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Grundlagen
beruflicher Pflege
Herausgegeben von
Annette Lauber
241 Abbildungen
© 2018 Georg Thieme Verlag KG Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht be-
Rüdigerstraße 14 sonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen
D-70469 Stuttgart Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich
Deutschland um einen freien Warennamen handele.
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Printed in Germany lich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Gren-
zen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des
1. Auflage 2001 Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
2. Auflage 2007 Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und
3. Auflage 2012 die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys-
temen.
Zeichnungen: Barbara Gay, Bremen; Christine Lackner,
Ittlingen; BITmap, Mannheim
Umschlaggestaltung: Thieme Gruppe
Umschlagfotos: ©Africa Studio – Fotolia,
©VRD – Adobe Stock
Satz: Druckhaus Götz GmbH, D-71636 Ludwigsburg
Druck: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co.KG, Calbe
DOI: 10.1055/b-005-143656
ISBN 978-3-13-240649-0 1 2 3 4 5 6
Liebe Leserin, lieber Leser, sche Interventionen (Band 3) sowie Prävention und
wir freuen uns, Ihnen hiermit die 4. Auflage der Rehabilitation (Band 4). Inhalte und Themen der
Lehrbuchreihe verstehen & pflegen vorlegen zu kön- einzelnen Bände der Reihe sind aufeinander bezo-
nen. Herausgeberinnen und Autorinnen ist es ein gen; selbstverständlich ist aber auch eine Einzel-
Anliegen, mit der vorliegenden Lehrbuchreihe nutzung möglich. Alle Kapitel wurden für die 4. Auf-
einen Beitrag zu einer fundierten und qualitativ lage inhaltlich überprüft und aktualisiert; neue Er-
hochwertigen Pflegeausbildung zu leisten und Leh- kenntnisse und Entwicklungen aufgenommen; Lay-
rende wie Lernende in ihrem beruflichen Handeln out und grafische Darstellung modernisiert.
zu unterstützen. Ihren konstruktiven und ermuti- Wenngleich für die Aktualisierung eines Werkes
genden Rückmeldungen, liebe Leserinnen und Leser, auf viel Bewährtes zurückgegriffen werden kann,
entnehmen wir, dass wir dieses Ziel in aller Regel stellt der Bearbeitungsprozess Autorinnen und He-
auch erreichen. rausgeber dennoch immer wieder vor Herausforde-
Als die Lehrbuchreihe in den Jahren 2001 bis rungen, von denen die termingerechte Abgabe der
2004 erstmals aufgelegt wurde, befanden sich die bearbeiteten Manuskripte nicht zwangsläufig die
Diskussionen um eine Zusammenführung der 3 größte ist. In solchen Phasen gewinnt dann eine ver-
Pflegeberufe Altenpflege, Gesundheits- und Kran- bindliche und wertschätzende Unterstützung durch
kenpflege sowie Gesundheits- und Kinderkranken- den Verlag an Bedeutung. Unser Dank gilt deshalb
pflege noch in den Anfängen. Heute, 15 Jahre später, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Georg
geht es stärker darum, den besten Weg der Zusam- Thieme Verlags für ihre ausgesprochen motivieren-
menführung auszuwählen und zu beschreiten. de und engagierte Unterstützung. Danken möchten
Daher verfolgt auch die 4. Auflage von verstehen & wir auch allen Autorinnen und Autoren, die wir für
pflegen einen integrativen Ansatz, der gleicherma- die Mitarbeit an dieser Auflage gewinnen konnten,
ßen Gemeinsamkeiten und Spezifika der Pflegebe- und die – teilweise nun schon über viele Jahre – ihre
rufe thematisiert. Expertise für verstehen & pflegen zur Verfügung stel-
Beibehalten wurde auch der bisherige Aufbau len.
und die didaktische Konzeption, bei der jeder Band Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir
einen Schwerpunkt ausführlich thematisiert und viel Freude bei der Arbeit mit den Bänden der Lehr-
dabei eine konsequent pflegeberufliche Perspektive buchreihe!
einnimmt: Grundlagen beruflicher Pflege (Band 1),
Wahrnehmen und Beobachten (Band 2), Pflegeri- Hildesheim und Stuttgart im Oktober 2017
V
Vorwort
Herausgeberin
Dr. rer. cur. Annette Lauber
Dipl.-Pflegepädagogin (FH)
Pflegewissenschaftlerin (M.Sc.)
Irmgard-Bosch-Bildungszentrum
Auerbachstraße 110
70376 Stuttgart
Autorinnen
P. Fickus* Brigitte Maurer
Dipl.-Pflegewissenschaftlerin (FH)
A. Hammer* Irmgard-Bosch-Bildungszentrum
Auerbachstraße 110
A. Heißenberg* 70376 Stuttgart
Die im Buch mit * gekennzeichneten Autoren haben an früheren Auflagen mitgewirkt, und ihre Beiträge sind
in der aktuellen Auflage noch teilweise enthalten.
VI
Inhalt
Inhalt
VII
Inhalt
VIII
Inhalt
IX
Inhalt
X
I Pflege und Entwicklung
Übersicht
1 Leitbild und Pflege · 4
2 Entwicklung der Pflege zum Beruf · 24
3 Berufliche Handlungskompetenz · 69
Das, was heute unter Pflege verstanden wird, ist zu einem großen Teil das Ergebnis his-
torischer Prozesse und gesellschaftlicher Entwicklungen, die nicht nur ausschließlich die
Pflege, sondern auch andere wissenschaftliche Disziplinen in hohem Maße beeinflusst
haben. Für die Pflege und das Pflegeverständnis besonders relevant sind dabei Überlegun-
gen zur Sichtweise des Menschen und die Auseinandersetzung mit zentralen Begriffen wie
Gesundheit und Krankheit, da diese sich sowohl auf die Beziehung zum pflegebedürftigen
Menschen als auch auf den Aufgabenbereich der Pflege ausgewirkt haben und noch immer
auswirken.
Der Blick in die Geschichte der Pflege zeigt darüber hinaus, dass Pflegen eine elementare
Tätigkeit von Menschen ist, die aber erst seit ca. 100 Jahren als eigenständiger Beruf mit
einer dazugehörigen Ausbildung anerkannt wird. Gleichzeitig zieht die berufliche Aner-
kennung der Pflege die Frage nach den für die Berufsausübung erforderlichen Kompetenzen
nach sich, denn diese müssen in den Ausbildungen der Pflegeberufe vermittelt werden, um
den Berufsangehörigen die Bewältigung des beruflichen Alltags zu ermöglichen. In den drei
Kapiteln des ersten Teils dieses Buches werden grundsätzliche Überlegungen zur Pflege im
Hinblick auf zentrale Themen wie Menschenbild, Gesundheit und Krankheit vorgestellt.
Weiter werden die Entwicklung der Pflege zum Beruf sowie die für die beruflich ausgeübte
Pflege erforderlichen Kompetenzen der Pflegepersonen beleuchtet.
Übersicht
Einleitung · 4
1.1 Pflege – Eine Begriffsbestimmung · 4
1.2 Berufsbild · 5
1.3 Definitionen der Pflege · 10
1.4 Menschenbild · 11
1.5 Gesundheit und Krankheit · 15
1.5.1 Gesundheit und Krankheit in Altertum und
Mittelalter · 15
1.5.2 Biomedizinisches Krankheitsmodell · 16
1.5.3 Definition der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) · 18
1.5.4 Salutogenetisches Modell · 19
Fazit · 21
Literatur · 22
auseinanderzusetzen, da sie sowohl die Pflegetheorie
als auch die Pflegepraxis maßgeblich beeinflussen.
Schlüsselbegriffe
Das folgende Kapitel beschreibt grundlegende
▶ Berufsbild Aufgaben der Pflegeberufe und stellt Sichtweisen
▶ Menschenbild vom Menschen sowie den Wandel des Gesundheits-
▶ Patientenorientierte Pflege und Krankheitsverständnisses vor.
▶ Umfassende Pflege
▶ Individuelle Pflege
▶ Gesundheit 1.1 Pflege –
▶ Krankheit Eine Begriffsbestimmung
▶ Biomedizinisches Modell
▶ Salutogenetisches Modell Der Begriff „Pflege“ bzw. „pflegen“ wird in vielen
Zusammenhängen gebraucht.
Menschen pflegen ihr Auto, ihre Schönheit, Blu-
Einleitung men, Beziehungen zueinander und den Umgang
miteinander. Personen, die sich um die Sauberkeit
Berufliche Pflege ist auf pflegebedürftige Menschen in Büros oder anderen Räumen kümmern, werden
ausgerichtet. Ihre Aufgabenbereiche und Tätigkeits- als Raumpfleger und Raumpflegerinnen bezeichnet.
felder werden zu einem wesentlichen Teil von dem Die Tätigkeit „pflegen“ kann also als etwas gese-
zugrunde liegenden Menschenbild und dem Ver- hen werden, das selbstverständlich in den Alltag von
ständnis von Gesundheit und Krankheit beeinflusst. Menschen integriert ist.
Beide unterliegen vielfältigen Einflüssen aus Ge- „Pflegen“ bezieht sich in diesem Zusammenhang
schichte, Kultur und Wissenschaft. Ebenso wie auf eine angemessene Behandlung von Gegenstän-
diese sich veränderten, hat sich auch die Sichtweise den bzw. Objekten, damit diese z. B. schön aussehen
vom Pflegeberuf gewandelt. und so dem menschlichen Empfinden von Ästhetik
Für Angehörige der Pflegeberufe ist es deshalb entsprechen, wachsen und sich entwickeln oder ein-
wichtig, sich mit den grundlegenden Annahmen fach nur Freude bereiten. Etwas pfleglich behandeln
über den Menschen und mit den verschiedenen Be- ist immer auch Ausdruck einer gewissen Wertschät-
trachtungsweisen von Gesundheit und Krankheit zung, die dem zu pflegenden Gegenstand entgegen-
gebracht wird.
Entsprechend dem jeweils gepflegten Objekt Auch Eltern, die ihre kranken Kinder pflegen,
nimmt die Pflege eine bestimmte konkrete Gestalt oder erwachsene Männer und Frauen, die ihre pfle- 1
an, d. h. sie äußert sich in objektspezifischen Hand- gebedürftigen Eltern zuhause versorgen und betreu-
lungen und Tätigkeiten, die die jeweilige Pflege aus- en, besitzen keine pflegerische Berufsausbildung.
machen. Die pflegerische Berufsausübung ist im Gegensatz
Bei der Blumenpflege ist dies z. B. die Zufuhr von zur Berufsbezeichnung von Gesundheits- und Kran-
ausreichend Wasser und Dünger; zur Autopflege ge- kenschwestern/-pflegern, Gesundheits- und Kinder-
hört das Waschen und Polieren des Autos in regel- krankenschwestern/-pflegern sowie Altenpflegerin-
mäßigen Abständen. Schönheitspflege kann u. a. in nen und Altenpflegern, die im Gesetz über die Be-
einer sorgfältigen Mani- und Pediküre bestehen und rufe in der Krankenpflege bzw. im Gesetz über die
Beziehungen werden durch regelmäßige Telefonate Berufe in der Altenpflege geregelt ist, gesetzlich
oder wechselseitige Besuche gepflegt. nicht geschützt. Daher können auch „Laien“, d. h.
Beruflich ausgeübte Pflege ist auf den pflegebe- Personen ohne Pflegeausbildung, pflegerisch tätig
dürftigen Menschen und seinen individuellen Pfle- werden.
gebedarf ausgerichtet. An ihm orientieren sich die Demnach stellt sich die Frage, wozu Pflegeper-
auszuführenden Pflegehandlungen der Pflege- sonen eine Berufsausbildung benötigen, wenn doch
personen. Im Gegensatz zu den oben genannten Ge- auch Personen ohne Ausbildung pflegen dürfen,
genständen wie Autos, Blumen etc. ist der Mensch bzw. welche Kennzeichen und Merkmale die Ab-
als Subjekt, d. h. als Lebewesen mit einem eigenen grenzung der beruflich ausgeübten Pflege von der
Bewusstsein, jedoch ungleich komplexer. Er ist fähig nicht beruflich ausgeübten ermöglichen.
zu empfinden, Gefühle zu haben und diese zu äu-
ßern, und über die physiologischen Bedürfnisse
nach Nahrung, Luft und Flüssigkeit hinaus ist er 1.2 Berufsbild
u. a. angewiesen auf ein soziales Umfeld, in dem er
Zuwendung, Nähe, Akzeptanz und Wertschätzung Mit der Abgrenzung der beruflich bzw. professionell
erfährt und wechselseitig austauscht. ausgeübten Pflege von der „Laienpflege“ und der
Das, was der einzelne Mensch benötigt, um zu Erarbeitung spezifischer Aufgaben, Inhalte und Tä-
gedeihen und sein Menschsein zu entfalten, ist in tigkeiten der beruflich ausgeübten Pflege haben sich
höchstem Maße individuell. Dabei spielen Einfluss- u. a. verschiedene pflegerische Berufsverbände be-
faktoren, wie z. B. das Alter, soziale Beziehungen, der schäftigt. Sie haben hierzu Stellungnahmen und
kulturelle Hintergrund, ökonomische Verhältnisse Richtlinien herausgegeben, die allesamt unter der
etc., eine wichtige Rolle. Bezeichnung Berufsbild geführt werden.
Hieraus ergeben sich für die Pflege von Men- Die Berufsbilder der Verbände enthalten genauere
schen entsprechend individuelle Anforderungen, Aussagen über den Verantwortungsbereich der Pfle-
die die Pflege zu einem komplexen Feld machen ge sowie über die speziellen Aufgaben von professio-
und die die inhaltliche Bestimmung dessen, was nellen Pflegepersonen.
zur Pflege von Menschen gehört, häufig erschweren. Der Deutsche Pflegerat e.V. (DPR) wurde 1998
Ebenso wird eine einheitliche Begriffsbestimmung gegründet. Als Bundesarbeitsgemeinschaft Pflege-
bzw. Definition von „Pflege“ hierdurch kompliziert. und Hebammenwesen haben sich in dieser Orga-
Eine zusätzliche Problematik ergibt sich aus der nisation Berufsverbände der Pflege zusammen-
Tatsache, dass Pflege nicht nur von Angehörigen der geschlossen, um gemeinsame Positionen zu ent-
Pflegeberufe, also professionell oder beruflich Pfle- wickeln und die Interessen der Pflege und des Heb-
genden, ausgeübt wird, sondern auch von Personen, ammenwesens auf politischer Ebene zu vertreten.
die keine pflegerische Berufsausbildung absolviert
haben. Jeder kennt einfache Maßnahmen der Selbst-
pflege, wenn er Kopf- oder Zahnschmerzen verspürt
oder eine Grippeinfektion auskuriert. Nicht immer
werden hier beruflich Pflegende hinzugezogen.
2004 hat der deutsche Pflegerat eine Rahmen- deln bieten soll. Die Aufgaben der beruflich aus-
1 berufsordnung verabschiedet, die beruflich Pflegen- geübten Pflege werden in der Rahmenberufsord-
den u. a. eine Orientierung für ihr berufliches Han- nung wie folgt beschrieben:
Auszug aus der Berufsordnung für Gesundheits- (2) Pflegefachkräfte arbeiten mit anderen Berufsgruppen 1
und Krankenpflegerinnen, Gesundheits- und des Gesundheitsbereiches zusammen. Dabei achten
Krankenpfleger, Gesundheits- und Kinder- sie den Kompetenzbereich anderer Berufsgruppen.
krankenpflegerinnen und Gesundheits- und Sie übernehmen im Rahmen der Mitwirkung bei Di-
Kinderkrankenpfleger sowie Altenpflegerinnen agnostik, Therapie und Rehabilitation Aufgaben an-
und Altenpfleger (Pflegefachkräfte-Berufsord- derer Berufsgruppen, wenn sie ihnen zur eigenstän-
nung der Hansestadt Hamburg) vom digen Durchführung übertragen werden. Pflegefach-
29. September 2009 kräfte tragen sowohl für die Entscheidung der Über-
▌ § 2 Ziele nahme als auch für die Qualität der Durchführung
(1) Mit der Festlegung von Berufspflichten der Pflege- einer über tragenen Maßnahme die Verantwortung.
fachkräfte dient die Berufsordnung dem Ziel, Pflegefachkräfte dürfen nur solche Aufgaben über-
1. das Vertrauen zwischen Pflegefachkräften und nehmen, für die sie ausreichend qualifiziert sind.
Pflegebedürftigen herzustellen, zu erhalten und ▌ § 5 Berufspflichten
zu fördern, Pflegefachkräfte haben insbesondere folgende Vorschrif-
2. die Qualität der pflegerischen Tätigkeit im Interes- ten zu beachten:
se der Gesundheit der Bevölkerung zu sichern und 1. Allgemeine Berufspflichten:
3. berufswürdiges Verhalten zu fördern sowie berufs- Eine pflegerische Berufsausübung verlangt, dass Pfle-
unwürdiges Verhalten zu verhindern. gefachkräfte
(2) Pflege ist unter Berücksichtigung und ohne Bewer- a) beim Umgang mit Pflegebedürftigen deren Selbst-
tung von Nationalität, Glauben, politischer Einstel- ständigkeit, Würde und Selbstbestimmungsrecht
lung, Kultur, sexueller Identität, Hautfarbe, Alter, Ge- respektieren sowie die Persönlichkeit und die
schlecht oder sozialem Status auszuführen. Privatsphäre stets achten,
▌ § 3 Berufsbild b) sich mit Übernahme der Behandlung der Pflege-
Grundlage pflegerischer Berufstätigkeit sind das Kranken- bedürftigen zur gewissenhaften Versorgung mit
pflegegesetz und das Altenpflegegesetz. Die Pflegefach- geeigneten pflegerischen Einschätzungsverfahren
kräfte bedienen sich der fachlichen, personalen, sozialen und Behandlungsmethoden verpflichten,
und methodischen Kompetenzen, die zur Pflege von c) Rücksicht auf die Gesamtsituation der Pflegebe-
Menschen in unterschiedlichen Pflege- und Lebenssitua- dürftigen nehmen,
tionen sowie Lebensphasen erforderlich sind. Die Tätig- d) den Mitteilungen der Pflegebedürftigen gebüh-
keit ist dabei unter Einbeziehung geeigneter präventiver, rende Aufmerksamkeit entgegen bringen und Kri-
kurativer, rehabilitativer und palliativer Maßnahmen auf tik sachlich begegnen.
die Wiedererlangung, Verbesserung, Erhaltung und För- 2. Spezielle Berufspflichten:
derung der physischen und psychischen Gesundheit der a) Schweigepflicht:
zu pflegenden Menschen auszurichten. Für sterbende Pflegefachkräfte sind grundsätzlich zur Verschwie-
Menschen ist die bestmögliche, würdevolle Begleitung genheit über alle ihnen in Ausübung ihres Berufes
zu gewährleisten. anvertrauten oder bekannt gewordenen vertrauli-
chen Informationen der ihnen anvertrauten Pfle-
▌ § 4 Berufsaufgaben gebedürftigen und deren Bezugspersonen ver-
(1) Pflegefachkräfte üben ihre Berufstätigkeit eigenver- pflichtet; sie sind zur Offenbarung befugt, soweit
antwortlich und im Rahmen ärztlich veranlasster dies gesetzlich bestimmt ist, sie von der Schwei-
Maßnahmen (Delegation) eigenständig aus. Als Pfle- gepflicht entbunden worden sind oder soweit die
gefachkräfte sind sie in Absprache mit den Pflegebe- Offenbarung zum Schutze eines höherwertigen
dürftigen und ihren Bezugspersonen insbesondere Rechtsgutes, insbesondere auch bei begründetem
verantwortlich für die Erhebung und Feststellung Verdacht einer Misshandlung, eines Missbrauchs
des Pflegebedarfes sowie für Planung, Organisation, oder einer schwerwiegenden Vernachlässigung,
Durchführung, Dokumentation und Evaluation der erforderlich ist; gesetzliche Aussage- und Anzeige-
Pflege. Dabei beraten, fördern und unterstützen sie pflichten bleiben unberührt; soweit gesetzliche
die Pflegebedürftigen und ihre Bezugspersonen in Vorschriften die Schweigepflicht der Pflegenden
der individuellen Auseinandersetzung und im Um- einschränken, sollen sie die Pflegebedürftigen da-
gang mit ihrer Gesundheit und Krankheit. Pflegefach- rüber unterrichten,
kräfte leiten Auszubildende und pflegerische Hilfs-
kräfte in der fachpraktischen Pflege an.
1 b) Auskunftspflicht: f) Mitteilungspflicht:
Pflegefachkräfte sind verpflichtet, Pflegebedürfti- Pflegefachkräfte, deren Gesundheit so weit einge-
gen oder stellvertretend ihren Bezugspersonen die schränkt ist, dass die Berufsausübung wesentlich
erforderlichen Auskünfte über die geplanten pfle- beeinträchtigt ist oder Pflegebedürftige gefährdet
gerischen Maßnahmen in verständlicher und ange- werden können (wie zum Beispiel bei übertrag-
messener Weise zu erteilen, baren Krankheiten), sind verpflichtet, dieses ihrem
c) Beratungspflicht: Arbeitgeber oder der zuständigen Behörde mit-
Pflegefachkräfte haben die Pflegebedürftigen zuteilen, um geeignete Maßnahmen im Interesse
unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Arbeitnehmer- und Patientenschutzes ergrei-
über notwendig durchzuführende Pflegemaßnah- fen zu können.
men und über mögliche alternative Pflege- und
▌ § 6 Kompetenzerhaltung und
Versorgungsformen zu informieren; dabei ist das
Recht auf Ablehnung empfohlener Pflegemaßnah-
Qualitätssicherung
men zu beachten; die Beratungspflicht schließt die (1) Pflegefachkräfte sind verpflichtet, eigenverantwort-
Information über gesundheitsfördernde und ge- lich Maßnahmen zur beruflichen Kompetenzerhal-
sundheitserhaltende Maßnahmen, Methoden und tung zu ergreifen. Geeignete Maßnahmen sind
Verhaltensweisen ein, neben dem Studium der Fachliteratur insbesondere
d) Informations- und Beteiligungspflicht: pflegefachliche Fortbildungen, die dem Erhalt der
Pflegefachkräfte haben den am Behandlungs- und fachlichen Kompetenz durch kontinuierliche Aktuali-
Betreuungsprozess beteiligten Angehörigen ande- sierung des Wissensstandes und der pflegerischen
rer Berufsgruppen die notwendigen Informationen Technologie unter Berücksichtigung wissenschaftli-
im Rahmen des Behandlungs- oder Betreuungsver- cher Erkenntnisse und neuer Verfahren dienen. Die
trages und der gesetzlichen Bestimmungen wei- Fortbildungen sollen sich auf alle pflegerischen Fach-
terzugeben; es sind rechtzeitig entsprechend spe- richtungen in ausgewogener Weise erstrecken; sie
zialisierte Pflegefachkräfte oder Ärztinnen bzw. umfassen auch den Erwerb notwendiger pflegerecht-
Ärzte hinzuziehen, wenn die eigene Kompetenz licher und gesundheitsökonomischer Kenntnisse
zur Lösung der pflegerischen und therapeutischen sowie die Verbesserung kommunikativer und sozialer
Aufgabe nicht ausreicht, Kompetenzen und schließen Methoden der Qualitäts-
e) Dokumentationspflicht: sicherung, des Qualitätsmanagements und der evi-
Pflegefachkräfte haben die von ihnen erbrachte denzbasierten Pflege wie die konsentuierten nationa-
Pflegetätigkeit in strukturierter Form zu dokumen- len Expertenstandards ein.
tieren; hierzu wird ein im Arbeitsbereich installier- (2) Pflegefachkräfte haben in dem Umfang von kom-
tes Dokumentationssystem verwendet; die Doku- petenzerhaltenden Maßnahmen Gebrauch zu ma-
mentationen erfolgen ausreichend, zeit- und chen, wie dies zur Erhaltung und Entwicklung der
handlungsnah, leserlich und werden fälschungs- zur Berufsausübung notwendigen Fachkenntnisse er-
sicher unterschrieben; das Dokumentationssystem forderlich ist. Der Umfang von mindestens zwanzig
muss allen am Behandlungs- und Betreuungspro- Fortbildungspunkten aus kompetenzerhalten den
zess beteiligten Angehörigen anderer Berufsgrup- Maßnahmen entsprechend der Anlage ist jährlich
pen im Rahmen des Behandlungs- oder Betreu- von jeder Pflegefachkraft verbindlich zu erbringen.
ungsvertrages und der gesetzlichen Bestimmun- Gegenüber der für das Gesundheitswesen zuständi-
gen zugänglich sein; die Pflegefachkräfte haben gen Behörde oder einer von dieser ermächtigten
den Pflegebedürftigen auf deren Verlangen Ein- Stelle müssen auf Anforderung in geeigneter Form
sicht in die sie betreffenden Krankenunterlagen entsprechende kompetenzerhaltende Maßnahmen
zu gewähren; auf Schutzmaßnahmen zu beachten, nachgewiesen werden können.
(3) Pflegefachkräfte übernehmen im Team und in der
Institution Verantwortung, indem sie sich an der
Qualitätsentwicklung und -sicherung beteiligen.“
Hier wird Folgendes deutlich: telt werden (s. a. Kap. 3). Die Berufsausübung erfolgt
■ Pflege ist ein eigenständiger Beruf des Gesund- auf der Basis von Erkenntnissen der Pflegewissen- 1
heitswesens, der einer Ausbildung bedarf und schaft, aber auch unter Einbezug der Erkenntnisse
gegen Bezahlung ausgeübt wird. anderer Wissenschaftsdisziplinen, wie z. B. der Psy-
■ Pflege setzt am ganzen Menschen an. Sie ist so- chologie, Gerontologie, Soziologie, Pädagogik, Medi-
wohl auf kranke als auch auf gesunde Anteile des zin etc. Berufliche Pflege ist darüber hinaus nicht
Menschen gerichtet, was den Bereich der Präven- nur auf die kranken und körperlichen Anteile eines
tion und Rehabilitation sowie der Palliativpflege Menschen gerichtet, sondern schließt auch seine ge-
einschließt. sunden Anteile sowie psychische und soziale Kom-
■ Pflege wird unter Einbezug der Erkenntnisse der ponenten ein.
Pflegewissenschaft und der Erkenntnisse wichti-
!
ger Bezugswissenschaften, wie z. B. der Medizin, Merke: Der Einbezug der gesunden Anteile
Psychologie, Soziologie etc. ausgeübt. pflegebedürftiger Menschen und die Aus-
■ Angehörige der Pflegeberufe sind zuständig für weitung der Pflegeberufe auf den Bereich
die Einschätzung der Pflegebedürftigkeit eines der Prävention und Rehabilitation hat sich auch in
Menschen sowie die Planung, Durchführung der Änderung der Berufsbezeichnung zu Gesundheits-
und Bewertung der Pflege. Sie beraten und leiten und Kinderkrankenpfleger/in bzw. Gesundheits- und
pflegebedürftige Menschen an. Krankenpfleger/in des seit 2004 geltenden Gesetzes
■ Pflegepersonen sind aufgefordert, das eigene über die Berufe in der Krankenpflege nierdergeschla-
Wissen und Können durch Fort- und Weiterbil- gen. Darüber hinaus werden die Gemeinsamkeiten
dung zu entwickeln. der Pflegeberufe betont, indem immer häufiger von
■ Die Ausübung der Pflege erfolgt in Zusammen- „Pflege“ als verbindendem Element gesprochen wird
arbeit mit anderen Berufen des Gesundheits- (Abb. 1.1).
wesens.
Berufliche Pflege wird in verschiedenen stationären,
Hiermit lässt sich auch die berufliche Pflege von der teilstationären und ambulanten Einrichtungen des
nicht beruflich ausgeübten Pflege abgrenzen: Pflege Gesundheitsweses und der Altenhilfe ausgeübt.
darf nur dann berufsmäßig ausgeübt werden, wenn Hierzu gehören u. a.:
eine entsprechende pflegerische Berufsausbildung ■ Ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen,
erfolgreich abgeschlossen wurde. wie Krankenhäuser, Kinderkliniken, Sozialstatio-
Im Gegensatz zur nicht beruflich ausgeübten er- nen, Alten- und Pflegeheime,
folgt die beruflich ausgeübte Pflege gegen Bezah- ■ Fachkliniken, wie z. B. Psychiatrische Kranken-
lung. Zur pflegerischen Berufsausübung gehören häuser, Neurologische Rehabilitationszentren
Kompetenzen, die während der Ausbildung vermit- oder Kurkliniken,
!
Merke: Die beruflich ausgeübte Pflege sowie Schutz der Haut,
zeichnet sich aus durch eine erfolgreich ab- 9. Vermeidung von Gefahren in der Umgebung und
geschlossene pflegerische Berufsausbildung, Vermeidung der Gefährdung anderer,
in der die notwendigen Kompetenzen vermittelt wur- 10. Kommunikation mit anderen durch Äußerung
den. Die Ausübung der Pflege erfolgt gegen Bezahlung von Gefühlen, Bedürfnissen, Befürchtungen
und unter Einbezug pflegespezifischer sowie anderer oder Meinungen,
Wissenschaftsdisziplinen. Berufliche Pflege ist nicht 11. Verehrung Gottes entsprechend dem eigenen
nur auf die kranken und körperlichen Anteile eines Glauben,
Menschen, sondern darüber hinaus auch auf seine 12. Arbeit in einer Art und Weise, dass ein Gefühl
psychischen und sozialen sowie gesunden Anteile ge- für Erfolg sich einstellt,
richtet. 13. Spielen oder an verschiedenen Formen der Er-
holung teilnehmen,
14. Lernen, entdecken oder Neugierde befriedigen,
1.3 Definitionen der Pflege soweit dies zur normalen Entwicklung und Ge-
sundheit führt, und Inanspruchnahme der ver-
Um die Pflege inhaltlich genauer zu bestimmen, fügbaren Gesundheitseinrichtungen.
haben eine Reihe von Pflegewissenschaftlerinnen
und -wissenschaftlern ebenfalls Definitionen für Sind Menschen aus irgendeinem Grund, beispiels-
„Pflege“ verfasst. Eine der frühesten und bekanntes- weise durch eine Erkrankung oder Behinderung, vo-
ten Definitionen stammt aus dem Jahre 1960 von rübergehend oder dauerhaft nicht in der Lage, die
der amerikanischen Pflegetheoretikerin Virginia aufgeführten Bedürfnisse zu erfüllen, ist es die Auf-
Henderson (1897 – 1996): gabe der Pflegepersonen, sie in diesen Bereichen zu
unterstützen mit dem Ziel, sie schnellstmöglich wie-
Definition: „Die einzigartige Aufgabe der der zur Unabhängigkeit zu befähigen.
Krankenpflege ist es, dem einzelnen, krank Wie jede Definition ist auch die Definition der
oder gesund, bei der Durchführung jener Tätig- Pflege von Virginia Henderson abhängig von der je-
keiten zu helfen, die zur Gesundheit oder Rekonvales- weils zugrunde gelegten Perspektive, aus der ein
zenz (oder zu einem friedlichen Tod) beitragen, die er Gegenstand – in diesem Fall die Pflege – betrachtet
ohne Hilfe selbst durchführen würde, wenn er die wird. Ihre Definition fokussiert die Annahme, dass
dazu notwendige Kraft, den Willen oder das Wissen Menschen Lebewesen mit spezifischen Bedürfnissen
hätte. Dieses ist auf eine Weise zu tun, die dem Pa- sind. Das Ziel der Pflege bzw. ihre Sichtweise von
tienten die schnellstmögliche Wiedererlangung seiner Gesundheit ist eng verbunden mit Unabhängigkeit
Unabhängigkeit erlaubt“ (zit. n. Steppe 1990, S. 585). in den genannten Bedürfnisbereichen.
Henderson war eine der ersten Pflegetheoretike-
Henderson beschreibt in ihrer Theorie 14 Grund- rinnen. Sie hat ihre Definition von Pflege zu einer
bedürfnisse des Menschen, die gleichzeitig die Be- Zeit verfasst, als es noch nicht unbedingt üblich war,
reiche, in denen Pflege tätig wird, verdeutlichen: sich auf einer theoretischen Basis mit der Pflege
1. Normale Atmung, auseinanderzusetzen. Seit Mitte der 50er Jahre des
2. Ausreichendes Essen und Trinken, 20. Jahrhunderts sind jedoch vor allem im anglo-
3. Beseitigung der Körperausscheidungen, amerikanischen Raum eine Reihe von Theorien
über die Pflege und damit auch eine Vielzahl von
!
■ Definition der Pflege von Virginia Henderson Merke: Das Menschenbild bestimmt maß-
1960: Pflege als Unterstützung von gesunden geblich die Ausrichtung sowohl innerhalb
und/oder kranken Menschen bei der Erfüllung der Pflegewissenschaft als auch in der
von Grundbedürfnissen. Pflegepraxis.
■ Definitionen der Pflege werden beeinflusst vom
Menschenbild sowie dem zugrunde gelegten Ver- ▌ Kartesianisches Menschenbild
ständnis von Gesundheit und Krankheit. Das kartesianische Menschenbild basiert auf den
■ Pflegetheorien akzentuieren jeweils unterschiedli- Ausführungen des französischen Philosophen und
che Aspekte der Pflege, deshalb gibt es viele ver- Mathematikers René Descartes (1596 – 1650). Er
schiedene Definitionen der Pflege nebeneinander. war auf der Suche nach einem „unerschütterlichen
Fundament“, auf das sich „sichere Erkenntnis“ grün-
den lässt.
„Geist“ und „Materie“ betrachtete er als zwei
grundsätzlich verschiedene „Substanzen“. Daraus
folgerte er, dass der Körper des Menschen unabhän-
gig von seinem Geist zu betrachten und zu unter-
suchen sei und umgekehrt. Diese „Zweiteilung“ des
Menschen wird auch als kartesianischer Dualismus
bezeichnet.
Auf Descartes geht auch das Prinzip von Ursache ganismen) eingegliedert sind. Bis hinauf zu sozialen
1 und Wirkung, das sogenannte „Kausalitätsprinzip“, Systemen können auf diese Weise Systemstufen
zurück. Nach diesem Prinzip geschieht nichts ohne identifiziert werden.
Ursache; Ursache und Wirkung sind aufeinander be- Die verschiedenen Stufen bzw. Ebenen eines sol-
zogen. Einerseits bleibt keine Ursache ohne Wir- chen hierarchischen Systems stehen miteinander in
kung, andererseits gibt es keine Wirkung ohne Ur- Kontakt und tauschen Informationen aus. Auf diese
sache, wodurch sich alle Phänomene auf einen Weise ist zu erklären, warum Veränderungen einer
Grund zurückführen lassen. Systemstufe jeweils Auswirkungen auf andere Sys-
Diese mechanistische Sichtweise wurde in der temstufen haben und beispielsweise kritische Le-
Folge auf den Menschen übertragen: Der Mensch bensereignisse auf der sozialen Systemstufe sich
wurde als eine Art „Maschine“ betrachtet, deren auf den Organismus eines Menschen auswirken
Mechanismus Störungen unterliegen kann, für die können.
Ursachen zu suchen sind und die repariert werden Systeme werden darüber hinaus als Einheiten ge-
können. Dabei sind die Ursachen für die Störungen sehen, die sich nicht, bzw. nur unzureichend, durch
und die „Reparatur“ des Körpers prinzipiell ohne die Summe ihrer Teile beschreiben lassen. Mit dem
Berücksichtigung anderer Aspekte des Menschen, Übergang von einfachen zu komplexeren System-
wie beispielsweise psychischer oder sozialer Anteile, ebenen (z. B. von einzelnen Organen zum Organis-
durchführbar. mus) lassen sich Eigenschaften beobachten, die auf
Die mechanistische Sichtweise vom Menschen einer niedrigeren Stufe nicht zu beobachten waren.
fand Eingang in das biomedizinische Krankheits- Das Ganze wird so mehr als die Summe seiner Teile.
modell, das nicht nur in der Medizin, sondern auch
!
in vielen anderen Bereichen der Gesundheitsvorsor- Merke: Psychosomatische Ansätze betrach-
gung genutzt wird. Der Mensch erscheint in diesem ten den Menschen als lebendes System. Ver-
Verständnis als Ansammlung von Körperteilen und änderungen innerhalb der einzelnen Sys-
Organen. Krankheit wird entsprechend als Funk- temebenen haben Auswirkungen auf andere System-
tionsstörung einzelner Körperteile betrachte. Jede ebenen; so stehen physische, psychische und soziale
Krankheit kann auf eine Störung bzw. eine bestimm- Systeme des Menschen in einer Wechselbeziehung.
te Ursache zurückgeführt werden. Heilung erfolgt,
indem die Ursache für die Organstörung heraus- ▌ Holistische und ganzheitliche Ansätze
gefunden und behoben wird. Die Pflegewissenschaft beruft sich häufig auf Be-
schreibungen des Menschen, die die Betonung auf
!
Merke: Das naturwissenschaftlich-mecha- die Wechselwirkung und das Zusammenspiel von
nistische Menschenbild basiert auf dem physischen, psychischen und sozialen Anteilen des
Prinzip von Ursache und Wirkung und geht Menschen legen und so ein „ganzheitliches“ Men-
von einer dualistischen Betrachtungsweise des Men- schenbild entwerfen.
schen aus, bei der Körper und Geist als voneinander Diese Ansätze werden entsprechend unter dem
unabhängige Bereiche gesehen werden. Begriff „Ganzheitlichkeit“ oder auch „Holismus“ ge-
ordnet, was übersetzt so viel wie „Ganzheit“ bedeu-
▌ Psychosomatische Ansätze tet. Holismus beschreibt eine philosophische Rich-
Das naturwissenschaftlich-mechanistische Bild vom tung, die alle Erscheinungen des Lebens aus einem
Menschen mit der strikten Trennung zwischen Kör- ganzheitlichen Prinzip ableitet.
per und Geist wird insbesondere in psychosomati- Eine Pflegetheorie, die sich explizit auf die holis-
schen Ansätzen aufgelöst. tische Philosophie bezieht, ist die „Wissenschaft
Hierbei wird davon ausgegangen, dass der Körper vom unitären Menschen“ der amerikanischen Pfle-
ein „lebendes System“ ist. Dieser Ansatz basiert auf getheoretikerin Martha Rogers (s. a. Kap. 4.3.3).
Erkenntnissen der sog. Systemtheorie, die von einer Mensch und Umwelt sind in ihrem Verständnis
hierarchischen Ordnung ausgeht, bei der einfache Energiefelder, die in einem ständigen Austausch ste-
Systeme (z. B. Zellen) Bestandteile komplexerer Sys- hen und so zu einem unteilbaren Ganzen werden.
teme (z. B. von Geweben oder Organen) und diese
wiederum in noch komplexeren Systemen (z. B. Or-
!
Merke: Ganzheitliche Ansätze betrachten
Auch im Rahmen der Ganzheitlichkeit kommen al- den Menschen als Einheit von Körper, Geist
ternative Therapieformen zum Einsatz, wie bei- und Seele. Bei der Pflege von Menschen
spielsweise basale Stimulation, Massagen oder Fuß- müssen dementsprechend ihre physischen, psy-
reflexzonenmassage, deren Wirksamkeit sich aber chischen und sozialen Anteile bzw. Bedürfnisse be-
im Vergleich zu denen des Holismus zumindest be- rücksichtigt werden.
gründet vermuten lässt.
Bei der Einbeziehung des pflegebedürftigen Vor allem die ganzheitlichen Ansätze finden sich in
Menschen in die Pflege werden im Rahmen ganz- nahezu allen Pflegetheorien in unterschiedlicher
heitlicher Ansätze weniger seine Selbstheilungskräf- Ausprägung wieder. Dennoch werden sie von eini-
te als vielmehr die Begleitung und Beratung betont, gen Pflegewissenschaftlern auch kritisch betrachtet.
um ihn so zu Mitverantwortung zu befähigen. Kritikpunkte sind u. a.:
■ Die vorgesehene partnerschaftliche Beziehung
!
Merke: Dem holistischen und dem ganz- zwischen Pflegeperson und pflegebedürftigem
heitlichen Menschenbild ist gemeinsam, Menschen verlangt, dass sich beide als ganze
dass sie den Menschen als eine untrennbare Menschen in den Pflegeprozess einbringen. Dies
Einheit von Körper, Geist und Seele betrachten, die ist im Rahmen einer beruflich ausgeübten Pflege
sich in einem Gleichgewicht befinden müssen. nur schwer zu erreichen, da nur eine Annähe-
rung an ein symmetrisches Verhältnis geschehen
kann, letztlich aber immer ein gewisses asym-
metrisches Verhältnis, nämlich das zwischen
Helfer und hilfsbedürftigem Menschen, bestehen
bleibt.Wenn, wie von den ganzheitlichen Ansät-
!
Merke: Patientenorientierte, umfassende gen geprägt. Krankheit wurde als „Strafe der Götter“
und individuelle Pflege sind Begriffe, die die betrachtet, die den menschlichen Körper in Form
Ausrichtung pflegerischer Handlungen auf von Dämonen heimsuchen und auf diese Weise
den pflegebedürftigen Menschen beschreiben, dabei ihren Unwillen über menschliches Fehlverhalten
aber den inhaltlich unscharfen Begriff „Ganzheitlich- zum Ausdruck bringen und bestrafen.
keit“ meiden und auf den Totalitätsanspruch der In der griechischen Antike begannen sich mit der
ganzheitlichen Ansätze verzichten (Abb. 1.2). Naturphilosophie erste vernunftbetonte Erklärungs-
versuche für die Entstehung von Gesundheit und
Krankheit abzuzeichnen. Unter Gesundheit wurde
in erster Linie das harmonische, ausgeglichene
Leben im Einklang mit der Natur verstanden.
Ein Beispiel hierfür ist die Elementenlehre, die
den Elementen der Natur Wasser, Luft, Feuer und
Erde die Eigenschaften feucht, trocken, warm und
kalt zuordnete. Die ausgewogene Mischung in Zu- heit und Gesundheit werden als statische, starre
1 sammensetzung, Wirkung und Menge war gleichbe- Zustände betrachtet.
deutend mit Gesundheit; Abweichungen führten zur ■ Krankheiten äußern sich in bestimmten Sympto-
Krankheit. men, die von entsprechend geschulten Experten
Unter dem Einfluss des Christentums und im (Ärztinnen und Ärzten) diagnostiziert werden.
Zuge der Christianisierung wurde das Gesundheits- ■ Gesundheit kann nur im Zusammenhang mit
und Krankheitsverständnis wieder stärker in das re- Krankheit, nämlich als „Freisein von Krankheit“,
ligiöse Weltbild eingebunden. Vor allem im Mittel- und damit negativ definiert werden.
alter galt Gesundheit als Belohnung für Gottgefällig-
keit, während Krankheit als Strafe für Sünden be- Diese Ausrichtung spiegelt sich bis heute im deut-
trachtet wurde. Heilung erschien in diesem Ver- schen Gesundheitswesen wider.
ständnis als von Gott gegeben, der hierzu heilkun- Das biomedizinische Modell hatte auch starken
dige Menschen als „Instrumente“ einsetzte. Einfluss auf die Aufgaben der Pflege als Beruf und
die pflegerischen Tätigkeiten: Die Berufsausübung
1.5.2 Biomedizinisches Krankheitsmodell war in erster Linie auf die kranken Anteile pflegebe-
Ein Wandel dieser Sichtweise ergab sich vor allem dürftiger Menschen gerichtet. Die Notwendigkeit
durch das Zeitalter der Aufklärung und die natur- pflegerischer Tätigkeit war dann gegeben, wenn
wissenschaftliche Wende, die im 17. Jahrhundert ein Mensch krank wurde, und hatte vor allem die
mit Descartes ihren Ausgangspunkt hatte. Pflege des kranken Körpers zum Gegenstand.
Die folgenden bahnbrechenden Erfolge der Medi- Vielfach wird Kritik am biomedizinischen Modell
zin, beispielsweise Erkenntnisse der Bakteriologie, von Krankheit geäußert. Die Kritikpunkte beziehen
führten zur Entdeckung einer ganzen Reihe von sich nach Waller (2002) vor allem auf:
krankheitsverursachenden Mikroorganismen, womit ■ die einseitige biologische Orientierung, die das
religiöse Erklärungsmodelle für Krankheit zugunsten Erfassen und Erklären von Krankheiten ohne er-
der naturwissenschaftlichen Sichtweise immer mehr kennbare organische Ursache, z. B. von psy-
in den Hintergrund traten. chischen und psychosomatischen oder von chro-
Krankheit musste immer weniger mit dem Ein- nischen Erkrankungen, unmöglich macht,
wirken Gottes erklärt werden, da sich auf einer wis- ■ die begrenzte Effektivität in Bezug auf die Bewäl-
senschaftlichen Basis beweisen ließ, dass hierfür in tigung von Krankheiten (beispielsweise spielen
erster Linie Krankheitserreger verantwortlich wa- in Bezug auf die Bekämpfung von Infektions-
ren. Krankheit wurde von der am Prinzip von Ursa- erkrankungen neben der Entdeckung spezi-
che und Wirkung orientierten, naturwissenschaft- fischer Krankheitserreger umwelt-, ernährungs-
lich-mechanistischen Sichtweise entsprechend als und verhaltensbedingte Einflüsse eine wesentli-
Abweichung von der anatomisch-physiologischen che Rolle),
Norm, von der „normalen“ Funktion des Körpers ■ die auf den einzelnen Menschen ausgerichtete
betrachtet. Gesundheit war demzufolge das „Frei- und kurative Orientierung, die präventive und
sein“, die Abwesenheit von Krankheit bzw. „das rehabilitative Maßnahmen vernachlässigt, da die
noch nicht Kranksein“. Medizin erst dann einsetzt, wenn die Krankheit
Das biomedizinische Modell von Krankheit ba- bereits vorliegt, sowie
siert auf folgenden Grundannahmen: ■ die Delegation der Verantwortlichkeit für Ge-
■ Jede Krankheit kann auf eine bestimmte Grund- sundheit an Experten (Ärzte) mit der Folge der
schädigung des Körpers zurückgeführt werden, Zunahme einer Medikalisierung der Gesellschaft.
die entweder in der Zelle oder in einer Störung
mechanischer oder biochemischer Abläufe be- Erst langsam zeichnet sich im Gesundheitswesen ein
steht. Wandel weg von der einseitig krankheitsorientierten
■ Jede Krankheit hat eine spezifische Ursache und Sichtweise ab. Viele Krankenkassen bieten z. B. ver-
einen spezifischen Verlauf, der sich beschreiben mehrt Programme zur Gesundheitsförderung für ihre
und vorhersagen lässt und der sich ohne medizi- Mitglieder an und bauen ihre Leistungen im präven-
nische Intervention verschlimmert. tiven und rehabilitativen Bereich aus.
■ Krankheit ist objektiv, d. h. unabhängig von der
jeweils erkrankten Person zu bestimmen. Krank-
Beispiel: Auch in dem seit 2004 gültigen modelle für die Pathogenese, d. h. für die Entstehung
Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege von Krankheit, eine Erweiterung. Einer dieser Ansät- 1
wird den Bereichen Prävention und Rehabi- ze ist das sog. „Stress-Coping-Modell“ (Belastungs-
litation und der Beratung und Anleitung von pflege- Bewältigungsmodell, Abb. 1.3).
bedürftigen Menschen und deren Bezugspersonen ein Nach diesem Modell sind nicht mehr nur körper-
größerer Stellenwert in der Pflegeausbildung einge- liche Ursachen an der Entstehung von Krankheit be-
räumt. Dies zeigt sich konsequent auch in den ver- teiligt, sondern auch psychische und soziale Fak-
änderten Berufsbezeichnungen „Gesundheits- und toren. Kritische Lebensereignisse, z. B. der Tod eines
Krankenpfleger/in“ und „Gesundheits- und Kinder- nahen Angehörigen sowie arbeits- und berufsspezi-
krankenpfleger/in“. fische Belastungen wirken als Stressoren auf den
Menschen ein. In Abhängigkeit von den individuel-
!
Merke: Das biomedizinische Modell von len Bewältigungsmöglichkeiten (Coping-Strategien)
Krankheit ist einseitig krankheitsorientiert entscheidet sich, ob und in welcher Weise gesund-
und auf körperliche Störungen bezogen. heitliche Konsequenzen für den betroffenen Men-
Krankheit und Gesundheit sind fest zu bestimmende schen entstehen.
Zustände, die sich wechselseitig ausschließen. Bei den Bewältigungsmöglichkeiten werden per-
sönliche und kollektive Bewältigungsmöglichkeiten
Zusammenfassung: unterschieden. Zu den persönlichen Bewältigungs-
Entwicklung des Gesundheits- und Krank- möglichkeiten gehören u. a. psychische Fähigkeiten
heitsbegriffes des betroffenen Menschen wie beispielsweise
■ Altertum: Krankheit als Strafe der Götter; Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, die eine
■ griechische Antike: Gesundheit ist Harmonie, Ba- konstruktive Auseinandersetzung mit kritischen Er-
lance der Elemente; eignissen begünstigen.
■ christliche Sichtweise: Gesundheit ist Belohnung Kollektiven Bewältigungsmechanismen werden
für Gottgefälligkeit; z. B. gute Beziehungen zu Freunden oder die Einbin-
■ Biomedizinisches Modell: Krankheit als Wirkung dung in soziale Gruppen zugeordnet. Auch sie kön-
von Krankheitserregern (Ursache); Gesundheit ist nen Unterstützung zur Bewältigung einer kritischen
die Abwesenheit von Krankheit. Situation geben.
Sind die Bewältigungsmöglichkeiten eines Men-
▌ Erweiterung des biomedizinischen schen nicht ausreichend, können die Stressoren
Krankheitsmodells Stress im psychosozialen Erleben des Betroffenen
Das medizinische Krankheitsmodell erfuhr vor auslösen, der sich wiederum auf das organisch-so-
allem durch die psychosomatischen Erklärungs- matische Geschehen negativ auswirkt. Am Ende die-
Coping
Rollen- Psycho- Organisch-
diskontinuität soziales somatisches Vorboten
Live
Deprivation Erleben Geschehen der Krankheit
events
relative = = Krankheit
Deprivation Stress Stress
ses Prozesses ergibt sich eine manifeste Erkrankung. Die Definition der Weltgesundheitsorganisation
1 Das Modell gibt also eine Erklärung dafür, wie sozia- blieb nicht unumstritten. Kritisiert wurde vor allem,
le und psychische Konflikte eine körperliche Erkran- dass ein „Zustand vollkommenen körperlichen, geis-
kung auslösen können. tigen und sozialen Wohlbefindens“ angesichts der
Lebenssituation der Mehrheit der Weltbevölkerung
!
Merke: Krankheit entsteht nach dem zu unrealistisch bzw. utopisch sei. Strenggenommen
Stress-Coping-Modell folglich durch ein Un- könne nach dieser Definition kaum ein Mensch als
gleichgewicht zwischen auf den Menschen gesund gelten.
einwirkenden Stressoren einerseits und Bewälti- Dennoch setzte sie entscheidende Impulse für
gungsmöglichkeiten des betroffenen Menschen ande- einen Wandel des Gesundheits- und Krankheitsver-
rerseits. ständnisses, das stärker gesundheitsbezogen, umfas-
send und das subjektive Erleben einbeziehend sein
1.5.3 Definition der sollte. Die Prävention, d. h. das Vorbeugen und Ver-
Weltgesundheitsorganisation (WHO) hindern von Krankheit, sowie die Gesundheitsför-
Gegen die starke Ausrichtung auf den Krankheits- derung, d. h. die Erhaltung und Entwicklung von
begriff und die einseitig auf körperliche Störungen Gesundheit, erhielten einen hohen Stellenwert.
ausgerichtete Betrachtungsweise des biomedizi-
!
nischen Modells wandte sich bereits 1946 die Welt- Merke: Die Definition der WHO von 1946
gesundheitsorganisation (WHO). In ihrer damals führte zu einer verstärkten Ausrichtung auf
formulierten Definition heißt es: den Begriff „Gesundheit“, wodurch Präven-
tion und Gesundheitsförderung einen höheren Stellen-
Definition: „Gesundheit ist ein Zustand voll- wert im Gesundheitswesen erhielten. Sie bezieht
kommenen körperlichen, geistigen und sozialen neben dem subjektiven Erleben auch die physische,
Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von psychische und soziale Dimension des Wohlbefindens
Krankheit und Gebrechen“ (zit. n. Klemperer 2014, ein.
S. 45 f.).
Dieser Wandel zeigt sich z. B. in der Definition der
Damit wurde die stark naturwissenschaftliche Be- Pflege des International Council of Nursing (ICN):
trachtungsweise und krankheitsbezogene Sichtwei- „Pflege umfasst die eigenverantwortliche Versor-
se von Gesundheit und Krankheit entscheidend er- gung und Betreuung, allein oder in Kooperation
weitert: mit anderen Berufsangehörigen, von Menschen
■ Gesundheit wurde erstmals nicht nur als körper- aller Altersgruppen, von Familien oder Lebens-
liche Gesundheit beschrieben. Die WHO-Definiti- gemeinschaften, sowie von Gruppen und sozialen
on bezieht auch die psychische und soziale Di- Gemeinschaften, ob krank oder gesund, in allen Le-
mension des Menschen mit ein, wodurch gleich- benssituationen (Settings). Pflege schließt die För-
zeitig neben körperlichen auch psychische und derung der Gesundheit, Verhütung von Krankheiten
soziale Faktoren zur Entstehung von Krankheit und die Versorgung und Betreuung kranker, behin-
beitragen können. derter und sterbender Menschen ein. Weitere
■ Gesundheit wurde nicht mehr nur allein durch Schlüsselaufgaben der Pflege sind Wahrnehmung
objektive Faktoren bestimmt, sondern umfasste der Interessen und Bedürfnisse, Förderung einer si-
mit der Formulierung „Wohlbefinden“ auch das cheren Umgebung, Forschung (Advocacy), Mitwir-
subjektive Erleben von Gesundheit bzw. Krank- kung in der Gestaltung der Gesundheitspolitik,
heit und ermöglichte so, Gesundheit und Krank- sowie im Management des Gesundheitswesens und
heit als Kontinuum mit ineinander übergehen- in der Bildung“ (ICN 2010, Übersetzung durch DBfK).
den, fließenden Übergängen zu betrachten. Auch im deutschen Krankenpflegegesetz von
■ Die Sichtweise wandelte sich von einer krank- 2003 heißt es in § 3:
heitsbezogenen zur gesundheitsbezogenen Per- „(1) Die Ausbildung [. . .] soll [. . .] fachliche, per-
spektive: Gesundheit wurde hier unabhängig sonale, soziale und methodische Kompetenzen zur
von Krankheit und in einer positiven Formulie- verantwortlichen Mitwirkung insbesondere bei der
rung definiert. Heilung, Erkennung und Verhütung von Krankhei-
ten vermitteln. Die Pflege [. . .] ist dabei unter Ein- Krankheit, der Pathogenese, sondern um die Erklä-
beziehung präventiver, rehabilitativer und palliati- rung der Entstehung von Gesundheit, d. h. der Salu- 1
ver Maßnahmen auf die Wiedererlangung, Verbes- togenese, geht.
serung, Erhaltung und Förderung der physischen Er konzentriert sich auf die Frage: Wie entsteht
und psychischen Gesundheit der zu pflegenden Gesundheit bzw. welche Faktoren sind daran betei-
Menschen auszurichten. [. . .] (Ausbildungsziel)“ ligt, dass ein Mensch seine Position auf dem Ge-
(BGBl. I 2003 Nr. 36). sundheits-Krankheits-Kontinuum beibehalten bzw.
Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabili- an den Pol „Gesundheit“ annähern kann?
tation sind hier als Aufgabengebiet der beruflich Hier wird deutlich, dass Antonovsky Gesundheit
Pflegenden verankert. Hierdurch werden neue Auf- und Krankheit nicht als zwei Zustände versteht, die
gaben an die Pflegepersonen herangetragen, bei- sich gegenseitig ausschließen, wie es beispielsweise
spielsweise die Beratung pflegebedürftiger Men- im biomedizinischen Modell der Fall ist. Er betrach-
schen hinsichtlich gesunder Ernährung. tet Gesundheit und Krankheit als dynamischen Pro-
zess, der zwischen den beiden Polen „sicher gesund“
1.5.4 Salutogenetisches Modell und „sicher krank“ eine Reihe von ineinander über-
Die Schwerpunktsetzung der WHO, weg von der gehenden Zwischenbereichen aufweist.
Krankheit und hin zur Gesundheit, hat sich auch in Ebenso konzentriert sich sein Ansatz nicht auf
den neueren Erklärungsmodellen zur Entstehung „krank machende“ Risikofaktoren, sondern auf „ge-
von Krankheit niedergeschlagen. Einer dieser Ansät- sund machende“ Bewältigungsmöglichkeiten, die er
ze geht auf den amerikanischen Medizinsoziologen auch als Gesundheitsfaktoren oder „Copingressour-
Aaron Antonovsky zurück, der 1987 sein Modell der cen“ bezeichnet.
„Salutogenese“ vorstellte. Der Begriff „Salutogenese“ Das Modell der Salutogenese besteht aus vier
stammt aus der griechischen Sprache und bedeutet zentralen Konzepten: Kohärenzgefühl, Gesund-
übersetzt „Entstehung von Gesundheit“. heits-Krankheits-Kontinuum, Stressoren und Span-
Schon mit der Bezeichnung seines Ansatzes nungszustand und den generalisierten Wider-
macht Antonovsky deutlich, dass es ihm mit seinem standsressourcen (Abb. 1.4).
Modell nicht um die Erklärung der Entstehung von
Psychosoziale, physische
und biochemische Stressoren
Spannungszustand
Gesundheits-Krankheits-Kontinuum
▌ Kohärenzgefühl ▌ Gesundheits-Krankheits-Kontinuum
1 Als Kohärenzgefühl bezeichnet Antonovsky eine Antonovsky betrachtet Gesundheit und Krankheit
Grundhaltung der Welt und dem eigenen Leben ge- als gegenüberliegende Pole eines Kontinuums, auf
genüber. Es kann als eine Art Zuversichtlichkeit oder dem sich ein Mensch entweder näher zum Pol Ge-
Vertrauen eines Menschen darauf beschrieben wer- sundheit oder zum Pol Krankheit einordnet. Ge-
den, dass Ereignisse im Lebenslauf erklärt, als He- sundheit und Krankheit sind in seiner Vorstellung
rausforderungen eine Auseinandersetzung wert sind also keine Zustände mehr, die sich gegenseitig aus-
und mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen schließen. Vielmehr ist die Position auf dem Kon-
bewältigt werden können. tinuum veränderbar und jeder Mensch trägt gleich-
Das Kohärenzgefühl besteht aus drei wesentli- zeitig gesunde und kranke Anteile in sich. Er ist also
chen Komponenten: dem Gefühl der Verstehbarkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt entweder dem Pol
(kognitive Komponente), dem Gefühl von Handhab- Gesundheit oder dem Pol Krankheit näher bzw. wei-
barkeit bzw. Bewältigbarkeit (kognitiv-emotionale ter entfernt.
