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Vorwor t
Die Rolle und Aufgaben der Pflegenden haben sich im Laufe der Zeit stark ver-
ändert. War die Pflegekraft in der Frühzeit noch ein Assistent und Schüler der
großen Ärzte, wandelte sich Pflege im 1. Jahrhundert n. Chr. zu einer Aktion der
Barmherzigkeit und zur christlichen Pflicht. Mit Florence Nightingale wurde der
notwendige Wechsel von der geistlichen zur weltlichen Pflege eingeläutet, die
Braunen Schwestern in der NS-Zeit schlugen das dunkelste Kapitel auf. Erst
Ende des 20. Jahrhunderts wurde aus dem einstigen „Helfersdienst“ der Ärzte
ein eigenständiger Beruf, der heute als hochprofessioneller Dienst am und für
den Menschen gilt.
Hier muss vor allem Hildegard Peplau (1952) und ihre Theorie der „Zwi-
schenmenschlichen Beziehung“ in der Pflege hervorgehoben werden, die das
erste Mal Pflege als Beziehungsprozess beschrieb.
Virginia Henderson (1955) benannte den Menschen als ganzheitliches, unab-
hängiges Wesen mit Grundbedürfnissen, die er als Gesunder selbst erfüllen
kann. Sie begründete damit eines der ersten Pflegemodelle.
In der Wiener Erklärung über das Pflegewesen im Rahmen der europäischen
Strategie „Gesundheit für alle“, erarbeitet von der europäischen Pflegekonferenz
der WHO (1988), wird die Krankenpflege als eine spezifische und individuelle
Verantwortung gegenüber dem Kranken/Ratsuchenden und dessen Familie defi-
niert. Krankenpflege erstreckt sich auf:
x die Pflegeleistung,
x die Förderung der Gesundheit, einschließlich der Gesundheitserziehung,
x die Verhütung von Krankheiten,
x die Feststellung der Bedürfnisse von Einzelpersonen und Gruppen sowie
x die Bereitstellung angemessener Hilfeleistung unter Berücksichtigung pflege-
rischer, psychologischer, sozialer und ethnischer Aspekte im Krankenhaus
und seiner weiteren Umgebung.
VIII Vorwort
Die Sensibilisierung für die Bedürfnisse der Patienten ist auch die Grundlage
einer optimalen Schmerztherapie. Die Pflegekraft ist die einzige Person, die
„Rund um die Uhr“ am und beim Patienten ist. Pflegende sind Sprachrohr und
„Mittler“ des Patienten in der Behandlungskette. Eine effektive Schmerztherapie
steht und fällt mit dem Wissensstand der Pflegenden. Diesen Erkenntnissen
muss in der heutigen Zeit bei der Umsetzung der Schmerztherapie Rechnung
getragen werden. Es gibt viele Fortbildungskonzepte im deutschsprachigen
Raum, die zur Verbesserung der Schmerztherapie beitragen möchten. Bei den
Büchern für Pflegekräfte lassen sich jedoch noch Lücken erkennen. Zu wenige
sind auf die Bedürfnisse der Pflegenden zugeschnitten. Die Herausgeber dieses
Buches möchten diesem Umstand Rechnung tragen und den großen Hand-
lungsspielraum Pflegender im Rahmen der Schmerztherapie offenlegen. Im Be-
sonderen möchten wir die schulmedizinischen und die komplementären Metho-
den zur Schmerzbehandlung integrieren und ihre praktische Bedeutung für die
Pflege darstellen. In der Hoffnung, Ihr Interesse geweckt zu haben und Ihren
Wissensdurst zu stillen, wünschen wir viel Freude beim Lesen dieses Buches und
vor allem viel Erfolg beim Umsetzen der Ideen dieses Buches!
Vorwor t
Unser Dank gilt all jenen, die mit Ideen und Hilfestellungen zum Gelingen die-
ses Buches beigetragen haben: Wir danken allen AutorInnen für die Bearbeitung
der einzelnen Kapitel. Für die Bearbeitung des Stichwortverzeichnisses danken
wir Dr. Mag. Patrick Bernatzky (Salzburg). Unser besonderer Dank gilt den Mit-
arbeitern des Springer-Verlags Wien, insb. Frau Renate Eichhorn und Frau Petra
Naschenweng, die viel für das Zustandekommen dieses Buches geleistet haben.
Für die freundliche Unterstützung danken wir der Firma Fresenius Kabi Öster-
reich.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV
Wie soll ich wissen, was Dich quält? Schmerzen erkennen bei
demenzkranken alten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
M. KOJER
Wer pflegt, braucht Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
E. SCHÜTZENDORF
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
Autorenverzeichnis
Bardenheuer Hubert J., Prof. Dr., Zentrum für Schmerztherapie und Palliativ-
medizin der Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 131, 69120 Heidel-
berg, Deutschland
Barolin Gerhard S., Univ.-Prof. DDr. hc., Matzingerstraße 11/20, 1140 Wien,
Österreich, Tel.: +43 (0) 1/985 26 66, gerhard.barolin@aon.at
Bolay Hans Volker, Prof. Dr., Fakultät für Musiktherapie an der SRH Hoch-
schule Heidelberg, Maaßstraße 26, 69123 Heidelberg, Deutschland
Gustorff Burkhard, ao. Univ.-Prof. Dr., DEAA, Vorstand der Abteilung für
Anästhesie und Intensivmedizin, Wilhelminenspital der Stadt Wien, Mont-
leartstraße 37, 1160 Wien, Österreich, Tel.: +43 (1) 491 50 40 01
Hillecke Thomas K., Prof. Dr., Fakultät für Musiktherapie an der SRH Hoch-
schule Heidelberg, Maaßstraße 26, 69123 Heidelberg, Deutschland, Tel.: +49
(0) 6221/88 41 54, thomas.hillecke@fh-heidelberg.de
Leeb Burkhart, Prim. Dr., Leiter der HUMANIS Klinik in Stockerau, Landstraße
16–18, 2000 Stockerau, Österreich, Tel.: +43 (0) 22 66/609, leeb.humanis@
kav-kost.at
Oelkers-Ax Rieke, Dr., Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für
Psychosoziale Medizin (ZPM), Universität Heidelberg, Blumenstraße 8,
69115 Heidelberg, Deutschland
Patsch Inge, Leiterin des Tiroler Institutes für Logotherapie nach Viktor E. Frankl,
Meinhardtstraße 16/4, 6020 Innsbruck, Österreich, Mobil 0699/11 60 94 55,
info@ingepatsch.at
Walter Johannes, Dr., Facharzt für Gefäßchirurgie, Dr. A. Ederstraße 5/1. Stock,
5400 Hallein, Österreich, Tel.: 0664/240 46 06, Fax: 0662/234 66 34 65,
ordination@drwalter.at
Wendtner Franz, Mag., Universitätsklinik für Innere Medizin III, Psycho-
onkologie, Universitätsinstitut für Klinische Psychologie, SALK, Müllner
Hauptstraße 48, 5020 Salzburg, Österreich, Tel.: +43 (0) 662/4482-587 07,
f.wendtner@salk.at
Wicker Anton, Prim. Univ.-Prof. Mag. DDr., Vorstand der Universitätsklinik
für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Universitätsklinikum Salzburg,
Private Medizinische Paracelsus Universität Salzburg, Müllner Hauptstraße
48, 5020 Salzburg, Österreich, Tel.: +43 (0) 662/4482-4201, a.wicker@salk.at
Wittels Martina, OA Dr., Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin, Kreis-
krankenhaus Simbach, Abteilung für Psychosomatik, Plinganserstraße 10,
84359 Simbach am Inn, Deutschland, Tel.: +49 (0) 85 71 80 970 06,
wittelsm@a1.net
Wolfslehner Elfriede, DAS, Lebens- und Sozialberaterin, Craniosacralthera-
peutin, 4020 Linz, Österreich, elfriede.wolfslehner@liwest.at
Wormit Alexander F., Dr., Fakultät für Musiktherapie an der SRH Hochschule
Heidelberg, Maaßstraße 26, 69123 Heidelberg, Deutschland
Revision
HEINZ NUSSBAUMER
Heinz Nussbaumer
Meinen herzlichen Dank für die so ehrende Einladung verbinde ich lieber gleich
mit einem Geständnis: Erst nachdem ich Ihnen, verehrter Herr Präsident, zuge-
sagt hatte, ist mir bewusst geworden, auf welches tollkühne Risiko ich mich da
eingelassen habe. Vermutlich war ich dann einfach zu stolz, um den Kopf noch
zeitgerecht aus der Schlinge zu holen.
Denn „Glaube“ und „Schmerz“: Das sind – jeder für sich und noch weit mehr
in ihrer Kombination – zwei viel zu große, viel zu schwierige Begriffe, um sie mit
eigenen Erfahrungen und Einsichten deuten zu können.
Was etwa ist „Glaube“? Wer kann ernstlich von sich behaupten, gläubig zu
sein? Und wenn doch: Woran glaubt er? Und wie stabil und krisenresistent ist
dieser Glaube – gerade in jenen Grenzerfahrungen des Lebens, um die es ja auch
bei Ihrem Treffen geht?
Und was ist „Schmerz“? Von welcher Art Schmerz reden wir? Und wer kann
von sich sagen, dass er so viel Schmerz durchlitten hat, um öffentlich darüber be-
richten zu können?
Und dann erst beides zusammen genommen – „Schmerz und Glaube“: Welche
innere Bezogenheit haben sie? Welche gewaltigen Fragen und Widersprüche tun
sich da auf? Vor allem: Wenn wir „Glauben“ im religiösen Kontext verstehen, dann
geht es hier um das uralte Menschheitsthema der Theodizee. Um die Frage, wieso
Gott – ein fürsorglicher, liebender Gott zudem – uns, seine Geschöpfe, Schmer-
zen, Krankheiten, ja den Tod erleiden lässt?
2 Heinz Nussbaumer
Ich erzähle dieses Erlebnis am Beginn, weil es für mich eine Fülle von Fragen
aufwirft, um die wir bei unserem Thema – „Glaube und Schmerz“ – vermutlich
nicht herumkommen. Vor allem um die Ratlosigkeit im Umgang mit großen Be-
griffen. Was war das damals: Nur Flucht aus der Wirklichkeit? Der Versuch eines
Rückzugs, einer Heimkehr in die Höhle des eigenen Herzens? Oder doch ein re-
ligiöses Erlebnis am Kreuzungspunkt von Glaube und Schmerz?
Übrigens: Erst viel später habe ich erfahren, dass meine spontane postopera-
tive Pilgerschaft längst ein wichtiger Teil moderner Hospizarbeit ist: „Spirituelle
Biographiearbeit“ – wie es die Profis nennen.
Ich kehre dorthin zurück, wo die Fakten zuhause sind: in die Welt der wissen-
schaftlichen Studien, der interdisziplinären Forschungen – und der daraus er-
wachsenden medialen Schlagzeilen. Wie Sie natürlich wissen, sind zahllose in-
terdisziplinäre Teams seit Jahren einem Thema auf der Spur, das eigentlich
jenseits unseres Zeitgeistes liegen müsste: nämlich der Frage nach den „Heilkräf-
ten des Glaubens“.
Die populärwissenschaftliche Literatur überschlägt sich ja derzeit mit Berich-
ten, die man eher ins Zeitalter einer Hildegard von Bingen, eines Avicenna oder
Paracelsus eingeordnet hätte. Oder die man vielleicht bei tibetischen Heilern
oder muslimischen Studenten vermuten würde. Aber ein Blick ins Internet lässt
keinen Zweifel an der Aktualität und der Intensität dieses Themas: Weltweit
rücken Forscher mit Kernspintomographen, mit Elektroden und Hautwärme-
messungen dem möglichen Einfluss von Religiosität auf Hirn und Herz zu Leibe.
Was sie staunend und mit unendlichem Zahlenmaterial belegen – und was
selbst religions-kritische Medien wie „Spiegel“ oder „Stern“ mit fast kitschigen
Schlagzeilen wie „Der Glaube an den lieben Gott macht gesund“ umschreiben –,
klingt irgendwie altbekannt – und in seinem wissenschaftlichen Anspruch den-
noch überraschend.
Ich möchte – auch auf die Gefahr hin, dass Ihnen diese Forschungsberichte
keineswegs neu sind – die zentralen Aussagen in fünf Punkten möglichst kurz
zusammenfassen:
1. Wer glaubt, hat weniger Risikofaktoren. Gläubige leiden, so heißt es, weniger
an Bluthochdruck, haben nach Operationen eine kürzere Zeit der Heilung, ihr
Immunsystem ist stabiler.
2. Wer glaubt, ist optimistischer. Gläubige Menschen klagen weniger über
Ängste, Depressionen und finden in ihrer Religion ein ganzes Arsenal an Be-
wältigungsstrategien für Krisenmomente – wie etwa den Tod eines geliebten
Menschen oder eine niederschmetternde Krankheit.
3. Wer glaubt, ist messbar entspannter: Die meditative Wirkung von Gebeten
hilft, Stress abzubauen bzw. ihn auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.
4. Wer glaubt, hat mehr Freunde. Religiöse Gemeinschaften bieten meistens ein
verlässliches soziales Netz. Es schützt vor Einsamkeit, die erwiesenermaßen
seelisch krankmacht. Es bietet vor allem älteren Menschen eine Ersatzfamilie,
stellt ein menschliches Notaggregat an Unterstützung in Krisenfällen bereit
und bewahrt im Regelfall vor der Versuchung zum Selbstmord.
4 Heinz Nussbaumer
5. und sozusagen als Unterfutter für das schon Gesagte: Wer glaubt, lebt auch
aus ethisch-moralischen Gründen gesünder. Gläubige konsumieren weniger
Alkohol und Nikotin, sie sind gegen Drogen weitgehend immun. Und „Fas-
ten“ ist für sie nicht erst seit den Schlankheitskuren geplagter Überflussge-
sellschaften ein Heil-Begriff.
Folgt man diesen Befunden, dann erweist sich „Gläubigkeit“ – um diesen va-
gen Begriff vorerst einmal so stehen zu lassen – als ein handfestes Überlebens-
paket, in dem überraschend vieles eingelagert ist, was der Mensch zu seinem
leiblich-seelischen Wohl benötigt. Dann hat ein solch gefestigtes Fundament je-
denfalls eine messbar positive Wirkung auf die Lebensqualität und Lebensdauer.
Kurzum: Wer in der Krise auf religiös-geprägte Bewältigungsformen zurückgrei-
fen kann, der hat es besser.
„Religion wirkt wie ein Medikament“, meldete erst kürzlich auch die heimische,
nicht im Verdacht des Boulevards stehende „Wiener Zeitung“ ganzseitig – unter
Zitierung auch heimischer Wissenschafter. Wer könnte da noch zweifeln.
Trotzdem möchte ich die offenkundigen Einschränkungen und Einwendun-
gen gegen diesen Befund nicht außer Acht lassen:
Denn unbestritten ist zunächst ja, dass Religiosität auch krankmachen kann –
und in manchen Fällen sogar der Psychoanalyse bedarf. Vor allem dann, wenn
religiöse Gemeinschaften das Leben ihrer Mitglieder streng reglementieren.
Wenn Menschen durch religiös begründeten Gehorsam, durch Gruppen-
zwang und Sündendrohung massiv unter Druck gesetzt werden.
Heilkunde und Heilskunde gehen – so meine ich – auch dort nicht zusam-
men, wo ein Gottesbild das Leben verengt und Menschen dazu verleitet, auf
ihre Vernunft zu verzichten. Wo sie etwa aus religiösen Gründen bestimmte
medizinische Behandlungen nicht in Anspruch nehmen – auch auf das Risiko
des eigenen Todes hin. Wir haben in den vergangenen Jahren mehrmals sol-
che Fälle erlebt.
Und heilend ist der Glaube auch dort nicht, wo der Blick des Gläubigen auf
keinen liebenden, sondern auf einen strengen, strafenden Gott fällt. Wo sich
Kranke und Sterbende verzweifelt mit der Schuldfrage für ihren Schmerz
abmühen; wo die Suche danach, „wofür mich Gott bestraft und leiden lässt“ ins
Zentrum allen Denkens geraten ist.
Ich halte die noch keineswegs überwundene Vermutung, Krankheiten wie
AIDS könnten am Ende doch „eine Strafe Gottes“ sein, für ebenso tragisch
und unchristlich, wie vorher die Jahrhunderte lange christliche Heroisierung des
Leidens. Es sind noch keine zehn Jahre vergangen, seit Papst Johannes Paul II.
bei seinem Österreichbesuch ausgerechnet im Wiener Hospiz vor einem zu
intensiven Einsatz schmerzstillender Mittel gewarnt hat. Denn – und ich zitiere
ihn – „ein vorschnelles Abstellen des Leidens kann die Auseinandersetzung mit Ihm
(gemeint war Christus) und die damit verbundene Erlangung einer größeren mensch-
lichen Reife verhindern.“ Dahinter stand immer der religiöse Anspruch, „mit
Christus im Leiden gleichgestellt zu sein.“ Eine Lehrmeinung, die vom hl. Franzis-
Glaube und Schmerz 5
kus bis in die unmittelbare Neuzeit reicht. Der 2002 heiliggesprochene „Opus
Dei“-Gründer Josemaría Escrivá sagt es besonders klar – und ich zitiere: „Ge-
segnet sei der Schmerz. Geliebt sei der Schmerz. Geheiligt sei der Schmerz. Verherrlicht
sei der Schmerz.“
Aus meiner persönlichen Sicht ein tragischer Beleg dafür, wie theologische
Leidenschaft auch in pathologische Leidenssehnsucht führen kann.
Kräfte sammeln, die sonst zersplittern und ziellos agieren – und die auch tat-
sächlich dem leidenden Körper helfen können.
Warum ich so darauf bestehe, das so genannte „Medikament“ des Glaubens
näher anzuschauen? Weil ich meine, dass wir sonst gerade in Zeiten von
Schmerz und Leid leicht Gefahr laufen, in Enttäuschung, Überforderung und
schwersten Glaubenskrisen zu landen.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es Augenblicke und Dimensionen des
Schmerzes gibt, in denen uns kaum eine Glaubensgewissheit und auch kaum
eine andere unserer Sicherheiten noch Halt gibt und geben kann. Da überlagert
die Verzweiflung des Augenblickes und die panische Flucht aus dem Schmerz
alles andere. Da reduziert sich die Chance, gefestigt durch eine Krankheit zu
gehen, jedenfalls für Menschen wie mich, gegen null. Gott sei Dank durchleben
wir solch extreme Momente ja auch nur in Ausnahmesituationen.
Ich kenne Spitalsseelsorger, die miterlebt haben, wie tiefgläubige Menschen –
auch Kleriker und Ordensangehörige – im Angesicht ihrer Sterblichkeit ins
Bodenlose abgestürzt sind; zu oft auch ohne Chance, aus ihrer seelischen
Nacht wieder aufzutauchen.
Und ich weiß, dass Sterbebegleiter mit jahrzehntelanger Praxis davor warnen,
sich eine klare Differenzierung von Glaubenden und Nichtglaubenden zu-
trauen zu können. Sie beharren darauf, dass Menschen, denen im Leben eine
Deutungs- und Sinngebung gelungen ist, vor dem Zusammenbruch aller
Sicherheiten besser geschützt sind – gleichgültig, ob sie im gängigen Sinn
„gläubig“ sind oder nicht. Dass Menschen, die – als Frucht lebenslangen Fra-
gens und Denkens, auch Infragestellens – zu einer persönlichen Überzeu-
gung und Mitte gefunden haben, in kritischen Situationen auch eher beste-
hen können.
Um es ganz deutlich zu sagen: Zum Leben gehört das Scheitern, das Zwei-
feln, das Nicht-mehr-weiter-Wissen, das Nicht-Perfekte und Unvollendete.
Kaum jemand geht ganz unangefochten durch sein Dasein. Und wer meint, sein
Glaube kenne und erlaube keine Zweifel, keine Verzweiflung, kein Aufbegehren
gegen die Last des Leidens und Sterbens, der hat die bestürzende, aber existen-
tiell wichtige Botschaft des Mannes aus Nazareth vergessen.
Dieser Jesus, der nach unserem christlichen Glauben wie kein Anderer die
Nähe und Sicherheit Gottes kannte, er durchlebt zwischen Ölberg und Golgotha
alle Stadien, mit denen auch wir in Schmerz, Trostlosigkeit und Todesnähe rech-
nen müssen:
Da ist zunächst sein wiederholter Wunsch, in den schweren Stunden der To-
desangst nicht allein zu sein. Sein letztes Flehen, den Kelch an ihm vorüberge-
hen zu lassen. Sein furchtbarer Aufschrei: „Mein Gott, warum hast Du mich verlas-
sen?“ Und erst am Ende dieses vertrauensvolle „Es ist vollbracht – Vater, in Deine
Hände leg ich meinen Geist.“
Die Botschaft an uns ist erschütternd klar – und vielleicht auch tröstend: In
der Mitte dessen, was christlicher Glaube ist, steht ein Leidender, ein auch Zwei-
felnder und Verzweifelter. Ehe sich sein irdisches Schicksal vollendet.
Glaube und Schmerz 7
Aus dieser Sicht sind also Krankheit, Schmerz und Leid, aber auch Zweifel
und Verzweiflung das unvermeidbare Schicksal des Menschen. Ein Schicksal, vor
dem wir nicht flüchten können, an dem wir zerbrechen, aber auch reifen können.
Meine Damen und Herren,
der Sinn meiner bisherigen Überlegungen ist kurz gesagt der:
Ehe wir vom Glauben als einer „Medizin“ reden, die uns den Umgang mit
Schmerz und Leid erleichtert, die gesünder und auch älter macht, müssen wir
sehr genau hinschauen, von welchem Glauben die Rede ist.
Wir müssen uns zudem mit dem Gedanken vertraut machen, dass sich in
Stunden des Absturzes der Fallschirm auch nicht öffnen könnte. Dass Glaube
zwar eine gute, ja vermutlich die beste Voraussetzung für Angstüberwindung
und Sinnfindung ist, aber keine letzte Garantie.
Und wir müssen wissen, dass im Strudel übermächtiger Schmerzen letztlich
alle Sicherheiten einbrechen können.
Dass der Heilige Stephanus schon während seiner Steinigung – einer beson-
ders grausamen Todesart – nach eigenen Worten „den Himmel offen“ sah, ist wohl
ein Ausnahmefall.
Mehr noch der Martyrer-Heilige Laurentius. Der Legende nach hat er ja – auf
glühendem Rost – seinen Peinigern fröhlich zugerufen: „Der Braten ist fertig.
Dreht ihn um und esst!“
Nichts davon wird uns jemals beschert sein. Also tun wir gut daran, uns ei-
nem geschlossenen System zu verweigern, das da heißt: „Glaube nur, dann bist
und bleibst Du gesund!“
Dies alles vorausgesetzt – und mit der Bitte an Sie, es in Erinnerung zu behal-
ten –, möchte ich jetzt, sozusagen auf schwankendem Boden, noch rasch versu-
chen, ein paar persönliche Erfahrungen mit Ihnen zu teilen, die mir über die Jah-
re aus dem Erlebnis von Krankheit und Schmerz zugefallen sind.
Der französische Literat André Gide schreibt: „Ich glaube, dass Krankheiten
Schlüssel sind, die uns gewisse Tore öffnen können. Mehr noch: Ich glaube, dass es Tore
gibt, die nur eine Krankheit öffnen kann.“
Was also könnten das für Schlüssel sein, die „heilende Türen“ zwischen Glau-
ben und Schmerz öffnen, habe ich mich oft gefragt. Wo mein Fragen an Grenzen
gestoßen ist, da verdanke ich die eine oder andere Anregung einer kleinen Schar
von Menschen. Zu ihnen gehören zwei der großen Gestalten des „2. Vatica-
nums“, Karl Rahner und vor allem Franz König. Zu ihnen gehören aber auch
meine Mönche auf dem Berg Athos, zu denen ich nun seit zwei Jahrzehnten als
Pilger fahre.
Diese Anregungen sind hier – auch der weit fortgeschrittenen Zeit wegen –
ganz ungeordnet und bruchstückhaft vorgetragen, und im besten Fall kleine Im-
pulse zu weiterem Nachdenken.
Zunächst und ganz vordergründig sind Schmerz und Krankheit nicht nur für
gläubige Menschen ein Anlass, um über mögliche Mängel im eigenen Le-
bensvollzug nachzudenken; über das eigene Lebensprogramm und seine
8 Heinz Nussbaumer
Schadstellen. Dieses Nachdenken kann, so meine ich, auch die Grenze des
Körperlichen und Seelischen überschreiten und in eine dritte, möglicherweise
religiöse Dimension vorstoßen. Mehr und mehr ahnen, ja wissen wir, dass
unser ganzes Innenleben – auch unser Fragen nach Zeit und Ewigkeit, nach
dem letzten Sinn unseres Seins, auch nach Gott – einen Einfluss auf die Ma-
terie der Gene und auf das Immunsystem hat. Dass Gen, Geist, Gehirn und
Gott möglicherweise mehr miteinander zu tun haben, als wir gemeinhin ver-
muten.
Dann meine ich, dass Leid und Schmerz für uns auch eine Hilfe sein können,
die gängige Trivialisierung unserer Gottesvorstellungen zu überwinden. „Die
Unbegreiflichkeit des Leids ist auch ein Stück Unbegreiflichkeit Gottes“, hat uns
der große Karl Rahner hinterlassen.
Und er stellt den unzähligen bemühten christlichen Thesen über den Sinn
von Schmerz, Krankheit und Tod einen kühnen Gedanken entgegen – und ich
zitiere: „Die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Leid und Tod muss unbeantwortet blei-
ben, wenn der Mensch Mensch und Gott Gott bleiben soll.“ Leid kann also nie ver-
standen werden. Es muss aber bestanden und bekämpft werden. So besehen,
bleibt nicht mehr viel vom alten christlichen Mythos des Schmerzes als Königs-
weg in die Herrlichkeit übrig.
Ein Drittes: Ich glaube, dass unser Umgang mit Schmerz und Leid auch we-
sentlich davon geprägt wird, wie wir auf unser eigenes Leben blicken. Wer in
Krankheit und Behinderung nur eine leistungsbehindernde Minusvariante
unseres Daseins erblickt – einen Aufstand des Körpers gegen unsere narzisti-
sche Omnipräsenz –, der wird als Patient andere Dimensionen der Ratlosig-
keit und Verzweiflung durchleben, als jene, die imstande sind, ihre irdische
Existenz in einem viel größeren Zusammenhang zu sehen.
Immer wieder hat uns übrigens der alte Kardinal König klar gemacht, dass
gerade in unserer Gesellschaft die Gesunden die Kranken mindestens sosehr
brauchen wie die Kranken die Gesunden – auch um nicht zu vergessen, wie
fragwürdig und kraftmeierisch sich die reine Verherrlichung des Lebens zu oft
gebärdet.
Von den Mönchen am Athos habe ich auch gelernt – oder versuche ich zu
lernen –, dass wir uns wieder mehr als Reisende begreifen sollten, die unter-
wegs sind. Reisende, die – wenn sie sich als Christen verstehen – ihr irdisches
Ende nicht als tragischen Schlusspunkt, sondern als Umsteigebahnhof be-
greifen sollten. Für die Mönche beginnt Sterben demnach nicht erst am Le-
bensende, nein, jeder Tag verlangt nach Einübung in die Endlichkeit. Aus die-
ser Perspektive sind Krankheit und Schmerz für sie kein „Unfall“ und auch
keine Brüskierung unseres Machbarkeitswahns, sondern ganz selbstverständ-
liche Stationen eines viel weiteren, größeren Weges.
Wo aber das irdische Leben seine Vergänglichkeit nicht verbergen muss wie
bei meinen Mönchen, und das Eingehen in eine größere Ordnung und Gebor-
Glaube und Schmerz 9
genheit nicht in Zweifel steht, da lösen sich viele Bangigkeiten und Brüche unse-
res Daseins auf. Da werden Krankheit, Alter, Siechtum nicht zum alles beherr-
schenden Stigma. Da verliert auch die nahe am Tod liegende Lebenszeit nichts
von ihrer Sinnhaftigkeit – und das Schwinden der Kräfte führt nicht zum sozia-
len Wertverlust.
Seit vielen Jahren beobachte ich die alten Mönche, die – so gut sie es halt
vermögen – in den langen Nächten im Chorgestühl ausharren, betend und
schlafend; die bis zum Tod, ja darüber hinaus, ein selbstverständlicher Teil ihrer
Bruderschaft bleiben. Und die dann, wen ihr Ende naht, von ihren Mitbrüdern
betreut, besucht und getröstet werden.
Viele von ihnen lehnen eine allzu aufwändige medizinische Behandlung ab.
Wenn aber die Überführung in ein Krankenhaus außerhalb des Heiligen Berges
unvermeidbar ist, dann begleitet sie ein Mönch und bleibt für die Dauer der Be-
handlung an ihrer Seite. So sind alle Übergänge des Lebens gleitend. Selbst der
letzte, schwerste, ist zwar – wie überall – voller Mühsal, aber ohne Angst und
Verzweiflung. Und das Wort „Sterbehilfe“ bekommt seinen alten, wunderbaren
Klang zurück.
Ein letztes Mal möchte ich den alten Kardinal König zitieren, der immer wie-
der vorgeschlagen hatte, das eigene Leben eher vom Ende, vom Tod her aufzu-
rollen und die Kostbarkeit jeder Sekunde von da her zu erkennen, zu verstehen
und zu nutzen. Im Wissen freilich, dass die Vollendung anderswo stattfindet –
und nicht in dem zwischen Geburt und Tod „eingezwängten, kläglichen bisschen
Leben“, um die deutsche Philosophin Marianne Gronemayer zu zitieren.
Dem Glaubenden, der auch in dunklen Stunden über diesen Horizont
hinauszuschauen vermag, wird zwar kein Leid erspart, er kann es aber mit grö-
ßerer Ruhe und aus einer anderen, weiteren Perspektive vermutlich leichter er-
tragen.
Noch eine Türe, für die uns Schmerz und Krankheit möglicherweise ein
Schlüssel sein könnten, möchte ich noch rasch zu öffnen versuchen. Und da-
bei ein letztes Mal auf eine persönliche Erfahrung zurückgreifen. Ich war
noch kaum 16 Jahre alt, als mich eine erste Krebsoperation in die Welt der
Todkranken und Sterbenden geführt hat. Aus diesem Umfeld von Hilflosig-
keit, existentiellen Ängsten und wohl auch Selbstmitleid hat mich ein Chirurg
damals mit einem genialen Einfall gerettet: Er verpflichtete ein junges Mäd-
chen – Patientin der Augenabteilung – an meinem Bett zu sitzen und mit mir
zu reden. Sie erschien mir damals buchstäblich wie ein Engel.
40 Jahre später habe ich in ähnlichen postoperativen Momenten neu ent-
deckt, wie sehr Schmerzen – solange sie nicht in den Strudel existentieller
Verzweiflung geraten – durchaus an Kraft verlieren können, sobald eine gute
Stimme, ein nettes Gesicht, eine streichelnde Hand – ein Du – ins Blickfeld ge-
raten. Für Glaubensstarke kann dieses „Du“ in einer persönlichen Gottesbe-
ziehung liegen. Andere werden zunächst auf die Geborgenheit in der Fürsorge
liebender Menschen hoffen – und sie, wo immer sie stattfindet, als Geschenk
empfinden.
10 Heinz Nussbaumer
Wichtig ist mir, dass auf dieser letzten Türe mit großen Buchstaben das Wort
„Dankbarkeit“ steht. Und ich würde die These wagen, dass es zwischen Dankbar-
keit und Glauben einen inneren Zusammenhang gibt.
Es war damals, am Weihnachtstag 1959, als ich – nach Monaten einer mühse-
ligen Rehabilitation mit dem Gefühl, neu geboren zu sein, wieder in die Alltags-
welt eingetaucht bin. Damals mit dem festen Vorsatz, keinen Tag meines Lebens
ohne ein Gefühl der Dankbarkeit zu beginnen. Seither weiß ich, dass wir für weit
mehr dankbar sein können, als wir gewöhnlich annehmen – vielleicht sogar für
Wegweisungen, die aus Krankheit und Schmerz gewachsen sind. Dankbar vor
allem für das Geschenk des Lebens, vielleicht auch des Glaubens – und sicher für
das Geschenk der Schöpfung.
Ziel von guter Behandlung und Pflege ist nicht, dem begrenzten Leben Zeit hin-
zuzugeben, sondern alles daran zu setzen, der begrenzten Zeit Leben zu geben
(in Anlehnung an Cecily Saunders).
Lebensqualität kann nicht von anderen, sondern nur vom Kranken selbst,
als eine für sein individuelles Leben wichtige Qualität erlebt werden!
Was ist eine wichtige Qualität in unserem Leben? Meist erst dann, wenn sich un-
ser Leben verändert – so etwa durch Krankheit, Alter, äußere Umstände oder in-
neren Wandel – beginnen wir danach zu fragen. Wir möchten unsere Lebensqua-
lität wiedergewinnen, neu gestalten, wenigstens teilweise erhalten. Doch was ist
das eigentlich – Lebensqualität?
Der Ausdruck Lebensqualität hat in den letzten Jahren gerade im Gesund-
heitsbereich immer mehr Bedeutung bekommen. Fast schon zum Modewort ge-
worden, ist der Begriff dennoch schwer fassbar. Denn jeder Mensch hat seine
ureigene Sichtweise, mit der er/sie seine/ihre momentane Lebenssituation be-
wertet. Lebensqualität kann demnach nicht von anderen, sondern nur vom ein-
zelnen Menschen selbst als eine für sein individuelles Leben wichtige Qualität
erlebt werden!
Lebensqualität ist also etwas ganz Individuelles, das jede(n) von uns gerade
jetzt betrifft. Das heißt, dass Lebensqualität für ein und dieselbe Person im Laufe
der Zeit Unterschiedliches bedeuten kann. Liegt für einen jungen Menschen Le-
bensqualität vielleicht darin, sportliche Höchstleistungen vollbringen zu können,
so sieht ein alter, kranker Mensch möglicherweise eine wesentliche Qualität seines
Lebens eben darin, dass er seine täglichen Aktivitäten noch selbst bewältigen kann.
14 G. Bernatzky und R. Likar
Wie die Lebensqualität einer Person ist, hängt also sehr stark von ihren Erfah-
rungen und Erwartungen ab. In jedem Falle spielen mehrere Dimensionen eine
Rolle, die physische ebenso wie die psychische, die geistig-spirituelle ebenso wie
die soziale Dimension. Das bedeutet, dass Änderungen der Lebensqualität nicht
nur von außen kommen. Doch sie können von außen mit beeinflusst werden, so
etwa durch die Art der Pflege, die ein Kranker erhält.
Mit Bezug auf die Pflegesituation schreibt J. Schara 1990, dass sich im Verlauf
einer Krankheit die Bewertung des eigenen körperlichen, funktionalen, emotio-
nalen, mentalen, interpersonellen und sozioökonomischen Zustandes wesentlich
verändern kann. Dies geschieht je nachdem, was ein/e Patient(in) in der aktuel-
len Situation für möglich und wünschenswert hält. Die Fähigkeit eines Men-
schen zur Anpassung bildet, so Schara, eine wichtige Voraussetzung für die Er-
haltung der Lebensqualität des Erkrankten. Dies gilt besonders für alte
Menschen, die an schweren chronischen Krankheiten leiden. Individuell ausge-
richtete Pflege kann hier wertvolle Unterstützung leisten.
Damit Pflege auf die individuellen Bedürfnisse eines Menschen eingehen
kann, ist eine gute Kommunikation zwischen Betreuern und Betreuten notwen-
dig. Wenn die Pflegepersonen von den jeweiligen Wünschen, Vorstellungen, Be-
fürchtungen und Problemen der PatientInnen, von ihren unterschiedlichen Vor-
stellungen von Lebensqualität wissen, können sie diese besser beim schwierigen
Prozess der Anpassung an ihre aktuelle Situation unterstützen. Positiv auf die
Lebensqualität von Kranken wirkt sich zumeist aus, wenn sie die Erfahrung ma-
chen, dass sie selbst etwas zur Verbesserung ihres momentanen Zustandes bei-
tragen können.
Nicht zuletzt kann die individuell ausgerichtete Pflege wichtige Informatio-
nen für die ärztliche Therapieplanung liefern. Dabei muss, speziell bei betagten
chronisch kranken Personen, immer der Gesichtspunkt der Lebensqualität vor-
rangig einbezogen werden. Nicht so sehr der durch eine Therapie bewirkte Ge-
winn an Lebenszeit, sondern der Erhalt einer möglichst guten Lebensqualität
sollte im Mittelpunkt stehen. Bezogen auf die oft sehr belastende Behandlung bei
bestimmten Krebserkrankungen heißt das: Onkologische Therapie kann nicht al-
lein die Summe der Tumor reduzierenden Maßnahmen sein, sondern die Summe
all jener Maßnahmen, die zur Verbesserung der Lebensqualität eines tumorer-
krankten Menschen beitragen. Es geht also nicht sosehr um die Quantität der
Überlebenszeit, sondern um die Qualität der durch die Behandlung für den Pati-
enten erreichten Zeit.
Literatur
Likar R, Bernatzky G, Pipam W., Janig H, Sandjak A (2005) Lebensqualität im Alter. Therapie
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Revision
Einleitung
Warum habe ich Schmerzen? Was ist Schmerz? Woher kommt er? Fast jeder
Mensch stellt sich irgendwann im Laufe seines Lebens diese Fragen. Im Jahr
1979 wurde Schmerz von der Internationalen Gesellschaft zum Studium des
Schmerzes wie folgt definiert: „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Ge-
fühlserlebnis, das mit einer aktuellen oder potentiellen Gewebsschädigung ver-
bunden ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“
Diese so weit verbreiteten „unangenehmen Sinnes- und Gefühlserlebnisse“
haben – so weiß man heute – wichtige Aufgaben: Schmerz dient der Kommuni-
kation nach innen ebenso wie nach außen. Er ist ein von der Evolution angeleg-
tes Frühwarnsystem, das uns vor inneren wie auch vor äußeren Gefahren
schützt. Doch dies gilt nicht nur für uns Menschen. Auch bei vielen Tierarten ist
bekannt, dass sie Schmerz wahrnehmen können. Schmerz ist somit älter als die
Menschheit.
Menschen – und wohl auch Tiere – haben zu allen Zeiten versucht, ihre
Schmerzen wieder loszuwerden oder wenigstens zu lindern. Das beweisen etwa
Keilschriftdokumente aus Mesopotamien, die um 4000 vor Christus entstanden
sind. Diese Dokumente stellen vermutlich die frühesten kulturellen Zeugnisse
über Schmerzen und ihre Behandlung dar. Darin wird von der Behandlung von
Kopfschmerzen mittels operativer Eingriffe berichtet. Hier findet sich auch schon
die besonders bei vielen Völkern verbreitete Vorstellung, dass Schmerzen durch in
den Körper eingedrungene Dämonen verursacht werden. Man glaubte, dass die-
se bösen Geister die Menschen zur Strafe für begangene Sünden befallen. Dieser
Glaube wirkte später im Christentum lange Zeit nach und bestimmte den Stel-
lenwert von Schmerz im christlichen Bereich. Schmerzen sollten demnach ge-
duldig ertragen werden, um eher ins Paradies einzugehen. Das große Vorbild für
das Erdulden von Schmerzen war – und ist für viele Menschen heute noch –
Christus am Kreuz.
16 G. Bernatzky und R. Likar
Gottesgeschenk Opium
Für die Griechen der Antike waren Medizin, Mythos und Religion eng miteinan-
der verbunden. So wurde Opium, das schon damals als schmerzlinderndes Mit-
tel eingesetzt wurde, als göttliches Geschenk angesehen. Die Heilung von
schmerzhaften Krankheiten erfolgte im Rahmen des Asklepios-Kults. Die Patien-
ten wurden in Heilstätten aufgenommen, die an Asklepios-Tempel angeschlos-
sen waren. Nach einer Zeit des Fastens wurden die Kranken mit Hilfe von Opi-
um in einen Heilschlaf versetzt. Während sie schliefen, befreite sie Asklepios, ein
Sohn des Sonnengottes Apollo, von ihren Schmerzen.
Gottgegebenes Übel
Die Renaissance brachte die Wiederentdeckung vieler Erkenntnisse der Antike.
So setzte sich nun die Meinung durch, dass das Gehirn Sitz der Wahrnehmun-
gen und der Gefühle sei. Damit änderte sich auch die Sicht auf den Schmerz.
Dem Künstler und Gelehrten Leonardo Da Vinci (1452–1519) etwa erschien das
Leiden des Körpers als das „größte Übel“ überhaupt. Dennoch war die Schmerz-
bekämpfung noch kein zentrales Thema der medizinischen Forschung der Zeit.
Viele Mediziner waren noch zu sehr den tradierten Vorstellungen verbunden. Sie
sahen Schmerzen als gottgegebene Strafe für begangene Sünden an, die man
tapfer zu ertragen hatte.
Eine ganz andere Sichtweise entwickelte der Arzt, Magier und Wissenschafter
Theophrastus Paracelsus (1493–1541). Paracelsus war der Ansicht, dass es die
Hauptaufgabe des Arztes sei, „Not zu wenden.“ Dieses therapeutische Leitbild
der Barmherzigkeit sollte auch heute wieder verstärkt zum Mittelpunkt des ärzt-
lichen Handelns werden!
100 Jahre nach Paracelsus entwarf der französische Naturwissenschafter und
Philosoph René Descartes (1596–1650) erstmals ein Modell der neuralen Über-
tragung von Schmerzinformationen. Nach seiner Darstellung entsteht der
Schmerz im Gehirn im Pinealorgan. Für Descartes war Schmerz ein rein körper-
18 G. Bernatzky und R. Likar
lich bezogenes Phänomen. Ein anderer Ansatz stammte von Spinoza (1632–
1677), der einer Trennung zwischen Körper und Seele widersprach und beide als
verschiedene Anteile der gleichen Substanz betrachtete. Er hielt physiologische
und psychische Aktivitäten für verschiedene Anteile von Schmerz. Eine dritte
Auffassung vertrat Leibnitz (1646–1716), indem er das dualistische Konzept ak-
zeptierte und Körper und Seele als vollständig voneinander unabhängig sah.
wickelte Muellers Theorie 1895 weiter und ging vom Vorhandensein spezifischer
Rezeptor-Typen aus, von denen die Schmerzimpulse über spezifische Nerven-
bahnen zu einem speziellen Schmerzzentrum im Gehirn gelangten. Fast zur
gleichen Zeit (1894) legte Goldscheider ein abweichendes Schmerzkonzept vor,
das davon ausging, dass Schmerz dann wahrgenommen wird, wenn die Summe
der im Hinterhorn des Rückenmarks einlaufenden peripheren Reize eine be-
stimmte Schwelle überschreitet.
Erst viele Jahre später (1943) postulierte Livingstone in der von ihm ent-
wickelten „zentralen Summationstheorie“, dass die nozizeptiven Impulse zu
einer Selbsterregung zentraler Neuronenketten führen und dass dabei auch psy-
chische Inhalte einbezogen werden.
Nun erhielten psychische Aspekte von Schmerz immer mehr Bedeutung. Leriche
zeigte 1949, dass körperlicher Schmerz nicht nur das Ergebnis einlaufender neu-
ronaler Impulse sei, sondern auch ein „Resultat im Konflikt zwischen Stimulus
und Individuum darstelle“. Schulte formulierte es 1955 dann so: „Schmerz ist
nicht nur Empfindung, sondern auch Gefühl, beides gleichzeitig in einem unzer-
trennlichen Akt passiver Hinnahme und aktiver Gestaltung.“ Fundamentale
Studien zum Thema Schmerz führten Wall und Melzack in den 1960er und
1970er Jahren durch. Sie zeigten mit ihrem „Gate-control-System“, dass sowohl
über externe wie auch interne Stimuli eine körpereigene Schmerzhemmung ak-
tiviert werden kann. Symbolisch gesprochen heißt das, dass sich auf Rücken-
marksebene eine Schranke schließt, die keine weiteren Schmerzreize ins Gehirn
gelangen lässt.
Die erste Hälfte des 20. Jahrhundert brachte Heere von Kriegsverletzten und
damit Schmerzbetroffene. Es brachte auch mehr und ganz neue Forschungen
zum Thema Schmerz. Jetzt wurde erstmals die Frage gestellt, ob die Schmerz-
empfindlichkeit der Menschen gegenüber früheren Zeiten zugenommen habe.
Wenn ja, so könnte die fortschreitende Zivilisation ein Grund dafür sein. Weiters
wird nun die Einführung der Narkose als mögliche Ursache für steigende
Schmerzempfindlichkeit gesehen. Dazu kommt, dass Schmerz nunmehr von den
Menschen mehrheitlich als eine – behandelbare – Krankheit gesehen wird. Tat-
sächlich verfügt die Medizin heute über wesentlich verbesserte Möglichkeiten
der Schmerztherapie. Damit entstand auch der Anspruch der Betroffenen, durch
eine entsprechende Therapie von ihren Schmerzen befreit zu werden.
Schmerz wird nicht mehr nur als Symptom einer Krankheit angesehen, son-
dern hat heute selbständigen Krankheitswert. Schätzungen dazu, wie groß der
Anteil von Schmerzbetroffenen in der Bevölkerung eines Landes ist, differieren
stark. Oft hängen sie auch vom politischen und vom religiösen Hintergrund ab.
20 G. Bernatzky und R. Likar
Wir gehen heute davon aus, dass mehr als ein Viertel der Bevölkerung in westli-
chen Industrieländern unter chronischen Schmerzen leidet. Allein in Deutsch-
land gibt es schätzungsweise rund 600.000 SchmerzpatientInnen, bei denen kei-
ne Therapie mehr greift. In Österreich nimmt man nach wie vor an, dass ca.
200.000 chronische Schmerzpatienten schlecht versorgt sind.
Laut internationalen Studien leiden PatientInnen mit chronischen Schmerzen
durchschnittlich 11,5 Jahre und konsultieren zwischen zehn und elf Ärzte, bevor
sie eine adäquate Behandlung erhalten. Jährlich werden wegen schwerer chroni-
scher Schmerzen weltweit schätzungsweise zwei- bis dreitausend Selbsttötun-
gen verübt. Die Dunkelziffer ist nicht bekannt.
Heute besteht die allgemeine Meinung, dass Schmerz weit mehr ist als der kör-
perliche Vorgang der Nozizeption. Vielmehr ist Schmerz ein Ereignis, das den
ganzen Menschen und auch seine Umgebung beeinflusst. Schmerz verursacht –
in klinisch bedeutsamer Weise – Leiden auf physischer, emotionaler, kognitiver
und sozialer Ebene. Schmerz ist damit ein bio-psycho-soziales Phänomen.
Schmerz verändert Bewusstsein und Verhalten eines Menschen und ist ein
wichtiges Kommunikationsmittel nach Innen und nach Außen. Aus all diesen
Gründen sollten daher – zumindest chronische – Schmerzen multimodal bzw.
interdisziplinär, also von allen Beteiligten gemeinsam behandelt werden. Das
bedeutet: Schmerzforscher ebenso wie Ärzte, Pflegekräfte, Psychologen, Thera-
peuten, Gesellschaft, Medien und auch die SchmerzpatientInnen selbst sind auf-
gerufen, dabei zusammenzuwirken.
Literatur
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Revision
Einleitung
Schmerzen sind Teil unseres Lebens. Sie sind ein wichtiges biologisches Warnzei-
chen. Per definitionem stellen Schmerzen unangenehme Empfindungen und
emotionale Erfahrungen, die mit tatsächlichen oder möglichen Gewebsschäden
assoziiert sind oder durch solche beschrieben werden, dar.
Schmerzen können nach dem Entstehungsort eingeteilt werden, z. B. in
Bauchschmerzen, Beinschmerzen, Brustschmerzen; nach der Entstehungsursa-
che, z. B. in Tumorschmerzen, postoperative Schmerzen; nach der Zeitdauer, z. B.
in akute Schmerzen (Operationsschmerzen), chronische Schmerzen (Tumor-
schmerzen, Rückenschmerzen); nach pathogenetischen Kriterien, z. B. in Nozi-
zeptorschmerzen, neuropathische Schmerzen oder psychogene Schmerzen. Da-
bei können die Nozizeptorschmerzen wieder unterteilt werden in somatische
(oberflächliche und tiefe) und in viszerale (Eingeweide) Schmerzen. Bei den
neuropathischen Schmerzen, zu denen etwa Phantomschmerzen zählen, werden
Schmerzen der peripheren Nerven, des Zentralnervensystems und der Nerven-
wurzel unterschieden. Schmerzen im Bewegungsapparat zählen zu den häu-
figsten Schmerzformen überhaupt. Gerade die Klassifikation von Schmerzen
nach Ort, Ursache und Stärke gibt wichtige Auskunft für die Auswahl der Medi-
kamente (Schmidt 1991).
Schmerzreizleitung im Rückenmark
Erst wenn die Schmerzreizsignale zum Gehirn gelangen und dort weiterverar-
beitet werden, setzt das Schmerzempfinden ein: Die Fortsetzung der neuronalen
Schmerzreizleitung erfolgt über den vorderen aufsteigenden Vorderseitenstrang
(Tractus spinothalamicus) in verschiedene Hirnzentren, wie Stammhirn, Zwi-
schenhirn und Großhirn (s. Abb. 1). In der Großhirnrinde wird der Schmerz be-
wusst im limbischen System emotional bewertet:
Motorisch-vegetative Dimension:
Rückenmark, Hirnstamm: Muskuläre und hormonelle Aktivitäten finden hier
statt.
Sensorisch-diskriminative Schmerzverarbeitung:
Das laterale thalamokortikale System
Kortikale Bereiche: primärer somatosensorischer Kortex (SI), sekundärer so-
matosensorischer Kortex (SII), Insula. Subkortikale Bereiche: Thalamus, Ba-
salganglien, Zerebellum, periaquäduktales Grau (PAG). Die verschiedenen
Gegenirritationsverfahren greifen in diesen Regionen an.
Kognitive Schmerzverarbeitung: Präfrontaler Kortex (PFC) und die
supplementär motorische Area (SMA). Der präfrontale Kortex hat in der Re-
gulation der Hemmung von Schmerzen und negativen Gefühlen eine Bedeu-
tung und reguliert z. B. den anterioren zingulären Kortex (ACC): Ablenkung,
Steigerung der Kontroll- und Kompetenzerwartung
Affektiv-motivationale Schmerzverarbeitung:
Limbisches System: anteriorer zingulärer Kortex (ACC), Insula und Amyg-
dala.
Wie Schmerzen entstehen: Schmerzphysiologie 25
Abb. 1.
Thalamus-Verbindungen
Schmerzes. Die Schmerzreizleitung in das limbische System kann als Basis für
die unmittelbare Wirkung von Schmerzen auf das allgemeine Befinden betrach-
tet werden. Das limbische System kann die subjektive Wahrnehmung inhibieren
oder verstärken. Zum Hippocampus verläuft eine weitere Verbindung. Dieser
spielt eine zentrale Rolle für die Verarbeitung von Erinnerungen.
Abb. 2.
Es liegen deutliche Beweise vor, dass auch schwere Schicksalsschläge, wie der
Tod eines nahestehenden Menschen, die Einsamkeit bei Liebeskummer oder auch
„nur“ das Zurückgewiesenwerden, zu deutlichen Veränderungen im Schmerz-
system führen: Dabei reagieren viele jener Hirnregionen, die auf physische
Schmerzen reagieren, ebenso mit einer erhöhten Aktivität bei stärkeren und in-
tensiveren Trauererlebnissen. Dieses Geschehen hat natürlich eine hohe Stress-
belasung für den Körper zur Folge! Zum Beispiel erhöht die in dieses Geschehen
involvierte Region anteriorer zingulärer Kortex (ACC) den Herzschlag.
Wie Schmerzen entstehen: Schmerzphysiologie 27
wieder auftreten können. Beispiele für solche Auslöser können sein: ein be-
stimmtes Geräusch, ein Bild, ein Geruch oder ein spezieller Geschmack auf der
Zunge. Der charakteristische Geruch im Krankenhaus, wo ein Kind eine
schmerzhafte Behandlung über sich ergehen lassen musste, ist ein konkretes Bei-
spiel dafür. Übrigens wird heute in verschiedenen Arbeiten aus der Psychopatho-
logie über die Entstehung psychiatrischer Krankheiten infolge frühkindlicher
Schmerzerlebnisse berichtet (Holden 1977). Bei Früh- und Neugeborenen sind
am Beginn das nozizeptive und das nichtnozizeptive System im Rückenmark
noch nicht streng voneinander getrennt. Erst durch die spätere Ausdifferenzie-
rung des exzitatorischen und inhibitorischen Neurotransmittersystems entwi-
ckelt sich das fertige, funktionsfähige nozizeptive System. So können Sensibili-
sierungsmechanismen bereits durch niederschwellige Reize ausgelöst werden.
Schon ein scheinbar harmloser Schmerz kann das System für lange Zeit beein-
flussen. Um so mehr gilt das beispielsweise, wenn bei Neugeborenen eine
Zirkumzision (Vorhautbeschneidung) ohne ausreichende Schmerzbehandlung
durchgeführt wird. In diesem Fall ist bei den betroffenen Kindern noch Monate
und wohl auch Jahre später eine generell erniedrigte Schmerzschwelle feststell-
bar (Benrath und Sandkühler 2000).
Aus all dem folgt: Um diese Rückkopplungsprozesse zu vermeiden, soll-
ten Schmerzen immer rasch behandelt werden. Schmerzvorsorge und -ver-
meidung ist für Menschen aller Altersgruppen wichtig. Das gilt besonders
auch für jene, die ihr Schmerzempfinden noch nicht oder auch nicht mehr kom-
munizieren können. Dazu zählen Früh- und Neugeborene aber auch hoch be-
tagte Menschen ebenso wie Demenzkranke und Menschen mit bestimmten Be-
hinderungen.
Ein wesentlicher Punkt ist, dass bei jeder Schmerzbehandlung nicht nur die
Pharmakokinetik und Pharmakodynamik bzw. die pharmakonabhängige Tole-
ranz berücksichtigt werden sollte, sondern dass auch die Erkenntnisse zur neu-
ronalen Plastizität sowie zu den beim Schmerzgeschehen ablaufenden moleku-
laren Vorgängen mit einbezogen werden müssen.
Die oben beschriebene Gedächtnisbildung kann prophylaktisch verhindert
werden durch Vermeidung von Schmerzreizen (!) bzw. durch Medikamente wie
z. B. Ketamin oder Memantine. Wichtig ist, dass gerade bei Operationen auf eine
derartige Vermeidung Rücksicht genommen wird. Allein durch eine tiefe Allge-
meinnarkose sind die gen. Gedächtnisbildungen nicht verhinderbar. Immer noch
leiden bis zu 70 % der PatientInnen aller Altersgruppen nach Operationen unter
starken Schmerzen. Demgegenüber haben zahlreiche Studien gezeigt, dass die
Gabe eines geeigneten Analgetikums bereits vor der Operation zu geringeren
Schmerzen führt als die Gabe des gleichen Analgetikums postoperativ. So etwa
kann durch eine prophylaktische Behandlung mit Morphin die Produktion eini-
ger Transkriptionsfaktoren, die an der Schmerzentstehung beteiligt sind, vermin-
dert werden (Negre et al. 1993). Doch es gibt auch andere wirksame Methoden,
die der Entstehung von Schmerzen vorbeugen und bereits vor einer Operation
eingesetzt werden können. So helfen beispielsweise psychologische und spiritu-
elle Betreuung, Entspannungstechniken oder rezeptive Musiktherapie dabei, die
Schmerzen während der Operation und nachher zu reduzieren (Bernatzky et al.
2007). Einfühlsame Pflegemaßnahmen sind hier besonders wichtig und
hervorzuheben! Gerade Zuwendung hat eine hohe Bedeutung! Mit diesen
verschiedenen Methoden kann die Produktion von Stresshormonen (z. B. Beta-
Endorphin, Noradrenalin, Adrenalin, Glukagon, Aldosteron und Kortisol) zu-
mindestens reduziert werden. Stresshormone werden beim Auftreten von
Schmerzen vermehrt produziert und beeinflussen sowohl die Operation als auch
den Genesungsprozess danach negativ. Es ist heute eine gesicherte Erkenntnis,
dass während der Operation – trotz einer Narkose, die das Bewusstsein aus-
30 G. Bernatzky und R. Likar
Geschlechtsspezifische Unterschiede
Aus epidemiologischen Studien weiss man, dass die Verbreitung von Schmerzen
deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede hat (Greenspan et al. 2007). Eine
Reihe von Schmerzen sind nur bei Frauen zu finden: Geburtsschmerzen (mehr
als 95 %), postpartale Schmerzsyndrome (bis zu 75 %), Regelschmerzen (40 bis
90 %), gynäkologisch bedingte Unterbauchschmerzen oder chronische Schmer-
zen im Bereich der Vulva. Auch bei scheinbar geschlechtsneutralen Schmerzen
liegen deutliche Unterschiede vor: Reizdarmsyndrom (4 : 1); Trigeminusneuralgie
(2:1); Fibromyalgie (4 : 1 bis 7 : 1); Migräne (2,5 : 1); Spannungskopfschmerz
Wie Schmerzen entstehen: Schmerzphysiologie 31
(1,5 : 1); rheumatoide Arthritis (1,5 : 1); chronischer Rückenschmerz (1,5 : 1). Im
Vergleich zu Männern leiden Frauen öfter an mehreren dieser Schmerzzustände
gleichzeitig. Aus vielen neuen Studien ist bekannt, dass Frauen Schmerzen um
ca. 30 % intensiver empfinden und verarbeiten: Häufig dauern die Schmerzen
auch länger an. Frauen sind Schmerzen gegenüber viel sensibler. Frauen suchen
früher medizinische Hilfe auf. Die Schmerzschwelle ist je nach Noxe u. U. niedri-
ger. Frauen nehmen Schmerzen anderer Menschen eher wahr als Männer. Män-
ner sind weniger bereit, über Schmerzen zu berichten. Frauen assoziieren
Schmerzen mit weniger negativen Emotionen und zeigen ein besseres Coping-
verhalten als Männer. Es ist auch bekannt, dass es geschlechtsspezifische Unter-
schiede in der Wirksamkeit und dem Dosierungsbedarf bei Schmerzmitteln gibt:
Hingegen sind psychologische Interventionen wie Ablenkung bei Männern er-
folgreicher als bei Frauen.
Die Unterschiede sind auf psychologische, sozio-kulturelle und gewiss auch
auf biologische Aspekte, wie z. B. genetische, anatomische sowie pharmakokine-
tische und pharmakodynamische Faktoren zurückzuführen. Auch die Mehrfach-
belastung, unter der die Frauen vermehrt stehen, wirkt sich bei der Entstehung
von Schmerzen und auf die Inanspruchnahme von Rehabilitationsmaßnahmen
erhöht aus.
Schmerzen im Alter
An ständig vorhandenen oder wiederkehrenden Schmerzen leiden 25 bis 50 %
aller älteren Menschen (Drechsel und Gerbershagen 1998). Nach Gagliese und
Melzack haben sogar 60 bis 80 % der befragten 60- bis 89-Jährigen chronische
Schmerzen (Gagliese und Melzack 1997). Eine andere Studie belegt, dass acht
32 G. Bernatzky und R. Likar
qualität verbessert wird und die körperliche Leistungsfähigkeit erhöht wird. Be-
sonders jene therapeutischen Verfahren, die ihr Schwergewicht auf eine umfas-
sende Gesundheitsschulung legen, können hier hilfreich sein. Zu nennen wäre
das Kneipp-Therapiesystem ebenso wie die Traditionelle Chinesische Medizin
sowie Qigong und die AMNO-Selbstmassage. Auch verschiedene physio-, psy-
cho- und musiktherapeutische Verfahren und Entspannungstechniken können
nicht nur zur Behandlung von bereits vorhandenen Schmerzen, sondern auch
prophylaktisch eingesetzt werden. Eine wirksame Vorbeugung gegen Schmerz
und Leid sind nicht zuletzt Mitmenschlichkeit, Zuwendung, Humor und Glaube!
Literatur
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Revision
Einleitung
Menschen, die aufgrund von Schmerzen einen Arzt aufsuchen, erwarten von
diesem auch, dass er die Ursache ihrer Schmerzen findet. Die Alltagserfahrung
legt uns nämlich die Vermutung nahe, dass Schmerz ein rein körperliches Prob-
lem sei. Dass dem aber nicht so ist, wissen wir heute. Schmerz ist ein subjektives,
komplexes und mehrdimensionales Phänomen, dessen Erfassung nicht wirklich
objektiv geschehen kann. Jeder Patient ist gleichsam sein eigener Zeuge; es ist
aber absolut notwendig, so viel wie möglich vom Schmerz zu verstehen, um ihn
auch richtig behandeln zu können. Eine Fremdbeurteilung von Schmerzen ist
schwierig und setzt sehr viel an Erfahrung voraus. Meistens ist sie unzureichend
und unterschätzt die tatsächlichen Schmerzen des betroffenen Menschen. Gera-
de durch diese Fehlermöglichkeit kommt der subjektiven Schmerzbeurteilung
des Patienten selbst eine große Bedeutung zu.
Es gibt verschiedene Wege, sich dem Problem der Schmerzmessung zu nä-
hern. Eine Betrachtungsweise bezieht die Merkmale und die Konsequenzen des
Schmerzes mit ein und erfasst:
die Quantität (Intensität) des Schmerzes
die Lokalisierung des Schmerzes
die Qualität des Schmerzes
die Konsequenzen für verschiedene Lebensbereiche:
o psychische Belastungen durch Schmerzen (Ängste und Depressivität)
o Symptome mit möglichem psychophysiologischem Hintergrund
o gesundheits- und krankheitsbezogene Einstellungen des Patienten
o Bewältigungsstrategien bei Schmerz und bei Stress
o Verhalten in Schmerzsituationen (vgl. Flor 2003).
Eine andere Annäherung an die Erfassung von Schmerzsyndromen basiert
auf den Ergebnissen und Erkenntnissen der Verhaltensmedizin, einer jungen und
38 W. Pipam et al.
Definition
Klinische Untersuchungen:
Welcher Mechanismus liegt dem Schmerz zugrunde – nozizeptiv, neurogen
oder psychogen?
Funktionelle Einschätzung
Einschätzung des Verhaltens und der Beeinträchtigung inklusive der Lebens-
qualität
Messmethoden
Es wurden in den letzten Jahren viele Messmethoden entwickelt. Im Folgenden
wird auf die im klinischen Alltag gängigen Methoden eingegangen. Auf Metho-
den zur experimentellen Schmerzmessung wird weitestgehend verzichtet. Die
Einteilung der klinischen Methoden erfolgt in zwei große Blöcke, nämlich in ein-
dimensionale und mehrdimensionale Methoden. Im Schmerzfragebogen soll der
Patient seine Schmerzen beschreiben, einzeichnen, lokalisieren und auch seine
bisherigen Behandlungen und Therapieverfahren dokumentieren.
Eindimensionale Methoden
Messskalen werden dann als eindimensional bezeichnet, wenn sie nur einen
Aspekt erfassen, nämlich die vom Patienten angegebene Schmerzstärke.
Die am häufigsten im klinischen Alltag verwendeten Methoden (s. Abb. 1)
sind die Visuelle Analog-Skala (VAS), die Verbale Rating-Skala (VRS) und die
Numerische Rating-Skala (NRS). Gerade bei Tumorerkrankten im Terminalstadi-
um und unter analgetischer Medikation ist zu beachten, dass die Abstraktionsfä-
higkeit herabgesetzt sein kann. Auch körperliche Schwächen bei Patienten mit
fortgeschrittenen Tumorleiden, z. B. Sehstörungen oder Tremor, können die In-
tensitätsangaben verfälschen.
kein unerträglicher
Schmerz Schmerz
Rückseite:
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
kein unerträglicher
Schmerz Schmerz
stärkster
kein mäßig mittelstark stark
vorstellbarer
Mehrdimensionale Methoden
Diese Skalen zielen darauf ab, komplexere Verarbeitungsmuster auf der subjek-
tiv-verbalen Ebene zu erheben und bestimmte Erwartungen, Überzeugungen
und Einstellungen zum Schmerz zu erfassen. Den Patienten werden Fragebögen
mit Adjektiven vorgelegt, die spontan beschrieben werden sollen, um unter-
schiedliche Schmerzdimensionen herauszuarbeiten. Diese Methoden sind zeit-
lich langwierig, schwierig auszufüllen und überfordern häufig die Patienten.
Schmerzmessung und Dokumentation 41
Schmerzfragebögen
Vor Behandlungsbeginn werden den Patienten standardisierte Schmerzfragebö-
gen zugeschickt, um eine gute Übersicht über die Krankheitsgeschichte, den
Schmerzzustand und die Konsequenzen des Schmerzes zu erhalten.
Beispiel: Strukturiertes Schmerzinterview der Deutschen Gesellschaft zum
Studium des Schmerzes (DGSS-Fragebogen)
Schmerztagebücher
Das Führen eines Schmerztagebuches kann vor allem zu Beginn einer Therapie
sowohl für den Patienten, dessen Familie als auch den Arzt ein gutes Hilfsmittel
sein:
Tagebücher als Mittel der Diagnostik setzen bei einer möglichst ereignis- und
erlebnisnahen Schmerzerhebung an und sind sowohl diagnostisch als auch für
die Therapieevaluation interessant. Der Patient wird in die Handhabung des Ta-
gebuches eingewiesen und im Allgemeinen werden entweder stündlich, mehr-
mals am Tag oder beim Auftreten von Schmerzen die Schmerzintensität, die
Schmerzqualität und die Schmerzdauer sowie Art und Umfang der Beeinträchti-
gung erhoben. Aktivitäten, Medikamenteneinnahme, Stimmung, belastende Er-
eignisse können ebenfalls dokumentiert werden und liefern einen umfassenden
Beitrag zur Erfassung des Schmerzgeschehens und seiner Konsequenzen.
Schmerztagebücher sollten in einem für den Patienten überschaubaren Zeitraum
ausgefüllt werden. Die Frequenz sollte sachlich begründet sein, weil dadurch die
Compliance verbessert wird und möglicherweise bereits vorhandene hypo-
chondrische Tendenzen bzw. unangemessenes Gesundheitsverhalten weniger
verstärkt werden (O. B. Scholz 1995). Dem Patienten muss verstehbar erklärt
werden können, warum und wie ihm das Ausfüllen des Schmerztagebuches zu-
42 W. Pipam et al.
gemutet wird. Aus der Praxis ergibt sich aber die Erkenntnis, dass mitunter bis zu
zwei Wochen Beobachtungszeitraum reicht, da sonst die Compliance der Patien-
ten deutlich nachlässt. Als Beispiel eines Schmerztagebuches wird jenes von Ber-
natzky und Likar (2007) angeführt.
Psychophysiologische Methoden
Mittels psychophysiologischer Untersuchungsmethoden (Biofeedback) können
zweierlei Fragestellungen beantwortet werden: Zum einen kann die individuelle
Stressreaktion, die durch den Schmerz beim Patienten ausgelöst wird, sichtbar
gemacht werden. Es werden beim Patienten physiologische Parameter wie
elektrodermale Aktivität, Pulsfrequenz, Atemfrequenz, Hauttemperatur, Muskel-
spannung gemessen und sichtbar gemacht, der Patient erhält eine sofortige
Rückmeldung seines momentanen psychophysiologischen Zustandes.
Zum zweiten liegt die Überlegung zugrunde, dass für die Entstehung und
Aufrechterhaltung von Schmerzen ein intraindividuelles Reaktionsmuster eine
Rolle spielen kann, z. B., dass Patienten auf alle unspezifisch anfallenden Stresssi-
tuationen mit einer Erhöhung des Muskeltonus reagieren. Diese Reaktionsmus-
ter können ebenfalls den Patienten im Rahmen eines biopsychosozialen Modells
vermittelt werden (näheres dazu siehe Kapitel „Biofeedback“ in diesem Buch).
WHO-QOL
Der WHO-QOL 100 von Angermaier, Killian und Matschinger (2002) ist ein
Instrument zur Erfassung der subjektiven Lebensqualität.
44 W. Pipam et al.
Zusammenfassung
einen Überblick darüber geben, was derzeit in der Diagnostik des Schmerzes
möglich ist. Die vielfältigen Möglichkeiten sollen auch nicht zu einer Überforde-
rung der Patienten führen. Jede schmerztherapeutische Einrichtung soll eine
mehrdimensionale Diagnostik verwenden, denn zu einer guten und adäquaten
Schmerztherapie gehört eben auch eine gute Schmerzdiagnostik. Pflegepersonen
sollen vermehrt in die Handhabung der verschiedenen Messmethoden einge-
bunden werden. Ihnen obliegt es sehr oft mit dem Patienten über dessen
Schmerzen zu kommunizieren.
Literatur
Basler HD, et al (Hrsg) (2003) Psychologische Schmerztherapie: Grundlagen, Diagnostik,
Krankheitsbilder, Behandlung, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
Bernatzky G, Likar R (2007) Schmerztagebuch, 2. Aufl. Clara Lumina, Salzburg
Ehlert U (2003) Was ist eigentlich Verhaltensmedizin? In: Ehlert U (Hsg) Verhaltensmedizin.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
Flor H (2003) Chronische Schmerzsyndrome. In: Ehlert U (Hrsg) Verhaltensmedizin. Springer,
Berlin Heidelberg New York Tokyo
Testzentrale Göttingen (2006) Testkatalog 2006/2007 der Testzentrale Göttingen. Hogrefe, Göt-
tingen
Scholz OB (1995) Was leisten Schmerztagebücher? Schmerz 9: 107–116
Links
Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes: http://www.dgss.org/
Weitere Literaturzitate: Bei den Autoren
Revision
Das Wort „Placebo“ wurde zum ersten Mal 1340 von Geoffrey Chaucer in
Anspielung auf den Psalm 116,9 spöttisch benutzt, dessen erste Zeile „Placebo
Domino in regione vivorum“ („Ich werde dem Herrn gefallen im Lande der Le-
benden“) lautet und der von Priestern und Mönchen mit Eifer und gegen Entgelt
für den Toten gesungen wurde (Moore et al. 2003). Zunächst wurde der Begriff
als in „das Placebo singen“ benutzt, um auszudrücken, dass jemandem nach
dem Mund geredet wird. Das lateinische Wort „placebo“ bedeutet „ich werde
gefallen“. Bereits im 17. Jahrhundert hatten Mediziner in England „inaktive“
Medikamente als Placebo bezeichnet. Als Medikament ohne Wirkstoff, aber mit
großer Wirkung machte das Placebo in den letzten Jahrzehnten eine besondere
Karriere. In der modernen Medizin werden Placebos unter anderem erfolgreich
bei der klinischen Prüfung von Medikamenten eingesetzt. Dabei wird ein be-
stimmtes Arzneimittel und ein ihm nachgebildetes Scheinmedikament ohne
dessen entscheidende Wirkstoffe in ihrer Wirkungsweise verglichen. Auf diese
Weise sollen die pharmakodynamischen Effekte des „echten“ Arzneimittels von
seinen immer auch vorhandenen unspezifisch-therapiefördernden Wirkungen
getrennt werden. Das Konzept über das Placebo hat sich in den letzten zehn Jah-
ren deutlich geändert: Die Wirksamkeit der Placebos konnte in vielen Studien
und in einer Vielzahl von Metaanalysen mit hohen Effektstärken belegt werden.
Die Wissenschaftler versuchten verstärkt, die Wirkungen der Psyche auf den
Körper zu erkunden. Nach neuen Erkenntnissen beruhen die nachgewiesenen
Heilwirkungen von Placebos auf den Erwartungen und Wünschen, der Kondi-
tionierung und dem Glauben der PatientInnen. „The placebo response is the
fulfillment of an expectation.“ („Der Placeboeffekt ist die Erfüllung der Erwar-
tung.“), sagte schon der große Schmerzforscher Wall im Jahre 1999.
Placebos haben heute eine Bedeutung in vielen Bereichen: Sie beeinflussen
das Gehirn in verschiedenen pathologischen Zuständen wie Schmerz, Parkinson
48 R. Likar und G. Bernatzky
und Depression. Sie haben aber auch Wirkungen auf verschiedene andere
Systeme wie das Immun- bzw. das endokrine System.
Gleichzeitig haben die neuen Untersuchungen zahlreiche Fehlmeinungen
zum Placeboeffekt aufgedeckt:
Man war bisher der Meinung, nur eine bestimmte Prozentanzahl (ca. ein
Drittel) von PatientInnen würde bei gewissen Interventionen auf Placebo rea-
gieren. Nun zeigten verschiedene Studien, dass der Anteil von Placeboreak-
tionen stark differiert (s. Tabelle 1).
Falsifiziert werden konnte die Meinung, dass der Placeboeffekt desto größer
ist, je größer der Effekt der Behandlung ist. In verschiedenen Studien wurde
vielmehr bewiesen, dass es keinen fixen Anteil von Placeboresponse gibt.
Wirkung ohne Wirkstoff – der Placebo/Noceboeffekt 49
Es stimmt nicht, dass der Anteil von Placeboantworten umso höher ist, je
invasiver die Methode der Behandlung ist. Wissenschaftliche Studien zeigen,
dass die Placebowirkung von Medikamenten keineswegs höher ist, wenn sie
intramuskulär gespritzt werden, als wenn sie als Tabletten oder in Form von
Nasenspray verabreicht werden (s. Tabellen 2 und 3).
Tabelle 2. Responserate von Placebos bei akutem postoperativem Schmerz bei oraler und
intramuskulärer Verabreichung der Placebos
Tabelle 3. Responserate von Placebo bei akuter Migräne bei oraler Verabreichung und sol-
cher mittels Injektion der Placebos
Neue Forschungen
kombiniert mit der Vermutung, dass es ein Schmerzkiller ist (verbaler Kontext)
den Schmerz durch einen Opioid- und Nicht-Opioidmechanismus reduziert.
Der Opioidmechanismus (endogene Endorphinfreisetzung) kann durch Naloxon
blockiert werden, der Nicht-Opioidmechanismus (Erwartungshaltung) kann
nicht durch Naloxon blockiert werden (Colloca und Benedetti 2005).
Abb. 1. Übersicht der Wirkung von Placebo und Nocebo auf das Schmerzsystem. Ersicht-
lich sind die jeweiligen Wege, in denen es zu biochemischen Reaktionen kommt. (Ent-
nommen aus: IASP Pain Clinical Updates 2007)
Der Noceboeffekt
Der Noceboeffekt ist die Umkehr des Placeboeffekts, wobei die Erwartung eines
negativen Ereignisses zu einer Verschlechterung eines Symptoms führen kann (s.
Abb. 1). Dabei können allein schon negative begriffliche Vorstellungen (Wörter)
Angst über die Zunahme von Schmerzen auslösen (Benedetti et al. 2004; 2007).
Das beeinflusst wiederum die Aktivierung von Cholezystokinin (CCK), die er-
neut die Schmerzübertragung verstärkt. CCK-Antagonisten (z. B. Proglumid)
hingegen blockieren diese durch Angst ausgelöste Hyperalgesie. Damit hebt
CCK die Wirkung der endogenen Opioide auf und antagonisiert die Placebo-
analgesie. Dieser Botenstoff wird bei Angst in der Darmschleimhaut gebildet und
löst im Gehirn eine Schmerzreaktion aus. CCK kann auch – falls Patienten zu
große Ängste bzw. Erwartungshaltungen haben – für die gehäuften Nebenwir-
kungen bei der Einnahme von Medikamenten verantwortlich sein. Wird z. B. bei
Patienten, die nach einer Operation anfälliger für Angst sind, der Wirkstoff
Proglumid verabreicht, so ist Angst und Panikreaktion deutlich reduziert.
Proglumid blockiert die Wirkung von CCK, ist aber gleichzeitig kein Schmerzkil-
ler. CCK hat nicht nur auf die Bewegungen des Darms eine Bedeutung, sondern
steuert auch Angst und Panikreaktionen, was letztlich eine Schmerzreaktion zur
Folge hat. Während die Hyperalgesie ausgelöst wird, kommt es zu einer Steige-
rung der Stresshormone ACTH und Kortisol. Der Noceboeffekt kann in der
Praxis beobachtet werden, wenn negative Diagnosen gestellt werden: Hier kann
es dazu führen, dass auf Grund der negativen Erwartungshaltung die vermuteten
Symptome noch mehr verstärkt werden. Damit ist die Behandlung beeinträch-
tigt. Negative Gesundheitswarnungen von Massenmedien im Westen bzw.
Wirkung ohne Wirkstoff – der Placebo/Noceboeffekt 53
„Black magic“ wie „Voodoo magic“ in anderen Gesellschaften haben in der Wir-
kung von verschiedenen Therapien eine entscheidende große Rolle und können
zur Verschlechterung des Zustandes führen!
In der Praxis kann sowohl der Placeboeffekt als auch der Noceboeffekt regelmä-
ßig beobachtet werden: Auch wenn viele Details zum Placeboeffekt immer noch
im Dunkeln liegen, sollten einige Erkenntnisse dazu bereits jetzt Eingang in die
Praxis finden. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass mit Hilfe der Placeboanal-
gesie in bestimmten Fällen die Gabe von Schmerzmitteln deutlich reduziert wer-
den könnte. Damit ist es auch möglich, die negativen Nebenwirkungen dieser
Medikamente zu verringern.
Manche neuen Erkenntnisse zum Placeboeffekt lassen sich aber jetzt schon
nützen. Die Wirksamkeit von „echten“ Schmerzmitteln kann nämlich durch be-
wusstes Hervorrufen des Placeboeffektes noch gesteigert werden. Der auf diese
Weise optimierte Therapieeffekt beinhaltet den „Nettoeffekt“ des Medikaments
plus der Placeboantwort. Wie bereits festgestellt, spielt – nicht nur – für die Pla-
cebowirkung die durch den Arzt beim Patienten geweckte positive Erwartungs-
haltung eine große Rolle. Voraussetzung einer jeden guten Therapie ist demnach,
dass der Arzt mit den PatientInnen ein Vertrauensverhältnis aufbaut und über
reelle Heilungschancen spricht. Die hohe Bedeutung der Zuwendung durch die
Pflegepersonen sei in diesem Zusammenhang erwähnt! Zuwendung kann
Stressreaktionen des Körpers senken. Auch dadurch werden die Selbstheilungs-
kräfte des Körpers angeregt. Die nachfolgenden Therapiemaßnahmen wirken
besser.
Die Placeboantwort ist nicht limitiert auf das Gebiet der Schmerzlinderung.
Sie ist ebenso unter anderen Bedingungen anwesend. Placeboinduzierte Erwar-
tungen zur Verbesserung der Motorik bei Patienten mit Parkinson haben gezeigt,
dass sie das endogene Dopaminsystem im Striatum aktivieren und Übungsmus-
ter der Neurone im subthalamischen Kern verändern. Es wurde angenommen,
dass placeboinduziertes Freisetzen von Dopaminen den Belohnungseffekt ver-
stärkt (Colloca et al. 2005). Es ist wichtig, die Interaktion zwischen dopaminergen
und Opioidsystemen zu erkennen. Endogene Opioidpeptide sind auch in den
Belohnungsmechanismus involviert. Der reduzierende Placeboeffekt durch ver-
steckte Behandlungen (der Patient sieht nicht, welches Medikament verabreicht
wird) scheint nicht nur die Schmerzlinderung zu reduzieren, sondern auch den
Erfolg bei anderen Behandlungsmethoden, wie z. B. bei der oben erwähnten Par-
kinsonerkrankung, zu reduzieren (Benedetti et al. 2004). Um im klinischen Alltag
den Placeboeffekt besser zu verstehen, müssen wir eine neue klinische Suche
entwickeln, neue therapeutische Protokolle erstellen, um die Verbindung Medi-
kamente – Placebos zu erforschen mit dem Ziel, dass damit die Einnahme von
toxischen Medikamenten und damit auch die Nebenwirkungen reduziert werden
(Gracely et al. 1985).
54 R. Likar und G. Bernatzky
Gleichzeitig ist es notwendig, den Impact der Placeboforschung auf die Ge-
sellschaft auszuweiten und die positiven und negativen Aspekte zu erforschen
(Davis 2002). Wir können und müssen die neuen Erkenntnisse des Placeboeffek-
tes, welcher durch die Erwartung, die Konditionierung, die Wünsche und den
Glauben des Patienten bestimmt ist, für die Therapie nutzen. Der optimierte
Therapieeffekt ist der Nettoeffekt des Medikaments plus dem Placeboeffekt
(Fields und Price 1997). Für den Placeboeffekt spielt neben dem endogenen
Opioidsystem auch die Erwartungshaltung eine große Rolle. Aus diesem Grund
ist Voraussetzung einer guten Therapie, dass zwischen Patient und Arzt die Er-
wartungshaltung (reelle Therapieziele) offen dargelegt werden (Price 2005). Da-
bei können auf jeden Fall die Pflegepersonen unterstützend eingreifen. Nicht nur
Medikamente und Behandlungen spielen eine Rolle, sondern auch das gespro-
chene Wort. Benedetti konnte z. B. zeigen, wie eine neutrale Substanz nur durch
verbale Informationen entweder einen Placebo- oder einen Noceboeffekt erzeu-
gen kann.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bedeutung des Wissens um
Placebos und Nocebos inzwischen derart groß ist, dass deren Wirksamkeit in die
neue AWMF-Leitlinie „Perioperative und posttraumatische Schmerztherapie“
aufgenommen wurde. Weitere Untersuchungen zur Placebowirkung sind bis
heute ein für die medizinische Praxis wichtiges Anliegen. Die Notwendigkeit der
gezielten Information zwischen dem Erlangen eines additiven Effektes der rein
pharmakologischen Wirkungen und den psychologischen Wirkungen (Placebo-
effekt) sowie der Trennung von der Gefahr, durch negative Einflüsse einen
Noceboeffekt zu erreichen, liegt vor! Angesichts der Zunahme älterer Menschen
und damit auch der Zahl von SchmerzpatientInnen nicht nur in den westlichen
Industrieländern sind wir mit ständig steigenden Gesundheitskosten konfron-
tiert. Es wäre deshalb sowohl im Hinblick auf den Einzelnen wie auch auf die
Gesamtgesellschaft sinnvoll, die positiven Placeboeffekte in der Schmerzbehand-
lung und darüber hinaus besser zu nützen. Menschen mit hoher Erwartungshal-
tung über die schmerzhemmende Wirkung benötigen weniger Medikamente als
Menschen mit einer geringeren Erwartungshaltung. So zeigte sich auch, dass
Menschen, die vor einer Operationen besonders gut über die kommende Opera-
tion informiert wurden, weniger Schmerzen und weniger Medikamente nach der
Operation benötigten.
Dieser Beitrag versteht sich somit auch als Anregung, die schmerzlindernden
und gesundheitsfördernden Eigenschaften von Placebos – als solche können
nicht nur Medikamente sondern z. B. auch Akupunkturbehandlungen eingesetzt
werden – sowohl in Forschung wie Praxis stärker zu beachten. Zumal durch
Nutzung der Placebowirkung ein weiteres wichtiges Ziel erreicht werden kann,
nämlich die stärkere Einbeziehung der PatientInnen in den Behandlungsprozess.
