkeit 168, 207 Trinkkur 430, 435
Seele 16 ff, 75, 87, 269, 280, 339, 354, 373, 401, Tuina-Massage 271 f
426 ff, 464, 471, 485, 502, 505 Tumor 14, 39, 70, 97, 103, 121 f, 127, 162 f, 171,
Selbstheilungskräfte 53, 85, 333, 336, 338 f, 214 ff, 280, 286, 293, 298 f, 341 ff, 362, 392,
401 f, 451 396, 443, 447, 469
Selbsthypnose 235, 242, 244, 336, 339 Tumorschmerz 21, 102, 112, 121 ff, 162, 224,
Selbstmord 3, 16 392, 396, 471
Selbstwirksamkeitsüberzeugung 54
Sensibilisierung 22 f, 26, 28, 122, 132, 244, 402 Übelkeit 72, 105, 108, 110 f, 114, 125 ff, 131,
Sensorik 230, 431 134 f, 158, 172, 190, 199, 214, 216, 224, 243,
Serotonin 22, 27, 110, 113, 122, 193 f, 404 f, 256, 406, 408, 412, 416, 461, 476 f
466 Unterwasserdruckstrahlmassage 275, 278 f,
Sinnesempfindung 16, 355, 378 443
Sinnhaftigkeit 8, 9, 493 UV-Strahlung 441
Spannungskopfschmerz 29 f, 113, 115, 239,
256, 262 f, 309 Verbale Rating Skala (VR) 39, 105
Spiritualität 501 ff Verbrennungen 112, 235, 461
Sterbehilfe 9 Verhaltensmedizin 37 f
Strahlentherapie 291, 342 ff Verhaltenstherapeutische Methoden 153 f
Stress 3, 25 f, 37, 42, 151, 178, 189, 191, 194, Verletzungen 23, 161, 173, 207, 279, 292, 307,
241, 249 f, 256, 262 ff, 273, 314, 316, 334 ff, 316, 349, 351, 390, 444, 456 ff, 469
349, 357, 379, 390, 395, 406, 415, 492, 494 Verstopfung 177, 221, 406
Stress – oxidativ 177 Verwirrtheit 44, 169, 171
Stressabbau 409 Visualisierung 104, 174, 259, 264, 336 ff
Stressbewältigung 252, 492, 498 Visuelle Analog Skala (VAS) 39, 478
Stresshormone 22, 29, 148 Vitalität 43, 348, 350, 456, 466, 473
Stressmanagement 333, 340 Vitalstoffsupplementierung 188 f
Stressreaktionen 25, 42, 52 f, 250 Vollnarkose 155
Stichwortverzeichnis 517

Wahrnehmung 17 f, 25 f, 33, 43, 54 f, 67 f, 104, Yang 260 f, 267f, 445


167, 181, 206 f, 243, 249, 251, 256, 270, Yin 260ff, 267f, 445
333 ff, 350 ff, 355, 375 ff, 394 ff, 402 ff, 466, Yoga 426, 466, 468, 492
476, 479, 490 ff
WHO-Stufenplan 123, 169 Zen-Mönch 489
Wickel 415 ff, 425f, 428, 438f, 472 Zentralnervensystem 21, 26, 275, 349ff
Wirbelsäulenbeschwerden 492 Zyklooxygenase 107, 109, 132, 134
Wundheilung 33, 132, 142, 235, 245, 316, 336 Zytostatika 93, 201, 405

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