Komponente) und dem Gefühl von Sinnhaftigkeit
bzw. Bedeutsamkeit (motivationale Komponente). ▌ Stressoren und Spannungszustand
Als Gefühl der Verstehbarkeit beschreibt Antonov- Physikalische, biochemische und psychosoziale Fak-
sky die Fähigkeit von Menschen, Reize, die aus der toren wirken als Stressoren auf den Menschen ein
Umwelt auf sie einströmen, als geordnete und struk- und erzeugen einen Spannungszustand. Eine erfolg-
turierte Informationen zu verarbeiten. Die Überzeu- reiche Spannungsbewältigung hat nach Antonovsky
gung eines Menschen, Schwierigkeiten grundsätz- eine gesundheitserhaltende bzw. sogar gesundheits-
lich lösen zu können, bezeichnet er als Gefühl der fördernde Wirkung, da diese Erfahrung sich positiv
Handhabbarkeit. Dieses Gefühl hängt eng mit dem auf das Kohärenzgefühl auswirken kann. Kann ein
Wahrnehmen und Erkennen eigener Ressourcen – Mensch den Spannungszustand nicht bewältigen,
auch sozialer Art – zur Problembewältigung zusam- entsteht eine für ihn belastende Situation, die – je
men. Das Gefühl der Sinnhaftigkeit betrachtet Anto- nach Ausmaß – zur Schwächung der körperlichen
novsky als entscheidende Komponente des Kohä- Gesundheit führen kann.
renzgefühls. Es drückt das Ausmaß aus, in dem ein Das Kohärenzgefühl eines Menschen kann einer-
Mensch das eigene Leben als emotional sinnvoll seits helfen, Stressoren als neutral, also nicht be-
empfindet, und ermöglicht die Betrachtung auftre- drohlich zu bewerten, andererseits trägt es dazu
tender Schwierigkeiten eher als Herausforderung bei, situationsangemessen und auf die Lösung des
denn als Belastung. Problems ausgerichtet zu reagieren.
Das Kohärenzgefühl nimmt seiner Meinung nach
entscheidenden Einfluss auf den Gesundheits- und ▌ Generalisierte Widerstandsressourcen
Krankheitszustand eines Menschen. Je stärker es Neben dem Kohärenzgefühl nehmen laut Antonov-
ausgeprägt ist, desto eher ist ein Mensch in der sky auch generalisierte Widerstandsressourcen
Lage, auf Ereignisse und Schwierigkeiten flexibel zu eines Menschen Einfluss auf die Bewältigung eines
reagieren, da er hilfreiche Ressourcen aktivieren Spannungszustandes. Hierzu rechnet er u. a. körper-
kann. Entsprechend wird er Anforderungen an liche Faktoren, Intelligenz, finanzielle Möglichkeiten,
seine Person weniger als Belastungen bzw. Stresso- soziale Unterstützung und kulturelle Eingebunden-
ren empfinden. Das Kohärenzgefühl bildet sich in heit. Sie können in den unterschiedlichsten Situatio-
der Auseinandersetzung mit den Erlebnissen und nen und Lebensereignissen wirksam werden und
Erfahrungen aus, die ein Mensch während seines erhöhen die Widerstandsfähigkeit eines Menschen.
Lebens macht.
!
Merke: Der salutogenetische Ansatz ist ein Zusammenfassung:
Erklärungsmodell für die Entstehung von Moderne Sicht von Gesundheit und Krankheit 1
Gesundheit. Gesundheit wird als Ergebnis ■ Definition der WHO: Starke Betonung der Gesund-
einer erfolgreichen Spannungsbewältigung betrachtet. heit; Prävention und Gesundheitsförderung als Teil
Hieran sind maßgeblich das Kohärenzgefühl eines der Pflege.
Menschen, das zur Aktivierung und Auswahl der ge- ■ Salutogenetisches Modell: Gesundheit und Krank-
eigneten Ressourcen beiträgt, und die generalisierten heit als Pole eines Kontinuums; Gesundheit als Er-
Widerstandsressourcen beteiligt. gebnis erfolgreicher Spannungsbewältigung; Kohä-
renzgefühl und Widerstandsressourcen ermögli-
Relevanz hat dieser Ansatz für die beruflich aus- chen Spannungsbewältigung.
geübte Pflege in erster Linie dadurch, dass er den ■ Aufgabe der Pflege: Ressourcen aufdecken, Ver-
Stellenwert der Ressourcen eines Menschen für trauen des Menschen in eigene Fähigkeiten för-
seine Gesundheit verdeutlicht. dern, indem er aktiv in seine Pflege einbezogen
Dies verstärkt einerseits die Notwendigkeit, Res- wird und so selbst etwas für seine Gesundheit
sourcen in die Pflege eines Menschen einzubezie- tun kann.
hen, mit dem Ziel, zu seiner Gesundheit beizutra-
gen. Andererseits wird hierdurch auch der pflegebe- Fazit: Der Begriff „Pflegen“ findet im Alltag
dürftige Mensch selbst in die Pflege einbezogen, vielfältige Verwendung. Daher ist es not-
wodurch er lernt, selbst zu seiner Gesundheit bei- wendig, die beruflich ausgeübte Pflege von
tragen zu können. Pflegepersonen sollten Menschen den anderen Formen der Pflege klar abzugrenzen. Das
in schwierigen Situationen auch beim Erkennen vor- wird maßgeblich durch die von verschiedenen pflege-
handener Ressourcen unterstützen. rischen Berufsverbänden verfassten Berufsbilder un-
Auf diese Weise kann das Selbstbewusstsein des terstützt, die Aufgaben und Verantwortungsbereich
betroffenen Menschen gestärkt und somit indirekt der Pflegeberufe näher beschreiben.
auch zur Ausbildung eines höheren Kohärenzsinns Beruflich ausgeübte Pflege erfolgt gegen Bezahlung
beigetragen werden. und setzt eine erfolgreich abgeschlossene Berufsaus-
Gleichzeitig kann die Betrachtung von Gesund- bildung in der Alten-, Gesundheits- und Kinderkran-
heit und Krankheit als Kontinuum und nicht als sta- ken- oder Gesundheits- und Krankenpflege voraus, in
tische, starre Zustände für die Pflege wertvolle Im- der die für die Berufsausübung erforderlichen Kom-
pulse geben. In das Verständnis von Gesundheit und petenzen erworben wurden. Sie erfolgt theoriegeleitet
Krankheit geht auf diese Weise eine individuelle auf der Basis der Erkenntnisse der Pflegewissenschaft
Komponente ein. Beide Begriffe werden so nicht und ihrer Bezugswissenschaften.
mehr ausschließlich von der medizinischen Diagno- Für den Begriff „Pflege“ finden sich bei den ver-
se bestimmt, sondern vielmehr vom Erleben des be- schiedenen Pflegetheoretikerinnen und -theoretikern
troffenen Menschen und seiner Einschätzung der zahlreiche Definitionen, die sowohl vom zugrunde ge-
Lebensqualität. legten Menschenbild als auch vom Gesundheits- und
Pflegerisches Handeln erweitert sich so auf un- Krankheitsverständnis beeinflusst werden. Beide wir-
terstützende Maßnahmen, die die Stärkung der ein- ken sich sowohl auf die Pflegewissenschaft als auch
geschränkten bzw. bedingten Gesundheit zum Ziel auf die Pflegepraxis und das Pflegeverständnis aus.
haben. Dies ist vor allem für Menschen von Bedeu- Lange Zeit waren die naturwissenschaftlich-me-
tung, die von einer chronischen Einschränkung ihrer chanistische Sichtweise vom Menschen und das bio-
Gesundheit betroffen sind. medizinische Modell von Krankheit allein bestimmend
Bei der Pflege dieser Menschen sind vor allem für die Ausübung medizinischer und pflegerischer Ar-
beratende Fähigkeiten der Pflegepersonen gefragt, beit. Die einseitige Ausrichtung auf die Entstehung,
beispielsweise in Bezug auf die spezielle Ernährung Erklärung und Behandlung von Krankheit sowie das
oder die sportlichen Aktivitäten, die zu einer hohen Verständnis von Krankheit als rein körperlicher Stö-
Lebensqualität auch bei einer dauerhaft einge- rung wird zunehmend kritisiert. In jüngerer Zeit wer-
schränkten Gesundheit beitragen. den hier starke Impulse für eine integrative Sichtwei-
se, d. h. den konsequenten Einbezug psychischer und
sozialer Einflüsse auf die Gesundheit bzw. Krankheit
Rogers, M.: Theoretische Grundlagen der Pflege. Eine Einfüh- Waller, H.: Sozialmedizin. Grundlagen und Praxis, 6. Aufl.
rung. Lambertus, Freiburg i.B. 1995 Kohlhammer, Stuttgart 2007
1
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heit und Gesundheitswesen. Elsevier Urban & Fischer, Grundlagen, Empirie und Praxis eines gesundheitswissen-
München 2012 schaftlichen Konzeptes, 4. Aufl. Juventa, Weinheim 2010
Steppe, H.: Pflegemodelle in der Praxis. 2. Folge: Virginia
Henderson. Die Schwester/Der Pfleger 29 (1990) 584
Uexküll, Th. von: Was weiß die Medizin vom Menschen? In:
Rössner, H. (Hrsg.): Der ganze Mensch. Aspekte einer Im Internet:
pragmatischen Anthropologie. dtv 1986 www.deutscher-pflegerat.de; Stand: 22. 06. 2017
Uexküll, Th. von, W. Wesiack: Theorie der Humanmedizin. www.dbfk.de; Stand: 22. 06. 2017
Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns, 2., durch-
gesehene Aufl., Urban und Schwarzenberg, München
1991
2
Übersicht
Einleitung · 24
2.1 Antike · 28
2.1.1 Griechenland · 28
2.1.2 Römisches Reich · 30
2.1.3 Christentum · 31
2.2 Mittelalter · 32
2.2.1 Klöster als Hospitäler und
Bildungsstätten · 32
2.2.2 Pflege durch die Hospitaliterorden · 35
2.2.3 Hexenverfolgung · 37
2.2.4 Kinderheilkunde und Altersfürsorge · 38
2.3 Neuzeit · 38
2.3.1 Lohnwartesystem und katholische
Schlüsselbegriffe
Pflegeorden · 39
2.3.2 Krise der Krankenpflege im ▶ Caritas
18. Jahrhundert · 41 ▶ Ordenspflege
2.3.3 Hospitalwesen in der Neuzeit · 42 ▶ Mutterhaussystem
2.4 19. Jahrhundert · 44 ▶ Lohnwartesystem
2.4.1 Organisationsformen der Pflege · 44 ▶ Freiberufliche Pflege
2.4.2 Florence Nightingale und Jean Henri ▶ Professionalisierung
Dunant · 51
2.5 20. Jahrhundert · 54
2.5.1 Pflege im 1. Weltkrieg und in der Einleitung
Weimarer Republik · 55
2.5.2 Pflege im Nationalsozialismus und im Fürsorge und die Bereitschaft, anderen in Notsitua-
2. Weltkrieg · 55 tionen zu helfen, ist ein wichtiger Bestandteil
2.5.3 Neuordnung der Pflegeausbildungen nach menschlicher Gemeinschaften. Schon immer halfen
1945 · 58 die Menschen einander bei Verletzungen und Er-
2.6 21. Jahrhundert · 61 krankungen. Jedoch ist zwischen den einfachen,
2.6.1 Gesetz über die Berufe in der wissenschaftlich nicht fundierten Pflegehandlungen
Krankenpflege · 61 der frühen Menschheitsgeschichte und der Entste-
2.6.2 Gesetz über die Berufe in der hung des Pflegeberufs, wie wir ihn heute kennen,
Altenpflege · 62 nicht nur viel Zeit vergangen. Vielmehr ist das heu-
2.6.3 Ausblick · 63 tige Erscheinungsbild der Pflege das Ergebnis einer
2.6.4 Weiterbildungsmöglichkeiten für Reihe von geschichtlichen Entwicklungen und wird
Pflegepersonen · 64 durch einen Blick in die Geschichte verständlicher.
2.6.5 Berufspolitische Entwicklungen · 65
Die historische Rückschau macht die Ursprünge
Fazit · 66
des Berufs bewusst, zeigt Fehler und Fehlentwick-
Literatur · 67
lungen auf und kann so bei der heutige Suche nach
einer berufspolitischen Perspektive unterstützend
und korrigierend wirken.
Das folgende Kapitel beschreibt die Entwicklung
der Pflege zum Beruf. Dabei werden entscheidende
Etappen in der Entwicklung des Pflegeberufs und Vorab werden anhand einer Zeittafel die zeit-
wichtige Persönlichkeiten der Pflege dargestellt. geschichtlichen Entwicklungen in der Pflege zusam-
menfassend dargestellt (Tab. 6.5).
Christentum
Mit dem Christentum wird eine entschei- Die Legalisierung des Christentums durch Kaiser Konstantin zieht
dende Wende eingeläutet, die Auswirkun- die Ausbreitung des Christentums nach sich.
gen auf alle sozialen Lebensbereiche und Bereits die Urkirche organisiert die caritativen Aufgaben. Es wer-
insbesondere auf die Betreuung von Kran- den öffentliche Einrichtungen zur Aufnahme und Betreuung von
ken und Bedürftigen hat. Mit dem Tole- Hilfsbedürftigen geschaffen. Xenodochien als Häuser für sozial
ranzedikt von Mailand wird das Christentum Hilfsbedürftige und Kranke werden zu Vorläufern der späteren
als Religion erlaubt. Krankenhäuser. Das Christentum mit seinem Gebot der Nächs-
tenliebe und der Barmherzigkeit sorgt dafür, dass man sich auch
um chronisch und unheilbar Kranke kümmert.
Die caritativen Aufgaben werden vor allem von Frauen ausgeübt.
Hier wird der Grundstock für die Pflege als Frauenberuf gelegt.
Fortsetzung ▶
Fortsetzung ▶
2.1 Antike
Die Antike bzw. das Altertum umfasst den Zeitraum
2 von 800 v. Chr. bis 400/500 n. Chr.
!
Merke: Vieles in unserem heutigen Sozial-
verhalten, in unserer Sprache, in Medizin
und Pflege hat seine Wurzeln in der Antike.
So kommt dieser Zeitspanne eine die Zeit überdauern-
de Bedeutung zu. Worte wie Anatomie, Psychologie,
Ethik und Technik stammen aus dieser Epoche. We-
sentliche Impulse für die Heilkunde und Pflege gingen
dabei von den Kulturen im antiken Griechenland und
im römischen Reich aus.
2.1.1 Griechenland
Dass die in der Heilkunde Tätigen schon in der grie-
chischen Antike ein hohes Ansehen genossen, lässt
sich in den griechischen Heldengedichten nachlesen.
So heißt es in einem Vers der Ilias, dem Epos von
Homer: „Denn ein heilender Mann ist viele wert vor
den anderen“. Dies verdeutlicht das Verständnis von
Gesundheit und Krankheit in der frühgriechischen
Heilkunde. Gesundheit galt als ein hohes Ideal, wel-
ches zu erhalten oder wiederherzustellen war. Dabei
war auch die griechische Medizin in den Anfängen
der Antike noch stark von religiösen Vorstellungen
durchsetzt. Im Mittelpunkt stand für die alten Grie-
chen, die auch als „Hellenen“ bezeichnet werden,
die griechische Götterfamilie. Apollon, der Sohn
des Göttervaters Zeus, galt als der Gott von Krank-
heit und Heilung. Er soll auch der Vater von Askle-
pios (lat.: Aeskulap) gewesen sein. Asklepios, der um
1260 v. Chr. in Thessalien geboren wurde, arbeitete
als Arzt und wurde aufgrund zahlreicher Heilungen
um 500 v. Chr. zum Gott der Heilkunst erhoben Abb. 2.1 Asklepios, der Gott der Heilkunst. Römische Statue
(Abb. 2.1).
!
Merke: Sein Symbol, die um den Stab ge- den Tempelanlagen Tätigen waren zunächst nur
wundene heilige Schlange, gilt noch heute Priester, später auch Ärzte, die dafür Sorge trugen,
als Kennzeichen des ärztlichen Berufes. dass nur reine Menschen den Tempel betraten. Ster-
bende und Gebärende wurden nicht aufgenommen,
Nach den Lehren von Asklepios entwickelte sich um da man davon ausging, dass sie den Raum verunrei-
500 v. Chr. die sogenannte Tempelmedizin. Die in nigten. Damit wurde der allgemeinen Auffassung
entsprochen, dass unheilbar Kranke überhaupt nicht moralpathologie, die das Verständnis vom mensch-
mehr behandelt werden sollten. Dies hing auch lichen Körper, seiner Gesundheit und Krankheit bis
damit zusammen, dass die Pflege als eigenständiger ins 19. Jahrhundert hinein beeinflusste. Die körper-
Bereich und eine rein auf pflegerische Belange aus- eigenen Säfte Blut (haima), gelbe Galle (chole),
gerichtete Betreuung noch nicht existierten. schwarze Galle (melan chole) und Schleim (phleg-
2
Hatte sich die Heilbehandlung bisher auf das ge- ma) wurden als die vier Elemente des menschlichen
sammelte Erfahrungswissen (Empirie) gestützt, so Körpers betrachtet und mit den Qualitäten der Ur-
versuchte man nun Krankheit und Heilung rational elemente Warm, Trocken, Kalt und Feucht in Zusam-
zu verstehen. Seit 700 v. Chr. tauchten mit den Na- menhang gesetzt sowie den wichtigsten Organen
turphilosophen erste Versuche auf, Krankheit und Herz, Leber, Milz und Gehirn zugeordnet. Gesund-
Gesundheit auf einer natürlichen Grundlage, auf heit war dann gegeben, wenn sich die Körperele-
der Basis von Naturgesetzen, zu verstehen. mente in Zusammensetzung, Wirkung und Quanti-
In der Fortführung dessen, was die Naturphiloso- tät im richtigen Gleichgewicht befanden. Krankheit
phen begonnen hatten, entwickelte Empedokles von war dem gegenüber ein Zustand, in dem eine falsche
Agrigent (495 – 435 v. Chr.) die Elementenlehre Mischung der Säfte und ihrer Eigenschaften vorlag.
(Abb. 2.2). Auf diese Weise erklärte man sich unter anderem
Innerhalb dieser Lehre stellen die vier gleichwer- die Depression, damals schon ein bekanntes Leiden,
tigen Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde die als ein Überwiegen der schwarzen Galle („Melan-
Bausteine der natürlichen Welt dar. Die Elementen- cholie“). Das Bestreben der Natur sei es, das Gleich-
lehre wurde zur Grundlage der Säftelehre oder Hu- gewicht wieder herzustellen.
Choleriker
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gelbe Galle
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schwarze Galle
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G re
Ph leg matiker
pheion und das Haus für sozial Hilfsbedürftige und erste Universitätsgründungen und die Etablierung
Kranke Xenodochion (gr.) bzw. Hospitalium (lat.). Im der Medizin als Wissenschaft.
ersten ökumenischen Konzil, einer Versammlung
von Bischöfen in Nikaea im Jahr 325, machten sie 2.2.1 Klöster als Hospitäler und Bildungsstätten
2 es sich zur Auflage, in ihrer jeweiligen Diözese ein Die Legalisierung des Christentums durch Kaiser
Xenodochion zu errichten. Dies wurde im 4. Konzil Konstantin brachte die Ausbreitung des Christen-
von Karthago (398) ausdrücklich wiederholt. tums mit sich und führte im 5. Jh. zur Gründung
Die Xenodochien stellten noch keine Kranken- vieler Klöster. Die Klostergemeinschaften, in denen
häuser im heutigen Sinne dar. Sie waren vielmehr mehrere Mönche unter der Leitung eines Abtes zu-
Sozialasyle, wenngleich sie als Vorläufer des späte- sammenlebten, boten ideale Möglichkeiten zur Aus-
ren christlichen Hospitalwesens zu betrachten sind. übung der christlichen Barmherzigkeit. Innerhalb
Die Mutter von Konstantin, Helena, soll das erste dieser Klostergemeinschaften wurde das medizi-
Xenodochion in Konstantinopel gestiftet haben. In nische Wissen der Antike weiterentwickelt.
Rom wurde das erste Xenodochion um 380 von der Mit den Klostergründungen, die meist auch über
Patrizierin Fabiola gegründet, die Berichten zufolge Klostergärten mit Heilpflanzen verfügten, ent-
die Kranken persönlich von der Straße mitnahm und wickelten sich gleichzeitig Behandlungsstätten für
pflegte. Mönche, Wanderer und Arme. Aus diesem Grunde
Zunehmend waren es Frauen aus den oberen wird hier auch der Begriff Kloster- oder Mönchs-
Schichten, die sich zur tätigen Nächstenliebe ent- medizin verwendet.
schlossen. Die Worte Jesu Christi: „Was ihr dem Ge-
ringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir ▌ Benedikt von Nursia
getan“, wurden handlungsweisend. Vor allem Benedikt von Nursia (480 – 543) setzte sich
für die Fortentwicklung von Medizin und Kranken-
Zusammenfassung: pflege ein. Er gründete auf dem Hügel Monte Cassi-
Heilkunde no bei Neapel einen eigenen Orden, den Benedikti-
■ In der griechischen Heilkunde wurden erstmals nerorden, dessen Hauptanliegen die Ausübung der
Erklärungen für Krankheit und Gesundheit auf Caritas war. Grundlage der Lehre Benedikts war die
wissenschaftlichem Weg gesucht, hippokratisch-galenische Medizin.
■ wichtigste Vertreter: Asklepios (Gott der Heil- Die Ordensregel von Benedikt von Nursia wurde
kunst), Empedokles von Agrigent (Entwickler der über seinen eigenen Orden hinaus bis ins 12. Jh. hi-
Elementenlehre) und Hippokrates (Begründer der nein zur Grundlage des gesamten abendländischen
hippokratischen Medizin). Mönchtums und zum Vorbild für die Ausübung von
■ Im römischen Reich wurde die griechische Heil- Medizin und Krankenpflege. Sie verpflichtete zu Ar-
kunde übernommen und weiterentwickelt, mut, Demut und Ehelosigkeit, Gehorsam gegenüber
■ wichtigster Vertreter: Galen aus Pergamon (ent- dem Abt und vor allem unter dem Leitspruch „Ora et
wickelt eine Theorie über die Blut- und Nährstoff- labora“ (Bete und arbeite) zu praktischer Tätigkeit
verteilung im menschlichen Körper). zum Nutzen des Klosters.
■ Erstmals sorgt man sich auch im Christentum um Auch von staatlicher Seite wurden die Orden ver-
chronisch und unheilbar Kranke. stärkt zur Krankenbetreuung aufgefordert.
Im Aachener Konzil von 817 wurden Heilkunde 2. Domus hospitium: Hier wurden vornehme Frem-
und Krankenpflege als Aufgabe von Mönchen und de, wie z. B. der Kaiser, der Landesfürst und frem-
Nonnen festgelegt. Mönche wurden in der Folge zu de kirchliche Würdenträger aufgenommen.
fachkundigen Gelehrten auf dem Gebiet der Heil- 3. Infirmarium: Das Infirmarium war das eigentli-
kunde, was zur Vereinigung von Hospital und Klos- che Klosterspital zur Betreuung der Ordensange-
2
ter führte. hörigen.
Auf diesem Weg entstanden nicht nur Klöster, 4. Leprosorium: Ein Gebäude, welches der Aufnah-
sondern zugleich Stätten der Wissenschaften, ins- me und Absonderung von Infektionskranken
besondere der Medizin. Neben der Krankenbetreu- diente.
ung im Sinne der Caritas widmeten sich die Mönche
zugleich dem Studium der theoretischen und prak- Auf dem um 800 entworfenen Idealplan des Klosters
tischen Medizin. von St. Gallen lassen sich die verschiedenen Gebäu-
Die Unterbringung der Kranken fand im Wesent- de und ihren unterschiedlichen Funktionen zur Ver-
lichen in vier Arten von mittelalterlichen Kranken- sorgung der Pilger, Armen und Kranken besonders
herbergen innerhalb der Klosteranlage statt: gut nachvollziehen, wenngleich das Kloster nie so
1. Hospitale pauperum: Es diente der Aufnahme erbaut wurde (Abb. 2.5).
von Armen, Pilgern und Kranken. Das Infirmarium, Apotheke, Aderlassraum, Woh-
nung des Arztes, Kräutergarten und zahlreiche hy-
Aderlass-
Küche und
Laxierhaus
Herd
Bad
Aborte
Badekufe
Laubengang
Aufseher
Kapelle
Vorraum
Apotheke
Haus der
Ärzte
Schwer-
kranke
Brunnen
Arzt
Wohnraum Schlafraum
Kräuter-
garten
Aborte
Schornstein
gienische Einrichtungen sollten dem Heil und der nehmen. In der Regel waren es jedoch die herkömm-
Heilung der Menschen zur Verfügung stehen. Das lichen Heilberufe, wie Hebammen, Bader und Chirur-
Hospitale pauperum selbst war dem eigentlichen gen, die der Bevölkerung zur Seite standen.
Klosterbereich vorgelagert; hier konnten die Werke Im Spätmittelalter entwickelte sich die Behand-
2 der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit an Pil- lung der Kranken weiter (Abb. 2.6). Die Abbildung
gern, Armen oder Kranken unter der Leitung des zeigt einen spätmittelalterlichen Krankensaal, in
Klosterarztes direkt angewendet werden. Später dem links eine Amputation durchgeführt wird, wäh-
wurde das Hospitale pauperum als Pfortenspital rend auf der rechten Seite der Darstellung zu erken-
oder Armenherberge bezeichnet. nen ist, dass bei einem anderen Kranken ein chirur-
Das Infirmarium, das eigentliche Klosterspital, gischer Eingriff am Kopf durchgeführt wird.
welches den kranken, gebrechlichen und alten Mön- In Europa entstanden aus den Klosterschulen
chen vorbehalten war, lag um einen zentralen In- zahlreiche Universitäten, so z. B. in Bologna, Heidel-
nenhof. berg, Montpellier, Oxford, Padua und Paris. In eini-
Im Kloster von Cluny soll es ein Infirmarium mit gen Klosterschulen wurde der Medizin ein besonde-
einer Kapazität von 80 – 100 Betten gegeben haben. rer Stellenwert eingeräumt, so z. B. in Montpellier.
Die Betten waren in einem dreischiffigen Bauwerk
untergebracht. Es gab Abwässerkanäle und Rauch- ▌ Hildegard von Bingen
abzug, Beleuchtungs- und Belüftungsanlagen und Innerhalb der Klostermedizin erlangte die Äbtissin
offene Feuerplätze, so dass es wohl das erste heiz- des Benediktiner-Klosters auf dem Rupertsberg bei
bare Großkrankenhaus im Abendland war. Bingen, Hildegard von Bingen (1098 – 1179), eine be-
Später entwickelte sich in den Städten und ent- sondere Bedeutung.
lang der Pilgerstraßen eine zweite Form des Hospi- Hildegard hinterließ ein umfangreiches schrift-
tals, die Langhausform. Das Besondere hieran war, stellerisches Werk, überwiegend von visionärem
dass sich Pflegesaal und Altar unter einem Dach be- Charakter. Drei große Werke sind aus Hildegards
fanden. Es waren lange, im Stil eines Kirchenschiffes Visionen entstanden: die Glaubenskunde, die Le-
errichtete Säle, an deren Stirnseite sich ein Altar benskunde und die Weltenkunde. Die Bände „Physi-
oder eine Kapelle befand. Das bekannteste Hospital ca“ (die Natur) und „Causae et curae“ (Ursachen und
dieser Art war das Hôtel Dieu in Paris, welches 829 Behandlung von Krankheiten) stellen demgegen-
erstmals erwähnt wurde. Noch heute befinden sich über eine Sammlung volkskundlicher, naturkund-
Anlagen dieser Bauart über ganz Europa verteilt, licher und medizinisch-pflegerischer Schriften dar.
z. B. im französischen Tonnerre oder in Deutschland Neben ihrer Tätigkeit als Äbtissin des Klosters arbei-
das Heilig-Geist-Hospital in Lübeck. tete Hildegard von Bingen als Ärztin. Das führte
Behandlung und Pflege im frühmittelalterlichen, dazu, dass neben Pilgern auch Kranke kamen, die
christlichen Hospital waren eher bescheiden und ihren Ruf als Wunderheilerin verbreiteten.
vor allem auf die geistliche Betreuung ausgerichtet, Spezielle Pflegemaßnahmen stellte Hildegard
da es sich mehr um Sozialasyle als um Krankenhäu- keine auf. Dies war auch gar nicht nötig, beruhte
ser handelte. doch ihr Handeln auf dem Grundsatz: „Pflege das
Krankheit war neben Hinfälligkeit und Hilfslosig- Leben, wo du es triffst.“ Besondere Bedeutung in
keit nur ein Motiv zur Aufnahme. Ärzte wurden al- der Betreuung der Kranken kommt der „discretio“
lenfalls als Berater hinzugezogen und die pflegeri- zu. Damit ist die hilfreiche Umsicht, die Vorsicht
schen Verrichtungen orientierten sich vorrangig an und die Vorsorge gemeint.
der diätetischen Leitlinie des benediktinischen Le- Hildegard von Bingen war eine der letzten großen
bensstiles. Im Mittelpunkt stand die Anwendung Vertreterinnen der Klostermedizin des Mittelalters.
der Heilkräuter, die durch Therapiemethoden wie Schon zu ihren Lebzeiten veränderten sich die Wis-
z. B. Aderlass, Schröpfen und Umgang mit dem Glüh- senschaften und die Medizin, da sie sich verstärkt in
eisen ergänzt wurden. Richtung der Naturwissenschaften orientierten.
Die Klostermedizin selbst stand vor allem den An-
gehörigen der Ordensgemeinschaft zur Verfügung. In
geringerem Umfang konnte die Bevölkerung der nä-
heren Umgebung die Klostermedizin in Anspruch
▌ Paracelsus, der Begründer einer neuen In der Chemie übte er den größten Einfluss auf die
Heilmittellehre Medizin seiner Zeit aus:
Gegen Ende des Mittelalters wurde Philippus Aureo- Auf der Suche nach neuen Arzneimitteln experi-
lus Theophrastus Bombastus von Hohenheim mentierte er und schuf den inzwischen klassisch
(1493 – 1541), genannt Paracelsus, geboren. gewordenen Satz: „Allein die Dosis macht, dass ein
Als Arzt und Schriftsteller wanderte er durch Eu- Ding kein Gift sei“.
ropa und wurde zu einem der bedeutendsten Ärzte Für Paracelsus war die Pflege dann gefordert,
der Medizingeschiche. Um als Arzt fähig zu sein, wenn der Arzt seine Mittel verausgabt hat. Die Pfle-
musste man nach seiner Auffassung die Natur stu- ge ist es dann, die „sein joch und bürd auf ihren
dieren. Darüber hinaus machte er sich das Wissen rucken nehmen soll“, denn: „da ist nicht mehr, als
der Bader, Bauern und Handwerker zunutze. Die Er- der pure, lautere Mensch“ (Seidler 1993, S. 117). Pa-
kenntnisse von Paracelsus widerlegten die Elemen- racelsus vertritt hier noch den christlichen Pflege-
ten- und Säftelehre von Hippokrates und Galen und gedanken und markiert zugleich den Übergang in
stellten einen Versuch dar, die Krankheiten nach eine neue Epoche.
ihren Ursachen einzuteilen.
Seine Heilkunde beruhte im Wesentlichen auf 2.2.2 Pflege durch die Hospitaliterorden
den folgenden Grundlagen: Das Edikt von Clermont (1130, Tab. 2.2) führte zu
■ Philosophie, einer Einschränkung der Mönchsmedizin. Die Mön-
■ Astronomie, che wurden u. a. auf den Vorrang der geistlichen
■ Chemie und Pflichten gegenüber der Medizin hingewiesen. Die
■ Tugend. Aufgabe der Pflegetätigkeit, die sogenannte Ordens-
pflege, ging auf drei große Gruppen der Ordens-
Tab. 2.2 Edikt von Clermont, 1130: Einschränkung der Der bekannteste Ritterorden ist der Johanniter-
Pflegeaufgaben der Mönche führt zu Übernahme der Pflege orden. Er entstand in Jerusalem aus der Gemein-
durch die Hospitaliterorden
schaft der „Brüder des Hospitals vom heiligen Jo-
Geistliche Ritterorden Weltliche Orden Beginen hannes“. Im 13. Jahrhundert verfügte der Johanni-
2 Orden terorden bereits über 4000 Ordensniederlassungen
und übte in zahlreichen Hospitälern, z. B. in Jerusa-
Christliche Ritter der Laienvereini- Frauenorden
Caritas Kreuzzüge gung Bettel- ohne lem pflegerischen Dienst aus. Nach 1291 nannten
orden Gelübde sich die Johanniter Malteser. Weitere Ritterorden
waren die Deutschritter und die Lazariter.
– Augustiner – Johanniter- – Franziskaner
– Zisterzienser orden (später – Dominikaner
– Cluniazenser Malteser) – Graue ▌ Weltliche Orden
– Deutscher Schwestern Hierbei handelte es sich ursprünglich um Laienver-
Orden (Dritter
einigungen, die sich zu caritativem Dienst zusam-
– Lazariter Orden)
menschlossen. Sie stellten sich unter den Schutz
der Kirche und legten die Gelübde Armut, Keusch-
heit und Gehorsam ab, waren aber keine ursprüng-
bewegungen über: die geistlichen Orden, die Ritter- lich kirchliche Einrichtung. Für die Krankenpflege
orden und die weltlichen Orden. Aufgrund ihrer Tä- von besonderer Bedeutung waren die Bettelorden,
tigkeit wurden sie auch als „Hospitaliter“ bezeich- zu denen die Franziskaner und Dominikaner zählen,
net. und die sich im 13. Jahrhundert vor allem in den
großen Städten niederließen. Die Ordensangehöri-
▌ Geistliche Orden gen lebten ohne Besitz und waren auf die Almosen
Klösterliche Gemeinschaften, die streng nach den der Bevölkerung angewiesen.
benediktinischen Gelübden Armut, Keuschheit und Der Franziskanerorden geht auf seinen Gründer,
Gehorsam lebten, wie z. B. die Orden der Augustiner, den 1228 heilig gesprochenen Franz von Assisi
der Zisterzienser und der Cluniazenser, widmeten (1182 – 1226), zurück. Zunächst waren sie lediglich
sich auf der Basis der christlichen Caritas, wenn- eine Vereinigung von Weltleuten, die im Geiste von
gleich nicht in erster Linie, der Krankenfürsorge. Franz lebten. Franz, der anfänglich als Bußprediger
Die weiblichen Zweige der Orden, die sich der Kran- in Erscheinung trat, legte 1210 seinen Gleichgesinn-
ken annahmen, taten dies in einem größeren Um- ten eine Ordensregel vor, die vor allem die Befol-
fang. So ist bekannt, dass die Patienten im Hôtel- gung des Armutsgelübdes, den unbedingten Gehor-
Dieu in Paris seit dem 13. Jahrhundert der Pflege sam gegen die Oberen und das demütige Dienen für
der Augustinerinnen anvertraut wurden. Kranke und Elende vorschrieb. 1223 erhielt der
Orden der „Minderen Brüder“, wie Franz von Assisi
▌ Ritterorden ihn nannte, die förmliche päpstliche Bestätigung.
Zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert fanden Für die Krankenpflege war vor allem der von Franz
zahlreiche Kreuzzüge statt, die zum einen Pilger- von Assisi gegründete Dritte Orden, dessen Mitglie-
fahrten zu den heiligen Stätten in Palästina waren der als Tertiären bezeichnet wurden, von Bedeu-
und zum anderen der Verteidigung des christlichen tung. Deren Aufgabe bestand in erster Linie in der
Glaubens gegen die islamischen Türken dienten, die Pflege der Kranken.
1071 Jerusalem erobert hatten. Von kirchlicher Seite Zunächst waren in den Gemeinschaften beide
betrachtete man diese Kriege als heilig, gerecht und Geschlechter vertreten, später kam es zu getrennten
gottgefällig. Dem gegenüber standen die Taten der Kongregationen. Im späten Mittelalter wurden die
Kreuzritter. Auf dem Weg zum Orient wurde ge- Schwestern des dritten Ordens auch als graue
plündert und geraubt. Schwestern bezeichnet. Sie legten weniger Gelübde
In Zusammenhang mit den Kreuzzügen entstan- ab und lebten auch nicht in Klöstern, sondern in
den die sogenannten Ritterorden, die die christli- ihrer bisherigen Umgebung. Einige bedeutende Per-
chen Pilger auf der Reise ins heilige Land beschütz- sönlichkeiten stammen aus den Reihen der Tertiä-
ten und sich zudem um kranke und verletzte Pilger ren, z. B. Elisabeth von Thüringen (1207 – 1231), die
kümmerten. 1235 heilig gesprochen wurde. Sie übte im Umkreis
Grundlage für die Hexenjäger war der Malleus phylaktische und therapeutische Maßnahmen, vor
Maleficarum oder Hexenhammer, der 1484 von allem Richtlinien für Diätetik und Hygiene, vor-
Heinrich Institoris und Jacob Sprenger, beide päpst- geschlagen wurden.
liche Inquisitoren, in Köln veröffentlicht wurde. Der
2 Hexenhammer beschrieb Methoden und Mittel zur Zusammenfassung:
Überführung und Bekämpfung von Hexen. Klostermedizin
Im Rahmen der Hexenverfolgung und -verbren- ■ Klöster als Hospitäler und Bildungsstätten,
nung wurden Tausende von heilkundigen Frauen ■ wichtigste Vertreter: Hildegard von Bingen, Bene-
umgebracht und damit auch gleichzeitig ihr um- dict von Nursia.
fangreiches Wissen über Diagnose, Therapie und Hospitaliterorden: Aufgabe der Pflegetätigkeit wird
die Pflege von kranken Menschen vernichtet. auf vier große Orden übertragen:
■ geistliche Orden,
2.2.4 Kinderheilkunde und Altersfürsorge ■ Ritterorden,
Im Mittelalter befasste sich die Kinderheilkunde ins- ■ weltliche Orden und
besondere mit der Eindämmung der hohen Kinder- ■ Beginen.
sterblichkeit. Schätzungen gehen davon aus, dass Hexenverfolgung: Tausende von heilkundlichen Frau-
über die Hälfte aller lebend geborener Kinder en wurden ermordet.
schon im Kleinkindalter starben. Für die Aufnahme
nicht ehelich geborener Kinder entstanden im Mit-
telalter die sogenannten Findelhäuser, in denen ka- 2.3 Neuzeit
tastrophale hygienische Zustände herrschten.
Schon bald nach der Erfindung des Buchdrucks Die Neuzeit charakterisierende Ereignisse waren die
erschienen in kurzer Reihenfolge drei Abhandlun- Entdeckung von Amerika, Renaissance, Humanis-
gen über Kinderkrankheiten. Es waren die Lehr- mus, Reformation und der Frühkapitalismus durch
bücher von P. Bagellari (1472), von C. Roeland (1485) die Fugger. Erschüttert wurde das alte Europa in der
und dem ersten in deutscher Sprache gedruckten frühen Neuzeit durch Kriege, Hunger und Seuchen.
Buch von B. Metlinger (1473). Das älteste Hebam- Der Augustinermönch Martin Luther
menlehrbuch, dem Ausführungen über Pflege, Er- (1483 – 1546) löste die Glaubensspaltung mit pro-
nährung und Krankheiten bei Neugeborenen ange- testantischer Reformation und katholischer Gegen-
fügt waren, erschien 1513 und stammte von Eucha- reformation aus. Im Jahr 1525 kam es in Deutsch-
rius Rhodion (gestorben 1526), einem Stadtarzt in land zum Bauernkrieg, dem zehntausende Bauern
Worms. zum Opfer fielen und der die Bauern weiterhin
Eine organisierte Altersfürsorge gab es im Mittel- zum harten, elenden Leben in Unfreiheit verurteilte.
alter nicht. Meist herrschte die Auffassung vor, dass Der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648), der zu-
im Alter die Hinfälligkeiten zunahmen, Alter und nächst als Machtkampf zwischen der evangelischen
Krankheit galten oft als identisch. Alter wurde als und der katholischen Fürstenpartei in Deutschland
eine Last angesehen, die Hilfe erforderlich machte begann, endete als europäischer Machtkampf, kos-
und derer sich die Gemeinden annehmen mussten. tete allein in Deutschland mindestens 6 Millionen
Auf der anderen Seite wurde der alternde Mensch Menschen das Leben und hinterließ ein zerstörtes
als weise geschätzt und fand allgemeine Anerken- und entvölkertes Land.
nung sowie öffentliche Zuwendung. Im 16. und 17. Jh. kam es zu zahlreichen neuen
Für Männer boten die Klöster einen Ort der Ge- Erkenntnissen in vielen Bereichen der Medizin, so
borgenheit, an welchem älter werdende Mönche, z. B. in der Anatomie und Physiologie. Die bedeu-
abdankende Herrscher, aber auch Heimatlose und tendste Entdeckung machte der Engländer William
unheilbar Kranke unterschlüpfen konnten. Für alte Harvey (1578 – 1657). Er wies den Blutkreislauf
Frauen waren es fromme Stiftungen oder die Wohn- nach, und mit der Entdeckung der Kapillaren durch
gemeinschaften der Beginen, die Hilfe anboten. Im den italienischen Anatom Marcello Malpighi
späten Mittelalter wurden Gesundheitsregeln für al- (1629 – 1694) konnte die bis dahin noch immer gül-
ternde Menschen formuliert, in denen für drei ver- tige Theorie der Blut- und Nährstoffverteilung von
schiedene Perioden des Alters entsprechende pro-
1543 Andreas Vesal (1514 – 1564) veröffentlicht ein 663 Seiten umfassendes Lehrbuch der
griechischer Arzt, menschlichen Anatomie und markiert damit den Beginn der 2
Chirurg, Anatom wissenschaftlichen Anatomie
1689 Walter Harris (1647 – 1712) veröffentlicht die erste größere Abhandlung über
englischer Arzt „Akute Krankheiten der Kinder“ in London
Galen abgelöst werden. Weitere medizinische Er- der und der von Vinzenz von Paul gegründete
rungenschaften werden in Tab. 2.3 dargestellt. Orden der barmherzigen Schwestern bzw. Orden
der Vinzentinerinnen.
2.3.1 Lohnwartesystem und katholische
Pflegeorden ▌ Katholischer Pflegeorden von Juan de Dios
Die Reformation hatte ihre Spuren auch in den Klös- Der Portugiese Juan de Ciudad (1495 – 1550), später
tern hinterlassen. In den Ländern, die sich zur Re- als Juan de Dios oder Johannes von Gott heilig ge-
formation bekannten, wurden die Klöster zweckent- sprochen, gründete 1540 im spanischen Granada ein
fremdet. Die Ordensleute verließen sie und die Klös- Hospital sowie eine Vereinigung von Weltleuten, die
ter wurden zu Irrenhäusern, Gefängnissen oder Ar- sich der caritativen und pflegerischen Betreuung der
menhäusern. Kranken widmete. Anfänglich arbeitete seine kleine
In den nördlich gelegenen protestantischen Län- Vereinigung ohne Satzung, doch bereits 1586 nann-
dern kam es daher zu einem Mangel an Pflegeper- te sie sich mit päpstlicher Genehmigung Orden der
sonen. Eine neue Organisationsform wurde notwen- Barmherzigen Brüder und verbreitete sich über ganz
dig, um die Personallücken zu füllen. Europa. Der Orden wurde zum Symbol der christli-
chen Krankenpflege. Neben den drei Gelübden Ar-
▌ Lohnwartesystem mut, Gehorsam und Ehelosigkeit wurde als viertes
In vielen Städten entstand das Lohnwartesystem. Gelübde das der Hospitalität abgelegt, womit sich
Gegen Lohn wurde hier von Wärtern und Wärterin- die Brüder zum unentgeltlichen Krankendienst
nen der Dienst an Kranken ausgeführt. Unter Lohn sowie zum ausschließlichen Wirken als Kranken-
wurde damals ein Naturallohn verstanden, d. h. die pfleger verpflichteten. Im bayrischen Neuburg an
Wärter erhielten Unterkunft, Kost und ein Bett im der Donau wurde von 1623 bis 1626 mit dem St.-
Krankensaal. Die Caritas, die christliche Nächstenlie- Wolfgang-Hospital das erste Hospital der Barmher-
be, die ehemals die Motivation für die Ausübung der zigen Brüder auf deutschem Boden gebaut. Im Un-
Pflege gewesen war, drohte unterzugehen. Hinzu terschied zu den städtischen Hospitälern, die mehr
kam, dass das Lohnwartpersonal häufig aus den un- Sozialasylen glichen, nahmen die Barmherzigen Brü-
teren Bevölkerungsschichten kam. Die meisten der in ihren Häusern überwiegend Kranke auf, aller-
konnten weder lesen noch schreiben, und häufig dings ausschließlich Männer. Bereits 1658 wurden
fielen sie zudem durch Unzuverlässigkeit, Vernach- in Neuburg Krankenprotokolle eingeführt, die so-
lässigung der Kranken und Unehrlichkeit auf. wohl Inhalte der Krankengeschichten als auch der
Erst die Gründung neuer katholischer Pflegeor- Pflege dokumentierten.
den führte zu einer Verbesserung in der Versorgung Juan de Dios gilt in der katholischen Kirche noch
der Kranken. Maßgeblichen Anteil daran hatten der immer als Schutzpatron der Krankenhäuser, der
von Juan de Dios (Johannes von Gott) im 16. Jahr- Kranken und des Pflegepersonals.
hundert gegründete Orden der barmherzigen Brü-
▌ Katholischer Pflegeorden von Vinzenz von Paul seiner engsten Anhängerinnen, Madame le Gras,
Im Bereich der weiblichen Krankenpflege kam es zu übernahm die Betreuung der Mädchen. Am 29.
grundsätzlich Neuem durch den später heilig ge- Nov. 1633 bezog sie mit einigen jungen Mädchen
sprochenen Franzosen Vinzenz von Paul in Paris ein kleines Haus, welches zur Wiege eines
(1581 – 1660). neuen Ordens werden sollte: des Ordens der Barm-
Vinzenz von Paul (Abb. 2.8) studierte zunächst herzigen Schwestern, auch Vinzentinerinnen ge-
Theologie in Toulouse. Während einer Pfarrvertre- nannt.
tungszeit in Châtillon-les-Dombes wurde ihm die Vinzenz ging es vor allem darum, dass seine
vernachlässigte Armen- und Krankenfürsorge be- Schwestern zur praktischen Arbeit am Krankenbett
wusst, woraufhin er die Confrérie de la Charité, ausgebildet wurden. Gelübde, Klausur und mehrere
eine weibliche Caritasbruderschaft, gründete. Nach Andachten täglich schienen hierbei eher im Wege zu
drei Monaten der Prüfung erhielt die Gruppe feste stehen. In der weltlichen Tracht der einfachen Bau-
Regeln. Nun konnten sich Frauen, gleich ob verhei- ersfrau sollten die Schwestern auftreten und ihre
ratet, verwitwet oder unverheiratet, der Gemein- Arbeit verrichten (Abb. 2.9).
schaft anschließen. Dennoch wurden bereits am 26. März 1634 feste
Als Vinzenz von Paul 1621 nach Paris zurück- Regeln aufgestellt, die jedoch nicht mit denen der
kehrte, gründete er auf Anregung von Mme. Gous- traditionellen, strengen kirchlichen Gemeinschaften
salt die Gesellschaft der „Dames de la Charité“, zu zu vergleichen waren. Ebenso stellten die Gelübde,
der vornehmlich höher gestellte Damen gehörten. die auf ein Jahr befristet waren, keine eigentliche
Mme. Goussault und die anderen Damen halfen im religiöse Weihe einer Ordensfrau dar.
Hôtel Dieu den Augustinerinnen und wurden von Einen besonderen Stellenwert erhielt die fachli-
Vinzenz beraten. Ihre Tätigkeit dehnte sich aus auf che Ausbildung der Schwestern. Sie mussten Lesen,
die Gefangenenfürsorge, die Betreuung sittlich ge- Schreiben und Rechnen lernen, wurden mit den
fährdeter Mädchen sowie auf die Beaufsichtigung Grundregeln praktischer pflegerischer Tätigkeit ver-
eines Hospizes für alte Ehepaare. traut gemacht und durften zur Ader lassen und
Gesellschaftliche Verpflichtungen, Angst vor An- schröpfen. Von Vinzenz von Paul hörten sie Vorträge
steckung oder der Einspruch der Ehemänner führ- über die ethischen Grundsätze der Krankenpflege.
ten dazu, dass die Frauen zunehmend Dienstboten
!
zu den Fürsorgediensten schickten. Da diese aber oft Merke: Für die Entwicklung der Pflege be-
unzuverlässig waren, stellte Vinzenz von Paul junge, deutsam ist, dass hier zum ersten Mal von
dienstwillige, gläubige und kräftige Mädchen vom einer fachlichen Ausbildung der Schwestern
Land ein, die zunächst bei den Damen wohnten, die Rede ist.
wo sie in die Arbeit eingeführten wurden.
Die Zahl der Mädchen nahm so zu, dass eine
systematische Ausbildung notwendig wurde. Eine
!
Abb. 2.10 Franz Anton Mai Merke: Der Heidelberger Professor Franz
Anton Mai erkannte die Notwendigkeit
einer Ausbildung für die Pflegenden und er-
öffnete 1782 die erste deutsche Krankenpflegeschule
2 in Heidelberg.
!
Merke: In der 2. Hälfte des 18. Jh. ent- Schulung der Krankenwärter an, so z. B. auch der
wickelten sich die Hospitäler zu Kranken- Berliner Charité-Arzt Johann Friedrich Dieffenbach
häusern. Den höheren Ansprüchen der Me- (1792 – 1847), der 1832 die „Anleitung zur Kranken-
dizin konnten die unausgebildeten Wärter und Wär- wartung“ schrieb und vorübergehend die Leitung
terinnen nicht entsprechen. der Krankenwärterschule inne hatte.
▌ Franz Anton Mai und die erste 2.3.3 Hospitalwesen in der Neuzeit
Krankenwärterschule Die Hospitäler des 16. und 17. Jahrhunderts hatten
Dem Heidelberger Professor der Geburtshilfe Franz sich im Vergleich zu vorangegangenen Jahrhunder-
Anton Mai (1742 – 1814) gelang es zumindest in An- ten kaum verändert. Sie wurden außerhalb der Stadt
sätzen, die Pflege in den Hospitälern zu verbessern errichtet und verfügten noch immer über große
(Abb. 2.10). Krankensäle mit Altar oder Kapelle. In der Kreuz-
Er stellte fest, dass eine mangelhafte Pflege nicht mitte war der Altar aufgestellt. Die Hospitäler
nur die Genesung behinderte, sondern sogar zum waren in den meisten Fällen überfüllt und es
Tode führen konnte. Andererseits konnte eine gute herrschten völlig unzureichende hygienische Ver-
Pflege einen Beitrag dazu leisten, die verlorene Ge- hältnisse. Es war durchaus üblich, dass Patienten
sundheit wiederherzustellen. Mai beschloss daher, postoperativ neben Kranken mit Infektionen lagen.
eine Krankenwärterschule zu errichten. Nach seinen In den Krankensälen stank es nach Eiter, Fieber-
Plänen wurde am 15. April 1782 eine „öffentliche schweiß und Exkrementen. Für zwei Hilfsbedürftige
Schule zur Erziehung wohl unterrichteter Kranken- stand jeweils ein Bett zur Verfügung.
wärter“ und damit die erste deutsche Krankenpfle- Die Hospitäler der großen Städte, wie z. B. das
geschule ins Leben gerufen. Die Ausbildung an der Hôtel-Dieu in Paris, zählte mitsamt seiner Filiale
Schule dauerte drei Monate und endete mit einer mehrere tausend Patienten. Katastrophale hygie-
Prüfung. Im Sommersemester 1797 hielt Franz Mai nische Bedingungen und eine von schlecht ausgebil-
eine Vorlesung über „Krankenwärterlehre“ an der deten Pflegenden ausgeführte Pflege führten zu
Universität Heidelberg. Ein Jahr später forderte einer Mortalität von 20 – 25 Prozent in den Jahren
Mai, die Krankenwärterlehre an den Universitäten 1721 – 1773. Als Ursache hierfür wurde das soge-
einzuführen. Im Jahr 1801 eröffnete er gemeinsam nannte Hospitalfieber genannt, hervorgerufen
mit der Universität Heidelberg eine „Schule für Ge- durch zu viele Menschen auf geringem Raum sowie
sundheits- und Krankenwärterlehre weiblicher Zög- die mangelnde Lüftung und Beseitigung des Abfalls.
linge“. Die Idee war es, heranwachsenden Mädchen
Kenntnisse in der Gesundheitslehre zu vermitteln. ▌ Neugestaltung der Hospitäler
Nach erfolgreichem Schulbesuch sollten sie in die Nach dem Brand des Hôtel-Dieu wurden neue
berufsmäßige Krankenpflege wechseln. Maßstäbe für die Krankenhausarchitektur gesetzt.
Es wurden dezentral gelegene Pavillionkrankenhäu-
ser geplant, d. h. mehrere kleinere Krankenhäuser
sollten nebeneinander errichtet werden, um verbes-
serte hygienische Bedingungen zu garantieren.
Die Arbeitsbedingungen für die Pflegenden bereitet hatte. Rousseau erkannte die Kinder als er-
waren ebenfalls alles andere als gut. Auch sie litten ziehungsfähige Glieder der Gemeinschaft an. Der
erheblich unter den hygienischen Bedingungen, den Staat sah sich veranlasst mit Unterstützung der Me-
vielen Todesfällen, und konnten den vielen Tausend dizin und eines anwachsenden sozialen Netzes sich
Patienten weder quantitativ noch qualitativ gerecht vor allem der armen, ausgesetzten und kranken Kin-
2
werden. Eine Neugestaltung des Krankenhauswe- der anzunehmen und sich um deren Überleben zu
sens wirkte sich auch positiv auf das Arbeitsumfeld bemühen. Vor diesem Hintergrund wurden die
der Pflegenden aus. Das von Joseph II. 1784 in Wien kranken Kinder zum Gegenstand intensiver ärzt-
errichtete allgemeine Krankenhaus sollte wegwei- licher Anstrengungen.
send werden für die Umgestaltung des Hospitalwe- Das Bestreben, die Kindersterblichkeit zu senken,
sens zum Krankenhauswesens. Es verfügte über ließ das Konzept der Ambulatorieren entstehen, wo-
2000 Betten, die auf eine Krankenabteilung, ein Sie- nach die Kinder in ihrer Umgebung belassen und
chenhaus, ein Findelhaus sowie einen Gebärbau und dort medizinisch und pflegerisch betreut wurden.
einen Narrenturm verteilt waren. Der englische Arzt G. Armstrong gründete 1769 die
In Deutschland hatte für viele kleinere Häuser erste Poliklinik für Kinder in London. Der Wiener
das um 1787 in Bamberg errichtete städtische Kran- Arzt Mastalier errichtete 1787 das erste „öffentliche
kenhaus Vorbildcharakter. Es war ausschließlich für Kinderkrankeninstitut“. In Deutschland entstand
heilbare Kranke bestimmt. Viele ältere Hospitalanla- 1793 in Breslau das „Institut für arme, kranke Kin-
gen wurden Ende des 18. Jahrhunderts umgewan- der“. In Paris eröffnete man 1802 das erste Kinder-
delt und nahmen künftig nur noch Kranke auf. Die krankenhaus, das Hospital „des enfants malades“. In
verbliebenen Hospitäler wurden zu Alten- und Pfle- Berlin gab es bereits 1843 zwei Kinderkrankenhäu-
geheimen. Nach und nach trennte man auch die ser.
Kranken nach verschiedenen Krankheitsarten und Die Entwicklung in der medizinischen und pfle-
verbesserte die Inneneinrichtungen. gerischen Betreuung kranker Kinder zeigte sich auch
Schon im 16. Jahrhundert hatte man psychiatri- in der Literatur. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
scher Kliniken eingerichtet, damals als „Tollhäuser“ ging es in der kinderheilkundlichen Literatur in ers-
und „Irrenspitäler“ bezeichnet. Die Möglichkeiten, ter Linie um präventive Maßnahmen, mit denen ver-
psychisch Kranken zu helfen, waren jedoch äußerst mieden werden sollte, dass die schwache kindliche
gering und die Hilflosigkeit fand ihren Ausdruck in Physis irgendwie in Gefahr kam. Zahlreiche Hinwei-
zum Teil erschreckenden Verhaltensweisen. So wur- se, wie vorzugehen sei, wurden deshalb an die ge-
den Irre z. B. gegen Entgelt Besuchern vorgezeigt. richtet, die sich um die kranken und hinfälligen Kin-
Katastrophale hygienische Verhältnisse, überfüll- der bemühten: die Mutter, Amme oder der Pädago-
te Krankenhäuser und eine beängstigend hohe Mor- ge.
talität waren die Ursache für eine Neugestaltung der
Krankenhäuser: Zum ersten Mal wurden einzelne Zusammenfassung:
Krankenabteilungen räumlich und in der Belegung Neue Organisationsformen der Pflege
der Kranken unterschieden. Außerdem verbesserte ■ Lohnwartesystem: Pflege wird von bezahlten Wär-
man die hygienischen Zustände. tern und Wärterinnen ausgeübt,
■ katholische Pflegeorden: Juan de Dios und Vincenz
▌ Kinderkrankenhäuser von Paul gründen Ordensgemeinschaften, die sich
Zu Beginn des 18. Jh. beklagte man eine hohe Wo- vorrangig der Ausübung der Krankenpflege annah-
chenbettsterblichkeit. So stellte die „Encyclopédie men.
francaise“ für die Mitte des 18. Jahrhunderts fest, Ausbildung der Pflegenden
dass ein Viertel der Kinder bereits im ersten Jahr ■ Franz Anton Mai gründet 1782 die erste Kranken-
starb, in den zwei ersten Lebensjahren ein Drittel pflegeschule.
und bis zum dritten Jahr mindestens die Hälfte der
Kinder.