Wie man heute weiß, hängt nämlich die schmerzlindernde oder sonstige positive
Wirkung eines Placebos wesentlich von den Erwartungen der Kranken ab bzw.
davon, ob ein Vertrauensverhältnis zwischen Behandler und Behandeltem aufge-
baut werden kann. Positive Erwartungshaltung und Selbstwirksamkeitsüberzeu-
gung des Patienten sind also wichtige Helfer des Arztes bei der Behandlung von
Wirkung ohne Wirkstoff – der Placebo/Noceboeffekt 55
Schmerzen. Andererseits ist durch Studien belegt, dass bei „versteckter“ Verab-
reichung eines Placebos (der Patient sieht nicht, welches Medikament er erhält)
auch die schmerzlindernde Wirkung oder auch der Erfolg einer Behandlung mit
Placebo bei Parkinsonerkrankung zumindest reduziert erscheint, wenn nicht
ganz wegfällt. Beide Ergebnisse verweisen auf jene Möglichkeiten, die „richtig“
eingesetzte Placebos in der Praxis eröffnen.
Literatur
Kiss (2000I) Plazebo. Schmerz 14: 252–256
Moore A, Edwards J, Barden J, MacQuay H (2003) Bandolier’s little book of pain. Oxford Uni-
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Barsky AJ, Saintfort R, Rogers MP, Borus JF (2002) Nonspecific medication side effects and the
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Colloca L, Benedetti F (2005) Placebos and painkillers: is mind as real as matter? Perspectives.
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Benedetti F et al (2004) Autonomic and emotional responses to open and hidden stimulations
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IASP Pain Clinical Updates (2007) Placebo Analgesia, Nocebo Hyperalgesia, Vol. XV, Issue 1,
1–4, p. 2
Revision
G. GATTERER
G. Gatterer
Einleitung
Die Betreuung und Behandlung von Menschen erfordert neben der pflegerischen
und medizinischen Kompetenz auch die Fähigkeit, eine therapeutische Bezie-
hung zu den betroffenen Menschen, aber auch den Angehörigen und dem Be-
handlungsteam herzustellen.
Im Mittelpunkt der gemeinsamen Bemühungen steht die Person des Patien-
ten, ihre Erwartungen und Wünsche. Sein Wohlbefinden und eine bestmögliche
Behandlung und Betreuung müssen das gemeinsame Ziel sein. Um dieses Ziel
zu erreichen, sind viele Gespräche zwischen Patient, Angehörigen und multipro-
fessionellem Team notwendig. Der vorliegende Beitrag soll die Bedeutung und
die Bedingungen für eine gute Kommunikation sowohl theoretisch als auch an-
hand praktischer Beispiele erläutern (vgl. auch Gatterer 2007; Fitzgerald 2001;
Hirsch 1997).
Definition
Kommunikation ist die gerichtete Informationsübertragung von einem Sender
(der Person, die etwas mitteilen möchte) zu einem Empfänger (der Person, wel-
che die Nachricht erhält). Sie ist eine allgemeine und umfassende Bezeichnung
für den Prozess, wo ein Sender einem Empfänger mithilfe eines Kommunika-
tionsmittels (Sprache, Zeichen, Schrift etc.) eine bestimmte Nachricht überträgt,
auf die eine Erlebens- und Verhaltensänderung eintritt.
Wir unterscheiden senden (sprechen, Zeichen geben, ...) und empfangen
(zuhören, hinsehen, ...), sowie verbale und nonverbale Kommunikation. Ein Groß-
teil der Kommunikation läuft über nonverbale Kanäle und ist deshalb sehr stö-
rungsanfällig. Nonverbale Kommunikation unterscheidet nach sender-spezifi-
58 G. Gatterer
schen Faktoren, die für den Empfänger wahrnehmbare Signale produzieren (z. B.:
Mimik, Blickverhalten, Gestik, Geruch, Körperhaltung) und solchen, die durch
den Empfänger beim Dekodieren (bewerten, einschätzen, etc. einer Nachricht auf-
grund von Erfahrungen) und Reagieren auf nonverbale Botschaften entstehen.
Jede Nachricht benötigt auch ein bestimmtes Medium (Sprache, Zeichen, ...),
durch die eine Übertragung von einer Person zu einer anderen erfolgen kann.
Man kann also Informationen nicht direkt übermitteln, sondern muss sie über
Zeichen verschlüsseln. Normalerweise passen diese Zeichen zusammen, sodass
eine Verständigung zwischen mehreren Personen möglich ist. Um die Qualität
der Verständigung zu verbessern, ist eine Rückmeldung über das, was verstanden
wurde (Feedback), hilfreich.
Objektive (Inhalts-)Ebene
Sender Medium (Verschlüsselung) Empfänger
Subjektive (Gefühls-)Ebene
Feedback
Normalerweise sendet ein Sender seine Information aufgrund seiner eigenen
Erfahrungen, seinem Wissen, seinen Erwartungen, also seiner verbalen Kompe-
tenz an einen Empfänger, dessen Aufgabe es ist, möglichst gut zuzuhören, und
diese Nachricht zu entschlüsseln. Danach erfolgt eine Rückmeldung an den Sen-
der, was angekommen ist, inwieweit es verstanden und interpretiert wurde und
welche Meinung der Empfänger dazu hat. Unter Kommunikation versteht man
deshalb alle Formen der Kontaktaufnahme und Informationsübermittlung, die
Menschen benutzen, um sich zu verständigen und ihr Verhalten aufeinander ab-
zustimmen.
Nach Watzlawik (1969) lassen sich folgende Aspekte der Kommunikation an-
führen:
– Man kann nicht nicht kommunizieren, auch wer schweigt, sagt etwas aus.
– Jede Kommunikation enthält einen Inhalts- und Beziehungsaspekt, nämlich
die Information selbst und das, was „mitschwingt“.
– Zwischenmenschliche Beziehungen sind durch die Interpunktion von Kom-
munikationsabläufen geprägt. Anfang und Ende, Ursache und Wirkung sind
nur individuell gesehene Marker.
– Kommunikation zwischen Menschen bedient sich digitaler (Inhalt) und ana-
loger (Mimik, Gestik) Modalitäten.
– Kommunikation kann auf symmetrischen (Streben nach Gleichheit der Part-
ner) und komplementären (sich ergänzenden Unterschieden) Beziehungen
beruhen.
Probleme können sich durch jeden der Bereiche ergeben und sollten deshalb
auf der Ebene gelöst werden, wo der Konflikt auftritt, um „Pseudokonflikte“ zu
vermeiden.
Kommunikation und Interaktion mit Patienten 59
Intern Extern
Motivation Zufälliges
Stimmungen Äußere Umstände
Variabel
Befindlichkeiten Versehen
Absichten Missgeschick
3. Der Beziehungsaspekt (Was man vom anderen hält oder wie man zu ihm
steht): Durch jede Nachricht wird auch zum Ausdruck gebracht, wie der Sen-
der zum Empfänger steht. Dies zeigt sich oft im Tonfall, in der gewählten
Formulierung und in anderen nicht sprachlichen Informationen. Dieser As-
pekt einer Nachricht wird vom Empfänger sehr sensibel wahrgenommen, da
er zeigt, wie „man vom anderen behandelt wird“. Beim obigen Beispiel kann
somit der Wunsch nach Beziehung und Vertrauen mitgesendet werden oder
auch das Gegenteil, nämlich Unzufriedenheit über die Behandlung.
4. Der Appell (Wozu möchte man den anderen veranlassen; was soll er tun?):
Jede Nachricht hat in gewissem Ausmaß auch eine Appellfunktion. Man
möchte auf den Empfänger Einfluss nehmen, ihn dazu bewegen etwas zu tun
oder zu unterlassen, zu denken oder zu fühlen. Diese Einflussnahme kann di-
rekt oder indirekt, offen oder verdeckt erfolgen. Bei der Äußerung von
Schmerzen erwartet man sich logischerweise Hilfe.
Bisher haben wir die vier Seiten einer Nachricht überwiegend aus dem Blick-
winkel des Senders betrachtet. Dabei ist deutlich geworden, dass der Sender ei-
gentlich alle vier Aspekte im Griff haben müsste, da sie alle im Kommunika-
tionsprozess mitschwingen. Kennt und kontrolliert der Sender nur einige oder
nur einen dieser Aspekte, führt dies zu Kommunikationsstörungen. Sendet er
z. B. inhaltlich verständlich, aber teilt er auch mit, dass er vom anderen nichts
hält, so führt dies ebenfalls zu Störungen.
Schauen wir uns nun die vier Seiten einer Nachricht aus der Sicht des Emp-
fängers an:
– Er versucht, den Sachinhalt der Nachricht über seinen Verstand zu erfassen.
Was heißt das genau? Was will mir die Person sagen?
– Die Selbstdarstellung des Senders analysiert er mit:
Was ist das für eine(r)? Welche Persönlichkeit liegt vor?
– Auf der Beziehungsseite fragt er sich:
Wie ist die Beziehung zwischen uns? Wie behandelt diese Person mich?
– Bei der Appellseite versucht er zu ergründen, wo der Empfänger ihn haben
will.
Was will diese Person von mir?
Auch der Empfänger muss also die vier Aspekte der Kommunikation im Auge
haben, um sie bei der Reaktion entsprechend berücksichtigen zu können. Was
die Kommunikation so schwierig macht, ist vor allem, dass der Empfänger aus-
wählen kann, auf welchen Aspekt er reagiert. Dies kann dann zu Störungen füh-
ren. Diese grundsätzliche freie Auswahl führt dann zu Störungen, wenn der
Empfänger auf einen Aspekt reagiert, den der Sender gar nicht betonen wollte.
Besonders konfliktträchtig ist es, wenn der Empfänger andauernd dieselbe Aus-
wahl vornimmt, z. B. immer auf den Beziehungsaspekt reagiert. Rückmeldungen,
Nachfragen oder Feedback geben die Einstiegsmöglichkeiten für die Klärung
62 G. Gatterer
dessen, was der Sender meint oder um Bereitschaft für aktives Zuhören zu för-
dern. Anbei finden Sie einige Möglichkeiten für konstruktive Fragen:
– Wie meinen sie das genau? Können Sie es mir näher beschreiben?
– Habe ich Sie richtig verstanden? Sie meinen ...
– Lassen Sie sehen, ob ich Ihnen folgen kann; Sie ...
– Ich habe den Eindruck ...
– Trifft es zu, dass ...
– Ist es möglich, dass ...
– Gehe ich recht in der Annahme, dass ...
– Ich frage mich, ob ...
– Sagen Sie mir, wenn ich mich irre, aber ...
– Könnte es sein (vorkommen), dass ...
– Ich glaube, Sie richtig verstanden zu haben, dass ........
– Von meinem Standpunkt aus ...
– Es hört sich an, als ob Sie ... (dieses oder jenes Gefühl haben)
– Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ...
– Gefällt Ihnen die Idee ...
Falls ein Gespräch stagniert, können Einstiegsaufmunterungen vonseiten des
Empfängers weiterhelfen:
– Kann ich Ihnen hier helfen?
– Möchten Sie darüber sprechen?
– Wie ist das eigentlich mit diesem Problem?
– Ich würde gerne Ihre Meinung wissen!
– Würde es Ihnen helfen, wenn wir darüber reden?
– Ich hätte Zeit, mit Ihnen einmal dem Problem nachzugehen.
An jeder Nachricht sind stets alle vier Aspekte beteiligt. Diese können zu-
sammenpassen und sich gegenseitig stützten, aber sich auch gegenseitig hem-
men. Insofern ist es in der Kommunikation sehr wichtig, diese Aspekte und de-
ren gegenseitige Wechselwirkung zu beachten und damit auch konstruktiv
umzugehen. Nachrichten werden sowohl auf diesen vier Ebenen gesendet als
auch subjektiv auf diesen empfangen. Es kann also geschehen, dass eine sachli-
che Mitteilung emotional auf der Beziehungsebene empfangen wird und Kon-
flikte auslöst. Dies ist besonders in emotional aufgeladenen Situationen, z. B. bei
Überforderung, leicht der Fall.
Ebenfalls ein wichtiges Interaktionsmodell im Rahmen des Pflegeprozesses
bietet die Transaktionsanalyse an. Sie geht davon aus, dass die Gesprächspartner
drei Ich-Zustände haben und zwar
– das Eltern-Ich, das kritisch oder stützend sein kann,
– das Erwachsenen-Ich, das rational, vernünftig, neutral, nüchtern wirkt,
– das Kind-Ich, das kindlich spontan, verletzlich bedürftig ist.
Gerade in der Pflege von hilfs- und pflegebedürftigen Menschen kann es
leicht zu einem Ungleichgewicht kommen. So rutschen ältere Menschen leicht in
Kommunikation und Interaktion mit Patienten 63
das Kind-Ich und lassen sich versorgen und betreuen, ohne die Ressourcen zu
sehen, die sie noch haben. Ähnlich kann es aber auch einer Pflegeperson gehen,
die Eltern-Ich-Anteile vermehrt einsetzt und „belohnt“ bzw. „bestraft“.
Normalerweise geht man davon aus, dass eine Nachricht eine direkte Übermitt-
lung von Information ermöglicht. Andererseits haben Nachrichten, wie aus obi-
gem Abschnitt ersichtlich, viele Aspekte. Insofern sollen diese „Botschaften“
noch näher betrachtet werden, da sie gerade bei der Kommunikation in einem
multiprofessionellen Team und mit dem Betreuten oder dessen Angehörigen eine
wesentliche Rolle spielen.
Botschaften können in einer Nachricht „explizit“ oder „implizit“ enthalten
sein. Explizite Botschaften sind ausdrücklich formuliert, konkret und deutlich. Sie
treffen direkt den Gegenstand der Mitteilung. Implizite Botschaften sind oft nicht
direkt wahrnehmbar. Oft werden sie „indirekt“ mitgesendet. So kann etwa die
verbale Botschaft „Ich bin Dr. X“ dem Patienten die Rolle Arzt vermitteln. Ande-
rerseits ist etwa aus der Kleidung und dem Auftreten oft der „Arzt“ erkennbar.
Bei impliziten Botschaften spielen nonverbale Elemente eine wesentliche Rol-
le. Dies beinhaltet die Stimme, die Betonung und Aussprache, die Mimik und
Gestik aber auch das Verhalten.
Durch nonverbale Aspekte werden die sprachlichen Bereiche der Kommuni-
kation betont, verstärkt unterstützt, aber manchmal auch gestört. Insofern erfolgt
durch nonverbale Elemente der sprachlichen Kommunikation
– eine Verdeutlichung von sprachlich schwer zu Formulierendem, z. B. von Ge-
fühlen, Einstellungen, Meinungen, ...
– die emotionale Steuerung und Beeinflussung einer sozialen Situation
– eine Selbstdarstellung des Senders als Person
– die Kommunikation von Einstellungen
– die Rollenübergabe, z. B. Übergabe des Rederechtes vom Sender zum Emp-
fänger
– die Vermittlung von Zuhören oder Ignorieren
– der Ausdruck der eigenen Stimmung und Befindlichkeit
– die Vermittlung und der Ausdruck der Beziehung zwischen den Gesprächs-
partnern
– die Verteilung der Rollen.
Oft erfolgt eine nonverable Kommunikation auch mit dem Körper. Dies bein-
haltet den Körperkontakt, die Körperhaltung, Mimik und Gestik, die Blickrich-
tung, die Kommunikation durch Objekte (z. B. Berufskleidung) und die Kommu-
nikation durch räumliche Distanz.
Nonverbale Botschaften werden immer mitgesendet. Deshalb soll hier eine
Aussage von Paul Watzlawick (1969) in Erinnerung gerufen werden. „Man kann
nicht nicht kommunizieren“. Auch wenn man nichts sagt, teilt man dem Ge-
64 G. Gatterer
sprächspartner etwas mit. Ob man will oder nicht. So kann „Schweigen“ als „Ich
will meine Ruhe haben!“, „Ignoranz“ oder „Müdigkeit“ wahrgenommen wer-
den.
Mit nonverbalen Botschaften werden insofern Interaktionen gesteuert, Emo-
tionen und Einstellungen ausgetauscht und dadurch die Kommunikation verbes-
sert oder gestört. Durch das Bewusstmachen nonverbaler Signale können die
Kommunikationspartner sensibilisiert werden und durch das Beobachten eigener
Signale sollen falsche rhetorische Signale vermieden werden.
Beim gleichzeitigen Senden von verbalen und nonverbalen Nachrichten kön-
nen diese übereinstimmen (kongruent sein) oder nicht übereinstimmen (inkon-
gruent sein). Inkongruente Nachrichten führen zu Unsicherheit, Unbehagen und
sollten durch Nachfragen überprüft werden.
Inkongruenz kann durch folgende Faktoren entstehen:
– Durch den Kontext: Wird eine Aussage in einem nicht passenden Zusam-
menhang verwendet, so führt dies zu Unsicherheit. Dies wäre etwa der Fall,
wenn eine Pflegeperson bei einem schwer kranken Patienten betont, dass
morgen schon alles besser sei.
– Durch die Art der Formulierung: So kann die Aussage eines Patienten mit
Kopfschmerzen „Ich sterbe vor Schmerzen!“ zu Unverständnis beim Emp-
fänger Arzt führen.
– Durch Körperbewegungen (Mimik, Gestik): Die positive Beziehungsaussage
einer Kommunikation (z. B. „Ich werde Ihnen helfen!“) kann durch eine ab-
lehnende Körperhaltung (z. B. die Aussage erfolgte im Weggehen) relativiert
werden.
– Durch den Tonfall: Stimmt die verbale Aussage nicht mit dem Tonfall überein,
so ergibt sich Unsicherheit. Oft wird in diesem Fall der negative Aspekt stär-
ker wahrgenommen als der positive.
Nicht kongruente Botschaften führen beim Empfänger zu Unsicherheit und
Verwirrung. Soll er der verbalen Mitteilung Glauben schenken oder den nonver-
balen Elementen der Nachricht? Solche Verwirrungen sind oft unter dem Namen
„Doppelbindungen“ in der Literatur zu finden. Inkongruenzen können entste-
hen, wenn sich der Sender dieser Problematik seiner Person nicht bewusst ist
oder aber diese gezielt auslösen will, um den anderen zu irritieren. Auch bei un-
angenehmen Fragen treten diese leicht auf, z. B. die Frage eines kranken Men-
schen, ob er bald sterben müsse.
Einen weiteren wesentlichen Aspekt stellen auch die sozialen Beziehungen zwi-
schen den miteinander kommunizierenden Personen dar. So ist etwa eine Berüh-
rung an verschiedenen Körperbereichen (etwa im Rahmen von Pflegehandlun-
Kommunikation und Interaktion mit Patienten 65
gen) eine nonverbale Kommunikation und es sollte deshalb von der Pflegeper-
son bedacht werden, welche Position im sozialen System des Betreuten sie ein-
nimmt.
Zum besseren Verständnis sei ein so genanntes soziales Netz dargestellt:
Umwelt
Bekannte
Freunde
Familie Beratung/Hilfe
Alltag/öffentlich
Im Zentrum befindet sich hier die Person selbst mit ihrem „Ich“. Hier sind
alle Geheimnisse, Erfahrungen, Erlebnisse, Gefühle etc. gespeichert. Das ist der
engste soziale Kreis, in den nur wenige Personen hineingelassen werden, wie
z. B. in guten Beziehungen der Partner, die Kinder oder auch der Therapeut.
Distanzmäßig sind dies etwa die letzten 30 Zentimeter Abstand vom eigenen
Körper. Pflegehandlungen und medizinische Untersuchungen dringen oft in die-
sen Bereich unreflektiert ein.
Der zweite soziale Kreis beinhaltet die engste Familie, aber nur, wenn sie
auch emotional dort steht. So ist ein Partner nicht unbedingt diesem Kreis zuge-
hörig und darf entsprechende intime Dinge tun oder sagen. In der Kommunika-
tion finden hier therapeutische oder auch beratende Gespräche statt. Räumlich
beginnt dieser Kreis etwa bei 70 cm Abstand.
In den nächsten beiden Kreisen befinden sich Freunde und gute Bekannte.
Hier ist die Hauptkommunikation auf den Austausch von Informationen, aber
auch Beratung und Hilfe ausgerichtet. Intimere Inhalte treten, je weiter eine Per-
son außen steht, in den Hintergrund, Sachliches tritt in den Vordergrund. Entfer-
nungsmäßig entspricht dieser Bereich der guten Kommunikationsdistanz von
70 cm bis 1,5 m.
Im äußersten sozialen Kreis findet der Rest des Lebens statt. Hier befinden
sich Personen, die für das „Ich“ nur geringe emotionale Bedeutung haben. Inso-
fern werden auch eher sachliche Informationen oder „Small Talk“ (Wetter, Alltag,
etc.) ausgetauscht. Körperlich sind dies Distanzen über 1,5 Metern.
Im Rahmen des Aufbaues einer therapeutischen Beziehung startet man aber
beim Gesprächspartner genau in diesem äußersten Kreis und arbeitet sich lang-
66 G. Gatterer
sam nach innen. Durch aufmerksames Zuhören kann man erkennen, ob man in
den nächsten Kreis vorgelassen wird. Zu rasches Eindringen führt leicht zu Kon-
flikten und Abwehr. Dies gilt für Fragen, aber noch mehr für körperliche Berüh-
rungen.
Die Beachtung systemischer Faktoren ist gerade für die Kommunikation in
größeren Teams wichtig, da hier von unterschiedlichen Personen die gleichen
Handlungen und Aussagen getätigt werden. Auch in Organisationen tendiert
man leicht dazu, in intime Bereiche einzudringen, ohne durch eine gute Kom-
munikation die entsprechenden Voraussetzungen getroffen zu haben.
Aktives Zuhören –
die personenorientierte Gesprächsführung
Im folgenden Abschnitt sollen exemplarisch einige Faktoren für ein gutes Ge-
spräch dargestellt werden. Carl Rogers hat hier die Faktoren „einfühlendes Ver-
ständnis“, „unbedingte Wertschätzung“, „Aufrichtigkeit und Kongruenz“ sowie
„Selbstexploration“ des Klienten als wesentliche Faktoren festgehalten. Im fol-
genden Abschnitt soll dies anhand konkreter Beispiele dargestellt werden.
Grundlage für ein gutes Gespräch vonseiten des Empfängers ist aktives Zu-
hören:
– Aktives Zuhören hat zum Ziel, dass der Gesprächspartner sich öffnet und
– Aktives Zuhören verbessert die Kommunikation zwischen den Gesprächs-
partnern.
Die grundlegende Fertigkeit bei einem Beratungsgespräch besteht aus „Zu-
hören können“.
Folgende Faktoren erleichtern ein gutes Gespräch:
1. Die Verteilung der Rollen: Der Sender sendet, der Empfänger empfängt.
2. Der Blickkontakt: Wenn Sie mit jemandem reden, schauen Sie ihn an. Das
heißt nicht, dass sie ihn anstarren. Ihr Gesprächspartner bekommt damit Zu-
wendung und Interesse signalisiert. Günstig ist es auf gleicher Höhe zu
kommunizieren.
3. Die aufmerksame Körpersprache: Die Grundhaltung für aufmerksames Zu-
hören ist eine entspannte, leichte Vorwärtsneigung des Oberkörpers. Achten
Sie auch auf Zeichen von Anspannung (Stirnrunzeln, geballte Fäuste, deutli-
che Veränderung der Körperhaltung) bei sich selbst und dem Gesprächspart-
ner. Sitzen Sie nicht verkrampft oder professionell. Ihr Körper sollte Aufmerk-
samkeit und Anteilnahme ausdrücken.
4. Der Aufforderung zum Sprechen: Signalisiert ein Patient Gesprächsbereit-
schaft, so ist es günstig herauszufinden, in welcher Situation er gerade ist,
was ihn beschäftigt, worüber er reden möchte. Günstig ist es mit offenen Fra-
gen zu beginnen. Dadurch kann der Gesprächspartner selber den Verlauf des
Gespräches steuern. Es wird ihm ermöglicht, sich dadurch selbst zu er-
Kommunikation und Interaktion mit Patienten 67
Zusammenfassung
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Revsion
M. KOJER
M. Kojer
Wie soll ich wissen, was Dich quält?
Sind häufige Vorkommnisse für die, die darunter zu leiden haben, normal? Über-
all auf der Welt ereignen sich täglich Unfälle, die Menschenleben kosten. Ist es
deshalb „normal“, durch einen Unfall zu sterben? Jedes Jahr gibt es etliche Na-
turkatastrophen. Kann man deshalb schon sagen, dass es „normal“ ist, die Men-
schen, die man liebt und alles, was man besitzt, durch einen Hurrikan zu verlie-
ren? Kriege sind – weltgeschichtlich besehen – normale Ereignisse. Ist es deshalb
für den einzelnen Menschen „normal“ hineinzugeraten, darunter zu leiden, in
Kampfhandlungen oder im Bombenhagel sein Leben zu verlieren? Schmerzen
im hohen Alter sind häufig. Ist es deshalb für eine 90-Jährige „normal“, Schmer-
zen zu haben?
Der einzelne Mensch erlebt stets seine persönliche Leidensgeschichte, seine
beängstigende und quälende körperliche und seelische Not, unabhängig davon,
wie hoch die statistisch berechenbare Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses ist.
Die Not wird nicht kleiner dadurch, dass es außer ihm auch noch viele andere
leidende Individuen auf der Welt gibt. Die häufig geäußerte Meinung, dass
Schmerzen eben zum Alter gehören und daher akzeptiert werden müssen, zeigt
nur, wie wenig bereit die Vertreter dieser Auffassung sind, sich in die Schuhe der
anderen zu stellen und die Welt von einer anderen, nämlich von deren Seite aus
zu betrachten. Sobald wir uns ernsthaft bemühen uns gedanklich und gefühls-
mäßig in die Lage einer gebrechlichen, multimorbiden, körperlich und geistig
hilflos gewordenen Hochbetagten hineinzudenken („wie wäre es für mich, wenn
ich nicht verstünde, was man von mir will …, wenn ich keine Worte für das hätte,
was mich quält …“), fällt uns bald vieles auf, was uns bis dahin entgangen ist.
Wir erfassen dann viel besser, wie schwer das tägliche Leben allein dadurch wird,
dass man schwach und müde ist und was es bedeutet, es jetzt auch noch mit
70 M. Kojer
Warum sollten sie das nicht können? Welcher „Schutzfaktor“ sollte sie vor
Schmerzen bewahren? Demente Menschen haben die gleichen Organe, Nerven,
Muskeln, Knochen und Gelenke, die gleichen Krankheiten, die gleichen
Schmerzrezeptoren wie alle anderen. Nachlassende Gedächtnis- und Denk-
leistungen haben keinen Einfluss darauf, ob und wie die z. B. von einer Kompres-
sionsfraktur der Wirbelsäule verursachten Schmerzen weitergeleitet werden.
Wir sind gewohnt und rechnen daher damit, dass ein Mensch, der etwas mit-
zuteilen hat, sein Anliegen verbal und einigermaßen geordnet vorbringt. Wenn
jemand das nicht mehr kann, ist die Gefahr groß, dass die Umwelt seine Bedürf-
nisse weder erkennt noch beachtet. Zahlreiche Studien belegen, wie schlecht es
um Erkennen und Behandlung von Schmerzen demenziell erkrankter Menschen
bestellt ist, sobald diese sich nicht mehr in allgemein verständlichen Worten aus-
drücken können. Betrüblicherweise hat daran auch der Schmerztherapieboom
der vergangenen 10 Jahre kaum etwas zu ändern vermocht (vergleiche exempla-
risch: Ferrell et al. 1995; Kaasalainen et al. 1998; Cohen-Mansfield und Lipson
2002; Shega et al. 2006).
Aber auch die Klagen von Demenzkranken, die ihren Schmerz noch verbal
ausdrücken können, werden häufig nicht beachtet, vor allem wenn ihre Betreuer
sie zugleich als sehr verhaltensgestört erleben. Eine zielführende Behandlung
wird ihnen daher häufig vorenthalten.
Frau HA, 84 Jahre alt, lebt bei ihrer Tochter. Sie leidet an einem rezidivierenden,
nach zwei Operationen inoperablen Blasenkarzinom mit Tumorkachexie und ist
mäßiggradig dement. Über Schmerzen ist nichts bekannt; sie bekommt keine
Schmerztherapie. Eines Nachts stürzt sie beim Gang auf die Toilette und zieht
sich eine Schenkelhalsfraktur zu. Ein Krankenwagen bringt sie in das große,
nahe gelegene Krankenhaus; am nächsten Morgen wird sie operiert.
Postoperativ klagt Frau HA legitimer Weise über Schmerzen, findet aber da-
mit keine Beachtung. Die Betreuer sind durch ihr gestörtes Verhalten restlos
überfordert: Sie lässt sich nicht waschen, entfernt sich die Drains, beschimpft die
Pflegenden, stört die zunehmend empörten Mitpatientinnen. Daraufhin wird die
Psychiaterin geholt. Diese diagnostiziert – vermutlich zu Recht – ein postopera-
tives Durchgangssyndrom bei Demenz und verordnet ein Antipsychotikum. Frau
HA verweigert die Medikamenteneinnahme, schreit und klagt weiterhin über
starke Schmerzen. Erst in der folgenden Nacht verordnet eine diensthabende
Ärztin endlich ein Analgetikum. Die Patientin bekommt ein transdermales Fen-
tanyl (Durogesic® 25 Mikrogramm/Stunde), also ein Schmerzpflaster, das sich
bekanntlich für kachektische Patientinnen nicht sonderlich gut eignet. Ob die
Wie soll ich wissen, was Dich quält? 71
Ärztin die alte Frau überhaupt gesehen hat, ist nicht bekannt. Da Frau HA die
ganze Nacht weiter schreit, wird das Pflaster am Morgen (bevor es im günstigs-
ten Fall voll wirksam geworden wäre) gleich wieder entfernt.
Wieder wird die Psychiaterin gerufen. Sie will die Station von der mittler-
weile tobenden Frau HA befreien und weist sie auf die Psychiatrie ein. Die Pati-
entin hat noch keinen gesetzlichen Betreuer und verweigert daher erfolgreich die
Transferierung. Die herbeigerufene Amtsärztin sieht keinen triftigen Grund für
eine Einweisung (weder Eigen- noch Fremdgefährdung). Frau HA bleibt, wo sie
ist, tobt weiter, bekommt auch weiterhin keine Schmerztherapie und wird so
schnell wie möglich entlassen.
Mit fortschreitender Demenz verlieren die Kranken nicht nur zunehmend die
Fähigkeit zu sprechen, auch ihr Körperbewusstsein beginnt sich allmählich zu
verändern und geht zunehmend verloren. Je weiter vom Kopf entfernt ein Kör-
perteil ist, desto früher schwindet das bewusste Erleben dafür, dass „da etwas ist,
das zu mir gehört“. So „verschwinden“ allmählich erst die Füße, dann die Beine,
später auch Hände, Unterarme und Bauch aus dem Bewusstsein. Bei weit fortge-
schrittener Demenz werden nur mehr Kopf, Hals, Schultern, oberer Brustbereich
und Nacken sicher als „Ich“ erkannt. Das mag zu dem Schluss verleiten, dass die
Betroffenen in den „verschwundenen“ Bereichen ihres Körpers auch keine
Schmerzen mehr empfinden. Irrtum: Der Schmerz bleibt ungeschmälert beste-
hen, auch wenn die Kranken nicht mehr in der Lage sind, ihn zu orten. Sie spü-
ren, dass es wehtut, können aber nicht mehr sagen oder zeigen, wo es wehtut.
Zum Glück sind damit die Ausdrucksmöglichkeiten, über die ein Mensch ver-
fügt, noch lange nicht erschöpft! Auch schwer dementiell Erkrankte können
noch immer über ihren Körper und durch ihr Verhalten zu uns „sprechen“. Diese
indirekten Zeichen (Tabelle 1) sind allerdings mehrdeutig und demnach nicht so
leicht zu deuten wie verbale oder pantomimisch vermittelte Mitteilungen. Um sie
dennoch zu beachten, in den Zusammenhang einzuordnen und zu einer Vermu-
tungsdiagnose zu gelangen, muss trotz aller Hindernisse mit dem Betroffenen
kommuniziert werden. Auf den ersten Blick scheint diese Forderung im Wider-
spruch zu dem zuvor Behaupteten zu stehen: Wie soll Kommunikation gelingen,
wenn der dafür nötige Partner nichts sagen und nicht hindeuten kann? Auf der
rationalen Ebene ist Kommunikation mit an fortgeschrittener Demenz leidenden
Menschen in der Tat unmöglich, sie kann aber auf der Gefühls- und Beziehungs-
ebene sehr gut gelingen. Voraussetzungen dafür sind – neben der unverzichtba-
ren respektvollen und wertschätzenden Haltung der Betreuer – ausreichende
Kenntnisse in Validation (Feil 2005; Feil und de Klerck-Rubin 2005) und Basaler
Stimulation (Bienstein und Fröhlich 2004). Außerdem muss die Fähigkeit hinzu-
kommen, Demenzkranke einfühlsam zu beobachten. Gelingt es in der Begeg-
nung mit den meist verstörten Kranken, ihnen die Angst zu nehmen und ihr Ver-
72 M. Kojer
trauen zu erwerben, erreicht uns über ihren Körper und seine Ausdrucksmög-
lichkeiten eine Fülle von Mitteilungen. „Dein Leib und seine große Vernunft: Die
sagt nicht Ich, aber tut Ich“ (Friedrich Nietzsche, zitiert nach Dörner 2001).
Tabelle 1. Häufige indirekte Schmerzzeichen
Gesicht Körpersprache
wirkt starr wirkt verkrampft
starrt vor sich hin ballt die Fäuste
wirkt ängstlich ist unruhig, nestelt
wirkt verschlossen vermeidet bestimmte Bewegungen
beißt die Zähne zusammen will sich nicht mobilisieren lassen
runzelt die Stirn drückt die Hände zusammen
senkrechte Stirnfalte Schonhaltung
presst die Augen zusammen hält Hand auf schmerzende Stelle
weitet die Augen angstvoll* reibt wiederholt über schmerzende Stelle
zeigt „tränenloses Weinen“ liegt in Embryonalhaltung
Lautäußerungen Reaktion auf Kontakt
schreit anhaltend schreit weiter, wenn jemand hinkommt
schreit leise jammernd macht die Augen nicht auf
schreit laut und grell* wirkt ängstlich
wimmert vor sich hin zeigt Angst bei Pflegehandlungen
stöhnt will sich nicht berühren lassen
seufzt vor sich hin klammert sich (z. B. am Gitter) an
zeigt Seufzeratmung übernimmt das Gewicht nicht
zeigt raschen Sprachzerfall ist abwehrend
ruft andauernd ist aggressiv
läutet andauernd schlägt ungezielt um sich
Verhalten Vegetative Zeichen
Appetitlosigkeit verändert den Atemrhythmus:
Nahrungsverweigerung zeigt stockenden Atem*
stiller als sonst zeigt flachen, hechelnden Atem
geht unsicherer, schwankend ist tachykard
stürzt häufiger zeigt Blutdruckanstieg
wirkt rastlos wird plötzlich blass*
ist stärker verwirrt schwitzt stärker
schläft schlecht zeigt Übelkeit und/oder Brechreiz
zeigt über nichts Freude erbricht
wird plötzlich inkontinent
Es gibt fast keine Lebensäußerung eines dementen Menschen, die uns gar
nichts über seinen körperlichen und seelischen Zustand mitteilen könnte. Ge-
sicht, Körperhaltung, nonverbale Lautäußerungen, seine Reaktionen und sein
(verändertes) Verhalten sprechen oft eindringlich zu uns. Daneben kann auch die
Beachtung der Vitalzeichen Hinweise auf das Vorliegen von Schmerzen geben.
Aus den vielen „Mitteilungen“, die gut kommunizierende und einfühlsam be-
obachtende Mitglieder eines Teams sammeln können, fügt sich, wie die Stein-
Wie soll ich wissen, was Dich quält? 73
chen eines Mosaiks, allmählich ein Bild zusammen. Jedes dieser indirekten
Schmerzzeichen ist für sich allein genommen mehrdeutig und erlaubt keine kla-
re Zuordnung. Das gesamte, aus vielen Einzelheiten entstandene Bild vermittelt
dagegen, wiewohl kaum jemals lückenlos, in den meisten Fällen einen guten
Einblick in die Befindlichkeit der Kranken.
1
Echelle comportementale de la douleur pour personnes âgées non communicantes. Eine
neuere als die hier verwendete Version des Tests soll noch im Laufe des Jahres 2007 allgemein
verfügbar sein (Morello R et al. 2007).
74 M. Kojer
ruhe und Misslaunigkeit, während andere sich ganz zurückziehen und ver-
stummen, wenn ihnen etwas wehtut.
Frau AM, 92 Jahre alt und insulinpflichtige Diabetikerin, war stets eine sehr
freundliche Dame. Sie ist schon seit vielen Jahren dement. Im vergangenen Jahr
wurde sie zunehmend müder und immer schwächer, hörte allmählich fast ganz
auf zu sprechen, verlor an Gewicht und konnte bald nur mehr stundenweise das
Bett verlassen. Dennoch schien sie sich auch weiterhin recht wohlzufühlen. In
letzter Zeit begannen dann zur allgemeinen Überraschung immer deutlicher
werdende Verhaltensstörungen. Sie schrie oft, war zunehmend unruhig, zog sich
zwischendurch aber auch mit starrem Ausdruck in sich selbst zurück. Da sie zu-
letzt jeden Körperkontakt abwehrte und gleich schrie, wenn man in ihre Nähe
kam, wurde es immer schwerer, sie zu pflegen. Eine schwache Esserin war sie
schon seit Längerem. Jetzt aß sie noch weniger und verweigerte das Essen zeit-
weise sogar ganz.
Das Pflegeheim, in dem Frau AM betreut wird, startete vor einiger Zeit eine
Initiative zur Qualitätsverbesserung. Als eines der wesentlichen Ziele wurde die
verstärkte Beachtung der Schmerzen dementiell erkrankter Bewohnerinnen fest-
gelegt. Alle Teams wurden in der Verwendung eines der gebräuchlichsten
Schmerztests, des ECPA2 geschult und dazu verpflichtet, den Test bei nicht mehr
sprechfähigen Bewohnern mit auffälligem Verhalten einzusetzen. Das Erfas-
sungsinstrument berücksichtigt Beobachtungen während und außerhalb der
Pflege sowie Auswirkungen auf Kommunikation, Bewegung, Appetit und Schlaf.
Jedes abgefragte Verhalten wird mit 0–4 Punkten bewertet. Die Punktehöchstzahl
(44 Punkte) bedeutet maximalen Schmerz, bei null Punkten liegt kein Schmerz
vor.
Frau AM erreichte an verschiedenen Tagen und bei unterschiedlichen Beur-
teilungspersonen ziemlich konstant 33–35 Punkte, das heißt eine Punktezahl, die
scheinbar eindeutig für starke Schmerzen spricht. Nur ein Teil der Mitglieder des
betreuenden Teams war mit diesem Ergebnis wirklich einverstanden. Die ande-
ren waren der Ansicht, dass das Verhalten der Bewohnerin nichts mit körperli-
chen Schmerzen zu tun hatte, sondern zeigte, dass sie unglücklich und mit den
Änderungen ihres Tagesablaufs, die sich in letzter Zeit ergeben hatten, nicht ein-
verstanden war. Angesichts des Vorliegens harter Daten, die mit einem aner-
kannten Instrument ermittelt worden waren, konnten sie sich freilich nicht
durchsetzen.
Die aufgrund der Testergebnisse eingeleitete Schmerztherapie erwies sich als
problematisch: Novalgin- und Tramaltropfen zeigten nicht den gewünschten Ef-
fekt. Die Einnahme von Tabletten verweigerte Frau AM mit einer für ihren
schlechten Zustand erstaunlichen Energie. Das daraufhin verordnete Schmerz-
pflaster führte dazu, dass die Bewohnerin nur mehr schlief und ganz aufhörte zu
essen. Was war schuld daran? Unbeherrschbare Schmerzen? Ärztliche Unfähig-
keit?
2
Für die hier verwendete Version des Tests siehe Wilkening K und Kunz R, 2003, S. 235–237.
Wie soll ich wissen, was Dich quält? 75
Die Erklärung erwies sich letztlich als einfach: Im Zuge der deutlichen Ver-
schlechterung des Allgemeinzustands war die Diabeteseinstellung ins Wanken
geraten. Manchmal war der Blutzucker in Ordnung, dann aber wieder zu tief. Da
Frau HA weiterhin, wenn auch in abnehmenden Dosen, Insulin bekam, wurden
immer häufiger Blutzuckerkontrollen nötig. Hinzu kamen zweistündig durchge-
führte Lagerungsmaßnahmen, die bei zunehmender Immobilität zur Dekubi-
tusprophylaxe nötig erschienen. Das schmerzhafte Stechen in die Fingerbeere
ängstigte und verunsicherte die hochbetagte Frau. Das Umlagern empfand sie
sichtlich als störend, unbequem und als Einschränkung ihres Freiheitsspielraums.
Eine Zeitlang versuchte sie vergeblich, sich dagegen zu wehren. Unter diesen –
für die schwache und hilflose alte Frau quälenden, ängstigenden und völlig un-
begreiflichen – Umständen, konnte sie sich nicht mehr sicher, geborgen und ver-
standen fühlen. Das Vertrauen in ihre Betreuer war geschwunden. Sie litt ständig
unter Angst, weil sie nie wusste, was auf sie zukam, wenn sich jemand ihrem
Bett näherte.
Als die Schmerztherapie erfolglos blieb, konnte sich der primär skeptische
Teil des Teams durchsetzen: Unter Inkaufnahme etwas höherer Blutzucker-
werte wurde die Insulintherapie abgesetzt. Damit entfiel auch der Großteil
der Blutzuckerkontrollen. Die Dekubitusprophylaxe wurde auf Mikrolagerung
(www.dekubitus.de) umgestellt. Unter diesen geänderten Bedingungen reduzier-
ten sich die Verhaltensstörungen der Bewohnerin innerhalb kurzer Zeit und ver-
schwanden schließlich ganz. In ihrer verbleibenden Lebenszeit von wenigen
Monaten zeigte die alte Frau durch ihr Verhalten, dass sie sich wieder wohlfühlte.
Sie bekam keinen Dekubitus und brauchte bis zuletzt keine Schmerztherapie.
Um das Verhalten dementer Menschen einigermaßen richtig zu deuten, ist
sehr oft viel mehr erforderlich als die Beobachtung und Registrierung bestimmter
vorgegebener Verhaltenskategorien. Verlässt man sich nur auf den Test, werden
Schmerzen, die sich in Verhaltensweisen äußern, die in der betreffenden Skala
nicht vorkommen, übersehen und gehen unter. Andererseits zeigt das oben an-
geführte Fallbeispiel, wie leicht es möglich ist, körperliche Schmerzen zu un-
terstellen, wenn die Seele wehtut. Es wundert mich daher nicht, dass Studien, in
denen häufig verwendete Schmerztests für demente Menschen untersucht und
miteinander verglichen wurden, kein für alle geeignetes Erfassungsinstrument
fanden (van Herk et al. 2007; Defrin et al. 2006; Herr et al. 2006; Zwakhalen et al.
2006; Smith 2005). Die Hoffnung der Autoren, es werde mit der Zeit gelingen,
Assessmentinstrumente für diese sensible Patientinnengruppe zu erarbeiten, die
allen Ansprüchen genügen, kann ich indes aus den oben genannten Gründen
nicht teilen.
Kommunikation
„Three most important elements of the palliative approach in dementia:
1. communication, 2. communication, 3. communication.” (Borasio 2007) Wie bei
vielen Problemen in der Geriatrie steht und fällt auch hier die Güte der Ergebnis-
se mit dem Gelingen von Kommunikation und Beziehungskultur auf allen erfor-
derlichen Ebenen.
a. Kommunikation mit den betroffenen Patientinnen/Bewohnerinnen. Dafür
ist es unerlässlich, an fortgeschrittener Demenz Erkrankte dort abzuholen,
ihnen dort zu begegnen, wo sie zu Hause sind, nämlich auf der Gefühlsebe-
ne. Alle Versuche einen Menschen, dem das logische Denken abhandenge-
kommen ist, mit der „Wahrheit“, d. h. mit unserer Realität zu konfrontieren,
sind von vornherein zum Scheitern verurteilt und behindern nur das gegen-
seitige Verstehen.
b. Kommunikation im unmittelbar betreuenden Team: Die einzelnen Teammit-
glieder entwickeln individuelle Beziehungen zu ihren Patientinnen und be-
gegnen ihnen in verschiedenen Situationen. Das gibt ihnen die Gelegenheit
unterschiedliche Verhaltensweisen und Reaktionen zu beobachten. Wird die
Dienstübergabe nicht nur zur Weitergabe „harter Tatsachen“ (z. B. Zustand
eines Hautdefekts, Anzahl der Tage ohne Stuhl …), sondern zur Zusammen-
führung dieser Erfahrungen genützt, gelingt es gemeinsam, zu genaueren
und komplexeren Vorstellungen zu gelangen.
c. Kommunikation im multiprofessionellen Team, d. h. auch mit nur fallweise
verfügbaren Teammitgliedern (in Pflegeheimen sind das in der Regel Ärztin-
nen, Therapeutinnen und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen). Besonders be-
deutsam für ein gelingendes Schmerzmanagement ist die partnerschaftliche
Wie soll ich wissen, was Dich quält? 77
Einfühlsame Beobachtung
Beobachtung ist nicht gleich Beobachtung. Wenn ich eine Zellkultur im Mikro-
skop betrachte, beobachte ich die Vorgänge in meinem Gesichtsfeld zwar interes-
siert aber nicht innerlich bewegt. Ich beobachte das Entstehen und Zusammen-
stürzen eines Kartenhauses mit einer ganz anderen Einstellung als meine kleine
Tochter, die eben daran geht, ein für Größere gedachtes Klettergestell zu erklim-
men. Einmal (bei der Zellkultur) beobachte ich interessiert und wissbegierig, im
Falle des Kartenhauses bin ich neugierig, wann es zusammenfällt, mein Kind be-
obachte ich mit liebendem Herzen und in steter Bereitschaft zu verhindern, dass
es sich wehtut.
Die Beobachtung Demenzkranker ist außerordentlich hilfreich um Schmer-
zen zu erkennen. Sie setzt indes eine Haltung voraus, die die Betroffenen nicht
gleich mit einem negativen Etikett versieht („kann nichts, weiß nichts, versteht
nichts“), sondern sie „primär in ihrem So-Sein akzeptiert“ (Dörner 2004, S 87).
Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich gefühlsmäßig in ihre Lage zu versetzen
(„wie würde ich mich verhalten, wenn …?“) und sich ihnen von innen heraus
zuzuwenden. Diese Zuwendung fällt umso leichter, je besser die Kommunika-
tion gelingt und eine Beziehung wachsen kann.
78 M. Kojer
Probatorische Therapie
Es wird immer wieder vorkommen, dass Pflegende und Ärztinnen nicht eindeu-
tig feststellen können, ob jemand Schmerzen hat. In solchen Fällen ist es sinnvoll
Wie soll ich wissen, was Dich quält? 79
Schmerzerfassungsinstrumente
Ein engagiertes, gut kommunizierendes und beobachtendes Team braucht kei-
nen Test um Schmerzen zu erkennen, den weiteren Schmerzverlauf zu beobach-
ten und damit nötige Therapieanpassungen zu ermöglichen. Eine solche Vor-
gangsweise anerkennt die hohe Kompetenz der Pflegenden und degradiert sie
nicht zu Checklistenausfüllerinnen. Wenn ich weiß, dass ich persönlich, durch
meinen Einsatz, mein Mitfühlen, meine Art der Beziehung, meine Beobachtun-
gen und meine Erfahrung Entscheidendes dazu beitragen kann, dass es einem
hilflosen, schmerzgequälten Menschen besser geht, wenn ich spüre, dass meine
Leistung auch gesehen und anerkannt wird, empfinde ich meine Arbeit ohne
Zweifel als sinnvoller und befriedigender, als wenn ich vorgefertigte Feststellun-
gen auf einer Liste abhake.
Dennoch spricht auch etwas für den – wohlgemerkt nur zusätzlichen! – Ge-
brauch eines solchen Instruments: Man kann damit die „harten Daten“ erfassen,
die man heute häufig abliefern muss, um ernst genommen zu werden. Wenn der
oben geschilderte Prozess und das dabei erworbene Wissen dem Ausfüllen der
Liste vorausgehen, verbessert dies die Ergebnisse des Tests erheblich und macht
das nachträgliche Abhaken bis zu einem gewissen Grad sinnvoll. Gewinnt aller-
dings die Beschäftigung mit dergleichen administrativen, primär den Zeitsinn
bedienenden Dingen die Oberhand über die den kranken Menschen zugewand-
ten Kernaufgaben der Pflege und Behandlung, geschieht das immer auf Kosten
der Patientinnen oder Bewohnerinnen. „Die Qualität der Betreuung sinkt in dem
Maße, in dem das ‚Heilmittel Mensch’ unheilsam in den Hintergrund abgedrängt
wird“. (Schmidl 2007)
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Monika, die als Pflegerin in einem Altenheim arbeitet, hat Frau Schmitz geweckt,
gewaschen, angezogen und in den Frühstücksraum gebracht. Frau Schmitz ist
sehr ängstlich. Jede Veränderung bringt sie zum Zittern. Monika übernimmt nicht
gerne die Pflege von Frau Schmitz. Sie fühlt sich danach ausgesaugt und vor al-
lem, sagt sie, habe sie ein schlechtes Gewissen. Sie habe das Gefühl, Frau
Schmitz nicht gerecht zu werden. Sie würde der alten Dame so gerne die Angst
nehmen, weiß aber, dass dies nicht geht.
Nach der Grundpflege, die ca. 30 Minuten in Anspruch nimmt, braucht Mo-
nika dringend eine Zigarette. In dem Pausenraum für Raucher steht ein Vogelkä-
fig mit mehreren Sittichen. Helga, die Kollegin, hat schon auf Monika gewartet,
um ihr zu berichten, dass die anderen Vögel wieder auf ihrem Sorgenvogel her-
umgehackt haben. Der arme Vogel habe schon am Boden gelegen. Sie müsse
wieder los, bittet aber Monika nach dem armen Tier zu schauen. Monika zündet
sich eine Zigarette an, und während sie mit dem Vogel spricht, ruft Frau Schmitz:
„Hallo, ist da jemand?“
Monika lässt sie rufen.
Ich habe an diesem Morgen Monika bei der Grundpflege von Frau Schmitz
begleitet und beobachtet. Diese teilnehmende Beobachtung ist Bestandteil einer
Methode, die ich Interpretationswerkstatt nenne. Es ist eine klassische Bil-
dungsmethode, mit der ich Mitarbeiter(innen) in der Altenpflege verführen will,
sich, die alten Menschen und die Beziehungen zwischen sich und den alten
Menschen zu verstehen. Wenn von allen Seiten das Einverständnis vorliegt, filme
ich das Geschehen. Filmaufzeichnungen oder protokollierte Beobachtungen sind
die Grundlage für die anschließenden Deutungen.
Wenn es wie im Falle von Monika in erster Linie darum geht, sich selbst zu
verstehen und Wege des Überlebens in einer schwierigen Beziehung zu finden,
hat sich als Hintergrund für die Interpretationen das Bild vom Festland und dem
Meer der Verrücktheit bewährt. Die Pflegenden sind die Festlandbewohner, die
sich an ihrer Welt und den dort gültigen Sicherheiten festhalten. Die alten Men-
82 E. Schützendorf
schen sind die Meeresbewohner, die nach ihrem Eigen-Sinn leben. Beide Welten
passen nicht immer. Aber es nützt nichts: Der Pflegende muss sich in die andere
Welt des Pflegebedürftigen begeben. Manchmal geht er dort, in dem ihm frem-
den Element, unter. Er fühlt sich wie ein Festlandbewohner in einem Meer. Er
versucht zu überleben, ringt nach Luft und will festen Boden unter den Füßen
haben.
Im Wesentlichen hat er drei Möglichkeiten, sich zu retten:
– Der Pflegende benutzt Rettungsboote, um nicht wirklich zu den Menschen, bei
denen er zu ersticken droht, eintauchen zu müssen. In ihnen fühlt er sich re-
lativ sicher, wenn ihn ein Bewohner unter Wasser ziehen will.
– Hat der Pflegende sich eine gewisse Zeit auf einen alten Menschen eingelas-
sen und in dieser Zeit eigene Bedürfnisse zurückgestellt, dann sucht er be-
wusst oder unbewusst Schleusen auf. Er verhält sich wie ein Taucher, der sich
zum Druckausgleich in eine Schleuse begibt. Dort versucht er, sich zu erho-
len, sich ins Gleichgewicht zu bringen, sich zu entladen oder Kraft zu tanken.
– Bei den langen Aufenthalten in den unterschiedlichen Meeren der verschie-
denen alten Menschen hält er immer wieder Ausschau nach einer Insel, auf
die er sich zurückziehen kann, um für sich zu sein und unbeschwert atmen zu
können, ohne dass irgendjemand an ihm zerrt.
Dieses Bild (ausführlich bei Schützendorf 2006, S.12 ff) hilft vielen Pflegenden,
ohne Scham und Schuldgefühle die eigenen Bedürfnisse in den Blick zu neh-
men.
Bei der Dienstübergabe bespreche ich meine morgendlichen Beobachtungen
mit Monika und den anwesenden Kolleg(inn)en, wobei ich meine Beobachtun-
gen in chronologischer Folge wiedergebe.
Monika betritt das Zimmer von Frau Schmitz und sagt: „Guten Morgen, Frau
Schmitz!“ Dann sagt sie, ohne auf eine Reaktion der alten Damen zu achten:
„Ich hol mal schnell zwei Handtücher.“ Monika verlässt das Zimmer und beeilt
sich, die Handtücher zu holen. Wenige Augenblicke später ist sie zurück.
Wir kommen zu folgender Deutung: Das Verlassen des Zimmers ist der erste
Rettungs- und Fluchtversuch. Monika betritt angespannt das Zimmer von Frau
Schmitz. Sie muss in diese unerträgliche Nähe. Sie weiß, was auf sie zukommt.
Sie wird weder das Zittern der alten Dame noch deren Umklammerungsversuch
ertragen können. Das Betreten des Zimmers ist für sie ein Anfang. Sie begibt sich
deshalb nicht sofort in das Meer, sondern hält zunächst nur einen Fuß in das
Wasser, um zu prüfen, ob sie es wagen kann. Nein, es geht noch nicht. Vorher
muss sie noch mal zurück, Festland spüren und durchatmen. Das macht sie, in
dem sie Handtücher holt. Dabei läuft sie fast über den Flur. Sie will noch einmal
die Schnelligkeit spüren, bevor sie in die Langsamkeit von Frau Schmitz eintau-
chen muss.
Darf sie das? Natürlich darf sie das. Es handelt sich um eine Schleuse, die für
Monika überlebensnotwendig ist. Das wird ihr nun klar. Die Hektik, die bisher
mit ihrer Flucht verbunden war, kann sie nun ablegen. Sie muss weder sich noch
anderen demonstrieren, wie toll sie sich für ihre Bewohner beeilt. Sie läuft näm-
Wer pflegt, braucht Pflege 83
lich um ihrer selbst willen. Monika will überlegen, ob sie die Zeit, die sie bisher
mit dem Holen der Handtücher verbracht hat, besser für sich nutzen kann, um
für den Tauchgang noch mal Kraft zu tanken. Sicher ist, dass sie in Zukunft nicht
mehr die Handtücher als Vorwand benutzen muss, um das Zimmer nach Betre-
ten sofort wieder verlassen zu dürfen.
Ich gehe in den Aufzeichnungen vom Morgen weiter.
Monika kommt mit den Handtüchern zurück, schiebt den Nachtstuhl an das
Bett von Frau Schmitz und hebt die alte Dame an, damit sie sich im Bett setzen
kann. Monika zieht Frau Schmitz die Schuhe an und setzt sie auf den Nacht-
stuhl.
Frau Schmitz sagt: „Nachts bin ich immer alleine.“
Monika: „Nachts ist ja auch keiner da.“
Frau Schmitz zittert.
Wie deuten wir das?
Monika versucht die Zeit bei Frau Schmitz durchzustehen, indem sie sich in
das Rettungsboot „Professionelle Pflege“ begibt. Dieses Boot gibt ihr Halt und
die Gewissheit, gut und richtig zu handeln, ohne sich in die gefährlichen Strudel
einer menschlichen Beziehung begeben zu müssen. Den Versuch der alten
Dame, sie aus dem Boot in das Meer zu ziehen, wehrt sie ab. Sie bleibt in der Lo-
gik des Festlandbewohners: „Nachts ist ja auch keiner da.“
Das Rettungsboot „Professionelle Pflege“ hilft Monika aber nicht wirklich. Sie
spielt die Rolle der Krankenschwester und unterdrückt die Rolle des Mitmen-
schen. Aber, so sagt Monika, eigentlich möchte sie viel lieber Frau Schmitz als
Mitmensch begegnen. Zwei Herzen schlagen in ihrer Brust. Sie fühlt sich in ihrer
Haut nicht wohl. Um nicht zerrissen zu werden, übersieht sie lieber die Angst
der alten Dame. Sie deutet deren Zittern als gezielten Versuch, durch Hilflosigkeit
die Zuwendung von Monika zu erzwingen. Wir überlegen, dass Frau Schmitz
immer häufiger zittern muss, je mehr sie von Monika enttäuscht wird.
Monikas Rettungsboot entpuppt sich also als eine Falle. Sie leidet an Frau
Schmitz. Sie möchte das, woran sie leidet, wegbekommen oder leugnen. Dies ge-
lingt ihr nicht. Schließlich sieht sie sich als Opfer und Frau Schmitz als Täterin.
Das wiederum gibt ihr das Recht, Frau Schmitz noch weniger von der ersehnten
Nähe zu geben. Dummerweise leidet nun Monika, weil sie die alte Dame leiden
lässt. Wie kommt sie aus dieser Falle heraus?
Wir besprechen einen Kompromiss.
Für den nächsten Tag nimmt Monika sich vor, sofort nach Betreten des Zim-
mers zu Frau Schmitz ans Bett zu gehen, einen Moment zu verweilen und zuzu-
hören, was die alte Dame sagen und mitteilen möchte. Monika will der Dame
etwa 30 Sekunden schenken, in der nicht sie, sondern Frau Schmitz den Takt be-
stimmt. Danach wird sie sich eine bewusste Eigenzeit nehmen, das Zimmer ver-
lassen und – wenn sie will – Handtücher holen.
Dadurch, so hoffen wir beide, entspannt sich der Zeitdruck, der bisher ent-
stand, weil Monika gleichzeitig der alten Dame und sich selbst gerecht werden
wollte. Sie wird nun abwechselnd eine kurze Zeit für Frau Schmitz und eine kur-
ze Zeit für sich da sein. Das will Monika üben, und ich verspreche ihr, sie an ih-
84 E. Schützendorf
ren Vorsatz zu erinnern. Es ist nämlich nicht leicht, sich auch nur für wenige Au-
genblicke einem Menschen zur Verfügung zu stellen, das Heft des Handelns aus
der Hand zu geben und sich vom Agierenden zum Reagierenden, der achtsam
bleibt, sich von der Rolle des Pflegenden auf die Rolle des Mitmenschen, der ei-
nem anderen begegnet, umzustellen. Wenn man es ein paar Mal geübt hat,
merkt man, dass man nicht untergeht, wenn man sich zur Verfügung stellt und
statt selbst zu handeln etwas mit sich machen lässt.
Es fällt Vielen von uns schwer, jeden Morgen von Frau Schmitz hören zu
müssen, dass nachts keiner zu ihr kommt. Aber es fällt leichter, wenn man Frau
Schmitz nach den langen Stunden des Alleinseins zugesteht, dass sie auf einen
Menschen wartet, dem sie ihr Leid erzählen kann. Dieser Mensch braucht ihr
nur sein Ohr zu leihen. Er muss nichts kommentieren, nichts erklären, nichts
richtig stellen. Auf Floskeln kann er verzichten. Er muss aktiv zuhören.
Und vor allem fällt das Zeit schenken dann leichter, wenn man sich das Recht
nimmt und natürlich das Recht zugestanden bekommt, sich nach dem Zuhören
guten Gewissens auf dem Flur erholen zu dürfen. Wem nach den 30 Sekunden
nichts anders einfällt, der darf sich bei Frau Schmitz mit den Worten „Jetzt hol
ich mal die Handtücher“ ausklinken.
Bei Monika bin ich sicher, dass sie nach einiger Zeit andere Wege und Mittel
finden wird, die ihr Kraft geben, Frau Schmitz zuzuhören, ihr Zittern zu ertragen
und sich ab und an umarmen zu lassen. Viele andere Pflegende vor ihr haben das
auch geschafft. Sie haben sich eine Blume in das Zimmer einer „schwierigen“
Person gestellt, und während sie sich mit der Pflege der Blume beschäftigen, hal-
ten sie die Ohren für die pflegebedürftige Person offen. Sie trinken ein Glas Saft,
verwöhnen sich also, während sie Nähe aushalten. Oder sie halten sich an einem
bunten Band fest, an dem sie sich herausziehen, wenn das Zuhören zuviel wird;
sie nehmen Steine in die Hand, um sie als Handschmeichler oder als Kraftquelle
zu nutzen. Oder sie haben vor dem Zimmer, das sie aus Gründen des Selbst-
schutzes verlassen müssen, einen Spiegel angebracht. Vor dem entladen sie sich,
indem sie nach der Qual des Zuhörens Grimassen schneiden.
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, außer der natürlich, wo die Selbst-
pflege zu Lasten der alten Person geht.
Zurück zu meinen Beobachtungen.
Monika hat Frau Schmitz die Schuhe angezogen und sie auf den Nachtstuhl
gesetzt.
Das erste ist geschafft. Monika setzt sich auf das Bett von Frau Schmitz
und nutzt die Zeit, die Frau Schmitz zur Erledigung ihres Geschäftes braucht, um
das Rettungsboot für einen Moment zu verlassen und zu Frau Schmitz einzu-
tauchen.
Monika: „Haben Sie gut geschlafen?“
Frau Schmitz: „Wenn ich im Bett liege, kommt kein Mensch.“
Sofort bricht Monika den Tauchgang ab und kehrt in ihr Boot zurück.
Aus dem sicheren Boot heraus gibt Monika zu bedenken: „Dann ist ja auch
Nacht.“
Was soll Frau Schmitz jetzt noch sagen?
Wer pflegt, braucht Pflege 85
des Wartens etwas für sich zu tun. Vielleicht mag sie eine Kerze anzünden?
Eine Duftlampe? Entspannungsmusik abspielen? Eine Dekoration umgestal-
ten?
Monika gesteht, dass sie normalerweise den Fernsehapparat einschaltet. Der
lenke sie ab. Heute habe sie das nicht getan, weil ich dabei war. Fernsehapparat
ist auch gut, sage ich. Wichtig ist, dass Monika weiß: das Fernsehen ist ihr Ret-
tungsboot. Fernsehen hilft ihr, die Zeit des Wartens zu überstehen. Sie muss sich
ablenken. Mit diesem Eingeständnis der Selbstpflege wird es in Zukunft über-
flüssig, auch Frau Schmitz, die über ihre Einsamkeit wehklagen will, auf andere
Gedanken zu bringen. Monika will sich ab sofort ihre gewöhnliche Aufforderung
„Gucken Sie mal, Frau Schmitz! Haben Sie das gesehen?“ verkneifen.
Mit ein bisschen Übung gelingt beides: ein Rettungsboot benutzen und
gleichzeitig einfühlsam zuhören.
Als Frau Schmitz endlich ihr Geschäft auf dem Nachtstuhl beendet hat, hebt
Monika die Bewohnerin an, legt den Deckel auf den Nachtstuhl und setzt sie
wieder hin, um sie zur Nasszelle zu fahren. In der Nasszelle sagt Monika:
„Ich hol die Unterwäsche“, und lässt Frau Schmitz vor dem Waschbecken
alleine.
Frau Schmitz: „Was mach ich jetzt?“
Frau Schmitz zittert. Monika sucht im Schrank nach der Unterwäsche.
In unserem Gespräch sieht Monika sofort ein, dass sie nach den gefühlten
30 Minuten Langsamkeit und Stillstand eine Schleuse zum Durchatmen benö-
tigt. Das Holen der Unterwäsche rettet sie. Das ist soweit in Ordnung. In Zu-
kunft will Monika jedoch ihre Auszeit bewusster nutzen. Sie nimmt sich vor,
nicht mehr zu denken: „Jetzt muss ich auch noch die Unterwäsche holen und
suchen“, sondern: „Ich will mich von Frau Schmitz entfernen, ich brauche eine
Zeit, in der ich nicht zur Verfügung stehe. Und das mach ich jetzt.“
Kein Mensch kann unentwegt für andere Menschen zur Verfügung stehen.
Jeder, der andere Menschen pflegt, benötigt Zeiten, in denen er nur für sich ist, in
denen er sich den Ansprüchen derjenigen, für die er sorgen will, entziehen kann.
Der Pflegende ist also, wenn er überleben will, auf Eigenzeiten angewiesen, in
denen kein anderer Mensch Energie von ihm absaugt. Also geht er auf Distanz.
Dieses Verhalten ist durchaus normal. Es wirkt aber unglaubwürdig, weil die
Pflegenden nicht ehrlich mit ihrem Wunsch nach Rückzug umgehen, ja sogar so
tun, als hätten sie keine persönlichen Bedürfnisse.
Natürlich nehmen sich die Mitarbeiter(innen) in der Altenpflege Eigenzeiten.
Sie haben keine andere Wahl, denn sie müssen sich ausrichten, sich ins Gleich-
gewicht bringen, wieder zu sich selber finden, sich sammeln oder sich entladen,
Dampf ablassen oder durchatmen. All das tun sie, nur leider sehr oft unwissent-
lich, unreflektiert, heimlich oder mit einem schlechten Gewissen. Und deshalb
sind ihre Bemühungen um Selbstpflege eher hilflos und zufällig, was dann wie-
derum dazu führt, dass sie sich ertappt fühlen, wenn sie berechtigterweise mit-
einander reden, um auf andere Gedanken zu kommen, wenn sie zusammen ste-
hen und lachen, wenn sie in sich versunken eine Tasse Kaffe trinken und nicht
ansprechbar wirken oder im Raucherzimmer mit dem Vogel reden.
Wer pflegt, braucht Pflege 87
In unserem Gespräch überlegt Monika, ob sie sich einfach vor die Nasszelle
oder in den Türrahmen stellt und aus der sicheren Entfernung auf den Seelenzu-
stand von Frau Schmitz eingeht. Dann hätte sie eine Eigenzeit und könnte diese
sogar mit Frau Schmitz teilen. Und Frau Schmitz hätte Gelegenheit von Ihrer
Mutter zu erzählen und ihren Seelenzustand preiszugeben. Dazu hatte sie näm-
lich bei meiner Anwesenheit keine Gelegenheit.
Monika hat die Unterwäsche ausgesucht und ist zurück in der Nasszelle. Frau
Schmitz hat den Wasserhahn aufgedreht und wäscht ihre Hände.
Monika schließt den Wasserhahn: „Ich zieh Ihnen zuerst das Nachthemd
aus.“
Frau Schmitz gehört zu den alten Menschen, die sich glücklicherweise selbst-
ständig waschen können – aber leider nicht alleine. Es muss jemand in ihrer
Nähe bleiben, während sie sich ohne Hilfe wäscht. Sie wäscht mit dem Wasch-
lappen das Gesicht. Monika fällt es schwer, nur zusehen zu müssen und im Be-
darfsfalle zu helfen, also zu reagieren, statt zu agieren. (Ein weiterer Grund für
Monika, vor der Nasszelle achtsam zu warten.) Also wäscht Monika schon mal
den Rücken von Frau Schmitz.
Monika: „Jetzt untenrum.“
Frau Schmitz: „Das mach ich.“ Sie wäscht ihren Genitalbereich.
Monika hebt die alte Dame an, um ihr das Waschen zu erleichtern.
Frau Schmitz: „Ich glaub, da werd ich wie meine Mutter.“
Monika stoppt sofort die drohenden Erinnerungsfetzen: „Wie kommen Sie
denn da drauf!“
Schade, jetzt erfahren wir nicht, was Frau Schmitz mitteilen wollte.
Es sind schon 20 Minuten vorbei und Monika macht nun voran im Pro-
gramm: eincremen, Einlage anlegen, Schuhe aus-, Hose und Bluse an- und
Schuhe wieder anziehen.
Frau Schmitz reinigt ausgiebig ihre Zahnprothese.
Monika dreht den Wasserhahn zu und sagt: „So ist gut.“ „So sauber waren
die Zähne ja noch nie.“
Frau Schmitz öffnet den Wasserhahn. Monika schließt ihn nach 5 Sekunden
wieder.
Sie will zum Ende kommen. Sie kann sich nicht mehr zusammenreißen.
Frau Schmitz kämmt sich. Monika nimmt ihr den Kamm aus der Hand: „Ich
tu mal hinten (kämmen).“
Endlich. Fertig.
Frau Schmitz: „Darf ich mich hinlegen?“
Monika: „Ich würde ja zuerst Kaffee trinken und mich dann hinlegen.“
Frau Schmitz: „Jetzt hab ich wieder Angst.“
Monika überhört das, schiebt Frau Schmitz im Rollstuhl zur Frühstücksgrup-
pe und gibt sie dort an eine Kollegin ab.
„Jetzt“, sagt Monika, „brauch ich eine Zigarette.“
Sie geht auf ihre Insel, das Raucherzimmer. Sie braucht jetzt eine Zeit, in der
sie nicht zur Verfügung stehen muss, keinen Meeresbewohner vor Augen sehen
will. Also einen Rückzugsraum. Nur leider sind echte Rückzugsräume in der
88 E. Schützendorf
Altenpflege selten. Selbst das separate Raucherzimmer schützt Monika nicht vor
den Bewohnern. Frau Schmitz ruft: „Ist da jemand?“ und Monika muss noch mal
alle Reserven zusammenreißen, um das Rufen zu überhören. Sie redet mit dem
Vogel, um nicht für Frau Schmitz da sein zu müssen. Sie will sich abschotten, nur
für sich sein. Diese Abschottungen sind zum Überleben notwendig. Nur leider
gelingen sie viel zu selten, weil in einem Pflegeheim die Bewohner immer prä-
sent sind. Das Gefühl, permanent anderen Menschen zur Verfügung stehen zu
müssen, macht die Arbeit in der Altenpflege für die Pflegenden auf Dauer un-
menschlich. Deshalb wird es höchste Zeit, die Pflegeheime zu verändern und die
Milieugestaltung vom Pflegenden aus zu denken. Nicht die Bewohner, sondern
Monika und ihre Kollegin brauchen die Vögel in dem Vogelbauer. Selbstsorge ist
das gute Recht der Pflegenden und dieses Recht muss auch finanziell unterstützt
werden.
Interessant ist Monikas Frage, ob sie auf ihrer Insel das Mitleid, das sie Frau
Schmitz nicht geben kann, ihrem armen Vogel zugutekommen lässt. Mag sein.
Vielleicht ist ja auch sie der arme Vogel, auf dem alle herumhacken. Auf jeden Fall
ist diese Frage ein Beweis, dass sich die Pflegerin auf das Abenteuer der Bildung,
des Verstehens und der Selbstreflexion eingelassen hat.
Somit hat sich die Methode der Interpretationswerkstatt bei Monika als hilf-
reich erwiesen. Sie hat den Prozess der Selbstpflege, von dem auch die alten
Menschen profitieren werden, begonnen. Voraussetzung für den Erfolg der Me-
thode sind Mitarbeiter(innen), die bereit sind, sich zurückzunehmen, auf Distanz
zu sich selbst zu gehen und von außen auf sich selbst zu schauen, die in der Lage
sind, die Perspektive zu wechseln und eine Zeit der Unsicherheit auszuhalten, bis
neue Sicherheiten gewonnen werden.
Leider treffen diese Eigenschaften nicht auf alle Mitarbeiter(innen) in der Al-
tenpflege zu. Einige (manchmal viele) verweigern sich und bleiben bildungsresis-
tent.
Wenn aber etwa die Hälfte eines Pflegeteams bereit ist, sich selbst in den
Blick zu nehmen und Pflege von sich aus zu denken, dann hat die Methode oft
durchschlagenden Erfolg. Sichtbar wird der Erfolg durch eine Milieugestaltung,
bei der die Selbstpflege der Mitarbeiter(innen) einen hohen Stellenwert hat.
Hier einige Beispiele:
Belobigungsecken
Ein Spiegel mit Kussmund oder einem Lorbeerkranz sagt: Verwöhn dich und
deine Kollegen! Massagegeräte fordern auf, den Rücken einer Kollegin zu mas-
sieren, sich selbst eine Fußmassage zu gönnen.
Entschleunigungsparcours
Mancher Pflegende versucht seine Anspannung abzulaufen. Wer sich dessen
bewusst ist, braucht seinen Wunsch nach innerer Ausgeglichenheit nicht mehr
dadurch zu verbergen, dass er allen sagt, wie viel er schon getan hat, was er noch
alles tun muss und dass mal wieder alle Arbeit bei ihm anfällt. Er läuft sich ein-
fach ab. Die langen Flure in den meisten Heimen sind als Lauftreff bestens ge-
eignet.
Wer pflegt, braucht Pflege 89
Entspannungsnischen
Andere Pflegende brauchen Ruhe und Entspannung, um nach belastenden Situ-
ationen Abstand zu gewinnen. Sie richten sich eine Oase der Ruhe in einer Ni-
sche, im Bad oder am Ende des Flures ein und schaffen sich dadurch einen
Raum, der ihnen Gelegenheit zur Besinnung bietet. Das kann ein Liegestuhl mit
Sonnenschirm, ein Zeltdach, eine Bank mit Stoffhimmel oder eine grüne Ecke
mit Brunnen sein.
Eine Pflegerin hat sich auf einer Fensterbank einen Entspannungsgarten an-
gelegt mit Moos, einem Zaun und Zwergen. Wenn sie zur Ruhe kommen will,
„arbeitet“ sie in ihrem Garten.
Atmungsstation
Man muss in der Pflege immer wieder mal aufatmen, durchatmen, frische Luft
atmen. Pflegerinnen benutzen dazu gerne eine Duftlampe, die sie an einer güns-
tigen Stelle platzieren. Oder sie haben sich einen Stuhl gekennzeichnet, auf dem
sie den „Kutschersitz“ anwenden.
Meditation
Im Flur steht eine Kiste mit Sand. Eine Pflegerin zeichnet mit ihren Fingern Spu-
ren in den Sand. Sie übt sich in Zen-Meditation.
Urlaubsstimmung
Eine Kollegin träumt an der Sandkiste von Urlaub. Sie lässt den Sand durch ihre
Finger rieseln und stellt sich den Strand vor. Ein Liegestuhl erinnert an Urlaub.
Man träumt sich weg, erinnert sich an schöne Urlaubstage und plant künftige.
Besänftigung
Ein Windspiel hängt vor dem Zimmer von Frau Jansen, die jeden mit ihren Fra-
gen nervt. Vor Betreten des Zimmers bringt man das Windspiel zum Klingen, um
sich zu besänftigen. Beim Verlassen kann man sich daran abschlagen, wenn die
Besänftigung nichts gebracht hat.
Gleichgewichtsübungen
Es gibt Teller mit halbrunden Kugeln, auf denen man zwischendurch testen kann,
ob man darauf stehend noch die Balance findet. Beliebt sind Sitzbälle zur Stabili-
sierung des Rückens.
Lachstationen
Die allermeisten Konflikte in der Altenpflege sind nicht lösbar. Am ehesten hilft
Lachen und Frohsinn. Zum Schmunzeln geeignet sind Postkarten, auf denen
Pflegende karikiert werden. Auch Pustefix (Seifenblasen) oder Hohlspiegel, in
denen man mal dick, mal schmal, mal riesig erscheint, erheitern. Oder der Plas-
tikfisch an der Wand der, wenn man auf ihn drückt „Don’t worry, be happy“
singt.
Entladungsstationen
Neben der Entspannung, der Entschleunigung, dem Ausgleich, dem Krafttanken
ist der Druckausgleich zum Abbau von Anspannung und Erregung in der Pflege
90 E. Schützendorf
Schlussbemerkung
Man muss keine Sorge haben, dass die Selbstpflege übertrieben wird.
Der Pflegende, der seine trotz oder gerade wegen des erheblichen Zeitdrucks
genommenen unreflektierten Aus-Zeiten in bewusste Eigen-Zeiten verwandelt,
der wird im nächsten Schritt überlegen, wie er seine Eigenzeiten mit den Be-
wohnern teilen kann. Und dann sind die Mitarbeiter(innen) da angekommen,
wo sie eigentlich immer hin wollten: bei den alten Menschen. Monika ist auf
dem besten Wege dazu.
Literatur
Schützendorf E (2006) Wer pflegt, muss sich pflegen. Springer, Wien NewYork
Schützendorf E (2004) Das Recht der Alten auf Eigensinn, 4. Aufl. Ernst-Reinhardt, München
Revision
M. Kletecka-Pulker
Grundsätzliches
1§ 13 GuKG.
2Vgl dazu näher Hausreither (2008) in: Aigner, Kletecka,
ˇ Kletecka-Pulker,
ˇ Memmer (Hrsg),
Handbuch Medizinrecht, Bd 2, III, S 540 ff.
92 M. Kletecka-Pulker
ˇ
allein verantwortlich für die Durchführung ihrer Aufgaben ist. Besitzt sie nicht
die entsprechenden Kenntnisse und erforderlichen Fähigkeiten für die Durch-
führung einer dieser Tätigkeiten, darf sie diese auch nicht annehmen. Man
spricht in diesem Zusammenhang von der sogenannten Einlassungs- bzw Über-
nahmsfahrlässigkeit.3
Mitverantwortlicher Tätigkeitsbereich
Gemäß § 49 Abs 2 ÄrzteG 1998 hat der Arzt seinen Beruf persönlich und unmit-
telbar, allenfalls in Zusammenarbeit mit anderen Ärzten auszuüben. Zur Mithilfe
kann er sich jedoch Hilfspersonen bedienen, wenn diese nach seinen genauen
Anordnungen und unter seiner ständigen Aufsicht handeln. Weiters kann der
Arzt im Einzelfall an Angehörige anderer Gesundheitsberufe oder in Ausbildung
zu einem Gesundheitsberuf stehende Personen ärztliche Tätigkeiten übertragen,
sofern diese vom Tätigkeitsbereich des entsprechenden Gesundheitsberufes um-
fasst sind. Er trägt die Verantwortung für die Anordnung. Die ärztliche Aufsicht
entfällt, sofern die Regelungen der entsprechenden Gesundheitsberufe bei der
Durchführung übertragener ärztlicher Tätigkeiten keine ärztliche Aufsicht vorse-
hen.
Die entsprechende Bestimmung enthält § 15 GuKG, welcher den mitver-
antwortlichen Tätigkeitsbereich der Pflege regelt. Dieser Bereich umfasst jene
Tätigkeiten, die das diplomierte Pflegepersonal nur nach ärztlicher Anordnung
durchführen darf, wie z. B. die Verabreichung von Arzneimitteln, Vorbereitung
und Verabreichung von subkutanen, intramuskulären und intravenösen Injektio-
nen, Vorbereitung und Anschluss von Infusionen bei liegendem Gefäßzugang
ausgenommen Transfusionen, sowie die Blutentnahme aus der Vene und aus den
Kapillaren.
Bei der Aufzählung von Maßnahmen im mitverantwortlichen Tätigkeitsbe-
reich handelt es sich allerdings um eine demonstrative (beispielhafte) Aufzäh-
lung. Es können auch andere ärztliche Maßnahmen vom mitverantwortlichen
Tätigkeitsbereich umfasst sein, die nicht in der Aufzählung enthalten sind. Ent-
scheidend ist dabei, dass die ärztliche Tätigkeit grundsätzlich auch vom entspre-
chenden Tätigkeitsbereich der diplomierten Pflege erfasst ist, einen vergleichba-
ren Schwierigkeitsgrad aufweist und die entsprechenden Kenntnisse und
Fertigkeiten auch in der Ausbildung oder in einer Fortbildung vermittelt wur-
den.4 So ist beispielsweise die Verabreichung von subkutanen Infusionen in
der demonstrativen Aufzählung des § 15 Abs 5 GuKG nicht enthalten. Die Ver-
abreichung subkutaner Infusionen entspricht grundsätzlich dem Stand der me-
dizinischen und pflegerischen Wissenschaft. Daher kann bei entsprechender In-
dikation aus fachlicher und rechtlicher Sicht die Delegation von subkutanen
3 ˇ
Hausreither (2008) in: Aigner, Kletecka, ˇ
Kletecka-Pulker, Memmer (Hrsg), Handbuch
Medizinrecht,Bd III, S 542.
4 Vgl näher mit weiteren Beispielen Hausreither (2008) in: Aigner, Kletecka,
ˇ ˇ
Kletecka-
Pulker, Memmer (2008), Handbuch Medizinrecht, Bd 2, III, S 555.
Schmerztherapie in der Pflege – rechtliche Rahmenbedingungen 93
und Krankenpflege.
13 EB 709 BlgNR 20. GP.
14 Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die 5-Jahresfrist zu berechnen. Die Verpflichtung
zur Absolvierung der entsprechenden Sonderausbildung innerhalb von fünf Jahren besteht ab
erstmaliger Aufnahme der Tätigkeit. Bei Wechsel in ein anderes Tätigkeitsfeld oder bei Berufs-
unterbrechung (z. B. Karenzurlaub) wird die 5-Jahresfrist unterbrochen und läuft ab Wieder-
aufnahme von Tätigkeiten der entsprechenden Spezialaufgabe weiter. Siehe BMGF 19.10.2006,
92251/0019-I/B/6/2005.
96 M. Kletecka-Pulker
ˇ
Fragen nicht von den einzelnen handelnden Personen unter Zeitdruck gelöst
werden müssen.15
Zu den Tätigkeitsbereichen der Intensivpflege, der Anästhesiepflege und der
Pflege bei Nierenersatztherapie zählen unter anderem auch die Mitwirkung an
der Schmerztherapie (§ 20 Abs 4 Z 9 GuKG).16 Zu den unter „Mitwirkung an
der Schmerztherapie“ fallenden Tätigkeiten zählen insbesondere der Wechsel
von Infusionsbehältern, der Wechsel von Perfusorspritzen und Pumpenfüllungen
sowie die Verabreichung von Bolusdosen in liegende periphere und zentrale
Schmerzkatheter. Rechtlich von Bedeutung ist die Unterscheidung, ob die „Mit-
wirkung an der Schmerztherapie“ als Tätigkeit nach § 15 GuKG zu beurteilen ist
und daher nach ärztlicher Anordnung auch von Angehörigen des gehobenen
Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege ohne Sonderausbildung verab-
reicht werden darf. Maßnahmen der „Mitwirkung an der Schmerztherapie“ kön-
nen umfassend sein. So kann eine Schmerztherapie oral, durch subkutane, in-
tramuskuläre, intravenöse Injektionen, subkutane oder intravenöse Infusionen
oder über liegende periphere oder zentrale Katheter erfolgen.
Sofern Schmerzmittel oral, subkutan, intramuskulär oder intravenös ver-
abreicht werden, fallen diese Tätigkeiten unter § 15 Abs 5 Z 1, 2 bzw 3 GuKG
und dürfen daher nach ärztlicher Anordnung auch von Angehörigen des geho-
benen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege ohne Sonderausbildung
verabreicht werden.17
Unter den mitverantwortlichen Tätigkeitsbereich fällt auch der Wechsel von
Perfusorspritzen, welcher im weitesten Sinne mit dem Anschließen einer
(„Mini“-)Infusion vergleichbar ist. Das Füllen von Schmerzpumpen, wie z. B.
PCA (patient controlled analgesia) – das Gerät wird in die Bauchdecke implan-
tiert bzw. Analgetika werden mittels eines dünnen Katheters in das Rückenmark
geleitet oder mittels tragbarer Infusionspumpe subkutan, intravenös oder epidu-
ral zugeführt –, fällt aus fachlicher Sicht ebenfalls in den mitverantwortlichen Tä-
tigkeitsbereich und kann daher nach Maßgabe des § 15 GuKG durch Angehörige
des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege ohne Sonderaus-
bildung in der Intensiv- oder Anästhesiepflege durchgeführt werden.
Eine Verabreichung von Schmerzmitteln (u. a. Bolusdosen) über einen lie-
genden Epiduralkatheter, Periduralkatheter, interskalenären Plexuskatheter etc.
fällt hingegen ausschließlich unter § 20 Abs 4 GuKG und darf daher nach ärztli-
cher Anordnung nur von Personen mit einer Berufsberechtigung in der Intensiv-
pflege, Anästhesiepflege oder Pflege bei Nierenersatztherapie durchgeführt wer-
den.
In der Praxis wird eine angeordnete Schmerztherapie z. B. nach Operationen
oder bei Palliativpatienten auch auf „Normalstationen“ von Angehörigen des
15In rechtlich besonders schwierigen Fällen ist eine Anfrage an das zuständige Ressort des
Gesundheitsministeriums ratsam.
16 Da auf Grund der Weiterentwicklung der medizinischen Wissenschaft der Schmerzthe-
rapie ein wesentlicher Stellenwert in der Intensivpflege, Anästhesiepflege und Pflege bei Nie-
renersatztherapie zukommt, wurde die Schmerztherapie in diese Bestimmung aufgenommen.
17 BMGF 19.10.2006, 92251/0019-I/B/6/2005.
Schmerztherapie in der Pflege – rechtliche Rahmenbedingungen 97
Einleitung
Schmerzen sind eine der häufigsten Gründe, einen Arzt aufzusuchen. Ihrer kon-
sequenten und richtigen Behandlung kommt jedoch nicht nur aufgrund der
Häufigkeit und der für den Patienten oft erheblichen Belastung große Bedeutung
zu. Vielmehr kann es bei Akutschmerzen bereits innerhalb kurzer Zeit zur Ent-
wicklung eines Schmerzgedächtnisses kommen. Experten sprechen von 6 Stun-
102 E. Rebhandl et al.
den, dies muss jedoch relativiert werden: Es kommt zur Entwicklung des
Schmerzgedächtnisses, wenn über mehrere Stunden starke Schmerzen bestehen
und die körpereigene Schmerzhemmung versagt. Dieses Schmerzgedächtnis
nimmt in der Pathophysiologie chronischer Schmerzen eine zentrale Rolle ein,
umso wichtiger ist die rasche, effiziente Therapie des akuten Schmerzgesche-
hens.
„Schmerz ist das, was der Patient angibt, wann immer er es angibt.“
McGafferey et al., 1999
Mit anderen Worten:
Sobald der Patient Schmerzen äußert, hat er sie auch!
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Patienten über die Gefahren
und die mögliche Chronifizierung von Schmerzen aufzuklären.
Da Schmerzen grundsätzlich als Alarmsignal des Körpers gelten, ist eine kon-
sequente Akutschmerztherapie mit allen verfügbaren und wirksamen Maßnah-
men sowie die gründliche Abklärung möglicher Ursachen und die damit verbun-
dene Differentialdiagnose unerlässlich.
Klassifizierung des Schmerzes nach der Zeitdauer
Akuter Schmerz
– Wird durch eine äußere oder innere Verletzung oder Schädigung
ausgelöst
– Seine Intensität korreliert mit dem auslösenden Reiz
– Seine Lokalisation ist klar bestimmbar
– Besitzt eine eindeutige Warn- und Schutzfunktion
Chronischer Schmerz
Neuropathischer Schmerz:
– Dauert länger, als zu erwarten ist
– Ist abgekoppelt von seinem auslösenden Ereignis
Nozizeptorschmerz:
– Dauert so lange wie die Schmerzursache
(z. B. Arthrose, Tumorschmerz)
– Ist gekoppelt an ein auslösendes Ereignis
– Wird zur eigenständigen Erkrankung
– Seine Intensität korreliert nicht mehr zwangsläufig mit seinem
auslösenden Reiz
– Hat seine Warn- und Schutzfunktion verloren
– Stellt eine besondere therapeutische Herausforderung dar
nach Likar (modifiziert), 2003
Nozizeptorschmerz
Somatischer Schmerz
Oberflächenschmerz
mit der Haut assoziiert
Warnsignal für Umweltreize (z. B. Nadelstich, Quetschung)
meist gut lokalisierbar
Tiefer Schmerz
Bindegewebe, Knochen, Gelenke, Muskulatur
belastungsabhängig (Bewegungsapparat)
andauernd (Weichteile)
Kopfschmerz (verbunden mit Indra-/extrakraniellen Blutgefäßen, Dura,
Kopfmuskulatur)
oft schlecht lokalisierbar
104 E. Rebhandl et al.
Diese einfachen Skalen geben dem Arzt die Möglichkeit, die aktuelle Intensi-
tät von Schmerzen zu erfahren und eine entsprechende Behandlung einzuleiten.
Dadurch eröffnen sich für Patient und Arzt neue Wege im Umgang mit Schmer-
zen: Für den Patienten werden die Schmerzen „greifbar“, für den Arzt die Patien-
tenführung und die Therapie erleichtert. Wird bei Schmerzpatienten bereits bei
der Erstvorstellung eine Schmerzskala verwendet und die Werte im Laufe der
Behandlung regelmäßig ermittelt und in ein Schmerztagebuch eingetragen, hilft
dies dem Arzt, den Verlauf der Therapie zu verfolgen und den Therapieerfolg zu
dokumentieren. Es ist empfehlenswert, bei jedem Arztbesuch die aktuelle
Schmerzintensität zu dokumentieren.
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0
Anilin-Derivate
Paracetamol 500–1000 mg 2000 mg 4–6 2
Pyrazol-Derivate
Metamizol 500–1000 mg 3000 mg 4–6 0,25
Salizylsäure
Azetylsalizylsäure 500–1000 mg 2,5 g 4–6 0,25
Aryl-Essigsäure
Diclofenac 50–100 mg 200 mg 6–8 1,5
Indometacin 25–50 mg 200 mg 8 3–11
Acemetacin 30–60 mg 300 mg 8–12 4
Aryl-Propionsäure
Ibuprofen 400–600 mg 2400 mg 6–8 1–2
Ketoprofen 50–100 mg 300 mg 8–12 1–2(– 6)
Dexibuprofen 200–400mg 1200 mg 6–8 1–
Naproxen 250–500 mg 1000 mg** 8–12 14
Anthranilsäure
Mefenaminsäure 250–500 mg 1000 mg 6–8 2
Heterozyklische Ketoenolsäuren
Meloxicam 7,5–15 mg 15 mg 24 20
Piroxicam 20 –40 mg 40 mg 24 35
Lornoxicam 4–8 mg 16 mg 8–12 3–4
COX-2-Hemmer
Celecoxib OA: 200 mg 400 mg 24 8–12
RA: 200–400 mg
Parecoxib 2 x 40 mg 80 mg 12
Sulfonanilide
Nimesulid 200 mg 200 mg 12 1,8–4,7
Nichtopioid-Analgetika
Die einzige Gemeinsamkeit dieser Gruppe von Analgetika liegt darin, dass sie
nicht am Opioidrezeptor ansetzen und deshalb unter der Sammelbezeichnung
Nichtopioid-Analgetika geführt werden. Bei all diesen Präparaten ist zu beach-
ten, dass ab einer bestimmten Dosierung keine Steigerung der analgetischen
Medikamentöse akute Schmerztherapie in der allgemeinmedizinischen Praxis 107
Wirkung, sehr wohl aber eine Zunahme der Nebenwirkungen erreicht werden
kann. Deshalb gelten Tageshöchstdosierungen (siehe Tabelle 3).
Vorteile:
– Gute und andauernde Analgesie
– Weniger Übelkeit und Erbrechen als unter Opioiden
– Keine Atemdepression
– Entzündungshemmend
Nachteile:
– Gefährdung der Nierenfunktion durch Verminderung der Prostazyklinproduktion
– Gastrointestinale Komplikationen (selten bei kurz dauernder Gabe)
– Ungenügende Wirksamkeit als alleinige Medikation bei schweren Schmerzzuständen
– Hemmung der Thrombozytenfunktion
Metamizol ist der bedeutendste Vertreter der nichtsauren Pyrazole. Die Be-
sonderheit dieser Substanzgruppe liegt in ihrer analgetischen, antipyretischen
und spasmolytischen Wirkung. In der Akut-Schmerztherapie bietet sich Meta-
110 E. Rebhandl et al.
mizol damit vor allem in der Behandlung von Kolikschmerzen an. Metamizol
darf – wie Diclofenac – i. v. nicht im Bolus verabreicht werden (obligate Infusi-
onszeit von mehr als 30 Minuten).
Opioide
Vorteile:
– Fehlende Organtoxizität
– Großer Dosierungsspielraum
– Gute Kombinierbarkeit
– Variable Darreichungsformen
– In kurzwirksamer und retardierter Galenik verfügbar
Nachteile:
– Übelkeit und Erbrechen
– Müdigkeit und Sedierung
– Obstipation
– Unter einigen Opioiden ist eine Atemdepression möglich (v.a. bei Agonisten wie
Fentanyl und Morphin)
men mit schnellem Wirkungseintritt sowie als Retardtablette erhältlich und eig-
net sich für die Behandlung sowohl akuter als auch chronischer Schmerzen. An
Nebenwirkungen sind, insbesondere bei i.v.-Verabreichung, Übelkeit und Erbre-
chen zu nennen, die Tendenz zur Obstipation ist jedoch weniger ausgeprägt als
bei anderen Opioiden. Übelkeit und Erbrechen können durch die vorübergehen-
de Gabe von Antiemetika (Metoclopramid oder Domperidon) gemildert werden,
da die Übelkeit nach etwa 7–14 Tagen wieder vergeht.
Kodein ist ein ausgezeichnetes Antitussivum, das ungefähr ein Zehntel der
schmerzstillenden Wirkung von Morphin besitzt. Als Monosubstanz wird es in
der analgetischen Therapie nur sehr selten verwendet, häufiger in Kombination
gemeinsam mit NSAR oder Paracetamol. Als Nebenwirkung verursacht Kodein
häufig eine ausgeprägte Obstipation, was den Einsatz v. a. bei älteren Patienten
limitiert. Dies gilt auch für Dihydrokodein, das eine stärkere analgetische Wir-
kung als Kodein hat und kommt als Retardtablette hauptsächlich in der Therapie
chronischer Schmerzen zum Einsatz.
Tabelle 7. Opioid-Umrechnungstabelle
Wirkstoff Angaben in mg
* Wegen der fast vollständigen Resorption von Oxycodon führt die Umrechnung von
Morphin oral zu Oxycodon oral mit Faktor 2 zu Überdosierungen.
Modifiziert nach Likar, 2002
Ketamin ist ein starkes Analgetikum, das sich hinsichtlich seines Wirkmecha-
nismus gänzlich von den Opioiden unterscheidet. Ketamin kommt vor allem in
der Notfallmedizin zum Einsatz.
Der Vorteil von Ketamin liegt im geringen Risiko einer behandlungsassoziier-
ten Atemdepression, und es eignet sich daher z. B. als Mittel der Wahl bei groß-
flächigen Verbrennungen. Ebenso kann es angezeigt sein, wenn bei der Erstver-
sorgung akuter Traumata Opioide nicht zur Anwendung kommen sollen.
Essentiell ist in jedem Fall ein exaktes Monitoring des Patienten. Seit kurzem
steht das reine Stereoisomer S-Ketamin zur Verfügung, das geringere psychoto-
mimetische Nebenwirkungen aufweist.
Antikonvulsiva wie Carpamazepin, Pregabalin und Gabapentin sind aus
dem therapeutischen Armamentarium für den neuropathischen Schmerz (NPS)
nicht wegzudenken. Ihnen allen gemeinsam ist jedoch, dass sie nicht zur Akut-
therapie eingesetzt werden können, da eine schrittweise Steigerung der Dosis
über mehrere Tage erforderlich ist. Als bedeutend hat sich die Diagnostik und
Abgrenzung des NPS vom nozizeptiven Schmerz gezeigt. So zählt zum NPS
nicht nur die Zoster-Neuralgie, sondern auch der NPS beim Diabetiker oder Tu-
morschmerzen. Bei der Wahl der geeigneten Substanz ist vor allem auf zentral-
nervöse Nebenwirkungen wie Sedierung (z. B. Clonazepam), Organschädigung,
z. B. der Leber und Medikamenteninteraktionen zu achten.
Die trizyklischen Antidepressiva (AD) spielen eine wichtige Rolle in der
Behandlung chronischer Schmerzen. Aufgrund der langen Zeitspanne bis zum
Wirkungseintritt (mindestens eine Woche) sind sie für die Akut-Schmerztherapie
Medikamentöse akute Schmerztherapie in der allgemeinmedizinischen Praxis 113
jedoch nicht geeignet. Bei Patient/inn/en über 65 Jahre sollte wegen der stark
anticholinergen Nebenwirkungen nur unter strenger Indikationsstellung ein tri-
zyklisches AD verwendet werden. Die selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-
hemmer (SSRI) haben nahezu keine analgetische Potenz.
Serotonin(5HT1)-Rezeptor-Agonisten (Triptane) kommen in der Behand-
lung der Migräne zum Einsatz und haben hier die älteren Mutterkornalkaloide
(Ergotamine) abgelöst. Sie sind hochwirksam und zeichnen sich durch einen
sehr schnellen Wirkungseintritt aus.
Muskelrelaxantien und Antispasmolytika werden bei jenen Krankheiten
eingesetzt, die einen pathologisch erhöhten Muskeltonus mit entsprechenden
Schmerzen oder eine Spastizität aufweisen. Sie sind besonders bei der Akutbe-
handlung solcher Zustände wirksam und erleichtern dadurch die Mobilisation
bzw. Lagerung und unterdrücken Release-Phänomene wie überschießende Re-
flexe, Kloni und schmerzhafte Muskelspasmen. Da Benzodiazepine (Diazepam,
Tetrazepam) ein hohes Abhängigkeitspotential besitzen, dürfen sie nur kurzfris-
tig eingesetzt werden. Tizanidin ist ein weiteres Medikament, das bei afferent
ausgelösten Spasmen, Multipler Sklerose, Querschnittssyndrom sowie bei Hirn-
infarkt und Hirntraumen eingesetzt wird (Diener et al. 2003).
Spezielle Problemsituationen
Kopfschmerzen
Die Behandlung akuter Kopfschmerzen kann differentialdiagnostisch eine Her-
ausforderung darstellen. Sorgfältige Anamnese und klinische Untersuchung sind
bei Patienten mit akuten Kopfschmerzen unerlässlich. Dies gilt insbesondere
dann, wenn der Patient angibt, erstmals unter starken Kopfschmerzen zu leiden.
In der Praxis kommen fast ausschließlich Patienten mit Migräne oder chronischen
Spannungskopfschmerzen, Kopfschmerzen aufgrund Medikamentenüberge-
brauchs, zervikogenen Kopfschmerzen oder symptomatischem Kopfschmerz im
Rahmen fieberhafter Infekte zum Arzt. Diese Kopfschmerzen sind differentialdia-
gnostisch von sekundär auftretenden Kopfschmerzen, z. B. infolge einer Blutung,
eines raumfordernden Prozesses oder Erkrankungen des Stützapparates abzu-
grenzen. Bei jedem Kopfschmerz, der erstmalig auftritt oder bei bestehen-
den Kopfschmerzen, die sich in Symptomatik, Dauer oder Frequenz verän-
dern, ist eine weiterführende Abklärung unumgänglich. Besondere Vorsicht
und allenfalls eine Klinikeinweisung ist bei erstmaligem Auftreten von Kopf-
schmerzen mit Aura-Symptomatik angezeigt. Ist die Anamnese nicht eindeutig,
sind bis zur endgültigen Abklärung Azetylsalizylsäure wegen der Blutungsgefahr
und Opioide wegen einer möglichen Symptomverschleierung kontraindiziert.
Die medikamentöse Behandlung primärer Kopfschmerzen muss aufgrund
mangelnder kausaler Therapieoptionen immer wieder aufs Neue der aktuellen
Leidenssituation des Patienten angepasst werden.
114 E. Rebhandl et al.
Akuter Migräneanfall
Bei der einfachen Migräne ohne Aura treten über einen Zeitraum von 4 bis
72 Stunden Kopfschmerzen auf, die stark oder mäßig stark sein können. Oft
werden die Schmerzen einseitig und pulsierend empfunden und verstärken sich
bei körperlicher Aktivität. Hinzu können Begleitsymptome wie Licht-, Lärm-
oder Geruchsempfindlichkeit sowie häufig Übelkeit und Erbrechen kommen.
Der neurologische Befund ist unauffällig.
Bei einer akuten Migräneattacke sind Schmerzmittel (Monopräparate!) mög-
lichst frühzeitig bereits bei den ersten Anzeichen einzunehmen und nicht erst,
wenn sich das Vollbild der Migräne-Kopfschmerzen manifestiert. Neben der
analgetischen Therapie sind häufig auch Antiemetika indiziert, da mögliches
Erbrechen sowie die für den Migräneanfall charakteristische eingeschränkte Ma-
genaktivität perorale Analgetika wirkungslos machen können. Hier empfehlen
sich Metoclopramid oder Domperidon.
Als Analgetika können ASS (1000 mg p. o.), Paracetamol (1000 mg rektal),
Ibuprofen (300-400 mg p. o.) oder Naproxen (500 mg p. o.) verordnet werden.
Neben der oralen Gabe ist die i. v.-Gabe von ASS (500–1000 mg) oder Metamizol
(500–1000 mg verdünnt z. B. auf 100 ml NaCl über 5 Minuten) Erfolg verspre-
chend.
Ergotaminen sollte zukünftig in der Migränetherapie keine Bedeutung mehr
zugemessen werden.
Bei schweren Attacken sind – zusätzlich zu den Antiemetika – die Triptane
Mittel der ersten Wahl. Triptane dürfen jedoch nicht während der Aura eines
Migräneanfalls verabreicht werden und auch nicht bei vorheriger Einnahme von
Ergotaminen (und -Derivaten) sowie bei einer Therapie mit MAO-Hemmern
oder bei bestehender KHK.
Da Migräne die Magenentleerung hemmt, sollte zuvor Paspertin vorausgege-
ben werden. Die p.o.-Gabe ist zwar die Regel, bei entsprechender Indikation wie
z. B. gastrointestinalen Problemen, verzögertem Wirkeintritt, etc. können auch
Suppositorien oder ein Nasalspray empfohlen werden.
Soweit unter örtlichen und zeitlichen Umständen möglich, sollte vor Behand-
lungsbeginn eine Zuordnung der Symptome zu dem Bild einer Migräne, eines
Spannungskopfschmerzes oder eines zervikogenen Kopfschmerzes versucht
werden. Die Möglichkeit eines abwendbar gefährlichen Verlaufes wie z. B. einer
Subarachnoidalblutung, einer Sinusvenenthrombose, einer akuten Hirndruck-
symptomatik im Rahmen einer intrazerebralen Raumforderung oder auch eines
Glaukomanfalles ist immer in Betracht zu ziehen.
Akuter Gichtanfall
Beim akuten Gichtanfall erfolgt die Schmerztherapie aufgrund von Anamnese
und klinischer Diagnose. Der Laborbefund ist sekundär, da ein Gichtanfall auch
bei normalen Harnsäurewerten auftreten kann. Wichtig ist die Differentialdia-
gnostik in Hinblick auf eine septische Arthritis. Entscheidend ist auch die Anam-
nese, da eine eitrige Arthritis häufig bei einer entsprechenden Grunddisposition
auftritt. Hier sind vor allem Immunsuppression, Diabetes und HIV-Infektion zu
nennen. Im akuten Anfall sind NSAR wie z. B. Diclofenac in der schnell löslichen
Form, Piroxicam (40 mg als Lyotabletten) oder auch das seit langem verwendete
Indometacin mit gleichzeitigem Magenschutz bei Risikopatienten (Protonen-
pumpenhemmer) Mittel der Wahl. Der Einsatz der modernen Coxibe wie Pare-
coxib hat auch hier bei gastrointestinalen Risikopatienten einen Stellenwert.
Eine bekannte Nierenschädigung (etwa infolge eines Diabetes) ist hier jedoch
– wie bei NSAR im Allgemeinen – eine Kontraindikation. Kann eine eitrige Arth-
ritis mit Sicherheit ausgeschlossen werden, ist auch Kortison indiziert, das beim
nierengeschädigten Patienten ebenfalls eingesetzt werden kann.
Neuropathischer Schmerz
Herpes zoster
Beim Herpes zoster ist grundsätzlich immer eine möglichst rasche virostatische
Behandlung indiziert. Leidet der Patient unter Schmerzen, ist eine rasche und
konsequente Schmerztherapie zur Vorbeugung einer Post-Zoster-Neuralgie von
großer Bedeutung. Da es sich beim Herpes zoster um ein entzündliches Gesche-
hen handelt, sind NSAR hier die Analgetika der ersten Wahl. Abhängig von der
Medikamentöse akute Schmerztherapie in der allgemeinmedizinischen Praxis 117
Postoperative Schmerzen
Der niedergelassene Arzt wird in die postoperative Schmerztherapie erst relativ
spät, i.e. nachdem der Patient das Krankenhaus verlassen hat, eingebunden. Zu
diesem Zeitpunkt sind die Schmerzen zumeist bereits so leicht, dass mit Nicht-
opioiden ausreichend therapiert werden kann. Da herkömmliche NSAR die
Thrombozytenaggregation hemmen, dürfen sie bei Blutungsrisiko nicht einge-
setzt werden. Hier stellen die selektiven COX-2-Hemmer oder Paracetamol und
Metamizol eine therapeutische Alternative dar. Bei anhaltenden Schmerzen ist
ein Opioid p.o. indiziert.
Steinkoliken
Die bei Koliken auftretenden krampfartigen, heftigsten Schmerzen sind zumeist
von vegetativer Symptomatik mit Schwitzen und Erbrechen begleitet, was neben
der Schmerztherapie die Verabreichung von Adjuvanzien wie zum Beispiel
Metoclopramid erforderlich macht. Neben Analgetika (z. B. Metamizol, Piracetam
und/oder Opioide) sind Spasmolytika wie N-Butylscopolamin indiziert. Ein The-
rapieversuch mit Nitroglyzerin ist oft sehr hilfreich.
unerlässlich. Neben der akuten Pankreatitis und dem Ileus sollten auch die
Colitis ulcerosa und die Diverticulitis primär mit Metamizol bzw. einer Kombina-
tion von Metamizol und Tramadol therapiert werden. Ein Opiat, das auch bei
akuter Pankreatitis, Ileus, Colitis ulcerosa einen Wert hat, ist Buprenorphin, da es
zu geringer Tonisierung des Sphinkter oddi führt. Morphin ist in diesen Indika-
tionen nach Möglichkeit zu vermeiden.
Zusammenfassung
Akute Schmerzen besitzen eine lebenswichtige Warnfunktion und bewahren den
Körper vor weiterer Schädigung. Werden sie nicht ausreichend behandelt, be-
steht das Risiko einer Chronifizierung des Schmerzes.
Eine rechtzeitige und konsequente Akutschmerztherapie mit allen verfügba-
ren und wirksamen Maßnahmen sowie die gründliche Abklärung möglicher Ur-
sachen und die damit verbundene Differentialdiagnostik sind daher unerlässlich.
Sie verbessert nicht nur die Lebensqualität des Patienten, sondern kann auch die
Heilungschancen erhöhen und die Behandlungsdauer verkürzen.
Da sowohl das Schmerzempfinden als auch die Medikamentenwirkungen in-
dividuell unterschiedlich erfahren werden, muss eine Individualisierung der
Schmerztherapie, auch im Hinblick auf die Compliance, oberstes Gebot sein. Zu-
sätzlich erfordert die individuelle Einschätzung spezieller Medikamentenrisiken,
besonders im Gastrointestinaltrakt, an der Niere und im kardiovaskulären Sys-
tem, eine individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung und gezielte Auswahl der
Schmerzmittel.
Der niedergelassene Arzt, der oftmals der erste Ansprechpartner des Patien-
ten bezüglich dessen Schmerzsymptomatik ist, nimmt in der Führung des Pati-
enten eine Schlüsselstellung ein; gerade im niedergelassenen Bereich können
die Erhaltung und Förderung der Patientencompliance maßgeblich zu einem
weiteren Therapieerfolg beitragen.
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Revision
Medikamentöse Tumorschmerztherapie
Einleitung
Nozizeptorschmerz
Nozizeptorschmerz entsteht durch direkte Aktivierung freier Nervenendigungen
von Nozizeptoren. Er wird weiter in einen somatischen und viszeralen Schmerz
122 R. Likar und G. Bernatzky
Neuropathische Schmerzen
Sie entstehen durch Schädigung des peripheren bzw. zentralen Nervensystems
und können durch Tumorkompression oder -infiltration von Nerven, Schädigung
von Nerven bei Operationen oder strahlenbedingte Plexopathien verursacht
werden. Diese werden oft als brennende Dauerschmerzen (kausalgiformer
Schmerz) oder als blitzartig einschießende Schmerzattacken (neuralgiformer
Schmerz) beschrieben. Neuropathische Schmerzen strahlen teilweise nach peri-
pher in das Versorgungsgebiet betroffener Nerven aus (projizierter Schmerz). Die
Grundkenntnis der Ätiologie und Pathogenese von Schmerzen ist v. a. bei Tu-
morpatienten eine wichtige Therapievoraussetzung und bestimmt die Auswahl
der Medikamente.
Therapieprinzipien
Die medikamentöse Schmerztherapie sollte so lange wie möglich oral mit re-
tardierten Präparaten oder transdermal durchgeführt werden.
Erst danach sollten invasive Verfahren, d. h. eine subkutane, intravenöse, epi-
durale bzw. spinale Medikamentengabe bzw. Nervenblockaden zum Einsatz
kommen, begleitend zur Anwendung physikalischer und psychotherapeutischer
Maßnahmen. Für diese Maßnahmen sind Schmerz- und Palliativzentren not-
wendig.
Schmerz
Diagnostik
Regionalanästhesie, Diagnostik
Neurochirurgie, etc.
oder
Symptomatische
WHO-Stufenplan Schmerztherapie
orale Medikamente
transdermale Medikamente
oder Psychologische
Begleittherapie
subkutane Opioide
spinale Opioide
Schmerzlinderung
unterstrichen: Aufgaben in speziellen Schmerz- und Palliativzentren
WHO-Stufenplan
Die WHO nennt für das von ihr vorgeschlagene Stufenschema zur medikamen-
tösen Behandlung der Schmerzen Erfolgsraten von bis zu 90%, eingeteilt wird in
drei Stufen.
124 R. Likar und G. Bernatzky
1: Nichtopioidanalgetika Metamizol,
± Adjuvantien Diclofenac, Naproxen, Ibuprofen
Paracetamol
Stufe I: Nichtopioid-Analgetika
Zu den Nichtopioid-Analgetika gehören die nichtsteroidalen Antirheumatika
(NSAR) wie Azetylsalizylsäure, Ibuprofen und Diclofenac, Anilinderivate wie Para-
cetamol und Pyrazolderivate wie Metamizol. Bei den meisten dieser Medikamente
treten ab bestimmten Dosierungen verstärkt Nebenwirkungen ohne Steigerung
des analgetischen Effektes auf (Ceiling-Effekt). Beim Risiko von gastrointestinalen
Nebenwirkungen sollten nichtsteroidale Antirheumatika mit Protonenpumpen-
hemmer oder Prostaglandin analog und E2-Ciprostol kombiniert werden.
Tabelle 1. Nichtopioid-Analgetika
Analgetisch +++ ++ +
Antipyretisch ++ + +
Antiinflammatorisch (+) ++ 0
Spasmolytisch + 0 0
Auf der Stufe III ist Morphin nach wie vor das Standardmedikament. Bei Nieren-
insuffizienz und älteren Patienten empfiehlt sich eine Dosisreduktion oder eine
126 R. Likar und G. Bernatzky
Trizyklische Antidepressiva
Antikonvulsiva
Kortikosteroide
Zusammenfassung
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Revision
Einleitung
Mechanismus
Nichtopioid-Analgetika blockieren die Synthese von Prostaglandinen, da sie die
Zyklooxygenasen Typ I und Typ II hemmen (Abb. 1). Dadurch kommt es zu einer
verringerten Sensibilisierung von Schmerzrezeptoren, die als Nozizeptoren be-
zeichnet werden. Nichtopioid-Analgetika wirken aber nicht nur peripher, son-
dern auch auf spinaler und supraspinaler Ebene analgetisch (Brack et al. 2004;
Hyllested et al. 2002).
Glukokortikoide
Arachidonsäure IL-4, IL-10, IL-13
–
IL-1, TNF-
Konventionelle Selektiver
X NSAR X X COX-2-
Inhibitor
Magen/Darm Rückenmark
Niere Niere Entzündung
Thrombozyten Uterus Schmerz
Gefäße Wundheilung
Vertreter
Zur postoperativen, parenteralen Schmerzbehandlung stehen aus der Gruppe
der Nichtopioid-Analgetika zur Verfügung:
die zentral wirksamen Substanzen: Paracetamol und
Metamizol und
die peripher und zentral wirksamen NSAR: Azetylsalizylsäure
Diclofenac,
Ketoprofen
Piroxicam und
Lornoxicam (nur in Österreich) sowie
der selektive COX-II-Hemmer: Parecoxib
Postoperativer Einsatz von Nichtopioid-Analgetika 133
Ist der Patient bereits in der Lage zu schlucken, können alle in Tabelle 1 ge-
nannten Substanzen (bis auf Parecoxib) auch peroral verabreicht werden.
Zur peroralen Applikation gibt es darüber hinaus noch Acemetacin
Dexibuprofen
Ibuprofen und
Naproxen
Mefenaminsäure
Die Auswahl der Nichtopioid-Analgetika sollte nach pathopysiologischer
Ursache und damit nach Art des Eingriffs erfolgen. Weiters spielen vorhandene
Begleiterkrankungen (Allergie, Niereninsuffizienz, Thrombozytopenie usw.) eine
Rolle bei der Auswahl der Nichtopioide. Bei viszeralen Schmerzen werden
vermehrt spasmolytisch wirkende Substanzen, bei knochenchirurgischen Ein-
griffen die stärker entzündungshemmenden Substanzen zum Einsatz kommen
(Tabelle 2) (Jage 2004)
NSAR
Die klassischen NSAR sind postoperativ gut analgetisch und gut entzündungs-
hemmend. Besonders wichtig in der postoperativen Schmerztherapie ist die
Kombination von Nichtopioid-Analgetika mit Opioiden. Damit erreicht man
eine Reduktion des Opioidverbrauchs in den ersten 24 Stunden um bis zu 40 %
und dadurch bedingt auch geringere Opioidnebenwirkungen; vor allem kommt
es zu einer Verringerung von Nausea und Emesis.
Da die Thrombozytenaggregation ausschließlich über die Zyklooxygenase I
gesteuert wird, kommt es unter den klassischen NSAR zu einer Beeinträchtigung
der Thrombozytenfunktion und dadurch zu einer verstärkten perioperativen Blu-
tungsneigung. Besonders hoch ist das Nachblutungsrisiko bei Tonsillektomien.
Werden ausschließlich Opioide zur Analgesie bei Tonsillektomien eingesetzt,
liegt das Nachblutungsrisiko bei 1–4 %.Beim Einsatz von klassischen NSAR er-
höhte sich das Risiko auf 9–14 % (Drake und Stokes 1998; Judkins et al. 1996;
Splinter et al. 1996).
Die klassischen NSAR zeigen darüber hinaus vor allem gastrointestinale Ne-
benwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Gastritis, Ulcus ventriculi oder duodeni
und gastrointestinale Blutungen, aber auch renale Nebenwirkungen wie Nieren-
funktionsstörungen, Oligurie, Anurie, Proteinurie oder interstitielle Nephritis. Zu
beachten sind auch allergische und pseudoallergische Reaktionen besonders bei
intravenöser Injektion. Asthmapatienten sind hier besonders gefährdet. Zentral
nervöse Nebenwirkungen wie Sedierung, Somnolenz, Sehstörungen, Halluzina-
tionen treten sehr selten auf.
Daraus ergeben sich absolute und relative Kontraindikationen bei Anwen-
dung eines klassischen NSAR zur postoperativen Schmerztherapie:
Absolute Kontraindikationen: Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes,
Gastritis, Magen- und Darm-Ulzera, Gerinnungsstörungen, Niereninsuffizienz,
schwere Perfusionsminderung der Niere, Herzinsuffizienz, schwere Anämie und
Ascites. Auch gleichzeitige Behandlung mit potentiell nephrotoxischen Pharma-
ka wie Diuretika oder Antibiotika sind Kontraindikationen.
Relative Kontraindikationen sind: Asthma bronchiale, rezidivierende Magen-
Darm-Beschwerden und anamnestisch Magen-und Darm-Ulzera (Angster und
Hainsch-Müller 2005; Passero und Chowdhry 2003).
Bezüglich der Auswirkungen von NSAR auf die Niere ist anzumerken, dass
bei kurzzeitiger postoperativer Anwendung bei sonst gesunden Patienten die
Nierenfunktion nicht beeinflusst wird (Jage 2004). Auch thromboembolische Er-
eignisse, wie sie bei Langzeittherapie mit NSAR eintreten können, sind bei einer
postoperativen Kurzzeittherapie nicht zu befürchten.
Diclofenac steht als Kombinationspräparat mit Orphenadrinzitrat intra-
venös zur Verfügung. Der Vorteil ist in der Kombination das Orphenadrinzitrat,
welches ein Methylderivat von Diphenhydramin ist und eine zentral angreifende
myotonolytische und zentral analgetische Wirkung hat und zusätzlich noch anti-
histaminerge und anticholinerge Eigenschaften aufweist. Die Kombination von
Postoperativer Einsatz von Nichtopioid-Analgetika 135
COX-2-Hemmer
Metamizol
ist, ist der postoperative viszerale Schmerz. Das vieldiskutierte Risiko der Agra-
nulozytose durch Metamizol wird noch immer kontrovers diskutiert.
Ältere Arbeiten zeigten, dass Metamizol ein Risiko von 1,1 pro 1 Mill. An-
wendungswochen hat (Kaufmann et al. 2004). Eine Studie konnte zeigen, dass
eine erhöhte Agranulozytoserate nach Metamizolgabe in Schweden von 1:1431
Verschreibungen zu beobachten war (Hedenmalm und Spigset 2002).
Diskutiert werden genetische Ursachen. Neuere prospektive Studien zeigen,
dass das Risiko einer Agranulozytose in Polen extrem niedrig ist (Ibanez et al.
2004). Da Metamizol in der postoperativen Schmerztherapie eines der meistver-
wendeten und am breitesten eingesetzten Nichtopioid-Analgetika im deutsch-
sprachigen Raum ist, kann man auch aus klinischer Erfahrung den neueren Inzi-
denzzahlen recht geben.
Die gefürchtete massive Hypotension bei intravenöser Gabe lässt sich durch
langsame Infusion vermeiden. Diese Infusion sollte über einen Zeitraum von 15–
30 Minuten verabreicht werden (Jage 2004).
Paracetamol
Paracetamol wirkt analgetisch und antipyretisch und hat keine antiphlogistische
Wirkung. Man geht ebenfalls von einer zentralen antinozizeptiven Wirkung aus,
und zwar verhindert Paracetamol spinal die Prostaglandin-E2-Freisetzung und
hat einen inhibitorischen Effekt auf die Gunanylatzyklase Auch für eine Aktivie-
rung von serotonerger Mechanismen gibt es Hinweise. Die intravenöse Verabrei-
chung muss rasch als Kurzinfusion gegeben werden, um einen ausreichenden
Wirkspiegel im ZNS zu erreichen. Die Kombination von Paracetamol mit ande-
ren Nichtopioid-Analgetika verstärkt die schmerzhemmende Wirkung der Ein-
zelkomponenten (Tabelle 3) (Hyllested et al. 2002; Jage 2004).
Eine Untersuchung konnte zeigen, dass, wenn der Patient vorher einen 5-
Hydroxy-Tryptamin-3-Antagonisten erhalten haben, die intravenöse Perfalgan-
wirkung abgeschwächt ist (Pickering et al. 2006).
Paracetamol hat noch den Vorteil, dass es postoperativ auch während der
Schwangerschaft und während der Stillzeit angewendet werden kann.
Die gefährlichste Nebenwirkung von Paracetamol ist die Hepatotoxizität.
Die Hauptmetabolite sind das Gukuronid (60 %) und das Sulfat (ca. 35 %).
Weniger als 3 % werden durch das Zytochrom-P-450-System zu dem toxischen,
elektrophilen und oxydierenden Intermediärmetaboliten N-Acetyl-P-Benzo-
chinonimin hydroxyliert, der in der Regel sofort durch Glutathion neutralisiert
wird. Bei Überschreiten der Einzel- oder Tageshöchstdosierung von Paracetamol
ist die Glutathionreserve rasch erschöpft und der reaktive Metabolit kann dann
nicht mehr neutralisiert werden. Durch kovalente Bindung dieses Metaboliten an
intrazelluläre Proteine werden lebensbedrohende Leberzellnekrosen induziert
(Anderson et al. 1995; Morton und Arana 1999).
Postoperativer Einsatz von Nichtopioid-Analgetika 137
Tabelle 3. Kombinationsmöglichkeiten
Paracetamol + NSAID/COX-2-Hemmer
NSAID + Paracetamol/Metamizol
COX-2-Hemmer + Paracetamol/Metamizol
Metamizol + NSAID / COX-2-Hemmer
Für die postoperative Schmerztherapie bei Kindern stehen nur wenige Analge-
tika in kindergerechten Applikationsformen und Dosierungen zur Verfügung
(Tabelle 4).
Paracetamol kann als Zäpfchen bzw. als Tablette bei wenig schmerzhaften
Eingriffen bzw. bei Eingriffen an der Körperoberfläche eingesetzt werden. Die
Gabe von Suppositorien bereits bei Narkoseeinleitung hat sich bewährt, wobei
initial eine Dosierung von 20–40 mg/kg KG eingesetzt wird (Anderson et al.
1995). Die maximale Tagesdosis liegt bei 100 mg/kg KG und diese darf nur an
drei aufeinanderfolgenden Tagen verabreicht werden. Die potentielle Lebertoxi-
zität von Paracetamol ist bei Kindern besonders zu beachten (Morton und Arana
1999). Bereits die doppelte Tagesmaximaldosis von 200 mg/kg KG kann zu le-
bensbedrohlichen Vergiftungen führen. Bei bekannter Leberfunktionsstörung
muss auf eine Therapie mit Paracetamol verzichtet werden.
Tabelle 4.
* Initialdosis von 20–30 mg/kg/KG empfehlenswert, absolute THD 100 mg/kg/Kg, THD
nicht länger als 72 h.
Zusammenfassung
Nichtopioid-Analgetika sind nach wie vor die Mittel der Wahl für die postoperative
Schmerztherapie. Die Nebenwirkungen der klassischen NSAR hinsichtlich
Thrombozytenfunktion und Blutungsrisiko müssen bedacht werden. Niere und
Gastrointestinaltrakt werden bei kurzfristiger Anwendung eher nicht in Mitleiden-
schaft gezogen. Die Nebenwirkungen der selektiven COX-2-Hemmer hinsichtlich
des Risikos von kardiovaskulären Komplikationen einschließlich Myokardinfarkt,
Herzinsuffizienz und Schlaganfall müssen berücksichtigt werden, kommen aber
bei der Anwendung über wenige Tage kaum zu tragen. Metamizol hat wenige Ne-
benwirkungen, ein Restrisiko für eine Agranulozytose bleibt. Das Überschreiten
der Tageshöchstdosis bei Paracetamol kann zu Hepatotoxizität führen.
Mit der Kombination von Nichtopioid-Analgetika mit Opioiden in der post-
operativen Schmerztherapie erreicht man sehr oft ein verbessertes klinisches Er-
gebnis. Der postoperative Opioidverbrauch wird durch die Kombination gesenkt
und dadurch können die opioidbedingten Nebenwirkungen signifikant reduziert
werden.
Entsprechend der Schwere des Eingriffs werden Analgetikagaben auch mit
verschiedenen anderen Verfahren der Schmerzkontrolle kombiniert (Abb. 2).
Das Ziel der Behandlung ist eine suffiziente Schmerzlinderung, die Verhinde-
rung von Komplikationen wie Pneumonie oder Thrombose, eine frühe Mobilisa-
tion, ein kürzerer Klinikaufenthalt und schnelle Rehabilitation, damit größere Pa-
tientenzufriedenheit und verbesserte Lebensqualität. Durch die suffiziente
Schmerztherapie kann auch eine Chronifizierung postoperativer Schmerzen ver-
hindert werden.
Literatur
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Revision
H. Bröll et al.
Problemstellung
Ein zentrales Argument für den Einsatz von NSAR i.v. ist der rasche Wirkungs-
eintritt nach etwa zehn Minuten. NSAR i.v. haben sich in einer Reihe von Indika-
142 H. Bröll et al.
tionen hervorragend bewährt. Generell gilt dies für praktisch alle Formen des
Akutschmerzes, also zum Beispiel sämtliche Schmerzen im muskuloskelettalen
Bereich, Schmerzen im unfallchirurgischen Bereich, Schmerzen im gynäkologi-
schen Bereich, Schmerzen im zahnärztlicher Bereich, Nieren- und Gallenkoliken,
Migräneanfälle, etc. Besonders hervorzuheben ist der Stellenwert von NSAR i.v.
bei kleineren Eingriffen bis hin zu mittelschweren Operationen, bezogen auf den
Zeitraum der therapiebedürftigen Schmerzen nach der Operation, also ein bis
fünf Tage.
NSAR i.v. sollten nur bei Patienten eingesetzt werden, die keine Kontrain-
dikationen in Bezug auf vorbestehende Organdysfunktionen (Niere, Leber,
Gastrointestinaltrakt, eventuell Herz-Kreislauf-Erkrankungen), erhöhte Blutungs-
risiken oder Wundheilungsstörungen aufweisen. Vorsicht ist weiters geboten
beim frühzeitigen postoperativen Einsatz nach Eingriffen mit erhöhtem Blu-
tungsrisiko, wie z. B. urologischen und neurochirurgischen Operationen oder
nach Tonsillektomien. Die Auswirkung eines NSAR auf das Blutungsrisiko ist
auch abhängig von der Halbwertszeit des jeweiligen Medikaments; Medikamen-
ten mit kurzer Halbwertszeit ist der Vorzug zu geben.
Die Gabe von NSAR i.v. hat gegenüber einer enteralen Applikation in der Akut-
schmerztherapie einige Vorteile: So ist die Anschlagszeit deutlich kürzer, dazu
kommen die bessere Steuerbarkeit und eventuell ein höherer Placeboeffekt. Im
Bereich der unerwünschten Wirkungen besteht generell der Eindruck einer bes-
seren gastrointestinalen Verträglichkeit. NSAR i.v. weisen gruppenspezifische
Der Stellenwert von NSAR i.v. in Kombination mit krampflösenden Substanzen 143
Für die Kombination von NSAR mit Muskelrelaxantien bzw. mit Orphenadrin-
zitrat sprechen eine Reihe von Argumenten: Zum Beispiel kann damit bei
Schmerzverspannungen der Kreislauf von Schmerz und Verspannung unterbro-
chen werden. Bei reflektorischen muskulären Spannungszuständen bei Gelenk-
und Wirbelsäulenproblemen kann diese Wirkstoffkombination zu einer Muskel-
relaxierung und somit auch zu einer effektiveren Schmerzlinderung führen.
Im Fall der Kombination von Diclofenac-Natrium und Orphenadrinzitrat
kommt noch eine antihistaminische Wirkung dazu, der damit verbundene ab-
schwellende Effekt kann bei Schmerzformen mit autoimmunologischer Kompo-
nente relevant sein. Dieser Synergismus erfolgt bei einer Kombination mit einem
reinen Muskelrelaxans nicht.
Patienten mit NSAR sollten zusätzlich Protonenpumpen-Inhibitoren (PPI)
verabreicht werden, diese verlangsamen allerdings die Metabolisierung der Mus-
kelrelaxantien. Orphenadrinzitrat unterliegt jedoch einer anderen Metabolisie-
rung und weist daher in Kombination mit Diclofenac einen weiteren Vorteil auf.
Unverändert gelten auch bei solchen Wirkstoffkombinationen die in Punkt 2
genannten Hinweise auf Kontraindikationen.
Ein Teilnehmer an diesem Positionspapier berichtet, dass seine persönlichen
Erfahrungen im neurologischen Bereich den Einsatz der Kombination Diclofe-
nac-Natrium mit Orphenadrinzitrat insofern als limitiert erscheinen lassen, als es
dadurch besonders bei älteren Patienten zu Beinödemen gekommen ist.
Beim Einsatz von NSAR kommt es zu gruppenimmanenten Hemmung der
Natriumausscheidung durch Interferenz mit der Nierendurchblutung (Folge der
Prostaglandin-I-Synthesehemmung), aber auch einer direkten Einwirkung auf
das Nierenepithel. Die Ausbildung von Knöchelödemen ist somit eine Neben-
wirkung, welche nicht Orphenadrin-, sondern Diclofenac- bzw. NSAR-spezifisch
ist.
NSAR i.v. haben sich u. a. wegen des raschen Wirkungseintritts in der Behand-
lung von akutem Schmerz in einer Reihe von Indikationen sehr gut bewährt.
Eine möglichst breite Palette von NSAR i.v. ist wünschenswert, weil dadurch in-
dividuell der Wechsel der Darreichungsform ohne einen Wechsel des Wirkstoffes
ermöglicht wird. Substanzen mit kurzer Halbwertszeit sind von Vorteil.
Für die Kombination von NSAR mit Muskelrelaxantien bzw. Orphenadrin-
zitrat sprechen folgende Argumente: Die Kombination von NSAR und Orphen-
adrinzitrat i.v. hat aufgrund ihrer krampflösenden, schmerzstillenden und
entzündungshemmenden Wirkung sowie einer darüber hinaus bestehenden
Der Stellenwert von NSAR i.v. in Kombination mit krampflösenden Substanzen 145
Literatur
Literatur bei den Verfassern
Revision
R. KRUMPHOLZ
R. Kr umpholz
Einleitung
Pflegende spielen eine wichtige Rolle bei der Prävention und Behandlung von
Schmerzen. Sie sind in der Regel 24 Stunden am Tag bei den kleinen Patienten
und können daher Schmerzen rechtzeitig erkennen.
Sie bereiten Kinder auf schmerzhafte Eingriffe vor, haben den meisten Kon-
takt mit den Eltern und bilden ein Bindeglied zwischen diesen und den Ärzten.
Sie haben durch ihr Verhalten einen großen Einfluss darauf, wie Kinder
Schmerzen erleben, und können durch einfache Maßnahmen zur Erleichterung
beitragen.
Ein Kind reagiert altersabhängig auf Schmerzen, wobei sich diese Abhängigkeit
sowohl auf die kognitive als auch auf die emotionale Entwicklung des Kindes be-
zieht.
In den beiden ersten Lebensjahren zeigt es auf Schmerz motorische Reaktio-
nen. Ein Neugeborenes, das in die Ferse gestochen wird, zieht den Fuß instinktiv
zurück. Ein einjähriges Kind, das begreift, dass eine bestimmte Handlung
Schmerzen verursacht, versucht sich gegen diese zu wehren. Mit zwei Jahren
kann ein Kind bestimmte Gegenstände, zum Beispiel eine Spritze, mit schmerz-
haften Ereignissen assoziieren und sich daran erinnern.
Im Vorschulalter sind kindliche Phantasien vorherrschend, die von der Wirk-
lichkeit oft nicht unterschieden werden können. Kinder glauben zum Beispiel, sie
sind krank geworden, weil sie „nicht brav“ gewesen sind.
Schulkinder können bereits logisch denken und ihre eigenen Erfahrungen
zuordnen. Sie erkennen Ungerechtigkeiten und Unwahrheiten kommen sehr
schlecht an. Einmal belogen verlieren sie schnell das Vertrauen und lassen sich
nur sehr schwer überzeugen. Ältere Kinder und Jugendliche sind schon in der
Lage Zusammenhänge zu begreifen und wollen über ihre Erkrankung und die
notwendige Behandlung informiert werden.
Kinder sollten daher altersgemäß darüber informiert werden, was auf sie zu-
kommt. Man sollte niemals behaupten, dass eine Spritze nicht weh tut oder dass
alles gleich wieder gut wird, wenn es nicht stimmt. Genauso wichtig ist es, ein
Kind nicht allein zu lassen und nach dem Eingriff zu trösten.
Parallel zur kognitiven Entwicklung verläuft die emotionale Entwicklung ei-
nes Kindes. Ein Säugling, auf dessen Bedürfnisse eingegangen wird, der liebevoll
umsorgt wird und ausreichend Körperkontakt erfährt, entwickelt ein so genann-
tes Urvertrauen. Unangenehme Situationen sollten so weit wie möglich vorher-
sehbar sein, sodass er sich darauf einstellen kann. So sollte man einen schlafen-
den Säugling wecken, bevor man eine Injektion verabreicht.
Kleinkinder beharren zwar zunehmend auf ihrer Selbständigkeit, trotzdem
brauchen sie in diesem Alter noch sehr viel Liebe und Zuwendung in kritischen
und unangenehmen Situationen. Keinesfalls darf man diese Kinder alleine las-
sen. Eine Vertrauensperson, die die nötige Ruhe ausstrahlt, sollte bei allen
schmerzhaften Eingriffen dabei sein.
Ältere Kinder wollen aktiv werden und die Situation selbst kontrollieren.
Wenn möglich sollte man diesen Kindern Gelegenheit geben, den Eingriff mit-
150 R. Krumpholz
zugestalten. Sie dürfen sich zum Beispiel ihr Lieblingsspielzeug mitnehmen oder
sich aussuchen, ob sie lieber sitzen oder liegen wollen.
Schulkinder lernen mit Leistungsanspruch und Anerkennung für geleistete
Aufgaben umzugehen. Sie sind auch in der Lage mit Schmerzen umzugehen.
Das Gefühl, einen schmerzhaften Eingriff zu bewältigen, nimmt die Angst und
erfüllt diese Kinder mit Stolz. Je älter die Kinder werden, umso mehr wollen sie
selbst über ihren Körper entscheiden und ihre Autonomie bewahren.
Schmerzempfinden und Schmerzverhalten werden von der Kultur geprägt, in
der ein Kind aufwächst.
Ob Schmerzen als normal oder behandlungsbedürftig empfunden werden,
hängt ebenfalls davon ab. Die Art, wie Schmerzen von Kindern anderer Kultur-
kreise geäußert werden, ist für uns mitunter befremdend und wirkt oft übertrie-
ben und unangemessen. Trotzdem sollte man sich hier nicht von Vorurteilen lei-
ten lassen und bei Unklarheiten frühzeitig einen Dolmetscher einschalten.
Wie in der Familie mit Schmerzen umgegangen wird, spielt genauso eine gro-
ße Rolle. Dürfen kleine Jungen weinen oder spürt ein Indianer keinen Schmerz?
Leidet ein Elternteil häufig unter Schmerzen und zieht damit die Aufmerksam-
keit auf sich? Ein Kind lernt in der Familie, welches Verhalten zu welchem
Schmerz gehört und wie seine Umgebung darauf reagiert.
Kind Eltern
Kannst du mir sagen, was Schmerzen Welche Worte benutzt Ihr Kind, um
sind? Schmerzen zu beschreiben?
Wie war es, als du das letzte Mal Können Sie das letzte Schmerzerlebnis
Schmerzen hattest? Ihres Kindes beschreiben?
Sagst du es jemandem, wenn du Sagt Ihr Kind es Ihnen, wenn es
Schmerzen hast? Schmerzen hat?
Was machst du, wenn du Schmerzen Woran merken Sie, wenn Ihr Schmerzen
hast? hat?
Was sollen andere für dich tun, wenn Wie reagiert Ihr Kind gewöhnlich auf
du Schmerzen hast? Schmerzen?
Was sollen andere nicht tun, wenn Was tun Sie gewöhnlich, wenn Ihr Kind
du Schmerzen hast? Schmerzen hat?
Was lindert deine Schmerzen am Was tut Ihr Kind selbst, um die
besten? Schmerzen zu lindern?
Quelle: Acute pain management in infants, children and adolescents: Operative and
medical procedures. Quick practice guideline, US Department of Health and Human Ser-
vices, Public Health Service, Agency for Health Care Policy and Research.
Schmerztherapie bei Kindern und Jugendlichen 151
Schmerzprävention
Schmerzeinschätzung
Ob ein Kind Schmerzen hat oder ob es sich aus anderen Gründen unwohl fühlt,
lässt sich umso schwerer unterscheiden, je jünger das Kind ist.
Wie Pflegende Schmerzen beurteilen, hängt vom Verhalten des Kindes, der
Eltern, der medizinischen Diagnose und ihrer Erfahrung ab. Oft wird auf die
Gabe von Analgetika aus Angst vor Nebenwirkungen vor allem bei Säuglingen
verzichtet.
Wir können nicht feststellen, wie intensiv ein Kind Schmerzen empfindet. Wir
sind darauf angewiesen möglichst viele Informationen zu sammeln, um die
Schmerzintensität einzuschätzen.
Dazu wird in den Niederlanden die so genannte „Questt“-Methode empfoh-
len:
Question the child
Use pain scales
Evaluate behaviour and physical changes
Secure parents’ involvement
Take cause of pain into account
Take action and evaluate results
Bei Kindern unter 2 Jahren werden Scores empfohlen, die eine Schmerzein-
schätzung mit Hilfe von Verhaltenskomponenten vornehmen. Einfach in der
Anwendung ist die KUSS (Kindliche Unbehagens- und Schmerz-Skala).
KUSS
Kindliche Unbehagens- und Schmerz-Skala
2
3
mäßiger Schmerz – indifferentes Gesicht
. 2
4
5
mittelstarker Schmerz – trauriges Gesicht
/ 3
6
7
8
starker Schmerz – sehr trauriges Gesicht
/ 4
9
10
stärkster vorstellbarer Schmerz – weinendes Gesicht
/
.. .. 5
Abb. 2.
Wichtig dabei ist, dass die Kinder möglichst vor dem schmerzhaften Ereignis
die Gelegenheit bekommen, die Messinstrumente kennen zu lernen.
Nichtmedikamentöse Schmerztherapie
Kognitive Methoden
Bei der gelenkten Imagination lernt das Kind, sich bewusst in eine andere Situa-
tion hineinzuversetzen, die ihm vertraut ist oder es interessiert. Das Kind stellt
sich zum Beispiel vor ein starker Ritter zu sein, dem nichts wehtut.
Eine andere Möglichkeit ist, mit dem Kind vorher zu besprechen, was es am
besten während der Prozedur ablenkt. So kann man zusammen ein Lied singen
oder Gedichte aufsagen. Sanfte Musik hat nachgewiesenermaßen einen schmerz-
lindernden Effekt. Bei manchen Kindern lassen sich die Schmerzen durch Atem-
übungen wie „Wegblasen“ oder durch Entspannungsübungen verringern.
Verhaltenstherapeutische Methoden
Unter dem Begriff „Lernen am Modell“ versteht man die Aneignung eines be-
stimmten Verhaltens, indem man eine Person nachahmt. So kann ein Kind zu-
schauen, wie ein anderes Kind ohne Probleme eine Spritze bekommt. Eine ande-
re Möglichkeit ist, einen geplanten Eingriff vorher mit dem Kind durchzuspielen.
Wichtige Regeln für die Anwendung:
Welche der genannten Methoden benutzt werden, hängt vom Alter des Kin-
des ab.
Sie sollten keinesfalls ein Ersatz für eine medikamentöse Schmerztherapie
sein.
Wichtig ist, immer ehrlich zu sein, genau zu sagen, was man tut und Worte zu
verwenden, die das Kind versteht.
Eine Bezugsperson, der das Kind vertraut, sollte immer anwesend sein.
Das Kind sollte möglichst viel selbst bestimmen können und gelobt werden,
wenn es kooperativ gewesen ist.
Medikamentöse Schmerztherapie
2.
1. Paracetamol 3.
Regional- und Opiate
anästhesie NSAR
Abb. 3.
Wann immer möglich, sollte ein regionalanästhesiologisches Verfahren zu-
sammen mit einer Vollnarkose angewandt werden. Am häufigsten werden im
Kindesalter der Kaudalblock und der Peniswurzelblock durchgeführt. Beide Me-
thoden sind sehr sicher und wirksam. Sie kommen bei Leistenbrüchen, Hoden-
operationen oder Beschneidungen zum Einsatz. Die Kinder erwachen schmerz-
frei und sind auch einige Stunden danach beschwerdefrei.
Wichtig ist, dass überlappend mit einer systemischen Schmerztherapie be-
gonnen wird, damit es nicht zu einem Schmerzdurchbruch kommt, wenn die
Wirkung des Lokalanästhetikums nachlässt.
Bei kleinen Eingriffen sind Medikamente, wie Paracetamol, Metamizol und
nichtsteroidale Antirheumatika ausreichend. Sie werden vom Arzt schon wäh-
rend der Operation in ausreichender Dosierung und im fixen Zeitintervall in den
Patientenunterlagen vermerkt.
Tabelle 1. Dosierungsbeispiele: NICHTOPIOIDANALGETIKA
PARACETAMOL
Handelsname Zulassung Dosierung Darreichungsform Maximaldosis
DICLOFENAC
Handelsname Zulassung Dosierung Darreichungsform Maximaldosis
IBUPROFEN
Handelsname Zulassung Dosierung Darreichungsform Maximaldosis
NAPROXEN
Handelsname Zulassung Dosierung Darreichungsform Maximaldosis
MEFENAMINSÄURE
Handelsname Zulassung Dosierung Darreichungsform Maximaldosis
METAMIZOL
Handelsname Zulassung Dosierung Darreichungsform Maximaldosis
Tabelle 2. Dosierungsbeispiele
Bei Übelkeit oder Erbrechen werden folgende Medikamente gemäß den Leit-
linien des Wissenschaftlichen Arbeitskreises Kinderanästhesie der DGAI emp-
fohlen.
Tabelle 3. Empfohlene Dosierungen für die intravenösen Gabe von Antiemedia zur
PONV-Prohylaxe
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Therapie von PONV. Anaesth Intensivmed 48: S94–S98
Revision
Schmerzbehandlung im Alter
M. THOMM
M. Thomm
Einleitung
In den letzten Jahren haben die Schmerzforscher und auch die Geriater erkannt,
dass das Thema „Einfluss des Alters auf die Schmerzbehandlung“ ein for-
schungswürdiges Problem darstellt. Vorangegangen ist die Erfahrung, dass Alter
und Schmerz nicht untrennbar miteinander verbunden sein müssen. Das heißt,
eine adäquate und wirksame Schmerzbehandlung ist auch für ältere Patienten
durchführbar und hilft, die im Alter oft fatalen Folgeschäden unbehandelter
Schmerzen zu vermeiden. Hierzu zählen vor allem der soziale Rückzug aus dem
gesellschaftlichen Leben, Vereinsamung, Immobilität und schließlich die Pflege-
bedürftigkeit. Die moderne Medizin hält zwar ein umfangreiches algesiologi-
sches Instrumentarium bereit, dennoch ist die schmerztherapeutische Versorgung
älterer Menschen in Deutschland unzureichend. In der Literatur finden sich ei-
nige wenige Studien, z. B. aus Spanien (Bassals et al. 2002) und Schweden (An-
tonov et al. 1996), die sich mit der Behandlung chronischer Schmerzen und der
Komorbidität im höheren Lebensalter auseinandersetzen.
Ein weiterer Grund für die Notwendigkeit der verstärkten Befassung mit dem
Problem „Schmerz im Alter“ liegt in der demographischen Entwicklung der Be-
völkerung.
Demographische Daten
etwa 55 % (45,4 Mill.) der Bevölkerung im Erwerbsalter sein wird, ca. 18 % (14,8
Mill.) werden 65 Jahre und älter sein, 12 % (9,9 Mill.) über 80-jährig und ca. 15 %
(12,4 Mill.) unter 20 Jahre sein. (Statistische Ämter der Länder und des Bundes,
Stand Dezember 2005).
Der allgemein höhere Lebensstandard und vor allem eine bessere medizini-
sche Versorgung haben seit den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Anstieg der
Lebenserwartung bewirkt. Die aus der Statistik bekannte grafische Darstellungs-
form, die noch immer als „Alterspyramide“ beschrieben wird, mit vielen jungen
und wenigen alten Menschen, hat ihre Form schon längst verloren. So gleicht ihr
Bild heute eher einer „zerzausten Wettertanne“, wie der Bevölkerungsstatistiker
Flaskämper treffend beschrieben hat. Obwohl die Älteren das „Spiegelbild un-
serer eigenen Zukunft“ sind, ist es umso erstaunlicher, dass immer noch nur
wenige wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema vorliegen.
Ein geriatrischer Patient hat nicht nur ein erhöhtes Risiko der kognitiven und
sensorischen Beeinträchtigung, sondern auch der Komorbidität, der Multimedi-
kation und multipler therapeutischer Interventionen und des Verlustes an Akti-
vitäten und Partizipation, d. h. an Art und Umfang der Teilhabe am sozialen Um-
feld. Deshalb treten bei der Diagnostik und Behandlung von älteren Menschen
oftmals Probleme auf, die bei der Therapie jüngerer Menschen seltener von Be-
deutung sind. Scharfe Grenzen – beispielsweise das Lebensalter betreffend –
Schmerzbehandlung im Alter 161
sind nicht zu ziehen und würden so mancher rüstigen Mittsiebzigerin auch nicht
gerecht. Anstelle des kalendarischen Alters ist vielmehr das biologische Alter als
notwendiges Kriterium zu sehen.
Für Ärzte, Pflegekräfte und andere Berufsangehörige, die an der Behandlung
alter Menschen beteiligt sind, ist es oft schwer zu erkennen und zu beurteilen,
welche Probleme der eigentlichen Grunderkrankung und welche dem Alte-
rungsprozess zugrunde liegen. Des Weiteren fällt damit die Entscheidung
schwer, welche Probleme mit der Behandlung der Krankheit bereits mitthera-
piert werden bzw. welche davon unabhängig einer separaten Therapie bedürfen
(Pientka 2000). Darüber hinaus ist bei dieser Problematik der Aspekt des Thera-
pieziels zu beachten: Während bei jüngeren Patienten überwiegend die Heilung
vordergründig ist, steht bei alten Menschen „…eine Ausrichtung an den indivi-
duellen Ressourcen oder eine an der Optimierung der Lebensqualität ausgerich-
tete Behandlungsplanung…“ im Vordergrund (Pientka 2000).
Eine geriatrische „Karriere“ beginnt nicht selten mit dem Verlust der Mobili-
tät. Erkrankungen des Bewegungsapparates fesseln den Patienten an die Woh-
nung und führen oftmals zur sozialen Isolation und Vereinsamung. Die häufigs-
ten Schmerzdiagnosen, die bei älteren Menschen gestellt werden, sind
– degenerative Wirbelsäulenerkrankungen,
– Koxarthrose,
– Gonarthrose,
– Osteoporose,
– arterielle Verschlusskrankheit,
– Trigeminusneuralgie,
– rheumatische Erkrankung,
– Angina pectoris,
– postzosterische Neuralgie (Butler – Gastel 1979).
In einer Studie von Basler et al. (2003) berichten 75 % der befragten älteren
Menschen (263) über Schmerzen im unteren Rücken, in der Hüfte und im Bein
und bezeichnen ihren Schmerz in der letzten Woche als stark bis unerträglich.
Auch kommen bei den Älteren häufiger sturzbedingte Verletzungen vor, die
chronische Schmerzen auslösen können (Rubinstein und Robbins 1984). Mehr
als ein Drittel der 65-jährigen und Älteren stürzt einmal pro Jahr, in der Hälfte
der Fälle wiederholt (Tinetti 1988). Annähernd einer von zehn Stürzen verursacht
eine schwerwiegende Verletzung wie Oberschenkelhalsfraktur, subdurales Hä-
matom oder Weichteil- und Kopfverletzung (Nevitt 1991).
Risikofaktoren für Stürze bei selbstständig lebenden Senioren (Tromp 1998;
Brown 2000):
Anstieg des relativen Risikos
– Balancedefizit x 1,7
– Gangdefizit x 2,3
– Schwierigkeiten aufzustehen x 2,2
– Kognitive Beeinträchtigung x 1,9
162 M. Thomm
Mammakarzinome bei Frauen (American Cancer Society 1995). Sie sind jedoch
weniger von Bedeutung als die altersbedingten Einschränkungen der Reaktion
von Körper und Psyche auf die Erkrankung, die Verträglichkeit von Behandlun-
gen, die kognitive Verarbeitung des Patienten mit seiner Erkrankung und des fa-
miliären Umgangs mit dem Patienten.
Bis heute gibt es keine differenzierten Regeln der Krebsdiagnostik, -therapie
und -nachsorge für Menschen verschiedener Lebensalter, das Vorgehen muss
sich den alterstypischen Bedingungen im somatischen, psychischen und sozialen
Bereich anpassen.
Krebs beim alten Menschen bedeutet zunächst einmal Addition von vorbe-
stehenden altersbedingten Behinderungen mit dem Leiden der Krebserkran-
kung. Auftretende Schmerzen müssen erkannt, diagnostiziert und wie bei allen
anderen Altersgruppen entsprechend behandelt werden. Die Krebserkrankung
im Alter sollte jedoch gesondert und differenziert bewertet werden, sowohl von
der Krankheit her, als auch von deren Träger. Der natürliche Verlauf der Krebser-
krankung in den verschiedenen Organsystemen bei alten Menschen variiert er-
heblich. Manche Tumore zeigen eine so geringe Malignität, dass sie ohne weite-
res konservativ behandelt werden können, andere Tumore sind so bösartig und
prognostisch ungünstig, dass bei derzeitigem Wissensstand nur unterstützende
und palliative Maßnahmen in Frage kommen. Die Therapie maligner Erkrankun-
gen sollte beim alten Krebspatienten folgende Gesichtspunkte berücksichtigen:
– verkürzte Lebenserwartung berücksichtigen;
– der alte Mensch stirbt häufiger mit einem bösartigen Tumor als an einem bös-
artigen Tumor;
– ältere Menschen streben im Gegensatz zu jüngeren nicht ein längeres Leben
um jeden Preis an;
– im Einzelfall sorgfältige Abwägung von Nutzen und Risiko therapeutischer
Maßnahmen;
– die spirituelle Einstellung des Patienten zu Leben und Tod;
– bei diagnostischen und/oder therapeutischen Maßnahmen die individuellen
Bedürfnisse des Patienten berücksichtigen;
– den Patienten nicht zu einer Behandlung drängen;
– bestmögliche Gestaltung für die verbleibende Zeit (eigene Umgebung).
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen gewinnen symptomatische pallia-
tive Maßnahmen eine größere Bedeutung gegenüber kurativem medizinischem
Vorgehen.
Altersphysiologische Veränderungen
Eine sichere und effektive Anwendung von Analgetika bei der Behandlung chro-
nischer Schmerzen im Alter erfordert genaue Kenntnisse der altersphysiologi-
schen Veränderungen und der altersspezifischen pharmakodynamischen Wir-
kung der Analgetika; denn „... das Altern ist ein besonderer und individueller
164 M. Thomm
Serumproteine
Bei vielen Medikamente, wie z. B. aus der Gruppe der Nichtsteroidalen Analgeti-
ka, die sich in hohem Maße an Serumproteine binden, bleibt ein Rest ungebun-
den, der frei im Blut zirkuliert und pharmakologisch aktiv wird. Obwohl der
normale Alterungsprozess wahrscheinlich keinen Einfluss auf die Konzentration
und Zusammensetzung der Serumproteine hat, können krankheitsbedingte Ver-
änderungen und Kachexie zu einer Abnahme der Proteine beitragen (Lamy
1983). Wenn weniger Proteine im Blutkreislauf zirkulieren, haben verabreichte
Medikamente aufgrund des höheren Anteils an ungebundenen Substanzen eine
größere Wirkung. Somit steigt das Risiko der Nebenwirkungen und Toxizität.
Beachte:
Abnahme der Serumproteine durch chronische Erkrankungen und unzurei-
chende Ernährung!
Medikamente mit hoher Eiweißbindung, z. B. nichtsteroidale Analgetika,
können bei älteren Patienten eine verstärkte pharmakologische Wirkung zeigen
und zu Toxizitätserscheinungen führen!
Schmerzbehandlung im Alter 165
Schmerzmessung
Für die Gruppe der älteren Menschen gelten ebenfalls die ausgesprochenen
Empfehlungen, der Selbstauskunft immer Vorrang vor einer Fremdeinschätzung
zu geben und zu Beginn jeder Pflegemaßnahme die Schmerzsituation zu erfra-
gen (Herr-Garand 2001). Nur derjenige kann die Schmerzintensität beurteilen,
der den Schmerz tatsächlich hat.
Für die Bedürfnisse der Schmerztherapie beim alten Menschen gilt es, aus der
Fülle der angebotenen Verfahren zur Schmerzerfassung einfache und den Patien-
ten wenig belastende, aber validierte und sensible Skalen auszuwählen. Vor Be-
ginn der analgetischen Therapie sollten im Rahmen der Schmerzdiagnose nicht
nur die Schmerzintensität, sondern auch Informationen zur Schmerzqualität so-
wie zur Vorgeschichte, Vormedikation und zum sozialen Hintergrund erhoben
werden.
Fragen nach Lokalisation, Qualität, Intensität, auslösenden und verstärken-
den Faktoren oder lindernden Maßnahmen können zu einer differenzierteren
Schmerzdiagnose führen. Patientenfragebögen, z. B. von der Deutschen Gesell-
schaft zum Studium des Schmerzes (DGSS), können hierbei hilfreich sein. Ne-
ben diesen standardisierten Schmerzerfassungsbögen empfehlen sich gerade bei
älteren Patienten auch alltagsbezogene Fragen:
„Können Sie morgens schon wieder selbst das Frühstücksbrötchen einkau-
fen“?
„Können Sie selbständig die Körperpflege durchführen“?
Die Antworten auf diese oder ähnliche Fragen lassen wertvolle Rückschlüsse
auf die Wirksamkeit der Behandlung zu.
Wichtiger als die initiale Schmerzmessung ist jedoch die wiederholte Über-
prüfung anhand einer eindimensionalen Skala in Ruhe und Bewegung, wie z. B.
VRS (verbale Rangskala) oder NRS (numerische Rangskala). Diese Skalen bieten
gegenüber Analogskalen, besonders bei geriatrischen Patienten, Vorteile in der
Handhabung, der guten Verständlichkeit und des geringen Zeitaufwandes. Als
Variante bietet sich auch ein Schmerzthermometer als Modifikation einer verba-
len Skala an (AGS Panel on persistent pain in older persons 2002).
166 M. Thomm
Strukturiertes Schmerzinterview
Ein weiteres Erhebungsinstrument zur Erfassung von Schmerz und schmerzbe-
dingten Problemen im Alter bietet das strukturierte Schmerzinterview, das vom
Arbeitskreis „Alter und Schmerz“ der DGSS entwickelt wurde (Basler et al.
2002). Die Erhebungsbögen erfassen folgende Parameter:
– Schmerzlokalisation,
– Schmerzintensität und -häufigkeit,
– Schmerzverstärkung und -linderung,
– Schmerzbedingte Behinderung,
– erlebte Kontrolle über den Schmerz,
– Stimmung,
– kognitives Screening.
Schmerzbehandlung im Alter 167
Schmerzwahrnehmung
In der Literatur sind nur wenige Daten über altersbedingte Veränderungen der
Verarbeitung der nozizeptiven Signale (Schmerzwahrnehmungssignale) im peri-
pheren und zentralen Nervensystem vorhanden. Die klinische Erfahrung zeigt
jedoch, dass im Alter häufiger schmerzlose Herzinfarkte und fehlende abdomi-
nelle Schmerzen bei Magengeschwüren oder -perforationen anzutreffen sind.
Das hat zu der Hypothese einer altersbedingten Abnahme der Nozizeption
(Wahrnehmung von Schmerz) geführt. Diese Erfahrung lässt aber nicht darauf
schließen, dass Alter allein zu einer Verminderung der Schmerzsensibilität oder
der Schmerzwahrnehmung führt. Wegen der oft bestehenden Multimorbidität
alter Patienten ist in diesen Fällen jedoch meist nicht feststellbar, ob die Verände-
rungen in den Schmerzäußerungen auf altersbedingte funktionelle Veränderun-
gen in den Schmerzwegen zurückgehen oder auf andere altersbedingte Faktoren.
So klagen nur 2 % der alten Patienten, besonders solche mit Demenz, nach einer
Lumbalpunktion unter Kopfschmerzen, während dies 40 % der jüngeren tun
(Farrell et al. 1996). Die Gründe für diesen Unterschied sind unbekannt und soll-
ten dazu anregen, intensivere Forschungsarbeit auf diesem Gebiet zu betreiben.
Merke:
Die Schmerzwahrnehmung bleibt auch im Alter erhalten. „Age is not an an-
algesic“! Harkins-Price (1992) zitiert in Basler et al. (1998) (Übers. M. Th.: „Alter
ist kein Analgetikum!“)
Kommunikationsprobleme
Die Kommunikationsfähigkeit älterer Patienten kann durch Schwerhörigkeit und
Fehlsichtigkeit beeinträchtigt sein, die eine Schmerzmessung auch mittels einfa-
cher Skalen, wie der VRS, NRS oder eines Schmerztagebuches erheblich er-
schweren können. Oftmals ist es für das Pflegepersonal nicht ersichtlich, ob der
Patient unter diesen Behinderungen leidet. Hier können Beobachtungen und
Fragen wie z. B. „Beschreiben Sie Ihre Schmerzen“ oder „Lesen Sie mir bitte das
Etikett auf Ihrem Medikamentenröhrchen vor“ Klarheit schaffen. Ist der Patient
auch dazu nicht in der Lage, sollte das nonverbale Verhalten des Patienten wie
Mimik und Körperhaltung und direkte Schmerzäußerung, z. B. Stöhnen, zur Dia-
gnostik und Messung des Schmerzes herangezogen werden sollten.
Die Familienangehörigen können bei der Interpretation der Verhaltensmuster
nützliche Hinweise geben.
Empfehlung:
Multidimensionaler Ansatz zur Schmerzerfassung (McCaffery et al. 1997):
– Überblick der gesamten Krankengeschichte.
– Erhebung des funktionellen Status.
– Wenn möglich, Evaluierung der Schmerzintensität mittels einer Schmerz-
skala, die der Patient versteht, evtl. „Kinderskala“ benutzen. Verwenden Sie
Schmerzbehandlung im Alter 169
die gleiche Skala immer wieder beim gleichen Patienten und erklären Sie,
wenn nötig, die Bedeutung der Skalierung jedes Mal aufs neue.
– Da der ältere Patient häufig mehr als ein Schmerzsyndrom aufweist, bitten
Sie ihn, mit dem Finger die Schmerzstellen zu lokalisieren und die Schmer-
zen der Intensität nach einzuordnen.
– Gehen Sie nicht davon aus, dass der Patient ohne Aufforderung über seine
Schmerzen spricht.
– Machen Sie dem Patienten und seiner Familie klar, dass das Pflegeteam nicht
immer wissen kann, wann der Patient unter Schmerzen leidet.
– Kann der Patient nicht über seine Schmerzen sprechen, ermuntern Sie die
Angehörigen, alle auf Schmerzen hinweisenden Verhaltensmuster des Patien-
ten zu beschreiben.
– Versuchen Sie, Informationen bezüglich der Schmerzen vom Patienten selbst
zu erfahren; bei verwirrten Patienten sollten Sie die Angehörigen um Hilfe
bitten.
– Achten Sie auf verändertes Kommunikationsverhalten, z. B. ein ehemals ge-
sprächiger Patient wird schweigsam.
– Achten Sie auf den Gesichtsausdruck, z. B. gerunzelte Stirn, fest geschlossene
oder weit aufgerissene Augen.
– Beobachten Sie die Körperbewegungen, achten Sie z. B. auf ständiges Hin-
und Herbewegen des Kopfes, Anziehen der Beine an den Unterleib, Unfähig-
keit, die Hände still zu halten.
– Fragen Sie nach Veränderungen der täglichen Aktivitäten oder sonstigen ver-
änderten Verhaltensweisen, z. B. Reizbarkeit, Abbau von sozialen Kontakten
oder plötzliches Einstellen von Routinearbeiten. Kurzfristig auftretende Ver-
wirrtheitszustände können auf Schmerzen hindeuten, haben aber oft andere
Ursachen, wie z. B. Infektionen, Kachexie oder Störungen des Elektrolythaus-
haltes.
– Verabreichen Sie, nach Verordnung des behandelnden Arztes, die Initialdosis
eines Analgetikums und achten Sie auf die Wirksamkeit.
Medikamentöse Schmerztherapie
Der Einsatz von Analgetika sollte sich an dem WHO-Stufenplan (WHO 1986),
insbesondere jedoch an den individuellen Bedürfnissen des Patienten orientie-
ren. Welches Analgetikum eingesetzt wird, ist auch beim Alterspatienten abhän-
gig von der Schmerzursache und der Schmerzlokalisation.
Adjuvantien
Koanalgetika wie die Antikonvulsiva (z. B. Pregabalin, Gabapentin) und Anti-
depressiva (Amitriptylin, Clomipramin) sind Medikamente, die nicht zur Gruppe
der Analgetika zählen, die jedoch bei spezifischen Krankheitsbildern, wie z. B.
einer Trigeminusneuralgie oder postzosterischer Neuralgie, zu einer Schmerz-
170 M. Thomm
reduktion führen können. Sie können auf jeder Stufe der Analgetikatherapie in-
diziert sein. Bei älteren Patienten wird aufgrund der physiologisch eingeschränk-
ten Leber- und Nierenfunktion eine geringere Dosierung empfohlen.
Merke:
Bei anhaltenden Nebenwirkungen wie Müdigkeit und Schwindel sollte auf
eine Dauertherapie mit Antikonvulsiva und/oder Antidepressiva verzichtet wer-
den und auf ein anderes Medikament, wie z. B. ein Opioid umgestellt werden.
Kortikosteroide und Bisphosphonate können gleichermaßen unter Berück-
sichtigung der Nebenwirkungen auch für ältere Patienten eingesetzt werden; die
Begleitmedikamente wie z. B. Laxanzien und Antiemetika ebenfalls.
Merke:
Aufgrund der potentiellen Organtoxizität von NSAID beim Alterspatienten
ist eine strenge Indikation für eine Medikation mit Nichtsteroidalanalgetika er-
forderlich!
Schmerzbehandlung im Alter 171
Opioide
Opioide finden ihren Einsatz bei mittelstarken bis starken tumorbedingten
Schmerzen. Bei nichttumorbedingten Schmerzen ist eine Verordnung von Opi-
oiden gleichermaßen gerechtfertigt. Sie stellen beim Alterspatienten durchaus
eine sinnvolle therapeutische Alternative zu einer Medikation mit NSAID dar.
Die Verabreichung sollte zwar nach festem Zeitschema vorgenommen, jedoch
den individuellen Bedürfnissen des Patienten angepasst werden. Eine Tabletten-
einnahme kann z. B. regelmäßig nach dem Aufstehen oder nach den Mahlzeiten
vorgenommen werden.
Für die Dauermedikation werden beim älteren Schmerzpatienten vorzugs-
weise Opioide in Retardform (Wirkdauer 8–72 Stunden, z. B. Tramadol, Morphin,
Fentanyl) eingesetzt, die ausreichend lange Einnahmeintervalle und gleichzeitig
einen zusammenhängenden Nachtschlaf gewährleisten können, der nicht durch
Analgetikaeinnahmen unterbrochen werden muss und nicht zuletzt zur Patien-
tencompliance beitragen.
Empfehlung:
– individuelle Indikationsstellung unter Abwägung von Nutzen und Risiko;
– Medikamenteneinnahme den individuellen Bedürfnissen des Patienten an-
passen;
– Therapiebeginn mit reduzierter Dosis;
– Dosisanpassung im Laufe der Behandlung: „Dosistitration am Schmerz“;
172 M. Thomm
Multimodale Therapie
Primäres Ziel einer Schmerztherapie im Alter ist neben der Schmerzlinderung
der Erhalt und die Förderung der Funktion. Deshalb sollte die Therapie chroni-
scher Schmerzen auch bei dieser Patientengruppe multimodal erfolgen. Nicht-
medikamentöse Therapieverfahren haben additiv zur medikamentösen Schmerz-
therapie auch im Alter einen hohen Stellenwert, vorausgesetzt, die Behandlung
wird der Zielgruppe angepasst. Eine weitere Voraussetzung ist eine gezielte
Schulung und Beratung – ein Hauptaufgabengebiet der Pflege – (Schmerzexper-
tenstandard 2005) über das Krankheitsbild und die Bedeutung der aktiven Mit-
arbeit des Patienten in der Therapie. Alte Menschen haben häufig falsche Vorstel-
lungen bezüglich der Bedeutung des Schmerzes, z. B. chronischen Schmerz als
Warnsignal zu interpretieren. Weiterhin sind sie der Meinung, dass körperliche
Aktivität die Ursache für den Schmerz ist und somit schadet und dass Ruhe heilt
und Aktivität Gefahren birgt (Basler et al. 2004). Die Erwartung, dass Aktivität
unkontrollierbare Gefahren hervorruft, ist ein wesentliches Hemmnis, den Emp-
fehlungen nach mehr körperlicher Aktivität zu folgen. Diese Erwartungen wer-
den als „fear avoidance beliefs“ (Basler et al. 2004) bezeichnet.
Skala „Fear Avoidance Beliefs“:
„Wenn ich täglich mindestens 30 Minuten körperlich aktiv bin, dann ….“
1. kann das meinem Rücken schaden,
2. kann ich mir dabei Verletzungen zuziehen,
3. verstärken sich dabei meine Schmerzen,
4. besteht ein Risiko zu fallen,
5. kann ich meinen Rücken nicht genug schonen.
Die Edukation darf sich daher nicht nur auf die Information über den Nutzen
körperlicher Aktivität beziehen, sie muss auch die vorhandenen Ängste anspre-
chen und Wege aufzeichnen, wie diese überwunden werden können. Den besten
Erfolg bei der Überwindung der Angst –wie bei der Behandlung anderer Angst-
zustände – verspricht die Konfrontation mit dem ängstlichen Verhalten. Aufbau-
end auf einer Analyse der Verhaltensweisen, die von den Patienten ohne Angst
ausgeführt werden können, muss eine allmähliche Steigerung des Schwierig-
keitsgrades der Übungen stattfinden (Guideline of the American Society, Ameri-
can Ger Ass 2002). Vorraussetzung für aktivierende Maßnahmen bzw. für die
Teilnahme an einem Trainingsprogramm ist eine angemessene und ausreichende
Schmerzmedikation.
Beispiele nichtmedikamentöser Maßnahmen:
– Aktivierende Physiotherapie oder Sporttherapie;
– Physikalische Maßnahmen wie Kälte-Wärme Applikation;
174 M. Thomm
Zusammenfassung
Beziehung auch Probleme aufwerfen kann, versteht sich von selbst. So gilt denn
für beide, für Patient und Pflegende, der Satz von Maria Ebner-Eschenbach:
„Nicht wie die Dinge sind, sondern wie wir sie betrachten, macht unser Schick-
sal aus.“
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Revision
W. KULLICH
W. Kullich
Einfluss der Ernährung auf Alterungsprozesse
tive Abwehrsystem ergänzen, welches ja bekanntlich auch auf die Zufuhr von
Mineralien und Spurenelementen angewiesen ist. Mediterrane Diät, insbesonde-
re in Verbindung mit ausreichender Bewegung, ist ein idealer Lebensstil im Alter,
der eine positive Wirkung auf das Gefäßsystem besitzt und gleichzeitig syste-
misch antiinflammatorische Effekte hat (Esposito et al. 2004). Bereits 1956 sprach
Harman vom Alterungsprozess als Folge akkumulierter oxidativer Schäden durch
die Einwirkung Freier Radikale auf den Organismus. Seitdem wurde in vielen
Untersuchungen getestet inwieweit Alterungsprozesse durch Antioxidantien ge-
hemmt werden können. Aufgrund widersprüchlicher Ergebnisse dieser Studien
können jedoch keine generellen Aussagen getroffen werden.