Für die Heilkunde erwuchsen aus dieser Situati-
on neue Aufgaben, zumal sich in Philosophie und
Pädagogik eine Umbewertung des Kindesalters vor-
nahm er u. a. den Gedanken des Mutterhauses. Die Die Historikerin Anna Sticker, die ein Buch über
Unterrichtung der Schwestern sollte durch einen das Ehepaar Fliedner geschrieben hat, bezeichnete
Arzt erfolgen, der sowohl praktische als auch theo- den 13. Okt. 1836, den Tag an dem das Diakonissen-
retische Anweisungen zu geben hatte. Die Schwes- mutterhaus in Kaiserswerth eröffnet wurde, als den 2
tern sollten bewusst als Helferin des Arztes aus- Beginn der neuzeitlichen Krankenpflege.
gebildet werden. Die Bemühungen der konfessionellen Verbände
Ergänzt wurde der Unterricht durch seine Frau wurden allerdings nicht ausschließlich positiv auf-
Friederike Fliedner (1800 – 1842) und durch die genommen. So sprach der Mediziner Virchow die-
erste Diakonisse Gertrud Reichardt, die eine erfah- sen die Existenzberechtigung ab, weil seiner Mei-
rene Pflegerin war. Das von Johann Friedrich Dief- nung nach jede kirchliche Aufgabe eines Pflegenden
fenbach verfasste Buch „Anleitung zur Krankenwar- verhindere, dass die Pflege rein sachlich angesehen
tung“ wurde dem Unterricht zugrunde gelegt. werden konnte.
Die Verbindung des Diakoniegedankens mit der
Ausübung der Krankenpflege brachte so manche ▌ Weltliche Mutterhausverbände/vaterländische
Probleme mit sich. Ging es Fliedner, dem Theologen, Frauenvereine
vor allem darum, dass der Krankendienst als kirch- Für die Entstehung neuer Organisationsformen der
liches Amt von frommen Frauen ausgeführt wurde, Pflege waren nicht zuletzt die zahlreichen Kriege
so war seine Frau Friederike anderer Auffassung. Sie mitverantwortlich. In Deutschland entstanden z. B.
sah vor allem die freiwillige Bereitschaft der Frauen, die Frauenvereine im Zusammenhang mit den Krie-
die sich zum Krankendienst meldeten. Diese waren gen zur Befreiung von der napoleonischen Herr-
jedoch häufig nicht der geistlichen Verantwortung schaft. Der Einsatz der Frauen in den Befreiungskrie-
einer Diakonisse gewachsen. gen wurde als vorbildlich für eine soziale Betätigung
So kam es, dass tüchtige Krankenpflegerinnen der Frau betrachtet. Die Frauen wurden zur Unter-
aufgenommen wurden, die jedoch nicht die Voraus- stützung der verwundeten und erkrankten Krieger
setzung zum Diakonissenamt mitbrachten, und um- und zur Linderung des im Lande verbreiteten Not-
gekehrt. standes eingesetzt. Eine Woche nachdem der preu-
ßische König, Friedrich Wilhelm III., einen Aufruf an
!
Merke: Die Verpflichtung der unverheirate- sein Volk gerichtet hatte, unterzeichneten neun
ten Frauen, sich für fünf Jahre im Diakonis- deutsche Prinzessinnen einen „Aufruf an die Frauen
senverein zu engagieren, verschaffte ihnen im preußischen Staate“. Sie gaben hierin die Grün-
das Recht, unangefochten in der Öffentlichkeit einem dung eines „Frauen-Vereins zum Wohle des Vater-
Beruf nachzugehen. Die Frauen erhielten freie Dienst- landes“ bekannt. Die Resonanz war groß, es bildeten
kleidung und ein festes Gehalt. sich rasch an vielen Orten vaterländische Frauenver-
eine. Aufgabe der Frauenvereine war, wie von den
Hinzu kamen freie Kost und Wohnung, Medikamen- Prinzessinnen vorgeschlagen, die unmittelbare Hil-
te und ärztliche Behandlung, Versorgung bei Dienst- feleistung zur Unterstützung des nationalen Befrei-
unfähigkeit und Alter und weitere Vorteile, so dass ungskrieges.
ein Eintritt in die Diakonissenanstalt für die meisten
Pflegerinnen mit einer Standeserhöhung verbunden Zusammenfassung:
war. Pflege im 19. Jahrhundert
Fliedners Vorstellungen von der Krankenpflege ■ kein berufliches Selbstverständnis, da:
und dem Leben der Diakonissen waren tief in dem – Arbeitsteilung zwischen männlicher Medizin
frühchristlichen Diakoniegedanken verwurzelt. Die und untergeordneter weiblicher Pflege,
Diakonisse dient in ihrer Pflege dem Herrn selbst, – Pflege als christlicher Liebesdienst,
die Arbeit am Kranken ist Arbeit am Reich Gottes. So – Pflege als bürgerlicher Beruf, keine Identifikati-
unterrichte Fliedner abends u. a. in Bibelkunde, on mit der Arbeiterbewegung.
Glaubenslehre und Ethik der Krankenpflege. Flied- ■ Organisationsformen der Pflege:
ner schuf mit seiner Konzeption die Voraussetzung – katholische Ordenspflege: Borromäerinnen,
für die Krankenpflege als dem bürgerlichen Frauen- Clemensschwestern, Vinzentinerinnen,
beruf schlechthin.
– evangelische Diakonie: Begründer Theodor sern Verträge ab, in denen die finanziellen Inhalte
Fliedner förderte die Ausbildung der Diakonis- geregelt waren. Danach erhielten die Schwestern al-
sen als Pflegerinnen, unterrichtet durch den lenfalls ein Taschengeld sowie freie Unterkunft und
Arzt, Verpflegung.
2 – weltliche Mutterhausverbände: vaterländische Die nicht gebundenen, freiberuflichen Schwes-
Frauenvereine zur Pflege, vor allem im Krieg. tern arbeiteten vielfach in der Privatpflege und hat-
ten zumeist unter katastrophalen Arbeitsbedingun-
▌ Freiberufliche Krankenpflege und Agnes Karll gen zu leiden. Die Arbeitszeiten betrugen oft 15
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es erneut zu Stunden und mehr, es gab keine entsprechenden
einem Mangel an Pflegekräften, der u. a. auch durch Erholungszeiten und für den Krankheits- oder Ren-
die Verabschiedung des Krankenversicherungsgeset- tenfall keine Absicherung. Hinzu kam eine absolut
zes im Jahr 1883 ausgelöst wurde. Nun waren auch unzureichende Bezahlung und völlige Arbeitsüber-
solche Bevölkerungsschichten im Krankenhaus an- lastung. Der oft zweifelhafte Ruf der Schwestern
zutreffen, die sich vorher einen Krankenhausaufent- war auch darauf zurückführen, dass sie häufig nur
halt nicht leisten konnten. Die Anzahl der Kranken- wenig oder gar nicht ausgebildet waren. Eine ehe-
häuser und der Krankenhausbetten stieg in den malige Rotkreuzangehörige war es schließlich, die
folgenden Jahren von 100 000 im Jahr 1877 auf auf die Missstände aufmerksam machte und Ver-
260 000 im Jahr 1900. änderungen herbeiführen wollte.
Fast alle in der Krankenpflege tätigen Schwestern Agnes Karll (1868 – 1927), in Embsen in der Lü-
waren an ein Mutterhaus gebunden. Die konfessio- neburger Heide geboren, besuchte bis zur 8. Klasse
nellen Schwestern, Rotkreuzschwestern sowie viele die Schule und trat anschließend in eine Privatschu-
weltliche, bürgerliche Schwestern hatten als Organi- le für Erzieherinnen und Privatlehrerinnen ein. Bis
sationsform das Mutterhaussystem übernommen zu ihrem 19. Lebensjahr arbeitete sie als Hauslehre-
und orientierten sich an den christlich motivierten rin auf einem mecklenburgischen Gutshof. Nachdem
Werten in der Ausübung der Krankenpflege. Die zwei ihrer Geschwister sehr früh gestorben waren
nichtkonfessionell gebundenen, in der Pflege tätigen und sie von der Arbeit einer Schwester während
Schwestern wurden vielfach als „wilde Schwestern“ einer Diphtherieepidemie auf dem Lande erfahren
tituliert. Man warf ihnen unehrenhafte Motive, vor hatte, wuchs in ihr der Wunsch, in die Krankenpfle-
allem im Umgang mit Männern, vor. J. Stangenber- ge zu gehen. Sie trat im August 1887 ins Rotkreuz-
ger schrieb 1901: „nur den weltlichen Schwestern, mutterhaus „Clementinenstift“ in Hannover ein und
den sogenannten „wilden“... ist der ganze männliche absolvierte dort zunächst eine Probezeit von sechs
Körper schrankenlos preisgegeben, und sie machen Monaten (Abb. 2.13).
von dieser Lizenz den ausgiebigsten Gebrauch... An- Nach dieser Zeit, in der sie von den älteren
gesichts dieser Zustände kann man nicht dringend Schwestern angelernt wurde und während der sie
genug an Eltern und Erzieher die Mahnung richten: häufig unter der Heftigkeit und den Quälereien der
Hütet Eure Pflegebefohlenen! Hütet Eure Töchter Oberin zu leiden hatte, verpflichtete sie sich zu den
vor der Krankenpflege, und können sie wirklich üblichen drei Dienstjahren, in denen sie ein geringes
dem inneren Drange nicht widerstehen, so gebt Taschengeld erhielt, welches bei weitem nicht aus-
nicht zu, dass sie in eine andere als religiöse reichte, um den inzwischen in Not geratenen Vater
Schwesterngemeinschaft eintreten...“ (Möller 1994, finanziell zu unterstützen.
S. 96). Es herrschte zudem die Überzeugung vor, Nach den drei Jahren, die ihr deutlich die Miss-
dass nur Mutterhausschwestern eine reine, mora- stände in der Krankenpflege vor Augen führten,
lisch einwandfreie Gesinnung haben konnten. Beruf- wechselte sie aus dem Mutterhausverband in die
lich ausgeübte Pflegetätigkeit ohne Einbindung in freiberufliche Pflege, um in Berlin als Privatpflegerin
christliche Ethik galt als verwerflich. zu arbeiten. Hier erfuhr sie zum einen Diskriminie-
Nach dem Verständnis der konfessionellen Ver- rung durch die Mutterhausverbände und zum ande-
bände und des Roten Kreuzes war die Krankenpfle- ren die Ausbeutung durch die Besitzerinnen der pri-
ge vor allem als „Liebestätigkeit“ zu verstehen und vaten Schwesternheime, in Form von katastrophalen
bedurfte selbstverständlich keiner Bezahlung. Bisher Arbeitsbedingungen und der auch hier ungenügen-
schlossen die Krankenhäuser mit den Mutterhäu- den Bezahlung. In den zehn Jahren, die sie in der
!
gewährleistet wurde. Damit wurde die Bindung an Merke: Agnes Karll, die Mitbegründerin der
ein Mutterhaus aufgegeben. Der Beitrag zur Organi- ersten deutschen Berufsorganisation für
sation war gering, das Gehalt stand den Schwestern Krankenpflege, hatte sich zum Ziel gesetzt,
frei zur Verfügung. Darüber hinaus stand die B.O.K.D. die Krankenpflege zu einem nicht gesundheitsgefähr-
ihren Mitgliedern in Arbeits- und Rechtsfragen zur denden, gesellschaftlich anerkannten, selbständigen
Seite. Das Verbandsabzeichen stellte das Lazarus- Frauenberuf zu machen. Am 1. Juni 1907 trat in Preu-
kreuz dar und es wurde eine Verbandstracht einge- ßen das erste deutsche Krankenpflegegesetz in Kraft.
führt.
2.4.2 Florence Nightingale und Jean Henri sche Arbeit wurde ihrer Meinung nach nicht gleich-
Dunant wertig geschult. Im Jahr darauf kehrte sie für drei
Außerhalb Deutschlands waren es im 19. Jh. vor Monate, während der Kur ihrer Schwester in Karls-
allem Florence Nightingale und Jean Henri Dunant, bad, nach Kaiserswerth zurück und nahm an der
die die weitere Entwicklung der Pflege beeinfluss- praktischen Ausbildung teil, wobei sie später stets
2
ten. von Kaiserswerth als ihrer geistigen Heimat sprach.
1853 ging Florence Nightingale für einige Wochen
▌ Florence Nightingale nach Paris, um am Maison de la Providence die
Florence Nightingale (1820 – 1910) stammte aus praktische Krankenpflege der katholischen Barm-
einer wohlhabenden englischen Familie und wurde herzigen Schwestern kennenzulernen. Nach London
auf einer Italienreise ihrer Eltern in der italienischen zurückgekehrt, übernahm sie die Leitung eines Pfle-
Stadt Florenz, die ihr den Vornamen gab, geboren geheims für invalide Gouvernanten. Ein Jahr lange
(Abb. 2.15). übte sie diese Tätigkeit aus, bis sie der Ruf des
Florence erhielt standesgemäß eine ausgezeich- Kriegsministers erreichte, sich der im Krimkrieg
nete höhere Schulbildung und konnte auf den zahl- verwundeten Landsleute anzunehmen.
reichen Reisen mit ihren Eltern ihre umfangreichen 1854 hatten Großbritannien, Frankreich und die
Fremdsprachenkenntnisse festigen. Schon früh Türkei gemeinsam Russland den Krieg erklärt. Schon
wurde es ihr zu einem Bedürfnis, sich caritativen bald nach Kriegsbeginn gelangten Berichte von
Anliegen und hier vor allem der Krankenpflege zu grauenvollen Verhältnissen in den englischen Laza-
widmen. Für eine junge Dame aus höheren Kreisen retten an die Öffentlichkeit. Sie waren schließlich
war dies aber nicht standesgemäß, so dass es ihre der Auslöser für die Bitte des Kriegsministers an
Eltern verboten. Dies hinderte sie jedoch nicht da- Florence Nightingale, sich im Krimkrieg einzusetzen.
ran, sich über mehrere Jahre hinweg mit Publikatio- Im November 1854 kam Florence Nightingale mit
nen des In- und Auslandes über Krankenhauswesen einer Gruppe von 38 Schwestern, hiervon 18 Barm-
und Krankenpflege zu beschäftigen. herzigen Schwestern und 20 Pflegerinnen, in Skutari
Auf der Rückreise von einer Ägyptenreise nutzte (Istanbul) in der Türkei an und fand hier katastro-
sie im Jahr 1850 die Gelegenheit zu einem Besuch phale hygienische Verhältnisse vor. Es waren weder
der Diakonissenanstalt in Kaiserswerth. Die Arbeit Wasser und Seife noch Handtücher vorhanden.
der Diakonissen, vor allem aber deren geistige Hal- Florence Nightingale übernahm die Leitung des
tung, beeindruckte sie sehr. Die praktische pflegeri- Pflegedienstes und blieb bis zum 7. August 1856 in
Abb. 2.15 Florence Nightingale in einem Feldlazarett während des Krimkrieges (1854 – 1856)
Skutari. Ihre Bemühungen und ihr unermüdlicher Krankenhaus unabhängige und ihm nur zu Ausbil-
Einsatz ließen sie schon bald zum „Engel des Krim- dungszwecken angegliederte Krankenpflegeschule,
krieges“ oder zur „lady with the lamp“ werden. Letz- fand bald Verbreitung in den englischen Kolonien,
tere Bezeichnung wurde ihr zuteil, weil sie nachts in Amerika und in den skandinavischen Ländern.
2 auf den Schlachtfeldern mit einer Lampe nach Ver- Lediglich in Deutschland fand ihre Ausbildungsorga-
wundeten suchte. Unermüdlich setzte sie sich mit nisation keine Anerkennung und dementsprechend
ihren Helferinnen für verbesserte Verhältnisse in keine Verbreitung: Hier blieb es beim Mutterhaus-
den Lazaretten ein und sorgte dafür, dass die Sterb- system. Florence Nightingale arbeitete in den Jahren
lichkeitsrate von 42 % auf 2,2 % sank. bis zu ihrem Tod an vielen Problemen der öffent-
Während ihres zwei Jahre andauernden Einsat- lichen Gesundheitspflege und des Hospitalwesens.
zes verbesserte sie die praktische Kriegskranken- Ihr Geburtstag, der 12. Mai, wird seit 1967 vom
pflege und erprobte eine grundlegende Umgestal- ICN als der Tag der Krankenpflege gefeiert.
tung des englischen Militärsanitätswesens innerhalb Florence Nightingale, die erste Pflegetheoretike-
des Lazarettbetriebes. Auf 830 Seiten fasste sie ihre rin, trug durch das von ihr entwickelte System dazu
Vorschläge zusammen und leitete zugleich theoreti- bei, dass die Krankenpflege den Status eines erlern-
sche Verallgemeinerungen für Krankenhauswesen baren sozialen Berufes erhielt.
und Krankenpflege im zivilen Leben ab. Mit den
zwei Veröffentlichungen „Notes on nursing“ (Die ▌ Jean Henri Dunant
Pflege bei Kranken und Gesunden) und „Hints on Jean Henri Dunant (Abb. 2.16), ein Schweizer Ban-
hospitals“ (Bemerkungen über Hospitäler) leistete kier, wurde auf einer Italienreise Augenzeuge der
sie einen wichtigen Beitrag zur weiteren Entwick- Schlacht bei Solferino, die zwischen Frankreich und
lung der Krankenpflege und kann so als erste Pfle- Sardinien gegen Österreich stattfand. Am 24. Juni
getheoretikerin der Neuzeit bezeichnet werden. 1859 gab es bei Solferino 40 000 gefallene und ver-
Im Jahr 1860 nahm sie sich ihres wichtigsten An- wundete Soldaten. Dunant erlebte die ungenügende
liegens an: Die Krankenpflege sollte zu einem gut ärztliche und pflegerische Versorgung der Verwun-
ausgebildeten und öffentlich anerkannten Beruf deten auf dem Schlachtfeld und organisierte darauf-
werden. Die Grundlage hierfür sollte der 1855 er- hin spontan eine freiwillige Hilfsaktion der Einwoh-
richtete Nightingale-Fonds sein, der sich aus Spen- ner aus den umliegenden Ortschaften.
den von britischen Offizieren und Soldaten zusam- Drei Jahre später fasste er seine Erinnerungen an
mensetzte, die dank Florence eine verbesserte Laza- diese Aktion und an die Schrecken der verletzten
rettpflege erfahren hatten. Am 4. Juni 1860 wurde und sterbenden Soldaten in einer Broschüre unter
am St. Thomas-Hospital in London eine nach den dem Titel „Un souvenir de Solferino“ (Eine Erinne-
Vorstellungen von Florence Nightingale organisierte rung an Solferino) zusammen. Er verband damit zu-
Krankenpflegeschule angegliedert. Die Schule wurde gleich ein ihm wichtig gewordenes Anliegen, wo-
von der Stiftung finanziert und war deshalb auch nach in allen Ländern Freiwilligen-Vereine zu grün-
unabhängig vom Krankenhaus, welches die prakti- den seien, in denen ausgebildete Helfer in der Lage
sche Ausbildung gewährleistete. Die Schule begann wären, zu Kriegszeiten den Militärsanitätsdienst zu
mit 15 Schülerinnen, die eine einjährige Ausbildung unterstützen, um damit ähnliche Missstände in
erhielten, nebenbei als Hilfspflegerinnen im Kran- künftigen Kriegen zu vermeiden.
kenhaus arbeiteten und dann für zwei weitere Fort- Seine Vorschläge stellte er der in Genf seit
bildungsjahre verpflichtet wurden. Die Ausbildung 1810 tätigen Wohlfahrtsorganisation, der Schweize-
vermittelte einen im internationalen Vergleich ein- rischen Gemeinnützigen Gesellschaft, vor und fand
malig hohen Anteil an theoretischem Wissen. starke Befürworter seiner Idee. Die Gesellschaft
Zwei wesentliche Inhalte führten durch die Aus- gründete eine Kommission, die sich wiederum aus
bildung zu einer Reform der Krankenpflege. So Privatpersonen mehrerer europäischer Länder zu-
wurde einerseits die Krankenpflege auf den sozialen sammensetzte. Im Oktober 1863 fand eine erste in-
Stand eines erlernten Berufes gehoben und anderer- ternationale Konferenz statt, die allgemein als Grün-
seits bekam die Frau innerhalb der Gesellschaft die dungsakt des Roten Kreuzes gilt. Am 22. August
Möglichkeit, eine öffentlich anerkannte Ausbildung 1864 unterzeichneten in einer zweiten Konferenz
zu erhalten. Das Nightingale-System, also die vom Bevollmächtigte von zwölf Staaten die erste Genfer
großen Verlusten führte dazu, dass das deutsche 1967 C. Barnard führt die erste Herztrans-
Kaiserreich von 1871 von einer demokratischen Re- (1922 – 2002) plantation durch
publik abgelöst wurde. Die Weimarer Republik be- südafrikanischer Arzt
gann verheißungsvoll und hatte in den goldenen 1973 Godfrey N. Hounsfield entwickelt die Computer-
zwanziger Jahren von 1924 – 1929 ihre erfolgreichs- (1919 – 2004) tomografie (CT)
te Zeit. Sie wurde schließlich durch die Benennung englischer Elektronik- und
Mediziningenieur
von Adolf Hitler zum Reichskanzler abgelöst. Mit
Beginn der nationalsozialistischen Regierungsüber- 1973 P. C. Lauterbur Mitentwickler der Magnet-
nahme im Jahr 1933 wurde eine 12 Jahre dauernde (geb. 1925) resonanztomografie (MRT)
amerikanischer Chemiker
Schreckensherrschaft eingeläutet. Die Verfolgung
und Ausrottung der Juden und der politischen Geg- 1983 Barry J. Marshall entdecken das Magenbak-
ner führte in ihrer Perversion zu Bau und Einsatz (geb. 1951) terium Helicobacter pylori
australischer Arzt und erhalten 2005 für diese
der Konzentrationslager.
John R. Warren Entdeckung den Nobelpreis
Mit dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges be- (geb. 1911)
gann Deutschland mit der Eroberung weiter Teile australischer Arzt
Europas. Der Krieg tötete Millionen von Menschen
1998 Andrew Z. Fire entwickeln ein Verfahren,
und legte Deutschland vielerorts in Schutt und (geb. 1959) mit dem sich Gene stumm-
Asche. Nach 1945 begann die Zeit des Wiederauf- amerikanischer Biologe schalten lassen, und erhal-
baus in Deutschland. Craig Cameron Mello ten hierfür 2006 den Nobel-
(geb. 1960) preis
Aus den drei westlichen Besatzungszonen ent-
amerikanischer Bio-
stand 1949 die „Bundesrepublik Deutschland“, aus chemiker
der sowjetischen Besatzungszone die „Deutsche De-
2001 Laman Gray und Robert implantieren das erste,
mokratische Republik“ (DDR). Während der Westen
Dowling amerikanische eigenständig arbeitende
sich wirtschaftlich rasch erholte, vollzog sich im Herzchirurgen Kunstherz
Osten der wirtschaftliche Niedergang.
2003 „Human-Genom-Projekt“ vollständige Entschlüsselung
1989 kam es nach dem sich ausbreitenden Wi-
des menschlichen Erbguts
derstand gegen das DDR-Regime zur Öffnung der
2.5.1 Pflege im 1. Weltkrieg und in der Nach 1921 durften sich dann alle geprüften Frau-
Weimarer Republik en als Krankenschwester bezeichnen. Dieser Titel
Mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges sahen sich alle war bisher den Mutterhausverbänden vorbehalten.
Pflegekräfte, gleich ob in den Mutterhausverbänden Die Ausbildung der Säuglingspflegerinnen, die ein
oder in der freiberuflichen Pflege, dazu verpflichtet, Jahr dauerte und mindestens 200 theoretische Un-
2
im Krieg ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. terrichtsstunden umfasste, wurde erst 1917 aner-
Dies entsprach der nationalen Begeisterung, die mit kannt. In der Weimarer Republik wurde 1923 eine
dem ersten Weltkrieg aufgekommen war. In erster neue Vorschrift über die Prüfung von Säuglings- und
Linie waren aber die Schwestern des Roten Kreuzes Kinderpflegerinnen erlassen, die zugleich die Dauer
in der Kriegskrankenpflege aktiv. Sie errichteten der Ausbildung auf zwei Jahre erhöhte.
nun u. a. Verbandplätze, Kriegslazarette im Front- Eine reichseinheitliche Ausbildungsregelung kam
gebiet und Reservelazarette. am 20. März 1930. Hier erfolgte eine Unterschei-
Die Begeisterung war zu Beginn des Krieges so dung zwischen der Säuglings- und Kleinkinderpfle-
groß, dass sich Tausende unausgebildeter Frauen gerin, die für die Versorgung gesunder Kinder, und
und Mädchen, die häufig aus den Frauenvereinen der Säuglings- und Kleinkinderschwester, die für die
stammten, dem Roten Kreuz zu freiwilligen Hilfs- Versorgung kranker Kinder zuständig war.
leistungen zur Verfügung stellten. Insgesamt erhielt
!
das Rote Kreuz einen großen Zulauf in dieser Zeit, Merke: Im 1. Weltkrieg und während der
während die freiberufliche Krankenpflege die aller- Weimarer Republik präsentiert sich die Pfle-
größten Schwierigkeiten hatte, in der Kriegskran- ge berufspolitisch zersplittert, mit fehlendem
kenpflege zum Einsatz zu kommen. Selbstverständnis, den Ärzten untergeordnet und der
Arbeitslos gewordene Privatpflegerinnen wurden Tradition der selbstlosen Tätigkeit verbunden.
nur dann zum Kriegsdienst eingestellt, wenn sie auf
eine Bezahlung verzichteten. Aufgrund der zurück- Zusammenfassung:
gegangenen Nachfrage in der Haus- und Kranken- 1. Weltkrieg und Weimarer Republik
hauspflege stellte dies für die freiberuflichen ■ Schwestern des Roten Kreuzes arbeiten als kosten-
Schwestern eine Bedrohung ihrer Existenz dar. Des- lose Pflegerinnen für den Einsatz im Krieg,
halb ließen sich viele freiberufliche deutsche Kran- ■ Situation der freiberuflichen Pflegerinnen kritisch
kenpflegerinnen in österreichischen Lazaretten ein- durch Arbeitslosigkeit und geringe Bezahlung,
setzen und erhielten dort neben Kost und Logis ein ■ Diskussion über berufliche Rahmenbedingungen
Taschengeld. (Arbeitszeit, Bezahlung),
Auch nach Kriegsende, als Tausende von Schwes- ■ Arbeitsbereich der Pflege unklar, strikte Unterord-
tern arbeitslos waren, änderte sich nichts an den nung unter Anweisung des Arztes.
grundsätzlichen Positionen der Pflegeorganisatio-
nen. Es gab noch immer keine einheitliche staatliche 2.5.2 Pflege im Nationalsozialismus und im
Regelung in der Ausbildung der Pflegekräfte. Die 2. Weltkrieg
1907 in Preußen eingeführte einjährige Ausbildung Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler
mit fakultativer Prüfung am Ende sollte 1921 von am 30. Januar 1933 begann der Nationalsozialismus
einer zweijährigen Ausbildung mit abschließender in Deutschland. Das Ermächtigungsgesetz vom 24.
staatlicher Prüfung abgelöst werden. Dieses Vor- März 1933 gab Hitler die Möglichkeit, das gesamte
haben scheiterte erneut an der Kritik der Mutter- öffentliche Leben, Justiz, Wirtschaft und Kultur nach
hausverbände, die in der Krankenpflege immer und nach unter die Kontrolle des mit der Partei
noch vor allem einen „Liebesdienst“ sahen. Die gleichgesetzten Staates zu bringen.
eher technischen Handgriffe und Fähigkeiten waren Es folgten die planmäßige Vernichtung der Juden,
für sie nachgeordnet und mussten von daher nicht die fast sechs Millionen Juden des europäischen Ju-
in einem solchem Umfang geschult werden. Ledig- dentums das Leben kostete, sowie die Auslöschung
lich die Länder Preußen und Hamburg übernahmen „unwerten“ Lebens durch die Euthanasie.
die zweijährige Ausbildung, wobei die Prüfung auf Die Annexions-, Unterdrückung- und Vernich-
Freiwilligkeit beruhte. tungspolitik gipfelte im Zweiten Weltkrieg
(1939 – 1945), in dem in den Jahren 1939 und
1940 nacheinander Polen, Dänemark, Norwegen, Die NS-Schwestern sollten die Elite der deut-
Niederlande, Belgien und Frankreich unterworfen schen Schwestern darstellen und wurden vor allem
wurden. Mit der Kriegserklärung an die USA wurde in der Gemeindepflege eingesetzt, da man annahm,
zugleich die Wende im 2. Weltkrieg eingeleitet. dass sie dort den größten ideologischen Einfluss
2 Die Invasion der westlichen alliierten Truppen im ausüben könnten. Sie wurden aufgrund ihrer brau-
Juni 1944 führte am 8. Mai 1945 zur bedingungs- nen Berufskleidung auch als „braune Schwestern“
losen Kapitulation des Deutschen Reichs. Mit dem bezeichnet.
Zusammenbruch Deutschlands wurde dem Natio- Voraussetzung für die Aufnahme in die Ausbil-
nalsozialismus ein Ende gesetzt. dung der NS-Schwesternschaft war ein Ariernach-
weis sowie die Teilnahme im weiblichen Arbeits-
▌ Neuorganisation der Krankenpflege dienst, ein Jahr in der Landwirtschaft oder im Haus-
Schon kurze Zeit nach der Machtübernahme begann halt sowie Kenntnisse in der Wochen-, Säuglings-
der nationalsozialistische Staat, das Bildungssystem oder der allgemeinen Krankenpflege.
und die Berufe nach den eigenen Vorstellungen aus- Nach ihrer Ausbildung legte die NS-Schwester
zurichten. Davon betroffen war auch die Ausbildung folgenden Eid ab: „Ich schwöre Adolf Hitler, meinem
und Organisation der Krankenpflege. Die verschie- Führer, unverbrüchliche Treue und Gehorsam. Ich
denen Schwesternverbände wurden zusammen- verpflichte mich, an jedem Platz, an den ich gestellt
geschlossen, der Beruf insgesamt aufgewertet. werde, meine Berufsaufgaben als nationalsozialisti-
Pflegekräfte waren in den Jahren 1933 – 1945 in sche Schwester treu und gewissenhaft im Dienst der
der Gemeindepflege und in Krankenhäusern tätig, Volksgemeinschaft zu erfüllen, so wahr mir Gott
sie waren aber auch am Kriegsdienst, in den Kon- helfe.“ (Bundesarchiv Koblenz, NS 37/1039)
zentrationslagern und an der Euthanasie beteiligt. Die verbliebenen freien Schwestern wurden im
Zunächst wurde versucht, die bestehende berufs- Oktober 1936 im „Reichsbund der freien Schwestern
politische Zersplitterung mit einer Neuorganisation und Pflegerinnen“ zusammengeführt. Damit waren
der Krankenpflege zu beheben. Ziel einer neuen Or- im „Fachausschuss für Schwesternwesen“ die be-
ganisation sollte die Vereinheitlichung und Bünde- kannten fünf großen Gruppen der Schwesternver-
lung der einzelnen Berufsverbände und die inhalt- bände vertreten:
liche Angleichung sein. Hiermit beabsichtigte man 1. die NS-Schwesternschaft („Braune Schwestern“),
vor allem, die kirchliche Verbände zu verdrängen, 2. der Reichsbund freier Schwestern und Pflegerin-
da man bei ihnen den größten Widerstand gegen nen („Blaue Schwestern“),
die nationalsozialistische Ziele vermutete. 3. die Schwesternschaft des Deutschen Roten Kreu-
Gleichzeitig sollte der Einfluss der Verbände, die zes,
nationalsozialistische Ziele vertraten, gesteigert 4. die Diakoniegemeinschaft,
werden. Verantwortlich für die Neuordnung wurde 5. der Caritasverband.
Erich Hilgenfeldt, der Mitglied des Sachverständi-
genbeirates für Volksgesundheit und Leiter der na- Die nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV)
tionalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) war, die wurde zum führenden Spitzenverband der fünf
die einflussreichste Organisation des Gesundheits- Krankenpflegeverbände.
wesens darstellte. Zunächst wurden Reichsfach- Das eigentliche Ziel, die Gleichschaltung der ver-
schaften gegründet, die die berufsständigen und be- schiedenen Verbände, konnte jedoch trotz der straf-
rufsfachlichen Interessen vertreten sollten. fen und vereinheitlichten Organisation nie erreicht
Darüber hinaus wurde das Amt für Volkswohl- werden.
fahrt beauftragt, eine eigene NS-Schwesternschaft
zu bilden, die zugleich Parteiorganisation der ▌ Ausbildungordnung im Nationalsozialismus
NSDAP sein sollte. Die meisten freien Schwestern Die Ausbildung der NS-Schwestern dauerte zunächst
wurden hier vereinigt und erhielten einen besseren zwei Jahre, die sie in einem Internat verbrachten. Die
Lohn sowie bessere Arbeits- und Ausbildungsbedin- Freizeit diente der weltanschaulichen Grundschu-
gungen. lung. Mit der Zeit wurden insgesamt 175 NS-Kran-
kenpflegeschulen und 10 Säuglingsschulen errichtet,
in denen NS-Schwestern ausgebildet wurden.
Am 28. September 1938 trat das „Gesetz zur Ord- Die Pflege war „als ausführendes Organ an allen
nung der Krankenpflege“ in Kraft und regelte damit Umsetzungsphasen der systematischen Vernichtung
erstmals die Krankenpflegeausbildung reichsein- beteiligt“ (Steppe 1993, S. 137) und gab sich dabei
heitlich. Bis dahin hatte die preußische Ausbil- zugleich der Illusion hin, ihrem humanitären Berufs-
dungsordnung von 1921 gegolten, die immer mehr ethos treu geblieben zu sein. Schwestern wie Pfleger
2
verändert und schließlich abgelöst wurde. Die Aus- waren während der Vergasungsaktionen in den Heil-
bildungsdauer wurde von bisher zwei auf eineinhalb anstalten und in der Phase der „wilden Euthanasie“,
Jahre verkürzt, da der Bedarf an Schwestern bei von November 1941 bis Juni 1943, anzutreffen. Wäh-
einer zweijährigen Ausbildung nicht mehr gedeckt rend der Vergasungsaktionen wurden von Januar
werden konnte. Erst 1943 wurde die Ausbildung 1940 bis August 1941 in sechs Anstalten nacheinan-
wieder auf 2 Jahre verlängert. der über 70 000 meldepflichtige Menschen getötet.
Die Ausbildungsinhalte, in § 8 geregelt, sahen vor Meldepflichtig waren sämtliche Patienten, die:
allem praktische Inhalte vor. Die 200 theoretischen ■ an Schizophrenie, Epilepsie, senilen Erkrankun-
Stunden waren mindestens zur Hälfte von Ärzten zu gen, Paralyse u. a. Lueserkrankungen, Schwach-
erteilen. Fächer der Erb- und Rassenkunde erfuhren sinn jeder Ursache, Enzephalitis, Huntington und
eine Aufwertung und sollten der Krankenschwester anderen neurologischen Erkrankungen litten,
eine Hilfestellung sein, wenn es darum ging, zwi- ■ sich seit mindestens fünf Jahren ununterbrochen
schen „Wert“ und „Unwert“ eines Menschen zu un- in Anstalten befanden,
terscheiden. Die hier ausgebildeten Krankenschwes- ■ als kriminelle Geisteskranke verwahrt wurden,
tern hatten vor allem Träger der nationalsozialisti- ■ nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen
schen Ideologie zu sein. oder nicht deutschen oder artverwandten Blutes
Die Ausbildung endete mit der staatlichen Kran- waren.
kenpflegeprüfung. Erstmals wurde diskutiert, dass
nur solche Personen die Krankenpflege ausüben, Im Rahmen der „wilden Euthanasie“ waren häufig
denen nach Abschluss der Ausbildung die Erlaubnis die Pflegekräfte allein tätig – auf Anordnung der
erteilt wurde. Ärzte. Durch Nahrungsentzug, Spritzen mit Luft
Schon ab 1930 wurde aus den Säuglings- und oder durch Medikamentengabe wurde getötet.
Kleinkinderpflegerinnen die Säuglings- und Klein- Auf der Suche nach Erklärungen für dieses Ver-
kinderschwestern. Aufgrund verschiedener Vor- halten kann man die Begründung häufig in einem
schriften wurde die Ausbildung reichseinheitlich ge- von Unterwürfigkeit und Gehorsam geprägten Be-
regelt und belief sich weiterhin auf zwei Jahre. rufsverständnis finden.
Orientiert am Gesetz zur Ordnung der Kranken- In den verschiedenen Prozessakten gaben Kran-
pflege wurde am 5. November 1939 eine Rechtsver- kenschwestern folgende Aussagen zu Protokoll:
ordnung über die berufsmäßige Ausübung der Säug-
lings- und Kinderpflege und der Errichtung entspre-
chender Schulen erlassen. Aussagen von Krankenschwestern
„Ich habe die Tötungen als Unrecht empfunden, so
▌ Aufgabenfelder der Krankenpflege im etwas durfte nicht geschehen. Die geschilderte Tätigkeit
habe ich deshalb ausgeführt, weil ich es als meine Pflicht
Nationalsozialismus
angesehen habe, ich denke, weil es mir meine Vorgesetz-
Nach Steppe (1993) gehörten zu den wichtigsten
ten so gesagt haben“ (Aussage Erna E., zitiert nach Step-
Aufgaben der Krankenpflege im Nationalsozialismus
pe 1993, S. 164). „Durch die langjährige Tätigkeit als
die Volksgesundheitspflege, die Krankenhauspflege,
Pflegerin, praktisch von meiner Jugend auf, war ich zu
die krankenpflegerische Versorgung des Parteiappa-
unbedingtem Gehorsam erzogen und Disziplin und Ge-
rates, die Kriegskrankenpflege, die Krankenpflege in
horsam waren oberstes Gebot in Pflegerinnenkreisen.
den eroberten Gebieten und die Beteiligung an den Wir alle und so auch ich fassten die Anordnungen der
Programmen zur Euthanasie. Ärzte, der Oberpflegerinnen und Stationspflegerinnen
Die Beteiligung an „Euthanasieprogrammen“ und als unbedingt zu befolgende Befehle auf und machten
an den „Menschenversuchen“ sollte als schrecklichs- uns oder konnten uns auch keine eigene Ansicht über die
tes „Arbeitsgebiet“ der deutschen Krankenpflege in Rechtmäßigkeit dieser Anordnungen machen. (...) Wie
die Geschichte eingehen.
Zusammenfassung:
Pflege im Nationalsozialismus
Die strikte Unterordnung unter die Ärzte und die ■ Zusammenschluss der verschiedenen Schwestern-
damit verbundene Gehorsamspflicht schienen dem- verbände,
nach vielen Pflegenden als Begründung für derartige ■ Aufwertung des Berufes, vielfältiger Einsatz:
Handlungen auszureichen. – Kriegseinsatz,
Die Krankenpflege im Dritten Reich führte in er- – Gemeindeschwester,
schreckender Weise das fehlende berufliche Selbst- – Krankenhaus,
verständnis vor Augen. In ungezählten Fällen wurde ■ „Braune Schwestern“, Elite der NS-Schwestern, die
allein aufgrund ärztlicher Anordnungen das Aus- ideologisch im Sinne der NSDAP wirken sollten,
löschen menschlichen Lebens legitimiert. ■ Beteiligung am Euthanasieprogramm: kritiklose
Ausführung der Anordnung der Ärzte,
▌ Widerstand des Pflegepersonals ■ vereinzelt Widerstand.
Parallel zu den Entwicklungen in der Bevölkerung
kam es auch unter den Pflegekräften vereinzelt 2.5.3 Neuordnung der Pflegeausbildungen nach
zum Widerstand gegen das nationalsozialistische 1945
Regime. So liegen Berichte von einzelnen Kranken- Nach Kriegsende begann rasch der Wiederaufbau
schwestern vor, die ihr Leben verloren aufgrund an- der deutschen Pflege, wobei bereits in den fünfziger
tifaschistischer Äußerungen. Jahren die Differenzen zwischen den verschiedenen
Die Diakonissin Ehrengard Frank-Schultz wurde, Berufsverbänden wieder deutlich zum Vorschein
nachdem sie das Misslingen des Attentats auf Hitler kam. Wieder einmal ging es darum, die Pflege zwi-
bedauert hatte, in Berlin-Plötzensee hingerichtet. schen Berufung und Beruf anzusiedeln.
Ebenfalls hier wurde die Krankenschwester Helene Die Neuordnung der Ausbildung in der Kranken-
Knotze hingerichet, nachdem sie vor Patienten ihren pflege stellt zugleich ein Spiegelbild der in der je-
Abscheu gegenüber Faschismus und Krieg geäußert weiligen Zeit vorherrschenden Berufsauffassung dar.
hatte. Luise Zorn, eine Krankenschwester aus Frank- So ist es nicht weiter verwunderlich, dass es bis
furt am Main, kümmerte sich um jüdische Patien- Mitte des 20. Jahrhunderts gedauert hatte, bis ein
ten, nachdem sich ihrer kein Arzt und Krankenhaus erstes bundeseinheitliches Ausbildungsgesetz ver-
mehr annahm. abschiedet wurde. Zu lange hatte die Auffassung
Selbst in den Konzentrationslagern gab es viele vorgeherrscht, dass die Krankenpflege als Dienst
Formen des Widerstandes, die häufig aus der Unter- der christlichen Nächstenliebe nur über ein geringes
wanderung bestehender Vorschriften, wie z. B. dem theoretisches Wissen verfügen müsse.
Verbot der medizinischen Versorgung von jüdischen Erst die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hat in
Patienten, bestanden. Im Konzentrationslager Da- diesem Zusammenhang zu einer Veränderung ge-
chau fälschte das Häftlingspersonal des Kranken- führt. Die Notwendigkeit theoretischen Wissens
hauses (Pflegekräfte, Ärzte) Unterlagen, um kranke und einer qualifizierten Ausbildung wurde erkannt
Häftlinge vor dem Abtransport in die Gaskammer zu und fand ihren Niederschlag in den verabschiedeten
bewahren. Viele jüdische Krankenschwestern, die Krankenpflegegesetzen.
im Konzentrationslager Theresienstadt inhaftiert
waren, versuchten unter übermenschlichen An-
▌ Krankenpflegegesetz vom 15. Juli 1957 Schwesternverbänden, eine Neuregelung der Kran-
Bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland kenpflegeausbildung zu planen.
im Mai 1949 hatten die Länderregierungen von Bre- In den Regierungsentwurf flossen schließlich ein-
men, Niedersachsen und Hamburg die bestehenden zelne Elemente eines SPD-Antrages, wie z. B. die er-
Vorschriften der Krankenpflegeausbildung von 1938 schwerte Zugangsberechtigung zur Krankenpfle-
2
verändert. Mit dem Grundgesetz erhielt der Bund geausbildung, ein, und mit dem folgenden Gesetz-
die Zuständigkeit für die Regelung der Krankenpfle- gebungsverfahren trat das Gesetz am 20. September
geausbildung, womit die Krankenpflegeverordnun- 1965 in Kraft. Mit der Einführung der Ausbildung für
gen von 1938 nur noch durch ein Bundesgesetz ge- Krankenpflegehelferinnen und -helfer wurde auch
ändert werden konnten. der Titel des Gesetzes verändert. Das Gesetz sollte
Schon bald darauf entstand die Diskussion um nur noch „Krankenpflegegesetz“ heißen. Ein Schutz
ein bundeseinheitliches Krankenpflegegesetz. der Berufsausübung wurde auch in diesem Gesetz
Am 2. Februar 1955 erhielten die Landesbehör- nicht formuliert. In der Folge wurde das Gesetz
den vom Bundesinnenministerium den Referenten- durch das Änderungsgesetz vom 3. September 1968
entwurf eines Gesetzes über die Ausübung der und das Änderungsgesetz vom 4. Mai 1972 verändert.
Kranken- und Kinderkrankenpflege. In dem Gesetz Die Änderungen setzten das Mindestalter für die
sollten erstmalig die Berufe der Krankenschwester Ausbildung herab und verlängerten die Übergangs-
und der Kinderkrankenschwestern zusammenge- frist hinsichtlich der schulischen Voraussetzungen.
fasst werden, und anstelle der 1940 geschaffenen
„Säuglings- und Kinderschwester“ sollte die Berufs- ▌ Krankenpflegegesetz vom 4. Juni 1985
bezeichnung „Kinderkrankenschwester“ stehen. Die Das novellierte Krankenpflegegesetz von 1965 hatte
gesetzliche Neuregelung, die am 16. Juni 1957 in 20 Jahre Gültigkeit und wurde nach lang anhalten-
Kraft trat, beinhaltete u. a. folgende Punkte: den Diskussionen 1985 abgelöst. Dabei ist wohl sel-
■ die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeich- ten „die Schaffung einer gesetzlichen Regelung für
nung, einen so relativ eng begrenzten Bereich mit so viel
■ die Dauer der Ausbildung von insgesamt drei Jah- Zeitaufwand, so vielen Entwürfen, Stellungnahmen,
ren (zwei Jahre Lehrgang, ein Jahr Praktikum), Anhörungen und nicht zuletzt mit so vielen Emotio-
■ mind. 400 Stunden theoretischer und praktischer nen der Beteiligten und Betroffenen verbunden ge-
Unterricht. wesen wie das im Juni 1985 verabschiedete Kran-
kenpflegegesetz.“ (Kruse 1987, S. 135)
Zwischen den Schwesternverbänden und den Be- Am 4. Juni 1985 wurde das „Gesetz über die Be-
rufsorganisationen hatte es während der Entste- rufe in der Krankenpflege“ (Krankenpflegegesetz –
hung des Gesetzes vor allem Streit um die Dauer KrPflG) als neues Krankenpflegegesetz vom Deut-
der Ausbildung und den Umfang des theoretischen schen Bundestag verabschiedet.
Unterrichtes gegeben. Vor allem die katholischen Im § 4 des Krankenpflegegesetzes werden die
Schwesternverbände waren es, die sich für die Bei- Zielsetzungen der Ausbildung genannt und mittel-
behaltung der zweijährigen Ausbildung einsetzten. bar auch die Aufgaben des ausgebildeten Pflegeper-
Demgegenüber standen viele Stimmen, die die sonals.
Dauer der Ausbildung als zu kurz ansahen. Mit dem neuen Gesetz wurden zugleich die in
Das verabschiedete Gesetz fand deswegen kaum einer EU-Richtlinie geforderten Normen umgesetzt.
Zustimmung und führte dazu, dass schon bald da- Das Krankenpflegegesetz vom 4. Juni 1985 ver-
rauf Bestrebungen bzgl. einer Novellierung des Ge- ankerte erstmals die Durchführung einer geplanten
setzes unternommen wurden. Pflege. Der Schutz der Berufsausübung in der Kran-
kenpflege wurde wiederum nicht gesetzlich gere-
▌ Krankenpflegegesetz vom 20. September 1965 gelt.
Das Krankenpflegegesetz von 1965 stellte kein
neues Gesetz im eigentlichen Sinne dar, sondern le-
diglich eine Novellierung des Gesetzes von 1957.
Bereits 1961 begann ein Ausschuss der Deutschen
Krankenhausgesellschaft in Zusammenarbeit mit
▌ Entwicklung der Ausbildung in der Spezialisierung möglich sein sollte. Dieser Vorschlag
Kinderkrankenpflege wurde jedoch nicht umgesetzt. Mit dem Kranken-
Mit dem Krankenpflegegesetz von 1957 wurde die pflegegesetz von 1985 wurde die Zahl der theoreti-
Berufsbezeichnung „Kinderkrankenschwester/pfle- schen Stunden und auch die Zahl der praktischen
2 ger“ erstmals auch im Gesetz genannt und damit Stunden in der Kinderkrankenpflegeausbildung ana-
gesetzlich geschützt, darüber hinaus wurde die Aus- log zur Krankenpflege erhöht.
bildung auf drei Jahre festgelegt. Die theoretische Das Krankenpflegegesetz von 2003 erhöht auch
Ausbildung sollte mindestens 400 Stunden Unter- für die Kinderkrankenpflege die Theoriestunden auf
richt umfassen. Schon zum damaligen Zeitpunkt 2100. Im Rahmen des Unterrichts fallen 500 Stun-
wurden Bedenken laut, in wie weit eine eigenstän- den auf die Differenzierungsphase in der Gesund-
dige Ausbildung für die Kinderkrankenpflege not- heits- und Kinderkrankenpflege.
wendig sei. Ein Zitat von 1956 gibt einen Hinweis
auf die damals geführte Diskussion: ▌ Entwicklung der Ausbildung in der Altenpflege
„Die Sonderstellung der Kinderkrankenschwester Die Altenpflege hat sich als eigenständiger Beruf erst
ist, historisch gesehen, eine spezifische Begleit- in der jüngsten Vergangenheit herausgebildet. Bis
erscheinung des Aufblühens der Kinderheilkunde Mitte der fünfziger Jahre wurde die Altenpflege in
in Deutschland. Sie ist insofern eine nationale Eigen- den Familien überwiegend von Ordensschwestern
tümlichkeit, die es in dieser Form so in anderen und Diakonissen geleistet, die als „Gemeindeschwes-
Ländern nicht gibt. Wenn in diesen Ländern die Kin- tern“ von Kirchen und Gemeinden angestellt wurden.
derkrankenschwestern die gleiche Primärausbil- Die veränderten sozialen Strukturen machen
dung erfährt als das Krankenpflegepersonal in den eine Betreuung und Aufnahme der alten und kran-
anderen Spezialkliniken, halten wir dies in Deutsch- ken Angehörigen in die Familien schon häufig aus
land für falsch und sind nicht bereit, auf die Sonder- räumlichen Gründen nicht mehr möglich und mach-
stellung der beruflichen Eigenständigkeit der Kin- te die Errichtung von Altenheimen notwendig. Zu-
derkrankenschwester zu verzichten“ (BA 1997, nächst waren es un- und angelernte Pflegekräfte,
S. 67). Das entscheidende Argument für ein Beibe- die hier eingesetzt wurde.
halten der eigenständigen Ausbildung war die The- In den fünfziger Jahren wurden erste Kurzlehr-
se, dass kranke Kinder besondere Schwestern brau- gänge zur Qualifizierung angeboten, um den Bedürf-
chen. Die Argumentation begründete sich des Wei- nissen der alten, nur zum Teil pflegebedürftigen
teren darauf, dass für Kinderkrankenschwestern Menschen gerecht zu werden. Die Pflege der alten
neben dem Aufgabengebiet der Krankenschwester Menschen wurde bis in die siebziger Jahre hinein als
erzieherische Aufgaben hinzu kämen, auch spiele Teil der Krankenpflege beschrieben.
sie die Rolle der Mutter. Um die Attraktivität der Arbeit in der Altenpflege
In den sechziger Jahren änderte sich diese Posi- zu erhöhen, wurde das eigenständige Berufsbild „Al-
tion. Zunehmend erkannte man die Bedeutung der tenpflege“ entwickelt. Im Rahmen einer Ausbildung
familiären sozialen Kontakte und öffnete die Statio- sollten nun sozial- und medizinalpflegerische Tätig-
nen für Eltern, die Besuchszeiten wurden gelockert; keiten vermittelt werden, die auf einen Einsatz der
ein Elternteil konnte bei dem kranken Kind bleiben. Altenpflegerinnen in Einrichtungen der Altenhilfe
Die Kinderkrankenschwester wurde zur Partnerin sowie in ambulanten Pflegediensten vorbereiten
der Eltern. sollten.
1965 wurde das Krankenpflegegesetz novelliert Es wurden erste Altenpflegeschulen eingerichtet,
und 1966 durch die Ausbildungs- und Prüfungsord- und 1969 erließ Nordrhein–Westfalen die erste Aus-
nung ergänzt. Die Kinderkrankenpflege wurde als bildungsordnung mit staatlicher Abschlussprüfung.
eigenständige Ausbildung mit aufgenommen und Etwas später folgten weitere Bundesländer. Eine ta-
stand nun gleichberechtigt neben der Krankenpfle- rifliche Gleichstellung mit der Krankenpflege erfolg-
ge. te in den Jahren 1988/89.
1969 wurde vom Agnes-Karll-Verband, dem spä- Seit den 80er-Jahren gab es vermehrt Bestrebun-
teren DBfK, ein Vorschlag formuliert, wonach die gen, die Altenpflegeausbildung, ähnlich wie die
Kinderkrankenpflege in die Krankenpflegeausbil- Krankenpflegeausbildung, bundeseinheitlich zu re-
dung mit integriert werden und anschließend eine geln.
!
Merke: Das Krankenpflegegesetz von 2003
Die praktische Ausbildung findet analog zu den führt zu einer Änderung der Berufsbezeich-
möglichen künftigen Arbeitsbereichen in stationä- nung, erhöht die Anzahl der Theoriestunden
ren Versorgungsangeboten statt sowie in rehabilita- und betont den Aspekt der Gesundheitsförderung als
tiven und palliativen Gebieten, darüber hinaus in berufliche Aufgabe.
der ambulanten Versorgung in präventiven, kurati-
ven, rehabilitativen und pallitativen Gebieten. 2.6.2 Gesetz über die Berufe in der Altenpflege
In Tab. 2.6 werden die Krankenpflegegesetze von Mit dem Gesetz über die Berufe in der Altenpflege
1939, 1957, 1965, 1985 und 2003 und die jeweiligen (Altenpflegegesetz – AltPflG), das am 01. August
Ausbildungs- und Prüfungsordnungen einander ge- 2003 in Kraft getreten ist, wird erstmals die Ausbil-
genübergestellt. dung in der Altenpflege bundeseinheitlich geregelt.
Die seit Beginn der 90er-Jahre stattgefundene Es löst gleichzeitig die bis dahin gültigen 16 länder-
Akademisierung und der Wissenszuwachs auch in spezifischen Regelungen ab. Neu ist damit auch, dass
pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen, zeigt sich die Altenpflege nun explizit den Heilberufen zuge-
an vielen Stellen im neuen Gesetz und verdeutlicht ordnet wird. Die Ausbildung in der Altenpflegehilfe
die Entwicklungen der Pflegeberufe. An vielen Aus- wird wie bisher von den Bundesländern geregelt. Ein
bildungsstätten werden in Anwendung der sog. wesentliches Ziel des Gesetzes ist es, bundesweit ein
„Modellversuchsklausel“ (§ 4 Abs. 6 KrPflG), die einheitliches Ausbildungsniveau sicherzustellen, da-
gleichlautend auch im Altenpflegegesetz von 2003 rüber hinaus das Berufsbild attraktiver zu gestalten
zu finden ist, unterschiedliche Konzepte für Ausbil- und insgesamt dem Beruf ein klares Profil zu geben.
dungsinhalte und –strukturen entwickelt und er- Über die bundesweit einheitliche Regelung der Aus-
Tab. 2.6 Gegenüberstellung der Krankenpflegegesetze und Ausbildungs- und prüfungsordnungen von 1938, 1957, 1965,
1985 und 2003
Gesetz zur Ordnung der Krankenpflege vom 18 Jahre 1½ Jahre 200/ Ohne Angaben 1 Jahr
28. September 1938
Krankenpflegegesetz vom 15. Juli 1957 18 Jahre 2 Jahre 400/ Ohne Angaben 1 Jahr
Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege 17 Jahre 3 Jahre 1600/3000 Std. 480 Std. –
vom 4. Juni 1985
Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege 17 Jahre 3 Jahre 2100/2500 Std. 950 Std. –
vom 16. Juli 2003
bildungsstrukturen, Ausbildungsinhalte und der Prü- betreut werden. Hierzu zählen u. a. geriatrische Re-
fungsanforderungen soll dieses Ziel erreicht werden. habilitationseinrichtungen, psychiatrische Kliniken
Im Rahmen der Ausbildung wird das medizinisch- mit gerontopsychiatrischen Abteilungen oder Ein-
pflegerische Kompetenzprofil gestärkt, und es wer- richtungen der offenen Altenhilfe
den sozialpflegerische und gerontologische Kennt- Die rechtlichen Strukturen der Ausbildung in der
2
nisse und Fähigkeiten vermittelt. Die Ausbildungszie- Altenpflege werden in Abb. 2.17 dargestellt.
le in § 3 des Altenpflegegesetzes verdeutlichen den
!
veränderten Verantwortungsbereich der Berufs- Merke: Mit dem Gesetz über die Berufe in
angehörigen und betonen die Notwendigkeit der Be- der Altenpflege vom 01. August 2003 wird
fähigung zum eigenverantwortlichen Handeln: die Ausbildung in der Altenpflege erstmals
„Die Ausbildung in der Altenpflege soll die bundeseinheitlich geregelt.
Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln,
die zur selbstständigen und eigenverantwortlichen 2.6.3 Ausblick
Pflege einschließlich der Beratung, Begleitung und Eine Reform der Ausbildungsgesetze der drei Pflege-
Betreuung alter Menschen erforderlich sind. Dies fachberufe (Altenpflege, Gesundheits- und Kranken-
umfasst insbesondere: pflege, Gesundheits- und Kinderkrankenpflege)
1. die sach- und fachkundige, den allgemein aner- wurde im Juni 2017 im Deutschen Bundestag be-
kannten pflegewissenschaftlichen, insbesondere schlossen. Am 22. Juni 2017 wurde das Pflege-
den medizinisch-pflegerischen Erkenntnissen berufsreformgesetz verabschiedet. Die neuen Aus-
entsprechende, umfassende und geplante Pfle- bildungsgänge starten 2020.
ge, Nach 10 Jahren Diskussion fand am 18. März
2. die Mitwirkung bei der Behandlung kranker 2016 die 1. Lesung des Gesetzes zur Neuregelung
alter Menschen einschließlich der Ausführung der Pflegeberufe im Deutschen Bundestag statt. Die
ärztlicher Verordnungen, einheitliche Ausbildung zur Pflegefachfrau oder zum
3. die Erhaltung und Wiederherstellung individu- Pflegefachmann sollte übergreifende Qualifikatio-
eller Fähigkeiten im Rahmen geriatrischer und nen vermitteln, mit dem Ziel, Menschen aller Alters-
gerontopsychiatrischer Rehabilitationskonzepte, gruppen in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen
4. die Mitwirkung an qualitätssichernden Maß- und im ambulanten Versorgungsbereich pflegen zu
nahmen in der Pflege, der Betreuung und der können.
Behandlung, Uneinigkeiten in der CDU/CSU-Bundestagsfrakti-
5. die Gesundheitsvorsorge einschließlich der Er- on führen Ende 2016 dazu, dass das Gesetzgebungs-
nährungsberatung, verfahren ins Stocken gerät. Im April 2017 verstän-
6. die umfassende Begleitung Sterbender, digen sich die Vertreter von CDU/CSU und SPD auf
7. die Anleitung, Beratung und Unterstützung von einen Kompromiss. Es soll für alle Pflegeberufe zu-
Pflegekräften, die nicht Pflegekräfte sind, nächst eine zweijährige gemeinsame Ausbildung ge-
8. die Betreuung und Beratung alter Menschen in ben. Anschließend können die Auszubildenden wäh-
ihren persönlichen und sozialen Angelegenhei- len, ob sie sich weiter in der generalistischen Pflege
ten, zur Pflegefachkraft ausbilden lassen wollen oder
9. die Hilfe zur Erhaltung und Aktivierung der ei- sich für eine einjährige Spezialisierung zur Alten-
genständigen Lebensführung einschließlich der oder Kinderkrankenpflege entscheiden. Wer nach
Förderung sozialer Kontakte, zwei Jahren die Ausbildung beendet, erwirbt den
10. die Anregung und Begleitung von Familien- und Abschluss des Pflegeassistenten. Bis zum
Nachbarschaftshilfe und die Beratung pflegen- 31. 12. 2025 soll die Anzahl der separaten Abschlüs-
der Angehöriger“ (BGBl. 2003 Teil I, Nr. 44). se ausgewertet werden und haben dann mehr als 50
Prozent den generalistischen Abschluss gewählt, sol-
Die praktische Ausbildung in der Altenpflege findet len die eigenständigen Berufsabschlüsse auslaufen
primär in stationären sowie in ambulanten Pfle- und nicht mehr weitergeführt werden.
geeinrichtungen statt. Einzelne Abschnitte der prak-
tischen Ausbildung können in anderen Einrichtun-
gen stattfinden, in denen ebenfalls alte Menschen
!
Merke: Die berufspolitischen und gesund- Möglichkeit zur Weiterbildung können sich Pflegen-
heitspolitischen Aktivitäten weisen auf eine de seit Anfang der 1990er-Jahre für Management,
generalistische Pflegeausbildung hin. Lehre und Wissenschaft innerhalb eines Studien-
gangs weiter qualifizieren. In 2016 bieten 78 Univer-
2.6.4 Weiterbildungsmöglichkeiten für sitäten, Fachhochschulen und Akademien ein Pfle-
Pflegepersonen gestudium in Deutschland an. Das Angebot umfasst
Mit der Etablierung der Intensivmedizin Mitte der 149 Pflegestudiengänge. Führend ist dabei die Pfle-
60er Jahre wurde die Pflege aufgefordert, sich den gewissenschaft gefolgt von Pflegemanagement und
neuen medizintechnischen Anforderungen zu stel- Pflegediagnostik.
len. Es entwickelten sich erste Spezialisierungslehr-
!
gänge für den Intensiv-, Operations- und Anästhe- Merke: Fort- und Weiterbildungen sowie
siebereich. In den folgenden Jahren entstanden für pflegerische Studiengänge bieten den Pflege-
die unterschiedlichen Einsatzfelder zusätzliche Wei- personen zahlreiche Möglichkeiten sich be-
terbildungslehrgänge. Heute gibt es u. a. in folgen- ruflich weiter zu bilden und akademisch zu qualifizie-
den Bereichen die Möglichkeit, die Weiterbildung ren.
zur Fachkrankenschwester bzw. zum Fachkranken-
pfleger zu absolvieren:
■ Intensivpflege, Arbeitsfelder von Pflegepersonen
■ Funktionsdienste (OP/Endoskopie), Gesundheits- und Krankenpfleger sowie Gesundheits-
■ Onkologie, und Kinderkrankenpfleger finden in der Pflegepraxis
■ Psychiatrie, unterschiedlichste stationäre, teilstationäre und ambu-
■ Rehabilitation. lante Versorgungsstrukturen vor, in denen pflegerische
Handlungskompetenz gefragt ist.
Die Weiterbildungen sind in der Regel berufsbeglei- Stationäre Einrichtungen:
tend organisiert und dauern zwei Jahre. Neben der ■ Allgemeinkrankenhäuser,
■ Fachkrankenhäuser,
ãPflegebildung Ð offensivÒ
Pflegeberufliche Bildung im Pflegeberufliche Bildung im
sekundren Bildungssystem tertiren Bildungssystem
2
Weiterbildung
Promotion
Als Dachverband der elf bedeutendsten Pflege- und tet. Diese hat am 01. Januar 2016 ihre Arbeit auf-
Berufsverbände fungiert der Deutsche Pflegerat e. V. genommen. Weitere Bundesländer wollen folgen.
In ihm sind u. a. neben der ADS, dem DBfK und dem
!
BeKD auch der Bundesausschuss der Lehrerinnen Merke: Im Deutschen Pflegerat sind die elf
und Lehrer für Pflegeberufe e. V. BA, der Verband bedeutendsten Pflegeverbände vertreten.
Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Pflegeper- Rheinland-Pfalz hat die erste Pflegekammer
sonen e. V. BALK und der Deutsche Pflegeverband in Deutschland errichtet.
e. V. DPV organisiert. Als Spitzenverband des deut-
schen Pflege- und Hebammenwesens koordiniert Fazit: Die Anfänge der organisierten Pflege
und steuert der Deutsche Pflegerat e. V. u. a. die wurden mit dem Christentum in der späten
Durchsetzung der berufspolitischen Ziele und för- Antike begründet. Das Gebot der christli-
dert die berufliche Selbstverwaltung. Der Deutsche chen Nächstenliebe, der Caritas, verpflichtete zum
Pflegerat e. V. (DPR) begrüßt die politischen Initiati- Dienst am Nächsten und damit auch zur Sorge um
ven zur Gründung von Pflegekammern in verschie- den Kranken.
denen Bundesländern. Eine Pflegekammer ist eine Im späten Mittelalter nahmen sich vor allem die
Körperschaft des öffentlichen Rechts, in der Kraft Orden der Ausübung der Pflege an. Durch die Refor-
des Gesetzes Angehörige der Pflegeberufe Pflicht- mation kam es in der Neuzeit zu einem Mangel an
mitglieder sind. Die Pflegekammern sind landesweit Pflegepersonal, dem mit dem Lohnwartesystem be-
organisiert und den gesetzlichen Rahmen geben die gegnet wurde. Erstmals motivierte nicht mehr die
Bundesländer in den jeweiligen Heilberufe-Kam- christliche Nächstenliebe die Pflegenden. Im 18. Jahr-
mergesetzen. Die Pflegekammer reguliert den Pfle- hundert arbeiteten zu wenige und zu schlecht aus-
geberuf im Sinne einer Selbstverwaltung. Rhein- gebildete Pflegepersonen in den Hospitälern; daher
land-Pfalz hat die erste Landespflegekammer errich- wurde 1782 die erste Krankenwärterschule eingerich-
tet.
Die aber immer noch desolate Pflege erforderte im Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe DBfK (Hrsg.): Bil-
19. Jahrhundert eine Neuorganisation, der sich die dungskonzept Pflege 2000, 2. Aufl., Eschborn 1994
Dühring, A., L. Habermann-Horstmeier: Das Altenpflegelehr-
konfessionellen Pflegeverbände mit einer Ausweitung
buch. 2. Aufl. Schattauer, Stuttgart 2000
des Mutterhaussystem auf katholischer Seite und der
Entwicklung des Diskonissenvereins auf evangelischer
Dunkel, W.: Pflegearbeit – Alltagsarbeit. Lambertus, Freiburg 2
im Breisgau 1994
Seite stellten. Die Differenzen zwischen den Pflegen- Ehrenreich, B., D. English: Hexen, Hebammen und Kranken-
den, ob die Pflege nun als Beruf oder caritative Tätig- schwestern, 14. Aufl. Frauenoffensive, München 1988
keit anzusehen sei, prägte die Pflege bis ins 20. Jahr- Eichhorn, S., B. Schmidt-Rettig (Hrsg.): Krankenhausmanage-
hundert. ment im Werte- und Strukturwandel. Kohlhammer, Stutt-
gart 1995
Erst 1965 kam es dann zu der bereits seit langem
George, J., M. Frowein (Hrsg.): Pflege Lexikon, Wiesbaden
geforderten dreijährigen Ausbildung für die Kranken-
1999
pflege. Im Zuge der sich etablierenden Intensivmedizin Katscher, L.: Krankenpflege 1945 – 1965. Diakonie-Verlag,
wurden Weiterbildungen für Pflegepersonen einge- Reutlingen 1997
richtet. Kellnhauser, E.: Krankenpflegekammern und Professionalisie-
Mit dem Anspruch der Patientenorientierung hielt rung der Pflege. Bibliomed, Melsungen 1994
die ganzheitliche prozesshafte Pflege Einzug. Kruse, A.-P.: Die Krankenpflegeausbildung seit der Mitte des
19. Jahrhunderts. W. Kohlhammer, Stuttgart 1987
In den 90er-Jahren wurden an über 30 Fachhoch-
Kunze, H., L. Kaltenbach, K. Kupfer (Hrsg.: Psychiatrie – Per-
schulen und Hochschulen Studiengänge für Pflegema- sonalverordnung, 6. akt. u. 3. erw. Aufl. W. Kohlhammer,
nagement, Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft Stuttgart 2010
eingerichtet. 2003 sind das derzeit gültige Altenpfle- Kurtenbach, H., G. Golombek, H. Siebers: Krankenpflegege-
gegesetz und das Gesetz über die Berufe in der Kran- setz, 4. Aufl. W. Kohlhammer, Stuttgart 1997
kenpflege in Kraft getreten. Im Juni 2017 beschließt Macek-Bitter, S.: Pflege psychiatrischer Patienten, RECOM
Verlag, Baunatal 1993
der Deutsche Bundestag eine Reform der Ausbildung
Möller, U., U. Hesselbarth: Die geschichtliche Entwicklung der
der Pflegeberufe.
Krankenpflege. Brigitte Kunz Verlag, Hagen 1994
Künftig soll die Ausbildung in der Pflege verein- Oehme, J., R. Schmoeger: Geschichte der Krankenpflege mit
heitlicht werden. Auszubildende in den Pflegeberufen Daten zu Naturwissenschaft, Technik und Geschichte,
können ab 2020 nach zwei Jahren gemeinsamer Aus- überarb. Aufl. Alete Wissenschaftlicher Dienst, Landshut
bildung die generalistische Ausbildung fortsetzen oder 1996
zwischen Kinder- oder Altenpflege wählen. Peters, H. F., W. Schär: Betriebswirtschaft und Management
im Krankenhaus, Ullstein Mosby, Berlin 1994
Robert Bosch Stiftung: Pflege braucht Eliten. Bleicher Verlag,
Gerlingen 1992
Literatur: Rüller, H. (Hrsg.): 3000 Jahre Pflege, 5. neubearb. u. akt. Aufl.
2015, Prodos Verlag, Brake-Unterweser 2015
Bals, T.: Was Florence noch nicht ahnen konnte. Bibliomed, Seidl, E.: Pflege im Wandel, 2. Aufl. Wilhelm Maudrich, Wien
Melsungen 1994 1993
BGBl 2003/Teil I, Nr. 36: Gesetz über die Berufe in der Kran- Seidler, E.: Geschichte der Medizin und der Krankenpflege, 7.
kenpflege überarb. und erw. Aufl. der „Geschichte der Pflege des
BGBl 2003/Teil I, Nr. 44: Gesetz über die Berufe in der Alten- kranken Menschen“. W. Kohlhammer, Stuttgart 2003
pflege Schaper, H.-P.: Krankenwartung und Krankenpflege. Leske +
Bundesausschuss der Länderarbeitsgemeinschaften der Leh- Budrich, Opladen 1987
rerinnen und Lehrer für Pflegeberufe: Bildung und Pflege. Schell, W.: Kurzgefasste Medizin- und Krankenpflegege-
Thieme, Stuttgart 1997 schichte. Brigitte Kunz Verlag, Hagen 1994
Bischoff, C.: Frauen in der Krankenpflege. 3. Aufl. Campus Schipperges, H.: Die Kranken im Mittelalter, 2. Aufl. C. H.
Verlag, Frankfurt, 3. Aufl. 2013 Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1990
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Steppe, H. (Hrsg.): Krankenpflege im Nationalsozialismus, 10.
Rechtliche Strukturen der Ausbildung in der Altenpflege akt. Aufl. Mabuse-Verlag, Frankfurt 2013
2003 Steppe, H.: Das Selbstverständnis der Krankenpflege. Deut-
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: ...es be- sche Krankenpflegezeitschrift Beilage 43 (1990) Heft 5
gann in Berlin. Götzky – Drucke, Bonn 1994 Steppe, H.: Krankenpflege im Wandel 1939 – 1989. Kranken-
CARE konkret: Wochenzeitung für das Pflegemanagement. 2 pflege 44 (1990) 11
(1999) 1. Vincentz Verlag, Hannover 1999 Steppe, H.: Dienen ohne Ende. Pflege 1 (1988) 4
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Verlag, Wuppertal 1989 Verlag, Basel 1994
Stöcker, G., F. Wagner: Pflegebildung–offensiv. Die Schwester/ Peiper, A.: Chronik der Kinderheilkunde. 5. Auflage. Leipzig
Der Pfleger 45 (2006) 10 1992
2 Taubert, J.: Pflege auf dem Wege zu einem neuen Selbstver- Zwierlein, E.: Klinikmanagement: Erfolgsstrategien für die
ständnis. Mabuse-Verlag, Frankfurt 1992 Zukunft. Urban & Schwarzenberg, München 1997.
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(1997) 10
Thelen, A.: Zur Geschichte der Pädiatrie 2. Teil. Heilberufe 49 Im Internet:
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Toellner, R.: Illustrierte Geschichte der Medizin. Band 5, An- 01-13-reform-pflegeberufe.html; Stand: 27. 06. 2017
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Wolff, H.-P. (Hrsg.): Biographisches Lexikon zur Pflegege- www.pflegestudium.de; Stand: 22. 06. 2017
schichte. Ullstein Mosby, Berlin 1997
Übersicht
Einleitung · 69 3
3.1 Kompetenzbegriff · 69
3.1.1 Zuständigkeitsbereich · 70
3.1.2 Handlungskompetenz · 72
3.2 Kompetenzerwerb · 77
Fazit · 81
Literatur · 82
Schlüsselbegriffe
▶ Fach-/Methodenkompetenz
▶ Sozialkompetenz
▶ Personale Kompetenz Der Kompetenzerwerb ist darüber hinaus auch
▶ Kompetenzerwerb mit dem Ende der Berufsausbildung nicht abge-
▶ Reflexion schlossen, sondern muss in Anbetracht der Verände-
rungen des Berufsfelds „Pflege“ als lebenslange Auf-
gabe betrachtet werden.
Einleitung Berufliche Handlungsfähigkeit in der Pflege ver-
langt von Pflegepersonen neben Fach- und Metho-
Der Blick in die Geschichte der Pflege hat gezeigt, denkompetenz auch Kompetenzen im sozialen und
dass lange Zeit die Vorstellung vorherrschte, zur personalen Bereich, die zusammen das Rüstzeug für
Ausübung der Pflege würden keine besonderen den beruflichen Alltag darstellen und so einerseits
Kenntnisse und Fähigkeiten benötigt. Es genüge pflegebedürftigen Menschen eine qualitativ hoch-
vielmehr „ein großes Herz“ und ein „freundlicher, wertige Pflege garantieren, andererseits auch ein
hilfsbereiter Charakter“. Bereits Florence Nightin- wesentliches Element der Zufriedenheit von Pflege-
gale stellte sich gegen diese Sichtweise von Pflege. personen im Beruf darstellen.
Sie vertrat als eine der ersten Pflegepersonen die Das folgende Kapitel beschreibt verschiedene
Auffassung, dass Krankenpflege als Beruf auszuüben Kompetenzbereiche sowie deren Bedeutung für die
sei und entsprechend Kenntnisse und Fähigkeiten berufliche Handlungsfähigkeit von Pflegepersonen.
verlange, die in einer Ausbildung erworben werden
müssen. Heute ist die Berufsbezeichnung der Pfle-
geberufe gesetzlich geschützt und es besteht all- 3.1 Kompetenzbegriff
gemein Einigkeit darüber, dass zur qualitativ hoch-
wertigen Pflege von Menschen spezielles Wissen Definition: Der Begriff „Kompetenz“ stammt
und Können vonnöten sind. aus der lateinischen Sprache und wird im All-
Darüber hinaus ist das Tätigkeitsfeld und der Auf- gemeinen mit „Befähigung“, „Vermögen, etwas
gabenbereich der Pflegeberufe in einem Wandel be- zu tun“ oder auch „Zuständigkeit“ und „Befugnis“
griffen und stellt immer wieder neue und umfassen- übersetzt.
dere Anforderungen an die Kompetenzen der Pfle-
gepersonen. Strenggenommen wird er also einerseits im Zusam-
Vor allem während der Berufsausbildung bieten menhang mit der Beschreibung eines Aufgaben-
die Lernorte Schule und Praxis Gelegenheit, not- bzw. Zuständigkeitsbereiches, andererseits mit der
wendige Kompetenzen zu erwerben und weiter zu Beschreibung der für diesen Aufgabenbereich nöti-
entwickeln. gen Fähigkeiten verwandt.
Folglich ist ein kompetenter Mensch also jemand, ■ Einleitung lebenserhaltender Sofortmaßnahmen
der für einen bestimmten Aufgaben- bzw. Hand- bis zum Eintreffen der Ärztin oder des Arztes“
lungsbereich zuständig ist und spezielle Fähigkeiten (BGBl. I S. 1442).
besitzt, um die mit diesem Bereich verbundenen
Aufgaben bewältigen zu können. Zudem wird die Mitwirkung von Pflegepersonen bei
Eine kompetente Pflegeperson kann in diesem der Durchführung ärztlich veranlasster Maßnah-
3 Sinn als eine Person beschrieben werden, die für men, bei Maßnahmen der medizinischen Diagnos-
die Pflege von Menschen zuständig ist und entspre- tik, Therapie oder Rehabilitation sowie bei Maßnah-
chend über die für ihren beruflichen Zuständigkeits- men in Krisen- und Katastrophensituationen auf-
bereich erforderlichen Fähigkeiten verfügt. Diese Fä- geführt. Besondere Erwähnung findet auch die in-
higkeiten ermöglichen berufliches Pflegehandeln, terdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Be-
weshalb sie häufig auch mit dem Begriff „berufliche rufsgruppen und die Aufgabe, multidisziplinäre
Handlungskompetenz“ beschrieben werden. Beide und berufsübergreifende Lösungen von Gesund-
Aspekte des Begriffs „Kompetenz“ werden in den heitsproblemen zu entwickeln.
folgenden Ausführungen näher beschrieben. Die nähere Bestimmung des Zuständigkeitsberei-
ches des Altenpflegeberufs ist im bundeseinheitli-
3.1.1 Zuständigkeitsbereich chen Altenpflegegesetz, das 2003 in Kraft getreten
Der Zuständigkeitsbereich der Pflegepersonen lässt ist, geregelt:
sich aus den jeweiligen Gesetzgebungen zur Berufs-
ausbildung ablesen. Berufe sind im Allgemeinen das
Ergebnis einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Da Altenpflegegesetz § 3
nicht jeder Mensch alles kann, wird die in einer „Die Ausbildung in der Altenpflege soll die Kenntnisse,
Gesellschaft „anfallende“ Arbeit auf eine Vielzahl Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln, die zur selbst-
ständigen und eigenverantwortlichen Pflege einschließ-
von Berufen verteilt.
lich der Beratung, Begleitung und Betreuung alter Men-
Gleichzeitig wird dafür Sorge getragen, dass die
schen erforderlich sind. Dies umfasst insbesondere:
jeweiligen Berufsangehörigen eine entsprechende
1. die sach- und fachkundige, den allgemein anerkann-
Berufsausbildung absolvieren, wodurch eine Befähi-
ten pflegewissenschaftlichen, insbesondere den me-
gung für die beruflichen Aufgaben, also die gesell-
dizinisch-pflegerischen Erkenntnissen entsprechen-
schaftlich erteilten Zuständigkeitsbereiche, sicher-
de, umfassende und geplante Pflege, (...)
gestellt werden soll. Der jeweilige Zuständigkeits- 3. die Erhaltung und Wiederherstellung individueller
bereich wird in gesetzlichen Regelungen, insbeson- Fähigkeiten im Rahmen geriatrischer und geronto-
dere in denen zur Berufsausbildung, näher bestimmt. psychiatrischer Rehabilitationskonzepte, (...)
Für den Beruf der Gesundheits- und Kranken- 8. die Betreuung, Beratung und Unterstützung alter
pfleger/in und der Gesundheits- und Kinderkran- Menschen in ihren persönlichen und sozialen Ange-
kenpfleger/in ist er vor allem in § 3 (Ausbildungs- legenheiten, (...)“ (BGBl. I, S. 1513).
ziel) des Gesetzes über die Berufe in der Kranken-
pflege von 2003 näher bestimmt worden (s. a.
Kap. 2). Hier wird die Zuständigkeit und das Anfor- Mit dieser gesetzlichen Bestimmung wird der Zu-
derungsprofil von Pflegepersonen u. a. für die eigen- ständigkeits- bzw. Kompetenzbereich der Altenpfle-
verantwortliche Ausführung der folgenden Auf- gerinnen und Altenpfleger insbesondere für die Be-
gaben beschrieben: ratung, Pflege, Begleitung und Betreuung älterer
■ „Erhebung und Feststellung des Pflegebedarfs, Menschen festgeschrieben.
Planung, Organisation, Durchführung und Doku-
mentation der Pflege, ▌ Wandel des Zuständigkeitsbereichs der Pflege
■ Evaluation der Pflege, Sicherung und Entwick- Der Zuständigkeitsbereich der Pflege verändert sich
lung der Qualität der Pflege, einerseits durch die soziodemografische Entwick-
■ Beratung, Anleitung und Unterstützung von zu lung in der Bundesrepublik Deutschland, anderer-
pflegenden Menschen und ihrer Bezugspersonen seits durch die vielfältigen Veränderungen der Ge-
in der individuellen Auseinandersetzung mit Ge- setzgebung im Gesundheitswesen in den letzten
sundheit und Krankheit, Jahren. Dieser Wandel bedeutet sowohl eine Erwei-
Mill.
Sachsen-
Berlin
Anhalt
nicht mehr zu decken ist. Niedersachsen
2,27
Nordrhein-
im Gesundheitswesen führen für die Pflegeberufe zu Westfalen
0,08
Mill.
0,93
Mill. 1,54
werden müssen. Auf die Notwendigkeit des Ein- "Montenegro" nachgewiesen. Ab 01.05.2008 wird Kosovo getrennt nachgewiesen. Serbien ist vor und nach Ausgliederung des Kosovo in den Grafiken zusammen ausgewiesen.
Quelle: Ausländerzentralregister
Die Verlagerung auf Prävention und Rehabilitati- Die Kompetenz einer Person zeigt sich in den
on verlangt von Pflegepersonen daher auch ver- Handlungen, die sie ausführt, und in der Art und
mehrt Fähigkeiten und Kenntnisse im Bereich von Weise, wie sie dies tut. Kompetenz als solche ist
Anleitung und Beratung pflegebedürftiger Men- folglich nur indirekt über die ausgeführten Handlun-
schen und deren Angehöriger, um so Hilfen zur All- gen, eben die Performanz, zu beobachten.
tagsbewältigung im häuslichen Umfeld bereitstellen
!
3 zu können. Merke: Wichtig ist, dass sich Kompetenz
Auch wenn hier nur einige der zukünftig zu erwar- und Performanz eines Menschen wechselsei-
tenden Veränderungen skizziert wurden, wird deut- tig beeinflussen: Je mehr Kompetenz vor-
lich, dass der Aufgaben- bzw. Zuständigkeitsbereich handen ist, desto mehr Handlungsmöglichkeiten er-
von Pflegepersonen in einem Wandel begriffen ist. wachsen hieraus für einen Menschen. Umgekehrt
kann das Handeln selbst, also die Performanz, auch
!
Merke: Soziodemografische Entwicklungen zu einer Erweiterung der Kompetenz beitragen.
und veränderte gesetzliche Rahmenbedin-
gungen im Gesundheitswesen führen zu Diese Sichtweise beschreibt das Lernen, in diesem
einem sich wandelnden Aufgabengebiet und Zustän- Zusammenhang verstanden als „Aufbau und ständi-
digkeitsbereich der Pflegeberufe sowie zu neuen An- ge Erweiterung der kognitiven Struktur von Indivi-
forderungen an die berufliche Handlungskompetenz duen durch deren Auseinandersetzung mit der natu-
von Pflegepersonen (s. Abb. 3.3). ralen und sozialen Umwelt“ (Heursen 1993, S. 879).
!
3.1.2 Handlungskompetenz Merke: Kompetenz bezeichnet ein kogniti-
Kompetenz bezieht sich als Begriff nicht nur auf den ves Regelsystem, das menschlichem Handeln
Zuständigkeitsbereich von Personen, sondern auch zugrunde liegt. Sie lässt sich nur indirekt
auf die „Befähigung“ oder das „Vermögen, etwas zu über die ausgeführten Handlungen, die sogenannte
tun“. In diesem Zusammenhang wird Kompetenz als Performanz, beobachten. Kompetenz und Performanz
kognitives Regelsystem betrachtet, d. h. als sinnvolle beeinflussen sich wechselseitig, d. h. je größer die
Anordnung oder Zusammenspiel von Prozessen und Kompetenz, desto größer die einem Menschen zur
Strukturen, die mit dem Erkennen und Wahrneh- Verfügung stehende Bandbreite an Handlungen. Um-
men zu tun haben. gekehrt trägt das Handeln zur Erweiterung der kogni-
Hierzu gehören Elemente wie Denken, Erinnern, tiven Struktur bei.
Gedächtnis- und Lernprozesse, Planen etc. Diese
Strukturen liegen menschlichem Handeln zugrunde ▌ Die Entwicklung von Handlungskompetenz
bzw. versetzen einen Menschen erst in die Lage, Den Vorgang der kognitiven Entwicklung eines
bestimmten Anforderungen entsprechend zu han- Menschen in der Auseinandersetzung mit seiner
deln. Die aus der Kompetenz, d. h. dem kognitiven Umwelt hat der schweizer Psychologe Jean Piaget
Regelsystem eines Menschen erwachsende Hand- (1896 – 1980) genauer untersucht. Er war der erste,
lung wird als Performanz bezeichnet. der einen Zusammenhang und eine Wechselbezie-
hung zwischen Handeln und Denken beschrieb.
!
Merke: Kompetenzentwicklung ist das Er- Hierfür ist die Möglichkeit, aber auch die Bereit-
gebnis eines kontinuierlichen Prozesses, bei schaft eines Menschen zur Kompetenzentwicklung
dem Ziele und Bedürfnisse eines Menschen wichtig.
zu Handlungen motivieren. Diese Handlungen ermög- Um die Kompetenz zur Teamarbeit bzw. Koope-
lichen Lernerfahrungen und führen zu Werten und ration mit anderen Menschen erwerben zu können,
Einstellungen, die wiederum seine Ziele und Bedürf- ist es wichtig, auch Gelegenheit zu bekommen, in
nisse beeinflussen. einem Team zu arbeiten. Darüber hinaus ist zudem
auch die Bereitschaft eines Menschen entscheidend,
Alle Aspekte zusammen nehmen Einfluss auf die mit anderen zusammen arbeiten zu wollen.
Entwicklung der Kompetenz eines Menschen und Kompetenz ist sowohl im privaten als auch im
darauf, wie ein Mensch mit neuen Anforderungen beruflichen Alltag eine entscheidende Vorausset-
umgeht und auf welche Art und Weise er seine per- zung zur Bewältigung von Herausforderungen.
sönlichen Ressourcen in konkreten Situationen zur Auch innerhalb der Familie können Veränderun-
Lösung von Problemen einsetzt. Zwei Aspekte sind gen im sozialen Gefüge, beispielsweise durch die
hierbei wesentlich: Geburt oder den Tod eines Familienmitgliedes, he-
1. Kompetenz kann sich während des gesamten Le- rausfordernd auf die anderen Familienangehörigen
bens entwickeln und ist nicht auf ein bestimmtes wirken und zur Kompetenzentwicklung auffordern.
Lebensalter beschränkt.
2. Kompetenz entwickelt sich in der Auseinander-
setzung mit der Umwelt. Dabei reagieren Men-
schen jedoch nicht nur auf die Herausforderun-
gen, die die Umwelt an sie stellt, sondern sie
▌ ▌ Sozialkompetenz
Berufliche Handlungskompetenz
Im Zusammenhang mit der Kompetenz von Pflege- Sozialkompetenz umfasst die „Bereitschaft und Fä-
personen interessiert vor allem die berufliche Hand- higkeit, soziale Beziehungen zu leben und zu gestal-
lungskompetenz. (Berufliche) Handlungskompetenz ten, Zuwendungen und Spannungen zu erfassen und
kann beschrieben werden als „die Bereitschaft und zu verstehen, sowie sich mit anderen rational und
Befähigung des Einzelnen, sich in beruflichen, ge- verantwortungsbewusst auseinanderzusetzen und
sellschaftlichen und privaten Situationen sachge- zu verständigen. Hierzu gehört insbesondere auch 3
recht durchdacht sowie individuell und sozial ver- die Entwicklung sozialer Verantwortung und Solida-
antwortlich zu verhalten“ (KMK 2011, S. 14). Sie be- rität“ (KMK 2011, S. 14).
fähigt einen Menschen, spezifische Aufgaben im Be- Da Pflege in der unmittelbaren Betreuungsleis-
ruf, aber auch in der Gesellschaft zu erfüllen. tung mit und für pflegebedürftige Menschen und
Berufliche Handlungskompetenz ist folglich die deren Angehörige besteht, kommt der Sozialkom-
Voraussetzung für berufliches Handeln. Sie ermög- petenz in der Pflege große Bedeutung zu. Um Pfle-
licht berufliches Handeln, und zwar so, dass den geprobleme und Ressourcen eines pflegebedürftigen
Anforderungen und Aufgaben, die im beruflichen Menschen ermitteln zu können, bedarf es neben
Alltag an einen Menschen gestellt werden, mit ziel- Fachkenntnissen auch der Fähigkeit zur Empathie,
und selbstbewusstem, reflektiertem und verant- d. h. der Fähigkeit, die Situation aus der Sicht des
wortlichem Handeln begegnet werden kann. Betroffenen selbst wahrzunehmen.
Um die Aspekte der beruflichen Handlungskom- Auch die Beratung pflegebedürftiger Menschen
petenz näher bestimmen zu können, wird sie häufig und deren Angehöriger sowie die Anleitung zu ge-
in folgende Teilbereiche unterteilt: Fachkompetenz, sundheitsförderndem Verhalten gewinnt in der
Sozialkompetenz und Selbstkompetenz. pflegerischen Berufsausübung immer mehr an Be-
deutung und setzt neben Fachkenntnissen vor
▌ Fachkompetenz allem Fähigkeiten im Bereich der Gestaltung von
Fachkompetenz die „Bereitschaft und Fähigkeit, auf Interaktion und Kommunikation, z. B. Kenntnisse
der Grundlage fachlichen Wissens uns Könnens, über verschiedene Gesprächstechniken, voraus.
Aufgaben und Probleme zielorientiert, sachgerecht, Darüber hinaus wird die Arbeit in den Pflegebe-
methodengeleitet uns selbstständig zu lösen und rufen in der Regel in Zusammenarbeit mit anderen
das Ergebnis zu beurteilen“ (KMK 2011, S. 14). Pflegepersonen und Angehörigen anderer Berufe
Hierzu gehören beispielsweise Allgemein- und des Gesundheitswesens, z. B. Ärzten und Physiothe-
Fachwissen, fachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, rapeuten, erbracht, was ebenfalls Teamfähigkeit, Ko-
aber auch analytisches und strukturierendes Den- operationsbereitschaft und Kommunikationsfähig-
ken sowie die Fähigkeit, Zusammenhänge und keit erfordert. Hierzu gehört unter anderem die Fä-
Wechselwirkungen zu erkennen. higkeit, den eigenen Standpunkt zu verdeutlichen
Auf die Pflege bezogen gehört zur Fachkom- und auch zu vertreten und mit Kritik und Konflikten
petenz u. a. Beobachtungsfähigkeit, die Fähigkeit, konstruktiv umgehen zu können.
physische und psychische Veränderungen bei pfle-
gebedürftigen Menschen wahrnehmen und einord- ▌ Selbstkompetenz
nen zu können, sowie die Fähigkeit, pflegerische Tä- Die Selbstkompetenz wird auch als personale Kom-
tigkeiten fach- und sachgerecht und unter Einbezug petenz bezeichnet. Selbstkompetenz umfasst die
des betroffenen Menschen durchführen zu können. „Bereitschaft und Fähigkeit, als individuelle Persön-
lichkeit die Entwicklungschancen, Anforderungen
!
Merke: Die Fachkompetenz einer Pflegeper- und Einschränkungen in Familie, Beruf und öffent-
son zeigt sich außerdem in ihrer Fähigkeit, lichem Leben zu klären, zu durchdenken und zu be-
die eigene Arbeit sinnvoll zu planen und zu urteilen, eigene Begabungen zu entfalten, sowie Le-
organisieren, durchzuführen und zu bewerten sowie benspläne zu fassen und fortzuentwickeln. Sie um-
Entscheidungen treffen und Probleme lösen zu kön- fasst Eigenschaften wie Selbstständigkeit, Kritik-
nen. Als systematische Methode kommt hier der Pfle- fähigkeit, Selbstvertrauen, Zuverlässigkeit, Verant-
geprozess (s. a. Kap. 6) zum Tragen. wortungs- und Pflichtbewusstsein. Zu ihr gehören
insbesondere auch die Entwicklung durchdachter
Wertvorstellungen und die selbstbestimmte Bin- niken und Lernstrategien entwickelt werden, die be-
dung an Werte“ (KMK 2011, S. 14). rufsbezogen, aber auch über den Berufsbereich hi-
Methodenkompetenz, kommunikative Kom- naus weisen und für ein lebenslanges Lernen ge-
petenz und Lernkompetenz werden als Bestandteile nutzt werden können.
von Fach-, Selbst- und Sozialkompetenz betrachtet. Alle Teilkompetenzen zusammen machen beruf-
Methodenkompetenz umfasst dabei die „Bereit- liche Handlungskompetenz aus. Sie können als „Fun-
3 schaft und Fähigkeit zur zielgerichtetem, planmäßi- dament“ bzw. „Säulen“ dargestellt werden, die be-
gen Vorgehen bei der Bearbeitung von Aufgaben rufliche Handlungskompetenz „tragen“ und berufli-
und Problemen (zum Beispiel bei der Planung von ches Handeln ermöglichen (Abb. 3.5).
Arbeitsschritten)“ (KMK 2011, S. 15). Zur kommuni- In Abhängigkeit von der auszuführenden Hand-
kativen Kompetenz gehört die „Bereitschaft und Fä- lung können die einzelnen Teilbereiche jeweils in
higkeit, kommunikative Situationen zu verstehen unterschiedlicher Gewichtung notwendig werden.
und zu gestalten“ (KMK 2011, S. 15). Sie ermöglicht
es, in Kommunikation und Interaktion eigene Ab- Beispiel: Bei einigen Tätigkeiten, z. B. bei
sichten und Bedürfnisse, aber auch den Kommuni- der Bedienung eines Blutzuckermessgerätes,
kationspartner wahrzunehmen, zu verstehen und stehen fachlich-technische Fähigkeiten, d. h.
darzustellen. Schließlich ist auch die Lernkompetenz die Fach-/Methodenkompetenz einer Pflegeperson,
ein wesentlicher Bestandteil: Sie umfasst die „Be- stark im Vordergrund, bei anderen Tätigkeiten, wie
reitschaft und Fähigkeit, Informationen über Sach- z. B. der Gestaltung einer Gesprächssituation mit
verhalte und Zusammenhänge selbstständig und ge- einem pflegebedürftigen Menschen und seinen Be-
meinsam mit anderen zu verstehen, auszuwerten zugspersonen, ist in erster Linie die Sozialkompetenz
und in gedankliche Strukturen einzuordnen“ (KMK der Pflegeperson gefordert.
2011, S. 15). Dabei ist entscheidend, dass Lerntech-
Berufliches Handeln
Berufliche
Handlungskompetenz
Dennoch beschränken sich die Anforderungen in Dreyfus auf die Pflege. In ihrem Modell, das sie aus
den genannten Beispielen nicht ausschließlich auf Untersuchungen an Piloten und Schachspielern ent-
einen Teilbereich: Auch bei der Bestimmung des worfen haben, gehen Dreyfus und Dreyfus davon
Blutzuckers muss der betroffene pflegebedürftige aus, dass Lernende beim Erwerb von Fähigkeiten
Mensch über Sinn und Zweck, Notwendigkeit und fünf Leistungsstufen durchlaufen:
Ablauf der Maßnahme informiert und in die Tätig- 1. Neuling,
keit einbezogen werden. Die Begleitung eines Men- 2. Fortgeschrittener Anfänger, 3
schen mit einer bösartigen Erkrankung fordert 3. Kompetenter,
neben sozialer Kompetenz auch Fachwissen über 4. Erfahrener,
Verlauf und Prognose der Erkrankung (Fach-/Me- 5. Experte.
thodenkompetenz) sowie die Bereitschaft der Pfle-
geperson, sich die Begegnung mit diesem pflegebe- Dreyfus und Dreyfus beobachteten in ihren Unter-
dürftigen Menschen aktiv zu gestalten (Sozialkom- suchungen drei grundlegende Entwicklungen der
petenz). Leistungsfähigkeit vom Neuling zum Experten:
Werden Tätigkeiten von Pflegepersonen ohne Erstens vollzog sich eine Entwicklung von der
Einbezug aller Kompetenzbereiche ausgeführt, müs- Orientierung an abstrakten Grundregeln hin zu
sen sie zwangsläufig ineffektiv und ohne die ge- einem vermehrten Rückgriff auf konkrete eigene Er-
wünschte Wirkung bleiben. Obwohl also bei einigen fahrungen.
Pflegehandlungen eine Teilkompetenz im Vorder- Zweitens veränderte sich die Wahrnehmung
grund stehen kann, sind für zielgerichtetes und ef- konkreter Situationen dahingehend, dass sie nicht
fektives Pflegehandeln bei nahezu jeder pflegeri- mehr als Summe gleich wichtiger Teile, sondern
schen Tätigkeit Fähigkeiten in allen drei Kompetenz- vielmehr als Ganzes gesehen wurden, bei dem ein-
bereichen erforderlich. zelne Teile wichtig sind.
Drittens bemerkten Dreyfus und Dreyfus, dass
!
Merke: Berufliche Handlungskompetenz sich die untersuchten Personen von unbeteiligten
umfasst die Bereiche Fachkompetenz, Sozi- Beobachtern zu engagierten Handelnden wandelten,
alkompetenz und Selbstkompetenz. Wich- die in der Situation direkt beteiligt sind.
tige Bestandteile dieser 3 Bereiche sind Methoden- Benner ermittelte diese Kompetenzstufen auch
kompetenz, kommunikative Kompetenz und Lern- bei Pflegepersonen und versuchte in ihrer Unter-
kompetenz. Berufliches Pflegehandeln kann nur dann suchung herauszufinden, ob und, wenn ja, welche
effektiv, zielgerichtet, patientenorientiert und somit Unterschiede es in der Beurteilung ein und dersel-
qualitativ hochwertig sein, wenn Fähigkeiten aus ben pflegerischen Situation zwischen Neulingen
allen Kompetenzbereichen in die jeweilige pflegeri- und Pflegeexperten gibt. Hierzu beobachtete und
sche Tätigkeit einfließen. befragte sie mit ihren Mitarbeitern anhand von teil-
nehmender Beobachtung und von Interviews zahl-
reiche Pflegepersonen, um das versteckte Wissen
3.2 Kompetenzerwerb von Pflegepraktikern offen zu legen. Dabei ging es
ihr nicht darum, Pflegepersonen in unterschiedliche
Die voranstehenden Ausführungen machen deutlich, Kompetenzstufen einzuordnen, sondern vielmehr
dass für die pflegerische Berufsausübung vielfältige einen Beitrag zur Beschreibung des Praxiswissens
Kompetenzen erforderlich sind. zu leisten, der außerdem von Nutzen für die Struk-
Mit dem Erwerb von Pflegekompetenz und den turierung der Aus- und Fortbildung sein sollte.
Bereichen, in denen Pflegepersonen tätig sind, hat
sich insbesondere die amerikanische Pflegewissen- ▌ Theoretisches und praktisches Wissen
schaftlerin Patricia Benner auseinandergesetzt. Benner unterscheidet zwischen theoretischem und
Sie überträgt das Modell des Kompetenzerwerbs praktischem Wissen. Sie geht davon aus, dass sich
des amerikanischen Mathematikers und Systemana- theoretisches Wissen, das sie auch als das „Wissen,
lytikers Stuart Dreyfus und des Philosophen Hubert dass“ (engl.: Know – that) bezeichnet, von prakti-
schem Wissen, von ihr „Wissen, wie“ (engl.: Know – dieses versteckte Wissen, das sich aus der prakti-
how) genannt, unterscheidet. Viele menschliche Fä- schen Erfahrung ergibt, systematisch zu erfassen.
higkeiten, wie z. B. Rad fahren oder Schwimmen,
werden ohne „Wissen, dass“ erworben und aus- ▌ Kompetenzstufen
geführt und könnten von den betreffenden Men- In Anlehnung an Dreyfus und Dreyfus beschreibt
schen theoretisch nicht unbedingt erklärt werden. Benner in ihrer Theorie fünf Kompetenzstufen der
3 Das Know-how entwickelt sich nach Ansicht von Pflegepersonen, denen sie charakteristische Merk-
Benner durch Erfahrung mit einer Tätigkeit. Über- male zuordnet.
tragen auf die Pflege bedeutet dies, dass sich zusätz- Die Stufe des Neulings ist gekennzeichnet durch
lich zu den erlernbaren Regeln erst durch Erfahrun- die Ausrichtung des Handelns an erlernten Regeln.
gen in der Pflegepraxis das Know-how der Pflege Da Neulinge noch über wenig bzw. keine Erfahrung
ausbildet. Dementsprechend lassen sich laut Benner mit konkreten Pflegesituationen verfügen, ist ihr
Unterschiede in der Arbeitsweise zwischen Berufs- Verhalten in kritischen Praxissituationen wenig fle-
anfängern und erfahrenen Pflegepersonen erken- xibel und sehr eingeschränkt, da allgemeine Regeln
nen, da letztere über Erfahrungen mit konkreten z. B. nur wenig Hinweise darüber geben können,
Praxissituationen verfügen. Praktisches Wissen um- welche Tätigkeiten Vorrang vor anderen haben. Auf
fasst nach Benner sechs Aspekte: dieser Kompetenzstufe sieht Benner z. B. Pflegeschü-
1. Sensibilität für feine qualitative Unterschiede, ler, aber auch Pflegepersonen, die in einen ihnen
d. h. der „Kennerblick“, der sich aufgrund reich- bislang unbekannten Praxisbereich der Pflege wech-
haltiger praktischer Erfahrungen herausbildet, seln.
2. ein gemeinsames Verständnis für hilfreiche, heil- Fortgeschrittene Anfängerinnen haben dem ge-
same und förderliche pflegerische Verhaltens- genüber bereits eine Reihe von Erfahrungen in rea-
weisen im Umgang mit hilfsbedürftigen Men- len Situationen sammeln können und sind in der
schen, vor allem in extremen Situation, Lage, immer wiederkehrende Aspekte einer Pflege-
3. Annahmen, Erwartungen und Einstellungen, die situation zu erkennen. Benner gibt hier das Beispiel,
nicht unbedingt Gegenstand des offiziell aner- dass die Erkenntnis darüber, wann ein Patient bereit
kannten Wissensbestandes sind, sich aber z. B. ist, sich mit seiner veränderten Lebenssituation in-
durch die Beobachtung vieler ähnlicher Krank- folge seiner Erkrankung zu befassen, erfordert, dass
heitsverläufe herausbilden, bereits Erfahrungen mit Patienten in ähnlichen Si-
4. paradigmatische Fälle und persönliches Wissen, tuationen gemacht wurden. Auf dieser Kompetenz-
d. h. Wissen, das sich anhand paradigmatischer stufe sieht Benner in erster Linie Berufsanfänger in
(einschneidender) Erfahrungen herausgebildet der Pflege, die vor allem Unterstützung bei der Iden-
hat, tifikation von Prioritäten benötigen.
5. Maximen, d. h. verschlüsselte Anweisungen, mit Als kompetente Pflegende bezeichnet Benner
denen sich Fachleute untereinander verständi- Pflegepersonen, die über ca. zwei bis drei Jahre Be-
gen, deren Bedeutung von Neulingen jedoch rufserfahrung in einem Bereich der Pflege verfügen.
nicht verstanden werden kann, Charakterisiert ist diese Kompetenzstufe durch
6. nicht vorhergesehene Aufgaben, die von anderen einen Wechsel des Handelns vom bloßen Reagieren
Berufsgruppen im Krankenhaus an Pflegeper- zum planvollen Vorgehen in der Praxis. Das bewuss-
sonen delegiert werden und in denen Pflegende te, überlegte Planen versteht Benner als das diffe-
Kenntnisse erwerben. renzierte Erkennen, welche Aspekte einer Situation
wichtig und welche zu vernachlässigen sind. Dies
Alle diese Aspekte pflegerischen Wissens ent- führt zu einem organisierten und effizienten Arbei-
wickeln sich laut Benner in der Pflegepraxis, d. h. ten. Hinzu kommt das Gefühl der kompetent Pfle-
in der Auseinandersetzung mit konkreten realen genden, ihren Aufgaben gewachsen zu sein.
Pflegesituationen. Pflegepersonen sind aufgefordert,
Erfahrene Pflegende nehmen nicht mehr einzel- Pflegemaßnahmen ableiten, ohne viel Zeit mit an-
ne Aspekte von Situationen wahr, sondern erfassen deren Diagnose- oder Handlungsmöglichkeiten zu
die Situation als Ganzes, das auf der Grundlage frü- verlieren. Pflegeexperten verfügen laut Benner
herer Erfahrungen mit ähnlichen Pflegesituationen über einen sicheren Blick für das Wesentliche und
spontan begriffen wird. Dabei werden Abweichun- ein Gefühl für die Situation.
gen vom Normalen und Erwarteten unmittelbar er-
kannt. Erfahrene Pflegende erkennen, welche As- ▌ Kompetenzbereiche 3
pekte einer Pflegesituation wichtig sind, können Benner identifizierte in ihren Interviews und Beob-
viele unerhebliche Möglichkeiten ausschließen und achtungen von Pflegepersonen einunddreißig Kom-
dringen hierdurch zum eigentlichen Problem durch. petenzen, die sie sieben Kompetenzbereichen der
Auf dieser Kompetenzstufe befinden sich nach Ben- Pflegepraxis zuordnet. Benner weist ausdrücklich
ner Pflegepersonen, die drei bis fünf Jahre Berufs- darauf hin, dass die von ihr erstellte Liste nicht als
erfahrung in einem Bereich der Pflege gesammelt vollständig zu betrachten ist, sondern durch geeig-
haben. nete Untersuchungen ergänzt und erweitert werden
Charakteristisch für die Pflegeexperten ist das muss. Die Übersicht zeigt die von Benner beschrie-
intuitive Erfassen einer Situation ohne den Rückgriff benen Kompetenzbereiche mit den dazugehörigen
auf handlungsleitende Regeln. Sie können den Kern Kompetenzen der Pflegepersonen.
eines Problems direkt erfassen und erforderliche
Übersicht
4 Pflegetheorien · 86
5 Pflegewissenschaft und -forschung · 137
6 Pflegeprozess und Pflegequalität · 160
7 Pflegediagnosen · 221
8 Arbeitsorganisation und
Pflegesysteme · 235
Seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts ist innerhalb der Pflegeberufe in Deutschland ein
deutliches Bestreben zu erkennen, sich als Profession und eigenständige wissenschaftliche
Disziplin zu etablieren. Eine entscheidene Bedingung für diesen Professionalisierungspro-
zess ist die Entwicklung und der Ausbau einer pflegespezifischen Wissensbasis, die im
konkreten pflegerischen Handeln umgesetzt wird.
Um das eigene Handeln effektiv zu gestalten und auch für andere Menschen transparent
und nachvollziehbar zu machen, muss es nicht nur aktuellen wissenschaftlichen Erkennt-
nissen entsprechen, sondern darüber hinaus strukturiert und auf eine systematische Art
und Weise erfolgen. Erforderlich hierfür sind neben entsprechenden Kompetenzen der
Pflegepersonen auch arbeitsorganisatorische Rahmenbedingungen, die eine Ausrichtung
der Pflege auf die pflegebedürftigen Menschen ermöglichen.
Theorien der Pflege, Pflegewissenschaft und -forschung sind dabei unverzichtbare
Elemente einer professionellen Pflegepraxis. Hierzu gehört zudem das strukturierte und
systematische Arbeiten, für das der Pflegeprozess mit den Phasen Bedarfserhebung,
Planung, Durchführung und Evaluation der Pflege einen Rahmen für eine qualitativ hoch-
wertige Dienstleistung bietet. Arbeitsorganisation und Pflegesysteme tragen darüber
hinaus dazu bei, Arbeitsabläufe patientenorientiert, effektiv und systematisch zu gestalten.
Übersicht
Einleitung · 86
4.1 Professionelle Pflege · 87
4 4.2 Theorien und Modelle in der Pflege · 88
4.2.1 Konzepte · 88
4.2.2 Theorien · 89
4.2.3 Modelle · 90
4.2.4 Theoriebildung · 91
4.2.5 Einteilung · 93
4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle
Modelle der Pflege · 95
4.3.1 Hildegard Peplau – Interpersonale
Beziehungen in der Pflege · 95
4.3.2 Ida Jean Orlando – Die lebendige Beziehung
zwischen Pflegenden und Patienten · 98
Einleitung
4.3.3 Martha Rogers – Theoretische Grundlagen
Das Streben nach Wissen ist so alt wie die Mensch-
der Pflege · 102
heit selbst. Wissen ist ein wichtiger Faktor bei der
4.3.4 Dorothea Orem – Strukturkonzepte der
Orientierung des Menschen in seiner Umwelt. Von
Pflegepraxis · 105
Geburt an machen Menschen Erfahrungen mit sich
4.3.5 Betty Neuman – Das System-Modell · 109
selbst, mit anderen Menschen und mit ihrer Umwelt:
4.3.6 Madeleine Leininger – Kulturelle Dimensio-
Ergebnis dieser Erfahrungen ist das Wissen. Im Laufe
nen menschlicher Pflege · 114
der Zeit haben sich wissenschaftliche Disziplinen,
4.3.7 Jean Watson – Pflege: Wissenschaft und
wie z. B. Mathematik, Physik oder auch Medizin, he-
menschliche Zuwendung · 117
rausgebildet, die sich auf die Untersuchung eines fest
4.3.8 Juliet Corbin/Anselm Strauss:
umrissenen Teilbereichs menschlichen Wissens spe-
Modell der Krankheitsverlaufskurve
zialisiert haben. Das auf diese Weise gewonnene
(Chronic Illness Trajectory Model) · 119
Wissen schlägt sich u. a. nieder in der Formulierung
4.3.9 Das Roper-Logan-Tierney-Modell · 123
von Theorien, mit deren Hilfe verschiedenste Sach-
4.3.10 Marie-Luise Friedemann – Familien- und
verhalte beschrieben, erklärt, vorhergesagt oder kon-
umweltbezogene Pflege · 127
trolliert werden sollen und die menschliches Han-
4.3.11 Monika Krohwinkel – Fördernde Prozess-
deln in unterschiedlichen Situationen leiten können.
pflege mit integrierten ABEDLs · 132
Auch die Pflege, als immer noch junge wissen-
4.4 Ausblick · 134
schaftliche Disziplin, entwickelt Theorien über den
Fazit · 136
ihr eigenen Gegenstandsbereich, die handlungslei-
Literatur · 136
tend für die Ausübung der pflegerischen Praxis
sind. Theoriegeleitetes Arbeiten in der Pflege führt
Schlüsselbegriffe
zu einer effizienten, begründbaren, transparenten
▶ Professionalisierungsprozess und überprüfbaren Pflegepraxis und trägt damit
▶ Pflegetheorie entscheidend zur Qualität der Pflege bei. Gleichzei-
▶ Konzept tig wird durch die systematische und strukturierte
▶ Modell Erschließung neuen Pflegewissens der Professiona-
lisierungsprozess der Pflegeberufe unterstützt.
Das folgende Kapitel ordnet die Entwicklung von
Pflegetheorien in den Professionalisierungsprozess
der Pflegeberufe ein, klärt grundlegende Begriffe Nach Weidner (1999) wird Professionalität in der
der Theoriebildung und stellt verschiedene Theorien aktuellen Diskussion anhand folgender Kriterien be-
der Pflege vor. schrieben:
■ Professionen leisten mit ihrer Arbeit einen we-
sentlichen Beitrag für und orientieren ihre Arbeit
4.1 Professionelle Pflege an einem für die Gesellschaft zentralen Wert
(Zentralwertbezogenheit).
Die Pflege hat sich vom unbezahlten Dienst am ■ Professionen erbringen ihre Arbeit in einem ge-
Nächsten hin zu einem Beruf entwickelt, dessen setzlich geschützten Handlungsraum (Auto-
Ausübung bestimmte Kompetenzen verlangt und nomie). In diesem Rahmen ist z. B. die Diskussion
4
der Ausbildung bedarf (s. Kapitel 2). Unter einem um die freiwillige Registrierung und die Einrich-
Beruf wird eine auf den Erwerb ausgerichtete Tätig- tung von Pflegekammern zu sehen.
keit verstanden, die der Absicherung der wirtschaft- ■ Professionen sind um ständige Aneignung von
lichen Existenz und sozialen Stellung dient. Kompetenzen bemüht, die es ihnen ermöglichen,
Im engeren Sinne umfasst ein Beruf eine Arbeits- individuelle Problemlagen von Menschen zu be-
tätigkeit, die eine spezialisierte und formalisierte arbeiten (Handlungsorientierung).
Ausbildung verlangt. Menschen, die sich um Hilfs- ■ Professionen sind bestrebt, das in ihrem Hand-
bedürftige kümmerten, hat es in den Jahrtausenden lungsbereich geltende Wissen zu einer Wissen-
der Menschheit schon immer gegeben. Pflege als schaft zu systematisieren (Wissenschaftlichkeit).
Beruf ist jedoch eine relativ junge Erscheinung.
Das erste reichseinheitliche deutsche Kranken- Die beschriebenen Aspekte verdeutlichen, dass der
pflegegesetz wurde erst im Jahre 1907 verabschie- Wechsel eines Berufes zu einer Profession nicht von
det. Es sah den erfolgreichen Abschluss einer Aus- heute auf morgen geschieht. Professionalisierung
bildung für die Erlaubnis zum Tragen der Berufs- muss vielmehr als eine kontinuierliche Entwicklung
bezeichnung „Krankenschwester/-pfleger“ vor. Eine gesehen werden, weshalb man auch von einem
gesetzliche Regelung für den Beruf „Kinderkranken- Professionalisierungsprozess spricht. Für die Pflege-
schwester/-pfleger“ ist 1957 hinzugekommen. 1967 berufe spielt in diesem Zusammenhang die Pflege-
wurde im Bundesland Nordrhein-Westfalen die wissenschaft eine wichtige Rolle. Sie versucht, beste-
erste Ausbildungsordnung mit staatlicher Ab- hendes Pflegewissen zu systematisieren und neues
schlussprüfung für die Altenpflege erlassen. Pflegewissen zu entwickeln, damit das pflegerische
Der Hauptgrund für die Entstehung von Berufen Handeln auf eine begründbare theoretische Basis
liegt im Bedarf an einer bestimmten Dienstleistung gestellt und der eigentliche Tätigkeitsbereich der
innerhalb der Gesellschaft. Die Altenpflegeberufe Pflegeberufe definiert werden kann. Dabei kommt
sind in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel: der Pflegeforschung (s. a. Kap. 5) und der Entwick-
Die Zunahme an pflegebedürftigen alten Menschen lung von Pflegetheorien entscheidende Bedeutung
in Deutschland hat dazu geführt, dass mit der Alten- zu.
pflege ein Beruf entstanden ist, der sich mit der In Großbritannien und den USA findet die Aus-
Betreuung und Pflege älterer Menschen befasst. einandersetzung mit Theorien in der Pflege bereits
Aber das Profil der einzelnen Berufe unterliegt seit Mitte der 50er Jahre statt. Das hat dazu geführt,
auch Veränderungen. Neue Technologien und wis- dass viele der im amerikanischen Raum entstande-
senschaftliche Erkenntnisse in der Pflege bzw. in nen Pflegetheorien auch in Deutschland Bedeutung
benachbarten Berufen, wie beispielsweise der Medi- erlangt haben. Einige von ihnen werden in diesem
zin, haben Auswirkungen auf die Pflegeberufe. In Kapitel vorgestellt.
diesem Zusammenhang sind die zahlreichen Fach-
!
weiterbildungen, z. B. für den Operationsdienst, den Merke: Pflegetheorien und Pflegeforschung
Intensivbereich oder die Psychiatrie zu nennen. An- ermöglichen die Weiterentwicklung pfle-
dere Veränderungen des Berufsprofils hängen mit gespezifischen Wissens und tragen so zur
der seit etwa 1985 diskutierten Professionalisierung Professionalisierung der Pflegeberufe bei.
der Pflegeberufe zusammen.
4.2.1 Konzepte
4.2 Theorien und Modelle in der Der kleinste Bestandteil einer Theorie wird als „Kon-
Pflege zept“ bezeichnet, häufig wird er auch „Begriff“ oder
„Konstrukt“ genannt. Konzepte können als eine Idee
Die Entwicklung von Theorien und Modellen hat oder eine gedankliche Vorstellung von Dingen und
eine große Bedeutung für den Professionalisierungs- Ereignissen beschrieben werden.
prozess der Pflegeberufe. Pflegetheorien leisten in
diesem Bereich wichtige Arbeit, weil sie sowohl Definition: Konzepte sind sprachliche Begriffe
Ausdruck des in der Pflege entwickelten Wissens für direkt oder indirekt wahrgenommene
4 sind, als auch durch ihre notwendige Überprüfung Dinge, Ereignisse oder Verhaltensweisen und
Anstoß zu neuen Forschungen geben. Diese For- fassen in Worte, was für die nähere Betrachtung als
schungen können ihrerseits wiederum zur Weiter- wichtig erachtet wird.
entwicklung pflegerischen Wissens beitragen. Die
Wechselwirkung von Theoriebildung und Forschung Diese wahrgenommenen Dinge, Ereignisse oder Ver-
wird auch als komplementär, d. h. sich gegenseitig haltensweisen werden auch als Phänomene bezeich-
ergänzend, bezeichnet. Neben ihrer Funktion im net. Konzepte sind aber nicht das Phänomen selbst,
Professionalisierungsprozess wirken sich Pflege- also beispielsweise ein Objekt wie ein Stuhl, sondern
theorien auch auf sämtliche Bereiche der pflegeri- lediglich eine Bezeichnung dafür. Je komplexer, d. h.
schen Praxis aus. Pflegetheorien tragen zu einer vielschichtiger und umfassender das wahrgenom-
wissenschaftlich fundierten Grundlage für die Pfle- mene Phänomen ist, desto schwieriger wird es,
gepraxis bei, beispielsweise ermöglichen Theorien einen Begriff oder ein Konzept hierfür zu formulieren.