Tabelle 1. Polyphenolquellen
Phenolsäuren Vorkommen
Flavonoide Vorkommen
Als gesichert gilt die mitochondriale Theorie des Alterns, die besagt, dass eine
kalorienreduzierte Ernährung durch Herabsetzen des Stoffwechsels die Bildung
reaktiver Sauerstoffradikale senkt, die oxidativen Schäden in der Mitochondrien-
DNA vermindert und damit Alterungsprozesse verlangsamt (Sanz et al. 2006).
Die Ernährungsform von Ovo-Lakto-Vegetariern mit einer Kalorienrestrik-
tion, aber einer bedarfdeckenden Zufuhr von Mikronährstoffen kann zu einer
Zunahme der Lebenserwartung führen (Gladisch 2007).
Eine Reduktion der Nahrungsaufnahme, insbesondere bei Übergewicht,
scheint auch günstige Effekte bei einer rheumatoiden Arthritis auf verschiedene
Variablen wie artikulären Schmerz, Steifigkeit und Entzündungsaktivität zu be-
sitzen (Hafström et al. 1988). Fasten ist jedoch abzulehnen, da dieses eine anerge
Reaktion darstellt (Nenonen 1998). Längerfristige Vorteile können nur von einer
Umstellung auf bioaktive Ernährung mit hohem Anteil an Antioxidantien sowie
der Senkung eines Übergewichtes erwartet werden, wodurch Entzündung sowie
Gelenkbelastung und Schmerz günstig beeinflusst werden können.
Die Proteinbiosynthese im Alter ist gegenüber den Jüngeren deutlich vermin-
dert. Daher ist der Proteinbedarf im Alter höher; die Eiweißzufuhr soll bei der Frau
mindestens 0,8 g/kg Körpergewicht und beim Mann 1,2 g/kg Körpergewicht be-
tragen (Gladisch 2007). Im Gegensatz zu Eiweiß soll sich die Zufuhr von Fett und
vor allem Kohlehydraten am unteren Limit orientieren, da die Verschiebung von
Verhältnis Muskulatur zu Fettgewebe diabetesfördernd ist. Die Muskelmasse
bestimmt im Wesentlichen den Ruhe-Nüchtern-Umsatz und ist somit im
Alterungsprozess für das Absinken des Energiebedarfs verantwortlich. Der ver-
minderte Energiebedarf ist mit der altersbedingten Inappetenz verbunden,
gleichzeitig schränkt die Einnahme von vielen Medikamenten die Geschmacks-
wahrnehmung und damit den Appetit ein.
Es ist sehr wesentlich, da häufig die Gesamtenergiezufuhr mit steigendem Al-
ter sinkt, die Nährstoffdichte hochzuhalten. Obst und Gemüse haben infolge des
niedrigen Energiegehalts die höchste Nährstoffdichte. In Hinblick auf ältere
Menschen ist der niedrige glykämische Index einer Ernährung mit Obst und
Gemüse hervorzuheben. Der Bedarf an Mikronährstoffen bei älteren Menschen
hat eine große Bedeutung, da er eher steigt. Insbesondere enzymatische, körper-
eigene Antioxidantien und Reparaturenzyme sowie Immunreaktionen sind auf
die Zufuhr von Mineralien und Spurenelementen angewiesen.
Von Vitamin B6 (Pyritoxin) ist eine hemmende Wirkung auf psychische und phy-
sische Schmerzzustände sowie ein positiver Einfluss auf Depressionen bekannt.
Patienten mit Rheumatoider Arthritis haben erniedrigte B6-Blutspiegel; für die
rheumatoiden Gelenkschmerzen ist diese Tatsache als negativ zu werten, da B6
Aufgaben im Knochenstoffwechsel besitzt und die Knorpelqualität beeinflussen
kann (Miehlke et al. 1985; Bermond 1989).
Vitamin B12 (Cobalamin) spielt beim Aufbau der Myelinscheide von Nerven
eine Rolle. Eine schmerzstillende Wirkung von B12 ist allgemein bekannt.
Auch bei Arthroseschmerzen, die im Alter häufig auftreten, können Kombi-
nationspräparate mit Vitamin B6 und B12 eine Besserung bewirken und helfen,
die Dosis nichtsteroidaler Antirheumatika zu reduzieren.
Tabelle 3.
Bei einer Kost ohne Arachidonsäure nimmt diese im Körper ab; es werden
vermindert Prostaglandine, die vermehrt bei Entzündungen vorkommen, gebil-
det, dadurch bessern sich Entzündungsprozess und Schmerz (Adam et al. 2003).
Zusätzlich kann die Supplementierung von Fischölfettsäuren, also eine an Ome-
ga-3-Fettsäure reiche Ernährung (Lachs, Makrele, aber auch Soja- und Walnuss-
öl) bei Rheumatoider Arthritis mit entzündlichen Schüben den Verbrauch von
schmerzstillenden, nichtsteroidalen Antirheumatika senken (Kremer et al. 1995).
Der Verzehr von diesen langkettigen, ungesättigten Omega-3-Fettsäuren bein-
haltet aber auch neben der Reduktion schmerzhafter Gelenke antiatheroskleroti-
sche Wirkungen und eine Verminderung der Aggregation der Blutplättchen; bei-
de Effekte sind gerade bei älteren Menschen sehr günstig bei der Vermeidung
von Arteriosklerose und Thrombosen.
Eine ausgewogene Ernährung ist die Basis für die Versorgung mit allen notwen-
digen Nährstoffen. Nur wenn eine gesunde Ernährung nicht oder nur bedingt
möglich ist oder bei krankheitsbedingtem Mangel bzw. Infekten ist eine Nah-
rungsmittelergänzung anzuordnen.
Einfluss der Ernährung auf Alterungsprozesse 185
Tabelle 4.
Literatur
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186 W. Kullich
C. MUSS
C. Muss
Einsatz von Mikronährstoffen in der Schmerztherapie
Einleitung
Die Mikronährstofftherapie kann bei entsprechendem Mangel kausal bei ver-
schiedenen neurologischen Erkrankungen eingesetzt werden. Es sei an dieser
Stelle daran erinnert, dass die frühen Wurzeln der wissenschaftlich orientierten
Mikronährstoffmedizin in der Behandlung neurologischer und psychiatrischer
Patienten liegen (z. B. Dr. Pfeiffer). Die Indikationen zur Mikronährstofftherapie
liegen insbesondere bei klinisch nachgewiesenem Mangel vor. Der entsprechen-
de Nachweis ist an eine valide Labordiagnostik gebunden, da z. T. sehr niedrige
Konzentrationen erfasst werden müssen und an die Präanalytik hohe Ansprüche
zu knüpfen sind (Böhm et al. 2003). Mikronährstoffverluste machen sich bei den
Patienten häufig erst nach längerer Krankheitsdauer bemerkbar. Zahlreiche un-
terversorgte Patienten leiden dabei an einem sogenannten „Latency Defiency
Syndrome“. Dies bedeutet, dass klinische Zeichen einer Unterversorgung sich oft
nur schleichend bemerkbar machen (Böhm und Muss 2008 im Druck).
Das Verständnis dieser Zusammenhänge ist für die Beurteilung von Studien-
daten in der Mikronährstoffmedizin und beim klinischen Einsatz von Mikro-
nährstoffen äußerst wichtig. Verschiedene Studien berücksichtigen das Problem
der Malabsorption von Mikro- und Makronährstoffen zu wenig und kommen
daher häufig zu dem Schluss, dass für viele Vitalstoffe keine Unterversorgung in
der Bevölkerung vorliegt. Insbesondere bei chronischem Krankheitsverlauf trifft
der erhöhte Verbrauch an Vitalstoffen häufig aber noch auf eine verminderte
Aufnahme (Malabsorbtion), sodass sich über einen längeren Zeitraum schlei-
chend Vitamin- und Mineralstoffverluste aufbauen können. Da im Organismus
Mangelsituationen zunächst durch entsprechende Verschiebung zwischen den
Kompartimenten (Körperspeichern) ausgeglichen werden, können bei länger
andauernden Beschwerden auch nur selten schnelle Erfolge mit einer oralen
Vitalstoff-Ergänzung erwartet werden. Das Auffüllen der verschiedenen Körper-
188 C. Muss
speicher mit Vitalstoffen erfolgt dabei in einer bestimmen Reihenfolge und benö-
tigt demnach ebenfalls eine bestimmte Zeit. Eine langfristige Supplementierung
mit ausgewählten Mikronährstoffen kann bei einigen neurologischen Erkran-
kungsbildern jedoch grundsätzlich zu einem guten Therapieerfolg führen. Der
Einsatz von Mikronährstoffen ist sowohl in der Prävention als auch für die Be-
handlung von neurologischen Erkrankungen geeignet. Die Auswahl und Dosie-
rung der verschiedenen Vitalstoffkombinationen richten sich dabei nach dem in-
dividuellen Bedarf der Patienten. Es ist besonders wichtig, im Erkrankungsfall
mögliche Interaktionen zwischen den eingesetzten Mikronährstoffen zu berück-
sichtigen.
wertkost und die Einnahme von Antioxidantien als effektiv erwiesen (Böhm und
Muss 2009; Scarmeas et al. 2009; Dai et al. 2006; Zandi et al. 2004; Engelhart et al.,
2002). Das Gehirn ist gegenüber der Exposition mit freien Radikalen besonders
empfindlich. So führt der erhöhte oxidative Stress mit neurotoxischen Hydroxyl-
Radikalen z. B. bei M. Parkinson zum Verlust an dopaminergen Neuronen und
Defiziten des mitochondrialen Komplexes 1 in der Substantia nigra (Etminan
et al. 2005). Antioxidantien wie z. B. das Kurkumin schützen möglicherweise die
Gehirnmitochondrien gegen oxidierendes Peroxynitrit und erhöhen dadurch die
die antioxidative Kapazität in den Gehirnzellen (Ebadi et al. 1996).
Neben der Prophylaxe sind antioxidative Vitalstoffe aber auch bei neurolo-
gischen Erkrankungen (z. B. in der Sekundär- und Tertiärprävention) indiziert.
Interventionsstudien haben den klinischen Nutzen von Vitalstoffen bei Schmerz-
patienten belegt. Der Wirkungsmechanismus beruht wohl u. a. auf der antioxi-
dativen und antiinflammative (entzündungshemmenden) Eigenschaft bestimm-
ter Mikronährstoffe (Mythri et al. 2007; Weber et al. 2006; Zandi et al. 2004). Zu
den wichtigen neurotropen Vitalstoffen gehören ferner B-Vitamine und soge-
nannte Vitaminoide (wie z. B. das L-Karnitin und die Thioktsäure), die in den
Zellmetabolismus eingreifen und dadurch vor einer Neurodegeneration schützen
(Masaki et al. 2000). Vitaminoide sind Substanzen, die der Körper zwar im be-
stimmten Umfang selbst synthetisieren kann, in besonderen Anforderungssitua-
tionen wie bei chronischen Erkrankungen kann sich darüber hinaus jedoch ein
erhöhter Bedarf einstellen. Die Zufuhr mit solchen Vitaminoiden ist dann eben-
falls wichtig, da diese ähnlich wie Vitamine selbst wichtige Stoffwechselfunktio-
nen im Organismus übernehmen.
Die Indikation für Mikronährstoffe in der Prophylaxe und Therapie von neurolo-
gischen Erkrankungen ist sehr umfangreich. Es liegen gute Evidenzdaten für
zahlreiche Anwendungsgebiete in diesem Bereich vor. Im Folgenden werden ex-
emplarisch einige Mikronährstoffrezepturen für bestimmte neurologische Be-
schwerdebilder tabellarisch zusammengefasst. Es handelt sich dabei um soge-
nannte bewährte Rezepturen die nach den Studienergebnissen verschiedener
Untersuchungen zusammengestellt wurden (Böhm und Muss 2009). Selbstver-
ständlich ersetzen diese Rezepturen keine schulmedizinischen Therapiekonzep-
te. Sie können jedoch nach sorgfältiger Abwägung unter Fachkontrolle ggf. zu
einem bestehenden Therapieansatz mit aufgenommen werden. Wie bereits dar-
gelegt, ist der individualmedizinische Zugang mit Einsatz einer speziellen Dia-
gnostik diesem Rezepturansatz in der Mikronährstoffmedizin überlegen. Auf die
spezielle Diagnostik für den individualmedizinischen Einsatz von Mikronährstof-
fen sei hier verwiesen (Sandor et al. 2005) (Tabellen 1–5).
Einsatz von Mikronährstoffen in der Schmerztherapie 191
Literatur
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Revision
M. ANDITSCH
Medikamentencocktails im Alter
M. Anditsch
Ein 79-jähriger Patient wird mit ausgeprägter Bradykardie (Puls 35) nach Sturz,
im verwirrten und desorientierten Zustand, auf der Kardiologie unseres Hauses
aufgenommen. Ein Blick in seine Medikamentenkurve gibt ein sehr bekanntes
Bild: 12 verschiedene Medikamente pro Tag, manche sogar mehrmals täglich ver-
abreicht: Aufgrund bekannter tachykarder Herzrhythmusstörungen eine Kombi-
nation aus Amiodaron, ß-Blocker und Digitalis, zur Blutdrucksenkung und The-
rapie einer bestehenden Herzinsuffizienz einen ACE-Hemmer, ein K-sparendes
Diuretikum, ein Schleifendiuretikum, zusätzlich ASS 100mg, ein Inkontinenzmit-
tel, ein NSAR, einen Magenschutz, und seit kurzer Zeit aufgrund diagnostizierter
Alzheimer-Demenz einen Azetylcholinesterasehemmer. In der Apotheke kauft er
sich noch zusätzlich ein Ginko- und ein Knoblauchpräparat.
Eigentlich ist der Einsatz all dieser Präparate gemäß der gestellten Diagnosen
und der vorhandenen Guidelines gerechtfertigt. Die Frage ist aber, was passiert
bei der gleichzeitigen Einnahme all dieser Arzneistoffe, die oft mit nur einem
Schluck Wasser hinuntergespült werden. Bei der Zulassung eines Arzneistoffes
werden in Phase-I-Studien an gesunden Probanden mögliche Interaktionen
zwischen zwei, max. drei verschiedenen Wirkstoffen getestet. Sind diese Ergeb-
nisse aber übertragbar auf den alten, multimorbiden Patienten mit eingeschränk-
ten Organfunktionen und 12 verschiedenen Medikamenten???
Unter dem Begriff „Wechselwirkungen“ oder „Interaktionen“ werden in der
Regel unerwünschte gegenseitige Beeinflussungen von Pharmaka verstanden,
mit der Folge entweder eines unzureichenden Effektes oder von Intoxikationen
durch Überdosierungen.
Desto größer die Zahl der gleichzeitig verabreichten Arzneimittel ist, desto häu-
figer muss man mit klinisch relevanten Wechselwirkungen rechnen. Bei mehr als 5
Pharmaka steigt das Risiko um das bis zu 10-Fache an. Der alte Patient ist durch
* Teile aus dem Buchbeitrag wurden im Jatros Neurologie und Psychiatrie 07/07 veröffent-
licht, mit freundlicher Abdruckgenehmigung von Universimed Verlag.
198 M. Anditsch
Abb. 1.
– Delir
Delir durch Kombination anticholinerger Substanzen: Beim alten Patienten
sollten anticholinerg wirkende Substanzen wenn möglich vermieden werden.
Das gilt besonders für demente Patienten oder Patienten im Prädemenz-
stadium, bei denen eine weitere Abnahme des zentralen Azetylcholin zu
einer massiven Verschlechterung des Zustandes führen kann. Mehr als drei
solcher Medikamente in Kombination steigern das Risiko für ein Delir um
das 10-fache! Infekte (Pneumonie, Harnwegsinfekt,), Operationen, Exikose,
psychische Belastung wirken dabei noch zusätzlich als Risikofaktor.
Medikamentencocktails im Alter 201
Quellen:
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– Foulanos S, Greenberg P (2003) Managing drug-induced hyponatremia in adults. Australian Pre-
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– Yeates KE, Singer M, Morton RA Salt and water: a simple approach to hyponatremia.
http://www.cmaj.ca/cgi/content/full/170/3/365
202 M. Anditsch
Abb. 2. Antidepressiva
Komplexbildung
Mit Ballaststoffen: Mit Eiweiß: Mit Ca, Mg, Zn, Al:
Digoxin Phenprocoumon Quinolone
L-Thyroxin Doxycyclin
Metformin
Penicillin
Abb. 3.
Zusammenfassung
Literatur
Literatur beim Verfasser
Revision
I. MÜLLER
I. Müller
Allgemeines
Es beginnt schleichend, aber plötzlich ist es so weit: Unsere Arme sind nicht
mehr lang genug, um die Speisekarte beim Lieblingsitaliener zu entziffern. Es
schmerzt, sich einzugestehen: Die Arme sind nicht der eigentliche Grund dafür!
Auch wenn der erste Weg zum Augenarzt oder Optiker für viele mit Wehmut
verbunden ist, so wird er doch von fast allen Menschen früher oder später be-
schritten. Dabei speist sich die Wehmut keineswegs aus dem Nachlassen der
Sehschärfe an sich, sondern aus dem, was wir landläufig damit verbinden: dem
endgültigen Abschied von der Jugend, dem ersten Wink des Älterwerdens. Doch
die Tatsache, dass auch wesentlich jüngere Menschen einer Brille bedürfen, ver-
mag uns in vielen Fällen zu trösten.
Und was, wenn unser Gehör nachlässt?
Sehhilfen und Hörgeräte gehören zu den bekanntesten und verbreitetsten
Hilfsmitteln, die schon seit Jahrhunderten (von der Lupe zur Kontaktlinse, vom
Hörrohr zum digitalen Hörgerät) dazu beitragen, uns den Alltag zu erleichtern,
wenn wir uns auf unsere Sinne nicht mehr ausreichend verlassen können.
Schlagen wir im Duden nach, so finden wir unter dem Stichwort Hilfsmittel
folgende Erklärung: Ein Hilfsmittel ist ein „…Mittel zur Arbeitserleichterung oder
zur Erreichung eines bestimmten Zweckes.“
Unser ganzes Leben lang arbeiten wir an der Verwirklichung von Zwecken
und Zielen. Daher begleiten uns Hilfsmittel im weiteren Sinn vom ersten Lebens-
tag an: Bereits das Baby beruhigt sich mit Schnuller schneller als ohne, eine Win-
del schützt es vor Nässe und Wundwerden. Spielsachen und Lernmaterialien
helfen dem Kleinkind beim Erfassen der Umwelt und ihrer Geheimnisse. Fläsch-
chen, Schnabeltassen und speziell geformte Löffel unterstützen es beim Essen
und Trinken. Brillen und Kontaktlinsen schärfen – soweit nötig – bereits den
Blick auf die Schultafel. Später korrigieren orthopädische Einlagen leichte Fehl-
stellungen der Füße, Zahnspangen sorgen für ein werbetaugliches Lächeln, Ban-
206 I. Müller
dagen stützen Gelenke, die wir im Sport über Gebühr beanspruchen. Wander-
stöcke stützen uns in unebenem Gelände oder sorgen für die gleichmäßige Be-
anspruchung möglichst vieler Muskeln.
Der Begriff Hilfsmittel im engeren Sinn wird durch die jeweilige Sozialgesetz-
gebung und das Leistungsangebot der verschiedenen Krankenkassen erläutert.
So definiert beispielsweise das deutsche Sozialgesetzbuch für den Bereich der
Rehabilitation Hilfsmittel als „…Gegenstände, die im Einzelfall erforderlich sind, um
den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzu-
beugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit sie nicht als allgemeine Ge-
brauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind (SGB § 33).“
Eine Untergruppe der Hilfsmittel bilden die sog. Heilbehelfe oder Heilmittel.
Heilbehelfe (Heilmittel) dienen – in jedem Alter – der Heilung und Linderung von
Krankheitszuständen. Zu ihnen zählen etwa Inhalatoren, Sauerstoffgeräte,
Gummistrümpfe und dgl.
Was wir über Jahre als selbstverständlich erachten, kann ganz schnell einen
unangenehmen Beigeschmack bekommen. „Von heute auf morgen“, so scheint
es, durch einen Sturz, einen Schlaganfall oder eine Erkrankung, sehen wir uns
gezwungen, Hilfsmittel auch in Lebensbereichen zuzulassen, für die unsere Kör-
perkräfte bislang völlig ausreichten: für den täglichen Plausch mit der Nachbarin,
beim Fernsehen, auf dem Weg zum Supermarkt an der Ecke, in der Körperpflege
oder zur Ausscheidung.
Das Nachlassen der eigenen Sinne und Kräfte wird von vielen Menschen als
massive Beschädigung ihrer körperlichen und seelischen Integrität erlebt. Das ei-
gene Selbstbild, die selbst zugeschriebene Identität, geraten ins Wanken. Noch
mehr als den faktischen Verlust an Gesundheit und Kraft fürchten viele Patienten
die Wahrnehmung durch andere Menschen als „alt“, „gebrechlich“, als „hoff-
nungsloser Pflegefall“. Diese nicht unberechtigte Angst kann emotional stark be-
setzte Abwehrreaktionen auslösen. Gefühle wie Wut, Verzweiflung und Scham
über die eigene Lebenssituation wenden sich häufig gegen die Hilfsmittel, die
zum Ausgleich der verlorenen Fähigkeiten dienen sollen – und gegen Personen
(in erster Linie pflegende Angehörige und professionell Pflegende), die deren
Gebrauch oft recht vehement nahelegen. Nicht wenige alte und pflegebedürftige
Menschen stehen dem Einsatz von Hilfsmitteln ablehnend gegenüber, da sich in
ihrem Gebrauch die eigene Gebrechlichkeit, ihre persönliche Kränkung, nach
außen manifestiert. Die Reaktionen auf gut gemeinte Angebote schwanken zwi-
schen Abwehr – „Ich brauche doch noch keinen Rollator/Badewannenlift…!“, Hoff-
nungslosigkeit – „Was soll das in meiner Situation noch nützen!“ und Rationalisie-
ren – „Wenn ich jetzt diesen Rollator verwende, lerne ich nie mehr, selbständig und
sicher zu gehen!“ Aus den genannten Gründen erscheint aber eine Reduktion der
Erklärung für die Abwehrhaltung auf „Eitelkeit“, „Starrsinn“ oder „Sich-gehen-
Lassen“ als kurzsichtig und kontraproduktiv.
Niemand kann zum Gebrauch von Hilfsmitteln gezwungen werden. Oft ste-
hen daher Angehörige und Pflegende der Ablehnung notwendiger oder sinnvol-
ler Behelfe hilflos gegenüber. Nur durch einen sensiblen Beziehungsaufbau zum
betroffenen Patienten, durch Wertschätzung seiner Selbstwahrnehmung und
Hörgerät, Rollator, Badelift & Co. – Hilfsmittel und Heilbehelfe in Alltag und Pflege 207
Stärkung seiner Identität, Einlassen auf seine Bedenken und Ängste, die aktivie-
rende Förderung seiner Entscheidungskompetenz und unter Bereitstellung des
eigenen Fachwissens kann es gelingen, Motivationsarbeit zu leisten und die Vor-
teile des Gebrauchs notwendiger Hilfsmittel und Heilbehelfe im Alltag und in
der Pflege erfolgreich zu kommunizieren.
Zeitlebens leiten wir unsere Lebensqualität aus dem Maß unserer körperlichen
und seelischen Integrität und der Befriedigung unserer diesbezüglichen Bedürf-
nisse ab. Während eines Großteils dieser Jahre befinden wir uns meist auch in
der glücklichen Lage, über ausreichend individuelle und soziale Ressourcen zu
verfügen, unser Leben adäquat zu führen und viele unserer Wünsche zu erfüllen.
Lassen unsere Gesundheit und unsere Kräfte nach, laufen wir damit auch in Ge-
fahr, ein Stück Lebensqualität einzubüßen.
Der Verzicht auf notwendige Hilfsmittel und Heilbehelfe zum Ausgleich der
verlorenen Fähigkeiten birgt viele Gefahren: Denn Hilfsmittel erleichtern nicht
nur die Bewältigung des Alltags und der Pflege, sie tragen auch viel zur sozialen
Integration und Sicherheit des Menschen bei, der sie anwendet.
Dazu einige Beispiele:
„Wer ein Hörgerät benützt, hört wieder besser als vorher.“ So kurz und bündig
könnte die Wirkung eines gut eingestellten und gewarteten Hörgeräts beschrie-
ben werden.
Oder aber: Menschen, die auf Grund ihrer Schwerhörigkeit Gesprächen nicht
mehr folgen können, neigen unter Umständen dazu, verbale und nonverbale
Äußerungen anderer – der Angehörigen, Nachbarn, Bekannten oder Pflegenden
– falsch zu interpretieren oder fälschlich auf sich zu beziehen. Die Folgen davon
sind nicht selten Missverständnisse, Verunsicherung und ein Rückzug aus der
Gesellschaft – einerseits, um nicht „aufzufallen“, andererseits aus Misstrauen ge-
gen eine unverständlich gewordene Umwelt. Dadurch werden aber stimulieren-
de sensorische Umweltreize immer seltener und beschränkter aufgenommen
und verarbeitet. Daraus resultierende Informationsdefizite können zu stark ver-
einfachter, eindimensionaler Wahrnehmung, zur Verminderung geistiger Tätig-
keit, zur Rückbildung der Handlungskompetenz, zu Vereinsamung und Depres-
sion, letztlich zu vermehrter Betreuungs- bzw. Pflegebedürftigkeit führen. Ein
sorgfältig eingestelltes und gewartetes Hörgerät kann zwar die verloren gegange-
ne Hörfähigkeit nicht wiederherstellen, ermöglicht aber weitgehend störungs-
freie Kommunikation mit anderen Menschen, eine ausreichende Versorgung mit
stimulierenden sensorischen Reizen und beugt überdies einem Voranschreiten
des Hörverlustes vor. Es fördert die soziale Integration seines Benutzers und trägt
somit beträchtlich zu seiner Lebensqualität bei.
Gehhilfen erleichtern die Fortbewegung und verringern die Sturzgefahr.
80 % aller Verletzungen von Menschen über 60 Jahre sind auf Stürze – meist im
eigenen Wohnbereich – zurückzuführen. Allein in Deutschland ereignen sich
208 I. Müller
– Heimbeatmungsgeräte
– Rutschbretter zum Transfer
– Drehscheibe zum Umsetzen
Kenntnisse über die Beschaffung und den Einsatz von Hilfs- und Heilmitteln
gehören zur Grundqualifikation von Pflegekräften. Der optimale Nutzen derarti-
ger Behelfe kann jedoch nur im Zusammenhang mit einer Analyse der Wohnsi-
tuation/Pflegeumgebung bzw. der individuellen Ressourcen des Patienten erzielt
werden. Gezielte Beratung in dieser Hinsicht findet man bei Anbietern von Sozi-
alen Diensten, Wohlfahrtsverbänden, ErgotherapeutInnen und Pflegefachkräften.
Kunden in der Bedienung und Handhabung der Behelfe sorgfältig ein und ste-
hen auch in der Folge als Ansprechpartner bei Problemen in der Anwendung, für
Serviceleistungen, Reparatur, Wartung und Justieren zur Verfügung.
Sowohl für Hilfsmittel als auch für Heilbehelfe ist vom Versicherten bzw. von
Angehörigen ein Kostenanteil zu leisten. Die Kostenübernahme durch die jewei-
lige Krankenkasse erfolgt bis zu einer in deren Satzung festgesetzten Höhe.
Manche Versicherungsträger – aber auch Wohlfahrtsverbände – stellen bestimm-
te Hilfsmittel und Heilbehelfe (Krankenfahrstühle, Sauerstoffgeräte, Notrufsys-
teme und dgl.) leihweise oder zur Miete zur Verfügung bzw. vermitteln den Kon-
takt zu entsprechenden Anbietern. Es ist daher unbedingt empfehlenswert, sich
vor dem Erwerb von Hilfsmitteln oder Heilbehelfen mit dem jeweiligen Sozial-
versicherungsträger in Verbindung zu setzen, um sich über das angebotene Leis-
tungsspektrum, die Bewilligungserfordernisse, die medizinischen Voraussetzun-
gen und die Höhe der Kostenbeteiligung zu informieren.
Nicht alle Hilfsmittel in Alltag und Pflege sind teuer oder nur in mühsamer
Recherchearbeit von Versicherungsträgern, Wohlfahrtsverbänden oder gewerbli-
chen Anbietern zu beziehen. In vielen Fällen können kleine Maßnahmen und
technische Hilfen den Alltag und die Pflege erleichtern. So kann es da und dort
ausreichend sein, zu bestimmten Zwecken auf einfache, ihrer ursprünglichen Be-
stimmung entfremdete Objekte des Alltags zurückzugreifen. Ein stabiler, rutsch-
fester Gartensessel kann beispielsweise in der Dusche ebenso gute Dienste leis-
ten wie ein teures Markenprodukt aus dem Sanitätshaus. Selbst bemalte Schilder
mit plakativen Symbolen, an den Zimmertüren angebracht, erleichtern demenz-
kranken Menschen die Orientierung im eigenen Wohnumfeld, Wasserkocher
verhindern, dass der Herd überhitzt. Der Kreativität und Findigkeit sind hinsicht-
lich der Hilfen zur Alltagsbewältigung und der Verbesserung der Lebensqualität
alter Menschen keine Grenzen gesetzt.
In diesem Sinn sei abschließend auf die größte Ressource verwiesen, die al-
ten, kranken und pflegebedürftigen Patienten das Leben erleichtern: die
menschliche Zuwendung.
Literatur
Lehmann Iris (2007) Krankenstände senken – Motivation steigern: Arbeitsschutz in der Häusli-
chen Pflege durch Hilfsmitteleinsatz und Schulung. Häusliche Pflege 12: 43–45
Revision
Einleitung
Die negative Folge des rasanten medizinischen Fortschrittes ist die Institutionali-
sierung des letzten Lebensabschnittes (Brathuhn 1999). Der Kampf der kurativ
ausgerichteten Medizin um das Leben ist gleichsam ein Kampf gegen den Tod.
Zeitgleich wuchs der Wunsch, dem Prozess des Sterbens die Würde zu erhalten.
Somit entwickelte sich die Palliativbetreuung mit den Schwerpunkten Schmerz-
therapie und Symptomkontrolle. Der Beginn der Palliativversorgung in Deutsch-
land ging zunächst mit der Verortung in speziellen Stationen und Hospizen ein-
her (Schindler et al. 2000). Viele Menschen scheiden daher in Einrichtungen des
Gesundheitswesens aus dem Leben.
Die Rolle von Angehörigen und engen Freunden hat sich im Zuge dessen ge-
ändert, es fehlen häufig Erfahrungen im Umgang mit Sterbenden (Kern 2000).
Bei den meisten besteht der Wunsch, zuhause, in vertrauter Umgebung, sterben
zu können. Wird man nun mit der Situation konfrontiert, einen Menschen auf
seinem letzten Weg zu begleiten, können Ängste, das Gefühl von Überforderung
oder der Unsicherheit, das richtige zu tun, die Folge sein (Kern 2001). Auch
Hausärzten fehlen häufig eingehende Erfahrungen in der Versorgung von Pallia-
tivpatienten, was zu unbefriedigender Schmerztherapie und Symptomkontrolle
führen kann (Kern 2000).
In diesem Abschnitt werden einige Problembereiche der Überleitung von Pa-
tienten in die häusliche Versorgung erörtert und Entscheidungshilfen angeboten.
Dabei stehen Patienten mit dem Bedarf palliativer Versorgung im Vordergrund, da
eine Optimierung in dieser Situation nach wie vor die größte Herausforderung
an alle Beteiligten stellt.
Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin definiert ihr Aufgabenfeld „in
der Behandlung und Betreuung von Patienten mit einer nicht heilbaren, progre-
dienten und weit fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwar-
214 A. Parthum und D. Märkert
Die beschriebene Patientin soll aus der Klinik entlassen und daheim weiter-
versorgt werden. Die Weichen dafür müssen rechtzeitig während des Klinikauf-
enthaltes gestellt werden. Handlungsgrundlage für Pflegende sind hierbei die
nationalen Expertenstandards für Schmerz- sowie Entlassungsmanagement in
der Pflege.
Besuchsbericht
Patient
Zugangsart Nebenwirkungen
(0: o.B., 1: leicht, 2: mittel, 3: schwer)
Port
Hickman Angst/Unruhe Fieber
p.d. Sedierung Miktionsstörungen
s.c. Atemdepression Schwitzen
spinal Erbrechen Juckreiz
Übelkeit Dyspnoe
Schmerzlokalisation Schmerzwerte
(0: kein Schmerz, 10: stärkster Schmerz)
Kopf/Hals Steiß/LWS
Thorax obere Extremitäten nach NRS Ruhe
Rücken untere Extremitäten nach NRS Belastung
Abdomen mehrere Regionen Patient zufrieden
Becken/Genitalbereich Patient NICHT zufrieden
Kanofsky-Index
Schlaf 100 Normale Aktivität, keine Beschwerden, kein Hinweis für Tumorleiden
(0: kein Schlaf, 3: tiefer Schlaf)
90 Geringfügig verminderte Aktivität und Belastbarkeit
Schlafqualität 80 Normale Aktivität nur mit Anstrengung, deutlich verringerte Aktivität
Stunden Schlafdauer 70 Unfähigkeit zu normaler Akitivität, versorgt sich aber selber
60 Gelegentliche Hilfe erforderlich, versorgt sich noch weitgehend selbst
Ernährungszustand 50 Ständige Unterstützung und Pflege, häufige ärztliche Hilfe notwendig
kg Körpergewicht 40 Überwiegend bettlägrig, spezielle Hilfe erforderlich
m Körpergröße 30 Dauernd bettlägrig, geschulte Pflegekraft notwendig
BMI ([Gewicht]/[Größe]2) 20 Schwerkrank, Hospitalisierung, aktive supportive Therapie
10 Moribund
Tagesdosis
Medikation
Medikation
Pumpentyp Applikationssystem
einander in Kontakt zu treten. Hierzu schlagen wir eine Checkliste (siehe Abb. 2)
vor, die beim Patienten sowie dem Hauptansprechpartner für die Koordination
der Versorgung hinterlegt wird. Diese Aufgabe können sogenannte Home-Care-
Netzwerke übernehmen, sofern diese regional vorhanden sind. Auskunft darüber
gibt die zuständige Krankenkasse.
Datenblatt Patientenüberleitung
Anlagen: 5 Instrument zur Pflegebedarfserhebung
Patientenname
5 Verordnungsblatt zur Schmerztherapie
Anschrift
5 ___________________________________
Telefonnummer
5 ___________________________________
Ansprechpartner der entlassenden Einrichtung Ansprechpartner nach der Entlassung Ansprechpartner der
Ansprechpartner der uständigen
zuständigen Kranken-/Pflegekasse
Kranken-/Pflegekasse
Pflegedienste und pflegende Angehörige müssen über den Grad der Pflege-
abhängigkeit informiert sein. Hierzu werden die zur Erfassung eingesetzten In-
strumente als Grundlage herangezogen. So kann beispielsweise anhand des
FIM® der Bedarf an Hilfspersonen und das Ausmaß der Hilfestellung bei Körper-
pflege, Ankleiden oder Nahrungsaufnahme angegeben werden (siehe Abb. 3).
men als Alternativen einfache, mechanische oder elastomere Systeme zum Ein-
satz (vgl. Hintzenstern 2004) (Abb. 5–7).
che Flussrate des Medikaments von der Temperatur an der Kapillare, der Viskosi-
tät der Flüssigkeit sowie dem Höhenunterschied zwischen Reservoir und Patient
(> 20 cm) abhängig (Abb. 6, 7).
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Schulz H (2002) FIM Manual. Messung der Funktionalen Selbständigkeit. Meerbusch
Thomm M (2005) Schmerzpatienten in der Pflege. Kohlhammer, Stuttgart
Nichtmedikamentöse, komplementäre
u. a. Methoden in der Schmerztherapie
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer
Berücksichtigung der Hypnosetherapie
Einleitung
In der von uns so genannten „Integrierten Psychotherapie“ geht es darum,
möglichst optimal die verfügbaren psychotherapeutischen Methoden mit den
anderen Behandlungsmethoden (medikamentös, physiotherapeutisch etc.) zu
kombinieren.
Es geht um „berufsspezifische“ und „basale“ Psychotherapie. Letztere wirkt
einerseits bereits an sich positiv auf Stimmung und damit Gesundheit des Pati-
enten, sie ist aber auch ein Wegweiser und eine wichtige Begleitung für eine spe-
ziellere Psychotherapie.
Daher sollten in einer systematischen Fort- und Ausbildung allen Ärzten und
Sozialberufen einerseits die wichtigsten Fragen der basalen Psychotherapie ver-
mittelt werden, andererseits die Kenntnis der spezifischen Psychotherapie so-
weit, dass man die notwendige Verstärker- und Begleitwirkung einsetzen kann.
Erster Teil:
„Berufsspezifische“ und „basale“ Psychotherapie
Gerhard S. Barolin
Einige Hauptpunkte
des basal-psychotherapeutischen Gesprächs
Das Gespräch (wie es in Abb. 1 bei den Methoden an erster Stelle genannt wird)
ist bei aller scheinbarer Selbstverständlichkeit ein sehr wichtiges Instrument in
der basalen Psychotherapie, das systematischer Lehre und Pflege bedarf.
Bibelzitat: „Die Zunge ist zwar ein kleines Organ, kann aber Beträchtliches an-
richten“. Das gilt im Guten wie im Schlechten!
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer Berücksichtigung der Hypnosetherapie 231
Alltagsgespräch
1. Verbale Kommunikation
Gespräch
Pharmakotherapie
Logotherapie
Beschützende Werkstätte
Analyse
Alltagsgruppierungen
Analytische Kurztherapie
(Narko-Analyse, Psycholyse)
Club, Verein
2. Soziodynamik
Gruppentherapie
Arbeitstherapie
Familientherapie
3. Darstellung
Kunst
Psychodrama
Bildnerei
Spieltherapie
4. Hypnoid
Hypnose
Meditation
Autogenes Training
Imaginative Arbeit am Symbol
– Katathyme Imagination
– Autogene Imagination
– Defokussierende Imagination
Verhaltens-Therapie
Gymnastik
Tanz,
Abb. 1. Um sich im Dschungel der etwa 300 psychotherapeutischen Schulen leichter zu-
rechtzufinden, habe ich ein einfaches Schema zur Einteilung vorgeschlagen, das alles ent-
hält, was heute auf dem Markt ist („Nach den vordergründigen Faktoren“ bedeutet, dass
die Faktoren auch mehrfach in unterschiedlichen Psychotherapieformen vorkommen –
insbesondere [natürlich] das Gespräch). Hier näher behandelt werden Punkt 1 und 4. Die
übrigen Methoden sind nur erwähnt, um einen gewissen Überblick zu schaffen. Pfeile be-
zeichnen Zusammenhänge mit Nicht-Psychotherapeutischem sowie Übergänge dazu.
(Ich habe übrigens 100,– Euro für den Ersten ausgesetzt, der mir ein Psychotherapiever-
fahren nennt, welches in diesem Schema nicht unterzubringen ist.)
232 G. S. Barolin und A. Kaiser-Rekkas
1. Das Wichtigste ist immer Empathie (auf Deutsch Mitgefühl, nicht zu ver-
wechseln mit Mitleid). Der Patient muss merken, dass wir an ihm und seinen
Sorgen interessiert sind und ihn nicht nur routinemäßig „abschasseln“. Das
bedarf einerseits der prinzipiellen humanen Grundeinstellung (ohne die kein
Mensch in einen Sozialberuf gehen sollte). Anderseits muss gelehrt und
trainiert werden, wie man diese Haltung in geeigneter Form dem Patienten
vermittelt. Die Balance zwischen Mitgefühl („Empathie“) und Sachlich-
keit ist bei allen Sozialberufen nötig und man muss lernen, sie in ständiger
Selbstreflexion an jedem Patienten wieder neu zu strukturieren. Man beachte
dass die Empathie, die der Arzt und jeder andere Angehörige eines Sozialbe-
rufes dem Patienten weitergibt, gleichzeitig seiner eigenen Persönlichkeit
entscheidend hilft. Ohne Empathie ist er bereits auf dem besten Wege zum
Burn-out-Syndrom.
2. Die einfache Forderung der „Verfügbarkeit“ ist natürlich bei Personal- und
Zeitknappheit besonders schwer zu verwirklichen. Aber auch hier muss ein
Ausweg gefunden werden, nicht immer alles auf „nachher“ oder „andere“ zu
schieben.
3. Die Koordination mit allen anderen medizinischen Maßnahmen ist nötig
(mangelnde und kontraproduktive Koordination zeigte schon das vorange-
führte Beispiel). Zu einer sinnvollen Gesprächskoordination gehört auch All-
gemeinwissen über den Patienten, nämlich
– wie weit es in seiner Behandlung schon gekommen ist bezüglich Aufklä-
rung,
– was man ungefähr von der Krankheitserwartung und der Therapie wissen
kann etc.
4. Es ist zur guten Koordination eine gewisse Kompetenz nötig, die natürlich
nicht alle medizinischen Feinheiten im Detail verfügbar haben kann, aber
doch die Grundlinie weiß. Dazu gehört auch, dass man klar zum Ausdruck
bringt, wo die Grenzen der eigenen Kompetenzen sind und Hinweis auf
weitere Gespräche (etwa ein Visitengespräch) gibt. Das ist viel besser, als
in nichtssagenden Allgemeinsätzen herumzureden, um die eigene Unin-
formiertheit zu kaschieren.
5. Gezielte Pflege der Verständlichkeit gehört unabdingbar dazu. Wenn man
sich bemüht, können auch die kompliziertesten Zusammenhänge für Patien-
ten verständlich und klar dargestellt werden, statt in das berufliche Amts-
chinesisch zu flüchten.
6. Wahrhaftigkeit ist allemal gefragt. Es ist absolut abzulehnen, irgendwelche
schönfärberischen Unwahrheiten und Beruhigungsfloskeln abzugeben. Man
soll aber dort, wo man Unangenehmes weiß und zum Ausdruck bringen
muss, (etwa zu erwartende Schmerzen oder unangenehme Untersuchungen
etc.) einfühlsam und vorsichtig sprechen (keine „Holzhammermethode“!)
und zugleich
7. „Positivieren“. Das heißt, dass man die in unvermeidlichen unangenehmen
Mitteilungen enthaltenen positiven Inhalte in den Vordergrund stellt, also
etwa den großen Gesundheitswert einer Untersuchung etc.
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer Berücksichtigung der Hypnosetherapie 233
Es geht also nicht nur um das einmalige Lernen und Unterrichten der basalen
Psychotherapie, sondern um deren ständige Pflege in einer positiven Teamar-
beit, die vom humanistischen Grundtenor geprägt ist, so auch den Teilnehmern
die eigene Lebens- und Arbeitsqualität erhöht und damit zu einem wesentlichen
Prophylatikum gegen das Burn-out-Syndrom wird – dazu gehören auch regel-
mäßige Supervision, Abwechseln zwischen Stationen mit leichteren und schwe-
reren Kranken, soziale Unternehmungen etc. Gute Stimmung im Team spiegelt
sich zurück auf den Patienten und bessert dessen Stimmung.
zen etc.). Hier hat die Psychotherapie einen wesentlichen Stellenwert, soll
dabei keineswegs isoliert eingesetzt werden. Besser ist (im Sinne dessen, was
wir als „Integrierte Psychotherapie“ bezeichnen): eine sinnvolle Kombi-
nation mit medikamentösen, physikalischen und anderen schmerz mindern-
den Maßnahmen.
Die hypnotischen und selbsthypnotischen Maßnahmen decken ein großes
Gebiet ab und können sehr viel leisten. Es sei daran erinnert, dass hypnoti-
sche Maßnahmen keineswegs nur psychische Wirkung haben, sondern auch
wesentlich auf das Vegetativum wirken.
(Kopf-) Schmerz
Differenzierung und Psychotherapie-Indikation
Psy. – 1. (Leit-)Symptom,
„Freund und Warner“
Psy. ± 2. Begleitsymptom
Klinische Relevanz
3. (Haupt-)Teil eines Syndroms
Psy. + – Migräne
besteht
– Schmerz in Rehabilitation
Psy. + 6. Symbolisch
– Appell-Instrument
– sekundärer Leidens-Gewinn
Psy. 0 8. Lustgewinn
(Sado-Masochismus) Menschliches
Negativ-Verhalten
Psy. 0 9. Haupt-Instrument einer
pervert. „Folter-Medizin“
Im Extremfall ist das nachgewiesen worden bei der wesentlich besseren Abheilung
von schweren Verbrennungen, wo einerseits die Schmerzlinderung durch Hypnose zum
Tragen kommt, andererseits aber die bessere vegetative Situation, die die Wundheilung
per se fördert und Infektion verhindert (Neuroimmunologie ist dazu das Schlagwort).
Das Hypnoid
Hypnoid
Wachen
Schlafen
1. Muskuläre Entspannung
- Direkt-Wirkung
- Schiene zum Hypnoid
2. Vegetative Umschaltung zum Hypnoid
- Direkt-Wirkung
- Förderung der Introspektion („emotional insight“)
- Erhöhte Suggestibilität
3. Dynamisierendes Zurücknehmen
4. Gezielte Organ-Beeinflussung
5. Einbau verbal-psychotherapeutischer Inhalte, insbesondere
„formelhafte Vorsatzhildung“
Es kann das mehr oder weniger bewusst sein, mit fließenden Übergängen:
– Neurotisch bezeichnet man einen nicht voll bewussten Einsatz des Schmerz-
syndroms.
– Agravatorisch bezeichnet man Schmerzsyndrome, die auf einer organischen
Ursache entstehen (etwa Rückenschmerzen bei degenerativen Wirbelerschei-
nungen), aber in ihrer Ausprägung verstärkt dargestellt werden, um gewisse
Vorteile zu erreichen.
– Simulativ nennt man die klar bewusste Vortäuschung eines Krankheits- oder
Leidensbildes.
– Bewusste Selbstbeschädigung (Artefakt-Syndrom).
Das kommt besonders im Rahmen der von uns so genannten pathoplasti-
schen Wirkung einer Gutachtenssituation zum Tragen. Es können Unfallgut-
achten mit Entschädigungsansprüchen sein, der Wunsch vorzeitig in die Rente
zu gehen, aber auch (außerhalb von Gutachten im wörtlichen Sinne) psychody-
namisches Streben nach menschlicher Zuwendung, Angst vor Vereinsamung, etc.
Das kommt z. B. bei älteren Menschen nach Erkrankungen vor, wenn sich
„nichts bessert“, weil sie sich fürchten heimzugehen, etwa in eine schlechte Fa-
miliensituation oder Ähnliches. In solchen Fällen ist klärende Einflussnahme
über das Umfeld angezeigt.
In allen diesen Situationen wäre es absolut der falsche Weg, die Leute grob
mit ihrer Eigenproduktion von Schmerzen zu konfrontieren. Es kommt dann
sehr häufig zu einer Verhärtung und Weiterverfolgung der Schmerzsyndrome.
Der psychotherapeutisch Denkende versucht „goldene Brücken“ zu bauen. Das
heißt vorsichtig darauf hinzuweisen, dass die Schmerzen eben „nicht nur“ orga-
nisch bedingt sind, sondern auch eine „nervöse Komponente“ haben (dieser
Ausdruck kann vom Patienten leichter akzeptiert werden, als wenn wir die Worte
„hysterisch“ oder gar „simulativ“ ins Gespräch bringen), und dass man die Be-
schwerden auch durch Besprechung psychodynamischer Grundlagen und/oder
durch Anwendung von physikalischer Therapie etc. laufend bessern kann. Dazu
ist es sehr wichtig, dass der psychotherapeutisch tätige Arzt den Kontakt mit den
Physiotherapeuten und den Pflegepersonen aufrechterhält, damit alle an einem
Strang ziehen.
In der Behandlung gewisser schwieriger Lebensumstände, die zwar Schmer-
zen nicht erzeugen, diese aber deutlich verstärken und perpetuieren können, soll
man – neben dem therapeutisch orientierten Gespräch, das überall an erster
Stelle und weiterhin begleitend zu stehen hat – auch an verschiedene andere
psychotherapeutische Maßnahmen (einer berufsspezifischen Psychotherapie)
denken, die in Abb. 1 schematisch aufgelistet sind und hier nicht näher erklärt
werden. Es soll nur zeigen, dass uns in der Psychotherapie sehr viele Möglichkei-
ten offenstehen (nicht nur reden und/oder hypnotisieren). Dazu wäre es wün-
schenswert, dass natürlich zwar nicht alle am Patienten Arbeitende jene Metho-
den erlernen, aber sie doch in einer Fortbildung kennenlernen, damit sie ihre
eigene wichtige Verstärkerwirkung (im Sinne basaler Psychotherapie) sinnvoll
bedenken und anwenden können.
238 G. S. Barolin und A. Kaiser-Rekkas
Kopfschmerz
2-stufige Gruppen-Psychotherapie
mit integriertem Autogenen Training
224 Patienten
Eine 7-Jahres-Serie mit Wöllersdorfer
Eine 9-Jahres-Serie mit Baghaei Yazdi
Besserung
b) Diagnose n weitgehend teils/fraglich keine
1. Kopfschmerz 24 12 8 4
2. Sonst. Schmerzsyndrom 7 4 3 –
3. Schlafstörungen 5 5 – –
4. Exogene Belastungs-Situation 9 6 1 2
5. Subdepressiv 14 5 7 2
6. (Alters-)Rehabilitation 31 21 8 2
Summe 90 53 27 10
6 von 9 Migränepatienten gaben eine deutliche Besserung an, die ich als
„Entschärfung der Auslösungssituation“ bezeichne. Es kam zu größerer allge-
meiner Gelassenheit. Die Anfälle wurden weniger häufig und weniger stark.
Zwei davon gaben an, ihre Migräne mit dem AT meist kupieren zu können, nur
„ganz schwere“ kämen manchmal durch (eine Patientin). Die zweite konnte nur
Psychotherapie und Schmerz mit besonderer Berücksichtigung der Hypnosetherapie 241
die Migräneanfälle untertags kupieren, aber nichts dagegen ausrichten, wenn sie
schon morgens damit erwachte. Bei den drei weiteren Patienten war der Erfolg
mäßig bis fraglich.
Bei 7 von 11 Cephalea-Patienten kam es zu einer eindeutigen Besserung, bei
zweien blieb die Besserung fraglich, und die zwei restlichen waren hinsichtlich
ihrer Kopfschmerzen erfolglos. Davon brach einer die Therapie vorzeitig ab.
Vier Patienten litten an dem, was in unserer vorgegebenen Einteilung als
migränoide Cephalea bezeichnet wird (Mischform), davon stellte sich bei drei-
en eine deutliche Besserung ein.
Zweiter Teil:
Hypnosetherapie beim Schmerz
Agnes Kaiser-Rekkas
letztendlich von dort in die Muskelpartien. Die Schlacken in den Muskeln wer-
den als Körnchen visualisiert, welche vom Wasser aufgelöst und dann abtrans-
portiert werden. Von oben beginnend konzentriert sie sich zuerst auf Schulter-
und Nackenmuskulatur, dann auf die gesamte Länge des Rückens, wonach sie
ihre gedankliche Aufmerksamkeit auf die Hüft- und Beinmuskulatur lenkt. Sie
hört das Glucksen des Wassers und spürt die sanfte Wärme sowie das leichte Flu-
ten des Wassers.
Nachdem sie ein Gefühl von tiefer Entspannung erlebt hat, beendet sie ihre
Übung, nicht ohne sich vorher eine posthypnotische Suggestion zum Andauern
der im Laufe der Hypnose tatsächlich eingetretenen Schmerzreduktion auch
nach der Trance gegeben zu haben.
Es können unendlich viele Metaphern gefunden werden, wie Schmerzen
„heruntergekühlt, ausgebleicht, abgeschält, geschmolzen oder einfach abgeat-
met“ werden. Das selbst gefundene Bild ist meist das wirkungsvollste.
Chronische Schmerzerkrankungen ohne körperlich-organischen Befund wie
die Fybromyalgie, der chronische Rückenschmerz, Unterleibsschmerz und der
orofaziale Schmerz erklären sich nach neueren Untersuchungen oft durch trau-
matische Ereignisse während einer bestimmten Lebensphase. Der bewussten
Kontrolle entzogen bildet sich ein Schmerzgedächtnis heraus, das in späteren
Belastungssituationen zum Ausgangspunkt chronischer Schmerzen werden
kann.
Die Hypnotherapie bietet hierfür alle Vorteile:
– Die entspannte Trance mit einer positiven vegetativen Reaktion;
– Die schützende Dissoziation, in der unter Vermeidung der Re-Traumatisie-
rung zum Beispiel gewalttätige Bilder aus der Kindheit mit Distanz und im
Zeitraffer betrachtet und bearbeitet werden können;
– Die Mobilisation des Körpergedächtnisses für natürliche, gesunde Funktion;
– Der „Top-down“-Effekt, mit dem Altes gelöscht und Neues installiert wird;
– Und vor allem die Technik der Ideomotorischen Arbeit, welche in der hypno-
tischen Trance durch Körpersignale den Dialog mit dem Unbewussten er-
möglicht.
Die Intention der hypnotischen Anästhesie liegt nicht in der Anästhesie ohne
Pharmakotherapeutikum. Vielmehr strebt sie das Wohlbefinden des Patienten bei
Reduktion der Anästhetika während der Intervention und der von Analgetika
danach an. Außerdem erwies sich, wenn Hypnose im Spiel war, eine verbesserte
Wundheilung. Zudem ist es natürlich von großem Vorteil, mit einem entspannt-
zuversichtlichen Patienten zu arbeiten.
Für den Patienten ist der Hinweis wichtig, dass im Unterschied zur medika-
mentösen Anästhesie die Sensibilität für Druck, Berührung und Temperatur be-
stehen bleibt.
246 G. S. Barolin und A. Kaiser-Rekkas
Zusammenarbeit
Dort, wo stark psychisch und/oder psychosomatisch mitbedingte Schmerzen be-
stehen, gehören Patienten in die Hand des fachlich versierten Psychotherapeu-
ten und Arztes, weil das Geschehen komplex ist, das Symptom vielleicht eine
Funktion im Lebenskontext erfüllt oder ein tiefes seelisches Leid oder Trauma
widergespiegelt. Hingegen kann der gut ausgebildete, feinfühlige pflegend Täti-
ge dem akuten Schmerzpatienten sehr große Dienste leisten. Eine positive Sicht
der Dinge, Vertrauen in natürliche Fähigkeiten und der Erfahrungsschatz an be-
obachteten guten Genesungsverläufen werden den Sprachgebrauch, aber auch
die nonverbale Vermittlung wie Mimik und Gestik prägen. Der Patient wird darin
Halt finden, sein Selbstvertrauen stärken, besser heilen und letztendlich auch
leichter und erfolgreicher therapierbar sein.
Auch hierbei zeigt sich also wieder, dass nur eine gut zusammenarbeitende
Arbeitsgruppe aus Ärzten und Pflegenden („Teamwork“) das Optimale für den
Patienten leisten kann, ja dass sogar bei fehlendem Verständnis bei der Pflege
manches an möglichem Erfolg verschenkt werden kann. Dies hat ja auch Barolin
im Sinne seiner Forderung nach Schulung in „basaler Psychotherapie“ betont
und das zeigt sich besonders auf dem sensiblen Gebiet der hypnosuggestiven
Therapie.
Literatur
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· Grundlagen · Praxisgerechte Diagnostik · Medikation · Physiotherapie · Psychotherapie ·
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Kaiser Rekkas A (2007) Klinische Hypnose und Hypnotherapie – praxisorientiertes Lehrbuch
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Kaiser Rekkas A (2007) Die Fee, das Tier und der Freund – Hypnotherapie in der Psychosoma-
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Kaiser Rekkas A (2005) Im Atelier der Hypnose – Entwurf, Technik, Therapieverlauf. Carl Auer
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Kaiser Rekkas A (2004) Aufrecht wie eine Palme. Hypnotherapie bei Skoliose mit chronifizier-
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Revision
G. GATTERER
G. Gatterer
Einleitung
Durchführung
Die PMR ist leicht zu erlernen und ohne großen Aufwand und zusätzliche Uten-
silien durchführbar. Grundprinzip ist die kurzfristige (meist 5–10 Sekunden dau-
ernde) Anspannung der betreffenden Muskelbereiche und daran anschließend
die Entspannung (ca. 30–50 Sekunden) derselben. Die Aufmerksamkeit sollte
diesen Prozess begleiten. Man beginnt bei den Händen und arbeitet gezielt die
einzelnen Muskelpartien des Körpers durch.
Am Anfang empfiehlt es sich etwa 2–3x/Tag zu üben, um den Lernprozess zu
beschleunigen. In weiterer Folge ist ein gezieltes Üben zur Bewältigung von
Stress, Schmerzen oder sonstiger psychischer Beschwerden präventiv, vor Auftre-
ten bzw. auch in der Situation möglich.
Die PMR kann in der Gruppe oder auch einzeln mit Unterstützung eines
Therapeuten erlernt werden. Zusätzlich sollte auch zuhause geübt werden. Eine
Unterstützung durch eine Anleitungskassette kann den Lernprozess erleichtern,
bewirkt jedoch auch eine gewisse Gewöhnung an die Stimme des Trainers und
eine suggestive Wirkung. Dadurch kann der Einsatz im Alltag etwas erschwert
sein. Ein Erlernen der PMR nur mit Buch und Kassette wird nur bei Personen
empfohlen, die keine Beschwerden aufweisen und es als „Wellness-Übung“ ler-
nen.
Die Vermittlung erfolgt meist in vier Abschnitten:
– der Vorbereitungsphase
– der Lernphase
– der Anwendungsphase
– des gezielten therapeutischen Einsatzes bei Krankheitsbildern.
In der Vorbereitungsphase werden das Wirkungsprinzip der Übung, die
Übungshaltung, der Ablauf und die Übungen erklärt. Als Grundhaltung hat sich
das entspannte Sitzen bewährt. Die Beine sind dabei leicht geöffnet, die Augen
Progressive Muskelentspannung nach Jacobson 251
geschlossen, die Arme ruhen entweder auf den Oberschenkeln oder der Lehne
auf (nicht hinunterhängen lassen!). Ängstliche Personen können die Augen am
Anfang auch geöffnet lassen. Es kann jedoch auch im Liegen, später auch im
Stehen (einzelne Übungen) geübt werden.
Die Lernphase beinhaltet das gezielte Erlernen der Übungen, wobei der ge-
samte Block meist in Teilen vermittelt wird. Die Größe der Blöcke richtet sich
nach der Fähigkeit des Patienten die Übungen durchzuführen, die Aufmerksam-
keit zu fokussieren, aber auch nach der Schwere der Störung und der Belastbar-
keit. Am Anfang ist das Vorsprechen durch den Therapeuten hilfreich, mit Fort-
dauer der Übungen sollte jedoch die Eigenkompetenz des Übenden verstärkt
einbezogen werden. Der Therapeut sollte hierbei den Fokus auf die An- und Ent-
spannung legen und gezielte Anweisungen geben (z. B. zum Faust schließen und
wieder öffnen). Der Übende soll sich auf die Wahrnehmung von An- und Ent-
spannung konzentrieren.
Der Prozess der An- und Entspannung ist schematisch in Abb. 1. dargestellt.
Zustand der tiefen Entspannung bereits nach wenigen Minuten „auf Komman-
do“, z. B. durch Anspannen der Hände, „abzurufen“. Mögliche Erweiterungen
der Technik sind Gruppentherapien und im späteren Stadium eine Kombination
mit Autogenem Training, Imaginationsverfahren wie Phantasiereisen, der Ver-
wendung suggestiver Begriffe aus der Hypnose, zusätzlicher Entspannungsmusik
oder der Meditation.
Der gezielte Einsatz von PMR bei verschiedenen körperlichen und psychi-
schen Krankheitsbildern sollte unter medizinischer, psychologisch/psycho-
therapeutischer oder sonstiger Fachaufsicht erfolgen, um negative Effekte zu
vermeiden. So kann PMR bei Schlafstörungen, Schmerzen, Angststörungen, zur
Stressbewältigung, aber auch bei Depressionen und Belastungsreaktionen einge-
setzt werden.
Die Übungen
Langfassung-Anweisung
c. Faust machen;
d. Arme anwinkeln;
e. Handgelenk gegen die Sessellehne drücken.
2. Beinübungen
a. Fußspitze nach oben, sodass Zehenspitze gegen die Decke deutet;
b. Zehenspitze gegen den Boden drücken;
c. Fuß heben;
d. Ferse gegen den Boden drücken;
e. Fuß gegen den Boden drücken.
3. Rumpfbereich
a. Bauch einziehen;
b. Aufrecht mit Hohlkreuz hinsetzen;
c. Tief einatmen und Luft anhalten;
d. Schultern nach hinten drücken;
e. Arm von der Brust weg nach rechts/links ausstrecken;
f. Schultern heben.
4. Nackenübungen
a. Kopf nach hinten drücken;
b. Kopf zur Brust;
c. Kopf nach rechts;
d. Kopf nach links.
5. Augenregion
a. Augenbrauen nach oben ziehen, Stirn runzeln;
b. Augenbrauen zusammenziehen, sodass vertikale Falten entstehen;
c. Augen fest schließen;
d. Ohne Kopfbewegung nach rechts, links, oben und unten schauen.
6. Visualisationsübung
In dieser Übung soll sich der Proband Bewegungen visualisierter Objekte
vorstellen. Diese sind mit Mikrobewegungen der Augen assoziiert, auf die
sich der Proband konzentrieren soll, z. B. vorbeifahrendes Auto.
7. Sprechwerkzeuge
a. Backenzähne zusammenbeißen;
b. Mund öffnen;
c. Zähne zeigen;
d. Lippen spitzen (Kussmund);
e. Zunge nach vorne gegen die Zähne drücken;
f. Zunge nach hinten gegen den Gaumen drücken.
Die Übungen werden dabei vom Therapeuten durch ein ruhiges Vorsprechen
unterstützt (siehe Kurzübung). Diese Langversion wurde von verschiedensten
Autoren (z. B. Bernstein und Borkovec 2002) modifiziert, wobei vor allem die Zeit
der Anspannung auf das derzeit übliche Maß von 5–10 Sekunden Anspannung
und 30 bis 50 Sekunden Entspannung verändert wurde.
254 G. Gatterer
Anweisung
„Setzen Sie sich möglichst bequem auf ihrem Stuhl zurecht und schließen
Sie Ihre Augen (2), machen Sie jetzt mit Ihrer rechten Hand eine Faust (1), ach-
ten Sie auf die Spannung (5) und lassen sie wieder ganz locker (15–20) und ach-
ten Sie auf die Entspannung in Ihren Fingern. Suchen Sie gedanklich Ihren Dau-
men (1), den Zeigefinger (1), Mittelfinger (1), Ringfinger (1) und den kleinen
Finger (1). Wiederholen Sie nun die Übung mit beiden Händen (3x durchführen
lassen).
Winkeln Sie nun ihre Arme an, spüren Sie Ihren Bizeps (5) und lassen Sie
Ihre Arme wieder sinken und entspannen Sie (2), achten Sie auf die Entspan-
nung in Ihren Armen (15–20). Wiederholen Sie nun auch diese Übung 2-mal.
Ziehen Sie nun ihre Schultern nach oben, aber so, dass sie nicht schmerzen
und achten Sie auf die Spannung (5), lassen Sie nun Ihre Schultern wieder lang-
sam sinken und achten Sie auf die Entspannung in Ihren Schultern (15–20).
Wiederholen Sie auch diese Übung 2-mal selbstständig.
Bewegen Sie nun ihren Kopf langsam nach vorne bis zur Brust und achten
Sie auf die Spannung im Nacken (2), nun langsam zurück, aber nicht überdeh-
nen, und achten Sie auf die Spannung vorne (2), nun langsam nach rechts (2)
und nach links (2) und pendeln Sie nun den Kopf in der Mitte ein, wo es am an-
genehmsten ist und bleiben Sie in dieser Stellung (15–20). Wiederholen Sie auch
diese Übung 2-mal.
Atmen Sie nun tief aus (3), tief einatmen (3), Atmung anhalten (5) und aus-
atmen und so weiteratmen, wie sich ihr Atmen ergibt (15–20). Lassen Sie den
Atem einfach ein- und ausströmen. Wiederholen Sie nun auch diese Übung
2-mal.
Drücken Sie nun Ihren Bauch heraus, achten Sie wieder auf die Spannung (5)
und lassen Sie ihre Muskeln wieder ganz locker (2) und achten Sie auf die Ent-
spannung in Ihrem Bauch (15–20). Machen Sie auch diese Übung 2-mal selbst-
ständig.
Drücken Sie nun Ihre Fersen gegen den Boden (2), achten Sie auf die Span-
nung (5) und lassen Sie wieder ganz locker (1) und entspannen Sie (15–20). Ma-
chen Sie auch diese Übung 2-mal selbstständig.
Progressive Muskelentspannung nach Jacobson 255
Drücken Sie nun Ihre Zehenspitzen gegen den Boden (2), achten Sie auf die
Spannung im Unterschenkel (5) und entspannen Sie wieder. Machen Sie auch
diese Übung 2-mal selbstständig.“
Zurücknehmen: „Winkeln Sie nun Ihre Arme an, atmen Sie tief ein, strecken
Sie sich, atmen Sie aus und öffnen Sie Ihre Augen wieder. (Kann auch öfter ge-
macht werden).“
Bei Personen, die PMR bereits länger geübt haben, kann eine ganz kurze Form
für den Einsatz im Alltag verwendet werden. Dazwischen sollte aber immer wie-
der die längere Form geübt werden. Dazu werden verschiedene Muskelpartien
gleichzeitig angespannt und dann wieder locker gelassen. Die Übung soll 2–3x
wiederholt werden. Das Zurücknehmen erfolgt wie normal. Diese Form hat sich
für Personen, die tagsüber viel Stress aufbauen, aber kaum Zeit zum Entspannen
haben, in der klinischen Praxis des Autors sehr bewährt.
Anweisung
„Setzen Sie sich bequem auf Ihrem Stuhl zurecht und schließen Sie Ihre Augen
(2). Machen Sie nun mit beiden Händen eine Faust (1), winkeln Sie die Arme an
(1), atmen Sie tief ein (1) und pressen Sie die Beine fest gegen den Boden (5–10),
und nun lassen Sie alle Muskeln wieder ganz locker und entspannen Sie sich
wieder (60).“
Die Einsatzbereiche von PMR sind breit gefächert und reichen von Stresskon-
trolle über Angstbewältigung, der Therapie von Schlafstörungen, Schmerzen,
Bluthochdruck bis zu somatoformen Störungen, Persönlichkeitsstörungen und
Belastungsreaktionen. Die PMR kommt dort häufig in Verbindung mit anderen
Verfahren, vor allem Psychotherapie und medikamentöser Therapie, zum Einsatz
(Petermann und Vaitl 1994). Außerdem wird durch sie die Leistungsfähigkeit ver-
bessert und das vegetative Nervensystem positiv beeinflusst. Vor allem im Rah-
men der Verhaltenstherapie kommt das Verfahren oft zum Einsatz, da es rascher
erlernt wird als Autogenes Training oder andere meditative Techniken.
Studien belegen die Wirksamkeit besonders im Bereich von Spannungskopf-
schmerz, Rückenschmerzen und der Migränetherapie (Goebel 2003; Kröner-
Herwig 2000; Bischoff und Traue 2004). Auch nach schweren Erkrankungen, z. B.
Herzinfarkt, kann die Methode eingesetzt werden. Manchmal wird sie auch mit
Biofeedback kombiniert, um dem Probanden die Wirksamkeit zu zeigen bzw. die
Sensibilität der Wahrnehmung zu verbessern. Ebenso ist sie eine gute Methode
zur Psychohygiene in helfenden Berufen bzw. bei Angehörigen von chronisch er-
krankten Menschen, z. B. Demenzerkrankungen (Gatter und Croy 2005).
Zusammenfassung
werden. Die genauen Wirkprinzipien sind jedoch nur wenig untersucht. Unter-
schiede zwischen der Urfassung von Jacobson, den längeren Verfahren und den
Kurztechniken sind kaum untersucht. Ebenso sind der Einfluss suggestiver Ele-
mente z. B. durch das Vorsprechen durch den Therapeuten oder Anleitungs-CDs
intervenierende Variablen. Das Verfahren ist jedoch bei Probanden sehr beliebt,
da es leicht erlernt werden kann und rasch Erfolge zeigt.
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http://www.schmerzakademie.de (gratis download)
Revision
Qigong
F. WENDTNER
F. Wendtner
Einleitung
In unseren Breiten kennt man Qigong – „Arbeit mit Lebensenergie“ – vor allem
als Bewegungsmeditation und als eine zunehmend im Wellnessbereich vermit-
telte Methode, etwas für das eigene Wohlbefinden zu tun. Allerdings wird man
so nur einem Teilaspekt dieses Weges zur Entwicklung Innerer Harmonie – und
damit auch zum Gesund-sein – gerecht.
Im Qigong versteht man Gesund-sein als Zustand der Ausgewogenheit im
Zusammenspiel der „Vitalen Substanzen“ Qi, Jing und Shen, sowie auch Xue
(Blut), Jin und Ye (Körpersäfte). Fließen diese vitalen Substanzen regelrecht im
Menschen, äußert sich das in körperlichem, geistigem, seelischem und spirituel-
lem Wohlbefinden. Ist dieses Fließen dagegen gestört, ist ein Zustand der Dis-
harmonie gegeben, der langfristig über verschiedene Befindlichkeitsstörungen zu
Krank-sein, vielfach verbunden mit Schmerzen, führt. Akupunktur ist bei dieser
Indikation dann eine in der medizinischen Schmerztherapie weit verbreitete und
wirksam angewandte komplementäre Behandlungsform. Qigong beeinflusst die
gleiche Energie, die in der Akupunktur durch das Stechen von Nadeln reguliert
wird und ist als Bestandteil der TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) ein
Weg, in innerer Achtsamkeit sowohl in langsamen, sanften Bewegungen als auch
in „Stillen Übungen“ ohne körperliche Bewegung ein Zuviel und Zuwenig im
Fließen des Qi zu regulieren, damit auch die eigene Schmerzsituation wohltuend
zu beeinflussen. Wärme, Entspannung, das Gefühl lebendiger innerer Ruhe und
mehr Energie zur Verfügung zu haben, werden erfahrbar, Schmerzen können ge-
lindert werden.
Imagination, Visualisierung und Vorstellungskraft sind dabei ebenso wichtig
wie die Bereitschaft, sich (wieder) sich selbst zuzuwenden. Langfristig kann
Qigong auch eine Lebenshaltung werden, geprägt von innerer Ruhe, Gelassen-
heit und einer tiefen Verbindung zum eigenen inneren Wesenskern.
260 F. Wendtner
Verschiedene Quellen datieren die Ursprünge des Qigong in eine Zeit von 3000
bis 5000 Jahre vor dem Beginn unserer Zeitrechnung und zumindest eine Quelle
legt sich auch örtlich fest. Sie geht davon aus, dass Qigong „in der nördlichen
Schleife des Großen Flusses“ aus der Nachahmung von Tierbewegungen im
Rahmen schamanischer und kultischer Tänze entstand.
Erste Artefakte wie Steinschalen oder auch Steinnadeln, bei denen man da-
von ausgeht, dass sie zur frühen Akupunktur verwendet wurden, schätzt man auf
ein Alter von ca. 5000 Jahren. Erste schriftliche Dokumente finden sich als „Jade-
inschrift über das Führen und Leiten des Qi“ mit einem Alter von 2400 Jahren
oder in Form von Grabbeigaben, wie z. B. das „Daoyin tu (Plan der Übungen
zum Dehnen und Leiten)“ in Gestalt eines Seidenbildes mit den Abmessungen
110 mal 53 Zentimeter, auf welchem in 44 Darstellungen Übungen wie „das
Gleiten des Bären“ oder „Taubheit dehnend lösen“ abgebildet sind. Diese 1973
in Changsha in der Provinz Hunan im Mawangdui Grab Nr. 3 gefundene Seide
wird auf das Jahr 168 vor Christus datiert (Engelhardt 1998). Über die Jahrhun-
derte und die verschiedenen Herrscherperioden weitergegeben und entwickelt,
entstanden viele verschiedene Richtungen und Schulen, besonders von der Tang-
bis zur Yuan-Dynastie (618–1368). Während der Ming- und Ching-Dynastien
(1368–1912) kam es dagegen zu einer verstärkten Integration des Qigong. Ele-
mente der Hauptrichtungen – des taoistischen, buddhistischen und konfuzia-
nistischen – Qigong flossen ineinander. Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts
wurde schließlich die Chinesische Akademie für TCM (Traditionelle Chinesische
Medizin) gegründet und damit der Grundstein für eine naturwissenschaft-
lich/medizinisch angelegte Schule des Qigong. Gegenwärtig üben allein in China
zwischen 60–80 Millionen Menschen täglich Qigong und Tai Chi, vielfach am
frühen Morgen, unter anderem in den Parks der Städte. Aber nicht nur in China,
weltweit nimmt die Zahl der Qigong-Übenden ständig zu. Ob zur Gesundheits-
fürsorge, zur Unterstützung bei Genesung oder als Weg zu sich selbst, Qigong
bietet viele Facetten und Zugänge für die Übenden.
„...Seit diesen alten Zeiten sind dem Hauptstamm des Qigong viele ver-
schiedene Zweige der Praxis entsprossen, jeder mit einem eigenen Stil und einer
eigenen Zielrichtung; doch alle schenken Gesundheit und ein langes Leben,
physiologisches Gleichgewicht und emotionale Ausgeglichenheit, geistige Klar-
heit und spirituelle Harmonie.“ (Reid 2000)
Yin und Yang sind zwei der bekanntesten Begriffe aus TCM und Qigong. Erste
schriftliche bzw. bildliche Darstellungen finden sich um etwa 700 v. Christus
im „Buch der Wandlungen“. Angelegt im Ursprung Wuji, hervorgegangen aus
dem im dynamischen Wechselspiel entstandenen Tayji wird Yin ursprünglich mit
Qigong 261
„… die im Schatten liegende Seite des Berges ...“ und Yang mit „… die in der
Sonne liegende Seite des Berges …“ übersetzt. Daraus geht bereits hervor, dass
es sich hierbei um zwei polare Aspekte handelt, welche in einem ständigen
Übergang ineinander begriffen sind, wobei auf dem Höhepunkt des einen das
andere zu wachsen beginnt. Eines ist ohne das andere nicht möglich und jedes
braucht das jeweils andere, um zum Ausdruck kommen zu können. So braucht
die Funktion die Substanz, um wirksam werden zu können, die Ruhe ist die Ba-
sis der Bewegung. Dieses System erfuhr um rund 300 vor Christus eine bedeut-
same Erweiterung – es kam zur Einführung der Fünf-Elemente-Lehre Wu Xing.
In dieser Lehre werden die fünf Elemente oder auch Wandlungsphasen Holz,
Feuer, Erde, Metall und Wasser abstrakt als umfassendes Prinzip für alle Naturer-
scheinungen aufgefasst. Indem sie einander bedingen und sich gegenseitig be-
einflussen, wirken sie zyklisch aufeinander ein und stehen in einem definierten,
ständig in Fluss befindlichen Verhältnis zueinander. Sie stehen in einem unmit-
telbaren Zusammenhang mit dem Konzept Yin und Yang, bilden gleichsam die
detaillierte Darstellung des beständigen Wandels von Yin und Yang ab. Dabei ste-
hen Holz und Feuer für das zunehmende Yang, Metall und Wasser für das zu-
nehmende Yin und die Erde steht für den ausgeglichenen Zustand der Mitte, sie
ist zugleich der Speicher aller Energien und Quelle der Kraft für die anderen
Elemente. Im Lauf der Jahrhunderte entstand so nicht nur ein System von unter-
schiedlich aufeinander einwirkenden zyklischen Wechselbeziehungen, sondern
darüber hinaus ein Entsprechungssystem, welches den Menschen als Mikrokos-
mos im Makrokosmos mit einbezieht, ihn eingebunden in die beständigen Ab-
läufe und Wandlungen sieht (Kapchuk 2001) (Tabelle 1).
Tabelle 1
Diese Tabelle ist als beispielhafte, nicht als vollständige Übersicht zu den o. a. Entspre-
chungen zu sehen.
262 F. Wendtner
„Der Mensch lebt inmitten von Qi, und Qi erfüllt den Menschen. Angefangen
bei Himmel und Erde bis hin zu den zehntausend (= alle)Wesen. Alles bedarf des
Qi, um zu leben. Wer das Qi zu führen weiß, nährt im Inneren seinen Körper
und wehrt nach außen hin alle schädigenden Einflüsse ab.“
Qi wird hier als Basis, als die alles durchdringende, jegliches Leben im Kosmos
erst ermöglichende Kraft in verschiedenen Ausprägungen begriffen. Jing ent-
spricht demnach dem materiellen (Substanz) und Shen dem immateriellen
(Geist/Psyche) Aspekt von Qi – und alle Aspekte sind in ständigem Wandel und
einem Auseinander hervor und einem Ineinander übergehen begriffen. In uns
Menschen fließt das Qi in einem Netzwerk, bestehend aus den auf beiden Kör-
perhälften symmetrisch angelegten Leitbahnen oder Meridianen (Wentao et al.
2003), sowie in den Gefäßen oder Mai und verschiedenen weiteren Verbindun-
gen in einem als „Organuhr“ bekannten Rhythmus. Dabei bilden immer – wie in
Tabelle 1 angeführt - ein Yin- und ein Yang-Organ einen „Funktionskreis“, wie
z. B. Herz/Dünndarm oder Leber/Gallenblase und arbeiten besonders eng zu-
sammen. Qi wird beständig zur Aufrechterhaltung der Lebensvorgänge ver-
braucht und wird neben dem ererbten und im Funktionskreis der Nieren ge-
speicherten Anteil aus der Nahrung, der Atmung und aus der Umgebung
aufgenommen und gewandelt. Dies geschieht im Rahmen von Qihua – der
Transformation von Qi (vgl. dazu Wenzel 1999). Erfolgt diese regelrecht, und
ebenso der Fluss des Qi im oben angesprochenen Netzwerk, fühlen wir uns aus-
geglichen und gesund. Kommt es zu deutlicheren Abweichungen und ist der
Mensch nicht mehr in der Lage, diese Schwankungen abzupuffern, sind Un-
wohlsein bis hin zu Kranksein, oft auch verbunden mit dem Auftreten von
Schmerz die Folge. Im Qigong wird – wie auch in der Akupunktur oder Aku-
punktmassage – Schmerz als „Schrei des Gewebes nach fließender Energie“ in-
terpretiert.
siologisch oder organdiagnostisch nicht fassbar ist. Es ist also davon auszugehen,
dass sowohl den psychischen als auch den funktionellen Aspekten bei Rücken-
schmerzen immer noch zu wenig Beachtung geschenkt wird (vgl. Haak und
Scott 2007).
Darüberhinaus sind hierzulande die diesbezüglichen energetischen Zusam-
menhänge und Bedingungsgefüge noch nicht ausreichend erforscht oder (an)-
erkannt, denn aus chinesischen Studien geht klar hervor, dass Rückenschmerzen
bei Qigong-Übenden wesentlich seltener auftreten. Die Ärztin Dr. Andrea
Zauner-Dungl empfiehlt Qigong sowohl zur Prävention wie zur Therapie von
Rückenschmerzen: „… Betrachten wir die Körperhaltung beim Qigong-Training,
so ist sie mit den Empfehlungen der modernen Haltungsinstruktionen weitge-
hend ident. Das Fließgleichgewicht von phasischer und tonischer Aktivität kann
nur durch das Gesetz der reziproken Innervation ungestört erhalten werden.
Qigong-Übungen werden diesen bewegungsphysiologischen Grundsätzen in
vollem Ausmaß gerecht. Qigong erfüllt alle Kriterien der modernen Präventions-
richtlinien für idiopathischen Rückenschmerz.“ (Zauner-Dungl 2004)
Bei bestehenden Schmerzen übt man den eigenen Möglichkeiten entspre-
chend in der eingangs angeführten inneren Achtsamkeit nach dem Prinzip „Das
Qi folgt der Vorstellung“, d. h. nur in angedeuteten Bewegungen, denn die Verin-
nerlichung der jeweiligen Übung und ihre Visualisierung sind von wesentlicherer
Bedeutung als die Perfektion der Ausführung.
Somit erscheint auch bei dieser PatientInnengruppe Qigong sowohl zur Ver-
besserung der subjektiven Schmerzsituation als auch zur Hebung der Lebens-
qualität geeignet.
Zusammenfassung
Schmerz, vor allem chronischer Schmerz, ist ein hochkomplexes Ganzes, das den
Menschen in seiner gesamten Existenz und in allen Lebensbereichen betrifft –
und doch von vielen Betroffenen in noch nahezu ausschließlich organisch ausge-
richteter Sichtweise verstanden wird. Dass bei Schmerzen der erste Weg zur Me-
dizin führt, ist in unserer Kultur selbstverständlich. Nur sollte das – auch im Hin-
blick auf die Kosten für unser Gesundheitssystem (Göbel 2001) – besonders bei
chronischen Schmerzen nicht die einzige Handlungsalternative bleiben. Neben
etablierten komplementären Herangehensweisen (Bernatzky et al. 2007) kann
Qigong ein Weg sein, selbständig die Schmerzen zu lindern und damit den Grad
der Autonomie zu erhöhen. Gerade die Erfahrung, selbst nachhaltig Hilflosigkeit
und Ausgeliefertsein reduzieren zu können, verändert Erwartungshaltungen und
trägt nachweislich dazu bei, Schmerzen zu reduzieren (Kamolz 1996). Darüber-
hinaus kommt es zur Hebung sowohl der internalen Kontrollüberzeugung
(Rotter 1966) als auch der Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura 1977) und
damit zu mehr Zuversicht, letztlich zu mehr Lebensqualität.
Qigong ist – wie bereits in der Einleitung angedeutet – ein angenehmer, sanf-
ter Weg bei bereits bestehenden Schmerzen, eigenverantwortlich, wirksam und
spürbar etwas für sich selbst zu tun, aber auch präventiv regulierend die innere
Balance im Sinne von „Yangsheng – Lebenspflege“ zu fördern und so auf eine
wohltuende Weise und nachhaltig das eigene Gesundbleiben zu fördern (Mayer
1999).
Literatur
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Revision
J. WALTER
J. Walter
TCM – Ist diese Medizin auch für den Westen geeignet?
Einleitung
Die herausragendste und wichtigste Theorie der TCM ist das Prinzip von Yin und
Yang. Alle Erscheinungen der Welt werden in dieses System eingebunden, wobei
Yin und Yang zwar gegensätzliche, aber doch einander ergänzende Eigenschaften
repräsentieren. Sie stehen damit im Gegensatz zur westlichen Logik, in der sich
268 J. Walter
Abb. 1.