über die Effektivität pflegerischer Maßnahmen be- Konzepte unterscheiden sich durch die Art ihrer
wusste und begründete Entscheidungen für oder Beziehung zur direkt wahrnehmbaren Wirklichkeit.
gegen bestimmte Pflegemaßnahmen. So können sie Objekte beschreiben, die sehr direkt
Pflegetheorien können darüber hinaus den Pro- auch in der Wirklichkeit erfahrbar sind, wie bei-
zess der Informationssammlung, den ersten Schritt spielsweise ein Stuhl oder die Eigenschaft „heiß“.
im Pflegeprozess, unterstützen (s. a. Kap. 6). Eine Solche, eng mit der Wirklichkeit verbundenen Kon-
Reihe von Formularen zur Dokumentation der Infor- zepte werden auch als empirische, mit den Sinnen
mationssammlung sind z. B. anhand von Konzepten erfassbare Konzepte bezeichnet. Sie entstehen durch
aus Pflegetheorien entwickelt worden. die direkte Beobachtung von Objekten, Eigenschaf-
Auch die Ausbildung in den Pflegeberufen kann ten oder Ereignissen.
anhand einer Pflegetheorie strukturiert werden, Im Gegensatz hierzu beschreiben die sogenann-
z. B. anhand der Lebensaktivitäten von Roper/ ten abstrakten Konzepte Phänomene, die nicht di-
Logan und Tierney (s. a. 4.3.9). rekt messbar oder in der Wirklichkeit beobachtbar
Über alle diese Mechanismen tragen Pflegetheo- sind. Wohlbefinden, Selbstpflegefähigkeit oder In-
rien zur Verbesserung der Pflegepraxis bei und hel- teraktion sind Beispiele für solche abstrakten Kon-
fen, die Qualität der pflegerischen Dienstleistung zu zepte. Sie setzen sich aus mehreren, weniger abs-
steigern. Wichtig hierbei ist allerdings, dass der je- trakten Konzepten zusammen, weshalb sie häufig
weilige Abstraktionsgrad einer Pflegetheorie be- auch als „Konstrukte“ bezeichnet werden. Konzepte,
rücksichtigt wird. Nicht jede Theorie ist so konkret, die im Zusammenhang mit dem abstrakten Konzept
dass sie unmittelbar umsetzbare Handlungsanwei- „Wohlbefinden“ eine Rolle spielen, könnten u. a. das
sungen enthält. Körpergewicht, die Mobilität oder auch die Fähigkeit
Aber was genau ist eigentlich eine Pflegetheorie? zur Kommunikation sein. Je abstrakter, d. h. weiter
Da Theorien aus mehreren elementaren Bestandtei- von der Wirklichkeit entfernt, ein Konzept ist, desto
len zusammengesetzt sind, sollen zunächst einige wichtiger ist es, hierfür eine genaue Beschreibung
der wichtigsten Begriffe geklärt werden. oder Definition zu geben, damit seine Bedeutung
auch von anderen Menschen erfasst und nachvoll-
zogen werden kann.
Konzepte bzw. Begriffe haben eine wichtige (1996) haben eine Definition entworfen, die unter-
Funktion im menschlichen Miteinander, weil sie im schiedlichste Aspekte umfasst und auf viele ver-
Rahmen der Kommunikation zur Verständigung von schiedene Theorien angewendet werden kann.
Menschen über Dinge, Ereignisse oder Erfahrungen
beitragen. Die Bildung von Konzepten, die auch als Definition: Chinn und Kramer definieren eine
Begriffsbildung bezeichnet wird, ist darüber hinaus Theorie als „eine kreative und präzise Struktu-
aber auch wesentlich für die Bildung und das Ver- rierung von Ideen, die eine vorläufige, zielge-
ständnis von Theorien. Nur wenn die innerhalb richtete und systematische Betrachtungsweise von
einer Theorie verwendeten Konzepte klar und für Phänomenen ermöglichen“ (Chinn/Kramer 1996,
andere Menschen nachvollziehbar beschrieben wer- S. 79).
4
den, kann auch die Theorie nachvollzogen und ver-
standen werden. Wichtig ist auch, dass Theoretiker Dieser Definition zufolge weisen Theorien mehrere
die Beziehungen zwischen den Konzepten ihrer Merkmale auf:
Theorie klären. Diese Beziehungen werden auch ■ Theorien sind eine kreative und präzise Struktu-
Thesen oder Propositionen genannt. rierung von Ideen, d. h. die wahrgenommenen
Phänomene werden mit Worten als Konzepte
!
Merke: Konzepte sind Begriffe für wahr- strukturiert. Welche Phänomene näher betrach-
genommene Phänomene. Sie werden als die tet und in Form von Konzepten Gegenstand einer
elementaren Bausteine einer Theorie oder Theorie werden, ist eine kreative Entscheidung
auch als Vorstufe einer Theorie betrachtet, deshalb des Theoretikers.
sind sie für die Theoriebildung und das Verständnis ■ Die Anordnung der Konzepte innerhalb einer
vorhandener Theorien von entscheidender Bedeutung. Theorie erlaubt eine systematische Betrachtung
einzelner Phänomene, d. h. die in der Theorie
4.2.2 Theorien enthaltenen Konzepte werden präzise definiert
Theorien bestehen aus einer Ansammlung von Kon- und ihre Beziehung geklärt. Auf diese Weise soll
zepten und Thesen, die in einen Gesamtzusammen- ein besseres Verständnis der Phänomene erreicht
hang gebracht worden sind (Abb. 4.1). werden.
Es gibt eine ganze Reihe von Definitionen für den ■ Theorien haben einen vorläufigen Charakter, d. h.
Begriff „Theorie“, die jeweils unterschiedliche As- sie basieren auf Wertvorstellungen und Annah-
pekte einer Theorie betonen. Chinn und Kramer men des Theoretikers. Die Theorien werden in
Pflegetheorie Theorie
Überprüfung, Bestätigung, Ablehnung
Zusammenhang zwischen
Konzepten, Gesamtstruktur
durch Forschung
Thesenbildung
Abb. 4.1 Zusammenhang zwischen Phänomen, Konzept und Theorie, dargestellt als schematisches Modell
!
chend erklärende Theorien genannt. Prädiktive Merke: Allen Modellen gemeinsam ist, dass
Theorien können Veränderungen von Situationen sie die Wirklichkeit in reduzierter und ver-
vorhersagen. Kontrollierende Theorien geben An- einfachter Form wiedergeben und zu deren
weisungen für Handlungen, um bestimmte Situatio- Verständnis beitragen sollen.
nen in eine bestimmte Richtung verändern zu kön-
nen. In der Pflege wird der Begriff „Modell“ auch noch in
Als Praxistheorien werden solche Theorien be- einem anderen Zusammenhang gebraucht. Einige
zeichnet, die zum Ziel haben, eine bestimmte Pfle- der Theoretiker verwenden für Theorien mit großer
gepraxis „vorzuschreiben“. Wie kontrollierende Reichweite, sogenannte „globale Theorien“, die Be-
Theorien beschreiben sie, welche Handlungen aus- zeichnung „konzeptionelles Modell“. Ein konzeptio-
geführt werden müssen, um ein gewünschtes Er- nelles Modell gilt gegenüber einer Theorie als abs-
gebnis zu erreichen. Zusätzlich bewerten sie jedoch trakter, d. h. weiter von der Wirklichkeit entfernt
das Ergebnis, d. h. sie machen Aussagen dazu, ob ein und weniger spezifisch. Nichtsdestotrotz sind auch
Ergebnis überhaupt erstrebenswert ist, weshalb konzeptionelle Modelle Theorien, allerdings solche,
auch vom normativen Charakter der Praxistheorien die einen hohen Abstraktionsgrad und eine große
gesprochen wird. Reichweite aufweisen, d. h. sie beschreiben den Ge-
genstandsbereich der Pflege sehr umfassend, aber
!
Merke: Pflegetheorien ermöglichen eine wenig konkret.
systematische Betrachtung pflegerelevanter
Phänomene.
!
Merke: Modelle dienen der Veranschauli- Ida Jean Orlando hat ihre Theorie der „lebendigen
chung komplexer Gegenstände oder Sach- Beziehung zwischen Pflegenden und Patienten“ auf
verhalte. induktivem Weg entwickelt, indem sie zahlreiche
Einzelinteraktionen zwischen Pflegepersonen und
Patienten beobachtet und allgemeine Schlussfolge-
4.2.4 Theoriebildung rungen hieraus abgeleitet hat.
Zur Entwicklung einer Theorie können ganz unter- Die induktive Vorgehensweise zur Theoriebil-
schiedliche Methoden verwendet werden. Besonde- dung hat jedoch ihre Grenzen. Streng genommen
re Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der führt sie nur dann zu einem allgemein gültigen
induktiven und der deduktiven Vorgehensweise zu Schluss, wenn alle möglichen Einzelfälle beobachtet
4
(Abb. 4.2). worden sind. In der Realität ist es jedoch kaum
durchführbar, beispielsweise alle Menschen mit
▌ Induktion und Deduktion einem Dekubitus auf das Auftreten von Schmerzen
Prinzipiell können Theorien auf induktivem oder de- hin zu beobachten.
duktivem Weg entwickelt werden. So könnte in dem oben erwähnten Beispiel ein
Mensch aufgeführt werden, der aufgrund einer
Definition: Bei der induktiven Methode wer- kompletten Querschnittslähmung und dem damit
den von mehreren in der Pflegepraxis beobach- einhergehenden Sensibilitätsverlust in den unteren
teten Einzelfällen Rückschlüsse auf allgemeine Extremitäten einen Dekubitus am Sitzbein als nicht
Gesetzmäßigkeiten abgeleitet. schmerzhaft empfindet.
In diesem Fall würde die oben formulierte Theo-
Die induktive Methode geht also vom spezifischen rie also nicht zutreffen.
Einzelfall zu einem allgemeinen Sachverhalt, bzw.
von der konkreten zur abstrakten Ebene. Definition: Bei der deduktiven Methode wer-
den von allgemeinen Beziehungsaussagen, die
Beispiel: Herr N. hat einen Dekubitus, der auch als Prämissen bezeichnet werden, Rück-
Schmerzen verursacht. Frau O. hat einen De- schlüsse auf Einzelfälle gezogen.
kubitus, der Schmerzen verursacht. Herr P.
hat einen Dekubitus, der Schmerzen verursacht. Folg-
lich leiden alle Menschen mit einem Dekubitus unter
Schmerzen.
Pflegetheorie
Verallgemeinerung
Überprüfung
Pflegepraxis
induktive Phänomene (beobachtbar)
Theoriebildung konkrete Erfahrungen
Probleme
Sie verläuft im Gegensatz zur induktiven Methode als es ihnen um eine theoretische Auseinanderset-
von der abstrakten zur spezifischen, konkreten Ebe- zung über Theorien als solche geht. Im Folgenden
ne, wie in folgendem Beispiel dargestellt: sollen die auf den verschiedenen Ebenen gebildeten
Theorien näher beschrieben werden.
Beispiel: Immobile Patienten sind deku-
bitusgefährdet (Prämisse A). Herr T. ist ein ▌ Metatheorie
immobiler Patient (Prämisse B). Folglich ist Definition: Die Metatheorie befasst sich mit
Herr T. dekubitusgefährdet (Schlussfolgerung). methodischen und philosophischen Fragen der
Theoriebildung in der Pflege.
4 Auch die deduktive Vorgehensweise hat ihre Gren-
zen. Sie ist auf gültige, bestätigte Prämissen als Aus- Innerhalb der Metatheorie wird z. B. diskutiert, wel-
gangspunkte der Schlussfolgerungen angewiesen, che Arten von Theorien in der Pflege benötigt wer-
anderenfalls müssen auch die aus den Prämissen den, welche Ziele sie aufweisen sollten, welche Me-
abgeleiteten Schlussfolgerungen als ungültig ange- thoden zur Theorieentwicklung für die Pflege ange-
sehen werden. Viele der globalen Pflegetheorien bracht sind und auf welche Weise Theorien in der
oder konzeptionellen Modelle der Pflege, beispiels- Pflege bewertet werden können. Mit anderen Wor-
weise das System-Modell von Betty Neuman, sind ten: Auf der Ebene der Metatheorie werden theo-
auf deduktivem Weg entstanden, also von einer ab- retische Diskussionen über Theorien und Theoriebil-
strakten Erkenntnis oder Behauptung ausgehend. dung geführt.
Der überwiegende Teil dieser Diskussionen führt
!
Merke: Grundsätzliche Vorgehensweisen weder zu einer globalen oder praxisnahen Theorie
bei der Theoriebildung sind die Induktion noch zu einer Theorie mittlerer Reichweite. Den-
(Rückschlüsse von Einzelfällen auf allgemei- noch sind Diskussionen auf dieser Ebene wichtig,
ne Gesetzmäßigkeiten) und die Deduktion (Rück- da hier das Fundament für alle weiteren theoreti-
schlüsse aus allgemeinen Beziehungsaussagen auf schen Überlegungen geschaffen wird.
Einzelfälle).
▌ Globale Theorien
▌ Ebenen der Theoriebildung Globale Theorien werden auch „grand theories“,
Theoriebildung in der Pflege findet auf vier ver- „konzeptionelle Modelle“, „konzeptueller Rahmen“
schiedenen Ebenen statt. Unterschieden werden in oder „Paradigma“ genannt.
diesem Zusammenhang die Ebenen der praxisnahen
Theorien, die der Theorien mittlerer Reichweite und Definition: Globale Theorien beschreiben das
die Ebene der globalen Theorien. Sie unterscheiden Wesentliche und Spezifische der Pflege und tra-
sich in erster Linie in Bezug auf ihren Abstraktions- gen somit bei, die Pflege begrifflich anderen
grad und ihre Reichweite. Der Abstraktionsgrad be- Disziplinen im Gesundheitswesen zu unterscheiden.
schreibt den Unterschied zwischen der beobacht-
baren Wirklichkeit und der Beschreibung und Erklä- Globale Theorien sind übergeordnete, umfassende
rung dieser Wirklichkeit in der jeweiligen Theorie. Theorien, die wenige, aber umfassende Konzepte
enthalten. Sie haben eine große Reichweite und be-
!
Merke: Die Reichweite einer Theorie hängt schreiben einen größeren Bereich der Pflege als pra-
davon ab, welche Aspekte der Pflege sie be- xisnahe Theorien oder Theorien mittlerer Reichwei-
schreibt, d. h. wie umfassend sie versucht, te. Hierdurch ergeben sich allerdings auch einige
das Fachgebiet „Pflege“ zu beschreiben. Schwierigkeiten: Globale Theorien sind in der
Regel sehr abstrakt, d. h. von der Wirklichkeit weit
Theorien mit großer Reichweite sind in der Regel entfernt und dadurch nur schwer durch Forschung
auch sehr abstrakt, während sich Theorien mit ge- oder Praxis überprüfbar. Es sind viele interpretie-
ringer Reichweite zumeist auf konkrete Phänomene rende Schritte nötig, um zu erkennen, auf welches
der Pflegepraxis beziehen. Eine vierte Ebene der konkrete Phänomen sie sich beziehen. Eine Auswahl
Theoriebildung umfasst die sogenannten Metatheo- der dieser Kategorie zugeordneten Pflegetheorien
rien. Sie nehmen insofern eine Sonderstellung ein, wird in diesem Kapitel vorgestellt. Die einzelnen
!
Viele der Theorien mittlerer Reichweite sind aus Merke: Theoriebildung in der Pflege erfolgt
Teilen der globalen Theorien abgeleitet. Die „Selbst- auf vier Ebenen. Dementsprechend werden
pflegedefizit-Theorie“ von Dorothea Orem besteht Metatheorien, globale Theorien, Theorien
beispielsweise aus drei Theorien mittlerer Reichwei- mittlerer Reichweite und praxisnahe Theorien unter-
te: Der Theorie der Selbstpflege, der Theorie des schieden.
Selbstpflegedefizits und der Theorie der Pflegesys-
teme. 4.2.5 Einteilung
Übereinstimmend werden in der Literatur die An-
▌ Praxisnahe Theorien fänge der Auseinandersetzung mit den theoreti-
Definition: Praxisnahe Theorien, auch „nar- schen Grundlagen der Pflege in den Arbeiten von
row-scope theories“ genannt, beschreiben Florence Nightingale gesehen. Sie gilt als die erste
einen kleinen Ausschnitt der Pflege, diesen Theoretikerin der Pflege. Nightingale ging von
aber sehr ausführlich und detailliert. einem neben der Medizin existierenden, eigenstän-
digen Pflegewissen aus, für das eine besondere Qua-
Sie werden wiederum häufig aus Theorien mittlerer lifikation nötig war. Im Zentrum ihrer Theorie stand
Reichweite abgeleitet. Praxisnahe Theorien geben die enge Beziehung zwischen Umgebung und Ge-
Handlungsanweisungen zum Erreichen eines ge- sundheit. Krankenschwestern sollten die Umgebung
wünschten Ziels. Ein Beispiel für eine praxisnahe so verändern, dass der Prozess der Heilung erleich-
Theorie könnte das Ergebnis folgender Arbeit sein. tert würde. Ihre Handlungsanweisungen beschrieb
sie 1859 ausführlich in ihrem Werk „Notes on Nur- Um die Vielfalt von Theorien zu ordnen, können
sing“. die beschriebenen Kriterien Abstraktionsgrad und
Nach nahezu einhundertjähriger Pause setzte Reichweite herangezogen werden. Auch einige Pfle-
sich die pflegetheoretische Diskussion erst in den getheoretikerinnen haben Ordnungssysteme ent-
50er Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA fort. worfen, in denen die einzelnen Pflegetheorien nach
Seitdem sind eine Vielzahl unterschiedlichster Theo- bestimmten Gruppen geordnet werden. Die ame-
rien in der Pflege entstanden, die meisten davon im rikanische Pflegewissenschaftlerin Ann Marriner-
anglo-amerikanischen Sprachraum (Tab. 4.1). Tomey (1994) ordnet die einzelnen Pflegetheorien
drei Gruppen zu:
4
Tab. 4.1 Chronologische Übersicht über die konzeptuellen Modelle in der Pflege
1952 Hildegard E. Peplau Unterstützende Hilfe befriedigt Bedürfnisse durch die Kunst der individuellen
Pflege.
1960 Fay G. Abdellah Irene L. Be- Die Pflege wird durch die Probleme der Patienten bestimmt.
landdes Almeda Martin Rugh
V. Matheney
1964 Ernestine Wiedenbach Der helfende Prozess erfüllt Bedürfnisse durch die Kunst, die Pflege individuell
zu gestalten.
1966 Lydia E. Hall Pflege ist eine auf eine andere Person gerichtete Selbstliebe.
1966 Joyce Travèlbee Die Bedeutung einer Krankheit bestimmt, wie ein Mensch reagiert.
1967 Myra E. Levine Ganzheitlichkeit wird durch Bewahrung der Integrität aufrechterhalten.
1970 Martha E. Rogers Mensch und Umgebung sind Energiefelder, die sich negentropisch entwickeln.
1971 Imogene M. King Transaktionen bilden den Bezugsrahmen für die Festlegung von Zielen.
1974 Schwester Callista Roy Ein adaptives System wird durch Reize gestört.
1976 Josephine G. Paterson Loret- Pflege ist eine existenzielle Erfahrung von Zuwendung.
ta T. Zderad
1978 Madeleine M. Leininger Fürsorge (Care) ist universell und verändert sich in Abhängigkeit von der
Kultur.
1979 Jean Watson Fürsorge (Care) ist ein moralisches Ideal: ein Sich-Einlassen auf Geist, Körper
und Seele des anderen.
1979 Margaret A. Newman Das Krankheitsgeschehen ist ein Hinweis auf vorhandene Lebensmuster.
1981 Rosemarie Rizzo Parse Unteilbare Individuen und die Umgebung erschaffen gemeinsam Gesundheit.
1989 Patricia Benner und Judith Fürsorge (Care) macht das Wesen der Pflege aus. Sie zeigt, worauf es an-
Wrubel kommt, und macht so Beziehungen und Anteilnahme möglich. Sie bietet den
Rahmen für gegenseitige Hilfeleistung.
1. Philosophien, die die Pflege als Kunst und Wis- Theorien bestehen nach Fawcett aus recht spezi-
senschaft sehen. Hierzu rechnet sie u. a. die fischen Konzepten und sind empirisch überprüfbar,
Theorien von Jean Watson und Patricia Benner. da sie sich auf konkrete Phänomene beziehen. Zu
2. Konzeptionelle Modelle bzw. Theorien großer den Theorien zählt sie u. a. die Arbeiten von Made-
Reichweite, die Beschreibungen der Begriffe leine Leininger, Ida Jean Orlando, Hildegard Peplau
„Mensch“, „Umgebung“ und „Gesundheit“ ent- und Jean Watson.
halten. Hier ordnet sie u. a. die Theorien von Konzeptionelle Modelle sind demgegenüber
Betty Neuman und Dorothea Orem ein. ihrer Ansicht nach abstrakter, nicht auf eine Person
3. Theorien mittlerer Reichweite, die präziser als oder Situation beschränkt und entsprechend weder
Theorien großer Reichweite sind und konkrete direkt empirisch beobachtbar noch überprüfbar.
4
Fragen der Pflegepraxis beantworten können. Hierzu zählt sie u. a. die Ansätze von Martha Rogers
Hierzu gehören u. a. die Theorien von Hildegard und Dorothea Orem.
Peplau, Ida Jean Orlando und Madeleine Leinin-
ger.
3. die Beschreibung der Rollen, die die Pflegeperson dabei sowohl sein Problem als auch das Ausmaß sei-
in den jeweiligen Phasen der Beziehung über- ner Hilfsbedürftigkeit erkennen und verstehen.
nimmt. Orientierung heißt für Peplau aber auch, dass der
Patient erkennt, welche Hilfestellungen er von den
▌ Psychodynamische Pflege professionellen Diensten erwarten und wie er die
Psychodynamische Pflege beinhaltet nach Peplau Inanspruchnahme dieser Dienste planen kann.
zwei wesentliche Elemente. Zum einen wird die Spannungen und Ängste, die sich aus der Krank-
Art und Weise, wie ein Patient mit seiner Erkran- heitserfahrung ergeben, sollen in einem positiven
kung zurechtkommt, wesentlich beeinflusst davon, Sinne genutzt werden, um das gegebene Problem
4 wie die Pflegeperson sich in der Beziehung zu die- besser verstehen und lösen zu können.
sem Patienten verhält. Zum anderen liegt die Auf- Damit die Orientierung für den Patienten er-
gabe der Pflege und der Pflegeausbildung darin, den reicht werden kann, wird die Pflegeperson in ver-
Prozess der Entwicklung der Persönlichkeit zu un- schiedenen Funktionen tätig. Neben den erforderli-
terstützen. Peplau geht dabei von einer wechselsei- chen pflegerischen Interventionen unterstützt sie
tigen Beziehung zwischen Pflegeperson und Patient den Patienten beim Verstehen seiner Situation und
aus, die eine Atmosphäre schafft, in der sowohl die übernimmt eine zuhörende und beratende Funk-
Entwicklung des Patienten als auch die Entwicklung tion, wenn der Patient über die mit seiner Krankheit
der Pflegeperson möglich wird. verbundenen Gefühle spricht. Die Orientierungs-
phase ist weitgehend abgeschlossen, wenn Pflege-
▌ Die Phasen der Interaktion zwischen person und Patient das Problem übereinstimmend
Pflegeperson und Patient bewerten und sich gegenseitig über die zukünftige
Im Beziehungsprozess zwischen Pflegeperson und Arbeit verständigt haben.
Patient identifiziert Peplau vier aufeinander folgen- In der Identifikationsphase identifiziert sich der
de Phasen, die eng miteinander verbunden sind und Patient mit der Pflegeperson. Krankheit und die
sich zeitweise auch überlappen können (Abb. 4.4). damit verbundenen Erfahrungen werden von Pa-
Die Orientierungsphase wird eingeleitet, wenn ein tienten oft als Bedrohung ihrer Sicherheit oder
Patient das Bedürfnis nach professioneller Hilfeleis- ihres Selbstwertgefühls erlebt werden und können
tung verspürt. Pflegeperson und Patient versuchen in starke Ängste auslösen. Die Identifikation mit einer
dieser Phase gemeinsam, das Problem des Patienten vorbehaltlos helfenden und für eine umfassende
zu identifizieren und einzuschätzen; der Patient soll und bedingungslose Pflege einstehenden Pflegeper-
son reduziert diese negativen Gefühle.
Peplau beschreibt drei mögliche Arten, wie Pa-
tienten in dieser Phase reagieren:
Bei der 1. sie können sich aktiv an der Pflege beteiligen,
Einweisung
was zu einer wechselseitigen Beziehung zwi-
schen Pflegeperson und Patient führt,
In der Phase 2. sie verweigern ihre Mitarbeit, sodass die Bezie-
intensiver hung überdacht werden muss,
Behandlung 3. wieder andere werden passiv und lassen die
Orientierung
Ablösung
ziehung. In der Nutzungsphase treffen sich Identifi- sundheitsproblems betreffen. Zum anderen verlan-
kationsphase und Ablösungsphase; der Blick des Pa- gen Fragen des Patienten, die stark mit seinen Ge-
tienten ist verstärkt auf die Zukunft gerichtet. fühlen zu tun haben, von der Pflegeperson auch be-
Die Ablösungsphase bedeutet für den Patienten ratende Fähigkeiten.
nach Peplau schrittweises Aufheben der Identifika- In der Rolle des Lehrenden sieht Peplau eine Kom-
tion mit der Pflegeperson und zunehmende Fähig- bination der verschiedenen Rollen. Lehren heißt für
keit, für sich selbst zu sorgen. Diese Phase verläuft sie, dem Patienten Lernen durch Erfahrung zu er-
meist parallel mit dem medizinischen Gesundungs- möglichen, und – ausgehend von seinem Wissens-
prozess. Sie kann nur erreicht werden, wenn alle stand - auf einen Kenntnisstand hinzuarbeiten, der
vorhergehenden Phasen erfolgreich abgeschlossen ihm hilft, mit seiner Erkrankung zurechtzukommen.
4
wurden. Die Pflegeperson unterstützt den Patienten Peplau geht davon aus, dass in Pflegesituationen
dabei in seinem Bemühen um Unabhängigkeit. meistens die professionellen Fähigkeiten der Pflege-
personen gebraucht werden, um Patienten auf
▌ Rollen in der Pflege ihrem Weg, mit der Erkrankung zurechtzukommen,
Hildegard Peplau identifiziert in ihrer Theorie sechs zu unterstützen. Dies bringt Pflegepersonen in die
verschiedene Rollen, die von Pflegepersonen in den Rolle der Führenden. Sie müssen sich dieser Verant-
einzelnen Phasen der Interaktion mit dem Patienten wortung stellen und sollten dabei einen demokrati-
eingenommen werden (Abb. 4.5). schen Führungsstil umsetzen, der von gegenseitiger
Die von ihr beschriebenen Rollen versteht sie je- Akzeptanz geprägt ist und eine aktive Beteiligung
doch nicht als abgeschlossene Auflistung, sondern des Patienten an der Gestaltung seines Pflegeplans
hält auch die Übernahme anderer Rollen in der In- erlaubt. Bereits in der Ausbildung sollen Lernende
teraktion mit dem Patienten für möglich. zu einer demokratischen Führung befähigt werden.
Pflegeperson und Patient begegnen sich zu Be- Wenn Patienten in Situationen geraten, die ver-
ginn ihrer Beziehung zunächst als Fremde. Dement- gangene Gefühle wie Abhängigkeit oder Hilflosigkeit
sprechend nimmt die Pflegeperson zunächst die hervorrufen, weisen sie Pflegepersonen oft Ersatz-
Rolle der Fremden ein. Peplau ist der Ansicht, dass rollen zu, beispielsweise die Mutter- oder Geschwis-
Pflegepersonen Patienten respektvoll und mit posi- terrolle.
tivem Interesse begegnen sollen. Hierzu gehört für Für Pflegepersonen ist es wichtig, diese Rollen-
sie, den Patienten so anzunehmen, wie er ist, und zuschreibungen zu erkennen und dem Patienten
ihn als einen zu Gefühlen fähigen Fremden anzuse- durch Gespräche über seine Gefühle persönliches
hen. In diesem Verhalten sieht Peplau eine wesent- Wachstum zu ermöglichen. Nach Peplau bewegt
liche Voraussetzung für den Beginn einer interper- sich die Beziehung zwischen Pflegeperson und Pa-
sonalen Beziehung. tient auf einem Kontinuum, an dessen Ende beide
In der Rolle der unterstützenden Person geben Parteien in der Lage sein sollen, als Erwachsene zu
Pflegepersonen zum einen konkrete Antworten auf handeln und die Bereiche von gegenseitiger Abhän-
Fragen des Patienten, die die Behandlung seines Ge- gigkeit und Unabhängigkeit zu bestimmen (Abb. 4.6).
Berater
Bedingungsloser Unterstützende Person Erwachsene
Pflegekraft Fremder Führungsrolle
Mutter-Ersatz Person
Ersatz: Mutter, Geschwister
Orientierung Identifikation
Phasen in
der Pflege- Ausnutzung
beziehung
Ablösung
Patient: Patient
persönliche
Ziele
Gegenseitiges Ver-
Persönliche Vorur- stehen der Pro-
teile über die Be- bleme und Rollen
von Pflegekraft und Gemeinsame
Gänzlich ver- deutung des me- Teils gegenseitiges
Patient sowie An- Anstrengungen
schiedene Ziele dizinischen Pro- und teils persön-
forderungen an mit dem Ziel, das
4 und Interessen. blems und der Rollen liches Verständnis
beide wegen des Problem produk-
Beide sind fürein- eines jeden des medizinischen
Problems. tiv miteinander
ander Fremde. in der problema- Problems.
Gemeinsame, ge- zu lösen.
tischen Situation.
teilte Gesundheits-
ziele.
Pflegekraft:
Pflege-
berufliche
kraft
Ziele
Abb. 4.6 Pflegekraft/Patient-Kontinuum. Darstellung der sich ändernden Aspekte der Beziehung
Die beratende Rolle der Pflegeperson leitet Pe- Die Aufgaben der Pflege umfassen nach Peplau
plau von dem Ziel der Interaktion zwischen Pflege- sowohl erzieherische als auch therapeutische As-
person und Patient ab: die Förderung von Erfahrun- pekte. Ziel der Pflege ist es, Menschen im Erwerb
gen, die zur Gesundheit führen. Beratung heißt für problemlösender und damit spannungsreduzieren-
sie, dem Patienten zu helfen, sich seiner Gefühle, der Fähigkeiten anzuleiten und zu unterstützen,
z. B. hinsichtlich einer anstehenden Operation, voll damit sie aktuelle, aber auch zukünftige, ähnliche
bewusst zu werden. Auf diese Weise kann die aktu- Probleme erkennen und lösen können. Diesen Pro-
elle Lebenserfahrung zu persönlichem Wachstum zess nennt Peplau „interpersonales Lernen“, was
führen. Die beratende Rolle verlangt, wie alle ande- persönliches Wachstum und größere Reife zur
ren beschriebenen Rollen auch, vor allem kommuni- Folge hat.
kative Fähigkeiten, was eine entsprechende Schu-
lung der Pflegepersonen voraussetzt. Zusammenfassung:
Interpersonale Beziehungen (Peplau)
▌ Definition der Pflege ■ Fokus auf Interaktion zwischen Pflegeperson und
Pflege ist nach Peplau „ein signifikanter, therapeuti- Patient,
scher, interpersonaler Prozess. Sie wirkt in Koope- ■ beschreibt die Phasen der Interaktion,
ration mit anderen menschlichen Prozessen, die ■ klassifiziert Rollen der Pflegeperson und des Pa-
dem Einzelnen in der Gesellschaft Gesundheit er- tienten im Lauf des Pflegeprozesses,
möglichen. In spezifischen Situationen, in denen ■ Ziel der Pflege: Fördern der spannungsreduzieren-
ein professionelles Gesundheitsteam gesundheits- den Fähigkeiten des Patienten als interpersonales
bezogene Dienstleistungen erbringt, beteiligen sich Lernen.
die Pflegekräfte an der Organisation von Bedingun-
gen, die die natürlichen fortlaufenden Tendenzen im 4.3.2 Ida Jean Orlando – Die lebendige Beziehung
menschlichen Organismus unterstützen. Die Pflege zwischen Pflegenden und Patienten
ist ein edukatives Instrument, eine die Reife fördern- Ida Jean Orlando hat wie Hildegard Peplau lange
de Kraft, die darauf abzielt, die Vorwärtsbewegung Zeit in der psychiatrischen Pflege gearbeitet. Auch
der Persönlichkeit in Richtung auf ein kreatives, sie legt den Schwerpunkt ihrer Theorie auf die Be-
konstruktives, produktives persönliches und gesell- trachtung der Beziehung zwischen Pflegenden und
schaftliches Leben zu bewirken“ (Peplau 1995, Patienten. Von 1954 – 1959 führte sie in den USA ein
S. 39). Forschungsprojekt durch, welches die Identifikation
von fördernden und hemmenden Faktoren auf die Unter dem Verhalten des Patienten versteht Orlando
Beziehung zwischen Pflegeperson und hilfsbedürfti- das beobachtbare nonverbale und verbale Verhalten
gem Menschen zum Ziel hatte. eines Patienten, das, egal in welcher Form es sich
Ihre „Theorie der lebendigen Beziehung zwischen äußert, eine Bitte um Hilfe sein kann. Bei der Inter-
Pflegenden und Patienten“ ist auf induktivem Weg pretation des Patientenverhaltens muss versucht
mittels teilnehmender Beobachtung entstanden, werden, die Bedeutung des Verhaltens für den Pa-
d. h. aus einer Vielzahl von Einzelbeobachtungen tienten zu ergründen. Nur wenn die Pflegeperson
wurden allgemeine Schlussfolgerungen gezogen die Bedeutung des Verhaltens eines Patienten in
(s. a. 4.2.4). Orlandos Theorie beschäftigt sich mit einer konkreten Situation begreift, kann sie die Si-
der Frage, wie die Beziehung zwischen Pflegenden tuation des Patienten verstehen, den spezifischen
4
und Patienten beschaffen sein muss, um wirksam Pflegebedarf feststellen und entsprechende, hilfrei-
den Gesundungsprozess zu unterstützen. Hierzu un- che Maßnahmen einleiten.
tersucht sie drei Bereiche der Interaktion zwischen Vorschnelle Interpretationen können am eigent-
Pflegenden und Patienten: lichen Bedürfnis des Patienten vorbeilaufen und
1. die Belastung des Patienten und die Funktion der eine ineffektive Hilfeleistung zur Folge haben.
Pflegenden, Die Reaktion der Pflegenden besteht wiederum
2. die Pflegesituation in der Praxis und aus drei Aspekten: der Wahrnehmung des Patien-
3. Probleme in Pflegesituationen. tenverhaltens, den hierdurch ausgelösten Gedanken
sowie den Empfindungen und Gefühlen, die als Re-
▌ Die Belastung des Patienten und die Funktion der aktion auf die Wahrnehmung und die Gedanken
Pflegenden entstehen. Orlando formuliert ein Prinzip, das die
Orlando geht davon aus, dass Menschen für ge- Pflegenden in ihrer Reaktion leiten soll: Pflegende
wöhnlich ihre Bedürfnisse selbstständig erfüllen dürfen erst annehmen, dass irgend ein Aspekt ihrer
können. Körperliche Grenzen (z. B. durch eine vorü- Reaktion dem Patienten gegenüber (Wahrnehmung,
bergehende oder dauerhafte Behinderung), Belas- Gedanken und Gefühle) korrekt, hilfreich oder an-
tungen durch die Umgebung (z. B. durch Missver- gebracht ist, wenn sie die Angemessenheit dieser
ständnisse bezüglich der Maßnahmen zur Präventi- Reaktion mit dem Patienten untersucht haben. Dies
on, Diagnostik oder Therapie) oder die Unmöglich- bedeutet, dass sich beide, Pflegende und hilfs-
keit, eigene Bedürfnisse mitzuteilen, können jedoch bedürftige Menschen, gemeinsam über die Situation
zu einer vorübergehenden oder dauerhaften Hilfs- auseinandersetzen und in einen offenen Austausch
bedürftigkeit von Menschen führen. miteinander treten müssen.
In dieser Situation sieht Orlando die direkte Ver- Zu den Handlungen der Pflegenden rechnet Or-
antwortung der Pflegenden: Sie sollen dafür sorgen, lando nur solche, die mit dem Patienten oder zu sei-
dass der Patient die nötige Hilfe erhält und seine nem Nutzen vollzogen werden. Grundsätzlich kön-
Hilfsbedürftigkeit verringert wird. Dies geschieht nen die pflegerischen Handlungen mit oder ohne
erstens, indem der Patient ermutigt wird, seine Be- Beteiligung des Patienten erfolgen. Sie identifiziert
dürfnisse mitzuteilen, und zweitens, indem der Pa- zwei mögliche Arten von pflegerischen Handlungen:
tient unterstützt wird, seine eigentlichen Bedürfnis- 1. unwillkürliche, automatische Handlungen, die
se zu ergründen. Beides ermöglicht nach Orlando ohne Absprache mit dem Patienten erfolgen und
eine offene, effektive Beziehung zwischen Pflegen- wirkungslos bleiben, da sie nicht mit seinen un-
den und Patienten. mittelbaren Bedürfnissen zusammenhängen, und
2. professionelle, gezielte, nützliche Handlungen,
▌ Die Pflegesituation in der Praxis die nach Absprache mit dem Patienten beschlos-
Nach Orlando umfasst die Pflegesituation drei we- sen werden und dessen unmittelbare Bedürfnisse
sentliche Elemente: befriedigen.
1. das Verhalten des Patienten,
2. die Reaktion der Pflegenden, Automatische Pflegehandlungen sind ihrer Meinung
3. die pflegerischen Handlungen zum Nutzen des nach ineffektiv, weil
Patienten. ■ sie aus anderen Gründen als dem Bedürfnis des
Patienten vollzogen werden,
■ der Patient nicht in die Handlung einbezogen Um die Effektivität von Pflegehandlungen ein-
werden kann, schätzen zu können, schlägt Orlando einen Prozess
■ sie sich nicht auf das unmittelbare Bedürfnis des der Reflexion vor, bei dem die Pflegenden die Be-
Patienten beziehen, deutung des jeweiligen Patientenverhaltens gemein-
■ die Pflegenden sich ihre Reaktion auf das Patien- sam mit dem Patienten ergründen, um so sein spe-
tenverhalten nicht bewusst machen, zifisches Bedürfnis erkennen und gezielte, hilfreiche
■ die Pflegenden sich die Wirkung ihrer Handlung pflegerische Maßnahmen durchführen zu können.
auf den Patienten nicht bewusst machen. Diesen Prozess der Reflexion nennt Orlando „Pfle-
geprozess“. Ihre Überlegungen hierzu sind in Zu-
4 Als Beispiele hierfür können alle pflegerischen sammenarbeit mit den Pflegetheoretikerinnen Er-
Handlungen gelten, die nicht konkret anlässlich nestine Wiedenbach und Dorothy Johnson Ende
von Bedürfnissen eines Menschen durchgeführt der 50er Jahre als ein Drei-Phasen-Modell des Pfle-
werden, wie z. B. das routinemäßig durchgeführte geprozesses veröffenflicht worden (s. auch Kap. 6.1).
Ermitteln der Körpertemperatur. Im Verlauf dieses Prozesses sollen drei Erfordernisse
Auch wenn Pflegepersonen auffälliges Verhalten berücksichtigt werden. Die verbalen Äußerungen
eines Patienten bemerken und den Grund für dieses der Pflegenden müssen mit ihrer unmittelbaren Re-
Verhalten nicht erfragen, vollziehen sie ineffektive, aktion auf ein beobachtetes Patientenverhalten
automatische Handlungen. übereinstimmen. Das bedeutet, dass die jeweilige
Gezielte Pflegehandlungen sind demgegenüber Pflegeperson ihre tatsächlichen Wahrnehmungen,
effektiv, weil sie: Gedanken und Gefühle, die sie bei der Beobachtung
■ als Reaktion auf die Bedeutung des Patientenver- eines Patientenverhaltens erlebt, in Worte fassen
haltens und sein spezifisches Bedürfnis nach soll. Diese sollen außerdem klar in Form einer
Hilfe vollzogen werden, „Ich-Botschaft“ gekennzeichnet sein, beispielsweise
■ sie dem Patienten ermöglichen, die Pflegenden „Ich habe den Eindruck, dass...“. Hierdurch wird dem
über die Wirkung der Handlung zu informieren, Patienten deutlich, dass es sich um den subjektiven
■ sie die Bedürfnisse des Patienten erfüllen und die Eindruck der jeweiligen Pflegeperson selbst handelt.
Pflegenden ihrer Verantwortung zur Hilfeleis- Weiter soll der Patient in der Kommunikation auf-
tung nachkommen, gefordert werden, den subjektiven Eindruck der
■ die Pflegenden das Bedürfnis des Patienten nach Pflegeperson zu bestätigen oder zu korrigieren, bei-
Hilfe beantworten und spielsweise „Ich habe den Eindruck, dass... Habe ich
■ die Pflegenden die Wirkung ihrer Handlungen Recht?“.
auf den Patienten kennen. Nach Orlando führt die Anwendung dieses Pro-
zesses zum besseren Verständnis der eigenen und
Beispiel: Eine gezielte Pflegehandlung der unmittelbaren Erfahrung des anderen. Er schafft
könnte z. B. die Beobachtung eines Patienten die Ausgangsbasis für die korrekte Interpretation
sein, der gekrümmt im Bett liegt. Um in Or- des Patientenverhaltens und die Voraussetzungen
landos Sinn professionell und gezielt zu handeln, ver- für effektive, professionelle und an den eigentlichen
langt das beobachtete Verhalten des Patienten eine Bedürfnissen des Patienten ausgerichtete Pflege-
Nachfrage der Pflegeperson, in etwa: „Ich habe den handlungen.
Eindruck, dass Sie gekrümmt im Bett liegen, weil Sie Diese Vorgehensweise setzt für Orlando den Ein-
Schmerzen haben. Stimmt das?“ Gemeinsam kann bezug des Patienten im gesamten Verlauf des Pfle-
dann überlegt werden, warum die Schmerzen beste- geprozesses voraus. Wenn der Pflegeprozess die Er-
hen und mit welchen Mitteln, z. B. einer Lageverände- fordernisse
rung oder der Verabreichung von Analgetika, dem Pa- ■ Übereinstimmung der verbalen Äußerungen der
tienten geholfen werden kann. Pflegenden mit ihrer tatsächlichen Wahrneh-
mung, ihren dabei empfundenen Gefühlen und
Diese Handlung setzt direkt am Bedürfnis des be- Gedanken,
troffenen Menschen an, bezieht ihn in die Über- ■ Verwendung von Ich-Botschaften und
legungen ein und beantwortet seine Bitte um Hilfe. ■ Nachfrage beim Patienten, ob sein Verhalten kor-
rekt interpretiert wurde,
Prozess A
Herr G. geht auf und Wirkt zornig; „Guten Morgen,
ab, gerötetes Gesicht. irgendetwas muss Herr G.”
geschehen sein; ich
habe Angst, ihn zu
fragen, weil er mich
schlagen könnte.
Prozess B
Herr G. geht auf und Wirkt zornig; „Ich habe Angst, dass
ab, gerötetes Gesicht. irgendetwas muss Sie mich schlagen
geschehen sein; ich könnten, wenn ich
habe Angst, ihn zu Ihnen eine Frage stelle.
fragen, weil er mich Muss ich Angst haben?”
schlagen könnte.
Körperliche Grenzen
Belastung durch die Umgebung
Unmöglichkeit, Bedürfnisse mitzuteilen
offener verdeckter
Professionelle, gezielte, nütz- Unwillkürliche, automatische
pflegerischer pflegerischer
liche pflegerische Handlung pflegerische Handlung
Prozess Prozess
Abb. 4.9 Die Theorie der lebendigen Beziehung zwischen Pflegenden und Patienten von Orlando im Überblick
senschaft zu formulieren. Deshalb wendet sie sich „Energiefeld“, wobei in ihrem Verständnis der
dem ihrer Meinung nach spezifischen Gegenstand Mensch nicht ein Energiefeld hat, sondern ein
der Pflege zu: dem einheitlichen Menschen. Ihr kon- Energiefeld ist. Gemeinsamkeiten bzw. Überein-
zeptionelles Modell beschreibt sie deshalb in späte- stimmungen zwischen der Annahme, dass Men-
ren Veröffentlichungen auch als „die Wissenschaft schen Energiefelder sind, und der realen, beob-
vom unitären (einheitlichen) Menschen“. achtbaren Welt kommen laut Rogers in einigen
In Rogers Modell, das sie auf deduktivem Weg umgangssprachlichen Redewendungen zum Aus-
entwickelt hat, sind Erkenntnisse vieler anderer druck. Beispiele hierfür sind Formulierungen wie
Wissenschaften eingeflossen, u. a. Erkenntnisse der „Der Mensch ist kraftvoll, magnetisch, besitzt
Biologie, der Psychologie und der Physik, vor allem Anziehungskraft“ etc.
4
die Relativitätstheorie von Albert Einstein. ■ Der Lebensprozess entwickelt sich unidirektio-
nal, d. h. nur in eine Richtung, und ist eingebun-
▌ Grundlagen der Pflegewissenschaft den in die drei Dimensionen des Raumes und in
Rogers beginnt ihre Ausführungen mit einer um- die Dimension der Zeit. Er ist unumkehrbar.
fangreichen Darstellung der Geschichte der Mensch- ■ Der Mensch besitzt bewusste und unbewusste
heit, um den Hintergrund für ihr Modell der Pflege Fähigkeiten zur Gestaltung seiner Umwelt. Kenn-
zu beschreiben. Darin nimmt sie vor allem Bezug auf zeichnend hierfür sind Muster und Organisation,
die Entwicklung der Sichtweise des Menschen in der die die Ganzheit des Menschen widerspiegeln.
Wissenschaft und schafft so eine Basis für ihre Sicht- Die individuellen Muster und die Organisation
weise des Menschen. des Energiefelds „Mensch“ entwickeln sich aus
Sie sieht das menschliche Wesen als ein spezi- den o. a. Interaktionsprozessen. Da diese indivi-
fisches System, dessen charakteristische Eigenschaft duell sind, besitzt auch jeder Lebensprozess sein
die einer Ganzheit ist. Um diese Sichtweise zu ver- eigenes dynamisches Muster und seine eigene
anschaulichen, formuliert Rogers fünf Grundannah- dynamische Organisation. Darüber hinaus besitzt
men über den Menschen. Da der Mensch in seiner der Mensch die Fähigkeit, sich trotz dieser kon-
Ganzheit das zentrale Anliegen der Pflege ist, muss tinuierlichen Veränderungen selbst zu erhalten,
die Pflegewissenschaft ihrer Meinung nach auf die- was Rogers als „Fähigkeit zur Selbstregulation“
sen Grundannahmen über das menschliche Wesen bezeichnet. Diese Fähigkeit ermöglicht dem
basieren: Menschen die Entfaltung seiner Lebenspotenzia-
■ Der Mensch ist ein einheitliches Ganzes. Er lässt le. Sie ist Ausdruck der Einheit und Ganzheit und
sich nicht auf einzelne Funktionen oder Bestand- lässt sich nach Rogers nicht durch die Funktion
teile reduzieren bzw. in Körper, Geist und Seele ihrer Teile beschreiben.
„zerlegen“, sondern bildet eine untrennbare Ein- ■ Der Mensch besitzt die Fähigkeit, sich selbst und
heit, die nur als solche verstanden und beschrie- seine Welt über Denken und Fühlen zu erleben.
ben werden kann. Der Mensch in seiner Ganzheit Während die vier erstgenannten Grundannah-
kann erst dann erkannt werden, wenn seine Ein- men prinzipiell auf alle Lebensformen zutreffen,
zelteile nicht mehr sichtbar sind. Rogers prägt in bringt diese Annahme den Unterschied zwischen
diesem Zusammenhang den Begriff „einheitli- Menschen und anderen Lebewesen zum Aus-
cher Mensch“, der mehr und anders ist als die druck und stellt nach Rogers Auffassung das
Summe seiner Teile. Hiermit erklärt sie der tra- Kennzeichen des Menschseins dar.
ditionellen wissenschaftlichen Sichtweise vom
Menschen, der aus mehreren, miteinander in Rogers sieht in diesen Annahmen über das mensch-
Verbindung stehenden „Einzelteilen“ besteht, liche Wesen die theoretischen Grundlagen der Pfle-
eine klare Absage. gewissenschaft.
■ Der Mensch ist ein offenes System, das in einer
ständigen Wechselbeziehung mit seiner Umwelt ▌ Konzeptionelles Modell der Pflege
steht, mit der er Energie und Materie austauscht. Für Rogers ist das Phänomen „Mensch“ das zentrale
Diese Interaktion bzw. dieser Austausch von Anliegen der Pflegewissenschaft. Der Lebensprozess
Energie und Materie ist charakteristisch für offe- im Menschen stellt das zentrale Phänomen des kon-
ne Systeme. Rogers verwendet hier den Begriff zeptionellen Systems der Pflege dar. Die Begriffe
1. Aufrechterhaltung einer ausreichenden Ergeben sich aus 6 Stadien des Lebens- 1. Inanspruchnahme und Sichern einer ge-
Sauerstoffzufuhr zyklus: eigneten medizinischen Unterstützung
2. Aufrechterhaltung einer ausreichenden 1. Intrauterine Stadien des Lebens und der bei Gefahr oder bestehender Erkrankung
Flüssigkeitszufuhr Prozess der Geburt 2. Bewusstsein über die Auswirkungen von
3. Aufrechterhaltung einer ausreichenden 2. Neonatales Stadium des Lebens pathologischen Bedingungen einschließ-
Zufuhr an Nahrungsmitteln a) termingerechte oder verfrühte Ge- lich der Folgen für die eigene Entwick-
4. Gewährleistung einer Versorgung in burt lung
Verbindung mit Ausscheidungsprozessen b) normales oder niedriges Geburts- 3. Effektive Ausführung der verordneten
und Exkrementen gewicht diagnostischen, therapeutischen und re-
5. Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts 3. Frühes Kindesalter habilitativen Maßnahmen
zwischen Aktivität und Ruhe 4. Entwicklungsstadien der Kindheit, Ju- 4. Bewusstsein über mögliche negative
6. Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts gend und des Eintritts in das Erwachse- Folgen der medizinischen Maßnahmen
zwischen Alleinsein und sozialer Inter- nenalter 5. Veränderung des Selbstbildes: Akzeptanz
aktion 5. Entwicklungsstadien des Erwachsenen- des Gesundheitszustandes und dem
7. Vorbeugung von Risiken für das Leben, alters damit verbundenen Bedarf an spezi-
das menschliche Funktionieren und das 6. Schwangerschaft als Jugendliche oder als fischer Gesundheitspflege
menschliche Wohlbefinden Erwachsene 6. Lernen, mit den Auswirkungen der pa-
8. Förderungen der menschlichen Funktio- thologischen Bedingungen und der me-
nen und Entwicklungen innerhalb sozia- Unterschieden werden drei Formen ent- dizinischen Diagnostik und Therapie zu
ler Gruppen in Übereinstimmung mit wicklungsbedingter Selbstpflegeerforder- leben, und zwar in einem Lebensstil, der
den menschlichen Potenzialen, bekann- nisse: die persönliche Entwicklung fördert
ten menschlichen Grenzen und dem 1. Gewährleistung von Bedingungen, die
Wunsch der Menschen, normal zu sein. die Entwicklung fördern
Normalität bezieht sich darauf, was 2. Engagement in der Selbstentwicklung
menschlich ist, sowie darauf, was in 3. Vorbeugung oder Überwindung der
Übereinstimmung mit den genetischen Auswirkungen von Bedingungen und Le-
und konstitutionellen Eigenschaften und benssituationen, die die menschliche
Talenten von Individuen steht. Entwicklung negativ beeinflussen kön-
nen
wird beeinflusst von folgenden zehn grundlegenden nicht bei jedem Menschen zu jeder Zeit seines Le-
Bedingungsfaktoren, die z. B. die Art und den Um- bens gleich stark ausgeprägt ist.
fang sowie Methoden und Techniken zur Erfüllung Nach Orem beinhaltet die Selbstpflegekompetenz
der Selbstpflegeerfordernisse bestimmen. zwei wesentliche Bereiche: Der erste Bereich um-
Bedingungsfaktoren: fasst alle bewussten Handlungen in der Selbstpflege
1. Alter, (Selbsterkenntnis, rationale Überlegungen, bewusste
2. Geschlecht, Zielsetzung, Vorgehensplanung und Entschlossen-
3. Entwicklungsstand, heit, einen entworfenen Plan auszuführen), der
4. Gesundheitszustand, zweite Bereich schließt das Wissen über gültige
5. soziokulturelle Orientierung, und verlässliche Methoden ein.
4
6. Faktoren des Gesundheitspflegesystems, z. B. Entsprechend dem Konzept der Selbstpflegekom-
medizinische Diagnostik- und Behandlungs- petenz formuliert Orem das Konzept der Depen-
modalitäten, denzpflegekompetenz. Sie wird beschrieben als die
7. familiäre Systemfaktoren, komplexe, erlernte Fähigkeit von Menschen, einige
8. Lebensstrukturen einschließlich der regelmäßi- oder alle Selbstpflegeerfordernisse von anderen
gen Aktivitäten, Menschen zu erkennen und zu erfüllen.
9. Umweltfaktoren, Die Entwicklung der Dependenzpflegekompetenz
10. Verfügbarkeit und Angemessenheit von Res- sieht Orem als Reaktion auf die Hilfsbedürftigkeit
sourcen. beispielsweise von Familienmitgliedern oder Freun-
den. Die Selbstpflegekompetenz kann durch ver-
Die Einschätzung des situativen Selbstpflegebedarfs schiedene Faktoren begrenzt werden. Diese Aspekte
erfolgt unter Berücksichtigung folgender Aspekte: bezeichnet Orem als Selbstpflegeeinschränkungen.
■ Bestimmen und Beschreiben des Selbstpfle- Orem ordnet die Selbstpflegeeinschränkungen
geerfordernisses unter Beachtung seiner Bezie- drei Gruppen zu:
hung zu anderen menschlichen Funktionen, 1. Wissenseinschränkungen (z. B. durch mangeln-
■ Bestimmung förderlicher und hindernder Bedin- des, für die Ausführung der Maßnahmen aber
gungen für die Erfüllung des Selbstpflegeerfor- erforderliches Wissen),
dernisses, 2. Einschränkungen der Urteils- und Entscheidungs-
■ Auswahl geeigneter Methoden und Techniken fähigkeit (z. B. durch die begrenzte Fähigkeit oder
zur Erfüllung des Selbstpflegeerfordernisses, Unfähigkeit, sich alternative Handlungsverläufe
■ Festlegen einer Handlungsabfolge zur Erfüllung und ihre möglichen Konsequenzen vorzustellen),
des Selbstpflegeerfordernisses. 3. Einschränkungen bei der Durchführung zielge-
richteter Handlungsabläufe (z. B. durch körper-
Übersteigt der situative Selbstpflegebedarf die liche Bewegungseinschränkungen, die die kon-
Selbstpflegekompetenz, so liegt ein Selbstpflegede- trollierte Durchführung von Handlungen verhin-
fizit vor. dern).
Durchführen einiger
Selbstpflegemaßnahmen
Unterstützend-erzieherisches System
Verwirklichungen der
Selbstpflege Handlung
Handlung des
der Regulieren der Ausübung und Entwicklung Patienten
Pflegekraft der Selbstpflegekompetenz
4.3.5 Betty Neuman – Das System-Modell Weiter überträgt sie Elemente der Systemtheorie
Die amerikanische Pflegewissenschaftlerin Betty auf die Pflege.
Neuman veröffentlichte ihr System-Modell für die
Pflege erstmals 1972. Nach ihrer Krankenpflegeaus- Definition: Unter „Systemen“ werden viel-
bildung absolvierte sie ein Studium mit den Schwer- schichtige, zielgerichtete und anpassungsfähige
punkten öffentliches Gesundheitswesen und Psy- Einheiten verstanden, die mit ihrer Umgebung
chologie. Elemente hieraus finden sich in ihrem Mo- in einer engen Wechselbeziehung stehen.
dell z. B. in Form der pflegerischen Interventionen,
die sie in primäre, sekundäre und tertiäre Präventi- Dabei können sog. „offene Systeme“, die durch einen
on einteilt. Austausch von Materie, Energie und Bedeutungen
mit der Umgebung gekennzeichnet sind, von den kann. Zentrale Elemente ihres Modells sind das
sog. „geschlossenen Systemen“, bei denen kein Aus- Klientensystem, Stress und Reaktion auf Stress. Sie
tausch mit der Umgebung stattfindet, unterschieden werden durch drei Formen pflegerischer Interven-
werden. Systeme werden als Einheiten gesehen, die tionen ergänzt.
sich nicht, bzw. nur unzureichend, durch die Summe
ihrer Teile beschreiben lassen. Ein System ist nicht ▌ Das Klientensystem
nur mehr, sondern auch anders als die Summe sei- Den Klienten sieht Neuman als ein offenes System,
ner Teile. Bei veränderten Umweltbedingungen be- das mit seiner Umwelt in einer ständigen Wechsel-
sitzen Systeme die Fähigkeit, ihre Struktur zu ver- beziehung steht. Obwohl sie die Bezeichnung
ändern, um Gesundheit und/oder Leben zu erhalten. „Klientensystem“ auf eine Einzelperson bezieht,
Neuman selbst sagt, dass sie ihr auf deduktivem kann sie auch für eine oder mehrere Gruppen von
Weg erstelltes konzeptionelles Modell zwar für den Klienten verwendet werden. Die Grundstruktur des
Pflegebereich entwickelt hat, es jedoch auch auf an- Klientensystems besteht aus „überlebenssichernden
dere Bereiche und Berufe des Gesundheitswesens Grundmerkmalen“ der menschlichen Spezies. Hier-
übertragen werden kann. Sie bezeichnet ihr Sys- zu rechnet Neuman u. a. die angeborenen Eigen-
tem-Modell als Gesundheitsmodell, das bei seiner schaften eines Menschen, wie beispielsweise die
Anwendung dazu beiträgt, für den jeweiligen Klien- Mechanismen zur Regulierung der Köpertempera-
ten Gesundheit zu erhalten sowie ein optimales tur, sowie die Stärken und Schwächen der einzelnen
Wohlbefinden zu erreichen und aufrechtzuerhalten. Systembestandteile, z. B. einzelner Organe. Umgeben
Im Gegensatz zu anderen Pflegetheoretikern be- wird die Grundstruktur von mehreren konzentri-
nutzt Neuman in ihren Ausführungen durchweg schen Kreisen, die sie und das ganze System vor
den Begriff „Klient“ anstelle von „Patient“. dem Verlust seiner Intaktheit schützen sollen.
Nach Neuman (1998) soll ihr System-Modell er- Die flexible Abwehr-Linie verhindert normaler-
klären, wie die Stabilität eines Systems, das unter weise das Eindringen von Stressoren bzw. das Auf-
dem Einfluss von sogenannten „Stressoren“ (Stress treten von Stressreaktionen, wie z. B. Krankheiten.
auslösenden Faktoren) steht, erhalten werden kann. Eine Reihe von Situationen, u. a. Schlafmangel oder
Unter Stabilität versteht sie einen Zustand des Unterernährung, können jedoch dazu führen, dass
Gleichgewichts oder der Harmonie, bei der ein sie ihrer Funktion nicht nachkommen kann und
Klient Stressoren so bewältigt, dass er ein optimales Stressoren die normale Abwehr-Linie eines Klien-
Gesundheitsniveau bewahren oder wiederherstellen tensystems, die den Zustand des Wohlbefindens
bzw. das übliche Gesundheitsniveau eines Klienten den, um die Stabilität bzw. den Gesundheitszustand
darstellt, durchbrechen. In diesem Fall kommt es zu wiederherzustellen. Wird hierbei mehr Energie ver-
Symptomen der System-Instabilität und Krankhei- braucht als gespeichert ist, werden die Energieres-
ten. sourcen erschöpft, was bis zum Untergang des Sys-
Die Widerstand-Linien unterstützen die normale tems bzw. zum Tod des Klienten führen kann
Abwehr-Linie eines Klientensystems, z. B. durch die (Abb. 4.13).
Immunreaktionen des Körpers, und können einen Sowohl die beschriebenen Linien als auch die
Rückgang der Stressorreaktion bewirken. Durch- Grundstruktur eines Klientensystems werden in
dringen die Stressoren jedoch auch die Wider- ihrer Position und Stabilität gleichzeitig durch fünf
stand-Linien, muss viel Energie aufgewendet wer- Variablen bestimmt:
4
Stressoren: Grundstruktur:
¥ erkennen ¥ gemeinsame Grundausstattung aller
¥ unterscheiden in bereits bekannte und Organismen
potenzielle, z.B. ¥ normales Variationsspektrum der
Ð Verlust Krpertemperatur
Ð Schmerz ¥ genetische Struktur
Ð Reizarmut/Reizdeprivation ¥ Reaktionsmuster
Ð Kulturwechsel ¥ Strken und Schwchen der Organe
¥ Ich-Struktur
intra- Stressor ¥ weitere bekannte Gr§en
inter- personale Faktoren
extra-
tand-Lini
ders en
Wi
Grund-
struktur
Stressor Energie-
ressourcen
No ie
rmal
e Abwehr-Lin
F le x ie
i b le A b w e h r- L i n
Stressoren:
¥ mehrere Stressoren knnen gleichzeitig
auftreten
¥ gleiche Stressoren knnen quantitativ
und qualitativ unterschiedliche Reak-
tionen auslsen
¥ die normale Abwehr-Linie verndert sich
mit dem Lebensalter und Entwicklungs-
stand
1. Physische Variablen, die sich auf körperliche cher Art und in welchem Ausmaß das Klientensys-
Strukturen und Funktionen beziehen, tem auf einen Stressor reagiert, ist abhängig vom
2. psychische Variablen, die sich auf geistige Prozes- Zusammenspiel der oben erwähnten Variablen und
se und Beziehungen beziehen, dem Zeitpunkt, der Art und Intensität des Stressors.
3. soziokulturelle Variablen, die sich auf die Verbin- Auch der frühere und gegenwärtige Gesundheits-
dungen sozialer und kultureller Funktionen be- zustand des Klienten sowie das zur Anpassung be-
ziehen, nötigte Ausmaß an Energie spielen hierbei eine
4. entwicklungsbezogene Variablen, die sich auf die wichtige Rolle.
Entwicklungsprozesse des Lebens beziehen und
4 5. spirituelle Variablen, die sich auf den Einfluss ▌ Formen pflegerischer Interventionen
spiritueller Überzeugungen beziehen. Das Ziel pflegerischen Handelns, der sogenannten
pflegerischen Interventionen, sieht Neuman in der
Diese Variablen sind von Klient zu Klient verschie- Stabilisierung des Klientensystems: Die optimale Ge-
den kombiniert und unterschiedlich stark bzw. sundheit des Klienten soll bewahrt, wiederher-
schwach ausgeprägt. Auch innerhalb eines Klienten- gestellt oder aufrechterhalten werden. Unter „opti-
systems kann sich die Ausprägung der Variablen maler Gesundheit“ versteht sie den höchstmöglichen
verändern, was sowohl positive als auch negative Grad des Wohlbefindens, der zu einem gegebenen
Auswirkungen auf die Abwehr- und Widerstand- Zeitpunkt erreichbar ist. Neuman unterscheidet drei
Linien hat. Formen pflegerischer Interventionen (Abb. 4.14).
Interventionen der Primären Prävention werden
▌ Stress und Reaktion auf Stress eingesetzt, um die Gesundheit eines Klienten zu er-
Das Klientensystem und seine Umwelt stehen in halten. In diesem Fall soll die normale Abwehr-Linie
einer ständigen und engen Wechselbeziehung mit- bzw. der übliche Gesundheitszustand eines Klien-
einander, in der sowohl das Klientensystem die Um- tensystems durch Stärkung der flexiblen Abwehr-
welt als auch die Umwelt das Klientensystem beein- Linie geschützt werden. Es liegt noch keine Verlet-
flusst. Folge der wechselseitigen Einflussnahme ist zung der normalen Abwehr-Linie bzw. Reaktion des
entweder eine Anpassung des Klientensystems an Klientensystems vor. Zu dieser Form rechnet Neu-
die Umwelt oder die Anpassung der Umwelt an das man alle Maßnahmen der Gesundheitsförderung,
Klientensystem. Umwelteinflüsse können in Form mit denen entweder verhindert wird, dass ein
von Stressoren die Stabilität des Klientensystems Klient mit einem Stressor in Kontakt kommt, oder
bzw. die Gesundheit des Klienten stören. Neuman aber die flexible Abwehr-Linie gestärkt wird.
unterscheidet drei Arten von Stressoren, die sowohl Interventionen der Sekundären Prävention wer-
von innen als auch von außen, einzeln oder in Kom- den erforderlich, wenn ein Stressor die normale Ab-
bination auf das Klientensystem einwirken können: wehr-Linie eines Klientensystems durchbrochen hat.
1. Intrapersonale Stressoren, die in der Person selbst Sie haben den Schutz der Grundstruktur durch Stär-
begründet liegen (z. B. Autoimmunreaktionen), kung der Widerstand-Linien zum Ziel. Hierzu wer-
2. interpersonale Stressoren, die sich aus der Bezie- den die Interventionen nach ihrer Dringlichkeit ge-
hung zu anderen Menschen ergeben (z. B. durch ordnet und Behandlungen vorgenommen, die die
unterschiedliche Rollenerwartungen) und schädlichen Auswirkungen des Stressors auf das
3. extrapersonale Stressoren, die von außen auf den Klientensystem mindern. Die Stabilität des Klienten-
Klienten einwirken (z. B. finanzielle Probleme). systems bzw. die Gesundheit des Klienten soll wie-
derhergestellt werden. Den Prozess der Wiederher-
Neuman beschreibt die einzelnen Stressoren als stellung nennt Neumann „Rekonstitution“. Er kann
neutral. Erst im Zusammentreffen mit dem Klienten zu einem höheren, gleich hohen oder niedrigeren
zeigt sich, ob sie positive oder negative Auswirkun- Gesundheitsniveau als vor der Krankheit führen.
gen auf das System haben. Normalerweise sorgt die Interventionen der Tertiären Prävention sollen
oben erwähnte flexible Abwehr-Linie für einen aus- nach einer Behandlung die Wiederherstellung des
reichenden Schutz vor einwirkenden Stressoren. Sie Klientensystems sichern bzw. das optimale Gesund-
verhindert, dass ein Stressor die normale Abwehr- heitsniveau des Klienten aufrechterhalten. Hierzu
Linie eines Klientensystems durchdringt. Ob, in wel- werden die Ressourcen des Klienten unterstützt
und die Energie des Klientensystems konserviert. Überblick über die Pflegehandlungen der einzelnen
Interventionen der Tertiären Prävention gehen so- Präventionsformen gibt Tab. 4.3.
zusagen in Interventionen der Primären Prävention
über, wenn beispielsweise nach einer erfolgreichen ▌ Definition der Pflege
Behandlung gefährliche Stressoren vermieden wer- Als Pflege bezeichnet Neuman „die Profession, die
den. Je nach Bedarf des Klienten können und sollen mit allen denjenigen Variablen befasst ist, die einen
Maßnahmen der primären, sekundären und tertiä- Klienten in seiner Umwelt beeinflussen“ (Neuman
ren Prävention gleichzeitig eingesetzt werden. Einen 1998, S. 71).
● Klassifiziere die Stressoren, die die Stabi- ● Schütze die Grundstruktur, falls ein ● Trage nach der Behandlung dazu bei, im
lität des Klienten(-systems) bedrohen. Stressor in das System eingedrungen ist. Rahmen der Rekonstitution ein optimales
Beuge einer Konfrontation mit den ● Mobilisiere und optimiere die internalen Wohlbefinden herzustellen oder auf-
Stressoren vor. und externalen Ressourcen, um die Sta- rechtzuerhalten.
● Gib dem Klienten(-system) geeignete In- bilität wiederzugewinnen und die Energie ● Biete Maßnahmen der Gesundheitsför-
formationen, um seine vorhandenen zu konservieren. derung (zur Verhaltensänderung) und
Stärken zu bewahren oder zu vergrößern. ● Fördere die gezielte Beeinflussung von Hilfen zur Neuorientierung an.
● Fördere positive Bewältigung und positi- Stressoren und der Reaktionen darauf. ● Unterstütze das Klientensystem beim Er-
ves Funktionieren. ● Motiviere, informiere und beteilige den/ reichen realistischer Ziele.
● Mache den Klienten gegenüber beste- das Klienten(-system) an der Verwirk- ● Koordiniere und integriere die Theorien
henden oder potenziell auftretenden lichung der Pflegeziele. verschiedener Disziplinen mit den be-
Stressoren unempfindlicher. ● Trage zu angemessenen Behandlungen kannten epidemiologischen Daten.
● Motiviere den Klienten zur Gesundheit. und Interventionsmaßnahmen bei. ● Leiste bei Bedarf primärpräventive Inter-
● Koordiniere und integriere die Ressour- ● Stärke die positiven Kräfte zugunsten des ventionen.
cen der Gesundheitsdienste. Wohlbefindens.
● Biete Maßnahmen der Gesundheitsför- ● Mache dich zum Anwalt des Klienten,
derung (zur Verhaltensänderung) an. sorge für die Koordination und Integra-
● Setze Stress als positive Interventions- tion der Behandlungsmaßnahmen.
strategie ein. ● Leiste bei Bedarf primär und/oder
sekundär präventive Intervention.
Ziel der Pflege ist der Schutz der Stabilität von senschaftlichen Disziplinen und ermöglicht gleich-
Klientensystemen. Hier kommen drei Formen pfle- zeitig die Beschreibung, Erklärung und Vorhersage
gerischer Interventionen zum Tragen. Zur Planung der Pflege, weil sie der eigentliche Gegenstand der
der Interventionen müssen Pflegepersonen alle Va- Pflege ist. Ausdruck findet die Fürsorge laut Leinin-
riablen miteinbeziehen, die an der möglichen oder ger in helfenden, unterstützenden oder fördernden
tatsächlichen Reaktion eines Klienten auf einen Verhaltensweisen zum Wohle anderer Menschen.
Stressor beteiligt sind. „Fürsorgen“ hat zum Ziel, die Bedürfnisse ande-
rer Menschen nach Verbesserung und Weiterent-
Zusammenfassung: wicklung der menschlichen Lebensbedingungen
4 System-Modell (Neumann) oder Lebensweisen bzw. nach einem besseren Um-
■ bedient sich der Elemente der Systemtheorie, gang mit den Tod zu befriedigen. Fürsorge ist für
■ Gesundheitsmodell: Klient anstelle von Patient, Leininger die Voraussetzung für Wohlbefinden, Ge-
■ Abwehrlinien und Widerstandslinien bilden Schutz sundheit, Heilung, Wachstum, Überleben und den
vor Stressoren, Umgang mit Behinderungen und Tod. Ohne Fürsorge
■ Aufgabe der Pflege: Intervention, um das Klienten- kann ihrer Meinung nach keine Heilung und Gene-
system zu stabilisieren. sung stattfinden.
In den Forschungen im Rahmen ihrer Theorie hat
4.3.6 Madeleine Leininger – Kulturelle Leininger festgestellt, dass die Fürsorge und die
Dimensionen menschlicher Pflege damit verbundenen Verhaltensweisen stark von
Die amerikanische Pflegeprofessorin Madeleine Lei- der jeweiligen Kultur beeinflusst werden. Zwischen
ninger verbindet in ihrer Theorie der kulturspezi- den einzelnen Kulturen gibt es diesbezüglich mehr
fischen Fürsorge die Konzepte „Pflege“ und „Kultur“. Unterschiede als Gemeinsamkeiten.
Anlass zu den Überlegungen, dass bei der Pflege Die Gemeinsamkeiten bezüglich der Fürsor-
von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen kul- gehandlungen bezeichnet Leininger als „kulturspezi-
turelle Belange berücksichtigt werden müssen, war fische Fürsorgeuniversalität“; Unterschiede nennt
ihre Arbeit als Krankenschwester Mitte der 50er sie „kulturspezifische Fürsorgediversität“. Diese Un-
Jahre in einer psychiatrischen Einrichtung für Kin- terschiede beziehen sich sowohl auf die Tätigkeiten
der. Dort stellte sie fest, dass die Pflege von Kindern derjenigen, die die Fürsorge erbringen, als auch auf
aus anderen Kulturen ohne Berücksichtigung ihrer die Empfänger der Fürsorge.
kulturellen Lebensweise und ihres kulturellen Hin- Hieraus folgert Leininger, dass Pflege nur dann ef-
tergrundes ineffizient blieb. fektiv und erfolgreich erbracht werden kann, wenn sie
Leininger entschloss sich zum Studium der An- im Einklang mit dem jeweiligen kulturellen Hinter-
thropologie (Wissenschaft vom Menschen) und grund des Patienten stattfindet, d. h. kulturelle Beson-
schrieb ihre Doktorarbeit über Untersuchungen in derheiten berücksichtigt.
zwei Dörfern des Gadsup-Volkes in Papua/Neu Gui- Voraussetzung für diese, von ihr als „kulturkon-
nea. Als Ergebnis dieser Untersuchungen stellte sie gruent“ bezeichnete Pflege ist entsprechendes Wis-
u. a. deutliche Unterschiede bezüglich Pflege und Ge- sen über kulturspezifische Werte und Ausdrucks-
sundheitspraktiken zwischen westlichen und nicht- weisen der Fürsorge. Dieses Wissen kann nur mit-
westlichen Kulturen fest und entwickelte hieraus tels Forschung gewonnen werden.
1978 ihre Theorie der kulturspezifischen Fürsorge. Leininger legt bei der Erforschung kulturspezi-
Da auch deutsche Pflegende in den letzten Jahren fischer Fürsorge Wert auf eine induktive und quali-
vermehrt Menschen aus anderen Kulturen pflegen, tative, d. h. das Erleben des einzelnen Menschen be-
findet Leiningers Theorie auch in Deutschland ver- trachtende Herangehensweise. Bis heute hat Leinin-
stärkt Beachtung. ger mit ihren Mitarbeitern 54 westliche und nicht-
westliche Kulturen mit der Forschungsmethode der
▌ Schwerpunkte der Theorie Pflegeethnografie (s. a. Kap. 5.5.7) untersucht und
Im Zentrum von Leiningers Pflegetheorie steht das dabei 166 Fürsorgekonstrukte identifiziert.
Konzept „Fürsorge“ (engl.: „care“). Fürsorge ist der
Kern, das Spezifische professioneller Pflege. Sie un-
terscheidet die Pflege von anderen Berufen und wis-
4
irklichkeitsverstän
- und W dnis
Welt
Kulturelle, soziostrukturelle
Dimensionen
Kulturelle
Werte
Verwandt- und Lebens- Politische,
schaftliche weisen gesetzliche
und soziale Einfluss-
Einfluss- faktoren
faktoren
Umweltkontext, Sprache,
ethnographische Entwicklung
Religiöse, Wirtschaftliche
philosophische Einflussfaktoren
Einflussfaktoren
Einflüsse,
Ausdrucksweisen,
Muster und Methoden
der Fürsorge
Technologische Bildungsbedingte
Einflussfaktoren Umfassende Gesundheit Einflussfaktoren
(Wohlbefinden)
Abb. 4.15 Sunrise-Modell zur Darstellung der Theorie der kulturspezifischen Fürsorge
Leininger technologische, religiöse, verwandtschaft- Diese Möglichkeiten müssen laut Leininger bei pfle-
liche und soziale, politische und gesetzliche, wirt- gerelevanten Entscheidungen und Pflegemaßnah-
schaftliche und bildungsbedingte Faktoren rechnet. men berücksichtigt werden. Nur so kann eine kul-
Zusammen mit den kulturellen Werten und Lebens- turkongruente professionelle Pflege für bzw. mit
weisen stehen diese Faktoren in einer engen Wech- dem Patienten erbracht werden.
selbeziehung. In ihrer Gesamtheit werden sie von
Leininger als kulturelle, soziostrukturelle Dimensio- Beispiel: In der arabisch-muslimischen Kul-
nen bezeichnet, die den kulturellen Hintergrund tur besitzen verwandtschaftliche und fami-
eines Menschen bestimmen. Ebenso beeinflussen liäre Bindungen einen hohen Stellenwert.
4 sie die Ausdrucksweisen, Muster und Methoden Innerhalb des generischen Pflegesystems ist es für An-
der Fürsorge einer kulturellen Gruppe und deren gehörige dieser Kultur üblich, dass sich bei Erkran-
Vorstellungen über Gesundheit und Wohlbefinden. kung eines Familienangehörigen die gesamte Familie
Leininger unterscheidet zwischen generischen am Bett des kranken Menschen einfinden kann. Je
und professionellen Pflegesystemen. nach Zustand des kranken Menschen bzw. der Inten-
Unter generischen Pflegesystemen versteht sie sität der pflegerischen Betreuung, z. B. in Intensivpfle-
volkstümliche oder laienhafte Pflegesysteme, die geeinheiten, kann diese kulturspezifische Fürsor-
kulturell erlerntes und übermitteltes, traditionelles gehandlung jedoch Probleme mit sich bringen. Für
Wissen enthalten. Demgegenüber enthalten profes- die jeweilige Pflegeperson kann dies konkret bedeu-
sionelle Pflegesysteme Wissen und praktische Fä- ten, dass sie gemeinsam mit der Familie und dem
higkeiten, die unterrichtet und erlernt wurden und erkrankten Menschen nach Wegen suchen muss, ob
in professionellen Institutionen, wie z. B. Kranken- und wie dieser kulturspezifischen Fürsorgehandlung
häusern, ausgeübt werden. im Krankenhaus entsprochen werden kann. Gemein-
Die professionelle Pflege ist das verbindende sam könnten z. B. Absprachen über den zeitlichen
Glied zwischen diesen beiden Pflegesystemen. Sie Rahmen der Besuche oder die jeweils mögliche Anzahl
muss entscheiden, ob bei der Pflege von einzelnen der Besucher festgelegt werden.
Menschen, Familien, Gruppen, Gemeinden oder In-
stitutionen in den verschiedenen Gesundheitsein- Dies würde der Anpassungs- und/oder Verständi-
richtungen Fürsorgehandlungen des generischen gungsfunktion kulturspezifischer Fürsorge entspre-
Pflegesystems oder/und professionelle Fürsor- chen. In diesem Fall findet eine Anpassung der kul-
gehandlungen eingesetzt werden. Grundsätzlich turspezifischen Fürsorgehandlung (Anwesenheit der
gibt es nach Leininger drei mögliche Entscheidun- Familie), die Teil des generischen Pflegesystems ist,
gen: an das professionelle Pflegesystem statt, wodurch
1. Bewahrungs-/und oder Erhaltungsfunktion kul- eine kulturkongruente Pflege ermöglicht wird.
turspezifischer Fürsorge, d. h. die kulturspezi-
fischen Fürsorgehandlungen können bei der Pfle- ▌ Definition der Pflege
ge in der Gesundheitseinrichtung beibehalten Leininger hat ihre Definition der Pflege wie folgt
werden, formuliert:
2. Anpassungs- und/oder Verständigungsfunktion „Unter „professioneller Pflege“ (nursing) verstehe
kulturspezifischer Fürsorge, d. h. die kulturspezi- ich den erlernten, humanistisch ausgerichteten und
fischen Fürsorgehandlungen können bei der Pfle- wissenschaftlich fundierten Beruf und die entspre-
ge in der Gesundheitseinrichtung nur teilweise chende (wissenschaftliche) Disziplin, die die Phäno-
beibehalten werden, mene menschlicher Fürsorge zum Gegenstand ha-
3. Änderungs- oder Umstrukturierungsfunktion ben, mit denen Menschen Einzelpersonen oder
kulturspezifischer Fürsorge, d. h. die kulturspezi- Gruppen helfen, sie unterstützen, es ihnen erleich-
fischen Fürsorgehandlungen müssen verändert tern oder sie dabei fördern, ihr Wohlbefinden (oder
werden, weil sie z. B. schädlich für den betroffe- ihre Gesundheit) auf kulturell sinnvolle und positive
nen Menschen sind. Weise zu erhalten oder sie wiederzuerlangen oder
mit Behinderungen oder dem Tod besser umzuge-
hen“ (Leininger 1998, S. 73).
Zukunft Zukunft
n
o m e a l e s Fe
än o m enales F o m e n al e s F
än än
ph
ld
el
ph
el
ph
konkreter
d
Transpersonale
Pflegekraft Patientin/Patient Zuwendung
Pflegekräfte haben die Möglichkeit und die mo- als auch im gesamtgesellschaftlichen Bereich zu för-
ralische Verpflichtung, über menschliche Zuwen- dern. Beidem schreibt sie eine wichtige humanitäre
dung bzw. über die transpersonale Zuwendungs- Funktion bei der Wahrung der Menschlichkeit zu.
beziehung Gefühlen anderer Personen Raum zu
geben und so zur Gesundung beizutragen. Watson ▌ Definition der Pflege
selbst drückt das so aus: Watson formuliert ihre Definition der Pflege wie
„Die transpersonale Zuwendung ist insofern eine folgt:
Kunst, als sie es möglich macht, die Seele eines an- „Die Pflege hilft der Person, ein größeres Maß an
deren Menschen zu berühren und zu seinen Emo- Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele zu er-
tionen Zugang zu finden, so dass dieser andere sei- langen, wodurch der Prozess der Selbsterkenntnis,
4
nem eigenen Selbst näherkommt und eine größere Selbstachtung, Selbstheilung und Selbsthilfe geför-
Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele erleben dert und eine größere Offenheit möglich werden.
kann. Sie trägt damit zur Vervollkommnung des Ihr Ziel erreicht die Pflege mit Hilfe des Prozesses
Menschen und zur Bewahrung der Menschlichkeit der zwischenmenschlichen Zuwendung und der mit
bei.“ (Watson 1996, S. 93) diesem Prozess verbundenen Transaktionen. Die
Die Pflege ordnet Watson darüber hinaus den Pflegekraft geht dabei aktiv auf die subjektive innere
sogenannten „Humanwissenschaften“ zu. Die Hu- Welt der Person ein und hilft ihr so, den Sinn der
manwissenschaft unterscheidet sich in Watsons eigenen Existenz sowie die Bedeutung der inneren
Verständnis von der traditionellen Wissenschaft Disharmonie, des Leidens und des Unwohlseins zu
z. B. in Bezug auf das zugrunde liegende Welt- und erkennen, damit in einem zweiten Schritt die Selbst-
Menschenbild, die anzuwendenden Forschungs- kontrolle, die Entscheidungsfreiheit und Selbst-
methoden, das Wissenschaftsverständnis und die bestimmung der Person gestärkt werden kann“
Aufgaben der Wissenschaft. Die traditionelle Wis- (Watson 1996, S. 67).
senschaft sieht laut Watson den Menschen als eine
Summe von Teilen, als ein Wesen mit biologischen, Zusammenfassung:
psychischen, sozialen, kulturellen und spirituellen Transpersonale Zuwendung (Watson)
Aspekten. Die Anwendung dieser Sichtweise führt ■ Einfluss östlicher Philosophien: Disharmonie zwi-
ihrer Meinung nach u. a. zu einer Zerlegung des schen Körper, Seele und Geist führt dazu, dass
Ganzen (Körper-Geist-Seele) in einzelne Teile, was Selbsterfahrung und Selbstwahrnehmung nicht
dem menschlichen Leben nicht gerecht wird. kongruent sind; dieses kann zu Krankheit führen,
Die humanwissenschaftliche Perspektive be- ■ Aufgabe der Pflege: natürliches Streben nach Kon-
trachtet den Menschen demgegenüber als ein aus gruenz und Harmonie unterstützen,
Körper, Geist und Seele bestehendes ganzheitliches ■ Prozess der transpersonalen Zuwendung: Wider-
Wesen, das mit der Natur und Umwelt in einer spiegeln der Gefühle, die der Patient zeigt,
engen Wechselbeziehung steht. Dementsprechend ■ führt zu intensiver Ich-du-Beziehung,
wird auch die Anwendung quantitativer For- ■ so wird Prozess der Selbsthilfe beim Patienten un-
schungsmethoden dem Menschen als ganzheitli- terstützt.
chem Wesen nicht gerecht. Die Erforschung der
Pflege muss laut Watson auch mit qualitativen Me- 4.3.8 Juliet Corbin/Anselm Strauss: Modell der
thoden vorgenommen werden, d. h. aus der subjek- Krankheitsverlaufskurve (Chronic Illness
tiven Sicht des Betroffenen, weil auf diese Weise das Trajectory Model)
individuelle Erleben eines Menschen berücksichtigt Das Chronic Illness Trajectory Model wurde von der
werden kann. Beides, die Anwendung der human- Krankenschwester und Pflegewissenschaftlerin Ju-
wissenschaftlichen Perspektive in der Pflegewissen- liet Corbin und dem Soziologen Anselm Strauss in
schaft und die Kunst der transpersonalen Zuwen- den USA entwickelt und beschrieben. Das Modell
dung in der Beziehung zwischen Pflegepersonen basiert auf unterschiedlichen Forschungen zu der
und Patienten, ermöglicht das Wachsen des Be- Verflechtung chronischer Krankheit und der Bedeu-
wusstseins von der Ganzheit der menschlichen Per- tung für betroffene Menschen. Kerngedanke der Be-
sönlichkeit. Watson sieht es als Pflicht der Pflege, obachtungen von Corbin und Strauss ist, dass wenn-
dieses Bewusstsein sowohl im wissenschaftlichen gleich chronische Erkrankungen und deren Verläufe
sehr individuell und damit unterschiedlich sind, es Zusätzlich können unterschiedliche Verläufe ein-
dennoch typische Gemeinsamkeiten und Parallelen zelner Aspekte innerhalb jeder Phase der Krank-
im Hinblick auf den Verlauf der Erkrankung und die heitsverlaufskurve auftreten, z. B. wenn Patienten
von den Betroffenen eingesetzten Bewältigungsstra- emotional positiv gestimmt sind, weil sie sich in
tegien gibt. Das Modell soll Pflegepersonen dabei einer stabilen Phase glauben, obwohl die Krankheit
unterstützen, Probleme von chronisch kranken physiologisch fortschreitet. Auch Subphasen können
Menschen besser zu verstehen. Das Modell der die Krankheitsverlaufskurven komplex machen, z. B.
Krankheitsverlaufskurve, auch Trajekt-Modell ge- kann die Art des Normalisierungsverlaufs gekenn-
nannt, wird zu den Theorien mittlerer Reichweite zeichnet sein durch geringe oder stetige Vorwärts-
4 gerechnet. oder aber auch immer wieder auftretende Abwärts-
bewegungen. Grafische Darstellungen möglicher
▌ Krankheitsverlaufskurve Krankheitsverlaufskurven zeigt Abb. 4.17.
Zentrale Grundaussage des Modells ist die Krank-
heitsverlaufskurve, mit dem alle weiteren Begriffe ▌ Biografie und Arbeit
des Modells in Beziehung stehen. Variabilität und Weitere zentrale Begriffe des Modells sind „Biogra-
Phasierung sind zwei wesentliche Merkmale einer fie“ und „Arbeit“. Chronische Krankheiten sind nicht
Krankheitsverlaufskurve. Krankheitsverlaufskurven heilbar und begleiten die betroffenen Menschen ein
sind individuell und von Mensch zu Mensch ver- Leben lang. Eine chronische Krankheit kann den Le-
schieden. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer bensverlauf unterbrechen und stark verändern, Vor-
jeweiligen Form und Dauer sowie in Bezug auf die stellungen und Erwartungen an die Zukunft beein-
im Verlauf erforderliche (Bewältigungs-) Arbeit und trächtigen und erheblichen Einfluss auf die Aktivitä-
ihre Auswirkungen, sind also variabel. Corbin und ten eines Menschen haben. Gleichzeitig macht die
Strauss beschreiben eine Reihe von Bedingungs- chronische Krankheit nur einen Teil des betroffenen
und Einflussfaktoren auf die Krankheitsverlaufskur- Menschen aus. Deshalb sehen Corbin und Strauss es
ve: Die Krankheit selbst und die Reaktionen der be- als wesentlich an, Krankheitsbewältigung umfas-
troffenen Menschen darauf, sowie die Bewältigungs- send zu untersuchen und dabei die Biografie eines
pläne, die von den Betroffenen, deren Familien und Menschen und die biografischen Konsequenzen
professionellen Helfern umgesetzt werden, nehmen einer Krankheit wahrzunehmen.
Einfluss auf die Gestaltung einer Krankheitsverlaufs- Zu den drei Dimensionen bzw. Bestandteilen der
kurve. Sie können einzelne Phasen der Krankheits- Biografie zählen
verlaufskurve stabilisieren, verbessern, verlängern ■ die biografische Zeit,
etc. Die Krankheitsverlaufskurve umfasst also nicht ■ Selbstkonzeptionen und
nur den physiologischen Ablauf einer Erkrankung, ■ der Körper.
sondern auch die Aktivitäten und Belastungen aller
beteiligten Personen. Corbin nennt dies „Arbeit“, die Diese werden über den Begriff „Biografische Körper-
organisiert und im Krankheitsverlauf geleistet wird. konzeptionen (BKK)“ zusammengeführt und stehen
in einer Wechselwirkung zueinander. Struktur und
▌ Phasen Kontinuität der Identität eines Menschen entlang
Das Modell umfasst neun Phasen der Krankheitsver- der biografischen Zeitlinie entstehen durch das Zu-
laufskurve. Diese Phasen können im Idealfall durch sammenwirken dieser Konzepte. Aus diesem Grund
individuelle, geeignete und angepasste Maßnahmen sprechen Corbin und Strauss von einer „BKK-Kette“,
verlangsamt bzw. stabilisiert werden (Tab. 4.4). auf die die chronische Krankheit einwirkt, sie unter-
Akute, stabile, instabile, kritische Phasen und sol- brechen, stören und sogar zerstören kann. Für chro-
che der Abwärtsbewegung und der Rückkehr können nisch kranke Menschen ergibt sich daraus die Not-
sich in der Krankheitsverlaufskurve – auch mehr- wendigkeit der biografischen Arbeit, über die Repa-
mals – abwechseln. Hierdurch und durch die spezi- raturen an der BKK-Kette vorgenommen werden
fischen Zeitpunkte des Auftretens und ihre zeitliche können. Corbin und Strauss stellen hierzu vier
Dauer geben sie jeder Krankheitsverlaufskurve eine grundlegende Prozesse vor, die über die Integration
individuelle Form. der Krankheitsverlaufskurve in die Biografie (kon-
textualisieren) und das Verstehen und Akzeptieren
Pretrajectory (vor dem Beginn der Genetische Faktoren oder Aspekte des Lebenswandels Prävention.
chronischen Krankheit) bergen das Risiko eine chronische Krankheit zu ent-
wickeln.
Trajectory onset (Beginn des Erste Krankheitssymptome treten auf. Oft warten die Kontuierung der Verlaufskurvenent-
Krankheitsverlaufs) betroffenen Personen in dieser Phase noch auf die Diag- würfe und Behandlungsschemata.
nosestellung und setzen sich erstmals mit der Bedeutung
der möglichen Diagnose auseinander. 4
Stable (stabile Phase) Krankheitsursache und -symptome sind unter Kontrolle. Erhalten und fortführen der Stabilität
Tägliche Aktivitäten und die Biografie werden ausgeübt. hinsichtlich biografischer Aspekte der
Das Krankheitsmanagement findet in der häuslichen täglichen Aktivitäten.
Umgebung statt.
Unstable (unstabile Phase) Krankheitsursachen und -symptome können nicht kon- Rückkehr zur Stabilität.
trolliert werden. Die Krankheit ist reaktiviert: Die Betrof-
fenen können nur mit Schwierigkeiten den biografischen
Aspekten und den täglichen Aktivitäten nachgehen. Je-
doch ist häufig eine Behandlung im häuslichen Umfeld
noch möglich.
Acute (akute Phase) Schwere und belastende Symptome bzw. Komplikationen Wiedererlangen der Kontrolle über die
treten auf: Häufig ist ein Krankenhausaufenthalt not- Krankheit und Wiederaufnahme bio-
wendig und die Phase des Bettlägrigseins beginnt. grafischer und aktivitätsbezogener
Aspekte.
Crisis (kritische Phase) Eine kritische bzw. lebensbedrohliche Situation erfordert Ausschalten der Lebensbedrohung.
eine Notfall- bzw. Intensivbehandlung. Biografische As-
pekte und tägliche Aktivitäten finden nicht mehr statt.
Comeback (Phase der Rückkehr) Es erfolgt eine teilweise Rückkehr zu einem akzeptablen Initiieren und fortführen von Verlaufs-
Leben innerhalb der Begrenzung durch die Krankheit und kurvenentwurf und Behandlungs-
deren Folgen. Es erfolgt eine körperliche Heilung sowie schema.
eine Wiederaufnahme biografischer Aspekte und Aktivi-
täten.
Downward (Phase der Abwärts- Starker körperlicher Abbau und eine zunehmende Unfä- Anpassen an die zunehmenden Ein-
bewegung) higkeit die Symptome zu kontrollieren führen zu biogra- schränkungen.
fischen Anpassungen und Veränderungen mit jeder wei-
teren Abwärtsbewegung.
Dying (Phase des Sterbens) Der Zeitraum vor dem Tod ist gekennzeichnet durch Zuendebringen von Dingen, loslassen
weiteren körperlichen Verfall, biografischen Rückzugs und friedliches Sterben.
und einem Verlust an Aktivitäten.
der biografischen Konsequenzen der chronischen geleistet werden: Neben der oben bereits beschrie-
Krankheit (bewältigen) über eine neue Konzeptuali- benen biografischen Arbeit zählen sie hierzu krank-
sierung von Ganzheit (die Identität wiederherstel- heitsbezogene Arbeit sowie Arbeit, die sich auf das
len) bis hin zur Neuausrichtung der eigenen Biogra- Alltagsleben bezieht. Krankheitsbezogene Arbeit be-
phie (die Biographie neu entwerfen) reichen. zieht sich dabei auf alle Handlungsnotwendigkeiten,
Die Konzepte „Krankheitsverlaufskurve“ und die sich direkt aus der Krankheit ergeben, u. a. die
„Biografie“ sind im Trajekt-Modell über das Konzept Durchführung der erforderlichen Behandlungen,
„Arbeit“ verbunden. Diese muss im Rahmen der Umgang mit Krisen oder das Management von
Auseinandersetzung mit der chronischen Krankheit Symptomen. Die Durchführung kann vielfältige Aus-
von den betroffenen Menschen entlang dreier Linien wirkungen haben, die Notwendigkeit der Anpassung
stabile Phase
akute Phase
zeitliche
4 Dimension
zeitliche
Dimension
des Wohnraums nach sich ziehen oder die Anschaf- liche Aspekte, die Sorge für den finanziellen Unter-
fung von Pflegehilfsmitteln erforderlich machen. halt usw. hören mit dem Auftreten einer chro-
Um die Aspekte der krankheitsbezogenen Arbeit nischen Erkrankung nicht auf, sondern müssen
herum muss zudem das Alltagsleben organisiert unter neuen Bedingungen, z. B. über die Neu- und
und strukturiert werden: Haushaltsführung, beruf- Umverteilung von Arbeitsaufgaben im Haushalt, or-
ganisiert werden. Da der zentrale Ort dieser Aus- Corbin sieht ihr Modell als Rahmen für die An-
einandersetzung das häusliche Umfeld ist, sind von wendung des Pflegeprozesses. Bei der Datensamm-
diesen Auseinandersetzungen alle Familienmitglie- lung ist es die Aufgabe von Pflegepersonen, die Pro-
der betroffen. bleme aus Sicht der beteiligten Personen (Betroffe-
Krankheitsbezogene und biografische Arbeit ne, Bezugspersonen, Pflegepersonen) zu analysieren,
sowie Arbeit, die sich auf das Alltagsleben bezieht, und physische, psychische, ökonomische Faktoren
stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinan- zu erheben, die mit diesen Problemen in Zusam-
der. Veränderungen in einem Arbeitsbereich können menhang stehen. Auch die Identifizierung der
weitreichende Folgen für eine der anderen Arbeits- Phase der Krankheitsverlaufskurve erfolgt in diesem
linien nach sich ziehen. Für chronisch kranke Men- Schritt. Die ermittelten Probleme werden priorisiert
4
schen und ihre Familien bedeutet dies, dass das und Ziele, die im Einklang mit den krankheitsbezo-
Gleichgewicht zwischen den Arbeitstypen jeweils genen, biografischen und alltäglichen Aktivitäten
neu hergestellt werden muss. sowie den Fähigkeiten der beteiligten Personen ste-
Konkret kann dies bedeuten, dass im Rahmen hen, festgelegt. Im Handlungsplan schließlich wer-
der Bewältigungsarbeit in einzelnen Phasen der den konkrete Interventionen und die Verantwort-
Krankheitsverlaufskurve einzelne Arbeitstypen lichkeiten der beteiligten Personen festgelegt. Corbin
mehr Energie und Ressourcen materieller und per- betont, dass Pflegepersonen vor dem Hintergrund
soneller Art beanspruchen und/oder sich Verant- der erforderlichen Anpassungsarbeit chronisch
wortlichkeiten und Belastungen der beteiligten Per- kranker Menschen hierbei häufig eine unterstützen-
sonen vorübergehend oder dauerhaft verschieben. de und beratende Funktion zukommt, um das Leben
Auch unvorhergesehene Ereignisse können das mit der chronischen Erkrankung handhabbar zu ma-
Gleichgewicht bzw. die Bewältigungsroutine stören chen. Ebenso ist der umgesetzte Handlungsplan hin-
und sich negativ auf die Motivation und das Enga- sichtlich seiner Effizienz fortwährend zu evaluieren.
gement des chronisch kranken Menschen und der Corbin sieht Pflegepersonen als die am besten geeig-
an der Bewältigungsarbeit beteiligten Personen aus- nete und qualifizierte Berufsgruppe, um den vielfäl-
wirken. Bewältigungsarbeit muss deshalb immer tigen Aufgaben im Zusammenhang mit chronischer
wieder und immer wieder neu hinsichtlich der Ver- Erkrankung und deren Bewältigung durch Betroffe-
änderungen durch Krankheit, Biografie und Alltag- ne und Bezugspersonen gerecht zu werden.
leben angepasst werden. Corbin und Strauss spre-
chen aus diesem Grund von „Bewältigung als Pro- Zusammenfassung:
zess“. Krankheitsverlaufskurve (Corbin, Strauss)
■ Das Pflegemodell von Corbin und Strauss stellt die
▌ Implikationen für die Pflegepraxis Auswirkungen von chronischen Erkrankungen und
Mit der Beschreibung der Phasierung der Krank- Bewältigungsstrategien Betroffener in den Mittel-
heitsverlaufskurve und der Variabilität zwischen punkt.
einzelnen Krankheitsverlaufskurven trägt das Mo- ■ Im Zentrum steht das Konzept der Krankheitsver-
dell zur Identifizierung und Verdeutlichung der um- laufskurve, in deren Phasen krankheitsbezogene,
fassenden Bewältigungsprozesse, die von chronisch biografische und auf Alltagsaktivitäten bezogene
kranken Menschen und ihren Bezugspersonen in- Arbeit zu leisten ist.
nerhalb der einzelnen Phasen zu leisten sind, bei. ■ Pflegende unterstützen chronisch kranke Men-
Dabei stehen nicht der Krankheitsverlauf, sondern schen unter Nutzung des Pflegeprozesses bei der
die hierdurch erforderlichen und mit dem Krank- Entwicklung und Umsetzung von Bewältigungs-
heitsverlauf in Wechselbeziehung stehenden Aus- strategien.
wirkungen auf die Betroffenen und ihre Bezugsper-
sonen im Mittelpunkt. Die Perspektive auf chronisch 4.3.9 Das Roper-Logan-Tierney-Modell
kranke Menschen wird also erweitert. Zudem wer- Die englischen Pflegewissenschaftlerinnen Nancy
den zurückliegende, gegenwärtige und zukünftige Roper, Winifred Logan und Alison Tierney haben
Entwicklungen analysiert und in die weitere pflege- ihre Pflegetheorie erstmals in dem 1980 erschienen
rische Arbeit einbezogen. Werk „The elements of Nursing“ veröffentlicht, das
unter dem Titel „Die Elemente der Krankenpflege“
auch in die deutsche Sprache übersetzt wurde.
Individualität im Leben
Einschätzen
Planen
Durchführen
Bewerten
!
zwischen den Polen „völlige Abhängigkeit“ und „völ- Merke: Bestehen für einen Menschen aktu-
lige Unabhängigkeit“ je nach Situation, Alter etc. ein elle oder potenzielle Probleme im Zusam-
unterschiedlicher Grad an Abhängigkeit bzw. Unab- menhang mit den LA, ist es die Aufgabe der
hängigkeit vorhanden sein kann. Pflege, Hilfe zum Vermeiden, Lösen, Lindern oder Be-
Ebenso muss nicht in jeder LA die Abhängigkeit wältigen dieser Probleme zu geben.
bzw. Unabhängigkeit gleich stark ausgeprägt sein.
Probleme können sich durch Krankheiten oder Be-
▌ Faktoren, welche die LA beeinflussen hinderungen, aber auch bereits durch die Notwen-
Jeder Mensch führt die LA zu jeder beliebigen Zeit digkeit eines Krankenhausaufenthaltes ergeben. Alle
und mit einem unterschiedlichen Grad an Unabhän- diese Umstände führen dazu, dass Gewohnheiten
gigkeit aus, aber jeder Mensch tut dies auf eine in- eines Menschen bei der Ausführung der LA geändert
dividuelle Art und Weise. Diese Individualität ergibt bzw. einzelne LA auf eine andere Art und Weise
sich nach Roper/Logan und Tierney maßgeblich aus ausgeführt werden müssen. Auch Veränderungen
sogenannten Einflussfaktoren, bei denen sie fünf im Abhängigkeits-/Unabhängigkeits-Kontinuum
Hauptgruppen unterscheiden: können zu Problemen führen. Roper/Logan und
1. biologische (z. B. Mobilität, anatomisch-physiolo- Tierney betonen die Tatsache, dass die Bezeichnun-
gische Gegebenheiten etc.), gen für die LA bewusst umfassend und als aktive
2. psychologische (z. B. emotionale Verfassung, in- Form gewählt worden sind. Da die einzelnen Le-
tellektuelle Fähigkeiten etc.), bensaktivitäten eine Zusammenfassung komplexer
3. soziokulturelle (z. B. Religion, gesellschaftliche Tätigkeiten sind, kann es entsprechend zu einer
Normen etc.), Vielzahl von möglichen Patientenproblemen inner-
4. umgebungsabhängige (z. B. geographische Lage, halb einer LA kommen.
Klima etc.), „Atmen“ bezeichnen Roper/Logan und Tierney
5. wirtschafts-politische (z. B. soziale Sicherung etc.). als die wichtigste LA, da sie grundlegend für alle
anderen Aktivitäten eines Menschen ist. Die übrige Treten für Menschen Probleme im Zusammen-
Reihenfolge ist beliebig und muss im Einzelfall in hang mit den LA auf, ist es Aufgabe der Pflege, die
der konkreten Situation eines Menschen bewertet Betroffenen bei der Lösung, Linderung und Bewälti-
werden. Allgemein gilt: Die LA, die für Überleben gung dieser Probleme zu unterstützen. Roper/Logan
und Sicherheit eines Menschen nötig sind, haben und Tierney betonen, dass auch das Vermeiden von
Vorrang vor den anderen. Problemen mit den einzelnen LA in den pflegeri-
An jeder beliebigen Stelle der Lebensspanne kann schen Aufgabenbereich gehört.
für einen Menschen Pflege nötig sein; das gilt für
den gesamten Zeitraum von der Geburt bis zum ▌ Definition der Pflege
4 Tod. Das Konzept der Lebensspanne berücksichtigt Ihre Definition von Pflege erläutern Roper/Logan/
die Bedeutung des Alters eines Menschen im Zu- Tierney in den Grundannahmen, auf denen ihr Pfle-
sammenhang mit der nötigen Pflege. Da je nach gemodell beruht: „Im Kontext der Gesundheitspfle-
Alter des Patienten Art und Bedeutung der LA ge gehen Pflegende mit den Patienten/Klienten eine
sowie deren Ausführung variieren kann, muss die professionelle Beziehung ein, wobei der Patient/
Pflege den individuellen Bedürfnissen angepasst Klient nach Möglichkeit eine autonome, urteilsfähi-
werden. ge Person bleibt. Pflegende sind Teil des multipro-
Das Konzept Abhängigkeits/Unabhängigkeits- fessionellen Gesundheitsteams, das partnerschaft-
Kontinuum ist direkt mit dem Konzept der LA ver- lich zum Wohle des Klienten/Patienten und zuguns-
bunden. Die Abhängigkeit eines Menschen in einer ten der Gesundheit aller arbeitet. Die spezifische
LA kann sich durch Alter, Krankheit, Behinderung Funktion der Pflege besteht darin, dem einzelnen
etc. ergeben. Menschen dabei zu helfen, (aktuelle oder potenziel-
le) Probleme mit den LAs zu vermeiden, zu lindern
!
Merke: Aufgabe der Pflege ist es, den Grad oder aber positiv damit umzugehen“ (Roper/Logan/
der Unabhängigkeit eines Menschen ein- Tierney 2009, S. 98 f.).
zuschätzen und zu beurteilen, in welcher Pflegende unterstützen pflegebedürftige Men-
Richtung und in welchem Maß er Hilfe benötigt, um schen folglich bei der Ausführung der LAs oder
gesteckte Ziele zu erreichen. übernehmen diese stellvertretend, wenn Menschen
hierzu nicht in der Lage sind. Roper/Logan/Tierney
Beispiel: Abhängigkeit in einer LA kann vo- fordern Pflegende zudem auf, auch ihre eigenen LAs
rübergehend bestehen, z. B. nach einem ope- nicht zu vernachlässigen, wenn sie professionelle
rativen Eingriff, sie kann aber auch länger Pflege ausüben.
andauern. In diesem Fall sollen Pflegepersonen den
betroffenen Menschen Unterstützung geben, mit die- Zusammenfassung:
ser Einschränkung bzw. dauernden Abhängigkeit Elemente der Krankenpflege (Roper, Logan,
leben zu lernen. Tierney)
■ entwickeln ein Pflegemodell, das auf einem Le-
Wie in ihrem Modell des Lebens verwenden Roper/ bensmodell basiert
Logan und Tierney für das Modell der Krankenpfle- ■ im Zentrum steht das Konzept der Lebensaktivitä-
ge die fünf Hauptgruppen von Einflussfaktoren auf ten (LA)
die LA. Sie werden als der Grund für die individuel- ■ die Ausführungsweise der LA ist individuell; Er-
len Unterschiede bei der Ausführung der LA gese- krankungen können aktuelle oder potenzielle
hen. Die im Modell des Lebens beschriebene Indivi- Probleme in den LAs verursachen
dualität im Leben erfordert nach Roper/Logan und ■ Pflegende unterstützen Menschen dabei, aktuelle
Tierney auch eine Individualisierung derflege. Sie oder potenzielle Probleme mit den LAs zu vermei-
wird erreicht durch die systematische Anwendung den, zu lindern oder positiv damit umzugehen
des Pflegeprozesses (s. a. Kap. 6), in dessen Phasen
die individuelle Lebensweise des Patienten berück-
sichtigt werden soll. Weiter fordern Roper/Logan
und Tierney den Einbezug des Patienten in jeder
Phase des Pflegeprozesses (Abb. 4.19).
4.3.10 Marie-Luise Friedemann – Familien- und welt, d. h. anderen Systemen, auf, verarbeiten diese
umweltbezogene Pflege und geben Ergebnisse, z. B. in Form von Ideen, Ver-
Marie-Luise Friedemann ist gebürtige Schweizerin haltenswesen, Gegenständen, an die Umwelt ab.
und hat ihre Pflegeausbildung und mehrere Studien Mittels dieses Energieflusses werden andere Syste-
in den USA absolviert. Vor und nach ihrer Promotion me aktiviert, bei denen der gleiche Mechanismus
lehrte und forschte sie an mehreren amerikanischen abläuft und die wiederum Impulse für andere Sys-
Universitäten, insbesondere in den Schwerpunkten teme, u. a. für das Ausgangssystem, geben. Dieser
psychiatrische Pflege; Familiendynamik, Pflege von Prozess wird als Rückkoppelungsprozess oder Feed-
chronisch Kranken in der Familie und Drogensucht. backmechanismus bezeichnet.
Ihre Theorie basiert – wie auch das System-Mo- Systeme sind hierarchisch in Systeme und Sub-
dell von Betty Neumann – auf den Grundsätzen der systeme mit jeweils spezifischen Eigenschaften ge-
Systemtheorie, die von einer Ordnung aller komple- ordnet. Ein einzelner Mensch kann z. B. als System
xen Dinge in Systeme ausgeht. Systemen ist ein gesehen werden, das aus einzelnen Subsystemen,
strukturelles und dynamisches Muster mit einem z. B. Körperorganen, besteht. Auch Familien oder Ge-
Zentrum oder Schwerpunkt zu eigen, um den sich meinden können als Systeme betrachtet werden, die
Prozesse in einem bestimmten Rhythmus bewegen. aus vielen Subsystemen, z. B. einzelnen Menschen,
Als offene Systeme nehmen sie Impulse aus der Um- Familien etc., bestehen. Die Gesamtwirkung eines
Systems ist dabei anders als die Summe der Wirkun- Friedemann mit dem Begriff Kongruenz bezeich-
gen der Subsysteme. net. Muster und Rhythmus aller Systeme auf der
Soziale Systeme – zu diesen gehört u. a. das Fa- Erde unterliegen den hier herrschenden Grund-
miliensystem – verfügen über die Besonderheit, bedingungen von Zeit und Raum, Energie und
dass sie Entscheidungen treffen und damit ihr Sys- Materie.
tem gezielt verändern können. Zudem können ihre ■ Konzept Mensch: Auch der Mensch wird als ein
Subsysteme gleichzeitig Subsysteme mehrerer an- System betrachtet. Wenn Muster und Rhythmus
derer Systeme sein. Damit kann ein Subsystem meh- des menschlichen Systems nicht mit denen ande-
rere Systeme beeinflussen. Auf diese Weise entsteht rer Systeme übereinstimmen, kann laut Friede-
4 ein komplexes Zusammenspiel, das eine genaue mann die Energie zwischen den Systemen nicht
Vorhersage über Wirkungen und Folgen erschwert. ungehindert fließen und es entsteht Spannung.
Basierend auf diesen Annahmen formuliert Friede- Diese Spannung nehmen Menschen als Angst
mann ihre Theorie des systemischen Gleichge- wahr. Menschen sind bestrebt, diese Angst zu
wichts, die der oben erwähnten Einteilung folgend bekämpfen und Kongruenz zu erreichen, indem
den Theorien mittlerer Reichweite zugeordnet wird. sie entweder eigene systemische Ziele und Pro-
zesse an die der anderen Systeme anpassen oder
▌ Konzepte der Theorie aber störende Einflüsse rückgängig machen, um
Friedemann selbst beschreibt die familien- und um- die eigenen Prozesse beibehalten zu können. Mit-
weltbezogene Pflege als ein konzeptuell angelegtes tels der Verhaltensweisen Systemerhaltung, Sys-
Pflegemodell und strukturiert die verwendeten temänderung, Kohärenz und Individuation (Pro-
Konzepte anhand des von Fawcett beschriebenen zessdimensionen) strebt der Mensch nach den
Metaparadigmas der Pflege (Fawcett 1998). Sie er- Zielen Stabilität, Wachstum, Regulation/Kontrolle
weitert die hierzu gehörenden Konzepte Umwelt, und Spiritualität (Zieldimensionen). Sie alle die-
Mensch, Gesundheit und Pflege um die Konzepte nen der Erhaltung des Systems und der Bekämp-
Familie und Familiengesundheit, da – basierend auf fung der Angst. Kongruenz wird dann erreicht,
den Annahmen der Systemtheorie – sich die Struk- wenn alle vier Ziele in einem individuell richti-
turen und Prozesse der Familie als Suprasystem we- gen Ausmaß erreicht werden und die Muster und
sentlich von denen des zu ihr gehörenden einzelnen Prozesse des menschlichen Systems mit denen
Menschen als Subsystem unterscheiden. Zudem ist anderer Systeme harmonieren. Die Ziel- und Pro-
sie der Ansicht, dass Gesundheit und Pflege sowohl zessdimensionen des menschlichen Systems und
aus der Perspektive des Individuums als auch aus des Familiensystems veranschaulicht Friedemann
der der Familie betrachtet werden müssen. in einem Diagramm (Abb. 4.20).
Friedemanns Annahmen zu den einzelnen Kon-
zepten werden nachfolgend dargestellt. ▌ Zieldimensionen des menschlichen Systems
■ Konzept Umwelt: Laut Friedemanns Theorie des Insbesondere in unserer westlichen industriellen
systemischen Gleichgewichts umfasst die Um- Kultur sieht Friedemann in Regulation/Kontrolle
welt „alle Systeme, die sich außerhalb des Sys- die zentrale Zieldimension der Angstbekämpfung.
tems des Menschen oder der Familie befinden. Über die Einrichtung von Schutzsystemen, z. B. Ge-
Dies schließt alles mit ein, von Gegenständen setzen, Regelungen u. a., versucht der Mensch, seine
über Gebäude, Städte, politische und soziale Sys- Zivilisation und damit sein eigenes Überleben zu
teme, Biosysteme und Ökonomien zur Natur und sichern. Dennoch können sich Menschen nicht
schließlich zum Universum“ (Friedemann, 2010). gegen alle Risiken des Lebens und damit gegen In-
Das Universum umfasst alle Systeme auf der Erde kongruenz absichern. Hier greift die Spiritualität, die
(Weltsystem). Alle Systeme dieses Gesamtsys- Menschen ermöglicht, sich über ihre unmittelbare
tems sind über einen ständigen Energiefluss mit- Umwelt hinwegzusetzen und über eine Verbindung
einander verbunden und voneinander abhängig, zu Mitmenschen oder Gott Kongruenz zu erreichen.
was ständige Anpassungs- und Wiederanpas- In der Spiritualität kommt eine Verbindung von Sys-
sungsvorgänge nötig macht. Ziel dieser dyna- temen, z. B. zwischen Menschen, zum Tragen, die
mischen Wechselbeziehungen ist das Erreichen Gefühle von Zugehörigkeit, Anerkennung und Ach-
einer aufeinander abgestimmten Ordnung, die tung hervorruft. Beide Ziele beschreibt Friedemann
als notwendig im Leben eines Menschen, der diese ▌ Prozessdimensionen des menschlichen Systems
gezielt und aktiv anstrebt. Das Ausmaß des Bedürf- Handlungen, die auf die Ziele Stabilität und Regula-
nisses nach Regulation/Kontrolle und Spiritualität tion/Kontrolle ausgerichtet sind, ordnet Friedemann
ist im Verlauf des Lebens eines Menschen ihrer An- der Systemerhaltungssdimension zu. Hierunter ver-
sicht nach nicht statisch, sondern kann in einzelnen steht sie im Sinne Orems Selbstpflegehandlungen,
Lebens- und Entwicklungsphasen unterschiedlich die dem physischen und psychischen Wohl des
stark ausgeprägt sein. Menschen dienen, z. B. körperliche Bewegung, Er-
Störende Einflüsse auf das System lösen Rück- nährung, Freizeitaktivitäten etc. Handlungen der
koppelungsprozesse aus, die einerseits zu einer Systemänderungsdimension verfolgen die Ziele Re-
Strukturänderung des Systems führen können, d. h. gulation/Kontrolle und Wachstum. Sie werden
das System verändert sich und passt sich im Sinne immer dann erforderlich, wenn Menschen aufgrund
von Wachstum an entwicklungs- und situations- innerer oder äußerer Einflüsse gezwungen sind, ei-
bedingte Änderungen an. Andererseits können gene Werte, Denkmuster etc. zu überprüfen und zu
durch störende Einflüsse auch Bestrebungen des verändern.