Die chinesischen Schriftzeichen für Yin beziehen sich auf die „Schattenseite“
eines Hügels, die des Yang auf die „Sonnenseite“. Für die Zuordnung jedes Na-
turphänomens, jedes physiologischen und pathologischen Vorganges sowie jedes
Symptoms ist dieses Bild sehr hilfreich. Dementsprechend steht das Yin unter
anderem für Eigenschaften wie dunkel, kalt und feucht, während Yang für hell,
warm und trocken steht. Auch medizinische Begriffe lassen sich in dieses System
einordnen (Tabelle 1), wie generell die gesamte chinesische Medizin ihre Diag-
nose- und Behandlungsmethoden auf die fundamentale Theorie von Yin und
Yang zurückführt (Fung Yu-Lan 1966).
Tabelle 1
Yin Yang
Parasympathikus Sympathikus
Schlaf Wachsein
Ruhe Bewegung
Hypofunktion Hyperfunktion
Dilatation Kontraktion
Diastole Systole
Exspiration Inspiration
Chronische Zustände Akute Zustände
Körpersubstanz Körperfunktion
Wärmebedürftigkeit Verlangen nach Kühlem
Hohlorgane Parenchymatöse Organe
TCM – Ist diese Medizin auch für den Westen geeignet? 269
Die chinesische Medizin kennt fünf Grundsubstanzen des Lebens, deren rei-
bungslose Interaktion und ausreichende Verfügbarkeit entscheidend für das
Funktionieren von Körper und Seele, und damit für Leben, ist.
Die zentrale Grundsubstanz ist das Qi, das auch die Basis der anderen Sub-
stanzen des Lebens darstellt. Qi ist ein medizinphilosophischer Begriff und hat
keine wörtliche Entsprechung im Deutschen. Am ehesten könnte es mit „Ener-
gie“ oder „Lebensenergie“ übersetzt werden. Nach den Vorstellungen der TCM
kreist es ständig im Körper, in den Organen und in „Energiebahnen“ an der
Körperoberfläche, den „Meridianen“. Eine Behinderung des reibungslosen und
ungehinderten Fließens des Qi hat Schmerzen und Funktionseinschränkung
zur Folge, ein komplettes Sistieren des Qi-Flusses bedeutet den Tod des
Organismus. Qi tritt in verschiedenen Formen auf, die wichtigsten sind die Erb-
energie („Yuan-Qi“), die Nahrungsenergie („Gu-Qi“) sowie die Atmungsenergie
(„Zong-Qi“).
Die Gewebsflüssigkeiten und Körpersäfte („Jin Ye“), das Erbgut („Jing“), der
Intellekt oder Geist („Shen“) sowie das Blut („Xue“) stellen die vier anderen
Grundsubstanzen dar und sind lediglich besondere Formen von Qi (von sehr
dicht und materiell wie das „Blut“ zu gänzlich immateriell wie der „Geist“)
(Maciocia 1994).
Diagnostik als auch für die Therapie im Sinne der TCM eine wichtige Rolle und
helfen auch dem westlich geschulten Denken, ein entsprechendes Verständnis
für die Zusammenhänge der chinesischen Medizin zu erlangen.
Pathologische Faktoren
Die TCM kennt in erster Linie zwei Arten von pathologischen Faktoren, nämlich
äußere und innere. Während die westliche Medizin erst seit ein paar Jahrzehnten
die Bedeutung von psychischen Faktoren als Krankheitsauslöser verstärkt beach-
tet, spielen diese als Gruppe der inneren pathologischen Faktoren in der TCM
schon seit Jahrtausenden eine zentrale Rolle. Sie versteht emotionale Zustände
wie Angst, Sorge, Freude, Trauer, Zorn u. a. als integrale und untrennbare Be-
standteile der inneren Organe. Zur Krankheitsursache werden Emotionen jedoch
erst dann, wenn sie besonders stark sind oder, was häufiger vorkommt, wenn sie
über lange Zeit bestehen. So gehören die Angst zur Niere, die Sorge zur Milz, die
Freude zum Herzen, die Trauer zur Lunge und der Zorn zum Funktionskreis der
Leber. In einer der TCM typischen Wechselbeziehung kann einerseits das Organ
leiden, wenn der jeweilige emotionale Faktor entgleist. Andererseits kann jedoch
auch durch eine Schwäche oder Erkrankung des Organs die jeweilige Emotion
auftreten (Huang Ti Nei Jing Su Wen 1979)
Diese Körper-Geist-Wechselbeziehung tritt auch bei den äußeren pathologi-
schen Faktoren auf. Darunter versteht die TCM in erster Linie klimatische Bedin-
gungen wie Wind, Hitze Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit. Naturgemäß haben
sie eine enge Beziehung zu Wetter und Jahreszeiten. Ähnlich wie bei den inneren
Faktoren werden die Einflüsse erst dann krankmachend, wenn sie entweder in
extremer Ausprägung auftreten oder der Körper geschwächt ist. Hier korrespon-
dieren der Wind mit der Leber, Hitze mit dem Herzen, Kälte mit der Niere, Tro-
ckenheit mit der Lunge und die Feuchtigkeit mit dem Funktionskreis der Milz.
Diese pathologischen Faktoren stechen gegenüber den anderen insofern heraus,
als sie sowohl für Ursachen, als auch für Syndrome stehen. Das heißt, es kann
einerseits das innere Organ durch den pathologischen Faktor in Mitleidenschaft
gezogen werden, andererseits sich diese Schwächung des Organs in Form des
pathologischen Faktors manifestieren (z. B. Wind-Symptome bei Beschwerden
mit wechselnder Lokalisation und Intensität, meist im Kopf-Hals-Bereich auftre-
tend).
Neben den inneren und äußeren Krankheitsursachen können auch andere
Faktoren eine Rolle spielen. Hier sind unter anderem eine schwache Konstitu-
tion, Überanstrengung, falsche Ernährung sowie falsche Behandlungen zu nen-
nen.
Diagnostische Möglichkeiten
Die Erstellung einer guten Diagnose nach TCM ist ein mehrschichtiger Prozess,
in dessen Zentrum die Wahrnehmung des Arztes steht. Da den Ärzten in den
TCM – Ist diese Medizin auch für den Westen geeignet? 271
Frühzeiten der TCM, also vor mehr als 2000 Jahren, lediglich die eigenen Sinnes-
organe zur Verfügung standen, und es noch keine Möglichkeiten einer apparati-
ven Diagnostik gab, stehen Sehen, Fühlen, Riechen, Schmecken und Hören ne-
ben dem gezielten Befragen des Patienten zu Beginn jeder Diagnosefindung.
Dabei werden nicht nur die zum aktuellen Krankheitsgeschehen gehörenden
Symptome einbezogen, sondern auch Manifestationen, die damit auf den ersten
Blick oft gar nichts zu tun haben. Insbesondere fließen auch emotionale und psy-
chische Zustände ein. Eine TCM-Diagnose stützt sich daher nicht nur auf Befun-
de, sondern immer auch auf das Befinden des Patienten.
Unter den verschiedenen Techniken seien vor allem die Zungen- und Puls-
diagnose erwähnt, denen eine große Bedeutung zukommt. Beide Methoden
basieren auf der Korrespondenz der einzelnen inneren Organe und ihrer Funk-
tionskreise mit Arealen auf der Zunge bzw. Pulslokalisationen.
Zweifellos sind diese Techniken auch für westliche Mediziner bei entspre-
chender theoretischer Befassung und praktischer Übung problemlos zu erlernen
und anwendbar. Generell sollte jedoch jeder TCM-Diagnose auch eine westliche
schulmedizinische Diagnose vorausgehen oder zumindest angeschlossen sein,
um nicht eine möglicherweise konventionell besser heilbare oder eine operative
Therapie erfordernde Organerkrankung zu übersehen.
Therapiemöglichkeiten
Nach der Erstellung der genauen Diagnose durch Identifizierung der vorherr-
schenden Syndrome erfolgt die Erstellung eines Behandlungsprinzips. Wie schon
erwähnt kennt die TCM verschiedene Therapieformen, wobei sie jeweils durch
unterschiedliche Techniken gekennzeichnet sind, allen aber das Behandlungs-
prinzip im Sinne der TCM gemeinsam ist. Allgemein werden zunächst die vor-
herrschenden und akuten Symptome behandelt, gleichzeitig erfolgt jedoch meist
auch schon eine Behandlung der zugrunde liegenden Ursachen und Syndrome;
die TCM spricht hier von der „Wurzel“. Letztlich bleibt eine Behandlung, die
ausschließlich auf die Symptome ausgerichtet ist, auf längere Sicht erfolglos,
wenn nicht auch die Wurzel mittherapiert wird. Es bleibt allerdings der Kunst des
TCM-Therapeuten überlassen, wie diese beiden Aspekte in den Behandlungs-
plan integriert werden.
Zu den verschiedenen Therapieformen zählen unter anderem die Akupunk-
tur, die im Westen sicherlich am weitesten verbreitete Methode, die Akupressur,
die Tuina-Massage sowie die Kräutertherapie. Unterstützend kann zusätzlich die
Ernährung nach den 5 Elementen eingesetzt werden. Allen diesen Therapiefor-
men ist gemeinsam, dass sie Gestörtes harmonisieren und wieder in Einklang
bringen, zerstörte Strukturen jedoch nicht heilen können.
Die Akupunktur ist eine klassische Reiztherapie, bei der über Nadelung be-
stimmter Punkte der Fluss des Qi angeregt wird und dadurch Selbstregulations-
kräfte des Körpers in Gang gesetzt werden. Vor allem in China wird großes Au-
genmerk auf das vom Patienten verspürte „Deqi-Gefühl“ gelegt, das der Patient
272 J. Walter
infolge des Einstiches der Akupunkturnadel verspüren soll. Damit ist jedoch
nicht das Spüren des Einstiches gemeint, sondern ein lokales oder entlang des
Meridians ausstrahlendes, schwer definierbares Gefühl von Ziehen, Schwere,
Wärme, Parästhesie oder Kribbeln. Wörtlich übersetzt bedeutet es „Ankunft des
Qi“ und signalisiert die Wirkung der entsprechenden Nadel.
Prinzipiell kann jeder Punkt der Körperoberfläche als Akupunkturpunkt ver-
wendet werden, der Großteil derselben liegt jedoch auf den Meridianen. Unter
diesen gibt es solche mit segmentalem Bezug (Alarm- und Zustimmungspunk-
te), mit direktem Organbezug (Quell-, Durchgangs-Punkte u. a.), antike Punkte
(Tonisierungs-, Sedierungs-, Ho-Punkte) sowie die, eher den europäischen
Schulen der Akupunktur entstammenden, Meisterpunkte. Wichtig ist, dass trotz
der Zuordnung vieler Punkte zu einer bestimmten Punktkategorie jeder Aku-
punkturpunkt je nach dem vorherrschenden Syndrom des Patienten verschiede-
ne bzw. auch mehrere Wirkungen haben kann. Einzelne Punktkategorien, vor al-
lem die antiken Tonisierungs- und Sedierungspunkte, die der konfuzianischen
Vorschrift, Arme und Beine der Patienten nur bis zum Ellbogen bzw. Knie unter-
suchen und behandeln zu dürfen, entsprungen sind, haben heute an Bedeutung
etwas eingebüßt.
Noch älter als die Akupunktur ist die Akupressur, bei der die Punkte mit den
Fingern massiert werden, eine Therapie-Technik, die der Patient nach entspre-
chender Einschulung zum Teil auch selber weiterführen kann.
Die Tuina-Massage ist eine Form der manuellen Medizin im Rahmen der
TCM. Sie vereint Aspekte der Akupressur, der Chiropraktik, verschiedener Mas-
sagetechniken und aktive und passive Gelenksmobilisationen.
Dem Kaiser Shen Nung schreiben die Chinesen die Entdeckung der Kräuter-
therapie zu. Es existieren mehrere tausend verwendeter Substanzen pflanzlicher,
tierischer oder mineralischer Herkunft. In der Praxis werden 300 bis 400 regel-
mäßig benutzt. Durch die Mischung verschiedener Kräuter in einer Rezeptur
können sie sich in ihren positiven Wirkungen verstärken und Nebenwirkungen
vermieden werden. Das Erlernen der einzelnen Arzneimittelwirkungen ist schon
aufgrund des Umfangs Ziel einer zu Recht langjährigen Ausbildung, die sich
nicht auf einfache „Kochrezepte“ reduzieren lässt.
Eine entscheidende Philosophie der TCM ist, dass das Ganze mehr ist als die
Summe seiner Teile, d. h., dass eine sinnvolle Diagnostik und Therapie nur dann
möglich ist, wenn der Patient in einem ganzheitlichen Zusammenhang gesehen
wird. Das erfordert neben einem profunden theoretischen Wissen über die ein-
zelnen Organmuster und Syndrome zur Erstellung der richtigen Diagnose auch
die genaue Kenntnis über die Möglichkeiten und Details der verschiedenen The-
rapieformen. Die Erlangung dieser Voraussetzungen ist auch für westliche Ärzte
und Pflegepersonen problemlos möglich. Notwendig sind allerdings eine gewis-
se Loslösung von westlich-schulmedizinischen Fachbegriffen und ein „Eintau-
chen“ in die Gedankenwelt und Terminologie der TCM.
Da die TCM versucht, den Patienten in seiner Individualität und Gesamtheit
zu sehen, lassen sich nur schwer allgemein gültige konkrete Behandlungspläne
erstellen. Dies umso mehr als oft nicht nur eine, sondern wie oben dargestellt
TCM – Ist diese Medizin auch für den Westen geeignet? 273
Literatur
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Huang T, Nei J, Su W (1979) Des Gelben Kaisers Klassiker des Inneren – Reine Fragen, S 221
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Revision
A. WICKER
A. Wicker
Einleitung
1995). Bei jeder physikalischen Behandlung muss auch immer berücksichtigt wer-
den, dass jede Stimulation der Haut (besonders mit den Händen durchgeführt)
mit psychischen Einflüssen verbunden ist, die ausgehend von der Dosierung und
der Art der Durchführung sedierend oder stimulierend wirken kann.
Ein wesentliches Ziel in der Anwendung von Massagetechniken ist die Lin-
derung von Schmerzen, die in der Muskulatur oder aber auch in inneren Orga-
nen lokalisiert sind.
Es kommen hier muskeltonussenkende, entkrampfende, durchblutungsför-
dernde, reflexanregende oder entstauende Massagegriffe zur Anwendung.
Durch besondere Massagegriffe sind von bestimmten Arealen der Körper-
oberfläche aus zielgerichtete Einflussnahmen auf innere Organe möglich. Dies
führt nicht nur zu einer zumeist spasmolytisch bedingten Schmerzlinderung,
sondern kann auch als Reflexzonentherapie zur Normalisierung gestörter Or-
ganfunktionen ausgenützt werden.
Bei den meisten Massagetechniken, die in der Schmerzbehandlung ange-
wendet werden, kommt es zu einer lokalen Hyperämie durch eine Erweiterung
der peripheren Strombahn. Es ergibt sich dadurch nicht nur ein vermehrter Ab-
transport von Stoffwechselprodukten, sondern es findet auch eine vermehrte Zu-
fuhr von nähr- und immunmodulierenden Stoffen in das Gewebe hinein statt.
Weiters kommt es zu einer allgemeinen Stoffwechselwirkung, zur Verbesse-
rung der Sauerstoffausnutzung, zur Steigerung des Gewebsturgors und generell
zu einer Verbesserung der Ernährungssituation des Organismus. Durch die da-
durch erfolgte Entlastung der Gewebe von Stoffwechselend- und Stoffwechsel-
zwischenprodukten, die ja in vielen Fällen Reizstoffe sind und insbesondere die
Schmerzsensoren anregen, tritt eine Schmerzlinderung ein.
Neben der eben genannten schmerzsenkenden Wirkung fördern Massagerei-
ze im Sinne der „Gate-Control-Theorie“ den Einstrom anderweitiger mechani-
scher Reize in die diese Afferenzen verarbeitenden Hirnareale.
Klassische Massage
Spezialmassagen
Bindegewebsmassage, Reflexzonenmassage
Die Bindegewebsmassage geht auf die deutsche Krankengymnastin Dick zurück
die durch spezifische Grifftechniken reflektorisch veränderte Zonen im Bindege-
webe beeinflussen konnte (Schiltenwolf 2006). Die Bindegewebsmassage ist eine
Form der Reflexzonenmassage. Durch den Einsatz der Fingerkuppen in variie-
renden Techniken und auch in etwas unterschiedlicher Ausprägung ist beiden
Massagearten gemeinsam eine intensive mechanische Beeinflussung von Haut,
Unterhaut und den Faszien. Es gelingt mit beiden Techniken, durch die Behand-
lung organspezifischer Zonen sowohl auf Funktionsstörungen der segmental zu-
geordneten Eingeweideorgane einzuwirken, als auch eine vegetative Gesamtum-
schaltung herbeizuführen. Wir wissen heute, dass das Bindegewebe nicht nur
„verbindende“ Funktionen aufweist, sondern auch direkte Verbindungen zum
Immunsystem ermöglicht und zu einer positiven Stimulierung dieses für die
Funktion des Organismus so wichtigen Systems beiträgt. Da bei jeder dieser
zwei Massageformen selbst eine starke Stimulierung von Nozizeptoren erfolgt,
sind sie nicht angenehm, sondern eher schmerzhaft in der Anwendung. Der Ef-
fekt stellt sich dann aber als vegetativ glättend und schmerzlindernd ein.
Fußreflexzonenmassage
Eine Sonderform der Reflexzonentherapie stellt die Fußreflexzonenmassage dar.
Die Wirkprinzipien sind die gleichen wie bei den bereits beschriebenen Reflex-
278 A. Wicker
Akupunktmassage
Diese Spezialform einer Massage verwendet als Basis die Prinzipien der Aku-
punktur nach der Meridianlehre. Durch richtige Strichführung mit speziellen
Stiften wird hier der Energiestrom aktiviert und gefördert. Auch diese Sonder-
form der Massage kann in der Therapie von Schmerzen eingesetzt werden.
Lymphdrainage
Die manuelle Lymphdrainage setzt auch am Bindegewebe an, das nach Pischin-
ger als komplettes Organ zu sehen ist. Ziel der manuellen Lymphdrainage ist es,
Stoffwechselprodukte aus dem Bindegewebe abzutransportieren, die Stoffwech-
selsituation zu verbessern und den Stauungsdruck im Gewebe zu verbessern.
Die manuelle Lymphdrainage wirkt in erster Linie mechanisch auf das Lymphge-
fäßsystem, verwendet ganz spezielle, zarte Grifftechniken und regt die Eigenpe-
ristaltik und damit die Flussgeschwindigkeit in diesem System an. Diese mecha-
nischen Reize haben aber auch eine direkte Wirkung auf das Vegetativum,
insbesondere auf den Sympathikus (Kasseroller 2002). Bei richtig angewandter
manueller Lymphdrainage tritt eine Entspannung und Schmerzlinderung ein.
Die manuelle Lymphdrainage kann auch bei akuten Schmerzzuständen einge-
setzt werden, wenn keine Kontraindikationen dem entgegenstehen.
Extensionsmassage
Bei Verspannungen mit Schmerzen im Schulter-Nackenbereich kann sehr effi-
zient die Extensionsmassage eingesetzt werden. Durch die massierenden Hände
wird ein dehnender Zug in Längsrichtung der Wirbelsäule ausgeübt. In Verbin-
dung mit Vibrationen kann diese Traktionsmassage der Halswirbelsäule umge-
hend zur Verbesserung der Schmerzsymptomatik führen. Diese Massageform
kann sowohl am sitzenden als auch am liegenden Patienten angewendet wer-
den.
Unterwasserdruckstrahlmassage
Indikationen
Bewährt hat sich die Unterwasserdruckstrahlmassage besonders zur Behandlung
von schmerzhaften Muskelverspannungen, Muskelkater, Muskelkontrakturen,
spastischen Paresen und bei degenerativ und operativ bedingten Schmerzzu-
ständen, die nicht akut sind.
Kontraindikationen
Vorsicht bei der Unterwasserdruckstrahlmassage ist geboten und eine Behand-
lung sollte nur nach Absprache mit dem Arzt und fehlenden anderen Möglich-
keiten bei folgenden Diagnosen in Betracht gezogen werden:
Herzinsuffizienz, fixierte essentielle renale Hypertonie, infektiöse und näs-
sende Hauterkrankungen, schwere arterielle Verschlusserkrankungen, ausge-
prägte Varikose, Thrombose und Phlebitis.
Allgemeine Kontraindikationen
Nicht angezeigt sind Massagebehandlungen bei fieberhaften Erkrankungen und
akuten Verletzungen und Entzündungsprozessen. Weiters sind eine Lymphangi-
tis, Phlebitis, frische Thrombose, eine Osteomyelitis und eine aktive Myositis
nicht mit Massagen zu behandeln. Ebenso sind Massagetechniken nicht erlaubt
bei pathologischer Blutungsneigung, nach inneren Blutungen und bei unklaren
abdominellen Erkrankungen.
280 A. Wicker
Bei malignen Tumoren ist die Massage immer dann kontraindiziert, wenn die
Gefahr besteht, dass die Verbreitung von Tumorzellen über direkte mechanische
Stimulierung auf dem Blut- oder Lymphweg gefördert werden könnte.
Lokale Kontraindikationen
Im Bereich von Entzündungsprozessen einzelner Gelenke und noch nicht kon-
solidierter Frakturen. Frische Ulzera sollten ebenfalls nicht direkt im Massagege-
biet liegen. Infektiöse Hauterkrankungen stellen absolute Tabuzonen für den
Masseur dar.
Während einer Schwangerschaft sollten Massagen im Bereich des Rumpfes
normalerweise nicht durchgeführt werden. Ist während der Schwangerschaft
wegen Rückenbeschwerden eine Massagebehandlung angezeigt, so wird diese
immer nach Rücksprache mit dem Arzt üblicherweise in Seitenlage oder an der
sitzenden Patientin durchgeführt.
Zusammenfassung
Im Rahmen der in den letzten Jahren zunehmend mehr an Bedeutung gewin-
nenden Behandlung des kranken Menschen in seiner „Ganzheit“ nach dem bio-
psycho-sozialen Modell gewinnen Therapiemodalitäten der Physikalischen Me-
dizin, zu denen die verschiedenen Formen der Massage gehören, zunehmend an
Bedeutung. Zur Behandlung von Schmerzen, besonders bei pflegebedürftigen
und chronisch kranken Menschen, aber auch im Akutkrankenhaus, bieten sich
Massagetechniken, immer eingebunden in ein Gesamttherapiekonzept, als ein
effektives Therapiemittel an. Richtig indiziert und angewandt hat dieses „Medi-
kament“ Massage keinerlei negative Nebenwirkungen. Die manuellen und ver-
balen Interaktionen des Therapeuten mit dem Patienten erschließen über einen
körpertherapeutischen Weg den Zugang in die Seele des Patienten (Häfner
2005).
Massageanwendungen erfordern neben einem theoretischen Basiswissen be-
sonders aber praktische Fertigkeiten. Massieren sollte daher immer wieder prak-
tisch geübt werden, denn nur wenn Massage auch praktisch mit hoher Qualität
angeboten werden kann, bringt es letztlich auch dann den gewünschten Erfolg
am Patienten.
In diesem kurzen Artikel konnte ich nur einige Prinzipien der Massage auf-
zeigen und ich hoffe, dass Interesse geweckt wurde, sich mehr mit dieser Materie
auseinanderzusetzen und diese Therapieform zum Wohle des Patienten qualitativ
hochwertig einzusetzen.
Für alle in diesem Beitrag angeführten Massageformen werden an verschie-
denen Institutionen Kurse zum Erlernen und zur Vertiefung dieser Techniken an-
geboten, die es wert sind daran teilzunehmen, um es dann am Patienten umset-
zen zu können.
Massage in der Schmerztherapie 281
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Revision
W. DÖLLER
W. Döller
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild
Einleitung
Allgemeines
Definition
Das Lymphödem (Abb.1 a) unterscheidet sich wesentlich von eiweißarmen soge-
nannten „internistischen Ödemen“. Diese sind lediglich Symptome des jeweili-
gen Krankheitsbildes und bedürfen keiner speziellen Ödemtherapie. Mit der er-
folgreichen Behandlung der Grundkrankheit bilden sich diese Ödeme wieder
vollständig zurück. Ein Lymphödem entsteht infolge einer Lymphangio- bzw.
Lymphonodopathie. Die Transportkapazität der Lymphgefäße ist zu niedrig, um
die anfallende Lymphe (lymphpflichtigen Lasten) aufzunehmen. Infolgedessen
sammelt sich eiweißreiche Flüssigkeit im Interstitium an, welche für die beim
Lymphödem typischen fibrosklerotischen Umbauprozesse verantwortlich ist.
Proteinhältige Flüssigkeit im Interstitium führt zu Veränderungen der betroffenen
kutanen und subkutanen Gewebsstrukturen, wie sie bei chronischen Entzün-
dungen gefunden werden. Wird der Proteinstau nicht beseitigt, kommt es zum
Fortschreiten des Prozesses und zu einem sich verschlimmernden chronischen
Krankheitsbild (Abb. 1 b).
Abb. 1 a.
Milde Form eines
primären
Beinlymphödems
Abb. 1 b. Sekundäre Lymphödeme können oft extrem ausgeprägt sein (Bein und Arm-
lymphödem)
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild 285
Epidemiologie
Die Häufigkeit des Lymphödems wird sehr kontroversiell diskutiert, da es keine
exakten epidemiologischen Untersuchungen gibt. Während die Inzidenz der er-
worbenen (sekundären) Lymphödeme, besonders die nach Krebstherapie, sehr
unterschiedlich angegeben wird, gibt es für die angeborenen (primären) Lymph-
ödeme eher konstante Angaben.
Danach leiden ca. 8 % der Gesamtbevölkerung an einem Beinlymphödem.
Frauen (13.7 %) sind 10-mal häufiger betroffen als Männer (1.4 %) (U. Schwarz).
Bestätigt werden diese Zahlen durch eine erst vor kurzem publizierte Studie.
(Rabe et al. 2003; Bonner Venenstudie).
Wenn auch der Lymphfluss, dem geringsten Widerstand folgend, in die ihm un-
mittelbar angeschlossenen Präkollektoren abfließt, ist die Lymphe doch auch ho-
rizontal in alle Richtungen mobilisierbar.
Tabelle 1. Aufbau des Lymphgefäßsystems
– Initiale Lymphgefäße
(klappenlose) Lymphkapillaren
Präkollektoren
– Lymphkollektoren
– Lymphstämme
Der Aufbau der Lymphkapillaren ist dem der Blutkapillaren ähnlich. Die sich
überlappenden flachen Endothelzellen der Lymphkapillaren sind einschichtig
angeordnet, von einem retikulären Faserfilz umgeben und mit Ankerfasern in der
Matrix des Bindegewebes verankert. Diese steuern die Öffnung der Interzellular-
fugen und ermöglichen so die Aufnahme von Gewebsflüssigkeit sowie von kor-
puskularen Elementen. Dieses initiale Lymphgefäßnetz, das oft fingerförmige
Ausstülpungen aufweist, hat somit die Funktion der Lymphaufnahme in das
Lymphgefäßsystem.
Die Präkollektoren sammeln die Lymphe der Lymphkapillaren aus um-
schriebenen Arealen. Sie bestehen neben den Endothelzellen aus einer
„Membrana accessoria“, kollagenen Fasern und einzelnen Muskelzellen. Sie ha-
ben vereinzelt Lymphgefäßklappen ausgebildet, die in Abständen von einigen
Millimetern angeordnet sind. Dies ermöglicht den Transport der Lymphflüssig-
keit in Richtung Lymphkollektoren. Diese besitzen bereits einen mehrschichti-
gen Wandaufbau gleichsam dem Blutgefäßnetz und haben ähnlich den Venen ta-
schenförmige Gefäßklappen ausgebildet. Bündel von Muskelzellen in den
Wänden der Lymphkollektoren ermöglichen eine Kontraktion und bewerkstelli-
gen so den Lymphtransport. Der Abschnitt eines Lymphkollektors zwischen
zwei Klappen wird als Lymphangion (Lymphherz) bezeichnet. Durch wech-
selnde Kontraktion und Dilatation dieser Lymphangione wird die Lymphe pater-
nosterförmig zentripetal befördert.
Weitere wichtige unterstützende Transportmechanismen für den Lymph-
transport sind die Muskelpumpe der Extremität, die Arterienpulsationen der na-
heliegenden Arterien (besonders bei subfaszialen Lymphkollektoren) und die
Atmung, indem bei Einatmung ein Sog auf die Lymphstämme ausgeübt wird.
Topographisch und organbezogen sind diese Lymphkollektoren sehr variabel
angelegt. Während sie zentral hin an Kaliber zunehmen, nimmt ihre Anzahl
deutlich ab. Im Laufe des Transportes werden diese Lymphkollektoren durch
Lymphknoten (Filterstationen) unterbrochen.
Die Lymphknoten
Die Lymphknoten sind in Gruppen oder Ketten angeordnet und als lymphati-
sche Organe Bestandteil des Immunsystems. Form, Zahl und Größe der Lymph-
knoten sind sehr variabel.
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild 287
Die Lymphknoten sind von einer bindegewebigen Kapsel umgeben, die auch
einzelne glatte Muskelfasern enthält. Neben lymphatischem Gewebe besteht der
Lymphknoten aus einem inneren Gerüst von Bindegewebszellen, fibroplasti-
schen Retikulumzellen und Lymphsinus. Die Lymphflüssigkeit erreicht den
Lymphknoten über afferente Lymphkollektoren, die in die Kapsel münden. Nach
Durchströmung des Marginal-, Intermediär- und Terminalsinus verlässt die Lym-
phe den Knoten im Hilusbereich über die efferenten Lymphgefäße.
Neben der mechanischen und immunologischen „Filterung“ der Lymphe fin-
det im Lymphknoten durch beträchtlichen Wasserentzug auch eine Konzentra-
tion der Lymphflüssigkeit statt.
Lymphstämme
Die neuerlich an Kaliber zunehmenden, zentral gelegenen Lymphgefäße werden
als Lymphstämme bezeichnet; hiezu zählt der Ductus thoracicus und der Ductus
lymphaticus dexter.
Der aus der Cisterna chyli abgehende Ductus thoracicus sammelt die Lymphe
aus den inneren Organen des Abdomens, aus den unteren Extremitäten sowie
aus den beiden unteren Rumpfquadranten. In seinem weiteren Verlauf werden
Lymphgefäßkollektoren aus Lunge, Herz und Mediastinum sowie aus dem
linken oberen Rumpfquadranten, dem linken Arm und dem linken Kopf-/Hals-
bereich aufgenommen. Der kaliberschwächere Lymphstamm Ductus lymphati-
cus dexter sammelt die Lymphe des oberen rechten Rumpfquadranten, des rech-
ten Armes und der rechten Hals- und Kopfregion. Beide Lymphstämme münden
an der jeweiligen Seite in das Venensystem (Angulus venosus) ein.
Die Extremitäten verfügen über ein oberflächliches und ein tiefes Lymphge-
fäßsystem. Während die epifaszialen Lymphgefäße die Lymphe der Haut, des
Unterhautbindegewebes und Fettgewebes drainieren, erfolgt die Entsorgung der
Muskulatur und Gelenke über das subfasziale System. Zahlreiche, die Faszie per-
forierende Lymphgefäße verbinden beide Systeme und ermöglichen so einen
Flüssigkeitsaustausch. Oberflächliches und tiefes Lymphgefäßsystem münden
jeweils in die regionalen Lymphknoten. Diese auch als Primärlymphknoten be-
zeichneten Lymphknoten sind einem umschriebenen Drainagegebiet (Tributar-
gebiet) angeschlossen.
Tributargebiet
Lymphterritorien und Tributargebiete sind durch lymphatische Wasserscheiden
(lymphgefäßarme Interterritorialzonen) voneinander getrennt. Aus einem Tribut-
argebiet oder Territorium ins andere kann die Lymphe über die Wasserscheiden
praktisch nur über das initiale Lymphgefäßnetz gelangen. So ist das Tributarge-
biet der regionären (primären) Lymphknoten der Axilla der obere gleichseitige
Rumpfquadrant und der gleichseitige Arm, wogegen dem Tributargebiet der re-
gionären (primären) Lymphknoten der Leiste der untere, gleichseitige Rumpf-
quadrant, das gleichseitige Bein und das Genitale zugerechnet ist.
288 W. Döller
Komplexer ist die Topographie der Lymphgefäße der inneren Organe; sie zu
beschreiben, würde den Rahmen dieses Artikels überschreiten.
Physiologie – Pathophysiologie
Für den Stoffwechselaustausch zwischen Blutendstrombahn (Mikrozirkulation)
und Interstitium sind Vorgänge wie Diffusion, Osmose, und – da die Kapillar-
wand wie eine semipermeable Membran wirkt – Ultrafiltration und Reab-
sorption notwendig. Die dafür verantwortlichen Steuerungskräfte sind der
Blutkapillar- und Gewebsdruck sowie der kolloidosmotische Druck im Blutge-
fäßsystem (kapillarer Bereich) und in der Gewebsflüssigkeit (Starling’sches
Gleichgewicht).
Mit jedem Pulsschlag verlassen auch Eiweißkörper das Blutgefäßsystem, um
in das Gewebe zu gelangen. Diese hochmolekularen Eiweißkörper können aber
nicht mehr über die kapillaren Venolen zurück aufgenommen werden.
Während in der Reabsorptionsphase zirka 90 % der über das arterielle Ka-
pillargebiet filtrierten Flüssigkeitsmenge über die kapillaren Venolen zurück in
den Blutkreislauf gelangt, werden zirka 10 % der Flüssigkeit (in Wasser gelöste
Eiweißkörper u.v.m.) über das Lymphgefäßsystem abtransportiert (Nettofiltrat).
– Stadium 0 – Latenz-/Intervallstadium
In diesem Stadium ist klinisch noch keine Schwellung nachweisbar; die
Transportkapazität der Lymphgefäße ist jedoch herabgesetzt. Es besteht zwi-
schen lymphpflichtiger Last und Transportkapazität ein, wenn auch labiles,
Gleichgewicht.
– Stadium I – spontan reversibles Stadium
Es besteht eine weiche teigige Schwellung und es lässt sich – wenn auch mi-
nimal ausgeprägt – eine Delle gut eindrücken. Das Stemmer’sche Hautfaltenzei-
chen ist negativ oder grenzwertig. Es kommt zur spontanen Rückbildung nach
Schonung oder Hochlagerung.
– Stadium II – spontan irreversibel
Die klinisch deutlich sichtbare und tastbare Schwellung geht spontan nicht
mehr zurück, ist zum Teil verhärtet und zeigt eine deutlich ausgeprägte Fibrosie-
rung, ebenso ist das Stemmer’sche Zeichen eindeutig positiv. Die Ausprägung
der Schwellung kann mehr oder minder stark sein. Hautveränderungen, wie
Hyperkeratose, Papillomatosis cutis lymphostatica, Lymphzysten und -fisteln
sind meist vorhanden. Komplikationen wie Pilzinfektionen und Erysipelinfekte
können auftreten.
– Stadium III
Aufgrund der massiven Ausprägung – kombiniert mit Komplikationen – wird
dieses Stadium auch „Elefantiasis“ bezeichnet.
Die Schwellungen nehmen eine monströse Form mit ausgeprägten Haut-
veränderungen an.
290 W. Döller
Neben der klinischen Einteilung des Lymphödems nach Stadien ist auch eine
Klassifizierung nach Entstehung (Äthiologie) und Verlaufsform notwendig.
Die eiweißreichen lymphostatischen Ödeme basieren auf einer primären (an-
geborenen) Störung oder sekundären (erworbenen) Schädigung eines gesunden
Lymphgefäßsystems und treten gehäuft an den Extremitäten auf.
Sekundäre Lymphödeme
Sekundäre Lymphödeme entstehen auf Grund einer Schädigung eines gesunden
oder eines suboptimal funktionierenden Lymphgefäßsystems. Die Ursachen sind
vielfältig und können hier nicht zur Gänze dargestellt werden. Die häufigsten
Ursachen sind:
posttraumatisch, postrekonstruktiv (nach Gefäßoperationen, Rekonstruk-
tionen oder Venenentnahme für Bypass-Operation), postentzündlich, artifiziell
(Selbstabschnürung von Extremitäten im Rahmen von Rentenbegehren, auf
Grund von psychiatrischen Erkrankungen), angeborenes Ringband, postope-
rativ und nach Krebsbehandlung. Bei Lymphödemen nach Krebstherapie
muss wegen der therapeutischen Konsequenz klar zwischen sekundär benignen
und malignen Lymphödemen unterschieden werden.
Während sekundär benigne Lymphödeme als Folge der notwendigen
Therapiemaßnahmen, wie Operation, Strahlentherapie und Chemotherapie, also
einer erfolgreichen Krebsbehandlung, zu klassifizieren sind, stellen sich sekun-
däre maligne Lymphödeme nur als ein Symptom einer progressiven Krebser-
krankung dar.
Dementsprechend sind auch die Therapieregime unterschiedlich.
Diagnose
Die Diagnose des Lymphödems ist meist einfach, kann aber auch erhebliche
Schwierigkeiten bereiten.
Ziel der Diagnose ist die Feststellung der Äthiologie, der Ausprägung des
Lymphödems und der eventuell bestehenden Begleiterkrankungen.
Für die Feststellung eines Lymphödems hat sich die Stufendiagnostik be-
währt. Die lymphologische Basisdiagnostik (Anamnese, Inspektion, Palpation) ist
in den meisten Fällen ausreichend. Frühformen von Lymphödemen, Kombina-
tionsformen und/oder Begleiterkrankungen fordern eine erweiterte Diagnostik.
Das Erkennen von Begleiterkrankungen ist aber für eine erfolgreiche Therapie
unumgänglich und fordert interdisziplinäre Zusammenarbeit.
Basisdiagnostik
– Anamnese
Eine sorgfältig erhobene Anamnese – besonders über Beginn (schleichend,
rapide), Erstlokalisation (ein- oder beidseitig, symetrisch, asymetrisch) und Aus-
breitung der Schwellung, vorangegangene Operationen, Verletzungen, Entzün-
dungen (Erysipelhäufigkeit) oder zusätzliche Erkrankungen (Herz-Kreislauf,
Niere, Arterien, Venen) kann richtungweisend sein. Rasche Ödembildung ver-
bunden mit Schmerzen und neurologische Symptome (besonders der Extremitä-
ten) können auf ein bis dahin nicht erkanntes Malignom (Metastase) hinweisend
sein.
– Inspektion
Die Inspektion sollte prinzipiell nach Entkleiden des Patienten stattfinden
und dient der Erfassung von Lokalisation und Ausbreitung der Schwellung sowie
zur Beurteilung der Haut- und Gewebsbeschaffenheit. Wichtig zu beachten sind
Narben nach Operationen oder Verletzungen, Hautkolorit und Venenzeichnung
sowie Vertiefungen der natürlichen Hautfalten, besonders bei Extremitäten peri-
pher; diese sind auch ohne ausgeprägte Ödembildung auf ein Lymphödem hin-
weisend.
Ausbreitung und Lokalisation ermöglichen eine Zuteilung und Klassifikation
des Lymphödems.
In der Regel sind peripher beginnende und aszendierende Lymphödeme als
primäre Lymphödeme (angeborene Lymphödeme) einzuordnen, wogegen
zentral betonte (in der Gliedmaßenwurzel beginnende) Ödeme mit Tendenz zur
Ausbreitung in die Peripherie eher für sekundäre Ödemformen sprechen.
– Palpation
Auch der Palpationsbefund sollte beim entkleideten Patienten erhoben wer-
den. In erster Linie werden alle Lymphknotenstationen vom Hals bis zur Leiste
palpatorisch untersucht. Im Weiteren erfolgen die Beurteilung der subkutanen
Strukturveränderungen und die Kutisdicke.
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild 293
Abb. 3.
Palpationsbefund:
Stemmer’sches Zeichen
Funktionsdiagnostik
Besonders geachtet werden muss bei Extremitäten-Lymphödemen auf Funk-
tionsdefizite, die durch eine orthopädische und neurologische Untersuchung ab-
geklärt werden müssen.
Erweiterte Diagnostik
Bei Verdacht auf Begleiterkrankung sind neben Laboruntersuchungen die übli-
chen klinischen und apparativen internistischen Untersuchungen notwendig.
Übliche bildgebende Verfahren, wie Nativröntgen, Sonographie, Computer-
tomographie (CT) und Magnetresonanz-Tomographie (MRI) sind besonders
zum Ausschluss sekundärer Lymphödeme (z. B. Malignomrezidiv, Primärtumor)
erforderlich.
Ist durch die Basisdiagnostik kein eindeutiger Befund möglich oder besteht der
Verdacht auf Begleiterkrankungen, so sind weitere diagnostische Schritte notwen-
dig. Neben den üblichen klinischen Untersuchungsmöglichkeiten stehen noch
spezielle lymphologische apparative Untersuchungstechniken zur Verfügung.
Lymphologische Spezialdiagnostik
Unter lymphologischer Spezialdiagnostik versteht man den Einsatz von bildge-
benden Untersuchungsverfahren, die vorwiegend bei Früh- oder Kombinations-
formen sowie bei gewissen speziellen Fragestellungen zum Einsatz gelangen.
294 W. Döller
Ultraschall
Die Sonographie ist bei der Diagnose des Lymphödems unerlässlich.
Darstellung von Lymphknoten, deren Form, Anzahl und Größe und Morpho-
logie lassen auf pathologische Veränderungen schließen. Hochauflösender Ultra-
schall (> 12 MHz) dient zur Beurteilung der Kutis und Subkutis und Differenzi-
aldiagnose bzw. Evaluierung des Therapieerfolges des Lymphödems.
Farbkodierte Duplexsonographie
Ist zur Beurteilung des venösen, aber auch des arteriellen Gefäßsystems beson-
ders bei kombinierten Lymphödemformen wichtig.
Indirekte Lymphographie
Diese röntgenologische Methode ermöglicht die Darstellung epifaszialer Lymph-
gefäße durch subepidermale Injektion von wasserlöslichen Kontrastmitteln. Die
Ausbreitungsform des Kontrastmittels, die Darstellung des initialen Lymphge-
fäßnetzes und den anschließenden Kollektoren ermöglichen eine Aussage über
Lymphaufnahmestörungen, aber auch über Rückstau des Lymphtransportes
(„dermal back flow“).
Form und Anzahl der dargestellten Kollektoren lassen auf eine Hyper-,
Hypo- oder Aplasie von Lymphkollektoren schließen.
Direkte Lymphographie
Nach Aufsuchen eines Lymphkollektors (z. B.: am Fußrücken) wird öliges Kon-
trastmittel injiziert und die Lymphgefäße dargestellt. Diese Untersuchung ist
wegen ihrer Nebenwirkungen (Fibrosierung der Lymphknoten und der Lymph-
gefäße und damit Potenzierung von Lymphödemen) obsolet.
Interstitielle MRI-Lymphangiographie
Diese neue, im Aufbau begriffene Technik ist noch nicht Standard. Erste Ergeb-
nisse lassen aber den Schluss zu, dass hier eine Untersuchung zur Verfügung ste-
hen könnte, die nicht nur das Lymphgefäßsystem, sondern auch Gewebsverän-
derungen und Ausmaß des mobilen Ödems zu beurteilen ermöglicht.
Quantitative Funktionslymphszintigraphie
Sie ermöglicht die Erfassung dynamischer Vorgänge des Lymphtransportes und
wird durch subepidermale und/oder subkutane Injektion von geeigneten Tracern
durchgeführt. Standardisierte Untersuchungsmethoden ermöglichen eine Aussa-
ge über Lymphtransportstörungen.
Fluoreszenz-Mikrolymphographie
Die heute nur an wenigen Stellen mögliche Untersuchungsmethode erlaubt
annähernd eine atraumatische Darstellung oberflächlicher Lymphkapillaren
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild 295
Abb. 4 . Hand-, Armlymphödem und Beinlymphödem vor und nach erfolgreicher Ent-
stauungstherapie (KPE)
296 W. Döller
Komplexe Physikalische
Entstauungstherapie
Absolute Kontraindikationen
allgemeine:
Herzinsuffizienz (Dekompensation)
akute Entzündung (bakteriell)
Medikamentöse Therapie
Eine spezielle lymphologische medikamentöse Therapie mit sicherer Wirksamkeit
gibt es nicht. Als adjuvante Therapie bei Kombinationsformen des Lymphödems,
wie Phlebo- und Lipolymphödem, ist der Einsatz von Flavonoiden sinnvoll.
– Benzopyrone
Cumarin oder cumarinhältige Präparate zeigen zwar eine positive Wirkung,
wurden aber wegen schwer wiegender Nebenwirkungen bei Langzeitbehand-
lungen aus dem Handel gezogen.
– Enzympräparate
Der adjuvante Einsatz von Enzymtherapien ist wissenschaftlich nicht ge-
sichert und in der Anwendung problematisch.
– Diuretika
Die Gabe von Diuretika (z. B. Lasix) ist bei isoliert vorliegenden Lymphöde-
men kontraindiziert. Wenn ein Lymphödem mit einer Krankheit kombiniert ist,
die eine Behandlung mit Diuretika erforderlich macht, so müssen diese unter
laufenden Kontrollen eingesetzt werden.
– Antibiotika
Antibiotika sind nur bei Auftreten von Komplikationen wie Erysipelinfekten
notwendig. Hier sollten sie ohne Verzögerung verordnet werden.
Operative Behandlung
Chirurgische Maßnahmen sollten nur bei lokalen Lymphabflussstörungen und
nach Ausschöpfung der konservativen Therapie überlegt werden. Operative Be-
298 W. Döller
handlungsmöglichkeiten der ersten Wahl mit dem Ziel der Erhöhung der Trans-
portkapazität sind die mikrochirurgischen Rekonstruktionsverfahren:
– autologe Lymphgefäß-Transplantation,
– lympho-venöse Anastomosierung.
Dissektionsverfahren mit dem Ziel der Reduktion der fibrosklerotischen Ge-
websvermehrung, wie sie heute mit der Lipo-Lymphosuktion beworben werden,
sind nicht ausreichend untersucht und können nach dem heutigen Wissenstand
nicht allgemein empfohlen werden.
Dissezierende Verfahren wie Dermolipektomie stellen lediglich eine komple-
mentäre Maßnahme nach erfolgreicher Entstauungstherapie dar, wenn schlaffe
Hautsäcke vorliegen, die bei der weiteren konservativen Therapie hinderlich sind
und daher abgetragen werden müssen.
Abb. 6.
Sekundäres malignes
Amlymphödem
mit Plexopathie
Behandlungsmöglichkeiten:
Ambulante Therapie Stationäre Therapie
Chylarthros
prägung und in jedem Alter behandelt. Beratungen betreffend primäre und se-
kundäre Lymphödeme, Lipödemsyndrom und Angiodysplasien werden über un-
sere Ambulanz angeboten.
Psychosoziale Rehabilitation
Selbst wenn das chronische Krankheitsbild des Lymphödems oft organisch kei-
nen großen Leidensdruck erzeugt, ist es psychisch sicher belastend und führt zu
sozialem Rückzug.
Es ist daher notwendig – wie bei jeder chronischen Erkrankung – unter Anwen-
dung von psychosozialen Maßnahmen die Patienten auch ärztlich zu begleiten.
Die Summe der genannten Therapiemaßnahmen, besonders die Phase I der
komplexen physikalischen Entstauungstherapie (KPE), sind nur zielführend,
wenn sie in der geeigneten Dosierung und konsequent durchgeführt werden.
Isoliert angewendete manuelle Lymphdrainagen sind für die Therapie des
Lymphödems in der Regel nicht geeignet. Die Entscheidung, ob die Lymph-
ödemtherapie ambulant oder stationär durchgeführt werden soll, hängt von vie-
len Faktoren ab, wie sie oben beschrieben wurden.
Frühe Erkennung des Lymphödems, striktes Einhalten der genannten Thera-
pien und optimale Mitarbeit der PatientInnen unter ärztlicher Führung vermeidet
nicht nur Komplikationen und Spätschäden, sondern ermöglicht durch Lang-
zeitwirkung eine optimierte Lebensqualität für die PatientInnen. Bereitstellung
der Ressourcen, wie lymphologisch geschulte Ärzte, Therapeuten und Banda-
gisten, sowie hochwertige Materialien der Kompressionsbehandlung durch das
Gesundheitswesen sind für den Therapieerfolg Voraussetzung.
Das Lymphödem – ein multifaktorielles, chronisches Krankheitsbild 301
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Revision
V. SADIL
V. Sadil
Einführung
Obwohl Albert Einstein bereits 1917 das Prinzip der stimulierten Emission for-
mulierte, sollte es noch 41 Jahre dauern, bis Shalow und Townes ein erstes Patent
für die Beschreibung der stimulierten Emission im sichtbaren Lichtbereich er-
hielten. Die weitere technische Entwicklung schritt dann rascher voran, bereits
2 Jahre später wurde 1960 der erste Festkörperlaser (Rubinlaser mit Xenonblitz-
lampe), 1961 der erste kontinuierlich arbeitende Gaslaser (He-Neon) und der
erste Festkörperlaser im Infrarotbereich (Neodym-YAG), 1962 der erste Halblei-
terlaser (Gallium-Arsen) und der UV-Laser (Argon) und 1964 der CO2-Laser
entwickelt.
Da die Phototherapie, die Therapie mit Licht, eine lange Tradition hatte – be-
reits Hippokrates behandelte Hautkrankheiten mit Sonnenlicht – dauerte es
nicht so lange, bis die neue Technik in der Medizin eingeführt wurde. Bereits
1963 wurde eine verbesserte Epithelisation von schlecht heilenden Wunden nach
Laserbestrahlung beschrieben und 1969 wurde in der ehemaligen Sowjetunion
systematisch mit der Biostimulation verschiedener Gewebestrukturen durch Iny-
uschin begonnen, während in Europa und in den USA überwiegend die photo-
thermischen Effekte des Lasers in der Chirurgie, Augenheilkunde, Dermatologie
und Onkologie verwendet wurden. Erst in den späten 70er Jahren wurde hier der
sogenannte Low-Level-Laser auch in verschiedenen anderen Therapiebereichen,
unter anderem zur Schmerzbehandlung, eingesetzt.
Laser sind heute aus vielen Bereichen nicht mehr wegzudenken und werden
zur Erzeugung extremer Hitze für Kernfusionsexperimente genauso verwendet
wie zum Schweißen oder Bohren, zum Schneiden verschiedener Materialien, zur
Materialprüfung, zur Entfernungsmessung, zur Übertragung von Telefongesprä-
chen oder in CD- bzw. DVD-Laufwerken und in Laser-Druckern.
304 V. Sadil
Definition
Laser ist das Akronym für „Light Amplification by Stimulated Emission of Radia-
tion“ (Lichtverstärkung durch stimulierte Aussendung von Strahlung). Licht aus-
strahlen können einmal die sogenannten Temperaturstrahler. Dazu zählen die
Sonne, eine Kerze oder die Glühlampe. Bei anderen Lichtquellen ist es die Strah-
lung elektrisch angeregter Atome, z. B. bei den Neonröhren oder bei den Xenon-
lampen.
Zu einer spontanen Emission von Licht kommt es, wenn ein Atom einer
Strahlung ausgesetzt wird und ein Elektron, das sich in einer inneren Bahn be-
findet, auf ein höheres Energieniveau angehoben wird und damit in eine äußere
Bahn wechselt. Nach einer für jedes Atom typischen Zeit fällt dieses „angeregte“
Elektron wieder in den Grundzustand zurück (es kehrt zur inneren Bahn zu-
rück), dabei wird ein Photon, ein Lichtquant, emittiert.
Zu einer stimulierten Emission von Licht kann es nur kommen, wenn sich
mehr Atome im angeregten Zustand als im Grundzustand befinden (man nennt
diesen Zustand Inversion). Um das zu erreichen, benötigt man eine sogenannte
Pumpquelle, beim Festkörperlaser z. B. eine Xenon-Blitzlampe. Die so angereg-
ten Atome des Lasermediums senden beim Zurückfallen in den Grundzustand
Photonen aus, einige dieser Photonen bewegen sich dabei in der Längsachse ei-
nes zylinderförmigen Resonators (im Resonator befindet sich das Lasermedium).
An den Enden des Resonators befinden sich Spiegel, die Photonen werden hin
und her reflektiert, es entsteht eine stehende Welle. Ist die Intensität der Welle
ausreichend hoch, verlassen einige Photonen den Resonator durch den an einem
Ende teilweise lichtdurchlässigen Spiegel.
Im Gegensatz zum sichtbaren Licht ist die Laserstrahlung monochromatisch
(je nach Lasermedium wird eine Strahlung ganz bestimmter Wellenlänge ausge-
sendet, s. Tabelle 1) und sowohl zeitlich als auch räumlich kohärent (jedes Pho-
ton befindet sich in derselben Schwingungsphase). Ein Laserstrahl weist nur eine
geringe Streuung auf und lässt sich gut fokussieren.
Tabelle 1. Wellenlängen verschiedener Laser
Lasermedium nm
Argon-Fluorid (UV) 193
Krypton-Fluorid (UV) 248
Xenon-Chlorid (UV) 308
Stickstoff (UV) 337
Argon (blau) 488
Argon (grün) 514
Helium-Neon (grün) 543
Helium-Neon (rot) 633
Rhodamin 6G 570–650
Rubin (CrAlO3, rot) 694
Nd:YAG (nIR) 1064
CO2 (fIR) 10600
Schmerztherapie mit Laser 305
Biophysikalische Grundlagen
Das Wichtigste vorweg: Low-Level-Laser, wie sie für die Schmerztherapie ver-
wendet werden, haben keinerlei photothermische Effekte. Die größte Gefahr
ist eine Schädigung der Augen, vor allem, wenn optische Instrumente wie Linsen
verwendet werden und man direkt in den Laserstrahl blickt. Das diffuse Streu-
licht ist unter bestimmten Voraussetzungen meistens ungefährlich. Die biologi-
sche Wirkung hängt von der Verteilung der Strahlung im Gewebe ab.
Streulicht entsteht unter anderem durch Reflexion der Laserstrahlung an
Grenzflächen verschiedener Dichte, also z. B. beim Auftreffen auf die Haut
(4–7 % bei senkrechtem Auftreffen, 30–50 % bei schrägem Auftreffen). Zu einer
Verstärkung der Reflexion kann es bei feuchter oder fettiger Haut, bei starker Be-
haarung oder bei interstitiellen Ödemen kommen.
Beim Eindringen der Laserstrahlung in ein dichteres Medium als der Haut
kommt es auch zu einer Ablenkung des Laserstrahles von der Einstrahlungsrich-
tung (Brechung) und zur Streuung. Vor allem wenn tiefere Gewebeschichten
„getroffen“ werden sollen, ist damit die Zielsicherheit beeinträchtigt. Die Bre-
chung wird verstärkt durch Cremen oder Gele, die auf die Haut aufgetragen
werden, verringert wird sie durch Aufsetzen der Applikatorspitze auf die Haut,
eventuell unter leichtem Druck. Eine Streuung erfolgt auf das 2- bis 5-fache der
Austrittsfläche, Diodenlaser haben dabei eine geringere Streuung. Folge der
Streuung ist eine breitere Verteilung der Energie und Reduktion der flächenbezo-
genen Energie.
Die optische Eindringtiefe in die Gewebe (Transmission) hängt ab von der
Wellenlänge, von der Leistung und vom Gewebe mit seinen optischen Barrieren
(Pigmente, interstitielle Flüssigkeit). So ist z. B. die Transmission in Granulations-
gewebe 2,5 x größer als in normale Haut.
Die beste Eindringtiefe haben Laser mit einer Wellenlänge zwischen 760 und
800 nm. In diesem „optischen Fenster“ können 65 % der eingestrahlten Energie-
dichte in der Oberhaut und 21 % im Unterhautfettgewebe wirksam werden. Bei
10 mW Leistung beträgt die direkte Tiefenwirkung 1 cm, die indirekte Tiefen-
wirkung (durch interzellulären Energietransfer der darüberliegenden stimulier-
ten Zellen im Sinne eines „Schneeballeffektes“) 5 cm.
An den reaktionsfähigen Chromoproteinen der Zellen bzw. der Mitochond-
rien (Zytochrome, Flavoproteine, Porphyrine, Katalasen, Peroxidasen u. a.) wer-
den die Photonen absorbiert, die absorbierenden Moleküle ändern ihre Konfi-
guration und setzen Energie frei, die den Stoffwechsel anregt.
306 V. Sadil
Wirkmechanismen
Die Wirkungen der Laserstrahlung kann man einteilen in:
– Zelluläre Wirkmechanismen: Dazu gehören die Stimulierung des Zell-
stoffwechsels, eine Erhöhung der Synthese des „Brennstoffes“ ATP (um 150–
400 %) und eine Stimulation verschiedener Enzyme (Flavin-Dehydrogenase,
Zytochrome, Zytochromoxidase).
– Entzündungshemmende Wirkmechanismen: Hier sind vor allem die Er-
höhung der arteriellen Mikrozirkulation, die lokale Anreicherung von Phago-
zyten, die verbesserte Elimination von Gewebenekrosen, diversen Mediatoren
und Mikroorganismen, die Senkung der Prostaglandinsynthese, die Verringe-
rung der Freisetzung von freien Radikalen, die Verringerung der Mastzellen-
degranulation und die Steigerung der Immunglobulinsynthese zu nennen.
– Antiödematöse Wirkmechanismen: Sie hängen eng mit den entzündungs-
hemmenden Wirkmechanismen zusammen. Durch die verringerte Prosta-
glandinsynthese wird das lokale interstitielle Ödem reduziert bzw. seine Ent-
stehung verzögert, die Verringerung der Mastzellendegranulation und der
vasoaktiven Amine verringert die bei Gewebetraumen erhöhte Gefäßperme-
abilität und die verbesserte Mikrozirkulation fördert die Resorption. Zusätz-
lich werden Wirkungen auf die kapilläre Lymphdrainage diskutiert.
– Zirkulatorische Wirkmechanismen: Durch die Bestrahlung werden lokal
Neuropeptide freigesetzt (Substanz P, CGRP), die eine lokale Vasodilatation
(z. B. beim Raynaud-Syndrom) unterstützen. Die Erhöhung der Mikrozirkula-
tion ist auch Folge einer Dilatation des präkapillären Sphinkters und durch
die Bestrahlung normalisieren sich die rheologischen Eigenschaften des Blu-
tes, u. a. wird die Strömungsgeschwindigkeit gesteigert. Neben einer fibrino-
lytischen Wirkung werden Rekanalisierungs- und Vaskularisationsprozesse
nach Gewebezerstörung aktiviert und die Lymphzirkulation verbessert.
– Gewebereparative Wirkmechanismen: Antiphlogistische, zirkulatorische
und antiödematöse Wirkmechanismen verbessern zusammen mit einer Akti-
vierung des Wachstumhormons, einer Stimulierung der Fibroblasten und der
Verbesserung der Phagozytose durch verstärkt einwandernde Leukozyten die
Reparaturprozesse nach einer Gewebetraumatisierung.
– Analgetische Wirkmechanismen: Neben den entzündungshemmenden
und abschwellenden Wirkmechanismen sind es eine Anhebung der Schmerz-
schwelle, die reflektorische Auslösung einer Muskelrelaxation und die Erhö-
hung der Produktion und Freisetzung von Schmerzmodulatoren (Enkephali-
ne), die zu einer Schmerzverringerung bei Laserbestrahlung beitragen.
Daneben kann der Laser auch zur Akupunktur verwendet werden. Ähnlich
wie bei der Nadelakupunktur können auch bei der Laserpunktur gestörte ener-
getische Balancen ausgeglichen werden. Zum einen ist dafür die photoenergeti-
sche Reaktionsbasis mit Erhöhung der ATP-Reserve, gesteigertem Zellstoffwech-
sel und vermehrter Substratsynthese verantwortlich, zum anderen werden kuti-
viszerale und kuti-zerebrale Reaktionen in Gang gesetzt (neurophysiologische
Schmerztherapie mit Laser 307
– Verstärktes Schwitzen
– Hyperpigmentierung
– Parästhesien
– Gewebereizung, lokale und fortgeleitete Schmerzen
– Netzhautschäden
Absolute Kontraindikationen sind:
– Gesteigerte Photosensibilität, z. B. Lichtdermatosen
– Akute Schübe chronischer Hauterkrankungen, wie Lupus erythematodes,
Ekzeme usw.
– Hautschäden nach UV-Bestrahlung oder Radiatio
– 3–6 Monate nach einer Chemotherapie, Behandlung mit Immunsuppressiva
oder Kortison (wegen der erhöhten Photosensibilität)
– Malignome und Präkanzerosen
– Offene Fontanellen und Epiphysenfugen
– Unbehandelte Epilepsie
– Dekompensierte Herzinsuffizienz
– Akuter fieberhafter Infekt
– Gravidität ab dem 6. Monat
– Thrombose und Thrombophlebitis
– Bestrahlung des Auges und des Orbitarandes
Relative Kontraindikationen sind:
– Schrittmacher-Patienten (bei Thoraxbehandlung und älteren SM-Modellen)
– Kopfbehandlung bei therapeutisch eingestellter Epilepsie
– Herzrhythmusstörungen, koronare Herzkrankheit (Thoraxbehandlung)
– Hyperthyreose (Hals- und Nackenbehandlung)
– Dysmenorrhoe (Unterbauch, Lendenwirbelsäule)
– Unbekannter Nävus
– Gravidität vor dem 6. Monat (unterer Thorax, Abdomen, LWS)
– Großflächige Hämatome (u.U. verstärkte Blutungsneigung)
– Erysipel, Phlegmone
– Endokrine Organe
Evidence-Base
Mehrere Cochrane Reviews mit bis zu 8 randomisierten kontrollierten Studien
(RCTs) wurden 2006 publiziert (Brosseau et al. [2 Reviews], Yousefi-Nooraie
et al.). Brosseau et al. stellten fest, dass eine Low-Level-Lasertherapie zu einer
kurzzeitigen Schmerzlinderung und Reduktion der Morgensteifigkeit bei Poly-
arthritis-Patienten beitragen kann. Im zweiten Review von Brosseau et al., die
8 RCTs an degenerativen Schmerzpatienten untersuchte, fanden die Autoren
allerdings keine eindeutigen Hinweise für eine Schmerzlinderung durch eine
Laserbehandlung.
Bjordal et al. (2003) analysierten 11 RCTs an insgesamt 565 Patienten mit
degenerativer Gelenkserkrankung und konnten, bei relativ hoher Qualität der
Schmerztherapie mit Laser 309
Klinische Beispiele
Fall 1: Die 78-jährige Patientin hatte nach einer Kreissägenverletzung der rech-
ten Hand Schmerzen sowie Dysästhesien im 4. und 5. Finger. Außerdem war der
5. Finger stark geschwollen. Sie wurde im Laufe von 2,5 Wochen insgesamt 8 x
bestrahlt (Behandlungsfläche 5 x 15 cm, 2 J/cm²) und war nach der Behandlungs-
serie bis auf geringe Restdysästhesien beschwerdefrei (Abb. 1).
Fall 2: Die 51-jährige Patientin erlitt eine Luxation des PIP-Gelenkes der rechten
Hand und entwickelte im Anschluss daran ein CRPS I mit Schmerzen, bläulich-
livider Verfärbung und Schwellung der rechten Hand, vermehrter Schweiß-
neigung, Überwärmung und verstärktem Haarwachstum. Nach 12 x Laserbe-
handlung (6 x 5 cm, 15 min, 2 J/cm²) in 3 Wochen war sie schmerzfrei, die Hand
abgeschwollen und der Fingerkuppen-Hohlhandabstand von 8 cm auf 2 cm ver-
bessert.
Schmerztherapie mit Laser 311
Abb. 1.
Oben vor, unten nach
8 Laserbehandlungen
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Revision
Elektro-Magnetfeldtherapie
W. A. K AFK A
W. A. Kafka
Einleitung
Auf der einen Seite, gemessen am wissenschaftlichen Datenmaterial, ist der the-
rapeutische Einsatz elektro-magnetischer Felder grundsätzlich prospektiv einzu-
schätzen. Auf der anderen Seite stehen dem oft vollmundige, auf einem ge-
schickten Mix aus fragwürdigen Text-, Bild- und Filmmaterial gestützte, meist auf
die Reizform bezogene, systemspezifische Heilversprechen der Unternehmer
entgegen. Ungeachtet des schlechten Dienstes an der eigenen Sache steht hier
offensichtlich die Gewinnsucht, keinesfalls aber die beim Umgang mit gesund-
heitsrelevanten Produkten gebotene Seriosität im Vordergrund.
Hinzu kommt, dass – leider auch immer noch in Fachkreisen – die erzielten
Ergebnisse unabhängig von der Unterschiedlichkeit der ihnen zugrunde liegen-
den Stimulationsbedingungen vielfach, obwohl wissenschaftlich völlig unhaltbar,
als für die „Elektro-Magnetfeldtherapie“ allgemein gültig gewertet werden. Die-
se Unzulänglichkeiten führen, besonders wenn die erhoffte Wirkung ausbleibt,
entweder zur pauschalen Ablehnung dieser Behandlungsform, zumindest aber
zur Verunsicherung in der Entscheidung für das eine oder das andere Behand-
lungssystem.
Im Folgenden werden einfache Hilfestellungen zur Bewertung von Elektro-
Magnetfeldtherapie-Systemen geboten.
die jeweils zugrunde liegenden Reizparameter beziehen, erstreckt sie sich derzeit
unter anderem auf folgende, lose aneinandergereihte Befunde:
– Reduktion polyneuropathischer Schmerzzustände als Folge von oxydati-
vem Stress nach Chemotherapie und Verletzungen;
– Stärkung körpereigener Abwehrmechanismen mit verbesserter Immunität
und Protektion gegen chemische Stressfaktoren;
– Verbesserung orthopädischer Krankheitsbilder, insbesondere im Rehabili-
tationswesen mit Reduktion lumbarisch initiierter, chronischer Rücken- und
Bewegungsschmerzen und deren Folgeerscheinungen: Schlaflosigkeit, Angst
Depression);
– Verbesserung der Schlafqualität;
– Reduktion der diabetischen Neuropathie vor allem an den Beinen;
– Beschleunigte Wundheilung;
– Reduktion psychovegetativer Störungen wie Schmerz, Angst, Depression
(Zahnarztangst, Blutdruck und Pulsfrequenz). Anders als bei den Feldintensi-
täten, welche bei der transkranialen (TCS) und transkutanen Nervenstimula-
tion (TENS) eingesetzt werden, ist eine unmittelbare Beeinflussung der Akti-
vität von Zellerregungen bei den in der Elektro-Magnetfeldtherapie
üblicherweise genutzten geringen Feldstärken von allenfalls bis in den Be-
reich von Millitesla nicht zu erwarten. – Zum Vergleich: Die Erdfeldstärke liegt
in unseren Breiten bei ca. 50 Mikrotesla;
– Verbesserung des Wohlbefindens und der Lebensqualität, insbesondere in
der Geriatrie und Palliativmedizin;
– Leistungssteigerung im Spitzensport durch verzögertes Auftreten von Mus-
kelkater, Reduktion von Erschöpfungszuständen, Bildung energiereicher Ver-
bindungen, insbesondere von Adenosintriphosphat (ATP) und Bis-2,3-
Phosphoglycerat (BPG) in humanen Erythrozyten;
– Erhöhung von Zell-Replikations- und Proliferationsraten definierter
Stammzellen des humanen Knochenmarks als Ansatz zur Behandlung von
Knochenleiden, z. B. Osteoporose und Frakturen;
– Bildung und Beeinflussung der Aktivität von Proteinen in Form differen-
tieller (up- und down-regulierter) Genexpression von Proteinen definierter
Stammzellen humaner Knochen- und Knorpelzellen als Ansatz zur Behand-
lung von Knochenleiden (s. oben);
– Beeinflussung der Aktivität unterschiedlicher Wachstumsfaktoren wie
epidermaler Wachstumsfaktor (EGF), insulinähnlicher Wachstumsfaktor 2
(IGF-2), Fibroblasten-Wachstumsfaktor (FGF), Nerven-Wachstumsfaktor
(NGF), transformierender Wachstumsfaktor Beta (TGF-ß) und den Knochen-
Morphogenese-Proteinen 2 und 4 (BMP-2, BMP-4);
– Reduktion von Medikamenteneinnahmen;
– Noch unzureichend wissenschaftlich belegt ist eine mögliche Verbesserung
des Funktionszustands der Mikrozirkulation, d. h. der von der Anpassung
an sich ändernde Stoffwechselbedürfnisse abhängigen Strömung von Blut-
zellen, Blutplasma und Signalstoffen in den kleinsten Blutgefäßen und der
Aktivierung des Stoffaustauschs. Trotz Nutzung identischer Stimulations-
Elektro-Magnetfeldtherapie 317
systeme mit zum Teil gleichen Analysesystemen ließen sich derartige Befunde
in anderen nach wissenschaftlichen Standards durchgeführten Untersuchun-
gen jedoch nicht bestätigen (vgl. hierzu auch die Anmerkungen weiter unten
Abschnitt Wissenschaftliche Dokumentation, S. 319, 3. Absatz).
Relative Kontraindikationen
– Bei den gegebenen Feldintensitäten wurden negative Auswirken auf elektro-
nische oder metallische Implantate durch induzierte Spannungen, Stromflüs-
se und -felder (z. B. elektronische Funktionsstörungen oder Wärmeentwick-
lungen durch induzierte Ströme oder/und Magnetisierungsvorgänge) bislang
nicht
gefunden und sind gemäß dem Stand der Technik auch nicht zu befürchten.
Gegebenenfalls sollte aber dennoch die individuelle elektro-magnetische Ver-
träglichkeit zwischen elektronischen Implantaten und dem jeweiligen Be-
handlungssystem überprüft werden.
– Infolge der Befunde zur Aktivierung von Abwehrreaktionen erscheint es je-
doch wegen möglicherweise eintretenden Abstoßungsreaktionen bei frischen
Fremdkörpertransplantationen bis zur hinreichend sicheren, medizinisch-
wissenschaftlichen Abklärung ratsam, mit einer elektro-magnetische Behand-
lung erst nach medizinisch diagnostizierter Normalisierung der immunologi-
schen Abwehrreaktionen zu beginnen.
Bezogen auf die unterschiedlichen Arten der durch die elektro-magnetischen
Felder induzierten Wirkungen, insbesondere die simultanen Up- und Down-
Regulationen in der Genexpression, kann trotz der obigen Einschränkungen zur
Individualität der Reizparameter im Allgemeinen davon ausgegangen werden,
dass die elektro-magnetischen Signale unterschiedliche molekulare Prozesse ak-
tivieren. Selbst wenn sich einige der Befunde erst als Folge funktioneller Über-
lappungen von primär unterschiedlich aktivierten molekularen Mechanismen
einstellen und des Weiteren noch offen ist, inwieweit sich die dabei induzierten
biologischen Wirkungen den spektralen Komponenten der applizierten Stimula-
tionssignale zuordnen lassen, liefern die vorliegenden Befunde eine Bestätigung
dafür, dass die Breite der biologisch induzierbaren Wirkungen im Sinne des hier
vorgestellten Konzepts mit der spektralen Breite der Stimulationssignale einher-
geht.
Literatur
Aus Gründen der Übersichtlichkeit und des Platzbedarfs wurde auf eine Dokumentation der
überaus umfangreichen Literatur verzichtet. Gegebenenfalls steht der Autor für eine systemun-
abhängige Beratung zur Verfügung.
Revision
B. DISSELHOFF
B. Disselhoff
Einleitung
Indikationen im Schmerzbereich
Akute und chronische, leichte bis starke Schmerzen können mit TENS behandelt
werden. Ein Behandlungsversuch ist immer sinnvoll (Johnson et al. 1991).
Dazu zählen:
– Traumatische und postoperative Schmerzen
– Kopfschmerzen
– Rückenschmerzen
– Arthrose der großen und kleinen Gelenke
– Überlastungssyndrome wie Epikondylitiden und Tendinopathien
– Karpaltunnelsyndrom
– Myalgien
– Neuralgien
– Amputationsschmerzen
– Polyneuropathische Schmerzen
– Dysmenorrhoe
322 B. Disselhoff
Abb. 6. Sprunggelenkschmerzen*.
Anode oberhalb des Knöchels,
Kathode unterhalb
Der Frequenzbereich umfasst 1–120 Hz (ein Hertz bedeutet ein Impuls pro
Sekunde). Die Frequenz kann in Form von Behandlungsprogrammen für be-
stimmte Indikationen festgeschrieben oder frei einstellbar sein.
Die Impulsbreite liegt zwischen 0,1–0,2 msec und ist oft fest programmiert.
Frequenz
In der TENS werden die niederfrequente und die hochfrequente Stimulation
unterschieden:
a) „Niederfrequentes“ TENS
Besonders chronische Schmerzen eignen sich für die niederfrequente Stimu-
lation. Die Wirkung der niederfrequenten TENS betrifft den ganzen Körper. Sie
tritt nicht sofort ein, sondern bedarf längerer und wiederholter Stimulation und
kann nach der Behandlung für längere Zeit anhalten.
Verwendet wird eine Frequenz von 2 Hz bis maximal 10 Hz. Die Intensität
muss ausreichend sein, um Muskelzuckungen im Bereich der Elektroden hervor-
zurufen. Dadurch werden Neurotransmitter freigesetzt, die analgetisch und
schmerzmodifizierend wirken. Im Gegensatz zur hochfrequenten Stimulation,
die am gesamten Körper angewendet werden kann, setzt die niederfrequente
Stimulation also eine gewisse Muskulatur unter den Elektroden voraus.
Eine Sonderform der niederfrequenten Stimulation ist die Kaada-Stimulation
(s. dort).
b) „Hochfrequentes“ TENS
Die Wirkung der hochfrequenten Stimulation kann schon nach einigen Mi-
nuten eintreten und ist deshalb besonders bei akuten Schmerzen hilfreich. Sie
wird oft mit 100 Hz durchgeführt, umfasst aber insgesamt den Bereich von 50–
100 Hz. Die Intensität wird so gewählt, dass ein deutliches, aber nicht schmerz-
haftes Stromgefühl wahrgenommen wird. Muskelzuckungen sind nicht er-
wünscht. Aktiviert werden so körpereigene Hemmsysteme im Bereich des Rü-
ckenmarks (segmentale Hemmung).
Stromstärke
Die Stromstärke (Intensität) des Stromes wird in Milliampere (mA) ausgedrückt.
Die Einstellung der Intensität sollte so gewählt werden, dass die Stimulation als
kräftig und angenehm empfunden wird. Bei der hochfrequenten Stimulation ist
dann ein deutliches Kribbeln wahrnehmbar. Bei der niederfrequenten Stimula-
tion benötigt man eine etwas höhere Stromstärke, damit es zu leichten Muskel-
zuckungen kommt.
Während zu Beginn der Behandlung vor allem unerfahrene Patienten niedri-
gere Intensitäten bevorzugen, nimmt im Laufe der Behandlung die Stromtole-
ranz oft deutlich zu. Dies ist ein erwünschter Effekt. Eine übertrieben intensive
Stimulation kann dagegen zu Nebenwirkungen führen. Es ist immer hilfreich,
wenn der Patient bei seinen Praxisterminen das TENS-Gerät mitbringt und den
Umgang damit demonstriert.
Impulsbreite
Die Impulsbreite ist bei den meisten Geräten vorgegeben und liegt zwischen
0,1–0,2 msec. Die hochfrequente Stimulation erfordert gegenüber der niederfre-
quenten Stimulation etwas geringere Impulsbreiten.
Die Elektroden
Allgemeine Hinweise: Die Elektroden müssen vollständig auf der Haut haften
und einen Abstand von mindestens 2 cm voneinander haben. Sicherheitsschal-
tungen können zur Abschaltung des Gerätes bei unvollständigem Elektroden-
kontakt führen. Bei laufendem Gerät die Elektroden nicht von der Haut lösen.
Elektrodentypen
– Die selbstklebende Elektrode (SKE) ist einfach in der Handhabung. Sie kann
ohne weiteres direkt auf die Haut geklebt werden. Die Haut sollte vor der
Elektrodenanlage gereinigt sein. Bei nachlassender Klebefähigkeit die Klebe-
fläche mit ein paar Tropfen Wasser anfeuchten.
– Die Silikongummielektrode bietet eine gute Leitfähigkeit und eine lange
Haltbarkeit von bis zu 2 Jahren. Sie muss mit Elektrodengel vollständig be-
strichen und mit Heftpflaster befestigt werden.
– Die Aluminiumelektroden können in ihrer Länge zugeschnitten werden. Mit
Elektrodengel versehen werden sie ohne Pflaster auf die Haut aufgebracht.
Der Kontakt wird über Krokoklemmen hergestellt.
– Socken- oder Handschuhelektroden eignen sich z. B. zur Therapie der Poly-
neuropathie oder der rheumatoiden Arthritis. Vor dem Anziehen der Elektro-
den zur besseren Leitfähigkeit die Haut leicht befeuchten. Alternativ eignet
sich auch das
TENS zur Schmerztherapie 327
Elektrodengröße
Die Größe der Elektrode soll der des Schmerzareals entsprechen. Zu kleine oder
zu große Elektroden beeinträchtigen den Behandlungserfolg.
Tiefere Schmerzlokalisationen werden mit kleineren Elektroden behandelt, da
aufgrund der höheren Stromdichte der Strom tiefer eindringt. Bei der niederfre-
quenten Stimulation wird durch eine kleinere Elektrode die motorische Stimula-
tion (Muskelzuckung) erleichtert.
Kontralaterale Stimulation
Falls aus bestimmten Gründen die Stimulation auf der betroffenen Körperseite
nicht möglich ist, kommt auch eine Behandlung der Gegenseite in Betracht
(kontralaterale Stimulation). Die Gegenseite wird bei der Elektrodenanlage ge-
nauso wie die Erkrankte behandelt. Auch wenn es zunächst unlogisch erscheint,
so liegt der Behandlungserfolg nicht wesentlich unter dem der ipsilateralen Be-
handlung.
Die kontralaterale Stimulation kann bei Neuralgien nötig sein, bei denen im
betroffenen Areal die Stimulation nicht toleriert wird, bei amputierten Patienten
oder auch bei Hauterkrankungen. Sie hilft auch, bei sensibel reagierenden Pati-
enten eine Erstverschlimmerung zu vermeiden. Im Laufe der Behandlung kann
dann ggf. auf die eigentlich betroffene Seite gewechselt werden.
Elektrodenpolung
Man unterscheidet zwischen der positiven Elektrode (Anode, rotes bzw. weißes
Kabel) und der negativen Elektrode (Kathode, blaues bzw. schwarzes Kabel). Am
Gerät ist häufig am Eingang des Kabels die Polung noch einmal gekennzeichnet.
Die positive Elektrode wirkt etwas stärker schmerzlindernd. Sie wird deshalb
unmittelbar auf das schmerzende Areal angebracht, während die negative Elekt-
rode in den Bereich geklebt wird, in den der Schmerz ausstrahlt bzw. das dem
Schmerzareal benachbart ist.
Anwendungszeiten
Sitzungsdauer
Die Dauer einer Behandlung beträgt 30 Minuten. Bei Bedarf, wie z. B. bei neuro-
pathischen Schmerzen, kann auch deutlich länger behandelt werden. Eine Dau-
erstimulation ist aber nicht zu empfehlen, da Gewöhnungseffekte die Wirkung
mindern können.
Behandlungshäufigkeit
Anfänglich wird täglich ein- bis mehrmals behandelt. Bei einer Besserung der
Beschwerden kann der Abstand zwischen den Sitzungen ausgedehnt und in
größeren Intervallen behandelt werden. Die Länge der Behandlung ist nicht limi-
tiert und kann sich bei Bedarf lebenslang erstrecken.
TENS-Sonderformen
Kaada-Stimulation
Eine besondere Form der niederfrequenten Behandlung ist die sogenannte Kaa-
da-Stimulation, bei der die Elektroden unabhängig von den vorliegenden
Schmerzen immer auf die dominante Hand geklebt werden.
Jenkner-Stimulation
Bei der Jenkner-Stimulation werden sensible und sympathische Nerven mittels
monophasischer TENS-Impulse (nur bestimmte TENS Geräte; beim Hersteller
zu erfragen) blockiert. Eine kleine Anode mit hoher Stromdichte wird dabei
möglichst dicht über den zu blockierenden Nerven angelegt und zudem oft noch
manuell in Richtung Nerv oder Ganglion gedrückt. Die Elektrodenanlage richtet
sich nach der Nervenlokalisation, wobei auch spezielle Elektroden wie der Pie-
renblock verwendet werden.
Die groß gehaltene Kathode dient nur zur Schließung des Stromkreises und
wird meist der Anode gegenüber angelegt. Die Frequenz beträgt 30–40 Hz.
Nebenwirkungen
Die TENS wird meist in Kombination mit anderen Therapien eingesetzt. Dies ist
problemlos möglich. Zu beachten ist bei den Analgetika, dass sich der Schmerz-
mittelbedarf reduzieren kann und dann eine Anpassung erfordert.
Dies gilt insbesondere bei einer gleichzeitigen Opioid-Therapie, bei der die
hochfrequente oder Han-Stimulation verwendet werden sollte, um eine Kreuz-
toleranz zwischen der niederfrequenten TENS und den Opiaten zu vermeiden.
Literatur
Weiterführende Literatur
Zur TENS allgemein:
TENS transkutane elektrische Nervenstimulation – eine bewährte Schmerztherapie. AMI,
Gießen
Likar R, Sittl R (2004) Praxis der transdermalen Schmerztherapie, 2. Aufl. Uni-Med Science
Zur Jenkner-Stimulation
Jenkner F (1992) Elektrische Schmerztherapie. AMI, Gießen
Verwendete Literatur
Han J (2003) Acupuncture: neuropeptide release produced by electrical stimulation of different
frequencies. Trends Neurosci 26: 17–22
Johnson MI, Ashton CH, Thompson JW (1991) An in-depth study of long-term users of
transcutaneous elecrical nerve stimulation (TENS). Implications for clinical use of TENS.
Pain 44: 221–229
Revision
I. PIRKER-BINDER
I. Pir ker-Binder
Einleitung
Lebensenergie ist ein kostbares Gut. Sie steht uns nicht unbegrenzt zur Verfü-
gung, sondern bedarf der konstanten Pflege (Pirker-Binder 2005). Auch die Liebe
zum Beruf kann zum vorzeitigen Burnout führen, deshalb bedeutet Professiona-
lität auch immer Selbstpflege. Tägliche Belastungen, zu starke Identifizierung mit
den beruflichen Aufgaben ohne Abgrenzung und Distanzierung, emotionaler
334 I. Pirker-Binder
Stress und Zeitdruck zerren an unseren Ressourcen. Oft überhören wir den Ruf
des Körpers nach Ruhe, Distanz und Regeneration. Energietanken erfolgt nicht
automatisch, Regeneration will gelernt sein. Stress und Burnout sind kein Thema,
das immer nur die anderen betrifft. Chronische Belastung kommt schleichend
und langsam, führt zum Verschleiß, oft zu Depression; Abschalten fällt dann im-
mer schwerer, der Organismus läuft ständig auf Hochtouren, bis zur totalen Er-
schöpfung.
Abb. 1.
Patientin beim Training
Das muss nicht sein. Der Körper hat große Ressourcen und kann sich nahezu
jeder Belastung anpassen und die nötige Energie liefern. Er zeigt uns ganz deut-
lich, wann er Zeit für eine Regeneration braucht. Deutliche Anzeichen sind be-
reits Gereiztheit, Verspannungen, Schlafprobleme, Müdigkeit, Lustlosigkeit, ge-
reizter Darm und Magen, Kopfschmerzen uvm.