Systems ausgelöst werden, diese Einflüsse zu redu- Mittels der Kohärenzdimension wird der Aspekt
zieren bzw. ganz rückgängig zu machen. In diesem des Zusammenhalts der menschlichen Subsysteme
Fall hält das System an Werten und Verhaltenswei- ausgedrückt. Sie umfasst alle menschlichen Hand-
sen fest und versucht auf diese Weise, Stabilität zu lungen, die auf die Ziele Stabilität und Spiritualität
erreichen. gerichtet sind. Kohärenz ermöglicht laut Friede-
mann Gefühle von Ganzheit, Selbstsicherheit und
innerem Frieden und das Erkennen und Akzeptieren
eigener Stärken und Schwächen. Handlungen in der
Dimension Individuation sind auf die Ziele Wachs- keit und Sicherheit. Wachstum entsteht z. B. über
tum und Spiritualität gerichtet. Sie umfassen nach Erfahrungen, Wissen etc., das Systemmitglieder
Friedemann körperliche und intellektuelle Aktivitä- durch ihre Zugehörigkeit zu anderen Systemen in
ten, die das eigene Verständnis erweitern und über die Familie einbringen. Dies ist sowohl für die Frei-
die Verbindung mit anderen Systemen eigenes heit und Entfaltung der einzelnen Familienmitglie-
Wachstum und Entwicklung sowie das von Mitmen- der wichtig als auch für die Anpassung des Systems
schen fördern. an veränderte innere und äußere Bedingungen. Re-
Gesunde Menschen müssen in allen vier Prozess- gulation/Kontrolle schützt das System nach innen
dimensionen Verhaltensweisen entwickeln, um die und außen vor negativen Einflüssen. Spiritualität
4 Ziele des menschlichen Systems erreichen zu kön- vermittelt bei Schicksalsschlägen ein Gefühl von Zu-
nen. gehörigkeit, Trost und Halt. Für die Spiritualität
■ Konzept Gesundheit: In der Theorie des systemi- einer Familie ist der gemeinsame Austausch über
schen Gleichgewichts wird Gesundheit verstan- und die Bearbeitung von Werten und Auffassungen
den als „Ausdruck der Kongruenz des mensch- wichtig.
lichen Systems in Rhythmus und Muster sowohl Systemerhaltungsstrategien führen über Regula-
nach außen mit seiner Umwelt als auch nach tion/Kontrolle zur Stabilität des Familiensystems.
innen mit seinen Subsystemen“ (Friedemann, Handlungen die in diesem Rahmen ausgeführt wer-
2010). Gesundheit drückt sich aus in einem Ge- den, sind z. B. Maßnahmen der Kindererziehung und
fühl von Wohlbefinden, wirkt als positive Kraft der Gesunderhaltung, Familienrituale und gemein-
Störungen des Systems entgegen und hat eine same Freizeitaktivitäten. Hierzu gehören auch die
angstreduzierende Funktion. Systeminkongruenz Definition der sozialen Rollen und die Erhaltung
kann Gesundheit beeinträchtigen; bei den be- von Traditionen. Kohärenz beschreibt die Beziehun-
troffenen Menschen ist das Symptom Angst be- gen der Mitglieder des Familiensystems zueinander.
obachtbar. Störungen im organischen System Gemeinsame Unternehmungen, z. B. im Rahmen von
können eine körperliche Krankheit auslösen. Freizeitaktivitäten, stärken das Zusammengehörig-
■ Konzept Familie: Die Familie sieht Friedemann keitsgefühl und verleihen dem Familiensystem Sta-
als ein System mit Subsystemen, die bestimmte bilität. Wichtig für die Kohärenz ist laut Friedemann
Aufgaben lösen (z. B. Eltern die Kindererziehung) auch die Kommunikation über Gefühle und Erleb-
und innerhalb des Systems definierte Rollen nisse. Gleichzeitig werden hierdurch auch spirituelle
übernehmen. Familien müssen nicht zwangsläu- Prozesse gefördert, da die einzelnen Mitglieder
fig aus Menschen bestehen, zwischen denen ein ihren Rhythmus und ihre Muster denen der anderen
verwandtschaftliches Verhältnis besteht, sondern Familienmitglieder anpassen. Auch Individuation
können auch aus guten Freunden oder anderen zielt auf Spiritualität, z. B. wenn einzelne Mitglieder
wichtigen Bezugspersonen gebildet werden. Wer Bindungen mit Systemen der Umwelt eingehen und
zu einer Familie gehört, wird aus der Perspektive eine individuelle Entwicklung verfolgen, ggf. Werte
jedes einzelnen Menschen definiert. Damit ver- anpassen und neue Prioritäten setzen. Für das Fami-
tritt Friedemann eine offene und flexible Defini- liensystem kann dies ein Impuls zur Systemände-
tion der Familie. rung sein, insbesondere dann, wenn die neuen
Werte mit den bisherigen Werten des Familiensys-
▌ Ziel- und Prozessdimensionen des tems nicht übereinstimmen. Handlungen der Sys-
Familiensystems temänderung zielen auf Wachstum und Regulation/
Die Ziel- und Prozessdimensionen des Familiensys- Kontrolle.
tems sind vergleichbar mit denen des menschlichen Familien unterscheiden sich u. a. in Bezug auf die
Systems (s. Abb. 4.20). Traditionen, Gewohnheiten Gewichtung der Prozessdimensionen. Kongruenz im
und Werte ermöglichen Stabilität und schützen das Familiensystem verlangt eine ausgewogene Gewich-
System vor der Angst, es könnte zerfallen. Da grund- tung der Ziel- und Prozessdimensionen und lässt
legende Werte und Lebensauffassungen von allen sich am Wohlbefinden der einzelnen Familienmit-
Mitgliedern des Familiensystems anerkannt und glieder messen.
i. d. R. an nachfolgende Generationen weitergegeben ■ Konzept Familiengesundheit: Aus den oben er-
werden, entsteht ein Gefühl der Zusammengehörig- läuterten Grundannahmen zu den Ziel- und Pro-
troffenen Person oder der Familie orientieren (5 – 7). ihr Modell primär aus der o. a. Studie entwickelt
Die Evaluation der Pflege erfolgt nach Möglichkeit wurde, lässt es sich auf andere pflegerische Bereiche
bei Einzelpersonen gemeinsam mit der Familie. Die übertragen und findet vor allem in Einrichtungen
Wirksamkeit der Pflege zeigt sich dabei in erster der Altenpflege Anwendung.
Linie in verminderter Angst und einem gesteigerten
Wohlbefinden des Betroffenen. Aus diesem Grund ▌ Zentrale Konzepte fördernder Prozesspflege
kommt seiner subjektiven Bewertung große Bedeu- ▌ Person
tung zu. Beobachtungen und Einschätzungen der Das Konzept „Person“ umfasst einzelne Menschen,
Pflegeperson im Prozess können sich laut Friede- Familien und/oder familienähnliche Bezugssysteme.
4 mann im Sinne einer Reflexion korrigierend und/ Es ist eng verbunden mit den Konzepten Unabhän-
oder positiv verstärkend auf die Strategien des Be- gigkeit und Wohlbefinden.
troffenen auswirken (8).
Die systemische Pflege von Familien ist auf ein ▌ Umgebung
soziales System gerichtet und befasst sich mit Fami- Krohwinkel sieht den Menschen und die Umgebung
lienangehörigen als Subsystemen eines Interakti- als offene Systeme, die in einem Austausch mit-
onssystems. Friedemann geht davon aus, dass sich einander stehen und sich gegenseitig beeinflussen.
Inkongruenzen im Familiensystem negativ auf alle Zur Umgebung gehören sowohl andere Menschen
Familienmitglieder auswirken. Dies kommt vor und Lebewesen als auch Faktoren, die das Leben,
allem dann zum Tragen, wenn die bisherigen Hand- die Lebens- und Entwicklungsprozesse, Gesund-
lungen in den Prozessdimensionen zur Stabilisie- heits- und Krankheitsprozesse sowie Unabhängig-
rung des Familiensystems nicht mehr ausreichen, keit und Wohlbefinden eines Menschen in seinen
z. B. wenn die Pflege von Menschen im häuslichen ABEDLs beeinflussen.
Bereich durch Familienangehörige oder Bezugsper- Zu diesen Einflussfaktoren rechnet sie:
sonen durchgeführt werden soll. Pflegenden kommt ■ ökologische,
im Pflegeprozess hierbei die Aufgabe zu, störende ■ physikalische,
und gesundheitsfördernde Prozesse sowie Ressour- ■ materielle und
cen in gemeinsamen Gesprächen mit der Familie zu ■ gesellschaftliche und kulturelle Ressourcen und
identifizieren, eine systemische Betrachtung der Defizite.
Prozesse anzuregen und die Familie in der Wieder-
herstellung von Kongruenz zu beraten und zu unter- Auch Pflegepersonen werden als Teil der Umgebung
stützen. betrachtet.
Pflege- persönliche
bedürftige Bezugs-
4 Person person
Die Personen unterstützen Mit den Personen fördernd
und fördern beim… kommunizieren:
Lebenssituation, Gesundheits-,
Pflegesituation Krankheitssituation
und Entwicklung und Entwicklung
Abb. 4.22 Fördernde Prozesspflege-Rahmenmodell (aus: Krohwinkel, M., Fördernde Prozesspflege mit integrierten ABEDLS,
1. Auflage 2013; Textausschnitt: Konzept I–III S. 40, Konzept IV S. 42)
von dem jeweiligen Schwerpunkt der pflegerischen der Pflegenden selbst ermöglicht. Sie sind somit
Tätigkeit. auch ein Mittel, um ein gemeinsames Pflegever-
ständnis zu entwickeln.
Beispiel: Psychiatrische Pflegeeinrichtun- Im Rahmen der Professionalisierung der Pflege
gen arbeiten mit einer anderen Patienten- trägt die Theorieentwicklung auch in der deutschen
gruppe als z. B. Rehabilitationskliniken. Ers- Pflege dazu bei, die Pflege als wissenschaftliche Dis-
tere können eine Hilfestellung für ihre praktische Ar- ziplin zu entwickeln. Die Frage ist demzufolge nicht
beit evtl. am ehesten von einer Interaktionstheorie mehr „Werden Theorien in der Pflege gebraucht?“,
ableiten, während im rehabilitativen Bereich mögli- sondern vielmehr „Welche Theorien werden in der
cherweise eher eine Theorie geeignet ist, die sich mit Pflege gebraucht und mit welchen Methoden kön-
4
Defiziten und Fähigkeiten von Menschen beschäftigt. nen diese gewonnen werden?“.
Pflege ist eine praktische Disziplin, aber eben
Grundsätzlich ergeben sich aus der Entscheidung für nicht ausschließlich: Professionelles pflegerisches
eine bestimmte Pflegetheorie auch Anforderungen Handeln bedarf einer theoretischen Fundierung,
an organisatorische und personelle Rahmenbedin- damit es bewusst, begründbar, überprüfbar, sichtbar
gungen: Der Einsatz von Theorien, die die Interakti- und effizient sein kann. Theorien geben eine Orien-
on zwischen Pflegepersonen und Patienten in den tierung für pflegerisches Handeln und können ent-
Mittelpunkt stellen und ausgeprägte kommunikative scheidende Hilfen zur Bewältigung des pflegeri-
Fähigkeiten erfordern, machen eine spezielle Schu- schen Alltags geben.
lung dieser Kompetenzen bei den Mitarbeitern nötig Der Einbezug bzw. die Stärkung der Patienten-
und verlangen eine patientenorientierte Form der perspektive in Forschung und Theoriebildung und
pflegerischen Arbeitsorganisation (s. a. Kap. 8). die Berücksichtigung neuer Aspekte gesundheitli-
Theorien sind die Grundlage für das Erschließen cher Fragestellungen, u. a. die demografische Ent-
pflegerischen Wissens. wicklung, die Zunahme chronischer Erkrankungen
Die Entwicklung von Wissen und Theorien hat sowie Veränderungen der Patientenrolle in Richtung
jedoch nicht automatisch eine verbesserte Pfle- Selbstmanagement und Partizipation, werden ins-
gepraxis zur Folge. Entscheidend hierfür ist, dass besondere für die Theorieentwicklung in Deutsch-
das theoretische Wissen auch in die Praxis umge- land als zentral angesehen (Moers u. a. 2011).
setzt wird. Theorien müssen deshalb mit den Be- Neben dem Erschließen bislang durch Pflegewissen-
dürfnissen der Praxis in Einklang gebracht werden, schaft wenig durchdrungener Praxisfelder in der
damit sie in der Praxis anwendbar sind. Hierdurch Pflege und der Verbindung unterschiedlicher ge-
kann ein intensiver Prozess des Austauschs zwi- sundheits- und pflegewissenschaftlicher Theoriedis-
schen Theoretikern und in der Pflegepraxis tätigen kurse wird für die weitere Etablierung und Kon-
Pflegepersonen entstehen, der die professionelle turierung der Disziplin Pflegewissenschaft zudem
Kommunikation und das Entstehen einer professio- gefordert, vorliegende Erkenntnisse aus Einzelfor-
nellen Identität fördern und die oftmals beklagte schungsvorhaben z. B. im Rahmen von Metaanaly-
Kluft zwischen Theorie und Praxis überbrücken sen zu systematisieren und weiter zu entwickeln,
kann. um so eine induktive Theoriebildung voranzutrei-
Aber nicht nur der Dialog zwischen Theoretikern ben.
und in der Praxis tätigen Pflegepersonen wird über
die Auseinandersetzung mit Theorien gefördert:
Auch innerhalb von Pflegeteams bzw. Institutionen
des Gesundheitswesens können Pflegetheorien
einen Austausch über Zielsetzungen und Methoden
zur Zielerreichung anregen. Hierdurch wird der Ge-
genstand „Pflege“ klar umrissen, was sowohl eine
Klärung und Darstellung der pflegerischen Tätigkeit
nach „außen“, z. B. gegenüber Patienten oder Mit-
arbeitern anderer Berufe im Gesundheitswesen, als
auch nach „innen“, also innerhalb der Berufsgruppe
Fazit: Die Pflegeberufe in Deutschland be- Apoplexiekranken: Eine Studie zur Erfassung und Ent-
finden sich in einem Professionalisierungs- wicklung ganzheitlich-rehabilitierender Prozesspflege.
Nomos-Verlag, Baden-Baden, 1993
prozess. Der Pflegewissenschaft kommt im
Krohwinkel, M.: Fördernde Prozesspflege mit integrierten
Zusammenhang mit der Professionalisierung der Pfle-
ABEDLs. Hans Huber, Bern 2013
ge die Aufgabe zu, bestehendes Pflegewissen zu syste- Leininger, M. M.: Kulturelle Dimensionen menschlicher Pfle-
matisieren und neues Pflegewissen zu entwickeln. ge. Lambertus, Freiburg im Breisgau 1998
Eine wichtige Rolle spielen hierbei die Pflegeforschung Meleis, A. I.: Pflegetheorie. Gegenstand, Entwicklung und Per-
und die Theorieentwicklung. Die überwiegende Zahl spektiven des theoretischen Denkens in der Pflege. Hans
der vorliegenden Pflegetheorien ist im angloame- Huber, Bern 1999
4 rikanischen Raum entstanden, viele von ihnen auf de-
Moers, M., D. Schaeffer, W. Schnepp: Too busy to think? Essay
über die spärliche Theoriebildung der deutschen Pflege-
duktivem Weg und als globale Theorien. Da diese
wissenschaft. Pflege 6 (2011) 349-360.
nicht unmittelbar in die Praxis umgesetzt und nur Neuman, B.: Das System-Modell. Konzept und Anwendung in
schwer überprüft werden können, gewinnt die Ent- der Pflege. Lambertus, Freiburg im Breisgau 1998
wicklung von Theorien mittlerer Reichweite und Pra- Neuman-Ponesch, S.: Theorien und Modell der Pflege. 3. Aufl.
xistheorien zunehmend an Bedeutung. Facultas, Wien 2013
Pflegetheorien kommt die Aufgabe zu, das pflege- Orem, D. E.: Strukturkonzepte der Pflegepraxis. Dt. Ausg.
hrsg. von Gerd Bekel. Ullstein Mosby, Berlin 1997
rische Handeln auf eine begründbare theoretische
Orlando, I. J.: Die lebendige Beziehung zwischen Pflegenden
Basis zu stellen. Auch in der Pflege ist ein qualifizier- und Patienten. Verlag Hans Huber, Bern 1996
tes Arbeiten ohne theoretische Grundlagen nicht mög- Peplau, H.: Interpersonale Beziehungen in der Pflege. Ein
lich. Mit der Einrichtung pflegewissenschaftlicher Stu- konzeptueller Bezugsrahmen für eine psychodynamische
diengänge und pflegewissenschaftlicher Institute sind Pflege. RECOM-Verlag, Basel 1995
auch im deutschsprachigen Raum die Weichen für die Peplau, H.E.: Zwischenmenschliche Beziehungen in der Pfle-
ge. Ausgewählte Werke. 2. Aufl., Verlag Hans Huber, Bern
Entwicklung von Theorien für die Pflege gestellt.
2009
Rogers, M.: Theoretische Grundlagen der Pflege: Eine Einfüh-
rung. Lambertus, Freiburg im Breisgau 1995
Literatur: Roper, N. et al.: Das Roper-Logan-Tierney-Modell. 2. Aufl.
Hans Huber Verlag, Bern 2009
Brandenburg, H., S. Dorschner (Hrsg.): Pflegewissenschaft 1. Schaeffer, D., M. Moers, H. Steppe, A. Meleis (Hrsg.): Pflege-
Lehr- und Arbeitsbuch zur Einführung in das wissen- theorien.Beispiele aus den USA. 2. Aufl. Verlag Hans
schaftliche Denken in der Pflege. 3. Aufl. Hogrefe, Bern Huber, Bern 2008
2015 Schaeffer, D., K. Wingenfeld (Hrsg.): Handbuch Pflegewissen-
Chinn, P., M. Kramer: Pflegetheorie. Konzepte - Kontext - Kri- schaft. Studienausgabe. Beltz, Juventa, Weinheim und
tik. Ullstein Mosby, Berlin 1996 Basel 2014
Chinn, P., M. Kramer: Pflegewissen und Pflegewissensent- Schmidli-Bless, C., R. Ricka: Pflegetheorien – eine vergessene
wicklung. Huber, Bern 2017 Dimension? Rückblick und Reflexion zum Beitrag „Eine
Corbin, J. M., A. L. Strauss: Ein Pflegemodell zur Bewältigung professionelle Pflege braucht Krankenpflegetheorien“
chronischer Krankheiten. In: Woog, P. (Hrsg.): Chronisch (Pflege, 1989). Pflege 6 (2011) 389-390.
Kranke pflegen. Das Corbin-Strauss-Pflegemodell. Ullstein Schnepp, W.: Perspektiven der Pflegewissenschaft. Theorie-
Medical, Wiesbaden 1998, 1-30. bildung in einer Praxisdisziplin. Pflege 10 (1997) 96
Corbin, J. M., A. L. Strauss: Weiterleben lernen. Verlauf und Wagner, F., W. Schnepp (Hrsg.): Familiengesundheitspflege in
Bewältigung chronischer Krankheit. 3. Aufl. Huber, Bern Deutschland. Bestandsaufnahme und Beiträge zur Weiter-
2010 bildung und Praxis. Verlag Hans Huber, Bern 2011
Fawcett, J.: Spezifische Theorien der Pflege im Überblick. Ver- Watson, J.: Pflege: Wissenschaft und menschliche Zuwen-
lag Hans Huber, Bern 1999 dung. Verlag Hans Huber, Bern 1996
Fawcett, J.: Konzeptionelle Modelle der Pflege im Überblick, Weidner, F.: Was bedeutet Professionalisierung für die Pfle-
2. Aufl. Hans Huber, Bern 1998 geberufe? In: Sauter, D., Richter D. (Hrsg.): Experten für
Friedemann, M.-L., C. Köhlen: Familien- und umweltbezogene den Alltag. Psychiatrie-Verlag, Bonn 1999, S. 18 – 38
Pflege, 3. Aufl. Hans Huber, Bern 2010
Krohwinkel, M., Agnes Karll Institut für Pflegeforschung, BM
für Gesundheit (Hrsg.): Der Pflegeprozess am Beispiel von
Übersicht
Einleitung · 137
5.1 Historischer Exkurs · 138
5.2 Wissensquellen beruflicher Pflege · 138
5.3 Pflegewissenschaft: Begriffsbestimmung
und Gegenstandsbereich · 140
5.4 Pflegeforschung: Begriffsbestimmung und
5
Gegenstandsbereich · 141
5.4.1 Forschung auf der Mikro-Ebene · 142
5.4.2 Forschung auf der Meso-Ebene · 142
5.4.3 Forschung auf der Makro-Ebene · 143
5.5 Grundlagen der Empirischen Pflegeforschung:
Quantitativer und qualitativer Forschungs-
ansatz · 144
Einleitung
5.5.1 Quantitativer Forschungsansatz · 144
Gegenwärtige vollziehen sich in Europa bzw. der
5.5.2 Qualitativer Forschungsansatz · 145
gesamten „westlichen“ Welt viele Veränderungen:
5.6 Der Weg zum empirischen Wissen:
Durch einen Wandel der demografische Entwick-
Der Forschungsprozess · 148
lungen, also eine Verschiebung der Alterstruktur zu
5.6.1 Theoretische Phase · 148
Gunsten der alten und hochaltrigen Menschen, be-
5.6.2 Planungsphase · 150
dingt durch einen medizinisch-technischen Fort-
5.6.3 Durchführungsphase · 153
schritt, steigt die allgemeine Lebenserwartung,
5.6.4 Auswertungsphase · 153
aber auch der Anteil chronisch kranker Menschen.
5.6.5 Publikationsphase · 154
Gesellschaftliche Veränderungen wie Migration, der
5.7 Evidence Based Nursing – eine auf Forschung
starke Kostendruck im Gesundheitswesen aber auch
begründete Pflegepraxis · 155
die abnehmende familiäre Pflege zu Hause betrifft
5.8 Pflegeforschung – eine ethische Heraus-
die Pflege als Beruf in hohem Maße.
forderung · 156
Die Aufgaben sind vielfältig und komplex und
5.8.1 Grundsätze ethischen Vorgehens in der
haben sich im Laufe der Zeit gewandelt. Neben den
Pflegeforschung · 156
Anforderungen an die praktischen Pflegetätigkeiten
5.8.2 Ethikkommissionen und die Verantwortung
rücken dabei stärker als bisher Aspekte der Gesund-
des Einzelnen · 157
heitsförderung, Prävention und Rehabilitation auch
Literatur · 158
im Sinne der Beratungs-, Koordinations- und Pla-
nungsaufgaben für Betroffene und deren familiäres
Schlüsselbegriffe
Umfeld in den Vordergrund.
▶ Forschungsansatz Den Pflegenden, die die zahlenmäßig größte Be-
▶ Forschungsanwendung rufsgruppe im Gesundheitswesen darstellen, kommt
▶ Forschungsdesign im Rahmen dieses Wandels eine bedeutende Rolle
▶ Forschungsprozess zu, die sie mit anspruchsvollen Aufgaben und ver-
▶ Pflegeforschung änderten Bedingungen konfrontiert. In dieser neuen
Situation mit ihren noch unbekannten Folgen und
Begleiterscheinungen ist Forschung auf dem Gebiet
der Pflege besonders wichtig, um Maßnahmen zu
entwickeln, die eine wirkungsvolle Gesundheitsver-
sorgung gewährleisten. Denn nur so ist es möglich,
Fakten anstelle von Vermutungen zur Grundlage für gekraft in fast allen Ländern ausschließlich (oder
das Pflegehandeln und zum Ausgangspunkt für ge- zumindest zusätzlich) auf tertiärer Ebene, also im
sundheitspolitische Entscheidungen zu machen hochschulischen System stattfindet.
(Görres 1996).
sich aufbauenden Erfahrungsschatzes selbständige zu lösen. Logik kann als die Lehre des (schlüssigen)
und kompetente Entscheidungen getroffen werden Denkens bezeichnet werden. Mittels logischen Den-
können. So lassen sich manche Tätigkeiten in der kens können eine Vielzahl von praktischen Proble-
Pflege zwar theoretisch vermitteln, ohne „Handanle- men gelöst und Aufschluss über pflegspezifische
gen“ lassen sie sich aber nur schwer erlernen, wie Sachverhalte erzielt werden. Grundsätzlich lassen
beispielsweise das Vorbereiten und Verabreichen sich zwei Denkmechanismen unterscheiden: Induk-
von Injektionen oder das Handeln in einer für den tives Denken - vom Besonderen zum Allgemeinen
Patienten akuten bzw. lebensbedrohlichen Situation. und Deduktives Denken - vom Allgemeinen zum
Je mehr Erfahrung man auf einem speziellen Gebiet Besonderen. Beide Regelwerke, induktives und de-
erwirbt, desto mehr Übereinstimmungen und Regel- duktives Denken spielen in der Wissensgewinnung
mäßigkeiten lassen sich erkennen und desto mehr in der Pflege eine große Rolle, verkörpern sie doch
Verallgemeinerungen für einen persönlich daraus zwei (gegensätzliche) Positionen im Rahmen der 5
ableiten. Erfahrung als Wissensquelle hat aber auch Forschung. Für sich genommen ist das logische Den-
ihre Grenze. Weil Erfahrungen stets nur von einem ken als Wissensquelle nur bedingt nutzbar, weil
selbst, also subjektiv gemacht werden, können sie seine Zuverlässigkeit und Genauigkeit eingeschränkt
fehler- oder vorurteilsbehaftet sein, was letztlich und vom Informationsstand der Person abhängt ist.
die klinische Entscheidungsfindung beeinflussen
kann. Regelgeleitete Forschung: Der Wissenserwerb mit-
tels regelgeleiteter Forschung ist der anspruchvollste
Versuch und Irrtum (trial and error): Dies stellen eine aber auch hinsichtlich der Genauigkeit der Ergebnis-
Form von Wissen dar, bei dem solange nach einer se der zuverlässigste Pfad zu Wissen. Regelgeleitete
Lösung des Problems gesucht wird, bis diese gefun- Forschung baut auf logischem Denken auf und er-
den wird und sich ein gewünschter Effekt einstellt. möglicht es, traditionelles Handeln, persönliche Er-
Unerwünschte oder auch fehlerhafte Durchgänge fahrungen, Aussagen von Autoritäten aber auch lo-
werden häufig in Kauf genommen. Dies ist eine legi- gisches Denken selbst einer genauen Prüfung zu un-
time Methode, wenn sie von kranken oder pflegebe- terziehen, zu beweisen oder zu widerlegen (Mayer
dürftigen Menschen selbst eingesetzt wird. Als Wis- 2014). Regelgeleitete Forschung ist der häufigste
sensquelle für professionelle Pflege ist es nicht zuletzt Weg des Erkenntnisgewinns in der Wissenschaft.
aufgrund der ethischen Implikationen sehr fragwür- Sie bedient sich systematischer Vorgehensweisen,
dig. wodurch deren (Forschungs-) Ergebnisse für andere
Personen überprüfbar und nachvollziehbar sind.
Intuition: Sie begründet sich auf einer Art von tief Wenn man eine Gesamtschau auf die ausgeführ-
verinnerlichtem Wissen, das auf unbewusstem ten Wissensquellen vornimmt, so lassen sich diese
Wege zustande kommt. Dadurch lässt die Intuition im Wesentlichen in zwei Arten unterteilen (Mayer
sich schwer logisch fassen oder erklären. Intuition 2014). Dies sind zum einen die unstrukturierten
lässt sich nicht als Resultat eines vorangegangen Wissensquellen (Intuition, Erfahrung, Versuch und
Denkprozesses oder Lernen definieren sondern Irrtum, Autorität) und zum anderen die strukturier-
eher als etwas „das einem der Bauch sagt.“ Pfleg- ten Wissensquellen (Logisches Denken, Regelgeleite-
kräfte mit langer Berufserfahrung „wissen“ häufig te Forschung). Unstrukturiert und strukturiert stel-
intuitiv voraus, wann ein Patient in eine gesundheit- len keine Hierarchisierung hinsichtlich ihrer Bedeu-
liche Krise zu schlittern droht und wann Handlung tung für den Erwerb von Wissen dar sondern viel-
geboten ist. mehr nur den Erkenntnisweg, auf dem Wissen ge-
Intuition als Wissensquelle hat, so wichtig sie für wonnen wird. Alle Wissensquellen sind Bestandteil
die Ausübung des Pflegeberufs ist, auch ihre Grenze, des menschlichen Wissens. Auch aus dem Bereich
da dieses Wissen nicht beliebig abrufbar oder auch der Pflege sind sie nicht wegzudenken. Sie bedürfen
vermittelbar ist. aber einer gründlichen Reflexion vor allem im Hin-
blick auf ihre Reichweite und Grenzen.
Logisches Denken: Denken beschreibt ein aktives Pflegerisches Handeln baut auf vielfältigen Wis-
mentales Auseinandersetzen mit einem bestimmten sensquellen auf, die den Pflegenden zum Teil be-
Sachverhalt mit dem Ziel, ein bestimmtes Problem wusst sind, zum Teil aber unbewusst das Tun leiten.
Strukturierte und unstrukturierte Wissensquellen che Grundlage der als Beruf ausgeübten Praxisdiszip-
bilden die Grundlage des Handelns in der Pflege. lin Pflege beschrieben werden die, ausgehend davon,
Da dieses Kapitel sich in weiterer Folge nur einer womit sich Pflege auseinandersetzt, Erkenntnisse be-
dieser Wissensquellen zuwendet, nämlich dem em- reitstellt, auf deren Grundlagen die Pflegepraxis ver-
pirischen Wissen bzw. der Forschung, ist es wichtig, bessert oder unterstützt werden kann. Oder kurz ge-
zu Beginn darauf hinzuweisen, dass empirisches sagt: Pflegewissenschaft ist die Wissenschaft vom
Wissen einen wichtigen, aber eben nur einen Teil Phänomen Pflege (Dassen und Buist 1994).
der größeren Gesamtheit des pflegerischen Wissens Die Beschreibung des Gegenstandsbereichs Pfle-
bildet, das uns handlungsfähig macht. Peggy Chinn ge basiert also auf dem, was professionelle Pflege
und Maeona Kramer beschreiben in ihrem Buch ausmacht. Ausgehend davon kann man sagen, dass
„Pflegetheorien: Kontext – Konzepte – Kritik“ vier im Mittelpunkt des erkenntnisleitenden Interesses
5 Bereiche, die in ihrem Zusammenspiel das Handeln der Pflegewissenschaft insbesondere
von Pflegenden leiten. Diese sind: ■ der gesunde und der kranke Mensch bzw. der
■ Intuition (die „Kunst der Pflege“) Mensch in besonderen Lebenssituationen in sei-
■ persönliches Wissen (Erfahrung) nem Lebensumfeld,
■ Empirie (der wissenschaftliche, abgesicherte Be- ■ Interaktionen zwischen Pflegeempfängern und
reich) Pflegenden sowie zwischen Pflegenden und
■ Ethik (die moralische Komponente der Pflege) dem Kontext (der Umwelt) und
■ das pflegerische Handeln selbst stehen.
Diese vier Bereiche stehen untereinander in Bezie-
hung. Nur durch ihr Zusammenspiel entsteht jenes Gegenstand der Pflegewissenschaft sind einerseits
Wissen, das die Grundlage des pflegerischen Han- die Auswirkungen von Krankheit, Behinderung und
delns bildet. Denn „jede der Wissensgrundlagen ist Gebrechen auf die Alltagsgestaltung. Andererseits
bedeutsam. Jede ist ein deutlich abgegrenzter As- beschäftigt sich Pflegewissenschaft mit der Wirk-
pekt des Ganzen und leistet ihren Beitrag zur Ge- weise pflegerischer Interventionen und fragt nach
samtheit des Wissens.“ (Chinn/Kramer 1996) den Einflussfaktoren und Kontextbedingungen „gu-
Das Pflegewissen wird auch aus dem Wissen an- ter“ Pflege (Mayer 2014).
derer Disziplinen gespeist, wie z. B. aus der Medizin, Von pflegetheoretischer Seite wird der Gegen-
der Psychologie oder der Pädagogik. standsbereich der Pflege und somit der Pflegewis-
senschaft anhand sogenannter Schlüsselkonzepte
beschrieben. Schlüsselkonzepte sind zentrale, in-
haltlich grundlegende Begriffe der Pflege. Sie sind
5.3 Pflegewissenschaft: Resultat der vom angloamerikanischen Raum in
Begriffsbestimmung und den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ausgehenden
Gegenstandsbereich Theoriedebatte in der Pflege.
Ausgehend von diesen pflegetheoretischen
Das, was jede (Einzel-)Wissenschaft inhaltlich aus- Schlüsselbegriffen und den verschiedenen Berei-
macht, wodurch sie sich inhaltlich definiert und chen, die den Gegenstand der Pflegewissenschaft
von anderen Einzelwissenschaften abgrenzt, das ist ausmachen, fasst Stefan Görres diese Diskussion zu-
ihr Gegenstand oder ihr Interessenbereich, ihre „area sammen indem der den Gegenstand der Pflegewis-
of concern“. Z. B. ist die menschliche Psyche der Ge- senschaft mithilfe von vier Begriffen umschreibt.
genstand der Psychologie, all die Krankheiten und Diese sind den Bereichen von Kim sehr ähnlich –
Beeinträchtigungen, die am menschlichen Körper werden nur etwas anders formuliert und daher
auftreten, sind der Gegenstand der Medizin, und hier als eine Alternative, den Gegenstand der Pfle-
der Gegenstand der Pflegewissenschaft ist die Pflege. gewissenschaft zu beschreiben, dargestellt. Sie lau-
Um Pflegewissenschaft begrifflich fassen zu kön- ten:
nen, ist es notwendig sich anzusehen, was ihr Interes- ■ Person
sensbereich ist, womit sie sich beschäftigt. Dies kann ■ Umwelt
wiederum nur erfolgen, wenn man sich das Hand- ■ Wohlbefinden
lungsfeld der Pflege selbst ansieht. Ganz allgemein ■ pflegerisches Handeln
kann Pflegewissenschaft deshalb als wissenschaftli-
Person
Das zentrale Interesse der Pflege gilt der Person und Schlüsselbegriffe des Gegenstandsbereichs der
Pflegewissenschaft:
ihrer Biografie. In der Regel ist diese Person der
Person – Wohlbefinden – Umwelt – pflegerisches
pflegebedürftige Mensch. Hat man aber die Wech- Handeln
selbeziehung, den Austausch zwischen den Men-
schen (die Interaktion) im Auge, ist auch die pfle-
gende Person mit eingeschlossen. Person Umwelt
Umwelt
Wohlbefinden
Unter Umwelt versteht man hier das physische, psy-
chische, soziale und ökologische Milieu. Die Umwelt Krankheit Gesundheit
Wohlbefinden
5.4 Pflegeforschung:
Wohlbefinden (als erweiterter Begriff für Gesund-
heit) und Krankheit werden als dynamischer Prozess
Begriffsbestimmung und
definiert und nicht als Zustand angesehen. Die wich- Gegenstandsbereich
tigste Aufgabe der Pflegenden ist es, Wohlbefinden
zu erhalten oder ein verändertes Wohlbefinden in Definition: Pflegeforschung ist die systemati-
die Lebensgestaltung der Patientin zu integrieren. sche Untersuchung zur Entwicklung von Wis-
sen über Themen, die für die Ausübung von
Pflegerisches Handeln Pflege von Bedeutung sind.
Das pflegerische Handeln verbindet alle drei Begriffe
miteinander: Es geht von den Bedürfnissen bzw. der Pflegeforschung
veränderten Lebenssituation und von den Kom- ■ ist Forschung auf dem Gebiet des Gesundheits-
petenzen (Fähigkeiten) des pflegebedürftigen Men- wesens auf dem Pflegende den größten Teil der
schen aus. Die Pflegesituation wird als Interaktions- Verantwortung selbst tragen
prozess zwischen Pflegebedürftigem und Pflegeper- ■ bedeutet die Entwicklung von pflegerischem Fach-
son in bestimmten Situationen verstanden. Die zen- wissen
tralen Anliegen dabei sind es, die Fähigkeit des Pa- ■ will das Wissen vermehren, das Pflegende brau-
tienten zu selbstständigem Handeln (Handlungs- chen um effektiv zu wirken (Mayer 2014, S. 34)
kompetenz) wiederherzustellen, ihn bei der Erhal-
tung dieser Fähigkeit zu unterstützen und die Pflegeforschung richtet ihren Fokus also auf einen
Selbstpflege und alltäglichen Fertigkeiten (Alltags- bestimmten Teil des Gesundheitswesens, dort wo
kompetenzen) zu fördern. pflegerisches Handeln zum Tragen kommt. D. h. die
Fragen, die die Pflegeforschung an diesen Gegen-
stand richtet, sind in erster Linie für die Pflege rele-
vant und unterscheiden sich daher grundlegend von
den Fragen anderer Wissenschaften. Z. B. sind Ent-
zündungen im Bereich der Mundschleimhaut als
Nebenwirkung von Chemotherapie ein Problem,
mit dem sich sowohl die Pflegewissenschaft als
auch die Medizin beschäftigen kann. Während die
Medizin (bzw. die Pharmakologie) jedoch beispiels- beobachtet werden kann, kann in drei „Domänen“
weise danach fragen würde, wie ein Chemothera- (Bereiche) unterteilt werden:
peutikum zusammengesetzt sein muss, um weniger
Nebenwirkungen hervorzurufen oder welches ande- Praxisdomäne: Wenn man sich das praktische Han-
re Chemotherapeutikum man ebenfalls anwenden deln der Pflege vor Augen hält, so sind dies Fragen,
könnte, fragt die Pflegewissenschaft danach, welche die sich rund um den Pflegeprozess gruppieren las-
prophylaktischen Pflegemaßnahmen der beste sen. Überprüfung von pflegerischen Assessment-
Schutz vor möglichen Nebenwirkungen sind. Es ist instrumenten aber auch Untersuchungen über Effek-
also nicht der Gegenstand an sich, sondern es sind tivität und Indikationen von unmittelbaren Pfle-
die Forschungsfragen, die Forschung zur Pflegefor- gehandlungen oder pflegerischen Methoden, also
schung machen. Pflegewissenschaftlich ausgerichte- auch jener Teil der Forschung der sich mit „Evidence
5 te Forschungsfragen richten sich nach der Verant- Based Nursing“ beschäftigt. Und es ist auch jener
wortlichkeit, den Aufgaben und den Handlungsmög- Bereich, in dem Grenzen pflegerischen Handelns
lichkeiten der Pflegenden. durch ethische Anforderungen beforscht werden.
Ein weiteres zentrales Element ist die Wissens-
vermehrung, die auf ein ganz bestimmtes Hand- Klienten-Pflegende Domäne: Forschung in diesem
lungsfeld, das der Pflege, ausgerichtet ist: Vermehrt Bereich beschäftigt sich mit Beziehungsarbeit im
wird jenes Wissen, mit dem man die Pflege der Pa- Rahmen der Pflege bzw. der Kommunikation und
tienten besser und effektiver gestalten kann. Pflege- Interaktion zwischen Patienten und Pflegenden,
forschung hat also das Ziel, das Pflegewissen zu ver- auch unter starker Bezugnahme auf familiäre Be-
mehren oder, anders ausgedrückt, pflegerisches zugspersonen von pflegebedürftige Menschen (z. B.
Fachwissen zu entwickeln (Käppeli 1994). Interaktion in der häuslichen Pflege)
Pflegeforschung ist das Instrument der Pflege-
wissenschaft, um Klienten Domäne: Dieser Forschungsbereich be-
■ Theorien zu überprüfen; schäftigt sich mit der Perspektive der gepflegten
■ Grundlagen für die Entwicklung neuer Theorien Person. Wie etwa bestimmte Pflegehandlungen
zu liefern und wahrgenommen werden oder was es aus ihrem
■ Fragestellungen aus der Praxis aufzugreifen und Blickwinkel bedeutet, in einer bestimmten Einrich-
zu beantworten (Mayer 2014). tung wie einem Krankenhaus oder Pflegeheim zu
sein, oder was es ganz generell heißt, pflegebedürf-
Da der Gegenstand der Pflegewissenschaft sich auf tig zu sein.
alle Phänomene rund um „Pflege“ bezieht, ist er ein
sehr breiter. Es ist daher sinnvoll, das Forschungs- 5.4.2 Forschung auf der Meso-Ebene
gebiet zu strukturieren, um es überschaubar zu Auf dieser Ebene wird Pflegeforschung betrieben,
machen. Es gibt mehrere Möglichkeiten, Pflegefor- die mit Pflege als Organisationsform bzw. mit Pfle-
schung zu unterteilen. Sabine Bartholomeyczik ge, die von komplexen Strukturen der Arbeitsorga-
(2000) teilt die Pflegeforschung, aufbauend auf ein nisation der Pflege beeinflusst ist, zu tun hat.
Schema, das 1996 von der Robert Bosch Stiftung in
einer Denkschrift über die Pflege vorgelegt wurde, Klientenorientierte Organisationsformen: Hier kön-
in folgende fünf Bereiche ein. nen Fragen des Ablaufs der Arbeitsorganisation in-
nerhalb einer Institution (z. B. Vorteile der Bezugs-
5.4.1 Forschung auf der Mikro-Ebene pflege) oder zwischen verschiedenen Institutionen
Dies ist die Ebene der Pflegepraxis und gleichzeitig (z. B. Überleitungspflege zwischen Krankenhaus
derjenige Bereich, dem die größte Bedeutung zu- und Zuhause) im Vordergrund stehen.
kommt. Dieser Bereich wird auch als klinische Pfle-
geforschung bezeichnet. Klinisch nicht definiert im Qualitätsmanagement: Bezogen auf einen umschrie-
Sinne von Klinik oder Krankenhaus, sondern im benen Bereich (z. B. Abteilung) oder aber auf eine
Sinne von direktem Handeln an dem Patienten gesamte Einrichtung. Die Qualitätsfrage wird beson-
oder auch seinen Bezugspersonen. Die Mikroebene, ders häufig im Blickfeld von organisatorischen oder
also die Ebene wo direktes Handeln von Personen ökonomischen Veränderungen gestellt.
Arbeitsbedingungen in der Pflege: Dieser Aspekt be- Gesellschaftliche Strukturen Pflegerischer Versor-
schäftigt sich mit Arbeitsbedingungen, -zufrieden- gung: Hier geht es beispielsweise um Fragen der
heit oder -belastungen im Rahmen der pflegeri- pflegerischen Berufspolitik aber auch um Fragen
schen Arbeit in einem spezifischen Setting (Kran- der allgemeinen Berufsmotivation, um lokale und
kenhaus, Pflegeheim, ambulante Pflege) länderübergreifend Qualifikationsstruktur von Pfle-
genden oder um Fragen der Versorgungsforschung
5.4.3 Forschung auf der Makro-Ebene im oder an den Schnittstellen des Gesundheitssys-
Die Makro-Ebene ist die „oberste“ oder die abstrak- tems.
teste Forschungsebene, die gleichzeitig am wenigsten
mit direktem Handeln zu tun. Obwohl sie nicht direkt Epidemiologie von Pflegebedürftigkeit: Hier geht es
mit der Pflege selbst zu tun hat, ist sie wichtig, da es um die Erfassung, Häufigkeit und zeitliche Entwick-
um Berufspolitik im weitesten Sinne geht und deren lung bestimmter Pflegephänomene (z. B. Sturz, post- 5
Forschungsthemen- und Ergebnisse auf strategische operative Verwirrtheit, Inkontinenz, Pflegebelastung
Planungen und Entscheidungen in der Pflege und in etc.) und deren Auswirkung auf die pflegerische
der Gesundheitspolitik hinzielen. Versorgung bezogen auf eine bestimmte Region, be-
Mikro-Ebene Praxis-Bereich ● Prophylaxe und Therapie des Dekubitus durch Auflagedruckmessungen auf
(Pflegepraxis) verschiedenen Weichlagerungs- und Wechseldrucksystemen
● Die prädiktive Validität der originalen und erweiterten Norton-Skala in der
Altenpflege.
Meso-Ebene Klientenorientierte Organisations- ● Entlassungsmanagement: Die Sicht der Patienten und deren Angehörige.
(Pflege als Orga- formen ● Die Rolle von Primary Nursing in der Hauskrankenpflege.
nisation und In-
stitution) Qualitätsmanagement ● Verbesserung der Dokumentationsqualität durch standardisierte EDV-Do-
kumentation am Krankenbett.
● Der Einfluss von ethischen Fallbesprechungen auf die Struktur- und Pro-
zessqualität im Pflegeheim.
Makro-Ebene Gesellschaftliche Strukturen pflege- ● Auswirkung der Pflegeversicherung auf die Situation pflegender Angehöri-
(Pflegepolitik) rischer Versorgung ger.
● Rahmenbedingung für die Einführung der Family-Health Nurse in der pfle-
gerischen Versorgung.
Epidemiologie der Pflegebedürftig- ● Die Bedeutung von Sturzprävalenz und der Einfluss auf die stationäre
keit Krankhauseinweisung
● Die Auswirkung steigender Zahlen demenzkranker Menschen auf den zu-
künftigen Bedarf an Pflegepersonen in der ambulanten Pflege
stimmtes Setting oder für eine bestimmte Gruppe überprüft werden, sie sind objektiv. Das heißt, im
von Menschen. quantitativen Forschungsansatz gibt es eine objekti-
ve Wahrheit, die messbar und überprüfbar ist. Ihr
Historische Pflegeforschung: Sie beschäftigt sich mit Ansatz ist deduktiv, was meint sie geht von einer
den Ursprüngen der Pflege und zeichnet deren Ent- Theorie aus, die im Anschluss daran überprüft
wicklung bis zur Neuzeit nach. Sie legt ihr Augen- wird. Von den gewonnen Daten werden Gesetz-
merk auf zeitlich signifikante Epochen der Pflege mäßigkeiten abgeleitet, die dem Anspruch auf Über-
wie beispielsweise der Pflege im Nationalsozialis- tragbarkeit und Allgemeingültigkeit haben.
mus. Historische Pflegeforschung ist mehr eine Quantitative Forschung (Exaktheit der Daten) im
„Querschnittsmaterie“ da sie Fragestellungen auf Sinne der Objektivierbarkeit bedient sich For-
allen Ebenen bereithält. schungsmethoden, die in der Naturwissenschaft ge-
5 bräuchlich sind. Die Daten werden mittels standar-
disierten Verfahren, z. B. biophysische Messungen,
5.5 Grundlagen der Empirischen Fragebögen oder Skalen erhoben. Sie werden mittels
statistischer Methoden ausgewertet und meistens
Pflegeforschung: numerisch, also in Zahlen, dargestellt. Vor einer Un-
Quantitativer und qualitativer tersuchung wird ein genauer Untersuchungsplan er-
Forschungsansatz stellt, in der der Untersuchungsgegenstand eine ge-
naue Abfolge von Handlungen durchläuft. Im Laufe
Forschung schwebt nicht im luftleeren Raum, sie der Forschung werden Daten gesammelt, die einen
geschieht immer in einem bestimmten wissen- empirischen Nachweis über den gewünschten Sach-
schaftlichen Kontext. Die Wissenschaftstheorie ist verhalt ergeben, welche die Wirklichkeit genau wie-
dieser Kontext – also die Frage danach, wie wissen- dergeben.
schaftliche Erkenntnis entsteht. Die Methodologie Folgende Grundprinzipien sind für die quantita-
(umgangssprachlich auch Methode), die hinter tive Forschung charakteristisch:
einer Forschungsarbeit steht ist der Anwendungsfall ■ naturwissenschaftliche Position
verschiedener wissenschaftstheoretischer Positio- ■ deduktiv: vom Allgemeinen zum Besonderen
nen. Quantitative und qualitative Forschung sind ■ erklärend: Ermittlung von Mustern, Gesetz-
nun verschiedene Wege, um zu wissenschaftlichen mäßigkeiten
Erkenntnissen zu kommen, die eine bestimmte wis- ■ theorieprüfend
senschaftstheoretische Position repräsentieren. ■ nomothetisch: Gesetzmäßigkeiten für ein be-
Ihre Unterschiede liegen nicht nur in der Form stimmtes Phänomen
der Datenerhebung und Auswertung sondern sie ■ objektiv
stellen zwei ganz unterschiedliche Denkmuster dar. ■ prädeterminiert: Es wird nur das erhoben, was
In beiden Ansätzen geht es um unterschiedliche vorher theoretisch festgelegt wurde
Vorstellungen davon, auf welchem Wege die Wahr- ■ „harte“ numerisch Daten
heit entsteht, bzw. wie Forschung Wirklichkeit ab- ■ hohe Fallzahlen
bilden kann.
rativen Interventionen liegen vor, die Auswirkung kin- 5.5.2 Qualitativer Forschungsansatz
ästhetisch begründeter Bewegungsschulung wurde je- Die qualitative Forschung geht von der Ganzheitlich-
doch bislang nicht empirisch untersucht. Haasenritter keit des Mensche aus. Der Mensch wird als komple-
et al. (2009) wollten dies nun testen. Sie formulierten xes Wesen betrachtet, dessen Einstellungen und
dazu folgende Forschungsfrage: „Welche Auswirkung Handlungen nicht im luftleeren Raum sondern in
hat eine präoperative Bewegungsschulung auf Mobili- einem bestimmten Zusammenhang existieren.
tät, bewegungsabhängige Schmerzen und postoperati- Diese beruhen auf Erfahren und sind von der ihn
ve Verweildauer von Patientinnen nach medianer Lapa-
umgebenden Umwelt geprägt. Jeder Mensch nimmt
rotomie?“ Bei der Untersuchung wurden zwei Gruppen
Dinge deshalb anders wahr und interpretiert sie und
von Patientinnen mit geplanter laparotomischer Zyst-
handelt anders, weil jeder Mensch einen anderen
ektomie miteinander verglichen. Die Patientinnen der
Hintergrund hat. Aufgrund dieser Komplexität, die
Interventionsgruppe erhielten am Tag vor der Operati-
on eine ca. 30-minütige Schulung für das postoperative
dem Menschen inne wohnt, gibt es in der qualitati- 5
ven Forschung keine objektive Wahrheit. Die quali-
Mobilisationsverhalten, unterstützt durch eine schriftli-
tative Forschung will Phänomene aus der subjekti-
che Broschüre, sowie zusätzlich einen weiteren Besuch
einer geschulten Pflegekraft am Abend desselben Ta- ven Perspektive der Betroffenen erfassen und be-
ges, um mögliche Fragen zu klären. Die Kontrollgruppe greifen. Sie will herausfinden, welche Bedeutungen
erhielt wie bisher üblich eine schriftliche Information, die Menschen gewissen Handlungen zuschreiben
die den Patientinnen aktive Bewegungsübungen im und den Mensch als komplexes Wesen möglichst
Rahmen der Thromboseprophylaxe erläuterte. Die Mes- ganzheitlich verstehen. Der qualitative Forschungs-
sung der Mobilität und der Schmerzintensität erfolgte ansatz beruht auf folgenden Prämissen (Burns und
bei beiden Gruppen postoperativ zweimal pro Tag mit- Grove 2005):
tels standardisierter Tests (Mobilitätstest MOPTA und ■ Es gibt nicht nur eine Realität oder Wahrheit
visuelle Analog-Skala [VAS] zur Schmerzerfassung). Die ■ Realität, die auf der Wahrnehmung der einzelnen
Ergebnisse wurden hinsichtlich möglicher Unterschiede Person aufgebaut ist, wird von jeder Person an-
statistisch ausgewertet. Die gestellte Forschungsfrage ders wahrgenommen und unterliegt einer zeitli-
erfordert ein quantitatives Vorgehen. chen Veränderung
Die Arbeit weist alle Kennzeichen einer quantitativen ■ Was wir über ein Phänomen wissen, besitzt nur
Studie auf: in einer bestimmten Situation, in einem be-
■ Sie ist theorieprüfend und deduktiv: Die Grund- stimmten Zusammenhang Gültigkeit.
annahme war, dass Okklussionsverbände aufgrund
ihrer längeren Verweildauer auf der Wunde zu ge-
Beispiel: Qualitative Studien untersuchen
ringeren Kosten der ambulanten Pflege führen
die Tiefe, Reichweite und Komplexität, die
■ Es wird nur das erhoben, was vorher festgelegt
einem Phänomen innewohnt. Sie führen
wird: Wundheilung, Kosten.
dazu, dass ein bestimmtes Phänomen in einer be-
■ Sie untersucht eine spezielle Intervention (Gaze vs.
stimmten Situation besser verstanden wird. Eine Ver-
Okklussionsverband).
allgemeinerung im Sinne einer Übertragung auf eine
■ Es werden standardisierte Messverfahren eingesetzt
(Skalen zur tgl. Beurteilung der Wunde, Kostenrech- Grundgesamtheit kann aber nicht vorgenommen wer-
nung). den.
■ Die Ergebnisse werden statistisch erfasst und in
Zahlen dargestellt. Der qualitative Forschungsansatz ist dem interpreta-
tiven Paradigma zuzuordnen. Das bedeutet, dass
wenn man Handlungen von Personen erklären will,
berücksichtigt werden muss, wie die handelnde Per-
son ihre Handlung interpretiert. Es geht um ein tie-
fes Verstehen und die Suche nach subjektiven Be-
deutungen. Wirklichkeit entsteht daher nicht durch
objektive Beobachtungen, sondern ist durch das
subjektive Erleben bedingt und daher als Konstruk-
tion verstanden.
Folgende Grundprinzipien sind für die qualitative kulturelle Faktoren sowie die besondere Rolle Pflege im
Forschung charakteristisch öffentlichen Gesundheitsbereich zur Vermittlung von
■ geisteswissenschaftliche Position Wissen an Betroffenen und deren Angehörigen.
■ induktiv: Vom Besonderen zum Allgemeinen Das Ziel dieser Arbeit lag darin, ein möglichst tiefes
■ verstehend: Soziales Handeln in einem bestimm- Verständnis von einer Situation zu erhalten, von der
ten Zusammenhang vestehen wenig bekannt ist. Nur wenige Forscher hatten sich
■ theoriebildend bisher speziell mit diesem Thema auseinandergesetzt.
Die Forschungsfrage war offen und induktiv formuliert.
■ ideografisch: Beschreibende Untersuchung von
Die Untersuchungsteilnehmer wurden nicht durch Zu-
Individualität
fall sondern konkret anhand spezieller Merkmale aus-
■ subjektiv
gewählt. Vielleicht hätte man nach den Prinzipien der
■ offen und flexibel (in Hinblick auf den Unter-
quantitativen Forschung auch einen Fragebogen mit
5 suchungsgegenstand, die Theoriebildung und
Fragen aus der allgemeinen Gesundheitsvorsorge oder
der verwendeten Forschungsmethode)
im Zusammenhang mit anderen Krebsarten entwickeln
■ „weiche“, kommunikativ erzeugte Daten
können. Aber hätte man dann alle Kriterien, die das
■ niedrigere Fallzahlen spezifische Problem Lungekrebs betreffen, in dem Um-
fang erfassen können?
Beispiel
Ein Beispiel zum Thema Früherkennung von Lungen-
krebs (Tod et al. 2008)
Tab. 5.2 zeigt in einer Gegenüberstellung wesentli-
Lungenkrebs ist eine hochmaligne und aggressive Tu-
che Merkmale und Unterschiede des quantitativen
morart und in der westlichen Welt etwa für 5 % der
und qualitativen Forschungsansatzes
Todesfälle verantwortlich. Für einen großen Teil der Be-
troffenen ist der Tumor inoperabel, weil er zu spät di-
▌ Wahl des richtigen Forschungsansatzes
agnostiziert wird. Dabei spielt Früherkennung eine we-
Die Wahl des richtigen Forschungsansatzes, ob quan-
sentliche Rolle. Die Gesundheitsberufler sagen sich: Es
titativ oder qualitativ hängt nicht nur von methodo-
begeben sich viele Menschen erst sehr spät in Behand-
lung, obwohl viele schon Symptome haben die ihnen
logischen Überlegungen ab. Aufgrund der Nähe zur
sagen, dass irgendetwas nicht mit ihnen nicht stimmt. Medizin mit ihrer naturwissenschaftlich ausgerich-
Was liegt hier vor? teten Forschungstradition wurde in der Pflege häu-
Um das vorliegende Problem möglichst umfangreich zu figer dem quantitativen Ansatz nachgekommen.
erfassen, wurde entschieden, dort zu beginnen, wo das Auch nicht zuletzt dadurch, dass quantitative For-
vermeidliche Problem liegt, bei den Betroffenen. So schung in der Öffentlichkeit eine bessere Reputation
wurden 20 Personen, die an Lungenkrebs leiden, inner- genießt, sind es auch manchmal gewisse Zwänge ge-
halb des Zeitraums eines halben Jahres in ausführlichen genüber Studien-Auftraggebern, warum man Zahlen
Interviews befragt, was die Gründe dafür sind, dass sie aufgrund ihrer Überzeugungskraft sprechen lässt. Es
so lange warteten, bis sie sich trotz ihrer Symptome in ist wie schon erwähnt, häufig die Anhängerschaft
Behandlung begaben? der einen oder der anderen Forschungstradition,
Die Personen wurden interviewt, das Gesagte auf Ton- die einer bestimmten Methode den Vorzug gibt.
band aufgezeichnet und wortwörtlich transkribiert. Das Bei der Entscheidung welcher Forschungsansatz
Gesagte, das nun in schriftlicher Form vorlag, wurde für eine Forschung gewählt wird, ist es wichtig, dass
nach Themen und in Kategorien geordnet, welche Ein- sie dem Wesen des Problems und dem aktuellen
flussfaktoren für diese Verzögerung ausschlaggebend
Kenntnisstand des zu bearbeitenden Themas ge-
sind.
recht wird. Dabei gilt zu berücksichtigen
Aufgrund dieser Befragung konnten verschiedene Kate-
■ welche Art des zu untersuchenden Phänomens
gorien von beeinflussenden Faktoren entwickelt wer-
vorliegt,
den, wie zum Beispiel Angst vor Konsequenzen, die
■ wie viel bereits über den Gegenstand bekannt ist,
die Beobachtung der Symptome nach sich zieht,
■ welche Besonderheit oder Eigenart die Teilneh-
Scham und Stigma weil viele noch rauchten oder ge-
mer und die Situation aufweisen.
raucht haben und sie sich nicht der Zuschreibung
anderen „…ist ja eh klar wenn man raucht“! aussetzen
wollen. Aber auch das stoische Verhalten mancher, das
„…trotz des Leidens tapfer sein“, das mangelnde Wissen,
Tab. 5.2 Grundprinzipien quantitativer und qualitativer Forschung (nach Mayer 2010)
Wirklichkeitsverständnis Annahme einer objektiv und autonom existie- Annahme einer symbolisch strukturierten, von
renden Realität den Betroffenen interpretierte und damit ge-
5
sellschaftlich konstruierte Wirklichkeit
Selbstverständnis der Forscherin unabhängiger Beobachter und Diagnostiker tatsächlicher oder virtueller Teilnehmer
sozialer Zusammenhänge
Pflegeforschung bedient sich, je nach Fragestellung von an Demenz erkrankten Menschen in einem
unterschiedlicher wissenschaftlicher Ansätze bzw. Pflegeheim).