Mithilfe von Biofeedback gelingt es einerseits die eigene Wahrnehmung so zu
schulen, dass keine Energie verloren geht, das heißt, nur so viel Energie einzu-
setzen, wie die Tätigkeit erfordert und andererseits Regeneration zu erlernen. Ein
ruhiger Körper ermöglicht erst, in Distanz zu gehen, Probleme aus der Ferne zu
betrachten, Emotionen in den Griff zu bekommen.
Ressourcenarbeit ist viel mehr als Entspannung, sie führt uns über
; Loslassen: innerer Druck, Hektik, Sorgen, Ängste, Ärger, Alltagsprobleme, …
; Ent–Spannen: Entkrampfen der Muskulatur, der täglichen Spannung …
; zur Regeneration: innere Ruhe und Balance.
Am Computerbildschirm zeigt sich tiefe Regeneration durch einen Gleich-
klang der Atmung und der Herzrate, einem niederen Hautleitwert, hoher Puls-
amplitude, niederer Muskelspannung, steigender Fingertemperatur.
Biofeedback in der Pflege 335
Abb. 2. Atemtraining: beim Einatmen wird der Ballon größer, beim Ausatmen kleiner
336 I. Pirker-Binder
darauf, die Krankheit als etwas Separates darzustellen; als etwas, das gemanagt
werden kann, an dem sie nicht Schuld sind.
Das Kind hat eine Krankheit, aber das Kind ist nicht die Krankheit!
„Körper und Geist sind eine Einheit, jede bewusst oder unbewusst erzeugte Ver-
änderung des geistig-emotionalen Zustandes erzeugt eine Veränderung des phy-
siologischen Zustandes und umgekehrt. … Die Biofeedbackforschung erbringt
die ersten medizinisch nachprüfbaren Hinweise darauf, dass geistige Kräfte so-
wohl Krankheiten zu heilen als auch hervorzurufen vermögen.
(Simonton 2005)
Literatur
Lerner M (2000) Krebs – Wege zur Heilung, alle wichtigen Therapien von der Naturheilkunde
bis zur Schulmedizin. Piper, München, S 44
Pirker-Binder I (2004) Biofeedback: Auf dem Weg zu den inneren Ressourcen. Promed Kom-
plementär 9: 14–20
Pirker-Binder I (2005) Schmerzmanagement für Kinder – mit Geschichten helfen. Procare 9:
8–12
Pirker-Binder I (2006) Schmerzmanagement; Selbstregulationstechniken und Biofeedback
Pädiatrie Pädologie 3: 20–22
Pirker-Binder I (2006) Biofeedback in der Praxis. Band I Kinder. Springer, Wien New York, S 31 ff
Pirker-Binder I (2008) Biofeedback in der Praxis. Band II Erwachsene. Springer, Wien New York,
S 115 ff
Simonton OC (2005) Wieder gesund werden; eine Anleitung zur Aktivierung der Selbsthei-
lungskräfte für Krebspatienten und ihre Angehörigen, 4. Aufl. Rowohlt, Hamburg, S 45
Revision
Die Radioonkologie nimmt heute sowohl in der kurativen als auch in der pallia-
tiven Behandlung onkologischer PatientInnen einen wichtigen, interdisziplinären
Stellenwert ein. Moderne Therapie- und vor allem Fraktionierungskonzepte ha-
ben zu einer wesentlichen Verbesserung der Heilungschancen beigetragen. Den-
noch bestimmen in größerem Ausmaß subjektiv empfundene akute und späte
Nebenwirkungen, besonders der Haut und Schleimhäute, die Akzeptanz der
therapeutischen Maßnahmen. Dank der Weiterentwicklung therapiebegleitender,
pflegerischer Maßnahmen ist heute eine Linderung – besonders der akuten Be-
schwerdesymptomatik –, und eine auch weitgehende Verringerung des Ausprä-
gungsgrades später Reaktionen, problemlos möglich, wobei hierfür dem Wandel
der Zeit entsprechend verschiedene Konzepte zur Verfügung stehen. Für den
modernen Radiotherapeuten und sein multiprofessionelles Team gilt dennoch,
dass, auch wenn eine Therapie sorgfältig geplant ist, hochwirksame Strahlen zu
unerwünschten Begleiterschienungen führen. Diese sind verglichen mit den Ne-
benwirkungen, mit denen man früher rechnen musste, heutzutage schon sehr
gering. Noch in den 70er Jahren gab es bei manchen PatientInnen zum Teil er-
hebliche Spätfolgen, die damals einerseits durch die verwendete, energiereiche
Röntgenstrahlung, andererseits auch durch großvolumige Strahlenfelder verur-
sacht wurden. Heute können Strahlenqualität, Bestrahlungsfelder und somit
auch die Nebenwirkung weitgehend gesteuert werden; dennoch ist eine intensi-
ve, pflegerische Mitbetreuung der PatientInnen in der modernen Radioonkologie
unumgänglich.
Im Wesentlichen unterscheiden wir drei große Bereiche der Nebenwirkun-
gen: Solche, die sich vorwiegend auf die Haut beziehen, Nebenwirkungen in
unmittelbarer Umgebung des Tumorgebietes (Blase, Rektum, Lunge) und Ne-
benwirkungen der Schleimhäute. Und wir unterscheiden akute und chroni-
sche Nebenwirkungen.
342 K. Brinda-Raitmayr und G. Hohenberg
Die tiefen, für den Aufbau der Haut verantwortlichen Zellschichten werden bei
jeder Bestrahlung etwas beschädigt. Zur Ausheilung dieser kleinen Strahlen-
schäden benötigen die Zellen normalerweise nur wenige Stunden. Unter radio-
therapeutischer Behandlung erfolgt diese Regeneration nicht mehr vollständig.
Der Säuerschutzmantel der Haut wird schwächer, die Verhornung ist nicht mehr
stabil, die Haut wird trocken und schuppig und in weiterer Folge auch dünner
und anfälliger für mechanische Reaktionen.
Wir finden solche Reaktionen daher bei der Behandlung von:
– Mammakarzinomen
– HNO-Tumoren
– Tumoren der Haut und der Extremitäten
– Hirntumoren
Akute Hautreaktionen infolge der Strahlentherapie machen sich zumeist
2–3 Wochen nach Beginn der Behandlung in Form von Rötung oder Schwellung,
Schuppung, aber auch bräunlicher Hyperpigmentierung bemerkbar. Die Haut
wird gegenüber mechanischen Reizen (Tragen von Büstenhaltern, beengender
Kleidung) deutlich empfindlicher als die nichtbestrahlte Haut. In weiterer Folge
nimmt die Hautrötung zu. Diese Hautreaktion ist mit den Symptomen eines
Sonnenbrands vergleichbar und geht genauso wie dieser gegen Ende der Strah-
lentherapie in eine Braunverfärbung (Hyperpigmentierung) über. Durch die
Konsistenzveränderung der Hautoberflächenschichten wird die Haut auch rot, es
kann zu roten Flecken, Jucken, Nässen, aber auch Schälen der Haut kommen.
Wirken zusätzlich noch mechanische Reize ein, können sich auch die oberfläch-
lichsten Hautschichten schälen, blasenförmig aufwerfen und Defektbildungen im
Sinne von Epitheliolysen bilden. De facto ist es aber so, dass die individuelle
Hautreaktion von der genetischen Ausstattung abhängig ist und sich in den
meisten Fällen nicht vorhersagen lässt. Prinzipiell sind Personen, die einem Hell-
typus angehören, häufiger und stärker betroffen. Haarausfall kommt nur in di-
rekt bestrahlten Bereichen des Körpers vor (Bestrahlung im Kopfbereich, Verlust
der Schambehaarung bei Bestrahlung im Bereich des kleinen Beckens, Verlust der
Schambehaarung axillär bei Frauen, die in dieser Region bei Mammakarzinom
mitbestrahlt werden). Die Haarzellen an den Haarwurzeln, aus denen die Haare
heranwachsen, teilen sich oft und werden durch direkte Bestrahlung stark beein-
trächtigt. Die Folge ist ein teilweiser oder vollständiger, meist aber nur vorüber-
gehender Haarausfall. Die Kenntnis dieser biologischen Vorgänge erleichtert die
Akzeptanz der PatientInnen .
Eine sehr häufig bei radioonkologisch behandelten PatientInnen gestellte
Frage ist die nach der Hautreinigung und Pflege während der Strahlentherapie.
Die Körperpflege nicht bestrahlter Hautareale kann wie gewohnt erfolgen. Auch
die Haut im Bereich des Bestrahlungsbereiches darf im Allgemeinen – entgegen
dem veralteten Waschverbot – gewaschen werden. Experten empfehlen dabei,
Neue Aspekte pflegerischer Maßnahmen in der Radioonkologie 343
die bestrahlte Haut täglich kurz und schonend mit klarem, lauwarmem Wasser
abzuduschen oder abzuspülen. In einigen Zentren ist auch die gelegentliche
Anwendung von Haut- oder pH-neutralen Waschsubstanzen zur gründlichen
Reinigung erlaubt und schadet bei häufigem Gebrauch sicher auch nicht. Vorsicht
ist auf alle Fälle bei Substanzen geboten, die Hautveränderungen in Kombina-
tion mit Strahlentherapie verstärken können (Antikörpertherapie, z. B. Hercep-
tin). Wie auch immer, nach dem Waschen sollte die Haut entweder an der Luft
getrocknet werden oder mit einem weichen Tuch vorsichtig trocken getupft wer-
den. Auf alle Fälle ist es zu unterlassen, die Haut mit einem warmen Fön zu be-
arbeiten. Neben Seifenverbot ist auch äußerste Vorsicht bei der Benützung von
Cremen, Ölen oder Salben sowie rückfettenden Anteilen in cremigen Duschgels
gegeben. Fett verzögert den Heilungsverlauf und erschwert die Regeneration, da
es den betroffenen Hautrealen keine Atmungsmöglichkeit lässt. Zudem verstop-
fen diese Substanzen die Poren der Haut, sodass die durch die Strahlentherapie
entstandene Wärme nicht aus dem Körper abgeleitet werden kann. Die früher
ausschließlich zur Anwendung zugelassenen Puder können zudem zu Verkle-
bungen und Infektionen führen, sodass sich das Trockenpflegeprogramm mittels
Puder hinsichtlich der Milderung der Hautreaktionen aus vielen Erfahrungen
und in einigen Pflegestudien nicht überzeugend dargestellt hat.
Wichtig für PatientInnen ist auch die richtige Kleidung zu tragen. Mit lockerer,
nicht scheuernder Kleidung aus weicher Baumwolle, Leinen oder Seide können
mechanische Reizungen der Haut vermieden werden. Der Feuchtigkeitsaus-
tausch und die Belüftung der Haut sollten sichergestellt und Reibestellen weit-
gehend vermieden werden.
Schleimhäute reagieren speziell immer dann, wenn sie auch direkt im Bestrah-
lungsfeld liegen. Das gilt vor allem für PatientInnen, deren
– HNO-Bereich,
– Gastrointestinaltrakt (Speiseröhre, Magen, Rektum)
– Lunge und Pleura
– Gynäkologische Tumore
bestrahlt werden. Schleimhäute haben – ähnlich wie die Haut – einen sehr ho-
hen turn over und können daher auch sehr rasch und heftig während einer
Strahlentherapie, speziell in Kombination mit Chemotherapie oder Antikörper-
therapie, reagieren. Bei diesen PatientInnen sind begleitende, pflegerische Maß-
nahmen auch im Sinne einer Diätberatung, eines individuell abgestimmten
Mund- und Spülprogramms sowie Anfertigen von Plexiglasschienen zur Verhin-
derungen von Sekundärelektronen bei zahntragenden Kieferbereichen ange-
zeigt. Anders als auf der Haut dauert die Regeneration der betroffenen Schleim-
hautareale im Wesentlichen länger. Speziell bei HNO-PatientInnen kommt es
344 K. Brinda-Raitmayr und G. Hohenberg
auch zu einer deutlichen Verminderung der Speichelproduktion. Hier ist eine in-
tensive Beratung der PatientInnen unumgänglich. Durch die Verminderung des
Speichels und die pathologische Zusammensetzung kommt es zu einer radio-
genbedingte Karies bei immerhin 60 % aller PatientInnen nach kombinierter
Radio-/Chemotherapie im HNO-Bereich.
Patientinnen, die im gynäkologischen Bereich bestrahlt werden, können durch
die Kombination einer Teletherapie mit intrakavitärer Therapie auch Schleim-
hautreaktionen entwickeln. Hier ist vor allem ein Verhindern der Verlötung des
Vaginalbereiches sowohl durch mechanische als auch pflegerische Maßnahmen
anzustreben. Hier empfehlen sich kühle Sitzbäder, Vaginalspülungen und das
Vermeiden von Kunststoffvorlagen. Auch die Pflege von Körperfalten ist mit gro-
ßer Sorgfalt durchzuführen, den gerade hier können neben Hautreaktionen auch
Pilzinfektionen entstehen. Bei PatientInnen mit starker Sekretion aus der Analre-
gion sind neben Sitzbädern und Spülungen auch das Verwenden von Abdeck-
cremen zum Schutz der umgebenden Haut wichtig.
meiden. Das heißt vor allem bei Frauen, auf synthetische Büstenhalter und Spit-
zenunterwäsche zu verzichten. Als Ersatz dienen im Wesentlichen Baumwoll-
unterwäsche, reifenlose BH’s oder Bustiers. Für Männer kann unter Umständen
die Behandlung im Hals-Kopf-Bereich für einige Zeit ein Nassrasierverbot mit
sich bringen. Weiters ist das Reiben, insbesondere beim Abtrocknen, ebenfalls zu
verhindern. Man sollte auch Kratzen, Bürsten, Frottieren der Haut weitgehend
unterlassen, auch Massagen dürfen in den Bestrahlungsregionen während der
Therapie nicht zur Anwendung kommen. Vorsicht ist auch mit dem Tragen von
Schmuck geboten; einerseits, um mechanische Reizungen zu verhindern, ande-
rerseits, um allergische Reaktionen auszuschließen. Sowohl Sonnen- als auch
Infrarot- oder UV-Bestrahlung der Haut im Bereich der bestrahlten Areale sind
während der Strahlentherapie absolut verboten. Bereits eine kurze, intensive
Sonnenbestrahlung kann wegen einer möglichen, extremen Hautreaktion die
Durchführbarkeit einer länger währenden kombinierten Radio-/Chemotherapie
in Frage stellen. Das gleiche gilt auch für das Solarium. Ebenfalls eingeschränkt
anwendbar sind Wärmeanwendungen wie Saunabesuche, Heißluftmassagen,
warme und heiße, aber auch eiskalte Packungen und Umschläge sowie Fango-
packungen und Moorbäder. Gleiches gilt für heißen Fön und Heizkissen.
Literatur
Schreck U, Schmidt R, et al (2000) Pflege in der Radioonkologie. Onkologe 6: 516–528
www.curado.de/Brustkebs/Radioonkologie und Pflege
Revision
Craniosacrale Therapie
„Ziel des Arztes sollte es sein, Gesundheit zu finden. Ein jeder kann Krankheit
finden.“ Andrew Taylor Still
Einleitung
Von der Aura des Geheimnisvollen umgeben ist die Craniosacrale Therapie. Das
liegt nicht nur an ihrem vermeintlichen heiligen Namen, sondern auch an den
feinen, kaum wahrnehmbaren Manipulationen, die der Therapeut im Bereich von
Schädel, Wirbelsäule und Kreuzbein vornimmt. Daher die Bezeichnung „cranio-
sacral“, abgeleitet von den lateinischen Wörtern für Schädel: Cranium, und
Kreuzbein: Sacrum.
Durch die subtilen Bewegungen an den Knochen wird ein körpereigener
Flüssigkeitsrhythmus – ausgehend vom Gehirnwasser (Liquor) – unterstützt und
belebt.
Auf einer tiefen Ebene des physiologischen Funktionierens „atmen“ alle Gewebe
des Körpers in ihrer eigenen Weise und produzieren rhythmische Wellen, welche
die Flüssigkeitssysteme des Körpers durchdringen. Alle lebenden Knochen, Or-
gane, Faszien, Muskeln usw. bestehen aus Wasser, d. h., wir bestehen zu 70 % aus
Wasser.
Der menschliche Organismus ist ein Zusammenspiel rhythmischer Körper-
funktionen unterschiedlichster Art. Der Herzrhythmus zum Beispiel bringt das
Blut in Bewegung, die Tätigkeit der Lungen bewirkt ein regelmäßiges Ein- und
Ausatmen. Das sind zwei leicht wahrnehmbare Rhythmen. Andere Körper-
rhythmen dagegen sind weniger offensichtlich. Die Craniosacral-Therapie be-
schäftigt sich mit dem Rhythmus der Hirnflüssigkeit, die im Schädelinnenraum
und entlang der Wirbelsäule pulsiert. Wenn dieser Rhythmus sich mit Fülle und
348 I. Schmuck und E. Wolfslehner
Das Vorhandensein des Craniosacralen Rhythmus wurde vor etwa 100 Jahren
von Dr. William Sutherland, Schüler des Begründers der Ostheopathie Andrew
Taylor Still, entdeckt. Er widerlegte die bis dato verbreitete Ansicht vom festen,
unbeweglichen Schädel des Erwachsenen. Der Schädel besteht aus sieben das
Gehirn umschließende Knochen und vielen großen und kleinen Gesichtskno-
chen, die scharnierartig ineinandergreifen und an den Nahtstellen (Suturen) be-
weglich sind. Anhand von Untersuchungen mit straff um den Schädel gebunde-
nen Eisenbändern gelangte er zur Erkenntnis, dass sich die Schädelknochen
bewegen. Beim Erwachsenen beträgt die Beweglichkeit 0,1–1 Millimeter. Er
spürte, dass sich das Volumen des Schädels in einer regelmäßigen Frequenz ver-
größert und verkleinert. Gleichzeitig beobachtete er, dass der Druck auf die ver-
schiedenen Schädelknochen bestimmte Beschwerden auslösen kann, von Kopf-
schmerz, Migräne, Tinnitus und Sehstörungen bis hin zu Depressionen. Wird der
Bewegungsrhythmus und die damit verbundene Frequenz gestört, wirkt sich das
negativ auf das körperliche und psychische Wohlbefinden aus.
Ebenso führt eine Blockierung an den Suturen der Schädelknochen zu Ver-
drehungen in der Wirbelsäule und am Kreuzbein. Die Folgen davon sind Unbe-
weglichkeit und Verzerrung im Muskel-Skelett-System, die Rhythmen der Flüs-
sigkeiten sind eingeschränkt.
Bewegung ist das bedeutendste Kennzeichen und Voraussetzung für das Leben.
Sind Bewegung und Beweglichkeit der Gewebe vermindert oder eingeschränkt,
sodass Flüssigkeiten (Blut, Lymphe, Liquor etc.) nicht mehr ungehindert fließen
können, entsteht eine mehr oder minder ausgeprägte Stauung. Die nervale Ver-
sorgung der Gewebe kann dadurch beeinträchtigt werden. Die Folge ist eine Ein-
schränkung der Nährstoff- und Sauerstoffversorgung sowie ein verminderter
Abtransport von Stoffwechselprodukten (Metaboliten) im Gewebe. Das Gewebe
verliert seine Vitalität – der Körper ist bereit für eine Erkrankung, das Leit-
symptom ist der Schmerz.
Hier setzt die Craniosacrale Therapie mit feinsten manuellen Manipulationen
ein. Diese subtilen Berührungen mögen im Gegensatz zum Bild des harten
Schädels stehen, aber sie stimmen durchaus mit der geringen Beweglichkeit der
Knochen und der Feinheit des Hirnflüssigkeitspulses überein.
Ziel der Therapie ist der gesunde, regelmäßige Craniosacral-Rhythmus. So
können die Heilungsprozesse körpereigener Selbstregulierungsmechanismen,
Craniosacrale Therapie 349
wie etwa das Immun- und Hormonsystem oder die Stressverarbeitung in Gang
kommen.
Der Craniosacral-Rhythmus ist der „Heiler“ selbst. Durch das Lösen der Blo-
ckierungen leistet der Therapeut nur beistehende Vorarbeit. Er bringt damit den
ganzen Körper in Schwingung, Vibration und Resonanz mit diesem Rhythmus
und überlässt den Patienten in den darauf folgenden Tagen der „Selbstheilung“,
wodurch traumatische Verletzungen aus dem Zellgedächtnis entlassen werden
können.
Der Schmerz an sich ist von wichtiger Bedeutung und hat eine lebenserhaltende
Aufgabe. Schmerzen machen auf äußere Reize und Erkrankungen im Inneren
des Körpers aufmerksam. Er signalisiert eine Gewebeschädigung und unter-
streicht die Notwendigkeit einer Ruhigstellung, damit sich das Gewebe regene-
rieren kann.
Chronischer Schmerz hat scheinbar keine biologische Funktion, er ist eine
Bürde, eine Pein, eine Last, eine Qual …
Chronische Schmerzpatienten wollen „gehört“ werden; die innere und äuße-
re Beweglichkeit soll wieder hergestellt werden.
Schmerz entsteht nicht zuletzt aus gespeicherten Erinnerungen in Organen,
Geweben oder direkt in den Abschnitten des Cranialen Systems, die sich dem
bewussten Erinnern des Patienten entzogen und sich auf Körperebene manifes-
tiert haben. Diese „frozen states“, „Energiezysten“ oder „biokinetischen Kräfte“,
wie sie in den unterschiedlichen Schulen der Craniosacral Therapie genannt
werden, erzeugen Spannung an bestimmten Stellen des Körpers oder direkt im
Zentralnervensystem und bündeln dort viel Energie, die dem Patienten in seiner
alltäglichen Lebenssituation nicht zur Verfügung steht.
Bereits bei der Empfängnis erhält der Körper Muster, Formen und Konditio-
nierungen bezüglich unserer Reaktionsweise auf Stress und Trauma. Überwältigt
ein physisches oder psychisches Trauma den naturgegebenen Stresslevel, werden
diese Ereignisse im Körper eingeschlossen. Dort verbleiben sie, bis der Mensch
fähig ist, die nötigen Ressourcen zu nutzen, um Stress und Trauma zu verändern
und zu lösen. Solche Stressmuster kreieren Verzerrungen in den normalen
rhythmischen Bewegungen der Flüssigkeiten bzw. auf der muskolo-skelettären
Körperebene. Dies führt von allgemeinem Unwohlsein, Unfähigkeit der Selbst-
heilungsregulierung bis hin zur Manifestierung einer Erkrankung. Erlittener
Schmerz auf seelischer und/oder körperlicher Ebene hinterlässt ebenfalls eine
Erlebnisspur in Gehirn und im Gewebe. Wie der Körper auf dieses Ereignis rea-
giert bzw. seine Konditionierung ist, so wird dieses Schmerzerleben von kurzer
Dauer sein oder es wird sich chronifizieren.
Durch die Lösung von Blockaden auf der Körperebene (in der Form und in
der Zeit, in der es der Körper des Patienten zulässt; der Therapeut begleitet den
Prozess nur mit seinen Händen, seiner Präsenz und seinem Wissen um somato-
350 I. Schmuck und E. Wolfslehner
Literatur
Literatur bei den Verfassern
Revision
M. WITTELS
M. Wittels
wissenschaftliche Themen zu halten. Aus den Vorträgen für diese illustre Runde,
die den klingenden Namen „Association of Scientific Workers in Fairlie“ trug,
mündeten Feldenkrais Gedanken und provozierende Thesen in einer ersten
Publikation über eine neue Art des neuronalen Lernens. Dieses Buch, das in der
deutschen Übersetzung langweilig mit „Der Weg zum reifen Selbst“ betitelt ist,
klingt im englischen Original wie die moderne Odyssee: „Body and Mature Be-
haviour – A Study of Anxiety, Sex, Gravitation and Learning“. In dieser Studie
geht Feldenkrais der Beobachtung von Phänomenen einer menschlichen Ur-
angst – der Angst zu fallen – nach, räsoniert über die physikalischen Grundlagen
des aufrechten Gangs des Menschen, die Bedeutung des kinästhetischen – soge-
nannten sechsten – Sinnes und zieht aus seinen Behauptungen Schlüsse, die fast
alles über Bord werfen, was das damalige Glaubenssystem über Motorik, Gehirn,
Gefühle und die Seele auf einem soliden Sockel ruhen ließ. Er zieht die Psycho-
analyse in Zweifel, indem er behauptet, dass alle menschliche Angst dieser Ur-
angst des Fallens, einer automatischen Reaktion, die durch Reizung des Nervus
vestibularis getriggert wird, entspringt und dazu führt, dass sich die gesamte
Beugemuskulatur zusammenzieht und eine gleichzeitige Hemmung der ge-
samten Streckmuskeln einsetzt. Feldenkrais glaubte nicht daran, dass sich das
Individuum ausschließlich durch Bewusstmachung seiner unbewussten Ängste
verbessern kann, viel eher sind seiner Beobachtung und Erkenntnis nach Bewe-
gungsübungen, die sanft und ohne Anstrengung, ohne vordergründiges Ziel, nur
mit der Hinwendung auf sensorische Prozesse durchgeführt werden, geeignet,
Menschen von ihrer übermäßigen Spannung zu befreien. Durch Regulierung der
verkürzten Beugemuskulatur im Bauchbereich, der eingeengten Atmung in ei-
nem steifen Brustkorb und der Unbeweglichkeit im Beckenbereich lösen sich die
somatischen Zeichen der Angst auf und in der Folge das dazugehörende Gefühl.
Wenn man mit Menschen in der Feldenkraismethode arbeitet, entweder inner-
halb der vierjährigen Ausbildung oder danach als FeldenkraislehrerIn, stellt man
genau dieses fast magisch anmutende Phänomen fest: Menschen aller Altersstu-
fen, der unterschiedlichsten intellektuellen Prägungen und Berufe, erheben sich
nach Abschluss einer solchen verbal geleiteten Bewegungsübung – genannt Be-
wusstheit durch Bewegung – vom Boden, und sehen sich verwundert um, fühlen
sich breiter, größer, freier, leichter, flinker und sind meistens gut gelaunt.
Die Methode
Die Feldenkraismethode, wie sie heute gelehrt wird, besteht aus zwei Teilen: Be-
wusstheit durch Bewegung und Funktionale Integration. Bewusstheit durch Be-
wegung wird in der Gruppe gelehrt, der Feldenkraislehrer führt die Schüler ver-
bal durch eine der über 1000 Bewegungsanleitungen, die Feldenkrais entwickelt
hat. Feldenkrais hat keine Heilmethode sondern ein Lernmethode entwickelt,
daher gibt es eigentlich keine Therapeut-Patient-Beziehung, sondern ein Lehrer-
Schüler-Konstrukt, das sich über das große Thema Lernen austauscht. Die Bewe-
gungen werden meist im Liegen durchgeführt, bei Schmerzpatienten empfiehlt
Die Feldenkrais-Methode in der Schmerztherapie 355
es sich auch, Anleitungen zu geben, die auf einem Stuhl sitzend ausgeführt wer-
den können. Oft ist das Zu-Boden-gehen und das Aufstehen vom Boden für
Menschen mit chronischen Schmerzen nur schwer oder gar nicht möglich. Im
Liegen aber auch im Sitzen werden die Kräfte der Schwerkraft, gegen die wir uns
im Lot halten, weitgehend ausgeschaltet. So wird ein Teil der Anstrengung aus
unserem Handeln herausgenommen und damit die Voraussetzung für optimales
Lernen geschaffen: Leichtigkeit, Entspannung und durch die Hinwendung zu
inneren Prozessen eine konzentrierte Wachheit folgen. Ähnlich wie in Hypnose,
in der wir leichter seelische Zusammenhänge unter Ausschaltung des Bewusst-
seins aufspüren können, scheint es, dass wir unter der Ausschaltung der Schwer-
kraft besser motorische Suchprozesse einleiten können, die uns zu neuen Bewe-
gungsmustern führen. Wenn wir neue Bewegungsmuster entwickeln, verlassen
wir alte, eingefahrene und oft auch schädliche Muster, die irgendwann zu passen
schienen. Innerhalb dieses ruhigen, zentrierten Arbeitens einer Bewusstheit-
durch-Bewegung-Lektion werden Bewegungen Stück für Stück in kleinen
Schritten angewiesen. Etwa eine Armbewegung in Seitenlage, der nach vielen
Wiederholungen und eingeschobenen kleinen Ruhepausen eine Beinbewegung
folgt. Durch die verbale Anleitung werden die Liegenden immer wieder aufge-
fordert, sich in ihrer Wahrnehmung auch um Teile ihres Körpers zu kümmern, die
anfangs in die Bewegung nicht eingebunden sind. Wenn am Ende der Stunde die
Ausführenden sich leicht wie Kinder von einer Seite auf die andere rollen, in der
Seitenlage zusammengekauert, am Rücken langgestreckt und wohlig gedehnt, in
einer Bewegung wie aus einem Guss – eine Bewegung, die jederzeit umkehrbar
ist und im gesamten Bewegungsablauf in die Gegenrichtung fortgeführt werden
kann –, dann hat man das Gefühl, dass ein uraltes Bewegungsmuster wieder
entdeckt worden ist. Das Rollen findet nun unter Einbeziehung des Nackens, des
Kopfes, der sich zu Beginn der Anleitung nicht von der Stelle gerührt hat, eines
beweglicheren Beckens und einer wenig überraschenden Gelöstheit der Beteilig-
ten statt. Bat man zu Beginn die Gruppe, sich von der linken Seitenlage auf die
rechte Seite zu drehen, dann konnte man beobachten, dass dieser Seitenwechsel
auf vielen ungelenken, ruckartigen und umständlichen Bewegungsteilen basiert,
obwohl so ein Seitenwechsel eine alltägliche Handlung ist.
Da wir uns in all unserem Handeln nie nur der Bewegung hingeben können,
ohne die anderen drei Instanzen, die am Handeln beteiligt sind – Sinnesempfin-
dung, Gefühl und Denken – einzuschließen (Feldenkrais 1967), wird bald klar,
dass eine Veränderung unserer Haltung, eine Erweiterung unserer Bewegungs-
möglichkeiten, ein freieres Atmen, bewusstere Hände oder das überraschende
Nachlassen von lange bestehenden Beschwerden nicht ohne Auswirkungen im
Denken, Fühlen und im Bereich der Sinnesempfindung bleiben kann. Das heißt
umgekehrt aber auch, dass wir uns bewegen, wie wir denken, fühlen und wie wir
mit unseren Sinnen die Welt wahrnehmen.
Funktionale Integration hingegen ist eine Einzelarbeit, in der mit sanften Be-
rührungen und passiven Bewegungen der meist liegende Körper des Schülers auf
einer speziell für diese Arbeit konstruierten Liege vom Lehrer bewegt wird, um
Bereiche des Körpers, die im Verlauf von bestimmten Bewegungen erreicht wer-
356 M. Wittels
den sollten, aber unerreicht bleiben, aufzuspüren. Durch Berührung werden dem
Nervensystem diese „leblosen“ Teile gemeldet (Wadler 2005). Alsbald wird dort
aber Bewegung entstehen, denn das Nervensystem ist vergleichbar mit einem
Ohr, das ohne Unterlass fragend die Welt abhorcht. Jede Informationsaufnahme
ist notwendigerweise die Aufnahme einer Nachricht von einem Unterschied.
„Keine neue Ordnung oder kein neues Muster kann ohne Information hergestellt
werden.“ (Ginsburg 2004). Auch wird das Nervensystem dort Bewegung entste-
hen lassen, wo es durch Funktionalität überzeugt wird. Das heißt, dort wo der
Lehrer Bewegungen initiiert, die ein größeres Ganzes anregen, werden Muskeln
plötzlich stimuliert, weil die zerebrale Repräsentanz komplexer Bewegungsabläu-
fe ihre Beteiligung fordert. Hier scheint das Ohr nach innen gewandt zu sein.
Wenn Funktionale Integration gelingt, wird für das Nervensystem eines Men-
schen ein erkennbarer Unterschied geschaffen, den die Person aufnehmen und
in ihr Selbstbildnis integrieren kann (Ginsburg 2004), dann ist die Kommunika-
tion zweier Nervensysteme – desjenigen der berührt und bewegt, mit jenem, der
berührt und bewegt wird – geglückt. Ist bei einer Funktionalen Integration die
Ausschaltung eines Schmerzes gefragt, so wird man sich nicht nur dem schmer-
zenden Bereich zuwenden, sondern davon ausgehen, dass der schmerzende Teil
jener Körperteil ist, der am meisten durch eine Fehlbelastung ausgenutzt wird.
Man wird versuchen, das Bewegungsmuster des Schmerzgeplagten zu erkennen,
um auf Bewegungsabläufe hinzuweisen, die viel eher geeignet sind, die Arbeits-
belastung auf sämtliche Körperteile gleichmäßig zu verteilen. Damit wird der
Reiz aus dem schmerzenden Bereich entfernt (Wadler 2005). Die Bewegungen,
die innerhalb der Funktionalen Integration durchgeführt werden, haben viel mit
den Bewusstheit-durch-Bewegung-Lektionen zu tun, und die Qualität der Ver-
änderungen, die beim anderen herbeigeführt wird, hängt in großem Maße von
Geschick und Feingefühl der Lehrerin und des Lehrers ab.
Wissenschaftliche Forschung
„Die Mehrzahl der Menschen hört auf, sich weiterzuentwickeln, wenn sie ge-
schlechtsreif ist. Sie gilt als erwachsen und empfindet sich auch so. Was man
danach noch lernt, hat vorwiegend nur gesellschaftliche Relevanz“, stellt
Feldenkrais im Vorwort zu seinem Buch „Die Entdeckung des Selbstverständli-
chen“, fest. Auch stellt er Überlegungen dahingehend an, dass der Mensch in
seinen motorischen Funktionen im Lauf seines Lebens zurückbleibt und viele
Bewegungen aus seinem Repertoire ausscheiden, „etwa das Springen, das Über-
den-Kopf-Rollen, auch die Drehbewegungen. Sie werden abgebaut oder so
vernachlässigt, dass es bald vollends unmöglich wird, sie noch auszuführen.“
(Feldenkrais 1981)
Hat man beruflich mit vielen Menschen zu tun, die an chronischen Schmer-
zen leiden – mit den von uns so benannten Schmerzpatienten – und beobachtet
man diese Menschen gut, weiß man bald, dass sie im obigen Sinne noch viel
mehr motorische Funktionen verkümmern lassen. Befasst man sich mit der Fel-
denkraismethode und versucht diese in den Krankenhausbetrieb einzubinden
und auch dort mit den Augen einer Feldenkraislehrerin zu sehen, dann wird es
nicht mehr verwundern, dass Patienten, die ursprünglich Schmerzen im Len-
denwirbelsäulenbereich hatten, nun auch welche im Halswirbelsäulenbereich
bekommen. Es wird auch nicht verwundern, dass verletzte Körperteile sich im-
mer mehr verschlechtern, wenn Menschen sich ihnen nicht mehr zuwenden, sie
ausgrenzen aus ihrem Körperbild, uns manchmal sogar bitten, Teile ihres Körpers
zu amputieren, weil diese Teile nur mehr schmerzen und stören würden. Er-
Die Feldenkrais-Methode in der Schmerztherapie 359
wähnt muss aber auch werden, dass die Krankenhausmedizin vielen dieser
Patienten nicht dauerhaft helfen kann. Schmerz wird zusehends als ein biopsy-
chosoziales Phänomen wahrgenommen, doch viel Wohltuendes ist vorerst nicht
verankert. Es wird mechanisch repariert, medikamentös therapiert, physikalisch
Strom, Ultraschall, Schlamm und Wasser angewandt und in der Physiotherapie
soll sich der Schmerzpatient nun bewegen. Der aber sagt: „Kann ich nicht. Es tut
mir weh.“
Die Feldenkraismethode wäre ungeachtet einer noch ausständigen wissen-
schaftlichen Nachweisbarkeit eine sinnvolle Ergänzung der praktizierten Medi-
zin. Einerseits, weil sie das Verständnis für andere Zusammenhänge wecken und
damit die Auseinandersetzung über das Thema Schmerz variieren würde, ande-
rerseits, weil sie eine Methode ist, die vorsichtig, schmerz- und ziellos, und ohne
Anforderungen an die Leistung des Schmerzpatienten angewendet werden
kann, ohne dabei wirkungslos zu bleiben. Wie Feldenkrais sagt, gibt es keinen
Menschen, der eine freundliche Berührung nicht von einer unfreundlichen zu
unterscheiden vermag. Ich denke, dass wir unsere Patienten wieder mehr berüh-
ren sollten, auch innerhalb einer aufmerksamen klinischen Untersuchung und
dass wir darauf achten sollten, durch eine freundliche Berührung den Einlass zu
einer anderen Kommunikation mit dem Nervensystem des Patienten zu finden.
Dies wäre ein erster Schritt, mit Funktionaler Integration im Krankenhaus zu be-
ginnen.
Literatur
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Karlsruhe
Revision
H. TRABE
Ergotherapie in der Behandlung von Schmerzpatienten
H. Trabe
Definition Ergotherapie
Ergotherapie wird von den griechischen Worten „to ergon“ und „therapeia“
abgeleitet und bedeutet:
to ergon: Werk, Tat, Handlung, Tatsache; Arbeit, Verrichtung, Unterneh-
men, Geschäft, das durch die Arbeit Hervorgebrachte
therapeia: Dienen, Bedienung, Achtungsbezeichnung, Dienstleistung,
Wartung, Pflege, Heilung, Putz des Körpers, Dienerschaft, Ge-
folge
Der ergotherapeutische Dienst umfasst die eigenverantwortliche Behandlung
von Kranken und Behinderten nach ärztlicher Anordnung durch handwerkliche
und gestalterische Tätigkeiten, das Training der Selbsthilfe und die Herstellung,
den Einsatz und die Unterweisung im Gebrauch von Hilfsmitteln einschließlich
Schienen zu Zwecken der Prophylaxe, Therapie und Rehabilitation; ohne ärztli-
che Anordnung die Beratung und Schulungstätigkeit sowohl auf dem Gebiet der
Ergonomie als auch auf dem Gebiet des allgemeinen Gelenksschutzes an Ge-
sunden. (Auszug aus dem Gesetzestext, BGBl. 460/1992)
Ergotherapie beruht auf medizinischer, sozialwissenschaftlicher und handlungs-
orientierter Grundlage.
Ergotherapie verbindet das fachliche, klinisch erprobte und vertiefte Wissen mit
einem individualpädagogischen Ansatz. Therapie wird so zur individuellen Be-
handlung, Beratung und Präventionsschulung der Betroffenen. Bei und durch die
Therapie werden alle Potenziale und Ressourcen des Patienten genützt.
362 H. Trabe
leme bei der Handhabung von Alltagsgegenständen, der nicht adäquate Umgang
mit Hilfsmitteln wie auch die krankheits- bzw. behindertengerechte Wohnungs-
adaptierung.
Diagnostik – Befunderhebung
Um sich ein reales Bild des Patienten und seiner Probleme zu verschaffen, ist ei-
ner der wichtigsten Punkte der ergotherapeutischen Aufgabe die Erhebung des
Ist-Zustandes, das heißt eine genaue Anamnese sowie die Beobachtung, die In-
spektion und die Palpation als auch die Einschätzung der Schmerzempfindung.
Schmerzart, Schmerzzeiten, schmerzauslösende, -verstärkende oder -lindernde
Faktoren sind bei der Befunderhebung ein bedeutendes Kriterium (und sollten
auch in anderen Fachrichtungen als Standarduntersuchung noch mehr berück-
sichtigt werden); ebenso der Muskeltest, die Umfangmessungen, die Untersu-
chungen der Durchblutung an der Hand und den Fingern, die Messungen des
Bewegungsumfanges der Gelenke (aktiv/passiv) sowie die Prüfung der Gesamt-
funktionen, der Greiffunktionen und der Gebrauchsbewegungen als auch die
Kraftmessung samt der Sensibilitätsuntersuchung. Weiters sollte der/die Ergo-
therapeut/in die Selbständigkeit bei Verrichtungen des täglichen Lebens, die Ar-
beitssituation wie die Arbeitsfähigkeit und die Hobbys und Freizeitaktivitäten
des Patienten abklären und die Auswirkung der Verletzungsfolgen auf die per-
sönliche Situation des Patienten einschätzen.
Infrarotaufnahme (Thermographie)
ist ein bildgebendes Verfahren, das die für das menschliche Auge unsichtbare
Wärmestrahlung (Infrarotlicht) eines Objektes oder Körpers mit Hilfe von Spe-
zialkameras sichtbar macht; es dient zum Erkennen von Temperaturdifferenzen
und Durchblutungsverhältnissen.
364 H. Trabe
Abb. 2.
Infrarotaufnahme der Hand mit CRPS
Neuro-Sensory-Analyzer (NSA)
ist ein computergesteuertes Gerät, um Fehlfunktionen kleiner Nervenfasern
quantitativ beurteilen zu können. Es misst sensorische Schwellenwerte wie zum
Beispiel Wärme- und Kälteempfindung oder durch Hitze bzw. Kälte hervorge-
rufenen Schmerz.
Abb. 3.
NSA-Befund
Ergotherapie in der Behandlung von Schmerzpatienten 365
Der Vibrationstest ist eine optimale Testmethode, der die quantitative Beurteilung
von Fehlfunktionen großer Nervenfasern erlaubt.
Am Ende der Sitzung wird ein Protokoll ausgedruckt.
Angio Experience
Das AngioE-PC-System ist eine nichtinvasive Messmethode zur Erfassung des
Gefäßzustandes peripherer Gefäße. Über vier Druckmanschetten werden die
Druckoszilationen an Fingern und Zehen gemessen und deren Amplitude inter-
pretiert.
Abb. 4. AngioE-Befund
Funktionelles Training
Mit Hilfe von kreativen Techniken, Spielen und Alltagsaktivitäten werden Mus-
kelkraft, Gelenksbeweglichkeit, Koordination, Sensibilität gefördert und in ge-
brauchsfähige Funktionen des Alltags umgesetzt.
Hirnleistungstraining
Unter Hirnleistungstraining versteht der/die Ergotherapeut/in das Training kog-
nitiver Leistungsdefizite bezüglich Konzentration, Aufmerksamkeit, Raumsinn
und Verarbeitung räumlicher Informationen, Merkfähigkeit und logischem Den-
ken, Planen und Handeln.
Vorwiegend wird es bei Apraxie, beim Neglect und bei Hemianopsie als The-
rapie eingesetzt.
Schienenversorgung
Die Schienenversorgung lässt sich in statische Schienen, die zur Prophylaxe und
Korrektur von Schonhaltungen und Deformitäten oder Kompensation bei Funk-
tionsausfällen dienen und in dynamische Schienen, die zur Vergrößerung des
Bewegungsumfanges sowie zum Krafttraining eingesetzt werden, einteilen.
Gelenkschutzberatung
Die Gelenksschutzberatung wird zum Erlernen entlastender, achsengerechter
Gelenksbeweglichkeit und zur Vermeidung von Gelenksdeformitäten benötigt.
Abb. 9. Seidenmalen
Spiegel-Therapie
durch kognitive Imaginationsstrategien lernt der Patient sich bestimmte Bewe-
gungen der Hand bewusst vorzustellen ohne diese auszuführen. Der Spiegel bie-
tet dem Patienten hier die Möglichkeit, eine schmerzfreie Bewegung der betrof-
fenen Seite im Spiegel zu sehen. Diese Techniken scheinen bestimmte Hirnareale
zu aktivieren, die einen positiven Einfluss auf das Körperschema und Bewe-
gungsprogramm haben.
Computertraining
Das Computertraining wir vom/von der Ergotherapeut/in eingesetzt, um kogniti-
ve Defizite zu trainieren.
Lasertherapie
Laserstrahlen stimulieren im Gewebe komplexe Heilprozesse. Sie wirken ent-
zündungshemmend und analgetisch, regenerieren das Gewebe und verbessern
die Mikrozirkulation.
Paraffinbad
Die Wärme von Paraffin hat eine wohltuende Wirkung. Sie lockert steife Gelenke,
verbessert die Durchblutung, spendet trockener Haut Feuchtigkeit und macht sie
geschmeidig, entspannt die Muskeln und lindert Schmerzen.
Abb. 15.
Schröpfen bei Muskelverspannung
Die Aufgabe des Therapeuten ist es, das Krankheitsbild korrekt zu interpretie-
ren, um die richtige Wahl der Therapiemöglichkeiten – sowohl der handwerkli-
chen Techniken als auch der physikalischen Maßnahmen – zu treffen.
Trotz aller medizinischen und technischen Hilfsmittel hängt der Erfolg der
Therapie zum größten Teil von der Motivation zur Mitarbeit und den unter-
schiedlichsten Lebensumständen des Patienten ab.
Ergotherapie in der Behandlung von Schmerzpatienten 371
Literatur
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Stuttgart
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Zittlau J (2005) Schmerzen lindern mit Magneten. Südwest, München
Weiterführende Links
www.klinikum.uni-heidelberg.de/Ergotherapie
www.afgib.de/Nichtarztliche_Berufsgruppen/Ergotherapie
www.ergotherapie-dve.de
www.ergotherapie.at
Revision
Ziel dieses Beitrages ist es nicht nur, Beispiele für die Anwendung von Musik in
der Pflege zu bringen, sondern es geht vorrangig darum, den Gründen für die
Wirkung von Musik nachzugehen. Einblicke in diese Zusammenhänge sollen
dabei helfen, das Potenzial der Musik in der Pflege sinnvoll zu nutzen.
Der Einfluss von Musik auf Körper und Psyche zählt für fast alle Menschen
zu den alltäglichen Erfahrungen. Musik kann den menschlichen Körper aktivie-
ren, eine frische Morgenmusik vermag die Reste des Schlafs aus Kopf und Glie-
dern zu vertreiben. Ihr mitreißender Antrieb kann zu Bewegung anregen, zu Ge-
selligkeit und Tanz auffordern und Menschen bei gemeinsamen Tätigkeiten
verbinden. Die beflügelnde Wirkung eines Wanderliedes kann die müden Beine
bei langem Marsch ermuntern. Damit verbunden, kann Musik die Stimmung
positiv beeinflussen. Ihr aktivierender Effekt zieht Optimismus nach sich und
drängt trübsinnige Gedanken zurück. Musik hilft bei Einsamkeit, kann von
Sorgen und Problemen ablenken und das Gefühl des Dazugehörens, der Ge-
meinschaft mit Gleichgesinnten vermitteln. Sogar im Extremfall einer Trauerfeier
kann sie zum Mitsingen anregen und dadurch aus dem Gefühl der Hilflosigkeit
herausführen.
Auf der anderen Seite beruhigt Musik von bestimmtem Charakter Körper
und Seele. Ein Wiegenlied kann einem Kind Geborgenheit vermitteln, Musik
kann Jugendliche und Ältere aus den Zwängen des Alltagsgetriebes lösen und
ihnen Entspannung schenken. Ihre psychischen Kräfte können sich auf innere
Welten richten, sie können Erinnerungen auslösen, zum ziellosen Träumen anre-
gen oder für tiefe mystische Empfindungen öffnen. Es gibt nur wenige Men-
schen, die musikalischen Klängen gegenüber so gleichgültig sind, dass sie diese
Wirkungen nicht verspüren oder nicht verspüren wollen. Solche antimusikalische
Einstellung gibt es zwar; man findet sie unter extremen Materialisten, vor allem
bei Menschen, deren Psyche in der Kindheit gewaltsam verbogen wurde. Aber
374 H.-P. Hesse und G. Bernatzky
qualität der Patienten so weit zu heben, dass ihnen das Leben wieder lebenswert
erscheint (Hesse und Bernatzky 2005).
Weit verbreitet – und damit sei der zweite vorab zu klärende Sachverhalt ange-
sprochen – ist die Vorstellung, dass Musik und ihre Wirkung fest aneinander ge-
koppelt seien, dass also jede Musik stets eine genau feststehende Wirkung auf
den Gesamtorganismus oder auf ein bestimmtes Organ habe. Diese Anschauung
ist eindeutig falsch! Nicht nur die Stärke, sondern auch die Art der Wirkung
hängt davon ab, wie der Mensch das beurteilt, was auf ihn einwirkt. Das gilt für
eine körperliche Berührung ebenso wie für die Wahrnehmung von Musik. Musik
kann zwar unterhalb der Bewusstseinsschwelle Bewegungsreflexe auslösen und
auf das vegetative Nervensystem wirken, aber die Bewertung der Effekte ist teils
an bewusste, teils an unbewusste Erfahrungen geknüpft, die sich naturgemäß bei
verschiedenen Menschen unterscheiden. Musik kann Erinnerungen an emotio-
nal positiv oder negativ gefärbte Erlebnisse wecken und entsprechende Gefühle
aktivieren. Ein schlichtes Heimatlied kann den Einsamen in der Fremde zu Trä-
nen rühren, während es andere völlig kalt lässt oder bei diesen sogar Aversionen
hervorruft. Die Beliebtheit musikalischer Gattungen ist sowohl vom Alter als
auch vom Bildungsstand abhängig. Beide Faktoren prägen die persönlichen Vor-
lieben und die Einschätzung erklingender Musik. Art und Stärke der Musikwir-
kung sind daher individuell durchaus verschieden.
Darüber hinaus ist eine weitere Differenzierung zu berücksichtigen. Musik
kann den Menschen auf verschiedenen Ebenen seiner Lebensfunktionen anspre-
chen. Musik wirkt als Klang auf das Nervensystem und löst Reflexe aus, die sich
äußerlich sichtbar z. B. im rhythmischen Wippen der Fußspitze zeigen, außerdem
innerlich in der Ausschüttung von Hormonen, deren Wirkung als Stimmung be-
wusst wird. Musik kann als Symbol verstanden werden, kann – wie oben erwähnt
– Erinnerungen wecken und daran gekoppelte Gefühle aktivieren. Bei aufmerk-
samem Hören kann Musik drittens kognitive Prozesse in Gang setzen, die in den
Beziehungen der Töne eine Sinn tragende Struktur, z. B. Frage und Antwort, Wie-
derkehr oder Verwandlung erkennen, und nun von der mentalen Ebene auf den
Körper zurückwirken, indem sie ein Wechselspiel von Spannung und Entspan-
nung generieren. Einzig diese Art und Weise des verständnisvollen Musikhörens
wollte Adorno als angemessen, als strukturelles Hören anerkennen (Adorno 1968).
Doch gerade die beiden anderen Funktionsebenen – Klangwirkung und
Symbolverstehen – können im Rahmen von Pflegeprozessen sinnvoll genutzt
werden. Grundsätzlich gilt, dass insbesondere bei aktiver Musikausübung, beim
Singen wie beim Spiel eines Instrumentes etliche, auch weit voneinander ent-
fernte Zentren des Gehirns tätig werden. Wenn jemand in einem Ensemble
spielt, so muss er zur gleichen Zeit die Noten lesen, sein Instrument spielen, d. h.
komplexe Bewegungsabläufe steuern, mit dem Gehör die erzeugten Klänge kon-
trollieren, auf die anderen Musiker hören, um Tempo und Intonation in Überein-
376 H.-P. Hesse und G. Bernatzky
Musik hören
Ein Teil des menschlichen Nervensystems – der als Vegetativum oder vegetatives
Nervensystem bezeichnet wird – hat die Aufgabe, die lebenswichtigen chemi-
schen und physikalischen Vorgänge und Zustände innerhalb des Körpers zu
regeln und untereinander in einem dynamischen Gleichgewicht zu halten. Seine
zentralen Funktionen sind die Aufrechterhaltung der Körpertemperatur, die
Sauerstoffversorgung durch Atmung, Herzschlag und Blutkreislauf, die Steue-
rung von Blutzucker- und Hormonspiegel, die Kontrolle des Muskeltonus und
die Regelung vieler anderer biologischer Prozesse, die unterbewusst ablaufen
und deren Existenz wir normalerweise erst dann bemerken, wenn irgendeine
Störung der Funktionen aufgetreten ist.
Die höchst komplexe Steuerung dieser eng miteinander verzahnten Lebens-
vorgänge wird von entwicklungsgeschichtlich alten, an der Basis des Gehirns
zwischen den beiden Großhirnhemisphären liegenden neuronalen Netzwerken
im Zusammenwirken mit Teilsystemen des peripheren Nervensystems und che-
mischen Botenstoffen geleistet. Die einzelnen Zentren sind nicht nur unterein-
ander, sondern auch mit den für kognitive Verarbeitungsprozesse zuständigen
Regionen des Neokortex durch Nervenbahnen verknüpft, aber sie arbeiten selb-
ständig, autonom, und ihre Tätigkeit wird nicht unmittelbar bewusst. Die kom-
plizierten Regelungsvorgänge verblieben im Verlaufe der Evolution aus guten
Gründen im unterbewussten Bereich, denn lebensnotwendige Prozesse dürfen
nicht durch zeitaufwändige Überlegungen, Schwankungen der Aufmerksamkeit
oder gar Schlaf gefährdet werden. Erst der Zustand der Ausgewogenheit bzw.
dessen Störung wird dem Menschen schließlich als Stimmung bewusst.
Die verschiedenen, an den Steuerungsvorgängen beteiligten Nervennetze
werden durch überregional wirkende Zentren des Gesamtsystems aktiviert bzw.
378 H.-P. Hesse und G. Bernatzky
Rhythmus
Grundsätzliche Regeln
Bei der Entscheidung, welche Musik unter welchen Bedingungen für welche
Patienten ausgewählt werden soll, müssen grundsätzlich die persönlichen Präfe-
renzen des Patienten respektiert werden. Individuelle Erinnerungen und Assozia-
tionen haben wesentlichen Einfluss auf Art und Stärke der Reaktionen. Die Bereit-
schaft des Patienten, sich überhaupt auf das Hören von Musik einzulassen, hängt
in hohem Grade von dessen grundsätzlicher Einstellung zur Musik – genauer ge-
sagt von dessen Wertschätzung bzw. Ablehnung musikalischer Stilrichtungen –
ab. Diese geht in vielen Fällen nicht auf objektive Gründe, sondern auf die Ab-
grenzung gesellschaftlicher Gruppen zurück, die sich durch Alter, Bildungsgrad
oder sozialen Status unterscheiden und aufgrund von wenigen Merkmalen oder
Vorurteilen mit einem bestimmten musikalischen Genre identifiziert werden. Für
einen „gebildeten Bürger“ hat ein Brandenburgisches Konzert Johann Sebastian
Bachs eine andere Bedeutung als beispielsweise für einen Bergbauern, dem im
Gegensatz zu jenem der Klang der steirischen Harmonika vertraut ist, was jedoch
dem sogenannten „gebildeten Bürger“ wiederum fremd sein kann.
Weil aber die Musikwirkung nur zum Teil auf strukturelle Merkmale der Mu-
sik zurückzuführen ist, sollte man bei der Auswahl der Musikstücke die Wünsche
des Patienten berücksichtigen bzw. dem Patienten die Möglichkeit geben, zwi-
schen verschiedenen stilistischen Richtungen auszuwählen. So wie nicht jedem
Patienten dasselbe Medikament genau gleich gut tut, kann auch nicht jedem
Menschen dieselbe Musik angeboten werden. Jeder Mensch hat seine eigene
Geschichte, die Einfluss sowohl auf die Medikamentenwirkung als auch auf die
Musikempfindung hat!
Intensität
große Lautstärke geringe Lautstärke
große Lautstärkeänderungen geringe Lautstärkeänderungen
starke Akzente weiches Pulsieren
Zeitablauf
schnelles Tempo Tempo in oder unterhalb der
Herzfrequenz
häufige Tempowechsel gleichmäßiges Tempo
tänzerischer Dreiertakt zweizeitige (gerade) Taktarten
Tonhöhenstruktur
großer Tonhöhenumfang geringer Tonhöhenumfang
weite Intervalle (melodische Sprünge) enge Intervalle (Tonschritte)
aufwärts gerichtete Intervalle abwärts gerichtete Intervalle
Klangcharakter
hell strahlende Klangfarbe gedämpfte Klangfarbe
dissonante Zusammenklänge konsonante Zusammenklänge
weiter Bereich der Harmonik einfache Harmonik
382 H.-P. Hesse und G. Bernatzky
Gute Pflege umspannt ein breites Spektrum von Maßnahmen, die dem Patienten
eine Linderung seiner Beschwerden verschaffen (Bernatzky et al. 2006) und ihm
so weit wie möglich bei der Wiederherstellung seiner Gesundheit helfen. Beide
Intentionen können durch Musikhören erheblich unterstützt werden. Dabei
Musik in der Pflege 383
greifen physische und psychische Wirkungen, die wir aus Gründen der Über-
sichtlichkeit nacheinander ansprechen, wechselseitig ineinander.
Wenn ein Hörer sich angenehm empfundener Musik hingibt und sich in ih-
ren Rhythmus hineinziehen lässt, so werden aufgrund des oben angesprochenen
Magneteffekts die durch Angst oder Schmerzen ausgelösten körperlichen Span-
nungen gelockert. Das limbische System wird durch angenehm erscheinende
Musik unmittelbar angesprochen und aktiviert, sodass es dadurch zu einer
Muskelrelaxation kommt und sich nach und nach ein Wärmegefühl im Körper
ausbreitet. Parallel dazu harmonisieren sich aus der Balance geratene, vom Vege-
tativum gesteuerte Lebensprozesse. Das Herz-Kreislaufsystem reagiert, indem
sich der Atemrhythmus stabilisiert und das Atemvolumen abgesenkt wird. Die
Ausschüttung von Botenstoffen wie Adrenalin, Dopamin, ACTH und Cortisol
nimmt ab und in entsprechendem Maße geht der Grundumsatz zurück. Als Fol-
ge wächst die Schlafbereitschaft. Über die heilsame, wohltuende Wirkung des
Schlafes braucht man kein weiteres Wort zu verlieren.
Gelingt es dem Patienten nicht unmittelbar, sich von der musikalischen Be-
wegung gefangen nehmen zu lassen, so ist es hilfreich, das emotionale Gedächtnis
anzusprechen und Erinnerungen an glückliche Zeiten auszulösen. Die assozia-
tive Verknüpfung der erklingenden Musik mit inneren Bildern lenkt die Auf-
merksamkeit von der Beobachtung körperlicher Schmerzen und angstinduzierter
Spannungen ab, und stärkt das Gefühl der Geborgenheit, das Verkrampfungen
entgegenwirkt, den Körper für die erwünschten Magneteffekte zugänglich macht
und die Toleranz gegenüber Schmerzempfindungen anhebt. In den meisten Fäl-
len ist es zweckmäßig, zunächst beruhigende, lyrische Musikstücke zu wählen,
man könnte sie „Wiegenlieder für Erwachsene“ nennen. Es kann aber auch
hilfreich sein, den Patienten zunächst mit einer beschwingten, mitreißenden Me-
lodie zu stimulieren, um ihn aus der Verspannung zu lösen. Eine später folgende,
behaglich oder verträumt klingende Komposition bewirkt dann eine umso
stärkere Entspannung. Diesen Effekt haben sich Komponisten seit jeher in mehr-
sätzigen Musikwerken zunutze gemacht.
Zusammenfassung
Musik kann einerseits auf ästhetische Ziele gerichtet sein und über den Hörsinn
Schönes vermitteln, andererseits kann sie als funktionale Musik auch außermusika-
lischen Zwecken dienen. Liegen diese im Heil- und Pflegebereich, so spricht man
im allgemeinen Sinne von Musiktherapie. Im speziellen Sinne ist zu unterscheiden
zwischen Musiktherapie als Fachgebiet innerhalb der Psychotherapie und
mediko-funktionaler Musik, die im Rahmen der medizinischen Versorgung von
Patienten mit dem Ziel eingesetzt wird, die nüchterne so genannte Apparatemedi-
zin durch die gefühlsbetonten Aspekte von Musik komplementär zu ergänzen. Sie
kann auf sanfte Weise Entspannungsvorgänge unterstützen, das Schmerzerleben
lindern oder – allgemein ausgedrückt – wirkungsvoll dabei helfen, Störungen im
biochemischen und psychischen Gleichgewicht zu überwinden.
384 H.-P. Hesse und G. Bernatzky
Die Hoffnung, einen Katalog von geeigneten Musikstücken für jede medizi-
nische Indikation zu liefern, stellt zur Zeit noch eine Vision dar. Ebenso sind die
Bestrebungen, Musik als Musikament zu betrachten, bzw. Musik im Sinne eines
Medikamentes per Rezept zu verschreiben noch reine Visionen, die hoffentlich
bald Realität werden (Bernatzky 2003; Bernatzky 2006). Wissenschaftliche Stu-
dien sind zweifelsohne wichtige Informationsquellen für die sinnvolle Verwen-
dung von Musik in der Therapie kranker Menschen (Bernatzky 2007; Hillecke
2007).
Dennoch seien als kleine Hilfe bei der Suche nach geeigneter Musik zum
Schluss einige Musiktitel angeführt, die sich vielfach bewährt haben. Diese oder
andere Musikstücke könnten dem Patienten im Laufe eines Gesprächs als klin-
gende Beispiele angeboten werden. Viele Patienten sind zwar zunächst skeptisch,
doch die persönliche Zuwendung wird ihre Bereitschaft erhöhen, sich auf das
Hören von Musik einzulassen. Deren wohltuende Wirkung wird sie endgültig
überzeugen.
Beispiele
Wolfgang Amadeus Mozart: Klarinettenkonzert A-Dur, KV 622, 2. Satz: Adagio
Edvard Grieg: Peer Gynt, Suite Nr. 1 op. 46, 1. Satz: Morgenstimmung
Peter Tschaikowsky: Konzert Nr. 1 für Klavier und Orchester b-Moll op. 23, 2. Satz
Mehrsätzig:
Antonio Vivaldi: Die vier Jahreszeiten. Konzerte für Violine, Streicher und Basso continuo op. 8,
Nr. 1–4
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Revision
Einleitung
Der Einsatz von Musik als Medizin war schon in der Antike bekannt und ist im-
mer noch weltweit in Eingeborenenkulturen, u. a. zum Zwecke der Schmerzkon-
trolle, verbreitet. Musiktherapie beruht also auf einer langen Tradition. Aber erst
ab den 1950er Jahren bildete sich die moderne Musiktherapie, deren Entwick-
lung zunächst durch die Übernahme von Theorien aus den damals bestehenden
und seither entstandenen Psychotherapieschulen (Psychoanalyse, Verhaltensthe-
rapie und Humanistische Therapie) gekennzeichnet war. Parallel dazu verlief die
zunehmende Akademisierung von Musiktherapie, indem international Musik-
therapiestudiengänge implementiert wurden. In Amerika und Europa hat sich
Musiktherapie mit unterschiedlichen Schwerpunkten inzwischen fest in der aka-
demischen Lehre und in vielen Anwendungsfeldern etabliert. Sie ist heute zu ei-
nem wichtigen Bestandteil in der psychiatrischen, psychotherapeutischen, psy-
chosomatischen und allgemein-medizinischen Versorgung geworden. Seit den
1980er Jahren entstanden Wirksamkeitsstudien (Standley 1986), die heute in um-
fangreichen Metaanalysen zusammengefasst werden (Argstatter et al. 2007). Sie
dokumentieren eindrucksvoll die Wirksamkeit von Musiktherapie in verschiede-
nen Anwendungsbereichen.
Seit den 1990er Jahren entwickelte sich im deutschen Sprachraum neben der
rezeptiven Musiktherapie bei akuten und chronischen Schmerzen (vgl. Spintge
2000) die aktive Musiktherapie bei chronischen Schmerzen (vgl. Müller-Busch
1997; Risch 2005). In den Jahren von 1999 bis 2007 wurden von unserer Arbeits-
gruppe drei Musiktherapiemanuale nach dem Heidelberger Modell entwickelt
und entsprechend den Standards der Psychotherapieforschung evaluiert. Zu-
nächst richtete sich der Fokus auf Patienten mit chronischen, nicht-malignen
Schmerzen (Hillecke und Bolay 2000), dann auf kindliche Migräne (Leins 2006)
und schließlich auf maligne Schmerzen (Wormit 2008).
388 T. Hillecke et al.
therapie. Dieser Ansatz ist daher auch die Grundlage der Musiktherapiemanuale
nach dem Heidelberger Modell.
Ausgangspunkt der Entwicklung der Musiktherapiemanuale bei Schmerzen
war das emotionspsychologische Konzept der „gehemmten Expressivität“ nach
Traue (1998, Traue et al. 2000). Demnach neigen chronische Kopf- und Rücken-
schmerzpatienten dazu, ihren emotionalen Ausdruck aktiv durch erhöhte Mus-
kelspannung zu regulieren. Sie geraten – so betrachtet – in einen psycho-
physiologischen Teufelskreis (Schmerz-Spannungs-Zirkel). Auch insgesamt wur-
de in den letzen Jahren der emotionalen Komponente chronischer Schmerzen
eine immer größere Bedeutung zugeschrieben. Neuere Untersuchungen an er-
wachsenen Schmerzpatienten belegen die Auffassung der Relevanz emotionaler
Verarbeitungsmuster bei Genese und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen.
Das Fear-avoidance-Modell (Pfingsten et al. 1997), wonach die Schmerzchroni-
fizierung durch einen sich aufschaukelnden Prozess der Aspekte Schmerz,
Schmerzangst und Vermeidungsverhalten gekennzeichnet ist, beachtet in beson-
derer Weise die Emotion Angst. Auch die Forschungsgruppe um Apkarian (2004)
erkennt in emotionalen Faktoren einen wesentlichen Bestandteil der Schmerz-
chronifizierung. Sie konnten an erwachsenen Schmerzpatienten zeigen, dass
diese in der Fähigkeit eingeschränkt sind emotionale Entscheidungen zu treffen,
während andere kognitive Fähigkeiten (Aufmerksamkeit, Kurzeitgedächtnis, In-
telligenz) nicht beeinträchtigt waren. Die Arbeiten von Craig (20031, 20032) be-
schreiben in diesem Zusammenhang die inzwischen weithin akzeptierte Auffas-
sung, dass Schmerz als homöostatische Emotion zu verstehen ist.
Geht man davon aus, dass Schmerz und Emotion zusammenhängen, dann
muss Musiktherapie als eine wichtige Behandlungsmöglichkeit angesehen
werden, denn Emotionsregulation gilt als einer ihrer zentralen Wirkfaktoren
(Hillecke und Wilker 2007). In diesem Zusammenhang finden u. a. neuere neu-
rokognitive Studien (Koelsch und Fritz 2007), die den Zusammenhang zwischen
emotionalen Musikapplikationen und neuronaler Verarbeitung untersuchen, eine
Beteilung von Gehirnarealen, die dem Emotionssystem zugeordnet werden.
Das oben beschriebene Prinzip der „gehemmten Expressivität“ wurde auf die
Musiktherapie übertragen („erstarrtes Bezugskorrelat“) und ist durch eine ge-
hemmte musikalisch-emotionale Expressivität und Flexibilität („musikalische
Starrheit“) gekennzeichnet (Hillecke und Bolay 2000). Aus psychotherapeuti-
scher und musiktherapeutischer Sicht tritt eine Erstarrung der Aktions- und Re-
aktionsweise bei den Patienten mit chronischen Schmerzen in den folgenden Be-
reichen auf:
– sensorisch: dauerhafte Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die betroffenen
Körperregionen;
– kognitiv: Fixierung auf negative Gedanken und maladaptive Bewältigungs-
strategien (Katastrophisierung);
– emotional: Zunahme des Leidens, negativer Emotionen und emotionaler
Komorbiditäten, Abnahme emotionaler Entscheidungsfähigkeit;
– motivational: Abnahme der Motivation sowie Beschränkung der Lebensziele;
– motorisch: Bewegungseinschränkung;
390 T. Hillecke et al.
Aspekte Musiktherapeutischer
Musik als Therapiemedium
chronischer Schmerzen Wirkfaktor
Schmerz fokussiert die Auditive Simulation (Musik)
Aufmerksamkeit auf hat als phylogenetisches
schmerzhafte Körper- „Fernwarnsystem“ die
regionen. Seine phylogene- Kapazität, die Aufmerksam-
tische Funktion ist es, auf keit stark anzuziehen und so
Aufmerksamkeits-
Verletzungen aufmerksam zu von Schmerzen abzulenken.
modulation
machen. Schmerz verliert Dabei ist die aufmerksam-
diese Funktion während der keitsanziehende Kapazität von
Chronifizierung, die Auf- Musik teilweise sogar stärker
merksamkeitsanziehung als die von akutem und
bleibt aber vorhanden. chronischem Schmerz.
Schmerz wird als homöo- Musik beeinflusst die
statische Emotion ver- Emotionen schnell und teil-
standen. Die Einflüsse von weise unwillkürlich. Sie um-
Schmerz auf das emotionale fasst die Möglichkeit alle
Erleben sind gut belegt, und Grundemotionen (Freude,
mit der Chronifizierung ge- Angst, Ärger, Traurigkeit und
hen zunehmend emotionale Emotionsmodulation Ekel) sowie feine Übergänge
Störungen (z. B. Angst, und Emotionskombinationen
Depression) einher. zu modulieren und starke
Forschungsergebnisse zeigen Emotionen (Thrill-Effekte)
zudem eine verringerte emo- auszulösen.
tionale Entscheidungsfähig-
keit bei Schmerzpatienten.
Besonders die Chronifizie- Musik transportiert auch
rung von Schmerzen ist mit jenseits der Sprache
maladaptiven Kognitionen Bedeutungen (ästhetische
und mangelnden Aspekte und subjektiv gelern-
Bewältigungsfähigkeiten te Assoziationen). Mit Musik
Kognitionsmodulation
(z. B. Katastrophisierung) werden auch Erinnerungen
und nach außen gerichteten verbunden und veränderte
Kontrollüberzeugungen Bewusstseinszustände können
verbunden. musikalisch stimuliert werden.
Aktive Musiktherapie in der Schmerztherapie 391
Aspekte Musiktherapeutischer
Musik als Therapiemedium
chronischer Schmerzen Wirkfaktor
Schmerz äußert sich in Musik beeinflusst unwill-
Schmerzverhalten kürliche Bewegungsprozesse
(Grimassieren, Hinken, (Mitwippen auf rhythmische
Schmerzäußerungen, Stimuli, Tanz) und stellt in
Motorik- und Verhaltens-
Rückzugsverhalten usw.). Form des Musizierens selbst
modulation
Zunehmende Verhaltens- eine komplexe, den gesamten
einschränkungen stellen Körper fordernde
ein zentrales Merkmal der Verhaltensweise dar.
Chronifizierung dar.
Patientin R. ist 51 Jahre alt und verheiratet. Sie leidet seit 14 Jahren unter an-
dauernden Schmerzen im linken Bein. Die Stärke der Schmerzen gibt sie auf der
visuellen Analogskala (VAS) mit 70 % an. Weiter zeigt sich ein deutlich depressi-
ves Erscheinungsbild. Die Patientin pflegt ihre Schwiegermutter, was sie als sehr
belastend erlebt. Als „Wohlfühlbild“ beschreibt sie den letzten gemeinsamen Ur-
laub mit ihrem Mann, in dem es ihr deutlich besser ging. Der Zusammenhang
zwischen Schmerz und Erholung ist für die Patientin jedoch noch nicht spürbar.
Aktive Musiktherapie in der Schmerztherapie 393
Fallbeispiele
Chronischer, nicht-maligner Schmerz
Patientin B. ist 41 Jahre alt und ledig. Sie leidet seit neun Jahren an Kopf- und Brust-
schmerzen, die auf der visuellen Analogskala (VAS) den Wert von 50 % erreichen.
Erhöhte Werte liegen auch im affektiven Schmerzempfinden vor. Die Patientin be-
richtet von einem kleinen Freundeskreis, ist gerne alleine, hat aber vor zwei Mona-
ten einen Mann kennen gelernt. Sie arbeitet als Sekretärin an einer Hochschule.
Vor allem die Zusammenarbeit mit ihrem Chef empfindet sie als sehr anstrengend
und belastend. Im Vordergrund stehen negative und ängstliche Stimmungen, so-
dass kein Zugang zu erinnerbarem Wohlbefinden vorhanden ist. Im nonverbalen
Ausdrucksverhalten ist deutlich „musikalische Starrheit“ erkennbar.
394 T. Hillecke et al.
Phase II: Arbeit an den Variation musikalischer Aufgreifen und Variation der
Verringerung Symptomen und an Parameter in freier musikalischen Elemente des
der Symptome der gehemmten Improvisation Patienten im freien
Expressivität musikalischen Spiel ohne
Vorgaben
Stützende Improvisation Freies musikalisches Spiel zur
Erzeugung von verschiedenen
Gefühls- und Erlebensebenen
Tagtraumimprovisation Aktive musikalische
Umsetzung von im Gespräch
eruierte Wohlfühlbildern
Symptomimprovisation Inszenierung der Schmerz-
symptomatik und den damit
verbundenen Emotionen
Realitätsimprovisation Musikalisches Rollenspiel mit
problematischen Berufs- und
Alltagssituationen
Musikalische Musikalisches Rollenspiel mit
Symbolisation des schmerzauslösenden
sozialen Umfelds Familien- und Schulsituationen
Legende: kursiv: Ergänzung für Kindertherapien für Kinder mit Migräne; unterstrichen: Besonderheit
bei Patienten mit malignen Schmerzen
Aktive Musiktherapie in der Schmerztherapie 395
In der ersten Behandlungsphase spricht die Patientin gut auf die Entspan-
nungsübungen an. Die Patientin beschreibt ihre Empfindungen mit den Worten:
„Durch die Musik werden meine Gefühle aus dem Innersten meines Körpers
hervorgelockt. Die Musik dringt ganz tief ein, löst aber auch meine Spannungen
auf. Weinen tut mir gut und befreit. Meine Schmerzen sind jedes Mal geringer.“
In der zweiten Behandlungsphase steht die emotionale Bearbeitung der
Schmerzen im Vordergrund. Schmerzen lösen bei der Patientin Gefühle von
Trauer und Wut aus. Traurigkeit und damit verbunden Weinen beschreibt sie als
Erleichterung, die mit einer Verringerung der Schmerzen einhergeht. Der Um-
gang mit Wut fällt ihr sehr schwer. Die Patientin ordnet ihrer Traurigkeit das Vib-
raphon und ihrer Wut die Pauke zu. In mehreren aufeinander folgenden Sym-
ptomimprovisationen gelingt es der Patientin, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen
und diese für sie negative Emotion als positiv und kraftvoll zu entdecken.
In Realitätsimprovisationen übt die Patientin in der dritten und letzten Be-
handlungsphase Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz (Chef). Sie berichtet,
dass es ihr zunehmend leichter falle, sich dort zu behaupten. Mit negativen Emo-
tionen und Erlebensweisen wie Wut oder Stress kann sie jetzt adäquater umge-
hen. Der Zusammenhang zwischen ihrem Schmerz und ihren Emotionen wurde
ihr durch die Therapie bewusst. Nach Beendigung der musiktherapeutischen Be-
handlung konnte eine ausreichende Reduktion der Schmerzstärke von VAS 50 %
auf 30 % erreicht werden. Im Bereich des affektiven Schmerzempfindens konnte
eine klinisch bedeutsame Verringerung erreicht werden.
Kindliche Migräne
K., ein elf Jahre alter Junge, leidet seit dem vierten Lebensjahr an starken Migrä-
neanfällen. Diese treten acht Mal im Monat auf und schränken ihn vor allem in
der Schule ein. Er ist sehr darauf bedacht, bei anderen Menschen einen guten
Eindruck zu hinterlassen. In den musikalischen Parametern „Lautstärke“ und
„Tempo“ zeigt sich der Junge erstarrt.
Auf die in der ersten Behandlungsphase angebotenen rezeptiv-musikalischen
Phantasiereisen kann er sich sehr gut einlassen. Große Freude bereitet ihm das
Singen seiner Lieblingslieder unterstützt durch Bodyperkussion.
Im Rahmen der Variation musikalischer Parameter zur emotionalen Flexibili-
sierung tritt in der zweiten Behandlungsphase sein ausgeprägtes soziales Norm-
und Regelverhalten in den Fokus. Er ist sehr darauf bedacht, eine Improvisation
„gut“ zu gestalten und vermeintlichen Erwartungen des Therapeuten gerecht zu
werden. Der Kopfschmerz wird in einer Symptomimprovisation musikalisch dar-
gestellt. K. teilt dem Schmerz das Becken zu. Der „Schmerz“ wird von ihm ge-
spielt, während der Therapeut ihm musikalisch etwas am Klavier „entgegen-
setzt“. Dem Jungen gelingt es, das schmerzhafte Körpergeschehen durch die
Musik greifbar zu machen. In darauf folgenden Stunden lernt er, emotional
problematische Situationen wie Streit in der Schule durch musikalische Rollen-
spiele in Realitätsimprovisationen zu inszenieren und alternative Umgangsfor-
men zu entwickeln.
396 T. Hillecke et al.
Maligne Schmerzen
Patientin S. ist 44 Jahre alt und verheiratet. Sie arbeitet als leitende Angestellte in
einer Ausbildungseinrichtung. Vor einem dreiviertel Jahr wurde bei ihr ein Tumor
in der linken Brust diagnostiziert. Sie wurde brusterhaltend operiert. Zum Zeit-
punkt des Beginns der Musiktherapie hat die Patientin die medizinische Akutbe-
handlung abgeschlossen. Die Stärke der Tumorschmerzen erreicht auf der visuel-
len Analogskala (VAS) einen Wert von 80 %. Ihre globale Lebensqualität erweist
sich als niedrig.
Die Patientin möchte beruflich kürzer treten, dies fällt ihr aber sehr schwer.
Ihre Wochenendbeziehung beschreibt sie als sehr gut. Die Schmerzen schildert
sie als Kribbeln im Oberkörper, in den Händen und Füßen. Das Kribbeln ist ver-
bunden mit einer ständigen Unruhe und einem ständigen inneren Druckgefühl.
In der musiktherapeutischen Anamnese zeigt sich, dass die Patientin sich mit der
rezeptiven Übung schwer tut. Eine aktive Übung am Vibraphon, begleitet vom
Therapeuten am Klavier, macht ihr sehr viel Spaß und Freude.
Der Patientin gelingt es nur schwer sich in der ersten Behandlungsphase auf
die (aktiven) Entspannungsübungen einzulassen. Während des Musikhörens
kann sie für einen Augenblick die Schmerzen vergessen, aber ihre Gefühle der
Unruhe und des „inneren Drucks“ sind ständig vorhanden.
In der zweiten Behandlungsphase lernt die Patientin vor allem mit Hilfe von
stützenden Improvisationen und Symptomimprovisationen mit ihren Schmer-
zen, ihrer Unruhe und ihrem inneren Druck besser umzugehen.
In der letzten Behandlungsphase lernt sie in Realitätsimprovisationen locke-
rer und souveräner mit beruflichen Belastungen umzugehen. Zum Schluss der
Therapie wird das bisher Erreichte noch einmal reflektiert und in einem musi-
kalischen Selbstporträt wiederholt, in dem die Patientin eigene Stärken und
Schwächen klanglich darstellt. Vor allem die Integration der Gefühle von Unruhe
und Druck in ihre neue Lebensphilosophie „alles etwas lockerer anzugehen“,
war für die Patientin bedeutsam. Nach Beendigung verringerten sich die Tumor-
schmerzen von VAS 80 % auf 20 %. Weiter konnte eine klinisch bedeutsame Ver-
besserung der globalen Lebensqualität erreicht werden.
Aktive Musiktherapie in der Schmerztherapie 397
Zusammenfassung
Praxis. Musiktherapie stellt über die berichteten Ergebnisse hinaus eine wichtige
Ergänzung und Alternative für andere schmerztherapeutische Maßnahmen dar,
indem sie bei Patienten ein Bewusstsein für ihre künstlerisch-kreativen Fähigkei-
ten weckt. Damit ist sie als besonders patientenorientierte Behandlungsmethode
ein wertvoller Beitrag zur interdisziplinären Versorgung von Patienten, die unter
chronischen Schmerzen leiden.
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Revision
Moderne Aromapflege
Einleitung
Die Aromapflege folgt den Prinzipien der Naturheilkunde. Sie will die Lebens-
kraft und Selbstheilungskräfte des Menschen wecken und stärken. Die ätheri-
schen Öle haben tiefe Wirkung auf unser psychisches Gleichgewicht. Sie bewir-
ken eine seelische Umstimmung, regulieren aus der Balance Geratenes und
entziehen einer Krankheit den eigentlichen Nährboden. Sie wirken gleicherma-
ßen auf den Körper und die Seele, also im ganzheitlichen Sinne.
Die meist durch Wasserdampfdestillation gewonnenen ätherischen Öle besit-
zen einzigartige Eigenschaften, aus denen sich ihre duale Wirkungsweise und die
verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten ergeben. Durch ihre unmittelbare
Wirkung auf Zentren im Gehirn und von dort aus auf Steuermechanismen regu-
lieren sie psychische und physische Vorgänge, wie zum Beispiel einerseits Erinne-
rungen, Gedächtnis, Motivation, Stimmungen, Kreativität und andererseits über
das unwillkürliche vegetative Nervensystem vielfältige Organ- und Stoffwechsel-
funktionen. Ergänzend zu diesem Wirkprinzip über das Riechen der Duftstoffe
entfaltet das „Vielstoffgemisch“ des ätherischen Öles seine starken, aber ausge-
wogenen Wirkungen durch seine reichhaltigen Inhaltsstoffe, die zum Beispiel
402 W. Steflitsch und M. Steflitsch
Aromatologische Anamnese
Bei alten, oftmals mehrfach kranken Menschen sind mehrere Faktoren bei der
Auswahl, Dosierung und Anwendungsform ätherischer Öle zu berücksichtigen.
– Medikation
– Langzeitmedikation mit chemisch-pharmazeutischen Produkten
– Anwendung medizinischer Salben, welche vorwiegend auf Mineralölbasis
hergestellt sind, können zu Kontaktallergien führen (vorgeschädigte Haut re-
agiert anders als gesunde)
– Stoffwechsellage
– Grunderkrankungen
– Nahrungsaufnahme und Ausscheidung
– Lebensgewohnheiten
– Regelmäßigkeit
– Kreislaufsituation
– Blutdruck
– Durchblutung
– Zustand der Haut
– Exsikkose
– Langes Liegen
– Pflegemittel
– Psychische Verfassung
– Konstitution
– Alter
– Körpergewicht
– Trägere Reaktionsbereitschaft des betagten Menschen
– Soziales Umfeld
404 W. Steflitsch und M. Steflitsch
Die vielfältigen Ursachen von Übelkeit und Erbrechen liegen meist im gastroin-
testinalen, zentralnervösen oder metabolischen Bereich. Oft sind auch Arznei-
mittel für diese Beschwerden verantwortlich, zum Beispiel Antibiotika oder
Zytostatika. Obwohl die konventionellen Antiemetika wie Metoclopramid und
Serotonin-Antagonisten wie Tropisetron oder Ondansetron gut wirksam sind,
sprechen Nebenwirkungsprofil und Kosteneffizienz doch für die alleinige oder
ergänzende Anwendung von ätherischen Ölen zur Vorbeugung und Behandlung
von Übelkeit und Erbrechen.
Die mit Erbrechen verbundene Übelkeit lässt sich oft durch eine sanfte Mas-
sage des Magens oder eine warme Kompresse auf dem Oberbauch eindämmen.
Die dazu geeigneten Öle sind deutsche Kamille, Lavendel, Zitrone und Pfeffer-
minze. Wenn das Erbrechen mit Kälteschauern verbunden ist, sollte man ein
Wärme erzeugendes Öl wie schwarzen Pfeffer oder Majoran verwenden. Hängt
das Unwohlsein mit emotionaler Aufregung zusammen, können insbesondere
Kamille oder Lavendel empfohlen werden.
Blähungen (Meteorismus)
Jedes der als karminativ beschriebenen ätherischen Öle kann Gase aus dem Ver-
dauungssystem vertreiben und die damit verbundenen Beschwerden lindern. Die
Öle werden mit einer Trägersubstanz im Uhrzeigersinn in den Bauch einmassiert.
406 W. Steflitsch und M. Steflitsch
Durchfall (Diarrhö)
Ätherische Öle sind bei Diarrhö vielfältig einsetzbar. Einige beruhigen die
Darmwände, andere entkrampfen die Muskulatur des Verdauungstraktes, wieder
andere besitzen adstringierende Eigenschaften oder beeinflussen das Nerven-
system. Einige ätherische Öle besitzen alle diese unterschiedlichen Eigenschaften.
Stark krampflösende Öle: Eukalyptus, Deutsche Kamille, Lavendel, Neroli,
Pfefferminze, Zypresse
Starkes antivirales Öl: Eukalyptus, Melisse, Ravintsara, Teebaum
Lebensmittelallergie: Deutsche Kamille
Wärmende und karminative Öle: Benzoe, Ingwer, Fenchel, Schwarzer Pfeffer
Angst- und Stress-lösende Öle: Römische Kamille, Lavendel, Neroli
Bei Diarrhöen müssen Wasser- und Elektrolytverluste rasch ersetzt werden.
Schwere und chronische Durchfallserkrankungen sollten unbedingt diagnostisch
abgeklärt werden.
Verstopfung (Obstipation)
Die wirkungsvollste Anwendung bei Verstopfung ist eine im Uhrzeigersinn aus-
geführte Bauchmassage, die der Patient bei entsprechender Anleitung auch leicht
selbst zu Hause vornehmen kann. Diese Maßnahme kann durch den Einsatz von
ätherischen Ölen, wie Majoran, Rosmarin, Fenchel und Schwarzen Pfeffer, ver-
stärkt werden. Die Ernährung sollte auf unraffinierte Kohlenhydrate, rohes Ge-
müse und Obst, ballaststoffreiche Nahrungsmittel sowie auf viel Wasser, Frucht-
saft und Kräutertees umgestellt werden.
Angstzustände
Auf Patienten in Überwachungs- und Intensivstationen kommen oft zahlreiche
belastende und mitunter schmerzhafte invasive diagnostische und therapeuti-
sche Interventionen zu. Beispiele dafür sind Thoraxröntgen, Computertomogra-
phie, Sonographie, Koronarangiographie, Bronchoskopie, Gastroskopie oder di-
verse Punktionen, wie zum Beispiel die Drainage eines Pleuraergusses oder
Aszites. Nicht alle Eingriffe können bei ausreichender Tiefe der Sedoanalgesie
durchgeführt werden, sondern betreffen oftmals auch Patienten in wachem oder
somnolentem Bewusstseinszustand. Die Ankündigung und Durchführung dieser
Interventionen sowie die eigene Hilflosigkeit erzeugen Angst und Stress.
Moderne Aromapflege 407
Angenehme Düfte und sanfte Berührung können viele Barrieren überwinden. Sie
können Barrieren zwischen dem Betreuungsteam und dem Patienten ebenso
verschwinden lassen wie zwischen den Lebensphasen mit dem Ziel der Akzep-
tanz der Krankheit und des nahenden Todes. Über die Berührung der Haut und
über die Empfindung von angenehmen Düften können viele palliativ betreute
Menschen auf einer niedrigeren Ebene kommunizieren, die sich in diesem Le-
bensabschnitt oft als besonders wertvoll herauskristallisiert.
Die Aromapflege ist dabei nicht selten der Katalysator für einen mitfühlenden
Dialog unter Familienmitgliedern. Die Anwendung ätherischer Öle kann kom-
plementär im Management des individuellen Beschwerdebildes, zum Beispiel
zur Behandlung von Schmerzen und Übelkeit, eingesetzt werden. Die größte
Stärke der Aromatherapie im Rahmen der palliativen Betreuung liegt aber in
ihrer Fähigkeit, die Kommunikation auf einer emotionalen und spirituellen
Moderne Aromapflege 409
Ebene zu erleichtern und das Gefühl von Wohlbefinden, Frieden und Freude zu
vermitteln.
Dem Patienten sollte eine Selektion ätherischer Öle angeboten werden. Die
Auswahl trifft der Patient selbst. Bei trauriger Stimmung eignen sich ätherische
Öle mit sanften antidepressiven Eigenschaften, zum Beispiel Citrus bergamia
und Boswellia carterii. Im Vordergrund sollte aber eine ästhetische Aromapflege
stehen, die den Patienten in ganzheitlichem Sinne erfasst und sich nicht auf spe-
zielle Problembereiche konzentriert.
Phase 2: Zorn
Seinen Zorn zeigt der Bewohner in unzufriedenem, oft aggressivem und wüten-
dem Verhalten; häufig befindet er sich in einem Zustand der Orientierungslosig-
keit.
Diese Öle bieten sich an:
– Melisse (Melissa officinalis L.): wirkt ausgleichend, mildert Emotionen, löst
Wut und Ärger auf, wirkt stärkend.
– Sandelholz (Santalum album): hilft, Aggressionen abzubauen.
– Lavendel (Lavandula alternifolia): wirkt ausgleichend bei Reizbarkeit, beruhi-
gend, aufbauend.
– Bergamotte (Citrus aurantium var. bergamia): wirkt regulierend bei Gefühls-
schwankungen, nervöser Anspannung, Angst.
Phase 3: Verhandeln
Diese Phase zeigt sich bei alten Menschen oft durch den Wunsch, Zyklen abzu-
schließen, und durch Sätze wie: „Einmal möchte ich noch …“
In dieser Phase sind Mobilisierung der Eigenkräfte, Motivation und Aktivie-
rung notwendig, wobei es wichtig ist, dem Sterbenden keine falschen Hoffnun-
gen zu machen. In dieser Zeit reißen auch alte Wunden wieder auf und manche
Enttäuschung wird noch einmal erlebt.
Diese Öle bieten sich an:
– Estragon (Artemisia dracunculus): stärkt die psychische Widerstandskraft, wirkt
ausgleichend (Emotion/Verstand).
– Zeder (Cedrus atlantica): wirkt stärkend und aufbauend.
– Zitrone (Citrus limon): erfrischt den Geist, fördert die Konzentration.
– Petit Grain (Citrus reticulata): hilft bei Enttäuschung und Trauer.
Da in dieser Phase oft sehr schwierige Gespräche stattfinden, hat sich folgende
Mischung für die Duftlampe sehr bewährt:
5 Tropfen Zeder (Cedrus atlantica)
3 Tropfen Lavendel (Lavandula angustifolia)
3 Tropfen Sandelholz (Santalum album)
3 Tropfen Grapefruit (Citrus paradisi)
1 Tropfen Ylang Ylang (Cananga odorata)
Phase 4: Depression
In dieser Phase gilt es, den Rückzug des Bewohners zu akzeptieren. Ruhe ist sehr
wichtig!
Diese Öle bieten sich an:
– Lavendel (Lavandula angustifolia): wirkt beruhigend und ausgleichend.
Moderne Aromapflege 411
Phase 5: Zustimmung
Der Sterbende nimmt sein Sterben an und stimmt zu. Jetzt sind Geborgenheit,
Wohlgefühl und Ruhe das Wichtigste.
Diese Öle bieten sich an:
– Zimt (Cinnamomum verum syn. Cinnamomum ceylanicum): warmer Duft, wirkt
einhüllend, löst Verspannungen und Angst.
– Rose (Rosa damascena): lehrt Liebe und Geduld, wirkt harmonisierend, ver-
söhnend.
– Benzoe (Styrax tonkinensis): vermittelt Geborgenheit, wirkt wohltuend, beruhi-
gend, ausgleichend.
– Zeder (Cedrus atlantica Manet): wirkt tröstend, wärmend, beruhigend.
– Dies ist nur eine kleine Auswahl der genutzten ätherischen Öle; das Bedürf-
nis des Sterbenden bestimmt ihre Auswahl und ihre Anwendung.
Ausgewählte Aromapflege-Anwendungen
(Haller und das Pflegeteam der onkologischen Abteilung 2007)
Mundpflege bei moribunden Patienten:
500 ml Aqua bidest. + 1 ml Alkohol 70 % + 1 Tropfen Zitrone + 2 Tropfen
Cajeput
Fieber senkende Mischung:
1 Tropfen Pfefferminze + 1 Tropfen Zitrone + 1 ml Alkohol 70 % oder 2 EL Essig
oder 2 EL Milch + mit lauwarmem Wasser gefüllte Waschschüssel, „Wickel-
tücher“ auflegen.
412 W. Steflitsch und M. Steflitsch
Kopfschmerzen/Übelkeit:
1 Tropfen Pfefferminze + 1 Tropfen Lavendel fein + 1 ml Olivenöl auf Stirn,
Schläfen, Nacken und über dem Solarplexus einreiben
„Bodylotion“ (Ganzkörperöl) zur Stärkung des Immunsystems (nach dem Duschen in
die noch feuchte Haut einzumassieren):
1 Tropfen Teebaum + 1 Tropfen Manuka + 1 Tropfen Lavendel fein + 10 ml
Olivenöl
„Wohlfühl-Waschung“
1 Tropfen Rosmarin + 1 Tropfen Lavendel fein + 1 Tropfen Eucalyptus radiata +
1 Tropfen Thymian Ct. Geraniol in das Waschwasser
„Harmonisierende Loslass-Mischung“ (Stirn, Schläfen, Handflächen, Fußsohlen,
Solarplexus):
1 Tropfen Rose 100 % + 2 Tropfen Sandelholz + 2 Tropfen Orange + 3 ml
Olivenöl
Exulzerierende Wunden:
Reinigung mit Rosen-, Rosmarin-, Myrten- oder Teebaumhydrolat (oder Ringer-
lösung bzw. physiologischer Kochsalzlösung), Jelonet Fettgaze über das gesamte
Wundareal, großzügige Befeuchtung der Fettgaze mit einer Mischung aus 1 Trop-
fen Deutsche Kamille + 1 Tropfen Basilikum + 1 Tropfen Rosmarin + 2 Tropfen
Orange oder Bergamotte + 2 Tropfen Lavendel fein oder Palmarosa + 2 Tropfen
Teebaum + 1 Tropfen Manuka + 30 ml Olivenöl, darüber Vliwin, Fixierung mit
Schlauchmull oder Netzschlauchverband
Modifikation: zusätzlich 1 Tropfen Orange bei Depression; 1 Tropfen Pfeffer-
minze zur Kühlung bzw. besseren Schmerzstillung; Thymian Ct. Geraniol anstatt
Teebaum; Lemongrass statt Orange oder Palmarosa
Hautpflege
Einreibung der gefährdeten Hautareale mit hautpflegendem Körperöl oder mit
der Wohlfühlmischung nach dem Waschen oder Baden und vor dem Zubettge-
hen.
Hautpflegendes Körperöl
5 Tropfen Lavendel (Lavandula angustifolia)
5 Tropfen Zeder (Cedrus atlantica Manet)
4 Tropfen Geranie (Pelargonium graveolens)
1 Tropfen Rosmarin (Rosmarinus officinalis Ct. 1,8-Cineol)
auf 50 ml Basisöl (40 ml Mandelöl und 10 ml Weizenkeimöl)
Wohlfühlmischung:
4 Tropfen Zeder (Cedrus atlantica Manet)
6 Tropfen Lavendel fein (Lavandula angustifolia)
5 Tropfen Orange süß (Citrus sinensis)
auf 50 ml Basisöl (40 ml Mandelöl und 10 ml Weizenkeimöl)
Moderne Aromapflege 413
Literatur
Buchmeyr B, Deutsch E, Fink M (2007) Aromapflege Handbuch. Verlag Grasl
Buckle J (2004) Clinical aromatherapy – essential oils in practice, 2nd edn. Churchill Livingstone
Fischer-Rizzi S (2002) Himmlische Düfte – Aromatherapie, Anwendung wohlriechender Pflan-
zenessenzen und ihre Wirkung auf Körper und Seele. AT Verlag, Aarau
Frühsammer R (2005) Abschied – der Weg zu einem neuen Anfang. Magazin FORUM für
Aromatherapie und Aromapflege, Leoding, Österreich
Haller E und das Pflegeteam der onkologischen Abteilung (2007) Wilhelminenspital der Stadt
Wien, Österreich
Kralik G (2005) Sterbebegleitung mit ätherischen Ölen. Magazin FORUM für Aromatherapie
und Aromapflege 27/2005, Speyer, BRD
Werner M, von Braunschweig R (2006) Praxis Aromatherapie: Grundlagen – Steckbriefe – Indi-
kationen. Karl F. Haug Verlag
B. BUCHMAYR
Was bei den Chinesen die traditionelle chinesische Medizin und das Ayurveda
für die Inder, ist im deutschsprachigen Raum u. a. das Therapiekonzept nach
Kneipp mit den fünf Säulen (Hydrotherapie, Bewegungstherapie, Ernährung,
Pflanzenheilkunde und Ordnungstherapie). Diese komplementären Pflegemaß-
nahmen mit Wickel und Kompressen für die Heilpflanzen, fette Pflanzenöle und
ätherische Öle verwendet werden, sind seit Jahrhunderten in unseren Breiten für
ein ganzheitliches Konzept der europäischen Volksheilkunde als „Hausmittel“
bekannt.
Es hat sich gezeigt, dass Patienten, die der komplementären Pflege allgemein
positiv gegenüberstehen, auch im Fall von Schmerzen und Ängsten dafür zu-
gänglich sind. Das hat sowohl mit der Wirkung der Methoden selbst als auch
damit zu tun, dass natürliche Maßnahmen dazu beitragen, dass der Patient sich
ernst genommen fühlt, Vertrauen fasst und das pflegerische Handeln als kompe-
tent und unterstützend wahrnimmt.
Wickel und Kompressen wirken nicht nur lokal, sondern allgemein auf die
physische und psychische Befindlichkeit des Patienten. Wickel können bei Er-
wachsenen, schwer und schwerst Kranken oder sterbenden Patienten und bei
großer Sorgfalt und unter Beachtung der Aufsichtspflicht auch bei Säuglingen
und Kleinkindern angewendet werden – wobei das genaue Wissen um Wirkung,
Indikationen und Kontraindikationen dafür unerlässlich ist.
Wickel unterstützen den Körper im Umgang mit Stress, Unwohlsein und
Krankheit und können Schmerzen lindern. Ihre Anwendung sorgt zugleich auch
dafür, dass der Organismus während einer Krankheit – über die Dauer der An-
wendung hinaus – zur Ruhe kommt. Durch das Einhüllen geben die Wickel ein
Gefühl von „Gehalten-Werden“, daher sind sie für Kleine und Große, für Jung
und Alt geeignet!
Wichtige Regel: Stets nur ein Wickel zu einem Zeitpunkt!
Bei der Auswahl des Wickels sollen Grunderkrankungen sowie chronische
Erkrankungen mitbedacht werden, um die richtige Wahl bei Temperatur bzw. Wi-
ckelzusatz zu treffen.
416 B. Buchmayr
Wickelzusätze, die der Patient nicht mag, die er z. B. nicht riechen kann, soll-
ten auch nicht verwendet werden (Sympathie oder Antipathie).
Die Wickelzeit richtet sich grundsätzlich nach den Wickelzusätzen bzw. wie
lange es für den Patienten angenehm ist. Die der Anwendung eines Wickels fol-
gende so genannte Nachruhe ist unbedingt einzuhalten. Wird der Wickel am
Abend gemacht, dann ist der Schlaf die Nachruhe!
Bei Patienten mit akuten oder chronischen Schmerzen ist unbedingt auf die
Krankheit selbst und das Stadium der Erkrankung zu achten, aber auch ganz be-
sonders auf das eigene Gespür und die Reaktion des Patienten, sein Wohlbefin-
den, seine Sympathie oder Antipathie die Anwendung betreffend.
Die Anwendung von Wickeln und Kompressen im Zusammenhang mit
Schmerz führt zur Schmerzlinderung, zur Linderung möglicher Nebenwirkun-
gen von Schmerzmedikamenten wie Übelkeit, Verdauungsproblemen, Hautreak-
tionen, depressiven Verstimmungen etc., zu einer verbesserten Tätigkeit der Le-
ber und aller anderen Organe, zur Entzündungshemmung, zur Verbesserung der
Mobilität und insgesamt zu einer höheren Lebensqualität.
Kartoffelwickel
Als wohl wichtigster Vertreter ist der Kartoffelwickel zu nennen, der hier näher
vorgestellt werden soll. Der Kartoffelwickel wird auch als „Bauernfango“ be-
zeichnet: ein wunderbarer, heiß-feuchter, lang anhaltender Wärmespender mit
besonderer Tiefenwirkung.
Wickel und Kompressen 417
Indikationen
Verspannungen und Schmerzen im Nacken, Schulter, Wirbelsäule u. Ä.; Kopf-
schmerzen auf Grund von Verspannung, Bronchitis, Halsschmerzen, chronischen
Gelenksbeschwerden; Bauchschmerzen, Blähungen, Menstruationsbeschwerden
(jedoch Vorsicht bei unklaren Bauchschmerzen!), Einschlafstörungen (auf Solar-
plexus), Harnwegsinfekte, zur Unterstützung und Entgiftung der Leber als Leber-
wickel.
Zubereitung
Abb. 1. Kartoffelwickel
Abb. 2. Kartoffelwickel.
Gekochte Kartoffeln auf ein
Baumwolltuch und in
Küchenkrepp einschlagen
Abb. 3. Kartoffelwickel.
Tuch zusammenlegen und die
Kartoffeln zerdrücken
418 B. Buchmayr
Abb. 4. Kartoffelwickel.
Temperaturkontrolle am
Unterarm und Patienten
greifen lassen
Abb. 5. Kartoffelwickel.
Die Seite mit nur einem
Stoffteil auf die entsprechende
Körperstelle auflegen
Ist der Wickel dem Patienten zu heiß: abnehmen, auskühlen lassen und noch-
mals neu anlegen.
Mit einem Zwischentuch aus Baumwolle und dem Außentuch aus Baumwol-
le, Molton oder Wolltuch befestigen.
Kontraindikationen
Bluthochdruck- oder Herzpatienten, Diabetiker, Frauen im Klimakterium, ältere
Patienten mit der Gefahr von inneren Blutungen durch Gerinnungsmedikamen-
te, verwirrte oder gelähmte Menschen, Intensivpatienten, Säuglinge und Klein-
kinder.
Besondere Vorsicht ist geboten bei jeglicher Art von unklaren Symptomen,
nach Operationen und bei Fieber.
Wickel und Kompressen 419
Kühle/kalte Wickel
Wickel finden vor allem bei akuten Entzündungen aller Art Anwendung. Allge-
mein gilt für sie die Regel: Die Anwendung ist nur erlaubt bei einem warmen
Körper bzw. Körperteil!
Wickelzusätze: Topfen/Quark, Eiskompressen sowie fiebersenkende Maß-
nahmen.
Wirkung
Kühlend, fiebersenkend, schmerzlindernd, abschwellend und entzündungs-
hemmend, Drosselung der Funktion schmerzempfindlicher Nerven, Begrenzung
von Schwellung. Bei unsachgemäßem Umgang kann eine Gewebeschädigung
durch Unterkühlung entstehen.
Topfenwickel
Magertopfen guter Qualität ist ausreichend. Immer in ein Baumwolltuch einpa-
cken, nie pur auf die Haut auflegen; der Topfen soll kühl, muss aber nicht direkt
aus dem Kühlschrank sein.
Indikationen
Akute Entzündungen, welche Gelenke und/oder Sehnen betreffen, rheumatische
Beschwerden, Halsschmerzen (den Topfen nur von Ohr zu Ohr anlegen, ansons-
ten Gefahr der Neuralgie!), Phlebitis und Thrombophlebitis, Prellungen, Verstau-
chungen, Haematome, Insektenstiche, Mastitis.
Anwendung
bis zu einer halben Stunde bzw. bis der Topfen bröckelig oder warm geworden
ist. Die Anwendung kann bei Bedarf bis zu ca. 3-mal wiederholt werden.
Hinweis! Der kühle Wickel ist für Kinder meist nicht angenehm, doch denken
Sie daran, dass er manchmal unerlässlich ist.
Temperierte Wickel
Eine sehr schnell vorzubereitende, duftende und fein wirksame Wickelanwen-
dung ist die temperierte Ölkompresse.
Wirkung
Die milde Wärme der tierischen Fette oder fetten Pflanzenöle und die ätheri-
schen Öle wirken mild durchblutungsanregend, schmerzlindernd, schleimlösend
und entzündungshemmend.
420 B. Buchmayr
Bei der temperierten Ölkompresse kommt ein Wärmeimpuls von außen, der
die ganze Nacht erhalten bleibt. Die verwendete Roh-/Heilwolle (einmal gewa-
schene Schafwolle) unterstützt die Wärme durch das Wollfett/Lanolin; der Wickel
produziert eine eigene Wärme, welche von Patienten als angenehmer empfun-
den wird als beispielsweise der Kartoffelwickel, bei dem der Körper die Wärme
nicht selbst erzeugt, sondern durch Zufuhr von Wärme von außen unterstützt
wird.
Wickelzusätze wie früher (aber auch heute noch) Schweineschmalz, Butter
oder andere tierische Fette wirken wärmend; Olivenöl leicht durchblutungsanre-
gend und wärmend, Sesamöl entgiftend, Johanniskrautöl/Mazerat schmerzlin-
dernd.
Zubereitung
Abb. 6. Temperierte
Ölkompresse. Vorbereitung:
2 Baumwollwindel/
Geschirrtücher,
Wärmeflasche, Rohwolle
in Baumwolle gehüllt und
Pflanzenöl
Abb. 7. Temperierte
Ölkompresse. Fettes
Pflanzenöl eventuell mit
Zusätzen von ätherischen
Ölen auf ein dreifach
zusammengefaltetes
Baumwolltuch träufeln
Wickel und Kompressen 421
Abb. 8. Temperierte
Ölkompresse.
Ins Plastiksäckchen geben, mit
Wärmflasche,
Baumwolltuch und
Rohwollkissen anwärmen
Indikationen
Vor allem für Säuglinge und Kleinkinder, für Schwerkranke und ältere Menschen
geeignet und für alle jene, die von Schmerzen auch psychisch sehr mitgenom-
men werden.
Studien über Schmerzpatienten führen immer wieder die hohe Rate der De-
pressionen als Begleiterkrankung an, daher sind vor allem ätherische Öle eine
duftende und wirksame Unterstützung!
422 B. Buchmayr
Hautreizende Wickel
Kontraindikation
bei empfindlicher Haut, bei Schwerstkranken, Säuglingen und Kleinkindern so-
wie bei allen Patienten, die uns keine Rückmeldungen geben können!
Diese Wickelzusätze kommen vor allem bei sehr verspannter und schmer-
zender Muskulatur zur Anwendung, ebenso bei Nasennebenhöhlenentzündung.
Fußbad
Das Fußbad ist eine ausgezeichnete Alternative für Patienten, die kein Vollbad
nehmen können. Fußbäder sind inzwischen fester Bestandteil in manchem Kli-
nikalltag. Sie bewirken verbesserten Schlaf, warme Füße und damit leichteres,
gutes Einschlafen sowie Schmerzreduktion.
Zusätze
Meersalz: Menge je nach Person: Kind – 1 Kaffeelöffel, Erwachsener – bis zu
2 Esslöffel. Ätherische Öle als Zusatz: Lavendel fein-extra/Lavandula angustifolia,
Cajeput/Melaleuca leucadendra, Pfeffer schwarz und grün/Piper nigrum u. a., zum
Entspannen und um Schmerzen zu lindern; Bergamotte/Citrus bergamia, Angeli-
ka/Angelica archangelica, Melisse/Melissa officinalis, Palmarosa/Cymbogogon marti-
nii u. v. m., aufbauend und stärkend.
Ätherische Öle sind somit nach Symptomatik und Wirkung auszuwählen und
immer mit Milch, Schlagobers, Honig oder Salz zu emulgieren.
Nützliche Adressen
www.bärbl-buchmayr.com – Fort- und Weiterbildungen zum Thema: komple-
mentäre Pflege, Wickel und Kompressen, Heilpflanzen, Aromapflege
www.oegkv.at/ Österreichischer Gesundheits- und Krankenpflegeverband
x Weiterbildung zur Aromapflege – Landesverband Steiermark
x Weiterbildung komplementäre Pflege – Landesverband Tirol
www.wickel.biz
www.linum-schule.de – Ausbildung zur Wickelfachfrau
Literatur
Buchmayr B, et al (2007) Aromapflegehandbuch. Grasl, Bad Vöslau
Bühring U (2009) Praxis-Lehrbuch der modernen Heilpflanzenkunde. Grundlagen – Anwen-
dung – Therapie, 2. Aufl. Sonntag, Stuttgart
Bühring U (2008 ) Heilpflanzen in der Kinderheilkunde. Das Praxis-Lehrbuch. Sonntag, Stutt-
gart
Sonn A, et al (2004) Pflegethema: Wickel und Auflagen, m. CD-Rom. Thieme, Stuttgart
Thüler M (2003) Wohltuende Wickel. Wickel und Kompressen in der Kranken- und Gesund-
heitspflege. Eigenverlag
Uhlemayr U (2001) Wickel und Co. Bärenstarke Hausmittel für Kinder. Urs, Dietikon-Zürich
von Braunschweig R (2007) Pflanzenöle, Qualität, Anwendung und Wirkung. Stadelmann,
Wiggensbach
Werner M, von Braunschweig R (2005) Praxis Aromatherapie. Grundlagen, Steckbriefe, Indika-
tionen. Haug, Stuttgart
Zeh K (2008) Handbuch ätherische Öle. Joy, Oy-Mittelberg
Revision
R. M. BACHMANN
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie
R. M. Bachmann
Einleitung
Bewegungstherapie
Passive (Muskelmassage) reflektorische Beeinflussung innerer Organe (z. B.
BGM), aktivierende Mobilisation, Krankengymnastik, Atemgymnastik bis zu
sportlichen Betätigungen, vom Abendspaziergang bis zum Bewegungsbad,
Schwimmen.
426 R. M. Bachmann
Ordnungstherapie
Entspannungsmethoden wie Autogenes Training, Muskelrelaxation nach Jacob-
sen, Yoga, über gesundheitsmotivierende Vorträge bis zu zeitordnenden (chrono-
hygienischen) Anwendungsprinzipien sowie Psychohygiene.
Ernährungstherapie
Zeitgemäße vollwertige Ernährung in schonender Zubereitung auf ovolaktove-
getabiler Basis, herzentlastende Tage (Kartoffel) usw.
Diese Methoden sind meist mit den vorhandenen Strukturen (Einrichtungen
sowie personell) umsetzbar und bei folgenden Erkrankungen/Hauptindikationen
anwendbar:
– Stoffwechselkrankheiten (Diabetes, Gicht, Hypercholesterinämie)
– Erkrankungen der Verdauungsorgane (z. B. Obstipation, Reizmagen, Reiz-
darm)
– rheumatische Erkrankungen (degenerativ und entzündlich)
– Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (Hypotonie, Hypertonie, „Alters-
herz“)
– Hautkrankheiten (Atrophie, Ekzeme, Pruritus)
– Erkrankungen des Nervensystems (Kopfschmerz, Migräne)
– Erkrankungen der Atmungsorgane (Emphysembronchitis, Asthma bronchia-
le)
– Allergische Erkrankungen (Neurodermitis, Astma)
– Durchblutungsstörungen arteriell und venös, Lymphsystem
In der Geriatrie verdienen die Naturheilverfahren besondere Beachtung we-
gen ihrer medikamentensparenden Effekte (Nebenwirkungsproblematik), insbe-
sondere bei Vielfacherkrankungen.
Naturheilverfahren
Definition und Anwendung
Naturheilverfahren sind Teil der Gesamtmedizin, d. h., Schulmedizin und Natur-
heilverfahren konkurrieren nicht miteinander, sondern ergänzen sich. Sie sollen
vorwiegend in Form der so genannten klassischen Naturheilverfahren (natürli-
che Reize wie Luft, Licht, Ernährung/Fasten, Bewegung, Massage etc.) ange-
wandt werden und Körper, Geist und Seele zu positiven, heilenden, ordnenden
trophotropen Reaktionen veranlassen. Hieraus ergibt sich, dass sie in erster Linie
im Bereich der Prävention (Erstprävention = z. B. „Abhärtung“, Infektions-
prophylaxe; Zweit- und Drittprävention, also Rezidivprophylaxe) und Rehabilita-
tion eingesetzt werden. Aber auch in der Kurativmedizin finden sie Anwendung
(z. B. Wadenwickel bei fieberhaften akuten Infektionskrankheiten, warmes Sitz-
bad bei Infekten der ableitenden Harnwege). Hinzu kommen Heilverfahren wie
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 427
Indikationen
Alle durch die Lebensführung, insbesondere auch durch Bewegung und Er-
nährung beeinflussbaren Erkrankungen: Zahnerkrankungen mit Parodontose-
neigung, Risikostatus (vor allem Fettstoffwechselstörungen), Diabetes mellitus,
Hyperurikämie, Gicht, Adipositas, Obstipation (atonisch und spastisch), Hyper-
tonie, degenerative rheumatische Erkrankungen der Wirbelsäule und der großen
Gelenke, weichteilrheumatische Erkrankungen, chronische Bronchitis, Erschöp-
fungszustände, funktionelle Störungen aller vegetativ gesteuerten Organsysteme
einschließlich reaktiver Verstimmungszustände, Depressionen, Schlafstörungen,
arterielle Verschlusskrankheiten, chronische Kreislaufdysregulation (insbesondere
Hypotonie), entzündliche Gelenkerkrankungen bei bekannter Familienanam-
nese, Hepatopathien, Mangel- und Fehlernährungen, allergische Diathese, vor
Operationen.
Kontraindikationen
Kontraindiziert sind Naturheilverfahren bei Patienten mit reinem Anspruchs-
denken (Gesundheit als Kassenleistung), Passivität und fehlendem Leidensdruck
bzw. fehlendem eigenverantwortlichem Gesundheitsbewusstsein, da sie einer
naturheilkundlichen Behandlung nur schwer zugänglich sind. Weiterhin sind alle
substitutionsbedürftigen Zustände (z. B. Hypothyreosen, Insulin- und hormon-
pflichtige Zustände) auszuschließen, ebenso alle durch Operationen zu behan-
delnden Situationen sowie Notfälle, die mechanische, substitutionelle oder in-
tensivmedizinische Maßnahmen erfordern. Eine weitere Kontraindikation ist
mangelnder Informationsstand des Arztes und mangelnde Compliance des Pati-
enten sowie eine unklare Zielsetzung dessen, was mit der jeweiligen Methode
erreicht werden kann.
Physiotherapie
Physiotherapie ist Naturheilkunde im weitesten Sinne, wobei vorwiegend mit
natürlichen physikalischen Mitteln (physikalische Therapie) in erster Linie die
natürlichen Selbstheilungs- und Selbstordnungskräfte des Organismus ange-
sprochen werden. Herausragendes und umfassendstes Beispiel ist die Phy-
siotherapie nach Kneipp, die den Menschen als eine Einheit von Körper, Geist
und Seele behandelt und dazu neben den physikalischen Mitteln (Wasser und
Bewegung) auch die Ernährungs-, Phyto- und die Ordnungstherapie miteinbe-
zieht.
428 R. M. Bachmann
„Um gesund zu bleiben, muss sich der Mensch bewegen, schwitzen und soll das
Wasser in seiner mildesten Form gebrauchen." (Sebastian Kneipp)
Tabelle 1. Beispiele
Reiz Therapieform
Tabelle 2. Übersicht über Abgrenzung oder Ergänzbarkeit von Schulmedizin und Natur-
heilverfahren – Praxisrelevanz der Naturheilverfahren
Hydrotherapie
Definition
Hydrotherapie ist die Behandlung mit Wasser unter Ausnutzung seiner viel-
schichtigen Wirkung als Träger chemischer, mechanischer, elektrischer und ther-
mischer Reize. Die Hydrotherapie umfasst die Balneotherapie (z. B. Bäder mit
Peloidzusätzen, Kohlensäurebäder, Luftperl-/Luftsprudelbäder, Sauerstoffbäder,
Solebäder, Stangerbäder, subaquale Darmbäder, Inhalationstherapie, (Trinkku-
ren), die Prießnitz-Therapie, die Thalassotherapie, die Thermotherapie (unterteilt
in Kryotherapie und Wärmetherapie). Auch Sauna und richtiges Duschen (Wech-
selduschen) zählen dazu.
Besondere Bedeutung kommt der Hydrotherapie nach Kneipp mit ihren viel-
fältigen, sehr differenziert einzusetzenden Anwendungsmöglichkeiten zu. Sie hat
zudem den großen Vorteil, dass sie größtenteils mit einfachsten Mitteln und nach
einer Kur in einem Kneipp-Heilbad vom Patienten auch zu Hause weitergeführt
werden kann und somit von langanhaltender Wirkung und sehr kostengünstig
ist (Kneipp-Therapie).
Wirkung
Die Indikationen der Hydrotherapie sind sehr vielfaltig (s. u.). Ziel aller hydro-
therapeutischen Maßnahmen ist die Anregung der Selbstheilungs- und Selbst-
ordnungskräfte des Organismus, Verbesserung und Stabilisierung vegetativer,
hormoneller sowie immunologischer Vorgänge.
Balneotherapie Definition
Zur Balneotherapie zählt die Bädertherapie mit Wirkstoffzusätzen (Heilgase und
Peloide). Man unterscheidet natürliche Bäder und künstliche medizinische Bäder
als Ersatz der natürlichen. Außerdem gehören zur Balneotherapie Bäder/Teil-
bäder mit Pflanzenzusätzen und medizinische Bäder in Kombination mit weite-
ren Wirkkomponenten (hydroelektrische Bäder), ferner Trinkkuren und Inhala-
tionstherapie.
Wirkung
Die Bäder beeinflussen die Hydrostatik und wirken über die Temperatur (warme
Bäder: vagotonisierend, alkalisierend; kalte Bäder: sympathikoton, entzün-
dungshemmend, anregend). Zusätzlich erfolgt eine milde Kompression auf das
venöse und Lymphsystem (auch auf den Darm) im Behandlungsgebiet. Bei den
hydroelektrischen Bädern werden galvanische Ströme wirksam.
Bewegungsbad
Wirkung
Durch die Auftriebskraft des Wassers vermindert sich die statische Belastung auf
den Bewegungsapparat, wodurch bei Funktionseinschränkungen Bewegungen
leichter und mit weniger Schmerzen möglich sind. Positive Beeinflussung von
Bewegungsapparat, teilweise auch Kreislauf, Stoffwechsel und Vegetativum.
Indikationen
Funktionsstörungen des Bewegungsapparates bei chronisch-rheumatischen und
chronisch-degenerativen Muskel- und Skeletterkrankungen, zur Förderung der
peripheren Durchblutung und Entstauung im peripheren venösen und Lymph-
system, vegetativer Ausgleich durch Stimulation der Hautsensorik.
Kontraindikationen
Wegen des auftretenden hydrostatischen Druckes Herz-Kreislaufinsuffizienz
und/oder Ateminsuffizienz, frischer Apoplex oder Herzinfarkt, Thrombosen mit
432 R. M. Bachmann
Besonderheiten
Das Bewegungsbad hat gegenüber der Trockengymnastik sowohl Vor- als auch
Nachteile. Von Vorteil ist die Verminderung der statischen Belastung, die Bewe-
gungen oft erst möglich macht. Nachteilig kann sich die verminderte Kontroll-
und Fixationsmöglichkeit des Patienten durch den Therapeuten auswirken.
Thermalbad
Definition
Thermalbäder sind Quellen mit gleichbleibender Temperatur über 20°C, meist
mineralreich.
Wirkung
Aufnahme von Mineralien durch die Haut, Entlastung von Muskeln, Sehnen und
Gelenken, Kräftigung und Lockerung des Bewegungsapparates.
Indikationen
Rheumatische Erkrankungen, Stoffwechselstimulation, chronische degenerative
Muskel- und Skeletterkrankungen, vegetativer Ausgleich.
Kontraindikationen
Hypertonie, frischer Apoplex, frischer Herzinfarkt, Angina pectoris, Hepatitis,
Thrombosen mit Emboliegefahr, alle akuten, insbesondere entzündlichen Er-
krankungen.
Hauff’sche Teilbäder
Definition
Hauff’sche Teilbäder sind Fuß- oder Armbäder mit langsam innerhalb von 15–20
Minuten von 35°C auf 39°C, evtl. auch auf 40–42 °C ansteigender Wassertem-
peratur, je nach Indikation kann ein entsprechender Zusatz (z. B. Kräuter) ver-
wendet werden.
Wirkung
Zentrale Kreislaufentlastung, peripher reflektorische Gefäßdilatation, Beein-
flussung und Verbesserung der Koronardurchblutung auf reflektorischem Wege,
Bronchodilatation und Sekretolyse.
Indikationen
Koronarerkrankungen, Zustand nach Herzinfarkt, Stenokardie, Hypertonie leich-
teren Grades, Herzinsuffizienz Stadium I–II (nach Einteilung der New York Heart
Association), vasomotorische gefäßbedingte Kopfschmerzen, Asthma bronchiale,
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 433
Stangerbad
Definition
Das Stangerbad ist ein hydroelektrisches Vollbad, bei dem das Wasser als Träger
elektrischer Reize über 9 Plattenelektroden dient. Über Elektrodenpolung erfolgt
eine gezielte Steuerung des Stromflusses durch die Körperpartien.
Wirkung
Hyperämisierend, analgesierend, bei Kathode in ZNS-Nähe ionisierend, bei
Anode in ZNS-Nähe detonisierend, hydrostatisch auf Venen und Lymphgefäße.
Indikationen
Schmerzzustände bei rheumatischen Erkrankungen im Intervall bzw. nichtent-
zündlichen Stadium, Neuralgien, Myalgien, periphere arterielle Durchblutungs-
störungen (Stadium I–II nach Fontaine), periphere Nervenerkrankungen, Poly-
neuropathien, chronische Hautulzera, sekundär heilende Operationswunden,
vegetative Dystonie, gynäkologische Erkrankungen.
Kontraindikationen
Entzündliche Hauterkrankungen im Behandlungsgebiet, offene Wunden (Ero-
sionen, Rhagaden ggf. mit Zinksalbe abdecken), dekompensierte Organer-
krankungen (insbesondere Herzinsuffizienz), schwere Arteriosklerose, Malig-
nome, akut-entzündliche rheumatische Erkrankungen, Metallimplantate im
Behandlungsgebiet.
Sauna
Definition
Die Sauna ist ein trocken-heißes Raumluftbad im Wechsel mit Abkühlung durch
Außenluft und kaltem Wasser als sympathikotoner Reiz mit dem Ziel der reak-
tiven Wiedererwärmung in der nachfolgenden obligatorischen vagotonen Ruhe-
pause. Sie ist ein erstklassiges Mittel zur vegetativen Stabilisierung und Regu-
lierung, das heutzutage als Maßnahme zur Gesundheitserziehung empfohlen
werden muss, als isolierte „gesundheitsfördernde Maßnahme“ jedoch oft über-
schätzt wird. Als Luftwechselbad ist sie meist besser verträglich als balneo-
therapeutische Maßnahmen, da die Reizstärke relativ gering ist. Dem Schwitzen
durch aktive Bewegung (Ausdauersportarten) ist jedoch möglichst der Vorzug zu
geben.
434 R. M. Bachmann
Wirkung
Vasomotorentraining, milde endokrine Stimulation, Training der Wärmeregu-
lation, Steigerung der unspezifischen Abwehrleistung (Paraimmunität), neurove-
getative trophotrope Stabilisierung, psychische Aufhellung. Merke: Wichtig ist
eine ausreichende mineralien- und elektrolytreiche Flüssigkeitszufuhr nach Ab-
schluss des gesamten Vorganges einschließlich der Ruhepausen!
Indikationen
Abhärtung, Prävention bei Atemwegserkrankungen, Initialstadium von Erkäl-
tungskrankheiten (Frieren, Frösteln), Angioneuropathien (Raynaud-Syndrom),
nichtentzündliche Gelenkleiden, wenig aktive rheumatische Erkrankungen bzw.
im Intervall, Menopausen-Syndrom, arterielle Verschlusskrankheit Stadium I
und II, kompensierte Herz-Kreislauf-Krankheiten, vegetative Fehlsteuerungen,
Dystönie, Erschöpfungszustände, innersekretorische Fehlsteuerungen, Orthosta-
se-Syndrom.
Kontraindikationen
Fieberhafte Erkrankungen, akute Infektionskrankheiten, dekompensierte Or-
ganleiden, Herzinsuffizienz (Stadium III und IV nach Einteilung der New York
Heart Association), Herzinfarkt, massive fixierte Hypertonie (RR über 160/95),
Niereninsuffizienz, arterielle Verschlusskrankheiten Stadium III und IV, rheu-
matische Erkrankungen im entzündlichen Stadium, Thrombose, Anämie, Hyper-
thyreose, Lymphödem, zerebrale Anfallsleiden.
Phytotherapie
Definition
Phytotherapie ist die Anwendung pflanzlicher Heilmittel beim Menschen. Die
moderne Phytotherapie basiert selbstverständlich auf den Erfahrungen früherer
Generationen, hat aber mit der „Phytoromantik“ vergangener Zeiten, die auf der
„Nostalgiewelle“ immer wieder auftaucht, nichts mehr gemeinsam. Moderne
Phytotherapeutika sind auch nicht zu verwechseln mit Homöopathika oder
Heilmitteln im Sinne der Anthroposophie, sondern sie sind echte Arzneimittel,
meist als Stoffgemisch aus der Gesamtpflanze – im Gegensatz zur chemisch
definierten Monosubstanz. Sie umfassen schwach wirksame Mite-Präparate (z. B.
Crataegus) bis stark wirksame Forte-Präparate (z. B. Morphin).
Zwischen diesen beiden Gruppen gibt es eine große Kategorie von Übergän-
gen im Sinne so genannter Intermediärphytotherapeutika.
sparung) bzw. als Mittel bei Indikationen, bei denen Forte- oder allopathische
Monosubstanzen (noch) nicht erforderlich sind. Mite-Präparate gehören nicht in
die Akut- oder Notfallmedizin, wogegen viele Forte- oder allopathische Mono-
substanzen nicht zur Behandlung von Bagatellerkrankungen, funktionellen und
Befindlichkeitsstörungen herangezogen werden sollten. Bei der Behandlung
chronischer Erkrankungen (im Intervall und als Langzeittherapie) und zur
Verhütung von Krankheiten bzw. zur Stimulierung körpereigener Abwehr-
mechanismen nimmt die breite Palette der Anwendungsmöglichkeiten ständig
zu, vor allem auch, weil diese Mittel sowohl dem Wunsch der Patienten nach
nebenwirkungsarmer Therapie als auch volkswirtschaftlichen Überlegungen in
idealer Weise entgegenkommen.
Wirkung/Anwendungsbereich
Antitussiva, Expektorantien, Kardiaka, Laxantien, Magen-Darm-Mittel, Broncho-
spasmolytika, Sedativa, Leber- und Galletherapeutika, Roborantien, Urologika.
Indikationen
Krankheitsprophylaxe, gastroenterologische Erkrankungen (Stoffwechsel, Ver-
dauung), funktionelle Störungen, Befindlichkeitsstörungen, chronische Erkran-
kungen, Herzinsuffizienz Stadium I und II (nach Einteilung der New York Heart
Association).
Kontraindikationen
Akut- und Notfallsituationen, Intoxikationen, dekompensierte Organerkran-
kungen (hierbei Verwendung von Forte-Phytotherapeutika, z. B. Digitalis, Mite-
Präparate, ggf. adjuvant), substitutionsbedürftige Erkrankungen (z. B. Diabetes
mellitus, Hypothyreose), Tuberkulose.
Trinkkur
Definition
Eine Trinkkur ist die kurmäßige Anwendung von Heilwässern zu Hause oder im
Heilbad, sie wurde bereits von Friedrich Hoffmann (1660–1742) und Christoph
Wilhelm Hufeland (1762–1836) als Heilmethode erkannt.
Wirkung
Entschlackung und Verbesserung des Stoffwechsels, Verdünnung und Reinigung
des Blutes durch Ausschwemmen.
Indikationen
Allergien, Hauterkrankungen, Erkrankungen der Atemwege, Schwitzkuren,
Harnwegsinfekte, kohlensäurehaltige Wässer bei Diabetes mellitus, Gicht,
Gastritis, eisenhaltige Wässer bei Blutarmut, Hypothyreose, Unterernährung,
jodhaltige Wässer bei Arteriosklerose.
436 R. M. Bachmann
Kontraindikationen
Ödeme, hypotone Hyperhydratation, Elektrolytmangel (siehe Tabelle 3).
Tabelle 3. Mineralwässer und die Erkrankungen, bei denen sie Besserung bringen (Aus-
wahl)
Atemwegserkrankungen
Bluthochdruck [salzarm]
Blutarmut [eisenhaltig]
Lebererkrankungen
Darmerkrankungen
Stoffwechselleiden
Harnwegsleiden
Zuckerkrankheit
Magenleiden
Gallenleiden
Sodbrennen
Kalkmangel
Fettsucht
Gicht
Adelheidquelle Bad Überkingen x x x x x
Adelholzener Primus-Heilquelle x x x x x
Alexanderquelle, Bad Peterstal x x x
Birresborner Adonis-Quelle x x x x
Biskrichener Heilquelle Karlssprudel x x x x x x
Cospo-Heinrich-Quelle, Bad Driburger Brunnen x x x x
Bad Driburger Bitterwasser x x x
Dunarisbrunnen, Daun/Eifel x x x x x
Elisabethenquelle, Remstal-Quellen x x x x
Emser Kranchen x
Staatl. Fachingen x x x x x
Friedrich-Christian-Heilquelle x x x x
Göppinger Christophquelle x x x x
Heppinger Heilwasser Stilles Wasser x x x x x
Bad Hersfelder Lullusbrunnen x x x x
Bad Hersfelder Vitalisbrunnen x x x x
Hirschquelle, Bad Teinach x x
Kaiser Friedrich-Quelle x x x x x
Staatl. Bad Kissinger Rokoczy x x x x
Staatl. Bad Kissingen Luitpoldssprudel x x x
Staatl. Bad Kissingen Maxbrunnen x x
Lamscheider Stahlbrunnen x x
Bad Liebenzeller Paracelsius-Quelle x x x
Bad Mergenthaler Karls- und Albertquelle x x x x
Bad Neuenahrer Heilwasser x x x x x x
Bad Niederauer Römerquelle x x x x x x
Nürlinger Heinrichsquelle x x x x x
Rietenauer Heiligenthalquelle x x x x
Leopolds-Quelle,,Bad Rippoldsau x x x x
Romina-Quelle x x x x
St. Anna Quelle, Bad Windsheim x x x
St. Georg-Eisen-Heilquelle x x x
St. Georg Heilquelle, Gerolstein x x x x x
St. Linus-Heilquelle, Pechbrunn x x
Sankt Martin x x x
Staatl. Selters x x x x x x
Thauma-Eisen-Heilquelle x x
Bad Weilbacher Herzog-Adolf-Quelle x x x
Wildunger Helenenquelle x x
Georg-Viktor-Quelle, Bad Wildungen x x
Wildunger Reinhardsquelle x x
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 437
Atemtherapie
Definition
Passive und aktive Atemgymnastik sowie Erlernen von Entspannungstechniken
zur willkürlichen Unterstützung der Atmung.
Wirkung
Atmung bedeutet Aufnahme von Sauerstoff zur Aufrechterhaltung aller Lebens-
vorgänge in den Zellen und Abgabe von Kohlensäure als Abfallprodukt aus dem
Stoffwechsel. Bekanntlich kann der Mensch 30 Tage auf feste Nahrung, jedoch
nur 3 Minuten auf Sauerstoff verzichten, bevor es zum Untergang von Organzel-
len, d. h. zu lebensbedrohlichen Zuständen kommt. Die Steuerung des Atems er-
folgt unwillkürlich, kann jedoch auch willkürlich unterstützt werden. Hier erge-
ben sich die Ansatzpunkte für die so genannte Atemtherapie bei Behinderung der
Atmung und daraus resultierenden Sauerstoffmangelzuständen infolge akuter
und chronischer Erkrankungen (s. u.). Die bewusste Steuerung der Atmung (ins-
besondere Ausatmung) wirkt auch beruhigend auf das vegetative Nervensystem.
Indikationen
Alle Erkrankungen mit eingeschränkter Ventilation (obstruktive Veränderungen
der Lunge wie chronische Bronchitis, obstruktives Lungenemphysem, Asthma
bronchiale); restriktive Lungenerkrankungen wie Lungenfibrose, Schrumpfungs-
prozesse (Tuberkulose, Zustand nach Abszessen, nach operativen Eingriffen, Ate-
lektasen, Verwachsungen nach Pleuraempyem, Pleuraschwarten); Störungen der
Beweglichkeit nach Rippenresektion, Thorakotomie, ankylosierender Spondylitis
(Morbus Bechterew); Störungen am Bewegungsapparat (Skoliose, Fehlhaltungen
usw.); prophylaktisch bei bronchopulmonalen Erkrankungen; zur Vorbeugung
von Pleuraschwarten bei Schwerkranken und damit Vermeidung hypostatischer
Pneumonien und Beckenvenenthrombosen; prä- und postoperativ, insbesondere
bei Herzoperationen (Verkürzung der Rekonvaleszenz); im Wochenbett; Atem-
beklemmung und Globusgefühl bei vegetativer Stigmatisierung; sympathikotone
Pressatmung; Schlafstörungen.
Kontraindikationen
Extreme Schwächezustände.
Hausmittel
Hausmittel sind Heilmittel/Naturheilmittel, die der Patient zu Hause anwenden
kann, bei leichten Befindlichkeitsstörungen und Bagatellerkrankungen in eigener
Initiative (Selbstmedikation) oder (z. B. bei schwereren chronischen Erkrankun-
gen) auf Verordnung des Arztes. Der volkswirtschaftliche Nutzen von richtig an-
gewandten Hausmitteln ist somit beachtlich. In vielen Familien, besonders auf
dem so genannten „flachen Land“, sind solche Hausmittel oft über Generatio-
438 R. M. Bachmann
Wirkung
Das Wirkungsspektrum ist sehr breit und reicht von Wärmeentzug über Wärme-
produktion/-stau bis hin zum Schwitzen. Die Wirkung ist abhängig von Applika-
tionsdauer, Zusatz zur Wirkungsverstärkung und Anlegetemperatur. Daraus er-
geben sich vielfältige Anwendungsbereiche, die ein differenziertes Vorgehen
erforderlich machen.
Indikationsbeispiele
– Kalte Wickel: Mit Zusatz Essigwasser: Stabilisierung des Säureschutzmantels
der Haut; mit Lehm/Lehmwasser: Venenentzündung, Lymphgefäß- und
Lymphknotenentzündungen, Ekzeme, Psoriasis, Pruritus, nässende Entzün-
dungen der Haut. Auch Quark oder pflanzliche Extrakte: z. B. Retterspitz.
– Warme Wickel: Mit Zusatz Heublumen: Zystitis, Bronchitis, degenerative,
nichtentzündliche rheumatische Erkrankungen; mit Haferstroh: Zystitis, Ent-
zündungen der Haut; mit Kamille: Entzündungen, Eiterungen; mit Eichen-
rinde: oberflächliche Entzündungen, Hämorrhoiden; mit Kochsalz oder Thy-
mian (insbesondere Brustwickel): Bronchitis, Pneumonie.
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 439
Wadenwickel Definition
Umwickeln der Unterschenkel mit nassen Tüchern, die in kaltes Wasser getaucht
wurden.
Wirkung
Entzündungshemmend (bei Arthritiden, Halsentzündungen), gewebestraffend,
schlaffördernd, analgesierend, vegetativ stabilisierend, antihypertensiv, herzent-
lastend, beruhigend. Bei einer Liegedauer bis zu 10 Minuten wärmeentziehend,
bei längerer Liegedauer Wirkung im Sinne einer ß-Sympathikolyse.
Indikationen
Generelle Überhitzungszustände (Fieber, „Hitzschlag“), lokale Entzündungen
(Thrombophlebitis, Hämatome, Prellungen), Hypertonie, Überanstrengung nach
langem Gehen und Stehen, vegetative Labilität, Einschlafstörungen, nervöse
Übererregbarkeit.
Kontraindikationen
Akut entzündliche Zustände (Zystitis, Zystopyelitis, Pyelonephritis etc.), be-
ginnende Erkältungskrankheiten und ansteigendes Fieber, Frieren, Frösteln.
Prießnitz-Wickel
Definition
Ein Prießnitz-Wickel, benannt nach dem Naturheilkundler Vinzenz Prießnitz, ist
ein feucht-kalter Leibumschlag mit trockener Wollumhüllung und dem Ziel
reaktiver Wiedererwärmung.
Wirkung
Nach Vorstellung von Prießnitz erfolgt durch kaltes Wasser eine Reizsetzung, die
der Körper mit der Erzeugung reaktiver Wärme beantwortet, wodurch die Hei-
lungskräfte angeregt werden. Vorbedingung: Der Körperteil/die Haut muss vor-
her warm sein. Prießnitz brachte seine Patienten durch forcierte Körperbe-
wegung zum Schwitzen und behandelte anschließend mit kaltem Wasser. Außer-
dem verordnete er eine hohe Trinkmenge von mehreren Litern kalten Wassers
(Entschlackung) pro Tag. Die Wirkung entfaltet sich entweder im zugehörigen
Segment (kutiviszerale Beeinflussung) oder als generalisierte Beeinflussung (ins-
besondere bei Stoffwechselleiden) über das vegetative, hormonelle und Immun-
system.
Indikationen
Stoffwechselleiden, Allergien, entzündliche rheumatische Erkrankungen im In-
tervall, chronische Infekte.
440 R. M. Bachmann
Fangotherapie
Definition
Fango ist Mineralschlamm sowohl aquatischer als auch terrestrischer Herkunft,
d. h., er findet sich am Boden von Thermalquellen, kann aber auch vulkanischen
Ursprungs sein (z. B. Eifelfango). Er wird in der Balneotherapie und mit Wasser
zu dickem Brei verrührt auch bei Packungen als Peloidzusatz verwendet.
Wirkung
Antirheumatisch, antineuralgisch, antiphlogistisch.
Indikationen
Rheumatische Erkrankungen, Neuralgien etc.
Reiztherapie
Definition
Die Reiztherapie verwendet Methoden, die die körpereigene Abwehr erhöhen.
Mit pharmakologischen Mitteln wird die antigenspezifische Abwehr („Paramuni-
tät“) durch sogenannte Reiztherapeutika, Regulationstherapeutika und Um-
stimmungsmittel gestärkt.
Wirkung
Die Wirkung beruht auf dem Reiz-Reaktions-Prinzip, d. h. der Erzielung therapeu-
tischer Effekte über den Weg der Reizsetzung und der positiven Reizbeantwortung
durch das Organ: lokal über die Haut (Head-MacKenzie-Zonen) Mehrdurchblu-
tung des Dermatoms; segmental im zugehörigen Organ, Nerv, Muskel, Myotom,
Bindegewebe; allgemein über das Hormonsystem und das vegetative Nerven-
system. Unspezifische Immunisierung mit dem Ziel, die unspezifische Abwehr
anzuregen (künstliche Erzeugung der Abwehrsymptome Fieber, Phagozytose,
Entzündung als „heilsame Abwehrreaktion“), „immunologisches Training“.
Indikationen
Infektionskrankheiten im Inkubationsstadium, Intervalltherapie, Verspannungs-
zustände, chronische Erkrankungen, degenerative Erkrankungen des Bewe-
gungsapparates.
Klimamedizin
Wirkung
Die Wirkung der Klimatherapie beruht auf dem Zusammenwirken physikalischer
und chemischer Reize: thermisch-hygrisch (Wärme, Luftbewegung, Feuchtig-
keit), photoaktiv (photochemisch wirksame Strahlen) und luftchemisch. Die
Klimatherapie beruht auf dem Reiz-Reaktions-Prinzip, d. h. vom Schonklima
(Mittelgebirge) bis zum reizstarken Klima (Hochgebirge, Meer) muss die der je-
weiligen Gesamtsituation des Patienten angepasste Reizabstufung gewählt wer-
den. Auf Wechselreizen durch Luftbewegungen, Bewegung und nachfolgende
Ruhe bzw. Abkühlung basiert über die Thermoregulation eine stabilisierende
Wirkung im neurovegetativen und Hypophysen-Nebennierenrinden-System. Ein
unspezifischer Reizeffekt entsteht durch UV-Strahlung (u. a. Vitamin-D-Bildung).
Aerosolwirkung (z. B. NaCl am Meeresstrand) hat einen günstigen Effekt auf die
Schleimhaut und eine Reizwirkung über die Haut.
Indikationen
Allgemein zur Steigerung der Infektresistenz. Der Indikationsbereich eines Kur-
ortes kann beim Deutschen Bäderverband erfragt werden (Deutscher Bäderka-
lender kostenlos).
– Mittelgebirgsklima (schonend, milde Wärme im Sommer, Luftreinheit, „geo-
psychische Wirkung“ durch Landschaft): Industrie- und Städte-Geschädigte,
Atemwegserkrankungen, Herz-Kreislauf-Störungen.
– Hochgebirgsklima (niedriger Luftdruck und Sauerstoffpartialdruck, niedrige
Lufttemperatur und geringe Luftfeuchtigkeit, reine Luft und intensive UV-
Strahlung): chronische Erkrankungen, insbesondere der Atemwege.
– Meeresküstenklima (Allergenfreiheit, wechselnde Belastung: Wind, Wasser etc.,
Aerosolwirkung von zerstäubtem Meerwasser): Erkrankungen des Respira-
tionstraktes (chronische Tracheitis, Pharyngitis, Bronchitis, Bronchiektasen,
Emphysem, extrapulmonale Tuberkulose, Asthma bronchiale, Heuschnupfen);
kardiovaskuläre Erkrankungen (gut kompensierte Herzklappenfehler, Zu-
stand nach Herzoperationen, essentielle Hypertonie, nephrogene Hypertonie,
unkomplizierte Arteriosklerose, orhostatische Regulationsstörungen, arterielle
Verschlusskrankheiten, (Koronarinsuffizienz); endokrinologische Erkrankun-
gen (frühes Stadium und mäßiggradige Hyperthyreose, Dysmenorrhöen und
nicht dienzephal-hypophysär bedingte Zyklusstörungen); dermatologische
Erkrankungen (konstitutionelles Ekzem, Neurodermitis, Ichthyosis, Psoriasis).
Kontraindikationen
– Hochgebirgsklima: Herzinsuffizienz (insbesondere Rechtsherzinsuffizienz),
schwere pulmonale Ventilationsstörungen, exsudative Lungentuberkulose.
– Meeresküstenklima: Nephrose, chronische Nephritis, progredient chronische
Polyarthritis (PcP), Hyperthyreose (Spätstadium), Addison-Krankheit, Cu-
442 R. M. Bachmann
Physikalische Therapie
Definition
Die physikalische Therapie verwendet unter Ausnutzung des Reiz-Reaktions-
Prinzips physikalische Methoden sowohl zur Erhaltung von Körperfunktionen
(Prävention) als auch zur Therapie und Wiederherstellung (Rehabilitation) ge-
störter Funktionen und Regulationsvorgänge.
Physikalische Methoden
– Hydrotherapie: Kneipp-Therapie, Balneotherapie, Prießnitz-Therapie, Sauna,
Thalassotherapie, Thermotherapie
– Bewegungstherapie: Ausdauertraining, Ergotherapie, Massagen, Heilsport,
Krankengymnastik
– Elektrotherapie: Diadynamische Ströme, Diathermie, Gleichstrom-, Interfe-
renzstrom-, Laser-Reiz-, Magnetfeldtherapie, lontophorese, Reizstromthera-
pie, TENS (transkutane elektrische Neurostimulation), Ultraschall
– Lichttherapie: Heliotherapie, Infrarottherapie, Photoimmunotherapie, Photo-
protektion, Photoreaktivierung, Phototherapie, UV-Therapie, Klimatothera-
pie: Klimamedizin
Chiropraktik
Techniken
In der Chirotherapie kommen manuelle Behandlungstechniken, die sich auf Wir-
belsäule und Extremitäten beziehen, zur Anwendung. Die Techniken unterteilen
sich in Weichteiltechniken (Beseitigung von Gewebsverspannungen vor allem der
den großen Gelenken zugehörigen Muskulatur), Mobilisation (Wiederherstellung
reversibel gestörter Gelenkfunktionen und Manipulation gezielter Impulse mit
hoher Geschwindigkeit zur Wiederherstellung der Gelenkfunktion) und Manipu-
lationstechniken. Weichteiltechniken und Mobilisation können durch ausgebilde-
te Krankengymnasten/innen in Zusammenarbeit mit dem Arzt ausgeführt wer-
den – Manipulationstechniken nur durch den Arzt. Therapeutisches Ziel ist die
Beseitigung von Funktionsstörungen/Blockierungen von Gelenken.
Indikationen
Schmerzhafte Bewegungseinschränkung im Bereich der Wirbelsäule und der
Extremitätengelenke einschließlich Ileosakralgelenk; oberes Zervikalsyndrom (=
C 0–C 3, Symptome: Kopfschmerz, Schwindel, Hör-, Sehstörungen, Globusge-
fühl); unteres Zervikalsyndrom (= C 4–C 7, Symptome: häufig Ausstrahlung in
die Arme, Schmerzen im Schulter-Ellenbogen-Hand-Bereich mit Parästhesien,
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 443
Kontraindikationen
Mangelnde Kenntnisse und mangelnde Erfahrung des Arztes in der praktischen
Durchführung, maligne und destruierende Prozesse im zu behandelnden Bereich
(Primärtumoren, Metastasen), akute entzündliche Prozesse, Frakturen, Luxatio-
nen, Subluxationen, Osteoporose, aktivierte und weit fortgeschrittene Arthrosen,
Zustand nach Bandscheibenoperation bis zum abgeschlossenen Vernarbungssta-
dium nach Abschluss der stabilisierenden Krankengymnastik, Hypermobilität
(Überbeweglichkeit im Sinne einer ligamentären Dekompensation, konstitutio-
nell oder hormonell (Schwangerschaft) bedingt, auch lokal durch Trauma, Über-
lastungen und Degeneration), Verdacht auf subforaminale Tumoren mit den Leit-
symptomen Nackensteifigkeit, Schmerzen im HWS- und Ausstrahlungsbereich
mit Parästhesien, dissoziierte bis komplette Sensibilitätsstörungen, Atrophie der
Nacken-Schultergürtel-Muskulatur, Atrophie der Handmuskulatur, Diaphrag-
malähmung, gastrointestinale Störungen, intensives Kältegefühl der unteren
Extremitäten.
Unterwasserdruckstrahlmassage
Definition
Bei der Unterwasserdruckstrahlmassage wird die Kombination von Wassertem-
peratur und Wasserdruck therapeutisch genutzt.
Wirkung
Beeinflusst werden vor allem das venöse und das Lymphsystem, wobei die Was-
sertemperatur auf das Herz-Kreislauf-System, der Wasserdruck örtlich und hy-
drostatisch wirkt. Die Wirkung ist muskelentspannend, reaktiv hyperämisierend
und stoffwechselanregend.
Indikationen
Primäre Muskelerkrankungen, Myogelosen, sekundäre paravertebrale und peri-
artikuläre Muskelverspannungen (insbesondere bei Arthrosen, Arthritiden, chro-
nischer Polyarthritis), Kontrakturen des Bindegewebes, Narbenkontrakturen.
Kontraindikationen
Dekompensierte Organerkrankungen (vor allem Herz-Kreislauf-Insuffizienz),
orthostatische und hypotone Regulationsstörung, Hypertonie, akute Neuralgien,
arterielle Verschlusskrankheit, entzündliche Hauterkrankungen, Schwächezu-
stände, schwere Osteoporose, akute fieberhafte Infektionskrankheiten, akut ent-
444 R. M. Bachmann
Lymphdrainage
Definition
Unter Lymphdrainage versteht man therapeutische Maßnahmen, die den
Lymphabfluss aus dem Gewebe fördern.
Wirkung
Durch gezielte spezielle Manipulationen wird die Transportkapazität der Lymph-
gefäße gesteigert. Die Lymphangiomotorik wird angeregt. Durch spezielle
Ödemgriffe können Ödeme gebessert, manchmal völlig beseitigt werden.
Indikationen
Im Sinne einer komplexen Entstauungstherapie ist die Lymphdrainage indiziert
bei fast allen Erkrankungen, die mit Ödemen einhergehen oder durch Ödeme
verursacht werden: primäre und sekundäre Lymph-, Phleb-, Lid-, traumatische,
artefizielle, rheumatische, entzündliche, Inaktivitäts-, ischämische, zyklische,
Schwangerschafts-, orthostatisch-dysregulatorische und idiopathische Ödeme.
Bei kardialen, renalen, hepatogenen, Eiweißmangel-, allergischen, Höhen-, en-
dokrinen und hereditär-angioneurotischen Ödemen kommt die Lymphdrainage
in Kombination mit medikamentöser und diätetischer Therapie in Frage.
Kontraindikationen
Absolute Kontraindikationen: Alle malignen Streuungen, auch Verdacht auf
lymphogene Streuung bei Neoplasien (z. B. bei Lymphödem nach Mamma-
Operation), alle akuten Entzündungen im Behandlungsgebiet, Thrombosen, Tu-
berkulose in akuter Phase, Nävus bei Verdacht auf Malignität, Weichteilverlet-
zungen. Gefäßerkrankungen: arteriell (arterielle Verschlusskrankheit, Stadium III
und IV), venös (Ulzera), kardiales Ödem.
Relative Kontraindikationen
Behandelte Karzinome, chronische Entzündungen, Morbus Hodgkin, Strahlen-
schäden, Zustand nach Thrombosen und Thrombophlebitiden, Hyperthyreose,
Asthma bronchiale (nur im anfallsfreien Intervall behandeln).
Besonderheiten
Die Lymphdrainage ist eine vom Arzt verordnungsfähige Behandlung. Ggf. sollte
sie mit Kompressionsbehandlung, Gymnastik sowie Atemübungen (Zwerchfell-
atmung fördert Lymphstrom im Ductus thoracicus) kombiniert werden.
Die Lymphdrainage darf nur von speziell dafür weitergebildeten Therapeuten
(Krankengymnasten, Masseure) ausgeführt werden.
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 445
Höhensonne
Wirkung
Steigerung der Infektresistenz evtl. durch Lichtaktivierung der Hypophyse, pho-
tobiologische Stimulation lokaler und systemischer Vorgänge.
Indikationen
Erhöhung der Widerstandskraft und Leistungsfähigkeit, vegetativ-nervöse Stabi-
lisierung, Rekonvaleszenz, Störung des Mineralstoffwechsels, verzögerte Kallus-
bildung; UVA: Psoriasisbehandlung, Akne- und Ulkustherapie; UVB: antirachi-
tische Wirkung durch Mitwirkung bei Vitamin-D-Synthese. Cave: UV-Strahlen
sind karzinogen, deshalb ist der Gebrauch von Höhensonnen nur bedingt zu
empfehlen.
Kontraindikationen
Empfindliche Haut, Photosensibilität, Präkanzerosen im Bereich der Haut, Son-
nenallergie (auch durch Medikamente oder Kosmetika bedingte), chronische
Entzündungen, akute Infektionen, Hyperthyreose, Magen-Darm-Ulzera.
Nebenwirkungen
Sonnenbrand, Hitzekollaps, beschleunigte Hautalterung,
Weitere Therapieverfahren
Akupunktur
Definition
Akupunktur bedeutet „Nadeln“ oder „Brennen“ und ist eine aus China über-
nommene Nadeltherapie, die nicht die Krankheit, sondern den kranken Men-
schen in seiner gestörten Regulation behandeln will. Im Westen ist Akupunktur
eine Methode der angewandten Schmerztherapie.
Wirkung
Die Akupunktur ist ein Stimulationsverfahren, das auf traditioneller Wirkungs-
vorstellung beruht (Yin- und Yang-Meridiane). Durch das Nadeln soll ein Aus-
gleich zwischen Körperenergie über die einzelnen, morphologisch nicht nach-
gewiesenen Meridiane erfolgen. In Tierexperimenten zeigte sich, dass durch die
Akupunktur Endorphine (Opioidpeptide und Neurotransmitter) freigesetzt wer-
den. Es wird eine Funktionsähnlichkeit der Meridiane mit Segmenten (Head-
Zonen) vermutet.
Indikationen
Kopfschmerz, Migräne, Weichteilrheumatismus, Wirbelsäulenerkrankungen (ins-
besondere HWS- und Lumbalsyndrome), Neuralgien (insbesondere Trigeminus-
446 R. M. Bachmann
Kontraindikationen
Alle für Naturheilverfahren grundsätzlich geltenden Kontraindikationen, z. B.
substitutionsbedürftige Zustände.
Akupressur
Im Gegensatz zur Akupunktur werden bei der Akupressur keine Nadeln ver-
wendet. Es handelt sich vielmehr um eine einfache, auch chirotherapeutische
Handgriffe umfassende Massagetechnik, wobei Druck oder Reibung auf die
Akupunkturpunkte und -meridiane ausgeübt wird.
Wirkung und Indikationen sind ähnlich denen der Akupunktur.
Neuraltherapie
Prinzip
Die Neuraltherapie ist eine Zufallsentdeckung des Arztes F. Huneke nach i.v.-
Gabe von Procain wegen Migräne und deren Spontanheilung. Ihre Anwendung
erfolgt nach folgenden Grundsätzen 1. Jede chronische Krankheit kann störfeld-
bedingt sein. 2. Jede Körperstelle kann zum Störfeld werden („zentraler Auftrag-
geber“). 3. Die Injektion eines Lokalanästhetikums heilt die störfeldbedingte Er-
krankung sofort (Sekundenphänomen).
Wirkung
Die Wirkung der Neuraltherapie beruht zum einen auf der pharmakologischen
Wirkung von Lokalanästhetika (analgetisch, antiphlogistisch, gefäßabdichtend,
diuresefördernd, spasmolytisch, fiebersenkend). Zum anderen ist sie aber mehr
als nur therapeutische Lokalanästhesie: Sie ist Segmenttherapie, deren Wirkung
länger anhält als der anästhesierende Effekt. Zudem kann sie eine diagnostische
Hilfe bei der Suche nach einem Krankheitsherd sein.
Indikationen
Alle Störungen in Regelkreisen mit Circulus vitiosus: Schmerz – Verspannung –
Schmerzverstärkung (vor allem der Wirbelsäule und der großen Gelenke), stör-
feldbedingte Erkrankungen/Herderkrankungen, akute Schmerz- und Entzün-
dungsvorgange im Bereich der Wirbelsäule, des Oberbauches: Magen, Duode-
num, Galle, ableitende Harnwege (z. B. Nierenkoliken, frische Traumen).
Die Naturheilverfahren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Empirie 447
Kontraindikationen
Offensives Vorgehen des Arztes bei nicht ausreichenden Grundkenntnissen in
Theorie und Praxis, Allergie auf Neuraltherapeutika/Lokalanästhetika, Geistes-
krankheiten (auch Neurosen), Erbkrankheiten.
Risiken
Intrazisternale Injektion mit der Gefahr meningitischer Reizerscheinungen, bei
Gangliontherapie Gefahr der Bulbusperforation und Hämatombildung, Hirnblu-
tung nach Injektion in die Arteria vertebralis, bei Injektionen in die Mandelpole
Möglichkeit der Sickerblutungen, Nervenwurzellasionen, Douglas-Abszess nach
Injektion in den gynäkologischen Raum, lokale tumorähnliche Gewebereaktio-
nen nach häufigen paravertebralen Injektionen, Atemlähmung (falsche Nadel-
führung bei Stellatumblockade), Erregungs- und Krampfzustände, Atemstill-
standssyndrom (Therapie: Sauerstoffbeatmung, Infusionstherapie), Blutungen/
Hämatome.
Literatur
Bachmann RM (2006) Natürlich gesund mit Kneipp. Trias, Stuttgart
Bachmann RM (2006) Säure-Basen Kursbuch. Knaur, München
Bachmann RM (2005) Fasten und Heilen nach F.X. Mayr. Droemer-Knaur, München
Bachmann RM (2003) Rheuma-Schmerzen spürbar lindern. Trias, Stuttgart
Bachmann RM (2003) Naturheilverfahren für die Praxis. Hippokrates, Stuttgart
Bachmann RM (1996) Praxis Service Naturheilverfahren. Hippokrates, Stuttgart
Bachmann RM (1999) So hilft die Natur bei Venenleiden. Hädecke, Weil der Stadt
Internet-Info
www.rheuma-naturheilverfahren.de
www.pflege-naturheilverfahren.de
www.naturheilverfahren-bayern.de
www.kneipp-literatur.de
Revision
E. PICHLER
E. Pichler
Kleijnen K, Knipschild P (1991) et al. (1991) Clinical trials of homeopathy. BMJ 302:
306–323
77 % zeigen ein positives Ergebnis für die homöopathische Behandlung
– Alle Studien zeigen einen positiven Trend des Behandlungserfolges, unab-
hängig von der Qualität der Studien
– Conclusio der Autoren: Die Untersuchungsergebnisse berechtigen die Ho-
möopathie zum Einsatz bei bestimmten Erkrankungen …
– Es ist legitim und notwendig, weitere Studien und Analysen über den Wir-
kungsnachweis der Homöopathie durchzuführen …
IIPCOS 1
International Integrative Primary Care Outcomes Study
Untersuchungszeitraum: 2001–2002
Studiendesign:
– Eingeschlossene Krankheiten: akute Erkrankungen der oberen Luftwege wie
Schnupfen, Halsschmerz, Ohrschmerz, Erkrankung der Nasennebenhöhlen,
Husten
– Dokumentation von Haupt – und Begleiterkrankungen
– Voraussetzung: Gesundheitsfragebogen nach Kindl
– Telefonischer Patientenkontakt nach 7, 14, 28 Tagen
– Frage: beschwerdefrei oder Besserung innerhalb von 14 Tagen
– Behandelt wurden 2055 Patienten über 12 Monate,
– die Therapie erfolgte nach Zufallsverteilung:
– 875 mit Homöopathie behandelt
– 629 Homöopathie und konventionelle Medizin
– 393 mit konventioneller Medizin therapiert
454 E. Pichler
Ergebnisse:
Homöopathie:
– Beschwerdefrei nach 7 Tagen: 32 %
– Beschwerdefrei nach 14 Tagen: 83 %
– Beschwerdefrei nach letztem Kontakt: 82 %
Konventionelle Medizin:
– Beschwerdefrei nach 7 Tagen: 26 %
– Beschwerdefrei nach 14 Tagen: 68 %
– Beschwerdefrei nach letztem Kontakt: 79 %
– Zufriedenheit:
– Homöopathisch behandelte Patienten: 79 %
– Konventionell therapierte Patienten.: 65 %
– Unerwünschte Nebenwirkungen:
– Homöopathie: 17,2 %
– Konventionelle Medizin: ca.: 20 %
– Besserungen am ersten Tag:
In der Homöopathiegruppe gab es signifikant mehr Besserungen am ersten
Tag als in der konventionell therapierten Gruppe.
IIPCOS 1, Fazit:
Bei Infekten der Luftwege:
– Homöopathie und konventionelle Medizin gleich wirksam
– Behandlungsaufwand fast gleich
– „Unerwünschte Nebenwirkungen“ in der Homöopathie geringer
– Patienten sind zufriedener
– Die Patienten werden rascher gesund!
Eine weitere Studie stammt aus dem Universitätsklinikum Charité, Humboldt-
Univerität Berlin durchgeführt von Dr. Claudia Becker-Witt
– 1130 Kinder wurden zwischen 1997 und 1999 homöopathisch betreut;
– 90 % der Diagnosen entsprachen chronischen Erkrankungen, mit mittlerer
Erkrankungsdauer von 4,3 Jahren.
– Atopische Dermatitis 20 %, Infektanfälligkeit 16 %, chronische Otitis media
9 %, Schlafstörungen 9 %.
– Reduktion der Diagnosebeschwerden anhand der VAS (visual analog scale):
– Beurteilung durch behandelnde Ärzte: von 5,9 zu 1,5
– Beurteilung durch Patienten: von 6,1 zu 2,2
– Dies entspricht einer eindeutigen statistischen Signifikanz (p < 0,001).
Rezeptur
– Welche Verarbeitungsmöglichkeit besteht bei der Arznei?
– Welche Potenz soll rezeptiert werden: D, C, LM, Q, Korsakow, Flux,
456 E. Pichler
Z. B.:
Guter Allgemeinzustand, keine pathologischen Veränderungen, hohe Intensi-
tät der Hauptsymptome: In diesen Fällen können Hochpotenzen (> D 30, C 30)
angewendet werden.
Geringe Vitalität, (Lebenskraft), Organpathologie, niedrige Intensität der
Hauptsymptome: In diesen Situationen sind Tiefpotenzen (< D 12, C 12) eher
der Vorzug zu geben.
Arzneieinnahme
Die Arzneien sind nüchtern einzunehmen, da die Resorption über die Schleim-
häute erfolgt. Daher soll gleichzeitig nichts gegessen oder getrunken werden.
Ebenso ist Nikotin und Zahnpasta ein Resorptionshindernis.
Die Einnahme soll 10 bis 30 Minuten vor oder nach einer Mahlzeit erfolgen.
Homöopathische Globuli lässt man im Mund zergehen, ebenso Tropfen, Tab-
letten und Verreibungen.
Auch das Auflösen in Wasser und die löffelweise oder schluckweise Verabrei-
chung ist üblich.
Seltener werden intravenöse, intramuskuläre, subkutane, Externa oder olfak-
torische Anwendungen verwendet.
Die Möglichkeiten der Homöopathie in der Schmerztherapie 457
kopfschmerz ist bandförmig und heftig hämmernd. Die Extremitäten fühlen sich
kalt an und ganz typisch ist vor allem am Beginn der Erkrankung ein Frösteln
entlang der Wirbelsäule. Die Kopfschmerzen werden besser, wenn sich Harnab-
gang einstellt. Gelsemium ist auch ein wertvolles Mittel zur Bekämpfung des
„Lampenfiebers“.
Agg.: Feuchtigkeit; Darandenken; Tabakrauch; Erbrechen, seelische Erregung
AM.: Ausscheidung (Urin); Alkohol
Glonoinum: Nitroglyzerin
Wellenförmige, berstende, pulsierende, stürmische Kopfschmerzen, halten
den schmerzenden Kopf mit beiden Händen. Dieser ist heiß und rot.
Agg.: Retroflexion; Hitze, Sonne, Haarschneiden
Am.: kühl; frische Luft
Phosphor
Heftiger, klopfender Kopfschmerz, das Gesicht ist rot, Kälte verschlimmert,
außer bei Kopf- und Magenschmerzen. Menschen, die Phosphor brauchen sind
sehr extroviert und lieben die Gesellschaft.
Agg.: Wärme; Bewegung, Hinlegen, geistige Aktivitäten, Licht, Hitze
Am.: Kälte, Ruhe, kaltes Wasser (außer Kopf-und Magenschmerzen), Eis-
creme
Symphytum: Beinwell
Der Einsatz von Symphytum ist besonders lohnend bei schlecht heilenden
und komplizierten Frakturen, besonders wenn prickelnder oder schlecht heilen-
der Schmerz bestehen bleibt. Mitunter können protrahierte Entzündungen im
Operationsbereich mit Symphytum günstig beeinflusst werden. Die Haut ist in
diesem Bereich warm, glänzend rot und geschwollen.
Ein Versuch bei Mb. Sudeck führt immer wieder zu überraschenden positiven
Resultaten.
Bryonia: Zaunrübe
Berstender, zerschmetternder Kopfschmerz, von frontal nach okzipital aus-
strahlend. Verheben, Schmerzen des Bewegungsapparates nach Minimaltrauma-
ta, wenn jede Bewegung schmerzt. Diese Patienten vertragen weder psychische
noch physische Veränderungen. Alles was sich bewegt ist unangenehm! Übelkeit
und Schwäche beim Aufsitzen. Großer Durst, trockener Mund. Extrem reizbar bis
streitsüchtig. Wollen nur in Ruhe gelassen werden.
Agg.: geringste Bewegung, Husten, Essen
Am.: Ruhe, Kälte, Druck, Liegen auf der schmerzhaften Seite
Tellurium
Schmerzen der Wirbelsäule, Lumboischialgie rechts, Lumbosakralgie ins
rechte Bein ausstrahlend, Gefühllosigkeit der Finger beim Strecken der Hände.
Scharfe wundmachende Absonderungen mit Geruch nach Knoblauch oder
Fischlake.
Agg.: Berührung, Erschütterung, Lachen, Niesen, Husten, Bücken, Liegen auf
der kranken Seite. Kälte, periodische Schmerzen, die jede Woche auftreten.
Am.: Essen und Trinken verursacht Halsschmerzen
Staphisagria: Stephanskörner
Verletzungen durch Schnitt oder Stich, wobei die Wunden lange schmerzhaft
empfunden werden. Diese Verletzungen können auch psychischer Natur sein
und große seelische Verletzungen hinterlassen. Meist sind dies nachgiebige, sanf-
te Menschen, die ihre Gefühle lange Zeit unterdrücken, bis sich der Ärger plötz-
lich mit Entrüstung und Zorn entlädt.
Tabakrauch wird schlecht vertragen. Rezidivierende Zystitiden sind häufig,
ebenso berührungsempfindliche juckende Dermatosen.
Agg.: Gemütsbewegungen, Berührung, kalte Getränke, Mittagsschlaf
Am.: Wärme, Ruhe
Calendula: Ringelblume
Außerordentliche schmerzhafte Wunden mit Eiterungstendenz. Ausgezeich-
nete Wirkung nach Kombustionen, um eine Keloidbildung zu verhindern.
Agg.: Schüttelfrost bei Entzündungen, Erysipel, Verbrennungen, Verbrühun-
gen, feuchtes Wetter, abends
Am.: Wärme, vollkommen ruhiges Liegen (DD.: Bryonia), aber auch langsa-
mes Umhergehen kann die Beschwerden lindern
462 E. Pichler
Zusammenfassung
Dieser Überblick über die therapeutischen Möglichkeiten der klinischen Homöo-
pathie im Rahmen des Schmerzgeschehens dient dem Zweck, einen kleinen Ein-
blick in die Arbeitsweise der homöopathisch tätigen Ärztinnen und Ärzte sowie im
Pflegedienst zu vermitteln. Die genaue Anamnese ist eine Grundvoraussetzung,
um ein passendes Arzneimittel zu finden. Nicht nur das Krankheitsbild, sondern
auch der Mensch in seiner Ganzheit bilden die Quelle für das Erfassen der wichti-
gen Symptome in der Homöopathie. Nicht nur die körperlichen Krankheitser-
scheinungen, sondern auch die seelischen und geistigen Eigenschaften eines Men-
schen fließen in die Arzneimittelwahl mit ein. Weitere wichtige Kriterien in der
Differenzierung der Arzneien sind die verschiedenen Modalitäten, die Art und
Weise unter welchen Gegebenheiten eine Symptomatik verbessert oder ver-
schlechtert wird. Dazu zählen auch zeitliche Abläufe, Wettereinflüsse, Temperatur-
verträglichkeiten oder -unverträglichkeiten. Wichtig sind auf jeden Fall alle Verän-
derungen einer Person während ihres Krankheitszustandes. Die Wahl der Potenz
einer Arznei ist im Akutfall sicher nicht von entscheidender Bedeutung. Mit mittle-
ren Potenzen, wie C12 oder D 12, wird meistens das Auslangen gefunden.
Bei chronischen Schmerzzuständen ist eine ausführliche Anamnese notwen-
dig, die nicht nur das aktuelle Schmerzgeschehen zum Inhalt hat, sondern auch
die gesamt Biografie der/des Patientin/Patienten. Hier ist der Mensch das zentra-
le Thema im Rahmen der Arzneimittelfindung. Häufig geben in diesen Fällen die
persönlichen Charakteristika des Patienten den Ausschlag für die endgültige
Auswahl der homöopathischen Arznei.
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Revision
Ayurvedische Schmerztherapie
W. SCHACHINGER
W. Schachinger
Entwicklung
Im indischen Subkontinent gab es in dieser langen Zeit divergente Interpretatio-
nen und Anwendungen aus den originalgetreu überlieferten klassischen Texten.
Deswegen liegt der Schwerpunkt heute in verschiedenen Regionen Indiens in
464 W. Schachinger
Ayurveda heute
Die rasche Verbreitung der Ayurveda-Medizin außerhalb Indiens wurde ausgelöst
durch die Initiative des vedischen Gelehrten Maharishi Mahesh Yogi, der zu
Beginn der 80er Jahre die ersten Symposien und Seminare organisierte, die
schulmedizinisch gebildeten Ärzten die Möglichkeit gaben, von den führenden
Ayurvedaärzten Indiens in dieses durch sprachliche und kulturelle Barrieren ge-
schützte Heilwissen eingeführt zu werden. Aus dieser Zeit stammt auch der Be-
griff Maharishi Ayurveda, eine der markantesten Schulen der Ayurvedamedizin.
Der Markenname Maharishi Ayurveda stellt sicher, dass der Ayurveda in vollem
Einklang mit dem Wertesystem der Entstehungszeit praktiziert wird, dass die
Anwendungen ganzheitlich, kulturunabhängig und systematisch sind, dass sie
nach den Standards unserer Naturwissenschaft untersucht werden und dass er
mit der modernen Medizin, soweit sie ohne Nebenwirkungen praktiziert werden
kann, voll kompatibel ist.
ressant ist auch eine Textstelle in der Charaka Samhita, in der vier gleichwertige
Faktoren für den Heilprozess beschrieben werden: Arzt, Heilmittel, Pfleger und
Patient („das große Quartett“). Ein schwaches Glied in dieser Kette verhindert
die Genesung des Patienten. In dieser Textpassage werden auch die Qualifikatio-
nen für den Pflegeberuf dargestellt. Neben fachlicher Qualifikation wird vor al-
lem Wert gelegt auf persönliche Hygiene und Psychohygiene, auf einen ehrli-
chen, einfühlsamen Charakter, und auf die Fähigkeit, den Anweisungen des
behandelnden Arztes genauestens zu folgen.
Eine neue klinische Studie der University of California/Irvine zeigt, dass bei
Personen, die Transzendentale Meditation üben, die Schmerzreaktion im Gehirn
um 40 bis 50 % abnimmt.
Pulsdiagnose ist der Kern der traditionellen ayurvedischen Diagnostik und ist ne-
ben der nachträglich erfassten Anamnese und der körperlichen Untersuchung
das wesentliche Entscheidungskriterium für die Wahl der richtigen Therapie. Es
gilt herauszufinden, wo der Ursprung der Störung ist, wo sie sich manifestiert,
welche Doshas, Dhatus und Malas beteiligt sind und wie die Funktion von Agni
beschaffen ist.
Mit den diagnostischen Methoden der modernen Medizin können Krankhei-
ten oft erst diagnostiziert und behandelt werden, wenn sie organisch manifestiert
sind. Sensible Patienten, die schon in früheren Stadien wegen ihrer Beschwerden
den Arzt aufsuchen, werden oft belächelt und ohne Befund und Therapie entlas-
sen. Hier kann der ayurvedisch weitergebildete Mediziner in Diagnose und The-
rapie wesentlich früher ansetzen und das Pflegepersonal durch einfühlsame,
sanfte Therapiemaßnahmen Linderung verschaffen.
schiedener Therapien gibt. Je subtiler eine Methode ist, desto größer die Lang-
zeitwirkung.
Der Ayurveda bietet Arzt und Pflegepersonal vielfältige Therapiemöglichkei-
ten an. Beispiele sind Phytotherapie, mit Empfehlungen für Ernährung, Bewe-
gung und Zeitmanagement, Heilmassagen und lokale Anwendungen, Therapie
über die Sinnesorgane (Klang, Berührung, Farben, Geschmäcker und Düfte),
Ausleitungstherapien (die klassische Pancha Karma Reinigungstherapie) und
Entspannungstherapien wie Meditation und Yoga.
Von der Zielrichtung der Therapie unterscheidet man zwischen „Shamana“
(beruhigenden, palliativen) Behandlungen, „Shodhana“ (Ama/Toxine ausleiten-
de, an der Wurzel heilende) und „Rasayana“ (Lebenskraft erhaltende oder ver-
jüngende) Behandlungen.
In der Charaka Samhita wird den 5 Sinnen (Hören, Tasten, Sehen, Schmecken
und Riechen) nicht nur bei der Entstehung von Krankheiten, sondern auch
bei der Therapie eine wichtige Rolle zugeschrieben. Durch übermäßigen, fehlen-
den oder falschen Gebrauch der Sinne nimmt unser System die Fehlinformatio-
nen auf, die den Geist irre leiten und auch zum Fehler des Denkens (Pragya
Aparadha) als tiefste Ursache von Krankheit führen. Also ist es nur naheliegend,
Informationsaufnahme über die 5 Sinne zur Korrektur des Systems zu nutzen.
Die Information, die zum „Fehler“ im System geführt hat, soll durch Informa-
tion, die den Fehler löscht und die ursprüngliche, geordnete Natur des Geist-
Körper-Systems wiederherstellt, ersetzt werden.
Heilpflanzen
kern minutiös aufgezeichnet sind und die bis heute verwendet werden, wurden
so komponiert, dass sich bei Heilpflanzen mit ähnlicher Wirkrichtung die er-
wünschten Wirkungen addieren, die unerwünschten Wirkungen neutralisieren.
Abb. 1.
Weihrauchharz (Shallaki)
Abb. 2.
Strauch der indischen Myrrhe
(Balsamodendron mukul)
Abb. 3.
Blühender Rizinusstrauch
(Rizinius Communis)
Ayurvedische Schmerztherapie 471
Rizinusöl mit Kurkuma: Dieses einfache „Küchenrezept“ wird wie folgt zube-
reitet: Man verrührt Rizinusöl mit etwa der gleichen Menge Kurkuma-Pulver zu
einer Paste. Bei akuten Schmerzzuständen (Migräne, akute Gelenksschmerzen,
Tumorschmerzen etc.) gibt man halbstündlich ca. einen viertel Teelöffel dieser
Mischung.
Wichtig: die pflanzlichen Präparate werden nie als einzige Maßnahme, son-
dern immer in Verbindung mit anderen Therapien (Ausleitung, Ernährung etc.)
angewendet!
Die Anwendung von Klängen in der Therapie ist für uns zunächst ungewöhnlich,
findet aber auch bei uns zunehmend Anerkennung. Klang ist das traditionelle
therapeutische Medium der Vedischen Tradition Indiens schlechthin. Ursprüng-
lich wurden alle Vedischen Texte ausschließlich mündlich überliefert, und ihre
tägliche Rezitation gehörte bei der geistigen Elite des Vedischen Indien zur tägli-
chen inneren Reinigung und Vorbereitung auf den Alltag.
Klang ist Schwingung, die die Seele berührt. Er erreicht den Kranken oft in
der Welt seiner verletzten Gefühle und kann diese beruhigen und harmonisieren.
Mit den richtigen Klängen kann man Schmerzzustände, die auf inneren Span-
nungszuständen beruhen, an der Wurzel beseitigen.
Entsprechend der Bedeutung von Klängen gibt es im Maharishi Ayurveda
auch eine Vielzahl von Klangtherapien, auf die hier in einigen Beispielen nur
kurz hingewiesen werden soll:
Transzendentale Meditation: Der Patient erlernt ein Klangwort (Mantra), das er
in Gedanken wiederholt. Dadurch wird ein extremer Tiefenentspannungszustand
mit hoher EEG Kohärenz erreicht. Bewährt besonders bei chronischen Kopf-
schmerzen, Migräne, Verspannungen im Bereich der Wirbelsäule. Diese Methode
kann sowohl vorbeugend, bei mobilen chronischen Schmerzpatienten auch the-
rapeutisch eingesetzt werden.
Gandharva Veda Musik: Klassische indische Musik aus der vedischen Tradition,
von Musikern live gespielt oder von Tonträgern. Es gibt eine Vielzahl verschiede-
ner Ragas (Melodien) und Talas (Rhythmen), denen jeweils verschiedene Wir-
kungen zugeschrieben werden. So ist z. B. Raga Bhairavi bewährt bei rheumati-
schen Erkrankungen, Raga Jaunpuri bei Schmerzen im Magen-Darmtrakt. Jeder
Raga zur richtigen Tages-/Jahreszeit gespielt kann Verspannungen in Kopf, Na-
cken und Lendenwirbelsäule lösen.
Lokale Schmerztherapie
behandelt. Die Marmatherapie hat sich in unserer Ayurveda Tagesklinik als be-
sonders wirkungsvoll bei akuten und chronischen Schmerzen herausgestellt.
Für die Behandlung am Schmerzort werden medizinierte Öle, Balsame, Pas-
ten (Lepam) etc. verwendet, je nach Schmerzcharakter oft gefolgt von wärmen-
den oder kühlenden Wickeln.
Shodhana-Therapie: Ausleitungstherapie
Die Therapie beginnt mit der Vorbehandlung (Purvakarma), bei der vor allem
durch diätetische Maßnahmen und Anwendung von so genannten Pachanas die
belastenden Toxine (Ama) aus den Geweben gelöst werden. Wenn nach 1–2 Wo-
chen im Organismus die Anzeichen ausreichender Auflösung von Ama auftreten,
beginnt die Hauptbehandlung (Pancha Karma). Dabei wird wieder jede der fünf
Ausleitungstherapien durch Applikation von Öl und Wärme vorbereitet. Die
meist sehr angenehmen Vorbereitungstherapien der oft anstrengenden Auslei-
tung haben Ayurveda bei uns im Westen bekannt gemacht. Hier werden ver-
schiedene Massagetechniken verwendet, die meist von 2 Therapeuten ausgeführt
werden und erstaunlich entspannend und wohltuend wirken. Die sequenzielle
Anwendung dieser Therapien dauert zwischen 1 und 4 Wochen.
Abb. 4.
Synchronmassage mit zwei Therapeuten
Ayurvedische Schmerztherapie 473
Schulung
Die meisten ayurvedischen Anwendungen dürfen nach europäischem Recht nur
durch entsprechend geschultes Personal auf Anweisung von Ärzten durchgeführt
werden. In Österreich ist vom Gesundheitsministerium eine Ausbildungsord-
nung zur Aufschulung von diplomierten Gesundheitsberufen genehmigt wor-
den. Entsprechende Kurse werden von verschiedenen Organisationen und Schu-
len angeboten.
Zusammenfassung
Ayurveda-Medizin, die Heilkunst der uralten Vedischen Tradition Indiens, deren
Sanskrit-Originaltexte bis heute unverändert überliefert sind, hat ein klares theo-
474 W. Schachinger
retisches Verständnis der Ursachen von Schmerz und eine Vielzahl von regulati-
ven Methoden zur Schmerztherapie. Die verschiedenen Therapiekonzepte wie
Meditation, Ernährung, Phytotherapie, Externa, Klänge und Ausleitungsthera-
pien (Pancha Karma) sind besonders in der Behandlung subakuter und chroni-
scher Schmerzen indiziert. Viele dieser Therapieformen sind bereits ausgiebig
wissenschaftlich erforscht.
Die Ayurveda-Medizin bietet auch bewährte Konzepte zur primären und se-
kundären Rehabilitation von Schmerzpatienten und traditionelle Methoden der
individuellen und kollektiven Vorsorgemedizin.
Literatur
Schrott E, Schachinger W (Hrsg) Handbuch Ayurveda. Haug, Stuttgart
Weitere Literatur beim Verfasser.
Kontakte
Österreichische Gesellschaft für Ayurvedische Medizin (Ärztegesellschaft), Piaristengasse 1,
1070 Wien, www.ayurveda.at
Deutsche Gesellschaft für Ayurveda, Chausseestr. 29, 10115 Berlin, Deutschland,
www.ayurveda.de
Ausbildungen für Ärzte und Heilberufe: Deutsche Ayurveda Akademie, Steyrerweg 11,
93049 Regensburg, Deutschland www.ayurveda.de/ausbildung Tel: +49 9431 7589408,
mail: akademie@ayuveda-gesellschaft.de
Revision
Einleitung
Die Behandlung mit Akupunktur geht zurück auf die Fundamente der traditio-
nellen chinesischen Medizin im 5. Jh. v. Chr. (Hsu 1996). Die ursprüngliche Theo-
rie der Akupunktur besagt, dass die Energie fließt (genannt Qi) und durch den
Körper entlang der Linien (Meridiane genannt) rinnt. Diese Energieflüsse, so
wurde angenommen, sind sowohl essentiell für die Gesundheit als auch für die
Unterbrechung der Krankheitsursachen (NIH Consensus Conference 1998). Um
diese Unbalancen zu korrigieren, werden Akupunkturnadeln entlang der Meridi-
ane gesetzt. Moderne Autoren nehmen an, dass – egal ob eine Person an den
Energiefluss glaubt oder nicht – das Meridian-System durch das sichere Einset-
zen einer großen Anzahl von Nadeln erreicht wird (Mann et al. 1973).
Des weiteren zeigten Studien, dass die Akzeptanz der Akupunktur interes-
santerweise sehr groß ist, ein Fakt, der positiv gesehen werden sollte. Die Effekte
der Akupunktur können nicht auf den Placeboeffekt zurückgeführt werden (Le-
vine et al. 1976), weil im direkten Vergleich die Akupunktur den Placeboeffekt
übertrifft. Generell kann auch der Placebeffekt genutzt werden, um einen niedri-
geren analgetischen Level zu produzieren (Richardson und Vincent 1986). Unter-
suchungen mit funktioneller magnetischer Resonanztomographie bestätigen,
dass die Akupunktur die Aktivität des Limbischen Systems und der subkortika-
len Strukturen moduliert. Durch fühlbare Stimulation wird – wie erwartet – eine
auslösendes Signal im Somatosensorischen Kortex erhöht, aber es gibt keine
Signalmodulation in den Tiefenstrukturen (Hui et al. 2000). Andere Studien zei-
gen, dass während der Akupunktur endogene opioide Peptide freigesetzt wer-
Nichtmedikamentöse Methoden in der Notfallmedizin 477
den, ein Mechanismus, der zumindest teilweise den analgetischen Effekt der
Akupunktur erklärt. Der analgetische Effekt kann durch Opioid-Antagonisten
aufgehoben werden (NIH Consensus Conference 1998). Wie die Akupunktur im
Detail wirkt, wird sicherlich Ziel von weiteren Untersuchungen sein.
Aber immer noch sind der Gebrauch und die Effektivität der Akupunktur in
der westlichen wissenschaftlichen und medizinischen Welt nicht weitreichend
akzeptiert (Hui et al. 2000). Akupunktur spielt eine wichtige Rolle in dem heuti-
gen multimodalen Ansatz der Schmerztherapie (Hsu 1996); so hat die WHO
mehr als 40 Krankheitsbilder aufgelistet, bei denen die Akupunktur als Behand-
lung durchgeführt werden könnte (NIH Consensus Conference 1998).
So ist Akupunktur hilfreich bei Übelkeit und Erbrechen bei postoperativen,
erwachsenen Patienten, bei Chemotherapie und Schwangerschaft. Akupunktur
zeigt positive Effekte bei Abhängigkeit, Rehabilitation nach einem Schlaganfall
und Asthma-Patienten. Auch bei Dymenorrhoe, Fibromyalgie, myofaszialen
Schmerzen, Osteoarthritis, Rückenschmerzen, Karpaltunnelsyndrom (NIH Con-
sensus Conference 1998) und Kopfschmerzen (Manias et al. 2000) zeigt Aku-
punktur eine gute Wirkung. Außerdem ist Akupunktur hilfreich bei chronischen
Schmerzen (Levine et al. 1976; Lee et al. 1976) unterschiedlichster Herkunft.
Natürlich wurden auch die Vorteile der Akupunktur bei chronischen Schmer-
zen untersucht; allerdings unterscheiden sich die Bedingungen von chronischen
und akuten Schmerzen sehr, sodass eine Studie empfohlen wurde (Sung et al.
1977): Postoperative Zahnpatienten wurden in 4 Grupppen unterteilt: Gruppe 1
bekam eine Placebo (Laktose) plus Placebo-Akupunktur für die Analgesie,
Gruppe 2 bekam Kodein plus Placebo-Akupunktur, Gruppe 3 bekam eine Place-
bo-Tablette plus wirksamer, richtiger Akupunktur und Gruppe 4 bekam Kodein
plus wirksamer, richtiger Akupunktur. Die Patienten mit beiden Placebo-
Behandlungen hatten die höchsten Schmerzwerte. Aber interessanterweise zeig-
te Akupunktur allein den stärksten Reduktionseffekt für die ersten 30 Minuten;
ab 2–3 Stunden hatte die Kombination von beiden tatsächlichen Behandlungen
einen signifikant größeren Effekt als beide einzeln.
Wie bei jeder anderen Behandlung sind auch bei Akupunktur unerwünschte
Ereignisse nicht unbekannt. Kleinere unerwünschte Ereignisse wie durch die
Nadel bedingte Schmerzen, Abgeschlagenheit und Blutungen wurden berichtet
(Ernst und White 2001); schwer wiegende unerwünschte Ereignisse sind rar, aber
lebensbedrohlich (Ernst und White 1997): Unsachgemäße Handhabung der Na-
del und die Wiederbenutzung ohne adäquate Sterilisation führen zu Fällen von
Hepatitis, HIV-Infektionen und subakuter bakterieller Endokarditis. Die Metho-
de, die Nadeln für einige Tage in situ zu lassen ist auch mit Infektionen verbun-
den. Abgesehen von Infektionen wurden einige schwer wiegende unerwünschte
Ereignisse wie Pneumothorax oder sogar Herzbeuteltamponade, Dermatitis, Rü-
ckenmarksverletzung und ein Fall von elektromagnetischen Interferenzen bei
der Elektroakupunktur festgestellt, die einen Demand-Herzschrittmacher unter-
drücken.
Da diese unerwünschten Ereignisse nahezu komplett auf die invasive Proze-
dur der Akupunktur zurückzuführen sind, würde Akupressur wohl diese Risiken
478 K. Hoerauf et al.
ernorm reduzieren, da die Stimulation der Akupunkte nur mit Druck erfolgt. Es
wurde gezeigt, dass Akupressur ebenfalls bei Dysmenorrhoe (Taylor et al. 2002),
postoperativen Schmerzen (Felhendler und Lisander 1996) und Kopfschmerzen
(Kurland 1976) effektiv ist.
Weiters kann Akupressur von den Patienten leicht selbst durchgeführt wer-
den, z. B. bei der Reduktion von Dyspnea bei COPD (Maa et al. 1997) oder Kopf-
schmerzen (Kurland 1976).
Wenn Patienten in der Lage sind, Akupressur bei sich selbst durchzuführen, dann
sollte es sicher möglich sein, Sanitäter darauf zu trainieren und Akupressur als
Teil des Schmerzmanagements zu sehen (Kober et al. 2002). Österreichische Sa-
nitäter, denen es nicht erlaubt ist invasive Eingriffe vorzunehmen, wurden trai-
niert, Akupunkte mit den Fingern zu stimulieren, um die analgetische Effektivität
zu testen. 60 Patienten mit leichtem Trauma wurden nach dem Zufallsprinzip in
drei Gruppen eingeteilt: Bei den Teilnehmern der Gruppe 1 wurde Akupressur
durchgeführt, bei den Teilnehmern der Gruppe 2 wurde keine richtige Akupres-
sur durchgeführt und die dritte Gruppe erhielt überhaupt keine Akupressur. Kei-
ner der Sanitäter hatte Vorkenntnisse in Akupressur und der Glaube an Akupres-
sur bei den Patienten war ähnlich in allen Gruppen. Beide Seiten, sowohl die
Patienten als auch die Sanitäter, waren bezüglich der Behandlung verblindet (ei-
ner Sanitäter führte die Akupressur durch, der andere erfasste die Daten). Die
Studienergebnisse zeigen, dass die richtige Akupressur, die von einem Sanitäter
durchgeführt wurde, den Schmerz bei Patienten mit leichtem Trauma signifikant
reduzierte: Gruppe 1 startete mit Schmerzen von 61,8 ± 11,8 mm VAS (Visuelle
Analog Skala) und der Schmerz sank auf 34,0 ± 16,9 mm VAS gemessen zu dem
Zeitpunkt, als sie das Krankenhaus erreichten. Die Schmerzen dagegen der
Gruppe 2 und 3 blieben im Durchschnitt unverändert. Als logische Folge sanken
außerdem die Angstzustände in der Gruppe 1 signifikant im Vergleich zu dem
nicht signifikanten Sinken der Angstzustände in den anderen beiden Gruppen.
Mit der Betonung der Tatsache, dass kein Equipment benötigt wird, um die Aku-
pressur durchzuführen, weiters die Sanitäter nicht auf Assistenz angewiesen
sind, das Training, um die Akupunkt zu finden, sehr kurz ist und dass letztendlich
die Akupressur keine Kosten verursacht, kommt der Autor zu dem Schluss, diese
Technik im Schmerzmanagement bei Patienten mit leichtem Trauma einzusetzen.
Egal, ob ein Arzt oder nicht-akademisches Personal wie Krankenschwestern oder
EMS-Personal die Akupressur durchführt.
In einer weiteren Unterschung (Kober et al. 2003) wurde bei Patienten, die ei-
nen Krankenwagentransport benötigten nach Zufallsprinzip eingeteilt, ob sie au-
rikulare Akupressur an den Entspannungspunkten (n=17) oder an Scheinpunk-
ten (n=19) erhalten (Abb. 1). Es wurde gezeigt, dass die Patienten in der Gruppe,
deren Entspannungspunkte aktiviert wurden, beim Erreichen des Krankenhauses
über signifikant weniger Angstzustände berichteten als im Vergleich dazu die
Nichtmedikamentöse Methoden in der Notfallmedizin 479
Gruppe, bei denen die Scheinpunkte aktiviert wurden (37.6 ± 20.6 auf 12.4 ± 7.8
gegen 42.5 ± 29.9 auf 46.7 ± 25.9, mm VAS, p = 0.002). Ähnlich war die Wahr-
nehmung der Patienten bezüglich der „Schmerzen während der Behandlung“
(32.7 ± 27.7 auf 14.5 ± 8.1 gegen 17.2 ± 26.1 auf 28.8 ± 21.9, mm VAS, p = 0.006)
und „dem Erfolg der Behandlung ihrer Krankheit“ (46.7 ± 29.4 auf 19.1 ± 10.4
gegen 35.0 ± 25.7 auf 31.5 ± 20.5, mm VAS, p = 0.014); die Gruppe, deren Ent-
spannungspunkte aktiviert wurden, zeigte signifikant positive Effekte. Es konn-
ten keine Unterschiede bei den anderen erfassten Variablen gezeigt werden. Die
Autoren zogen aus den Ergebnissen den Schluss, dass die aurikulare Akupressur
eine effektive Behandlung bei Angstzuständen im prä-hospitalen Notfall-Setting
ist.
Abb. 1.
Diskussion
Zweifellos ist ein leichtes Trauma mit Schmerzen und körperlichen Beschwerden
verbunden. Wenn man bedenkt, dass leichte Traumata sehr selten lebensbedroh-
lich werden (Paul et al. 1999), sollte die Kapazität der Sanitäter konsequent ge-
nutzt werden, um Schmerzen minimieren zu können.
Eine Anzahl von Gründen und Vorwänden für die fehlende effektive Analge-
sie durch EMS-Personal lässt sich wie folgt zusammenfassen (Ricard-Hibon et al.
1999): 1) ein Defizit beim EMS-Personal im Bewusstsein, wie wichtig die
Schmerztherapie ist; 2) Reserviertheit gegenüber pharmakologischer Schmerz-
therapie, wegen möglicher unerwünschter Ereignisse; 3) gesetzliche Regelungen,
welche die pharmakologischen Interventionen generell und im Speziellen nicht
erlauben und damit initiale Schmerzbehandlung bei Patienten mit leichtem
Traumaschmerzen verhindern.
Diese Gründe sind je nach EMS-System unterschiedlich („Sanitätern ist es
erlaubt, invasive Eingriffe vorzunehmen“ gegenüber „Sanitätern ohne die Er-
laubnis, aber mit der Möglichkeit einen Notarzt zum Notfall zu rufen“). Interes-
santerweise zeigen beide Systeme eine nicht adäquate Schmerztherapie auf die-
sem Gebiet.
Zusammenfassung
Die Akzeptanz für Akupunktur und Akupressur variiert in der westlichen wis-
senschaftlichen und medizinischen Welt (Hui et al. 2000); die WHO empfiehlt
die Applikation unter 40 Bedingungen (NIH Consensus Conference 1998), ver-
schiedene Studien haben einen analgetischen Effekt gezeigt (NIH Consensus
Conference 1998; Levine et al. 1976; Manias et al. 2000; Lee et al. 1976; Sung et
al. 1977). Die lebensbedrohlichen unerwünschten Ereignisse, die bei der Aku-
punktur berichtet wurden (Ernst und White 1997) beziehen sich darauf, dass die-
se Methode invasiv ist und durch das Weglassen der Nadeln nicht mehr auftreten
können.
Akupressur, eine Stimulation der Akupunkte nur durch Druck, wurde weit
weniger untersucht, hat sich aber bereits als effektiv bei Schmerzen gezeigt (Tay-
lor et al. 2002; Felhendler und Lisander 1996; Kurland 1976). Weiterhin sind Pati-
enten erfolgreich trainiert worden, Akupressur bei sich selbst durchzuführen, um
ihre Situation zu verbessern (Kurland 1976; Maa et al. 1997) – ein Fakt, der impli-
ziert, dass auch nicht-akademisches Personal in der Lage sein sollte, die Anwen-
dung zu lernen. In der Tat wurde gezeigt (Kober et al. 2002), das Sanitäter ohne
jegliche Vorkenntnis bzgl. Akupunktur oder ähnlicher Behandlungen leicht ler-
nen, mit wenigen Akupunkten und Akupressur eine effektive, nicht invasive,
Nichtmedikamentöse Methoden in der Notfallmedizin 481
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Revision
I. PATSCH
Humor – eine hilfreiche Möglichkeit in der Pflege
I. Patsch
Wie ist eigentlich Ihre Vorstellung von Humor? Hauptsache Spaß haben und la-
chen? Oder gehören Sie zu jenen Menschen, welche die Meinung vertreten, dass
Humor dort nichts verloren hat, wo es um eine ernste Sache geht? Oder sehnen
Sie sich nach jener heiteren Gelassenheit, die es Ihnen erleichtert den normal
verrückten Pflegealltag zu bewältigen?
Kaum etwas hilft uns schwierige Zeiten so zu überwinden wie der Humor.
Der Humor, der für Sekunden Distanz schafft, ist wie ein Rettungshubschrauber.
Wenn wir uns beim Klettern im normal verrückten Alltag verstiegen haben und
nicht mehr weiter kommen oder verletzt sind, kann uns der Humor helfen. Der
Rettungshubschrauber, der uns wieder auf den sicheren Boden stellt, ist wie der
Humor, der den Augenblick an die richtige Stelle setzt. Doch der gute Humor ist
kein Dauerbrenner, der permanent und zu jeder Zeit für gute Stimmung sorgt.
Der Humor ist viel mehr ein Ausdruck von innerem Gleichgewicht und humaner
Toleranz. Der Humor ist ein unentbehrliches Element jeder höheren menschli-
chen Ordnung (Patsch 2006).
Immer wieder werde ich gefragt: „Kann ich Humor lernen?“ Humor als Le-
benskunst zu lernen ist jedem Menschen möglich. Für diese Art von Humor gibt
es kein Rezept, aber jede Menge Zutaten. Die wesentlichen Elemente sind
Selbstvertrauen, Unabhängigkeit, Beobachtungsgabe, Offenheit, Mut und die
Fähigkeit über sich selbst lachen zu können. Dazu kommt die Bereitschaft aktiv
zu einem fröhlichen Miteinander beizutragen und nicht darauf zu warten, dass
andere für eine gute Stimmung sorgen.
„Humor ist der Ausdruck eines liebevollen Miteinanders. Er macht die Unzu-
länglichkeiten etwas zulänglicher, den Schaden etwas leichter und den Schmerz
etwas erträglicher. Nur die Überheblichkeit macht er lächerlich, die lacht er aus.“
(H. Nannen) Viktor E. Frankl, der Begründer der Logotherapie, der so genannten
dritten Wiener Richtung der Psychotherapie schrieb: „Menschen vergessen, das
484 I. Patsch
der Mensch stärker sein kann als er selbst oder zumindest neugierig genug, um
mit Nestroy zu fragen: ‚Jetzt bin i wirklich neugierig, wer stärker is, i oder i.’
Oder mit anderen Worten, mit denen ich meine Patienten manchmal zu fragen
pflege, wenn sie mir vorjammern, was sie alles nicht können oder was sie alles
müssen: ‚Jetzt sagen Sie mir mal, müssen Sie sich wirklich alles von sich gefallen
lassen? ’“ (Frankl 1982)
Das Reduzieren auf Nützlichkeit ist eine wesentliche Gefährdung, welcher nicht
nur der erkrankte Mensch in einer Gesellschaft ausgesetzt ist, die Perfektionis-
mus und Funktionalität als Voraussetzung für ein gelingendes Leben bestimmt.
Die Wucht dieser Reduktion trifft jene Menschen besonders hart, die dem Leben
vorschreiben wollen, wie es zu sein hat.
Horvath den Gedanken aus: „Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so
selten dazu!“
„Wenn ich lachen soll, muss mir schon jemand einen Witz erzählen“, hat Vik-
tor Frankl einmal gemeint. Ich brauche einen Grund. Gründe zum Lachen gibt es
im Alltag genug. Doch man hört am Lachen, wenn der Spaß aufhört. Die Gren-
zen dessen, was als Spaß gemeint ist und wo der Spaß aufhört, sind fließend.
Schließlich will niemand als humorlos gelten, und so finden Opfer übler Streiche
selten den Mut, sich zu beschweren. Besonders für den Humor in der Pflege gilt:
Das Zulässige vom Unzumutbaren und die Menschenwürde von der Menschen-
verachtung sind zu trennen. Ein Spaß ergibt sich nur dann, wenn das Lachen
von Herzen kommt und nicht auf Kosten anderer geht.
Damit Sie Ihre Patientinnen und Patienten und vielleicht sich selbst besser ver-
stehen, ist im Umgang mit Humor ein wenig Menschenkenntnis ein großer Vor-
teil. Wir alle haben verschiedene Charaktereigenschaften und wir können vier
„Typen“ unterscheiden.
Die Denker
Es gibt Menschen, die könnten wir als Denker bezeichnen. Denker wollen lange
und gründlich über Dinge nachdenken. Ihr große Kompetenz liegt im Weitblick
und in der Fähigkeit ruhig zu bleiben, auch wenn es heiß hergeht. Allerdings ist
der Denker ein Kontrollfanatiker und glaubt, dass das Leben und die Arbeit wie
im Drehbuch verläuft. Ist so ein „Denker“ ans Bett gefesselt und auf ihre Hilfe
angewiesen, dann wird er wenig Verständnis für Missgeschicke haben.
Sehr treffend beschreibt Erich Kästner diese Menschen
In ihren Händen wird aus allem Ware,
in ihrer Seele brennt elektrisch Licht.
Sie messen auch das Unberechenbare
was sich nicht zählen lässt, das gibt es nicht.
Die Macher
Einen so genannten Macher, einen Menschen, der Tatkraft und Leistungsfähig-
keit auf seine Fahne geschrieben hat, trifft ein Krankenhausaufenthalt besonders
hart. Hätte er die Termine für Untersuchungen selbst vereinbart, dann stünde die
Diagnose fest und er könnte „schnell repariert“ werden. Doch dieses unnütze
Warten ist aus seiner Sicht verlorene Zeit, denn auf ihn wartet Arbeit und über
Telefon oder Laptop dirigiert er vom Krankenbett die Geschehnisse.
486 I. Patsch
Die Sozialen
Dann gibt es noch den Sozialen. Er will vor allem ein guter Mensch sein und ist
äußerst belastungsfähig und ausdauernd. Bevor er einmal Nein sagt, sagt er
hundertmal Ja. Der Soziale als Patientin oder Patient will Ihnen vor allem keine
Umstände machen. Er gehört zu jener Sorte Menschen, die still und geduldig
Schmerzen auf sich nehmen und nicht daran denken, dass die Pharmazie Hilf-
reiches bereit hält.
Erich Kästner hat diesen Charakter so beschrieben:
Die Kümmerer sind sehr begehrt,
weil sie bescheiden sind und nichts begehren.
Sie wollen keinen Gegenwert
sie wollen nichts, als da sein und verehren.
Die Darsteller
Die vierte, derzeit sehr verbreitete Charaktereigenschaft ist jene des Darstellers.
Dieser Mensch hat einen großartigen Ideenreichtum und kennt keine Scheu im
Mittelpunkt zu stehen. Er sorgt dafür, dass dem Pflegepersonal die Arbeit nicht
ausgeht, läutet oft und hat einige Sonderwünsche. Allein sein ist seine Sache
nicht, er will am Geschehen auf der Station nicht nur teilhaben, sondern er will
im Mittelpunkt sein. Diese Patientinnen und Patienten mögen es gerne, wenn die
Türe des Krankenzimmers offen steht, damit sie alles mitbekommen.
– Warten Sie nicht, bis die anderen lachen, fangen Sie damit an!
– Schreiben Sie sich Sprüche auf, die Ihnen gefallen!
„Lieber eine gesunde Verdorbenheit als eine verdorbene Gesundheit.“
„Besser eine ordentliche Ruhepause, als eine pausenlose Unruhe.“
(Titze 2004)
– Lernen Sie lustige Gedichte auswendig:
„Ein Mensch ist plötzlich wie verwandelt, sobald man menschlich ihn
behandelt!“ (Eugen Roth)
„Seit früh’ster Kindheit, wo man froh lacht,
verfolgt mich dieser Ausspruch magisch:
Man nehme ernst nur das, was froh macht
und das Ernste niemals tragisch.“
(Heinz Erhardt)
– Schenken Sie sich spontan eine Kleinigkeit: Schauen Sie in den Spiegel und
lächeln Sie!
Humor – eine hilfreiche Möglichkeit in der Pflege 487
– Hängen Sie lustige Karten, Witze, Sprüche, Bilder, Cartoons an Ihrem Ar-
beitsplatz auf.
– Singen Sie im Auto so laut und so falsch wie möglich oder reden Sie „liebe-
voll“ mit sich unter dem Frankl-Motto: „Ich muss mir von mir nicht alles ge-
fallen lassen!“
– Schauen Sie sich lustige Filme, Theaterstücke, Kabarett an.
– Notieren Sie sich Pointen, die Ihnen gefallen und wenden Sie diese im Alltag
an: „So sehr wir auch kämpfen, lebend kommen wir aus der Welt nicht raus!“
– Wenn Sie jemand verbal angreift und Sie wissen nicht, was Sie sagen sollen,
stellen Sie die einfachste Frage der Welt: „Warum?“
– Überraschen Sie nach dem Nachtdienst Ihre Kolleginnen und Kollegen mit
einer Blume oder einer Karte und wünschen Sie ihnen einen schönen Tag.
– Flirten Sie! – Wissen Sie nicht mehr wie’s geht? Dann gehen Sie auf die
Suche nach Ihrem Herz … und vergessen mal das Hirn: Sein Herz zu verlie-
ren ist die beste Möglichkeit zu entdecken, dass man eines hat!“
– Lesen Sie Humorvolles: Karl Valentin, Christine Nöstlinger, Ephraim Kishon,
Erich Kästner, Eugen Roth, Heinz Erhardt … und Stilblüten und Kinderauf-
sätze!
– Sammeln Sie Cartoons – und kreieren Sie Ihre eigenen Texte dazu!
Warnung!!!
Humor und Kreativität sind nicht konservierbar – trauen Sie Ihrer Spontaneität!
Nicht alle Menschen verstehen Humor in der Pflege, weil sie meinen, Krank-
sein ist eine ernste Sache und da gibt es wenig oder nichts zu lachen. Wenn Ihre
ersten Versuche nicht „ankommen“ probieren Sie andere Anregungen aus und
entdecken Sie Ihren persönlichen Humor für ein fröhliches und gelingendes Le-
ben.
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Titze M Patsch Inge (2004) Die Humorstrategie
Revision
M. HARRER
M. Harrer
Wenn Sie wissen wollen was Achtsamkeit ist, können Sie sich auf ein kleines Ex-
periment einlassen: Sie können, während Sie Ihre Augen auf diese Zeilen gerich-
tet haben, ein paar Augenblicke innehalten und ganz bewusst Ihren Körper
wahrnehmen. Sie können nachspüren, wo Ihr Körper den Boden oder die Unter-
lage berührt, vielleicht den rechten oder den linken Fuß, Ihr Gesäß oder Ihren
Rücken spüren. Sie können auch bewusst wahrnehmen, dass Sie atmen, und be-
obachten, wo und wie Sie genau spüren, dass Sie einatmen: an der Nasenspitze,
dem Weiterwerden des Brustkorbes oder dem Heben der Bauchdecke. Sie kön-
nen wahrnehmen, wie Sie ausatmen, wie sich Brustkorb oder Bauchdecke sen-
ken. Sie können Ihre Aufmerksamkeit auch speziell der kleinen Pause am Ende
des Ausatmens schenken, bevor Sie wieder einatmen. Vielleicht bemerken Sie,
dass Gedanken auftauchen, Sie können diese dann zum Gegenstand Ihrer Be-
obachtung machen und feststellen, ob diese Gedanken die Vergangenheit, die
Gegenwart oder die Zukunft betreffen. Es können Bilder auftauchen – z. B. ein
Zen-Mönch. Oder Sätze gehen Ihnen durch den Kopf wie „ich habe keine Lust“
oder „was soll das?“. Vielleicht werden Sie sich eines Gefühls bewusst, bemerken
Freude oder Ärger.
Achtsamkeit bedeutet also, ganz bewusst von Moment zu Moment das wahr-
zunehmen, was ist. In innerer Achtsamkeit werden Körperempfindungen, Ge-
fühle, Stimmungen, Gedanken, innere Bilder und Impulse beobachtet wie sie
entstehen und wieder vergehen. Achtsamkeit bedeutet aber genauer noch Be-
obachtung aus einer ganz bestimmten Haltung heraus: wohlwollend zu akzep-
tieren, nicht zu bewerten, es nicht anders haben zu wollen und verändern zu
müssen, also nirgendwohin zu müssen.
490 M. Harrer
Wozu Achtsamkeit?
Wozu soll ein Mensch des 21. Jahrhunderts etwas üben und praktizieren, was
Buddha vor über 2500 Jahren als direkten Weg zur Läuterung der Wesen, zur
Überwindung der Besorgnis und zur Linderung von Leid (Nyanaponika 2000)
beschrieben hat? Warum soll die Übung von Achtsamkeit gerade in einer Welt,
die von Geschwindigkeit, Aktivität, Leistung und Zielen beherrscht wird und wa-
rum gerade in belastenden Situationen und warum in helfenden Berufen sinnvoll
und hilfreich sein? Welche Räume erschließt der Schlüssel der Achtsamkeit?
Worin besteht „Das Wunder der Achtsamkeit“ (Thich Nhat Hanh 1997)?
Achtsamkeit kann in ihrer ersten Bedeutung als bewusste Lenkung der Auf-
merksamkeit begriffen werden. Achtsamkeitspraxis dient dazu, in Kontakt mit
der Gegenwart zu kommen und gegenwärtig zu bleiben. Sie ermöglicht ein wa-
ches Anwesendsein im Hier und Jetzt. Durch Gegenwärtigkeit öffnet sich das
Bewusstsein für den Reichtum und die Fülle der konkret-sinnlich wahrge-
nommenen äußeren Landschaften, der visuell wahrgenommenen Landschaften,
von „Geräuschlandschaften“, „Berührungslandschaften“, „Geruchs- und Ge-
schmackslandschaften“ (Kabat-Zinn 2006), aber auch für die Innenwelt mit all
ihren Facetten. Aufmerksamkeit ist also durch einen bestimmten Fokus charak-
terisiert, wobei sie nach außen und/oder nach innen gerichtet sein kann.
Auf der Zeitachse wendet sie sich ausschließlich dem gegenwärtigen Mo-
ment zu. Dies verhilft auch dazu, weniger Zeit und Energie mit einem großteils
wenig produktivem Nachsinnen über Vergangenes oder mit Phantasien über Zu-
künftiges oder Erwünschtes, das (noch) nicht da ist, zu verbringen. Von einem
emotionalen Gefangensein in ungelösten Szenen eines „Dort und Damals“ führt
Achtsamkeit in das lebendige „Hier und Jetzt“.
Aufmerksamkeit ist durch ihren Fokus und durch eine bestimmte Qualität cha-
rakterisiert. Und das ist die zweite Bedeutung von Achtsamkeit: die einer inne-
ren Haltung, die unvoreingenommen, offen, liebevoll zugewandt, achtungsvoll,
interessiert und erkundend bemerkt ohne zu bewerten, studiert ohne einzugrei-
fen. Sie ist eine Bereitschaft zum aktiven Nicht-Tun und steuert den sonst übli-
chen Automatismen entgegen. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass alles
was existiert, eine Daseinsberechtigung hat, die es zu achten gilt. Diese Achtung
ist der Beziehungsaspekt von Achtsamkeit. Das Wahrgenommene wird in die-
ser achtungsvollen Haltung weniger in Kategorien von „gut“ und „schlecht“,
von „brauchbar“ oder „unbrauchbar“ eingeteilt. Es wird vielmehr in seinem So-
Sein wahr-genommen, achtungsvoll akzeptiert und primär sein gelassen. Dieses
unvoreingenommene Betrachten im „Anfängergeist“ mit dieser Beziehungsqua-
lität kann sich in einer Wiederbelebung des Wunderns und Staunens als Berührt-
sein oder auch als Ergriffenheit und Liebe äußern. Diese lebensbejahenden Fä-
higkeiten, die positive Gestimmtheit und die Akzeptanz haben nicht nur Einfluss
auf das intrapersonelle Erleben, sondern wirken sich auch in den Beziehungen
zu Mitmenschen positiv aus (Altner 2007, S. 154).
Akzeptanz kann allerdings nicht bedeuten, destruktive Vorgänge gutzuheißen
oder zu billigen, oder ebensowenig, dass eine engagierte, wie auch kämpferische
Auseinandersetzung unterbleibt, wo sie nötig ist. Die Akzeptanz gilt zu allererst
dem Wahrgenommenen. Wie damit verfahren wird, ist der nächste Schritt (An-
derssen-Reuster 2007, S. 1).
„innerer Beobachter“ aktiv ist und gestärkt wird. Die Tätigkeit des Beobachtens
selbst rückt in den Vordergrund, während das Beobachtete selbst in den Hinter-
grund tritt bzw. in seinem Kommen und Gehen als vorübergehend, vergänglich
und weniger wesentlich erkannt wird.
Im Alltagsbewusstsein funktionieren wir gewöhnlich in einem „Handlungs-
Modus“: Die Gegenwart steht im Dienst eines finalen Ergebnisses. Achtsamkeit
hingegen führt in einen „Seins-Modus“, einen Zustand, den Menschen mit
langjähriger Meditationserfahrung mit Begriffen beschreiben wie (heitere) Gelas-
senheit, innere Stille oder einem inneren Frieden, der das ganze Wesen durch-
dringt. Ein Kursteilnehmer hat es einmal als „zu sich nach Hause kommen“ be-
zeichnet (Lehrhaupt 2007, S. 143).
schritten sind und wir körperlich oder seelisch Schaden genommen haben, der
nicht mehr zu übergehen ist.
Auf der Seite der Ressourcen fördert Achtsamkeit die Gesundheit, einen po-
sitiven Selbst- und Körperbezug und unterstützende und stärkende Beziehungen
zu Mitmenschen, z. B. im Arbeitsteam oder der Familie. Destruktive Automa-
tismen von aggressiven Ausbrüchen bis zu selbstschädigendem süchtigen Ver-
halten können durch Innehalten, Einsicht und die Eröffnung von Wahlmöglich-
keiten unterbrochen werden.
Abgrenzung z. B. im Sinne von Abschalten nach der Arbeit funktioniert
durch Achtsamkeit nicht, indem der andere ausgeblendet wird, sondern indem
ich gelernt habe, mich an mich selbst zu erinnern. Ich wende die Aufmerksam-
keit mir selbst zu, nehme auch meine eigenen Bedürfnisse wahr und sorge so-
weit als möglich für deren Erfüllung durch mich selbst oder andere. Es geht um
eine gute Balance zwischen Mitgefühl mit anderen und mir selbst, also darum,
sich selbst ebenso wichtig zu nehmen, ebenso zu lieben, wie die anderen auch.
Achtsamkeit bedarf der Anleitung und Übung. Die folgenden Übungen sind Bei-
spiele der Achtsamkeitspraxis, wie sie in Seminaren und Retreats vermittelt und
geübt werden. In der Regel ist es einfacher, sich dem Thema unter fachkundiger
Anleitung und in einer Gruppe anzunähern. Die Umsetzung in den Alltag und
regelmäßiges Üben kann durch „Auffrischung“ in der Gruppe, in Seminaren
oder Retreats unterstützt werden.
Die erste Übung zählt zu den „Klassikern“. Bei der Atemachtsamkeit wird
der Atem als jederzeit verfügbares Objekt zum Gegenstand der Beobachtung.
Das Zählen hilft, die Aufmerksamkeit beim Atem zu halten bzw. nach dem Ab-
schweifen der Aufmerksamkeit darauf zurückzukommen (Thich Nhat Hanh
1988, S. 109).
Den Atem zählen
Im Sitzen oder beim Gehen, wenn Sie einatmen, dann seien Sie sich be-
wusst: „Ich atme ein – eins.“ Wenn Sie ausatmen, dann seien Sie sich be-
wusst: „Ich atme aus – eins.“ Denken Sie daran, vom Bauch her zu atmen.
Wenn Sie mit dem zweiten Einatmen beginnen, seien Sie sich bewusst:
„Ich atme ein – zwei.“ Wenn Sie langsam ausatmen, seien Sie sich be-
wusst: „Ich atme aus – zwei.“ Machen Sie so weiter bis zehn. Wenn Sie
bei zehn angekommen sind, beginnen Sie wieder mit eins. Immer wenn
Sie das Zählen vergessen haben, kehren Sie zu eins zurück.
Die zweite Übung stammt aus der Tradition von Gurdjieff (Tart 1996, S. 80–
87). Es empfiehlt sich, den Tag damit zu beginnen, darum die Bezeichnung
„Morgenübung“. Sie lässt sich jedoch auch während des ganzen Tages immer
wieder in die alltäglichen, auch beruflichen Tätigkeiten integrieren, kostet also
keine zusätzliche Zeit. Man kann beispielsweise (mit einiger Übung) den eige-
Stärkung der inneren Achtsamkeit 497
nen Körper wahrnehmen oder zumindest Teile davon, während man mit jeman-
dem anderen spricht, telefoniert oder als Krankenschwester einen Patienten
wäscht.
„Morgenübung“
Zunächst spüren: nacheinander rechten Fuß, rechten Unterschenkel,
rechten Oberschenkel, rechte Hand, Unterarm, Ellbogen, rechten Ober-
arm, durch den Oberkörper zur linken Seite, Schulter, Oberarm, Ellbogen,
Unterarm, Hand, linken Oberschenkel, Unterschenkel, Fuß. Dann beide
Beine und beide Arme gleichzeitig spüren, dazu dann
Hören: Geräusche, Töne. Dann gleichzeitig spüren und hören und
Schauen: mit dem Blick eines neugierigen Kindes (nicht fixieren, d. h.
nicht nur auf einen Punkt schauen).
Schluß: ... im Körper sein, die Empfindungen in Armen und Beinen spü-
ren. Außerdem hören, aktiv hören auf die von Moment zu Moment vor-
handenen Klänge, Geräusche und aktiv auf die Gegenstände schauen,
wahrnehmen wie ein wissbegieriges Kind, so als ob Du die Dinge zum
ersten Mal siehst.
... Es geht darum, bewusst achtsam für den Moment zu sein, indem Du
fühlst und spürst und tatsächlich hinhörst und Dich umschaust und
gleichzeitig die kleine Willensanstrengung auf Dich nimmst, die es braucht,
um die Aufmerksamkeit absichtlich geteilt zu halten. Dies ist ganz wichtig. Nie
soll die gesamte Aufmerksamkeit nur ins Hören oder nur ins Sehen ge-
hen, sie soll geteilt bleiben. Bleibe in Verbindung mit den Empfindungen
im Körper, in Armen und Beinen und schau und höre aktiv.
... Dieses Spüren, Schauen und Hören ist der Weg in die Gegenwart, ins
Gegenwärtig-Sein.
Setzen Sie sich konkrete Ziele, d. h. legen Sie für sich einen Zeitraum
(z. B. einen Tag, eine Woche) fest, welche Tätigkeit Sie als Erinnerung nut-
zen wollen und wie oft Sie innehalten wollen (z. B. jedes Mal, mindestens
einmal jede Stunde, zwei Mal am Tag).
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Revision
H. PAARHAMMER
H. Paarhammer
Einleitung
Vom unvergessenen Wiener Erzbischof Kardinal Franz König stammen die Wor-
te. „In unserer Zeit wird es immer notwendiger, das Geistige wieder neu zu ent-
decken und nicht nur am Materiellen allein zu hängen.“ Der Mensch ist mehr als
nur organische Materie. Er ist ein geistbegabtes Wesen. Deshalb gehört Religion
zum Menschen. Der Kardinal ist dabei der Überzeugung, dass eine „ethisch-
geistige Erneuerung nur aus der Kraft religiöser Energien gelingen kann.“ Des-
halb fordert er auch ein: „Wir müssen wieder fragen nach dem Woher und Wo-
hin, nach dem letzten Sinn und Ziel unseres Lebens, nach dem tiefsten Grund
der menschlichen Existenz, und warum wir eigentlich da sind. Wir müssen wie-
der fragen nach dem Ewigen, nach Gut und Böse, nach Schuld und Gewissen.
Das tiefere Fragen führt zum tieferen Wissen, zum Gewissen und damit zur geis-
tigen Verwurzelung des Menschen.“1
1 Franz Kardinal König (1978) Kirche und Welt. Ansprachen – Referate – Aufsätze. Herold,
Wien, S 47
2 Sudbrack J (2000) Art. Spiritualität. In: LThK, Bd. 9. Herder, Freiburg, S 852–860, hier 853
502 H. Paarhammer
Frömmigkeit und des religiösen Lebens (Askese, Mystik) bis in den Alltag hinein
(Gebet, Meditation, Kult, Körpersprache und -haltungen).3
„Spiritualität als lebendige Wirklichkeit geht der theologischen Reflexion vor-
aus. Glaube ist existentieller Lebensvollzug des ganzen Menschen mit Leib und
Seele. Er lebt nicht aus sich selbst, sondern aus Impulsen des Heiligen Geistes.
Indem der Mensch diesen folgt, entsteht Spiritualität als die konkrete geistge-
wirkte Gestalt seines Glaubenslebens.“4 Deshalb ist Spiritualität nach einem
Wort von Hans Urs von Balthasar als „praktische oder existentielle Grundhal-
tung des Menschen“ zu verstehen.5
Der Begriff Spiritualität umfasst somit ein breites Spektrum von Lebensvoll-
zügen und kann sehr viele religiöse Beziehungen betreffen und abdecken: das
Verhältnis des Menschen zu seinem Gott, zu den Mitmenschen, zur Natur und
Mitwelt, zur Kultur überhaupt, nicht zuletzt zu sich selbst. Nach christlichem Ver-
ständnis setzt Spiritualität „das Wirken des Heiligen Geistes voraus und zielt auf
ein Leben ‚aus dem Geist’. Zwischen beidem liegt das weite Feld der Erfahrung
des Geistes und der Erfahrung der Lebenswelt. In diesem Kontext erscheint Spi-
ritualität als vielgestaltige und spannungsvolle Größe.“6 Spiritualität wird immer
„mitkonstituiert von kontextuellen lebensweltlichen Erfahrungen, ermöglicht
damit nicht nur eine ‚Symbiose von Glaube und Kultur’, sondern auch solche
Verhaltensweisen und Aktivitäten, die über eine ekklesial-gemeinschaftliche
Verwirklichung hinausgehen.“7
Ganz einfach gesagt hat Spiritualität so viele Gesichter wie es Menschen gibt.
So wie jeder Mensch seine besonderen Fähigkeiten, Begabungen, Talente und
„Gnadengaben“ (Charismen) hat, so gestalten sich spirituelle Lebensäußerun-
gen und -beziehungen immer auch individuell und persönlich. Darin liegt eine
große Chance, sich persönlich zum Wohle einzelner Mitmenschen einzubringen
und zu entfalten, aber auch im Miteinander und Füreinander des größeren Gan-
zen unserer Gesellschaft ein Klima entstehen zu lassen, in dem die Erfahrung
von Geborgenheit, Angenommensein und geschenktem Heil vermittelt wird.
und erkannte, dass er schon lange krank war, fragte er ihn: Willst Du gesund
werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich,
sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt. Während ich mich hinschleppe,
steigt schon ein anderer vor mir hinein. Da sagte Jesus zu ihm: Steh auf, nimm
Deine Bahre und geh! Sofort wurde der Mann gesund, nahm seine Bahre und
ging.“
Wenn man sich in diesen schwer behinderten Mann hineindenkt und mit-
fühlt, dann macht seine Aussage sehr betroffen: „Ich habe keinen Menschen!“
Spiritualität in den verschiedensten Sparten der Medizin, vor allem auch in
der Palliativmedizin, und in den Bereichen der Pflege bis hin zur Sterbebeglei-
tung geht vom biblischen Prinzip aus: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein
bleibt!“ (vgl. Gen 2, 18)
Der Innsbrucker Altbischof Dr. Reinhold Stecher hat in seinem wunderschö-
nen Buch „Geleise ins Morgen“ ein Kapitel überschrieben: „Reise in die Gebor-
genheit“.8 Darin erinnert er sich an ein Gedicht von Friedrich Nietzsche, das er
als Student im Deutschunterricht gehört hatte: „Weh dem, der keine Heimat
hat!“ Reinhold Stecher stellt dazu fest: „Es war ein düsteres Gedicht mit Novem-
berlandschaft, Nebel und schwarzen Krähen, die in Richtung Stadt fliegen.“ Er
habe den Refrain nicht vergessen: „Weh dem, der keine Heimat hat ...“ Dieser
Satz sei ihm oft in den Sinn gekommen, bis in die Gegenwart, und komme ihm
„wie eine Hymne“ für das ausgehende 20. Jahrhundert vor, in dem es die millio-
nenfache menschliche Erfahrung des Verlustes an Geborgenheit gegeben habe,
und stellt fest: „Unsere Epoche hat zweifellos auch die größte Zahl innerlich unge-
borgener Menschen hervorgebracht, und zwar mitten in Frieden und Wohlstand.
Wir dürfen den Psychologen und Psychotherapeuten, den Ärzten, Sozialhelfern,
Pädagogen und Seelsorgern ruhig glauben: Noch nie gab es einen so hohen Pro-
zentsatz von seelisch Belasteten, Verwirrten, Verunsicherten, Verstörten, Entwur-
zelten, Depressiven, Resignierenden, Alleingelassenen, Einsamen, Isolierten und
Suizidgefährdeten wie heute.“9 Der Autor beklagt dabei die „Defizite an Zuwen-
dung“ und hält fest: „Diese ‚Entbergung‘ trifft viele Menschen zutiefst. Vor eini-
gen Jahren ging ein bewegendes Foto um die Welt. Es stammte aus der Welt der
Bootsflüchtlinge im Fernen Osten. Eine junge Mutter watet mit letzter Kraft an
den rettenden Strand und presst ihr Kind an sich. Dieses Kind ist ‚heimatlos‘ –
und doch beheimatet. Es hat eine Mutter. Und wir wissen alle aus tausend Bei-
spielen, die das Leben bietet, dass fundamentale Heimatlosigkeit darin besteht,
von niemand geliebt zu werden und sich von niemand geliebt zu wissen.
Der Mensch ist als Du-Wesen geschaffen. Und das Gelingen des Lebens
hängt weitgehend vom Gelingen der Du-Beziehungen ab.“ Reinhold Stecher be-
zeichnet den Verlust der Zuwendung als die größte Gefahr für den inneren Halt
des Menschen. Es gehe um die Fähigkeit zur „Einfühlung in den anderen“.
„Der Ruf nach bergenden Menschen“ sei in unserer Zeit unüberhörbar. Rein-
hold Stecher bringt es dabei mit folgendem Postulat auf den Punkt:
„Es braucht in Welt und Kirche heute Menschen, die Kraft ihrer Persönlich-
keit ein Gegengewicht zu jenen Defiziten bilden, die uns heute beeinträchtigen.
Das gelingt Menschen, die eine gewisse geistige Ausstrahlung mit Gemütstiefe
und Beständigkeit verbinden. ‚Der Mensch mit Herz‘ ist in allen Bereichen ge-
fragt. Sogar im nüchternen Raum wirtschaftlichen und betrieblichen Manage-
ments hat man erkannt, dass es mit dem ‚schnellen Schalten‘, dem großen
‚Durchsetzungsvermögen und Organisationstalent‘ allein nicht getan ist. Es gibt
viele Sünden, vor denen wir uns als Christen hüten müssen. Am meisten fürchte
ich die Herzlosigkeit.“ In allen Bereichen, wo Menschen für Menschen da sind,
brauche es das „Diplom der Herzensbildung, das Einfühlungsvermögen, Verste-
hen und schlichte Solidarität bescheinigt“.10
Bergende Menschen verstehen es auch vorzüglich, bergende Lebensvollzüge
zu vermitteln, wie sie sich in einer bunten Fülle von Ritualen zeigen. Der be-
kannte Benediktinerpater Anselm Grün weist in seinem Buch „Geborgenheit
finden – Rituale feiern. Wege zu mehr Lebensfreude“ eindrucksvoll und über-
zeugend nach, wie wichtig und unverzichtbar in unserem Leben immer wieder-
kehrende Vollzüge und Riten sind. In einer zusammenfassenden Übersicht filtert
der Fachmann der Spiritualität zwölf Merkmale heraus und stellt dabei fest, dass
viele Rituale nicht typisch christlich, sondern allgemein menschlich seien. Aber er
habe versucht, „die Rituale immer als Bestandteil eines spirituellen Weges zu zei-
gen, als Methoden auf dem inneren Weg, die mir helfen sollen, mein Leben vor
Gott bewusst zu leben und mich von Gott mehr und mehr verwandeln zu las-
sen.“11 Anselm Grün stellt dabei unter anderem fest: „Rituale feiern unser Leben,
weil es wert ist, gefeiert zu werden. In der Feier drückt sich die göttliche Würde
unseres Lebens aus. Die Freude an dem göttlichen Leben, das in uns ist, verlangt
nach der Feier. Feiern heißt, Ja sagen zu seinem Leben. Feier ist absolute Zu-
stimmung zum Dasein. Und im Feiern drückt sich zugleich die Sehnsucht nach
absoluter Geborgenheit und Liebe aus. In jedem Ritual steckt die Verheißung der
Vollendung, die Verheißung absoluten Glücks. In der Feier des Rituals tauchen
wir ein in das eigentliche Geheimnis unseres Lebens und trinken aus der göttli-
chen Quelle.“12
Das Wort, das Dir hilft, kannst Du Dir selbst nicht sagen!
Als ich im Herbst 1981 sehr schwer erkrankt im Spital war und, kaum ansprech-
bar, Besuche lieber Menschen erhielt, da stellte mir eine Jugendgruppe aus mei-
ner Pfarrgemeinde eine Bildkarte auf das Nachkästchen mit sehr liebenswürdi-
gen Genesungswünschen. Auf dieser Bildkarte leuchtete eine kräftig blühende
Feuerlilie und darunter stand der Spruch: „Das Wort, das Dir hilft, kannst Du Dir
selbst nicht sagen!“ In dieser Krisenzeit meines Lebens – ich war damals 34 Jahre
jung – brachte mich dieser Satz sehr zum Nachdenken. Ja, in der Tat ist es so: Wir
Menschen bedürfen in den verschiedensten Situationen des guten Wortes, das
von anderen kommt. Ein freundlicher Gruß, ein herzliches Danke, ein anerken-
nendes Lob, ein aufmerksamer Zuspruch, ein gütiger Trost, eine aufrichtige Gra-
tulation und vieles andere mehr kann Wunder wirken und unser Leben hell ma-
chen. Worte können genauso aber auch schwer verletzen, beleidigen, „töten“. Es
kommt auf den Ton an! Spiritualität hat es nachhaltig mit diesem „guten Ton“ zu
tun!
Theologisch hat dieser Gedanke „Das Wort, das Dir hilft, kannst Du Dir selbst
nicht sagen!“ in Jesus Christus eine ganz besondere und einzigartige Bedeutung
bekommen. „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt!“,
heißt es im Johannesevangelium (Joh 1, 14). Das, was Jesus uns sagt, und was der
Vater im Himmel uns durch und mit Jesus sagt, hätten wir uns selbst niemals sa-
gen können. Jesus selbst gibt seinen Aposteln den Auftrag und die Vollmacht, al-
len Menschen vom Vater im Himmel zu erzählen, ihnen Mut zu machen, Gottes
Willen zu tun, von Sünden loszusprechen und den Leuten einfach zu sagen:
„Das Reich Gottes ist Euch nahe!“ In vielen Bildern und Geschichten erklärt Je-
sus den Begriff und den Sinn dieses uns zugesagten Reiches Gottes. Er lehrt uns
vertrauensvoll beten: „Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein
Reich komme, Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden ...“ In diesem
Gebet liegt eine starke Kraft des Trostes, der Hoffnung und der Zuversicht.
Viele andere Gebete können uns in bedrängenden Situationen helfen, Gelas-
senheit und Besonnenheit zu gewinnen. Etwa jenes schöne Gebet von Charles
de Foucauld, in dem es heißt: „Mein Vater, ich überlasse mich dir; mach mit mir, was
dir gefällt. Was du auch mit mir tun magst, ich danke dir. Zu allem bin ich bereit, alles
nehme ich an. Wenn nur dein Wort sich an mir erfüllt und an allen deinen Geschöpfen,
so ersehne ich weiter nichts, mein Gott. In Deine Hände lege ich meine Seele. Ich gebe
sie dir, mein Gott, mit der ganzen Liebe meines Herzens, weil ich dich liebe und weil
diese Liebe mich treibt, mich dir hinzugeben, mich in deine Hände zu legen, ohne Maß,
mit einem grenzenlosen Vertrauen. Denn Du bist mein Vater!“
Aber nicht jeder Mensch kann so zuversichtlich und „Gott ergeben“ beten. Es
gibt Situationen, in denen wir mit Jesus am Kreuz rufen, ja schreien möchten:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Auch das ist Spirituali-
tät. Die letzten Worte Jesu am Kreuz können für uns zur Kraftquelle werden, los-
zulassen und unsere Ängste, Sehnsüchte und Wünsche zu artikulieren.
So wie es gut tut, ein gutes Wort gesagt zu bekommen, so kann es sehr be-
freiend und erlösend sein, sich selbst in der eigenen Bedrängnis und Angst durch
Worte auszusprechen. Religiöse Symbole und Zeichen können dabei sehr hilf-
reich sein: der Blick zum Kreuz oder das Schauen auf Bilder.
Die Macht der Bilder darf deshalb neben der Kraft der Worte nicht übersehen
und unterschätzt werden.
506 H. Paarhammer
Zur Lebenskultur tröstender und ermutigender Spiritualität gehört auch die Ge-
staltung des Wohnraumes: Blumen, Lichter, Bilder. Vor allem soll der kranke und
13 Grün A (1995) Selbstwert entwickeln. Ohnmacht meistern. Spirituelle Wege zum inneren
Raum. Kreuz, Stuttgart
14 Grün A (1995) Selbstwert entwickeln. Ohnmacht meistern. Spirituelle Wege zum inneren
Raum. Kreuz, Stuttgart, S 7
15 Grün A (1995) Selbstwert entwickeln. Ohnmacht meistern. Spirituelle Wege zum inneren
Raum. Kreuz, Stuttgart, S 13
16 Grün A (1995) Selbstwert entwickeln. Ohnmacht meistern. Spirituelle Wege zum inneren
Raum. Kreuz, Stuttgart, 13 f
Spiritualität: Wege – Hilfen – Ziele 507
B. IGLSEDER
B. Iglseder
Schmerzen gehören zu den häufigsten Problemen, mit der Pflege- und Betreu-
ungspersonen konfrontiert werden. Schmerzen zählen auch zu den häufigsten
Symptomen, die eine ärztliche Konsultation nach sich ziehen. Im Lichte der zu-
nehmenden Überalterung der Bevölkerung wird dieses Problem zunehmend an
Bedeutung gewinnen, da selbst nach vorsichtigen Schätzungen davon ausgegan-
gen werden kann, dass 25 % der älteren Menschen unter ständig vorhandenen
oder rezidivierenden Schmerzzuständen leiden, wobei bei BewohnerInnen von
Pflegeheimen sogar eine Schmerzprävalenz von 45–80 % angenommen wird.
Die Auswirkungen chronischer Schmerzen sind vielfältig, jedenfalls haben
sie erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität und auf die Qualität der Pflege,
besonders auch bei PatientInnen mit terminalen Erkrankungen und bei Bewoh-
nerInnen von Pflegeheimen. Zahlreiche Untersuchungen weisen darauf hin,
dass die Kenntnisse betreuender Professionen in Schmerzdiagnostik und
-therapie unzureichend sind.
In diesem Zusammenhang ist das vorliegende Werk besonders hervorzuhe-
ben, da es den vielfältigen Aspekten von Schmerz, Schmerzerkennung und
Schmerzbehandlung in kompetenter und vollständiger Weise gerecht zu werden
versucht.
Insbesondere den Pflegefachkräften kommt im interdisziplinären Team auf
Grund des häufigen und engen Kontaktes zu PatientInnen und BewohnerInnen
eine zentrale Rolle bei der Schmerzbehandlung zu. Ein gelungenes Schmerzma-
nagement baut auf eine personelle Kontinuität in der pflegerischen Betreuung
und auf eine gute Kooperation mit den behandelnden ÄrztInnen. Aktuelle und
systematische Schmerzeinschätzung stellen dabei ebenso wesentliche Säulen dar
wie die Stärkung der Selbstkompetenzen von Angehörigen und Betroffenen.
Ein umfangreiches Wissen über die zur Verfügung stehenden Konzepte zur
Schmerzbehandlung aus Schulmedizin und komplementär-medizinischen Me-
thoden trägt dazu bei, individuell optimal angepasste Lösungen zu finden.
In diesem Sinne ist dem vorliegenden Werk eine weite Verbreitung zu wün-
schen.
Erstversand
Stichwortverzeichnis
Stichwor tverzeichnis
ACE-Hemmer 197 f, 203 Angst 5 ff, 9, 29, 32f, 38, 41 f, 52, 71 ff, 75, 81,
Achtsamkeit 259, 264, 489 ff 83, 85, 87, 114, 127, 148, 150 ff, 168, 172,
Adjuvantien 124, 169, 216 206, 216, 225, 230, 233, 237, 241, 243, 249,
Aggravation 457 255f, 261, 270, 279, 314, 316, 329, 336 f,
Aggression 60, 90, 235, 410 339, 354, 378, 383, 390, 397, 406 f, 409 ff,
AIDS 4 457, 475, 479, 505
Akupressur 271 f, 446, 475 ff Ängste 2 f, 9, 37, 52, 173, 207, 213, 250, 262,
Akupunktmassage 262, 275, 278 334, 339, 354, 380, 402, 415
Akupunktur 27, 50, 54, 259, 262 f 267 ff, Angstzustände 42, 406 , 478f, 505
271 f, 278, 306, 427, 445f, 471, 476 ff, Anti-Aging 477
480 Antidepressiva 25, 104, 117, 128, 169
Akupunkturpunkt 272 f, 446 Antidepressiva – trizyklische 48, 112, 128, 201
Akutschmerz 101 f, 107 f, 110, 118, 141 f, Antioxidantien 177 ff, 181, 185, 189, 191
233 Antirheumatika – nichtsteroidale (NSAR)
Alkohol 4, 29, 109, 170, 185, 249, 392, 411, 107 f, 124, 135, 141, 155, 182, 184
450, 458 f Aromapflege 401 ff, 408 f, 411, 422, 424
Altenpflege 81, 86, 88f Arthritis 106, 116, 121, 308, 330, 431, 441, 443,
Alterspyramide 160 447
Alterungsprozess 32, 161, 164 f, 1168, 177 ff, Arthritis – rheumatoide 28, 31, 106, 181f, 184,
181 326
Amelioration 457 Aspirin 18, 49
Amygdala 24 Asthma 134, 255 f, 426, 432, 437, 441, 444, 469,
Analgesie 50 ff, 108, 117, 131, 134 f, 138, 157, 477
172 f, 214, 241, 267, 273, 325, 406, 446, Atemtherapie 437
476 f, 480 Ätherische Öle 404 ff, 415, 421 ff
Analgesie – patientenkontrolliert (PCA) 131, Autogenes Training (AT) 231, 240, 256, 426
135, 138, 157, 214 Ayurveda 415, 463, 467 f, 471 ff
Analgetika 48, 51, 96, 106, 110 f, 114, 116 f, Ayurvedamedizin 463 f, 468, 471, 473 f
126, 138, 151f, 163 ff, 169 ff, 214, 216, 224, Azetylsalizylsäure (ASS) 106, 113, 124, 132,
241, 245, 331 198
Analgetika – nichtopioidhaltige (NSAID) 106,
110, 124 f, 127, 131 ff, 155, 170 Balneotherapie 430, 440, 442
Analgetikum 18, 29, 70, 109, 112, 118, 164, Benzodiazepine 113, 144 f, 201
166, 169f Bewältigungsstrategie 3, 37, 174, 389
512 Stichwortverzeichnis
Bewegungsapparat 21, 103, 115, 161, 430 ff, Emotionales Gedächtnis 378
437, 446, 460 f Emotionen 31, 38, 64, 147, 269f, 334, 336, 339,
Bewegungstherapie 21, 103, 115, 161, 430 f, 351, 376, 388 ff, 394, 396, 410, 465
437, 440, 460 f Empathie 27, 59, 67f, 232
Bewusstsein 2, 20, 29, 71, 351, 375, 381, 390, Endorphine 25, 51
398, 406, 409, 427, 476, 480, 490 ff, 506 Engramm 24, 27, 30
Bindegewebsmassage 275, 277, 428 Enteropathie 285, 299
Biofeedback 42, 60, 174, 256, 333 ff Entspannung 27, 29, 34, 86, 89, 154, 175, 235 f,
Biofeedbacktraining 335, 338, 340 245, 249 f, 259, 278, 334 ff, 350 f, 355, 367,
biopsychosozial 38, 42, 359, 388 373, 375, 378 f, 394 ff, 404, 416, 423, 426,
Blähungen 405, 417 428, 437, 468, 471, 478 f, 494
Bluthochdruck 3, 250, 256, 418, 436 Entspannungsmusik 86, 252, 380
Bradykardie 197 Entstauungstherapie (KPE) 295 ff, 444
Bradykinin 22, 122 Entzündung 22 ff, 104, 108, 132, 179, 181,
Burnout 208, 333, 340 183 f, 239, 279 f, 284, 292, 296, 307, 309,
336, 419, 430, 438 f, 444 ff, 458, 459 f, 469
Ceiling-Effekt 124 Entzündungshemmung 107 f, 133 f, 137, 144,
Chemotherapie 214, 291, 298, 308, 316, 343 ff, 179, 189, 193, 306 f, 370, 407, 416, 419, 422,
477 430, 439
Chiropraktik 272, 440, 442 Erbrechen 108, 110 ff, 125 ff, 131, 134 f, 158,
Chronifizierung 26, 102, 118, 139, 141, 389 ff 172, 199, 201, 214, 216, 224, 239, 243, 405,
Cluster-Kopfschmerzen 114 458, 476 f
Compliance 41 f, 118, 122, 171, 204, 224, 297, Ernährung 164, 177 ff, 188, 215 f, 219, 264, 267,
427, 429, 456 270f, 276, 314, 345, 406, 415, 426 f, 435,
Computertomographie (CT) 293, 406 465, 468, 471, 473 f
Cortisol 383 Ergotherapie 174, 296, 299, 361ff, 442
COX-2-Hemmer 106 ff, 117, 133, 135, 137 f Erstversorgung 112, 210
Coxibe 104, 107 ff, 115 f, 118, 170 Erwartungshaltung 50 ff, 242, 265, 335, 337,
Craniosacrale Therapie 347 ff 377
Extensionsmassage 275, 278
Dekubitusprophylaxe 75
Demenz 28, 69 ff, 167, 191, 197, 200, 211, Fangotherapie 440
256 Fantasiereisen 338
Depression 3, 29, 33, 42 f, 48, 51, 108, 110 ff, Feedback 42, 50, 58, 61, 67 f, 174, 256, 333 ff
116, 131, 157, 172, 182, 207, 216, 230, 239, Feldenkraismethode 354, 356 ff
242, 252, 262, 314, 316, 334, 348, 390, 397, Fibromyalgie 28 ff, 309, 362, 477, 492
409 ff, 421, 427, 459, 476 Fibrosklerotische Umbauprozesse 284
Diabetes mellitus 178, 291, 427, 435, 460 Fourieranalyse 315
Diarrhö 406 Freie Radikale 178
Diclofenac 106 ff, 116, 124f, 127, 132 ff, 143, Freude 32, 72, 230, 261, 270, 378, 390, 395
156 Fußbad 422 f
Diuretika 134, 170, 198, 201, 203, 297 Fußreflexzonenmassage 275, 277
Dopamin 53, 189, 191, 201, 383, 404
Drogen 4, 249, 425 Gastritis 134, 435
Druckgeschwüre 407 Gate-Control-System 19, 27
Durchblutungsstörungen 115, 426, 431, 433, Geburt 9, 30, 261, 267, 273, 339
443 Gegenirritationsverfahren 24, 27, 30
Durchfall 201, 406 Gehhilfen 207 f
Gehirn 8, 16 ff, 23 f, 47, 52, 178, 189, 191 ff.
Elektro-Magnetfeldtherapie 313 ff 347 f, 354, 358, 375 ff, 389, 401, 404, 457,
Emotionale Entwicklung 149 467, 495 f
Stichwortverzeichnis 513
Geist 8, 262, 269, 336, 340, 351, 410ß, 426 f, Infusion 92 f, 96, 110, 136 f, 141, 144, 155, 157,
464 f 172, 214, 220 f, 447
Gene 8, 22 Infusionspumpe 96, 220 f
Geriatrie 76, 162, 316, 426, 473
Gesprächstherapie 235 Kinderanästhesie 158
Gicht 116, 177, 426 f, 435 f Kinderskala 168
Ginko 197 f Klangtherapie 468, 471
Ginseng 198 Klimamedizin 440 ff
Glaube 1 ff, 15, 34, 47, 54, 337, 354, 478, 494, Kneipp-Therapie 34, 430, 438, 442
502 Koanalgetika 126 f, 169
Glück 378, 464, 466 f, 504 Kognitive Methoden 153 f
Glutamat 22, 178 Kombinationspräparate 143 ff, 182
Gott 1 ff, 16 f, 502 ff Kommunikation 14 f, 20, 57 ff, 71, 74, 76 f,
Gruppenpsychotherapie 238, 240 168 f, 180, 207, 218, 231, 243, 261,356, 359,
391, 408, 465
Kommunikation – nonverbale 57, 63, 65
Hako mi-Methode 491, 494, 498
Komorbidität 159 f, 162, 172, 295, 389
Harnsäure 116, 416
Kompatibilitätsprobleme 144 f
Heilbehelfe 205 ff
Kompressen 415 ff, 438
Heilkräfte 3
Konditionierung 27, 47, 51, 54, 349
Heilpflanzen 415, 424, 468 ff
Kopfschmerzen 15, 64, 94, 104, 113 f, 167, 238,
Heilung 3, 16, 33, 53, 86, 118, 132, 142, 161 f,
241, 256, 262 f, 307, 309, 321, 334, 392, 412,
206, 235, 241 f, 245, 279, 316, 333, 336 ff,
417, 423, 432, 457 f, 470 f, 477 f
341 f, 349 ff, 361, 401 f, 408, 427, 430, 439,
Körperbewusstsein 71
446, 451
Kortikosteroide 128, 170
Heilungsprozesse 348
Krankheitsbild 115, 169, 173, 242, 250, 252,
Herzinfarkt 32, 108, 167, 170, 256, 431 ff
283, 291, 299 f, 316, 362, 367, 370, 397, 462,
Herzratenvariabilität 335, 339
477
Histamin 22, 107, 134, 143, 158
Krankheitsgewinn 235
Höhensonne 446
Kräutertherapie 267, 271 f
Homöopathie 449 ff
Krebsarten 162, 180, 182
Hörgerät 67, 205 ff
Krebserkrankung 14, 167, 180, 291
Humor 34, 483 ff
Krebsschmerzen 264
Hydrotherapie 174,415, 428, 430, 438, 440,
Krebstherapie 285, 291
442
Hyperalgesie 23 f, 54
Lähmung 17, 443, 447
Hyperämie 276, 457
Laser 303 ff, 442
Hyperkaliämie 199
Laserstrahlung 303 ff
Hypertonie 108, 170, 177, 279, 426 f, 431 f, 434,
Lasertherapie 370
438 f, 441, 443
L-Dopa 191 f, 203
Hypnoid 231, 235 f
Lebensqualität 4, 13 f, 28, 32, 39, 43, 118, 139,
Hypnose 18, 27, 229 ff, 233, 235 f, 241 f, 252,
161, 205 f, 211, 263 ff, 299f, 316, 367, 377,
255, 336, 339, 355
392, 396 f, 402, 416, 451, 509
Hypnosetherapie 241 ff
Limbisches System 24
Hyponatriämie 199 ff
Lob 88, 154, 505
Hypophyse 25, 378, 441, 445
Logotherapie 231, 483
Hypothalamus 25, 230, 378, 404
Lokalanästhesie 18, 30, 115, 138, 446
Lungenembolie 118
Immunabwehr 180, 242, 283, 402, 495, Lymphdrainage 245, 278, 296, 299 f, 306, 346,
Immunsystem 3, 8, 241, 277, 286, 336, 412, 444
439, 451, 496 Lymphgefäße 283 ff, 433, 444
514 Stichwortverzeichnis
Schmerzreduktion 125, 189, 245, 264, 392, subkutan 49, 92, 94, 96, 123, 126, 172, 220,
422, 481 284 f, 292, 294, 407, 456
Schmerzreiz 19, 21 ff, 29, 32, 51, 151, 336, 466 Substanz P 22, 306
Schmerzreizleitung 22, 24, 26 ff, 33 Suggestionen 242, 244, 246
Schmerzschwelle 28, 31 f, 147, 306
Schmerz-Skalen 40 TENS 27, 30, 60, 174, 316, 321, 324 ff, 442
Schmerzstärke 17, 39, 44, 172, 214, 391 f, 395 Therapieplanung 14, 289 f
Schmerztagebuch 41 f, 105, 168, 224 Thermalbad 244, 432
Schmerztherapie 13, 18 ff, 30 ff, 45, 54, 70 ff, Thermographie 363
91, 954 f, 101 ff, 121 ff, 131, 134 ff, 147ff, Thrombose 108, 115, 121, 139, 184, 279, 308,
165 f, 169, 173 f, 187 ff, 213 ff, 233, 235, 259, 431ff, 437, 444
264, 275 ff, 299, 303 ff, 321 ff, 353 ff, 379, Tinnitus 256, 307, 348
387, 391, 404, 449, 463 ff, 475 ff, 509 Tod 1 ff, 26, 163, 312, 243, 261, 269, 339, 408 f
Schmerzthermometer 165 Toxizität 110, 115, 135 ff, 164, 170, 429
Schmerztoleranz 148, 244, 336 Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) 34,
Schmerzursache 24, 26, 78, 102, 121, 169 259 f, 267, 415
Schmerzminderung 350, 397 Transaktionsanalyse 62
Schmerzwahrnehmung 18, 33, 167, 336, 396 Transkutane Nervenstimulation (TENS) 50
Schmerzzentrum 19 Transmission 51, 305
Schulmedizin 190, 271 f, 275, 358, 424, 425 ff, Transmitter 22, 27, 307
464, 509 Trauma 26, 102, 112, 116, 239, 243, 245 ff, 294,
Schwangerschaft 27, 109, 136, 273, 280, 339, 306, 321, 339, 349, 351, 443 f, 459 f, 475 ff
443 f, 477 Trigeminusneuralgie 30, 48, 161, 169, 322
Schwerhörigkeit 168, 207 Trinkkur 430, 435
Seele 16 ff, 75, 87, 269, 280, 339, 354, 373, 401, Tuina-Massage 271 f
426 ff, 464, 471, 485, 502, 505 Tumor 14, 39, 70, 97, 103, 121 f, 127, 162 f, 171,
Selbstheilungskräfte 53, 85, 333, 336, 338 f, 214 ff, 280, 286, 293, 298 f, 341 ff, 362, 392,
401 f, 451 396, 443, 447, 469
Selbsthypnose 235, 242, 244, 336, 339 Tumorschmerz 21, 102, 112, 121 ff, 162, 224,
Selbstmord 3, 16 392, 396, 471
Selbstwirksamkeitsüberzeugung 54
Sensibilisierung 22 f, 26, 28, 122, 132, 244, 402 Übelkeit 72, 105, 108, 110 f, 114, 125 ff, 131,
Sensorik 230, 431 134 f, 158, 172, 190, 199, 214, 216, 224, 243,
Serotonin 22, 27, 110, 113, 122, 193 f, 404 f, 256, 406, 408, 412, 416, 461, 476 f
466 Unterwasserdruckstrahlmassage 275, 278 f,
Sinnesempfindung 16, 355, 378 443
Sinnhaftigkeit 8, 9, 493 UV-Strahlung 441
Spannungskopfschmerz 29 f, 113, 115, 239,
256, 262 f, 309 Verbale Rating Skala (VR) 39, 105
Spiritualität 501 ff Verbrennungen 112, 235, 461
Sterbehilfe 9 Verhaltensmedizin 37 f
Strahlentherapie 291, 342 ff Verhaltenstherapeutische Methoden 153 f
Stress 3, 25 f, 37, 42, 151, 178, 189, 191, 194, Verletzungen 23, 161, 173, 207, 279, 292, 307,
241, 249 f, 256, 262 ff, 273, 314, 316, 334 ff, 316, 349, 351, 390, 444, 456 ff, 469
349, 357, 379, 390, 395, 406, 415, 492, 494 Verstopfung 177, 221, 406
Stress – oxidativ 177 Verwirrtheit 44, 169, 171
Stressabbau 409 Visualisierung 104, 174, 259, 264, 336 ff
Stressbewältigung 252, 492, 498 Visuelle Analog Skala (VAS) 39, 478
Stresshormone 22, 29, 148 Vitalität 43, 348, 350, 456, 466, 473
Stressmanagement 333, 340 Vitalstoffsupplementierung 188 f
Stressreaktionen 25, 42, 52 f, 250 Vollnarkose 155
Stichwortverzeichnis 517