Designs und Methoden. Quantitative Forschung Gerade für die Pflege ist ein „Entweder/Oder“
kommt zum Einsatz, wenn man Streit unangebracht. Die Komplexität einer Pflege-
■ über den zu untersuchenden Gegenstand exakte situation, in dessen Prozess Menschen als Handeln-
Aussagen machen möchte, de oder Empfänger eingebunden sind, verlangt nach
■ einen Vergleich zwischen Sachverhalten anstellt einem Forschungszugang, der der Komplexität der
oder Situation gerecht werden kann. Dies wiederum ver-
■ etwas misst oder in Zahlen ausdrücken muss. langt eher nach einem „Methodenmix“ im Sinne
einer Triangulation, also der Verwendung von so-
Qualitative Forschung kommt zum Einsatz wenn wohl qualitativen als auch quantitativen Methoden,
wenig über einen Forschungsgegenstand bekannt damit man sich dem Forschungsgegenstand umfas-
ist, wenn man ein Phänomen „von innen heraus“ send annähern kann (Bartholomeyczik 2000).
erforschen will oder wenn der Gegenstand oder
das Forschungsfeld durch seine Besonderheit nur
qualitative Forschung zulässt (z. B. Beobachtung
Problem – Exploration
Fragen, Hypothesen
Ethik
Planungsphase Design Methode Stichprobe Vorgehensweise
Erlaubnisse
Instrument Pretest
Durchführungsphase Erhebung
Auswertungsphase Auswertung
Interpretation
Beschreibung – Analyse – Erklärung
Schlussfolgerungen
eigentlich ist. Deshalb muss die Forschungsidee prä- Das Suchen, Lesen und Bearbeiten von Fachlite-
zisiert und auch häufig eingegrenzt werden. Dies ratur kann als die theoretische Vorarbeit der For-
erfolgt dadurch, dass man konkrete Fragen formu- schung verstanden werden. Die Literaturrecherche
liert. Erst, wenn man genau festlegt, wonach man bildet die Grundlage für die Anwendung von For-
fragt, wird ein Thema erforschbar. schungsergebnissen und ist Ausgangslage für die ei-
gene Forschung. Sich mit Literatur zu beschäftigen,
verfolgt mehrere Ziele:
Beispiele für Forschungsfragen ■ Einführen oder Vertiefen in ein bestimmtes
▌ Beispiel für Forschungsfragen in quantitativen
Thema
Forschungsarbeiten ■ Schaffung eines theoretischen Rahmens
Thema: „Prävalenz von Bettlägerigkeit und Ortsfixie- ■ Klärung von Begriffen und Variablen
5 rung“ ■ Aufarbeitung des aktuellen Forschungsstandes zu
■ Wie viele Bewohnerinnen und Bewohner (absolut einem Thema
und relativ) der Teilunternehmung Geriatriezentren ■ Präzisierung der Forschungsfrage
und Pflegewohnhäuser der Stadt Wien mit sozial-
medizinischer Betreuung sind bettlägerig bzw. orts-
Vielfach erfolgen die ersten Schritte der Literaturre-
fixiert?
cherche intuitiv und mehr oder weniger unsystema-
■ Haben die untersuchten Variablen Geschlecht, Kör-
tisch. Um sich mit einem Thema vertraut zu machen
perstatur, Aufenthaltsdauer innerhalb der Einrich-
stöbert man gewöhnlich in leicht zugängliche Quel-
tung und Zahl der Patientinnen und Patienten/Sta-
tionen Einfluss auf Bettlägerigkeit und Ortsfixie- len wie in Büchern einer Bibliothek oder befragt
rung? eine Internet Suchmaschine. Das Wesentliche der
(Schrank et al. 2013, S. 233) Literaturrecherche im Rahmen des Forschungspro-
zesses ist, dass sie gezielt und systematisch erfolgt.
▌ Beispiel von Forschungsfragen in qualitativen Näheres über das „Wo“ und „Wie“ einer Litera-
Forschungsarbeiten turrecherche ist nachzulesen bei Kleibel und Mayer
Thema: „Brustamputation nach malignem Tumor und (2011).
die Auswirkung dieses Eingriffs auf das Selbstkonzept Nachdem nun die für die geplante Forschung re-
der betroffenen Frauen“ levante Literatur gesichtet wurde, die Ergebnisse in
■ Was bedeutet das Erleben einer Brustamputation Hinblick auf die eigene Arbeit herausgearbeitet wur-
für das Selbstkonzept der betroffenen Frauen? den, wird überprüft, ob die vielleicht vorher eher
■ Welche Veränderungen ergeben sich durch den „provisorisch“ formulierte Forschungsfrage so ste-
Brustverlust für das Selbstkonzept? hen gelassen werden kann, oder ob aufgrund der
■ Wie wird das Selbstkonzept dem veränderten Kör- Ergebnisse der Literaturarbeit eine Änderung not-
per angepasst? wendig ist. Häufig erfolgt nach dem Lesen der Fach-
■ Welche Probleme treten dabei auf? literatur eine Präzisierung oder Korrektur der For-
(Trattnig 2010, S. 118) schungsfrage, weil man sich an dieser Stelle endgül-
tig einen Überblick verschafft hat, was der aktuelle
Forschungsstand zum eigenen Forschungsthema ist.
Je klarer und präziser eine Forschungsfrage formu-
liert ist, desto leichter fallen anschließende Ent- 5.6.2 Planungsphase
scheidungen, die im Rahmen eines Forschungspro- Hat man das Literaturstudium beendet, den theo-
zesses getroffen werden müssen: Z. B. die Auswahl retischen Hintergrund seines Themas erarbeitet
der relevanten Untersuchungsteilnehmer oder der und konnte man die Forschungsfrage konkretisieren,
anzuwendenden Forschungsmethoden. Ganz präzi- so steht dem „forschen“, also der Tat – so sollte man
se kann die Forschungsfrage allerdings erst dann meinen – nichts mehr im Weg. Dies ist jedoch nicht
definiert werden, wenn man sich einen Überblick so, denn jede Forschungsarbeit gehört sorgfältig ge-
über die Literatur verschafft hat und darüber, was plant und jeder Schritt überlegt.
über den interessierenden Sachverhalt bereits ge- Spätestens wenn die Forschungsfrage feststeht
schrieben wurde. wird ersichtlich, ob man den qualitativen oder dem
quantitativen Forschungsansatz folgt. Dies ist der
Die Beobachtungen wurden bei drei Pflegeinterventionen Um ein breites Spektrum in Bezug auf die Darstellungs-
(Waschen, Umbetten und Mobilisieren) von einer erfah- weise der Krankheit Demenz abzudecken, wurdenfünf
renen Pflegenden, die nicht zum jeweiligen Pflegeteam problemorientierte Bilderbücher analysiert. Die inhalt-
gehörte, durchgeführt. Sie benutzte dazu eine Checkliste. lichen Beschreibungen wurden anhand von drei Dimen-
Diese bestand aus den operationalisierten Kriterien eines sionen getroffen: Kriterien zum Bilderbuch als Medium,
Kinästhetikkonzeptes. Darstellung der Protagonisten, Vermittlung der Krank-
heit.
Dokumentenanalyse
Mittels einer Dokumentenanalyse ist es möglich, Fragen
▌ Biophysikalische Messmethoden
nachzugehen, zu deren Beantwortung man aus beste-
Biophysikalische Messmethoden erfolgen mithilfe physi-
henden Quellen (Dokumenten) Informationen gewinnen
kalischer Messgeräte. Diese werden oft mit deskriptiven
5 kann.
Methoden kombiniert, weil die Messung der Körperreak-
Beispiel: quantitative Dokumentenanalyse tion für eine pflegerische Entscheidung nicht immer aus-
Fleischer-Schlechtiger, Möbius-Winkler & Klewer (2013) reicht
untersuchten die Ursachen von Sturzereignissen einer Al-
tenpflegeeinrichtung sowie die Qualität der Bearbeitung Beispiel:
der Sturzereignisprotokolle. Zu diesem Zweck analysier- Kugler (2004) untersuchte, ob es einen Zusammenhang
ten sie in einer Vollerhebung alle Protokolle von Sturz- zwischen der Non-Compliance bezüglich Diät und Flüs-
ereignissen aus einem Jahr, sowie die Ergebnisse der sigkeitsbeschränkung und dem funktionalen Gesund-
Sturzrisikoassessments der jeweiligen Patienten. heitsverhalten erwachsener Dialysepatienten gibt. „Non-
Compliance“ wurde unter anderem anhand von drei bio-
Beispiel: qualitative Dokumentenanalyse
chemischen Reaktionen gemessen (Kalium, Phosphat
Bugstaller-Brendt (2011) befasste sich in ihrer wissen-
und Eiweiß im Serum), die als stabile Parameter zur Mes-
schaftlichen Arbeit mit der Vermittlung des Krankheits-
sung der Compliance bei Dialysepatientinnen gelten. Da
bildes Demenz für Kinder im Vorschulalter. Ihr Interesse
Non-Compliance jedoch ein komplexes Konstrukt ist, das
galt der Frage, welchen Beitrag Bilderbücher zum kind-
sich nicht nur durch diese drei Parameter abbilden lässt,
gerechten Verständnis dieser Krankheit leisten, damit sie
wurden zusätzlich Fragebögen zur Messung der Non-
als Unterstützungs- und Hilfsangebot im familiären Be-
Compliance sowie der Einhaltung von Diät und Flüssig-
wältigungsprozess eingesetzt werden können. Als Metho-
keitsbeschränkung eingesetzt.
de wurde die qualitative Dokumentenanalyse gewählt.
!
Merke: Die Wahl des Untersuchungsdesigns
und der Methode der Datenerhebung sind in Befragung
Die Stichprobenbildung in der qualitativen For- habbarkeit prüfen. Ist der Vortest abgeschlossen,
schung ist zweckgebunden, d. h. die Auswahl der werden die Daten erhoben. Im Fachjargon sagt
Teilnehmer ist von bestimmten Kriterien abhängig: man dazu „Feldarbeit“ oder „Feldphase“ oder „man
etwa Personen, die ein ähnliches Erlebnis hatten geht ins Forschungsfeld“. Die Datenerhebung kann
(z. B. Frauen nach einer Brustoperation), Personen unterschiedlich viel Zeit in Anspruch nehmen – Wo-
aus einem bestimmten Umfeld (z. B. Pflegende chen bis Jahre. Auch das ist etwas, das man beim
einer onkologischen Station) oder aus einer gemein- Lesen eines Forschungsartikels nicht erfährt – man
samen Kultur (z. B. bolivianische Migrantinnen). Da sollte diesen interessanten aber auch oft sehr müh-
es in der qualitativen Forschung um die Entwicklung samen Teil der Forschung nicht unterschätzen.
von Theorien geht und nicht um die Verallgemeine-
rung der Ergebnisse, spielen Repräsentativität und 5.6.4 Auswertungsphase
Größe der Stichprobe – anders als bei der quantita- Einer der letzten Schritte des Forschungsprozesses 5
tiven Forschung – keine Rolle. ist die Analyse der Ergebnisse. Hat man die Daten
Weiß man nun, wie man die Untersuchung ge- erhoben, so werden diese - im Fall der quantitativen
stalten möchte und wen man untersuchen will, so Forschung - aufbereitet (z. B. die Antworten der Fra-
kann man die konkrete Vorgehensweise planen. gebögen werden in Zahlencodes umgesetzt) und
Spätestens an diesem Punkt des Forschungspro- mithilfe spezieller Statistikprogramme Berechnun-
zesses wird es auch notwendig, sich mit den ethi- gen unterzogen, um Ergebnisse zu erhalten. Die
schen Fragestellungen der geplanten Untersuchung Möglichkeiten statistischer Berechnungen sind sehr
auseinander zu setzen. Bei Forschungsvorhaben, vielfältig und erfordern Spezialwissen. Das Daten-
die mit und am Menschen ablaufen, ist ein ethisch material der qualitativen Forschung muss ebenfalls
gut durchdachtes und möglichst risikoarmes Vor- aufbereitet werden. Tonbandaufnahmen von Inter-
gehen Grundbedingung. Da dies ein ganz zentrales views werden z. B. wörtlich niedergeschrieben
Thema der Pflegeforschung darstellt, ist ihm am (transkribiert). Danach werden die Texte ebenfalls
Ende des Kapitels ein eigener Abschnitt gewidmet. eigenen qualitativen Auswertungsverfahren unter-
Bevor man nun endgültig mit der Datenerhebung zogen. Das Produkt dieses Schrittes ist die soge-
beginnt, müssen noch einige formale Belange Be- nannte Ergebnisdarstellung.
rücksichtigung finden. Ein Kosten- und Zeitplan ist
zu erstellen, und schließlich muss man, bevor das ▌ Ergebnisdarstellung
Forschungsprojekt in der Praxis starten darf, bei Die Ergebnisdarstellung beschäftigt sich also mit den
den zuständigen Stellen bei der jeweiligen Instituti- konkreten Ergebnissen der Studie. Man versucht die
on eine Erlaubnis zur Durchführung einholen. Daten so darzustellen, wie sie sich auf Grund der
Die gesamt Planungsphase wird im sogenannten Auswertung präsentieren. Eine gute Ergebnisdar-
Untersuchungsplan dargestellt. Dieser ist zentraler stellung ist systematisch, logisch, nicht länger als
Teil eines Forschungsantrags, den jeder Wissen- nötig und geht auf alle analysierten Daten ein. Der
schafter erstellen muss, wenn er um finanzielle Res- Fokus ist auf die Beantwortung der Forschungsfrage
sourcen, ein Einverständnis oder einen ethischen gerichtet.
Befund beantragt. Die Möglichkeiten und Formen der Darstellung
von Forschungsergebnissen sind vielfältig und un-
5.6.3 Durchführungsphase terscheiden sich je nachdem, ob man eine quantita-
Das Ausarbeiten der Instrumente zur Datenerhe- tive oder eine qualitative Forschungsarbeit durch-
bung (Fragebögen, Interviewleitfäden, Beobach- geführt hat.
tungsleitfäden, Mess-Skalen etc.) ist der nächste
Schritt im Forschungsprozess. Die Inhalte des Instru- ▌ Quantitative Ergebnisse
ments werden wiederum von der Forschungsfrage Quantitative Ergebnisse werden in Form von Zahlen
bestimmt. dargestellt, die mithilfe deskriptiver oder analyti-
Wurde das jeweilige Instrument erarbeitet, wird scher Statistik gewonnen wurden. Häufig wird zu-
ein Vortest durchgeführt. Er dient zur inhaltlichen erst die Grundauszählung (Häufigkeitsverteilungen,
und formalen Überprüfung des Forschungsinstru- Mittelwerte, Streuungsmaße) dargestellt. Daran an-
ments. Darüber hinaus kann sich der Forscher im schließend werden Zusammenhänge oder Unter-
Umgang mit dem Instrument üben und seine Hand- schiede zwischen verschiedenen Variablen oder
Gruppen (z. B. zwischen Männern und Frauen oder ■ Warum unterscheiden sich Männer von Frauen
verschiedenen Altersgruppen) beschrieben. Es gibt in diesem und jenem Punkt?
dafür keine einheitliche Regel. Wichtig ist, dass die ■ Warum gibt es keine Unterschiede zwischen den
Darstellung logisch, nachvollziehbar und für den Altersgruppen?
Leser verständlich ist. Quantitative Daten können
verbal oder in Tabellen und Diagrammen dargestellt Zur Diskussion der Ergebnisse greift man auf die
werden. Zu den wichtigsten Diagrammarten zählen Problemstellung, die Forschungsfrage und den theo-
das Säulen- oder Balkendiagramm, das Kreisdia- retischen Rahmen zurück. Dadurch schafft man Ver-
gramm und das Kurvendiagramm. Sie dienen dazu, bindungen zu allen anderen Teilen der Studie und
große Datenmengen komprimiert darzustellen und bindet die neuen Erkenntnisse in das bestehende
eine bessere Übersicht zu gewährleisten. Verbale Be- Wissen ein.
5 schreibungen dienen der Vertiefung und genaueren Am Ende des Forschungsprozesses steht die
Erklärung der Zahlen. Überlegung im Mittelpunkt, was die Ergebnisse für
die Praxis bedeuten, welche Empfehlungen für die
▌ Qualitative Ergebnisse Pflegepraxis gegeben werden können und wie die-
Die Darstellung qualitativer Daten unterscheidet sich ses Wissen am besten in die Praxis zu integrieren
erheblich von quantitativen Daten. Qualitative Daten ist. Diese Schlussfolgerungen sind ein wichtiger Brü-
liegen in einer gänzlich anderen Form vor. Das heißt, ckenschlag zur Pflegepraxis. Sie bilden den ersten
man hat in der Regel völlig anderes Material: Keine Schritt zur Umsetzung der Ergebnisse und zur Er-
Zahlen, sondern verbale Daten, wie Kategorien, Be- weiterung des praktischen Pflegewissens. In man-
schreibungen, Falldarstellungen und Zitaten. chen Studien werden auch Empfehlungen zur
Ergebnisse qualitativer Studien werden grund- Durchführung weiterer Forschungsarbeiten gege-
sätzlich verbal beschrieben. Die Gliederung des Tex- ben, denn eine Studie wirft erfahrungsgemäß mehr
tes orientiert sich an der Logik, die durch die For- Fragen auf, als sie beantwortet. Hier schließt sich
schungsfrage(n), das Datenmaterial und die Art der auch der „Kreis“ des Forschungsprozesses: Mit
Auswertung vorgegeben ist. Meistens wird der Text jeder neuen Frage, die aus einer Erkenntnis entsteht,
anhand eines zuvor entwickelten Kategoriensystems kann der Forschungsprozess wieder von vorne be-
gegliedert. Oft gibt es jedoch zur Beginn einen Über- ginnen.
blick in Form einer tabellarischen Auflistung oder
einem aus den Daten entwickelten Modell, das Be- 5.6.5 Publikationsphase
ziehungen zwischen den Kategorien oder Abläufe Der Forschungsprozess an sich ist zwar mit der In-
darstellt. Danach werden die einzelnen Kategorien terpretation der Ergebnisse theoretisch zu Ende,. Je-
oder Themen beschrieben. Zur Verdeutlichung doch ohne Publikation, also dem Veröffentlichen der
einer Aussage, zur Veranschaulichung einer Katego- Ergebnisse, hat Forschung wenig Sinn. In der letzten
rie oder einfach nur zur Auflockerung werden oft Phase geht es daher noch um die Datenverbreitung.
Originalzitate aus Interviews in den Text eingebaut. Forschung und Forschungsergebnisse haben auch
eine Wirkung nach außen, d. h. Anwendung in der
▌ Ergebnisse interpretieren Praxis finden und zur Lösung eines Problems beitra-
Bei der Interpretation der Ergebnisse beschäftigt man gen. Dazu muss die Forschungsarbeit veröffentlicht,
sich mit der Bedeutung der Resultate. Im Falle von d. h. Personen zugänglich gemacht werden, die die
quantitativen Studien wird daher den Zahlen, bei Erkenntnisse nutzen können. Die Veröffentlichung
qualitativen Studien den Konzepten oder Kategorien kann mündlich in Form einer Präsentation und/
Bedeutung zugeordnet. oder schriftlich stattfinden. Durch die schriftliche
Wenn man die Resultate interpretiert, fragt man: Veröffentlichung wird das Wissen jedoch großflä-
„Was heißt das?“ Man setzt sich also mit den ge- chiger verbreitet und als bestehendes Gut ständig
wonnenen Daten auseinander, indem man sie wie- abrufbar gehalten. Die meisten Forschungsarbeiten
der in Zusammenhang mit der Fragestellung bringt. werden in wissenschaftlichen Fachzeitschriften pu-
Man kann sich z. B. fragen: bliziert. Wissenschaftliche Zeitschriften (sogenannte
■ Warum sind gerade diese und jene Belastungs- Referee Journals) verfügen über ein Gremium wis-
faktoren so deutlich aufgetreten? senschaftlicher Expertinnen (Board of Consultants).
Jeder Artikel, der zur Veröffentlichung in einem sol-
!
ger EBN folgendermaßen: Merke: Diese drei Grundprinzipien sind der
„Evidence-based Nursing and Caring (EBN) ist Ausgangspunkt der Diskussionen um ethi-
eine Pflegepraxis, die pflegerische Entscheidungen sche Fragen in der Forschung. Mit ihnen
auf wissenschaftlich geprüfte Erfahrungen Dritter kann jede Forschungsarbeit und jeder Forschungs-
(„externe Evidence“) und die individuellen Bedürf- antrag diskutiert und geprüft werden.
nisse und Erfahrungen der Pflegebedürftigen und
Pflegenden („interne Evidence“) stützt. Sie tut dies ▌ Freiwillige Teilnahme
aus Respekt vor der Einzigartigkeit des Pflegebe- Eine freiwillige Teilnahme bedeutet, dass die Teil-
dürftigen und schließt die Unterstützung, Förderung nehmer zunächst umfassend informiert werden
und Sorge für pflegebedürftige Menschen (Caring) müssen:
mit ein“ (Behrens und Langer 2006). ■ über Ziel und Zweck der Studie,
■ über das geplante Vorgehen,
■ über ihre Rolle dabei und
■ über mögliche Risiken.
stehen und in einer Art und Weise, die niemanden 5.8.2 Ethikkommissionen und die
unter Druck setzt, sondern Raum gibt, eine freiwil- Verantwortung des Einzelnen
lige Entscheidung zu treffen. Die Teilnehmerinnen In den meisten Ländern gibt es spezielle Ethik-Kom-
müssen darüber hinaus über ihr Recht, die Teilnah- missionen, deren Aufgabe es ist festzustellen, ob und
me zu verweigern bzw. jederzeit aus der Unter- inwieweit die eingereichten Forschungsprojekte die
suchung auszusteigen, Bescheid wissen, und sie Teilnehmer eventuell gefährden und Empfehlungen
müssen die Sicherheit haben, dass ihnen keine abzugeben, ob eine Studie durchgeführt wird oder
Nachteile daraus erwachsen. Weiters müssen die nicht. Dadurch wird sichergestellt, dass ethische
TeilnehmerInnen auch kognitiv in der Lage sein In- Standards eingehalten werden und der Schutz der
formationen zu erfassen und für sich beurteilen zu Probanden gegeben ist. Die Zustimmung einer
können Ethikkommission zu einem Forschungsvorhaben
Sind all diese Bedingungen erfüllt, spricht man wird dann besonders wichtig, wenn die Versuchs- 5
von einer „aufgeklärten Einwilligung“ (auch als „in- personen über Verlauf und Zweck der Untersuchung
formed consent“ bezeichnet). Eine Einwilligung zu nicht (oder nicht vollständig) aufgeklärt werden
einer Untersuchung wird immer schriftlich gegeben. können und dadurch nicht in der Lage sind, eine
aufgeklärte Einwilligung zu geben.
▌ Anonymität Auch wenn Ethikkommissionen eine wichtige In-
Anonymität muss denjenigen Personen, die an For- stanz, die dazu beiträgt, die Rechte der Probanden
schungsprojekten teilnehmen, unbedingt zugestan- zu schützen und sie vor Schaden durch Forschung
den werden. Es heißt, den Teilnehmern zu ver- zu bewahren, darstellt, entbinden sie die Forschen-
sichern, dass ihre Identität geheim bleibt. Darauf den nicht von ihrer persönlichen Verantwortung
muss v. a. bei der Aufbewahrung der Daten, beim dem Menschen gegenüber. „Das Votum eines Kli-
Umgang mit ihnen und bei ihrer Präsentation ge- nischen Ethikkomitees nimmt den Verantwortlichen
achtet werden. ihre persönliche Entscheidung nicht ab, sondern ist
als Argumentationshilfe für die Entscheidungsträger
▌ Schutz des Einzelnen vor eventuellen physischen und -trägerinnen gedacht. Wie weit sie sich dieses
und psychischen Schäden Votum zu Eigen machen oder mit ethischen Begrün-
Dies ist dasjenige Grundprinzip, welches die meis- dungen ablehnen, bleibt ihrer Verantwortung über-
ten Probleme verursacht, vor allem bei experimen- lassen.“ (Körtner 2004, S. 137) Alle Personen, die
teller Forschung. Jedes Experiment birgt ein Risiko – Pflegeforschung betreiben, tragen somit prinzipiell
denn wenn die positive Wirkung der Intervention, eine große ethische und rechtliche Verantwortung.
die man testen möchte, sicher wäre, müsste man ja Dieser Verantwortung müssen sie sich bei ihrer wis-
kein Experiment durchführen. Daher stellt sich hier senschaftlichen Tätigkeit immer bewusst sein.
immer die Frage, wie die Studienteilnehmer vor Pflegende können prinzipiell in unterschiedli-
möglichen Nebenwirkungen, Unannehmlichkeiten chen Rollen an Forschung beteiligt sein:
oder Schäden geschützt werden können. sie sind selbst Proband,
Diese „Schäden“ können entweder körperlicher sie betreuen Patienten, die an Forschungsprojek-
Art sein, d. h. sie können von körperlichem Unbe- ten teilnehmen,
hagen bis hin zu sichtbaren Schäden (z. B. Dekubi- sie arbeiten an Forschungsprojekten mit, die von
tus) reichen, oder psychischer Natur sein (z. B. emo- anderen initiiert und geleitet werden,
tionale Belastung durch das Thema, das in einem sie führen selbst Forschungsprojekte durch oder
Interview angesprochen wird). sie entscheiden (z. B. in ihrer Funktion als Leiter
Der beste Schutz vor Schäden ist, sie vorauszuse- des Pflegedienstes oder als Mitglied einer Ethikkom-
hen und die Untersuchung so zu planen, dass die mission), ob ein Forschungsprojekt in ihrer Institu-
Risiken möglichst gering sind. Diese müssen gegen tion durchgeführt wird.
den Nutzen der Studie sorgfältig abgewogen wer- Jede dieser Rollen bedeutet, ethisch-moralisch
den. Das Interesse an den Forschungsresultaten Verantwortung zu übernehmen. Daher ist es nicht
darf gegenüber den Risiken, denen die Versuchsper- nur für Pflegewissenschaftler wichtig, sich mit dem
sonen ausgesetzt sind, in keinem Fall vorrangig sein. Thema Ethik auseinander zu setzen. So muss sich
jeder beispielsweise auch gut überlegen, welches
Forschungsprojekt er unterstützt bzw. die Mitarbeit
verantworten kann. Auch wenn man Forschungs- scher Pflege auf einer randio-onkologischen Abteilung.
ergebnisse liest um sie in der Praxis anzuwenden Pflege 18 (2005) S. 25 – 37
Evers, G.: Die Entwicklung der Pflegewissenschaft in Europa.
ist die Diskussion um die Ethik des Forschungsvor-
Pflege 17 (2004) S. 9 – 14.
habens, in dem diese zustande gekommen sind,
Fleischer-Schlechtiger N., J. Möbius Winkler, J. Klewer: Ana-
nicht unerheblich. lyse von Sturzereignisprotokollen in einer vollstationären
Naivität und Unkenntnis können niemals eine Altenpflegeeinrichtung. Pflegewissenschaft 2013, S. 15,
Entschuldigung für die Verletzung oder Missachtung 650 – 654.
des Wohls der Forschungsteilnehmer sein. Gerade Görres, S.: Pflegewissenschaft: Herausforderung für die For-
die Pflege, die – mit dem Prinzip der Fürsorge als schung – Innovation für die Praxis. In Görrres, S. (Hrsg.):
Pflegewissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland.
Mittelpunkt – in ihrem professionellen Denken und
Altera, Bremen 1996, S. 62 – 76
Handeln ein Stück weit andere Ziele verfolgt als die
Jud E.M. Der Entscheidungsprozess zum anlegen einer PEG
5 Medizin, kann viel dazu beitragen, dass Forschung Sonde aus der Perspektive von Eltern von Kindern mit
im Gesundheitswesen an strengen ethischen neurologischen Beeinträchtigungen. In: Nagl-Cupal M,
Maßstäben gemessen wird. Marianne Arndt Metzing S. (Hrsg.). Familienorientierte Pflegeforschung.
schreibt: „Es gehört zur Begabung des Menschen, Kinder und Jugendliche im Brennpunkt. Wien: Facultas;
sich selbst und den anderen Rechenschaft über Den- 2013
Käppeli, S.: Pflegeforschung zwischen Anspruch und Wirk-
ken und Handeln zu geben und damit einer Verant-
lichkeit. Österreichische Krankenpflegezeitschrift 3
wortung zu entsprechen, die das Menschsein erst (1994) S. 14 – 18
auszeichnet.“ (Arndt 2003, S. 14). Auch in der For- Kleibel, V., H. Mayer: Literaturrecherche für Gesundheitsbe-
schung muss man sich in erster Linie durch das ei- rufe. Facultas, Wien 2011
gene Menschsein auszeichnen, die Konsequenzen Körtner, U.: Grundkurs Pflegeethik. Facultas, Stuttgart 2004
tragen, die daraus erwachsen, und Verantwortung Krause, T.: Sturzfolgen bei geriatrischen Krankenhauspatien-
ten. Pflege 18 (2005) S. 39 – 42
übernehmen. Daher ist Pflegeforschung ist immer
Kugler, C.: Non-Compliance erwachsener Hämodialysepatien-
eine ethische Herausforderung – für jeden Einzel-
ten bezüglich Diät und Flüssigkeitsbeschränkungen. In
nen. Panfil, E.M.: Focus: Klinische Pflegeforschung. Beispiele
quantitativer Studien. Schlütersche, Hannover 2004,
S. 74 – 89
Literatur: Mayer, H.: Pflegeforschung anwenden. 4. vollständig überar-
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Abteilung Pflegeforschung. Wilhelm Maudrich Verlag, kungen auf das Selbstkonzept betroffener Frauen. In:
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Steppe, H.: Pflege als Wissenschaft – Am Beispiel der Ent- schaftliche Perspektive 2010, S. 117 – 154
wicklung in den USA. In Seidl, E. (Hrsg.): Betrifft: Pflege-
Übersicht
Einleitung · 161
6.1 Entwicklung des Pflegeprozesses · 161
6.2 Ansätze zur Problemlösung · 164
6.2.1 Nicht-rationale Ansätze zur Problem-
lösung · 164
6.2.2 Rationale Ansätze zur Problemlösung · 166
6.3 Modelle des Pflegeprozesses · 168
6 6.3.1 Vier-Phasen-Modell · 169
6.3.2 Fünf-Phasen-Modell · 169
6.3.3 Sechs-Phasen-Modell · 170
6.4 Pflegeprozess als Problemlösungs- und
Beziehungsprozess · 172 6.10 Pflegequalität · 207
6.5 Schritte des Pflegeprozesses · 174 6.10.1 Grundlagen zum Qualitätsbegriff · 207
6.5.1 Informationssammlung · 174 6.10.2 Gesetzliche Grundlagen zur Qualitätssiche-
6.5.2 Erkennen von Pflegeproblemen und rung in der Pflege · 209
Ressourcen des pflegebedürftigen 6.10.3 Qualitätsmanagement · 211
Menschen · 180 6.10.4 Qualitätsmangementsysteme im Gesund-
6.5.3 Festlegung der Pflegeziele · 185 heitswesen · 213
6.5.4 Planung der Pflegemaßnahmen · 187 6.10.5 Maßnahmen und Instrumente zur Förderung
6.5.5 Durchführung der Pflege · 191 des Verbesserungsprozesses · 214
6.5.6 Beurteilung der Wirkung der Pflege 6.10.6 Maßnahmen und Instrumente zur Förderung
auf den pflegebedürftigen Menschen · 192 der Pflegequalität · 217
6.6 Entlassungsmanagement und Literatur · 219
Pflegeüberleitung · 193
6.6.1 Pflegeüberleitung/Überleitungspflege · 194
6.6.2 Expertenstandard Entlassungsmanagement Schlüsselbegriffe
in der Pflege · 194
▶ Problemlösungsprozess
6.6.3 Funktion und Rolle des Pflegeprozesses im
▶ Beziehungsprozess
Entlassungsmanagement · 195
▶ Informationssammlung
6.7 Einflussfaktoren auf die Durchführung der
▶ Pflegeprobleme
Pflege nach dem Pflegeprozess · 197
▶ Ressourcen
6.8 Pflegeprozess und Pflegetheorie · 198
▶ Pflegeziele
6.8.1 Roper/Logan und Tierney: Die Elemente der
▶ Pflegemaßnahmen
Krankenpflege · 199
▶ Pflegeplan
6.8.2 Hildegard Peplau: Interpersonale Beziehungen
▶ Evaluation
in der Pflege · 200
▶ Pflegestandard
6.9 Pflegeprozess und Pflegestandards · 202
▶ Standardpflegeplan
6.9.1 Strukturorientierte Standards · 202
▶ Qualität
6.9.2 Prozessorientierte Standards · 203
▶ Qualitätszirkel
6.9.3 Ergebnisorientierte Standards · 205
▶ Ideenmanagement
6.9.4 Vorteile und kritische Aspekte beim Arbeiten
▶ Beschwerdemanagement
mit Pflegestandards · 206
Im deutschsprachigen Raum wird der Pflegepro- ▌ Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege
zess seit Anfang der 80er Jahre diskutiert; seit 1985 (Krankenpflegegesetz KrPflG)
ist er im Krankenpflegegesetz, seit 2001 im bundes- In dem Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege
einheitlichen Altenpflegegesetz fest verankert. vom 16. 07. 2003 heißt es in Abschnitt 2 Ausbildung
Ende der achtziger Jahre war der Begriff des § 3: „(1) Die Ausbildung [...] soll entsprechend dem
„Pflegenotstandes“ täglich in den Medien präsent. allgemein anerkannten Stand pflegewissenschaftli-
Die Politik versuchte, dem Personalmangel in der cher Erkenntnisse fachliche, personale, soziale und
Pflege über eine gesellschaftliche Aufwertung der methodische Kompetenzen zur verantwortlichen
Pflegeberufe zu begegnen. Dies geschah u. a. durch Mitwirkung insbesondere bei der Heilung, Erken-
die Förderung der Pflegeforschung. In diesem Rah- nung und Verhütung von Krankheiten vermitteln.
men führte z. B. Krohwinkel ihre Forschungsstudie Die Pflege im Sinne von Satz 1 ist dabei unter Ein-
„Der Pflegeprozess am Beispiel von Apoplexiekran- beziehung präventiver, rehabilitativer und palliati-
ken“, gefördert vom Bundesministerium für Jugend, ver Maßnahmen auf die Wiedererlangung, Verbes-
Frauen, Familie und Gesundheit, durch. Durch diese serung, Erhaltung und Förderung der physischen
6
politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten und psychischen Gesundheit zu pflegenden Men-
konnte die Entwicklung der professionellen Pflege schen auszurichten. Dabei sind die unterschiedli-
in Deutschland positiv unterstützt und vorangetrie- chen Pflege- und Lebenssituationen sowie Lebens-
ben werden. phasen und die Selbstständigkeit und Selbstbestim-
Mittlerweile ist der Pflegeprozess fester Bestand- mung der Menschen zu berücksichtigen (Ausbil-
teil der Ausbildung in den Pflegeberufen. Trotzdem dungsziel)“.
ist die Umsetzung bzw. Anwendung des Pflegepro- „Die Ausbildung [...] soll insbesondere dazu befä-
zesses in der Praxis weiterhin aufgrund organisato- higen:
rischer Rahmenbedingungen und einer gering aus- ■ die folgenden Aufgaben eigenständig auszufüh-
geprägten diagnostischen Kompetnez von Pflegen- ren:
den eine Herausforderung (Huber 2003). – Erhebung und Feststellung des Pflegebedarfs,
Im Folgenden soll zunächst auf die verschiede- Planung und Organisation, Durchführung und
nen Ansätze des Pflegeprozesses zur Lösung von Dokumentation der Pflege,
Problemen eingegangen werden. – Evaluation der Pflege, Sicherung und Entwick-
lung der Qualität der Pflege [...]“ (Gesetz über
Zusammenfassung: die Berufe in der Krankenpflege, Krankenpfle-
Ziel der Entwicklung des Pflegeprozesses gegesetz – KrPflG, BGBl. I 2003, Nr. 36).
■ Pflege als strukturiertes, systematisches Handeln,
■ in den 50er-Jahren in den USA entwickelt, Auch in der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung
■ in Deutschland seit den 80er-Jahren diskutiert, für die Berufe in der Krankenpflege (KrPflAPrV) vom
■ seit 1985 im Krankenpflegegesetz und 10. November 2003 (BGBl I 2003, Nr. 55) ist die Ori-
■ seit 2003 im Altenpflegegesetz verankert. entierung der Pflege am Pflegeprozess zugrunde ge-
legt: „Der theoretische und praktische Unterricht
Seit 1985 ist die Durchführung der Pflege nach dem umfasst folgende Themenbereiche:
Pflegeprozess im Krankenpflegegesetz, seit 2001 im ■ Pflegesituationen bei Menschen aller Altergrup-
Altenpflegegesetz verankert. Damit unterliegt der pen erkennen, erfassen und bewerten. Die Aus-
Einsatz des Pflegeprozesses nicht länger der persön- zubildenden sind zu befähigen,
lichen Beliebigkeit, sondern wird zum gesetzlich ge- – auf der Grundlage pflegewissenschaftlicher
forderten Vorgehen bei der Durchführung der Pfle- Erkenntnisse und pflegerelevanter Kenntnisse
ge. Auch im Sozialgesetzbuch V und XI gibt es Rege- der Bezugswissenschaften wie Naturwissen-
lungen, die die Verpflichtung zur prozesshaften schaften, Anatomie, Physiologie, Gerontologie,
Pflege beinhalten und zur Dokumentation der Pfle- allgemeine und spezielle Krankheitslehre,
ge auffordern. Arzneimittellehre, Hygiene und medizinische
Auch in den jeweiligen Neufassungen der ge- Mikrobiologie, Ernährungslehre, Sozialmedi-
nannten Gesetze wird die Durchführung der Pflege zin sowie der Geistes- und Sozialwissenschaf-
nach dem Pflegeprozess verlangt. ten, Pflegesituationen wahrzunehmen und zu
reflektieren sowie Veränderungen der Pflege- Betreuung alter Menschen erforderlich sind. Dies
situationen zu erkennen und adäquat zu rea- umfasst „die sach- und fachkundige, den allgemein
gieren, anerkannten pflegewissenschaftlichen, insbesonde-
– unter Berücksichtigung der Entstehungsursa- re den medizinisch-pflegerischen Erkenntnissen
chen aus Krankheit, Unfall, Behinderung oder entsprechende, umfassende und geplante Pflege,
im Zusammenhang mit Lebens- und Entwick- [...] sowie die Mitwirkung an qualitätssichernden
lungsphasen den daraus resultierenden Pfle- Maßnahmen in der Pflege, der Betreuung und der
gebedarf, den Bedarf an Gesundheitsvorsorge Behandlung.“ (Gesetz über die Berufe der Altenpfle-
und Beratung festzustellen, ge, AltPflG BGBl. I 2003, Nr. 44).
– den Pflegebedarf unter Berücksichtigung Auch das Heimgesetz vom 05. November 2001
sachlicher, personenbezogener und situativer sieht unter § 11 (Anforderungen an den Betrieb
Erfordernisse zu ermitteln und zu begründen, eines Heimes) vor, dass ein Heim nur betrieben wer-
– ihr Pflegehandeln nach dem Pflegeprozess zu den darf, wenn der Träger und die Leitung sicher-
gestalten. stellen, dass für die Bewohner eine Pflegeplanung
6
■ Pflegemaßnahmen auswählen, durchführen und erstellt und deren Ausführung dokumentiert wird
auswerten. Die Auszubildenden sind zu befähi- (Heimgesetz, BGBl. 2001, Nr. 57).
gen,
– pflegerische Interventionen in ihrer Zielset- ▌ Sozialgesetzbuch V (SGB V) – Gesetzliche
zung, Art und Dauer am Pflegebedarf aus- Krankenversicherung
zurichten, Eine zweite gesetzliche Vorgabe beinhaltet das Sozi-
– die unmittelbare vitale Gefährdung, den aku- algesetzbuch V, das vom 20. Dezember 1988 stammt
ten oder chronischen Zustand bei einzelnen und in § 135 a auf die „Verpflichtung zur Qualitäts-
oder mehreren Erkrankungen, bei Behin- sicherung“ eingeht:
derungen, Schädigungen sowie physischen „Die Leistungserbringer sind zur Sicherung und
und psychischen Einschränkungen und in Weiterentwicklung der Qualität der von ihnen er-
der Endphase des Lebens bei pflegerischen brachten Leistungen verpflichtet. Die Leistungen
Interventionen entsprechend zu berücksichti- müssen dem jeweiligen Stand der wissenschaftli-
gen, chen Erkenntnisse entsprechen und in der fachlich
– die Pflegemaßnahmen im Rahmen der pfle- gebotenen Qualität erbracht werden“.
gerischen Beziehung mit einer entsprechen- Demnach sind alle Krankenhäuser, Vorsorge- und
den Interaktion und Kommunikation alters- Rehabilitationseinrichtungen verpflichtet, Maßnah-
und entwicklungsgerecht durchzuführen, men der Qualitätssicherung durchzuführen.
– bei der Planung, Auswahl und Durchführung
der pflegerischen Maßnahmen den jeweiligen Definition: Qualitätssicherung beinhaltet das
Hintergrund des stationären, teilstationären, Beschreiben von Zielen, die in der Pflege ver-
ambulanten oder weiteren Versorgungs- wirklicht werden sollen, das Messen der tat-
bereichs mit einzubeziehen, sächlich vorhandenen Pflegequalität und letztlich das
– den Erfolg pflegerischer Interventionen zu Erarbeiten und Festlegen von Maßnahmen, um die
evaluieren und zielgerichtetes Handeln kon- Pflegepraxis zu verbessern. Die Qualitätssicherung
tinuierlich an den sich verändernden Pflege- fordert strukturierte Prozesse, welche die Qualität
bedarf anzupassen. pflegerischer Arbeit messen sowie Schwachstellen
aufzeigen und beheben können.
▌ Gesetz über die Berufe in der Altenpflege
(Altenpflegegesetz AltPflG) Zu den Systemen, in deren Rahmen qualitativ hoch-
Im Gesetz über die Berufe in der Altenpflege, wel- wertige Pflege geplant, durchgeführt und bewertet
ches am 1. August 2003 in Kraft getreten ist, heißt es werden können, gehört unter anderem der Pfle-
in § 3 „Die Ausbildung in der Altenpflege soll die geprozess. Durch ihn findet eine lückenlose pro-
Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln, blem- und bedürfnisorientierte Dokumentation
die zur selbstständigen und eigenverantwortlichen und damit ein Nachweis der erbrachten Pflegeleis-
Pflege einschließlich der Beratung, Begleitung und tung statt. Es entsteht ein übersichtlicher Verlauf,
der auch die Möglichkeit der Selbstkontrolle bietet. SGB XI erfordert indirekt den Einsatz des Pflegepro-
Die gesetzlich geforderten „vergleichenden Prüfun- zesses bei der Pflege von Menschen.
gen“ werden durchführbar.
Beispiel: Das Durchführen bestimmter Definition: Unter Intuition wird das sofortige,
Handlungen aus Tradition kommt auch unmittelbare Erfassen und Reagieren auf eine
heute noch oft vor. So werden in vielen Kli- Situation verstanden, ohne dass dieses Verhal-
niken z. B. jeden Morgen, nach Beginn des Frühdiens- ten durch Erklärungen oder Beweise begründet wird.
tes sämtliche Betten der Station gemacht. Dies ge-
schieht unabhängig davon, ob einige Patienten das Bei der Intuition wird die Lösung eines Problems
Bedürfnis haben, morgens länger als 6:30 Uhr zu ohne rationale Begründung, im Sinne einer Ahnung,
schlafen, oder ob sie vielleicht so selbstständig sind, gefunden. Auch die Intuition kann sowohl zum rich-
dass sie ihr Bett selbst machen können, oder es even- tigen als auch zum falschen Resultat führen. Im Rah-
tuell gar nicht nötig ist, das Bett zu machen. men einer professionellen Pflege muss eine Pflege-
person nach jedem Einsatz von Intuition ihr Han-
deln durch fach- und sachgerechte Aussagen und
Hier kann auch vom sogenannten ritualisierten Han- Argumente begründen können. Sie muss ihr intuiti-
deln gesprochen werden. Dies sollte jedoch hinter- ves Handeln reflektieren. Dadurch können Ahnun-
6
fragt und eventuell sinnvoll verändert werden. gen überprüft und gegebenenfalls das pflegerische
Handeln angepasst beziehungsweise verbessert
Beispiel: Als Abschlussarbeit der Weiterbil- werden.
dung Pflege an der DBfK-Bildungsstätte in
!
Gauting untersuchten Seitz und Schäfer Merke: In diesem Sinne kann von einer
(1999) den Nutzen des Stecklakens, das auch Durch- pflegekundigen Intuition gesprochen wer-
zug beziehungsweise Querlaken genannt wird. Sie be- den. Die Pflegeexpertin kann auf Grund
stätigten ihre aufgestellte Hypothese, dass das Steck- ihres fundierten Wissensstandes, ihrer komplexen Fä-
laken ein „Relikt aus frühen Tagen der Krankenpflege“ higkeiten und ihrer langjährigen Erfahrungen im
sei, „zu dem es heute gute Alternativen gibt“. Sie setz- Beruf intuitiv schneller reagieren als eine Berufs-
ten einen Kriterienkatalog ein, nach welchem nur ein- anfängerin, was die amerikanische Pflegewissen-
zelne Betten mit einem Stecklaken bestückt wurden. schaftlerin Patricia Benner in einer Studie 1984 be-
Erhöht pflegebedürftige Patienten wurden mit einer stätigte (s. a. Kap. 4).
waschbaren Inkontinenzhilfe versorgt und nur bei
mehrmals am Tage auftretender starker Verschmut- Sie kann einen Transfer von bekannten Situationen
zung des Bettes wurde ein Stecklaken verwendet. Das auf neue Gegebenheiten leisten und pflegerische
Ergebnis waren enorme Einsparungen im Wäschever- Komplikationen eher vorhersehen und ihnen pro-
brauch und im Personalaufwand. Zudem konnten phylaktisch entgegenwirken. Intuition kann den
Forscher durch eine Messung die Ergebnisse der Studie Vorgang der Problemlösung unterstützen, als allei-
von Neander und Flohr (1995) unterstützen, in der niges Mittel zur Problemlösung ist sie jedoch aus
herausgefunden wurde, dass sich der Auflagedruck professioneller Sicht nicht ausreichend bzw. kritisch
mit jeder hinzukommenden Lage zwischen liegender zu sehen.
Person und Matratze erhöht und damit das Dekubi-
tusrisiko steigt. ▌ Handeln nach einer Autorität
Auch das Handeln nach einer Autorität gehört zu
Pflegepersonen, die Traditionen oder ritualisierte den nicht rationalen Problemlösungsansätzen.
Handlungen brechen oder verändern wollen, stoßen Handeln unter Berufung auf eine Autorität setzt
oft auf Widerstand von Kollegen. Mithilfe der Pfle- voraus, dass die Macht oder Überlegenheit einzelner
geforschung können Vorschläge zur Veränderung Personen, Gruppen oder einer Institution von einer
evidenzbasiert begründet werden, wodurch eine oder mehreren Personen anerkannt ist und nach
professionelle Haltung aus pflegerischer Perspektive ihren Vorgaben gehandelt wird.
gefördert wird. Werden Pflegemaßnahmen nach der Vorgabe
einer Autorität ohne eigene Reflexion durchgeführt,
▌ Intuition können sie zum richtigen oder auch zum falschen
Ein weiterer nicht rationaler Problemlösungsansatz Resultat führen. Wichtig ist, dass auch Autoritäten
ist das Vorgehen nach Intuition. falsche, ineffektive Vorgehensweisen vorschlagen
können, weshalb auch Meinungen bzw. Vorschläge oder nur zum Teil korrekt erkannt wird und sie da-
solcher Personen immer kritisch reflektiert werden durch gefährdet wird.
müssen.
Zusammenfassung:
▌ Versuch und Irrtum Nicht rationale Ansätze zur Problemlösung
Das Verfahren nach Versuch und Irrtum, welches ■ Handeln aus Tradition,
auch als „Trial-and-Error-Methode“ bezeichnet ■ Handeln nach Intuition,
wird, gehört ebenfalls zu den nicht-rationalen Pro- ■ Handeln nach einer Autorität,
blemlösungsansätzen. Ein Versuch ist eigentlich ein ■ Handeln nach Versuch und Irrtum
anderes Wort für ein Experiment. Ein Irrtum ist das sind nicht begründbar, nicht transparent, nicht nach-
fälschliche „Für-Wahr-Halten“ eines Sachverhalts. vollziehbar.
Definition: Die Person, welche die Versuch- 6.2.2 Rationale Ansätze zur Problemlösung
und-Irrtum-Methode anwendet, denkt sich Rationale Problemlösungsansätze sind im Gegensatz
6
einen in ihren Augen richtigen Lösungsweg für zu den nicht-rationalen Ansätzen zielgerichtet und
ein Problem aus, kennt jedoch nicht die Wirkung ihres folgen einer bestimmten Systematik. Sie sind ge-
Handelns. kennzeichnet durch eine Abfolge von einzelnen
Schritten, die das Ergebnis, die Problemlösung,
Auch beim Anwenden der Versuch-und-Irrtum-Me- nachvollziehbar und begründbar machen.
thode kann das Resultat sowohl positiv als auch ne- Außerdem besteht:
gativ ausfallen. Warum das Ergebnis jedoch so aus- ■ eine Verbindung oder Beziehung zwischen der
fällt, kann nicht nachvollzogen werden. Die Basis gewählten Lösung und dem vorhandenen Pro-
dieses Vorgehens bilden das Glück und der Zufall. blem,
■ eine große Zahl von Angaben und Daten zum
Beispiel: Nach dem Prinzip „Versuch und Klären des Problems,
Irrtum“ wurden jahrelang zur Dekubitusbe- ■ eine Beurteilung der eventuellen Folgen und Aus-
handlung die betroffenen Körperstellen ge- wirkungen des Tuns,
eist und anschließend geföhnt. Dadurch sollte die ■ eine Reihe von weiteren Handlungsmöglichkeiten.
Durchblutung und somit der Heilungsprozess der
Haut beschleunigt werden. Neander konnte 1997 Zu den rationalen Problemlösungsansätzen gehören
durch systematische wissenschaftliche Untersuchun- die wissenschaftliche und die allgemein problemlö-
gen feststellen, dass die Annahme, einen Dekubitus sende Methode (Abb. 6.1).
durch Eisen und Föhnen zu therapieren, eine Fehl-
annahme ist. Es wurden häufig Erfrierungen und Ver- ▌ Wissenschaftliche Methode
brennungen der entsprechenden Körperpartien fest- Die wissenschaftliche Methode wird im Rahmen von
gestellt. Zudem konnte nachgewiesen werden, dass Forschungsstudien eingesetzt. Sie wird auch als For-
bei dieser Vorgehensweise vermehrt Infektionen auf- schungsprozess bezeichnet.
traten, da durch das Föhnen Krankheitserreger ver- Die Schritte des Forschungsprozesses umfassen:
wirbelt und vermehrt in die Wunde aufgenommen 1. Identifikation des Forschungsproblems,
wurden. 2. Überprüfung der Literatur,
3. Auswahl eines theoretischen Rahmens,
Das Vorgehen nach dem Prinzip „Versuch und Irr- 4. Aufstellung einer Hypothese,
tum“ wird in der Pflege auf Grund der wachsenden 5. Erstellen eines Forschungsdesigns,
Erkenntnisse aus der Pflegewissenschaft nicht mehr 6. Auswahl einer geeigneten Forschungsmethode,
angewandt. 7. Sammlung und Analyse der Daten,
Nicht rationale Problemlösungsansätze sind 8. Interpretation der erhobenen Daten,
weder zielgerichtet noch systematisch und für ande- 9. Formulierung und Verbreitung der Ergebnisse
re Personen nicht immer nachvollziehbar. Sie sollten (s. a. Kap. 5).
daher nie isoliert angewendet werden, da eventuell
die Situation einer zu betreuenden Person nicht
Mit der expandierenden Pflegewissenschaft nimmt Subsysteme genannt, diese stehen strukturell oder
auch der Anteil an wissenschaftlichen Untersuchun- funktional in einer Wechselbeziehung. Die Ände-
6
gen in der Pflege zu. rung eines Subsystems führt zur Veränderung der
Derzeit besteht eine Reihe von Fragen zu Proble- restlichen Subsyteme im gesamten System. Das Be-
men, in denen Pflegepersonen lediglich nach ihren zeichnende dieser Theorie sind folgende Schritte:
Erfahrungen handeln, sich jedoch noch nicht immer Informationen werden aus der Umgebung auf-
auf wissenschaftliche Ergebnisse berufen können. genommen, der sogenannte „Input“. Im System
Der Bereich der Pflegeforschung nimmt auf Grund wird mit diesen Informationen gearbeitet, das soge-
der vielen Anregungen aus der Praxis jedoch an Be- nannte „Throughput“. Nach dem Durchlauf des Pro-
deutung zu (s. a. Kap. 5). zesses werden die Informationen wieder an die Um-
gebung abgegeben, was als „Output“ bezeichnet
!
Merke: Die wissenschaftliche Methode geht wird. Durch eine Rückkoppelung, oder „Feedback“
systematisch und zielgerichtet vor. Dabei wird das erreichte Ergebnis mit dem zuvor gesteck-
werden die Schritte des Forschungsprozesses ten Ziel verglichen und gegebenenfalls zur Korrektur
eingehalten. wieder ins System eingebracht. So gleicht sich das
neu eingegebene Input immer mehr an das eigent-
▌ Allgemein problemlösende Methode lich beabsichtigte Ziel an. Es entsteht ein dyna-
Die allgemein problemlösende Methode wird auch mischer Prozess, bei dem sich das System kontinu-
als Problemlösungsprozess bezeichnet. Diese Tech- ierlich an die Einflussfaktoren der Umgebung anglei-
nik findet bereits in vielen Fachbereichen Anwen- chen kann.
dung. Soziologen, Pädagogen, Physiotherapeuten, Ein Beispiel für ein System aus der Pflege ist das
Psychologen, Ärzte, Naturwissenschaftler und viele Krankenhaus, das aus einzelnen Subsystemen, den
andere Berufsgruppen arbeiten danach. Die Metho- speziellen Fachgebieten und Abteilungen, besteht.
de des Problemlösungsprozesses enthält Elemente Veränderungen in einem dieser Subsysteme, z. B. in
der Systemtheorie, der Kybernetik und der Entschei- Bezug auf die personelle Besetzung, haben Auswir-
dungstheorie. kungen auf alle anderen Subsysteme sowie auf das
System „Krankenhaus“ als solchem.
▌ Systemtheorie Auch das Organsystem des Menschen ist ein Sys-
Definition: Die Systemtheorie ist eine inter- tem, welches aus den einzelnen Organen Leber,
disziplinäre Wissenschaft, deren Gegenstand Herz, Lunge etc. als untergeordneten Subsystemen
die formale Beschreibung und Erklärung der besteht.
strukturellen und funktionalen Eigenschaften von na-
türlichen, sozialen oder technischen Systemen ist. ▌ Kybernetik
Die zweite Theorie, auf der der Problemlösungspro-
Durch sie sollen nicht nur die statischen, feststehen- zess beruht, ist die Kybernetik. Der Begriff Kyberne-
den, sondern auch die sich verändernden, dyna- tik stammt von dem griechischen Wort „kyberntike“
mischen Aspekte eines Systems dargestellt werden. und wird mit „Steuermannskunst“ übersetzt.
Ein System besteht aus mehreren Einzelteilen, auch
Die Kybernetik arbeitet genau wie die System- Pflege“. Die Pflegeperson erhält in der Informations-
theorie interdisziplinär und fächerübergreifend. sammlung das für ihren Beruf notwendige Input
Ihr Inhalt ist die Zielanalyse und Zielerreichung. durch den hilfsbedürftigen Menschen und seine Be-
Dabei wird ein Regelkreissystem angewendet, bei zugspersonen. Gemeinsam können sie Probleme
dem ein sogenannter „Ist-Wert“ nicht mit dem und vorhandene Ressourcen erkennen. Das Durch-
„Soll-Wert“ identisch ist und mittels gezielter Steue- laufen des Systems, das Throughput, entspricht der
rung so lange beeinflusst wird, bis er dem „Soll- Planung der Pflege mit Zielsetzung und Maßnah-
Wert“ entspricht. menformulierung sowie der durchgeführten Pflege
an sich. Das Output entspricht dem Ergebnis der
▌ Entscheidungstheorie Pflege, welches durch die durchgeführten Pflege-
Die dritte Theorie, die in den Problemlösungspro- maßnahmen erreicht wurde.
zess einfließt, ist die Entscheidungstheorie. Im Sinne der Kybernetik ist der Pflegeprozess ein
Regelkreissystem. Das erzielte Ergebnis wird ana-
Definition: Die Entscheidungstheorie ist die lysiert und erneut in den dynamischen Prozess ge-
6
interdisziplinäre Lehre von Entscheidungsinhal- bracht. Diese Feedbackfunktion wird so lange
ten, Entscheidungsprozessen und Entschei- durchgeführt, bis das geplante Pflegeziel erreicht ist.
dungsverhalten des Einzelnen und von Gruppen. Im Sinne der Entscheidungstheorie geht es um
Unter mehreren Möglichkeiten soll der optimale Weg die Lösung von Pflegeproblemen. Indem die Phasen
zur Zielerreichung ausgewählt werden. der Entscheidungstheorie eingehalten werden, ist
eine Optimierung des Handelns gewährleistet.
Der Entscheidungsprozess besteht aus der: Dabei entspricht die Informationsphase in der Ent-
1. Informationsphase, scheidungstheorie dem ersten Schritt des Pflegepro-
2. Problemphase, zesses nach Fiechter und Meier (s. a. 6.3.3), der In-
3. Alternativphase, formationssammlung, und die Problemphase dem
4. Entscheidungsphase und zweiten Schritt, dem Erkennen von Problemen und
5. Beurteilungsphase. Ressourcen des Patienten.
Die Alternativphase in der Entscheidungstheorie
Nach Durchlaufen der aufeinanderfolgenden Phasen tritt im Pflegeprozess erst auf, wenn die geplanten
wird der neue Stand der Dinge mit der Ausgangslage Pflegemaßnahmen nicht zum erwünschten Ziel ge-
verglichen. Es werden verschiedene Lösungsmöglich- führt haben. Die Entscheidungsphase entspricht
keiten durchprobiert, bis das Ergebnis zufriedenstel- dem dritten, vierten und fünften Schritt des Pfle-
lend ist. Treten mehrere gleiche Probleme auf, kann geprozesses mit Festlegung der Pflegeziele, Planung
der bereits erfolgreich durchlaufene Lösungsweg auf der Pflegemaßnahmen und Durchführung dersel-
die jeweils anderen Probleme übertragen werden. ben. Die Beurteilungsphase entspricht dem sechsten
In der deutschen Pflege wird die allgemein pro- und letzten Schritt des Pflegeprozesses, der Beurtei-
blemlösende Methode in Form des Pflegeprozesses lung der Wirkung der Pflege auf den pflegebedürf-
seit Ende der 70er Jahre diskutiert und angewandt. tigen Menschen.
!
Merke: Die allgemein problemlösende Me-
thode wird in der Pflege in Form des Pfle- 6.3 Modelle des Pflegeprozesses
geprozesses eingesetzt und angewandt.
Es finden sich in der Literatur mehrere Modelle des
Im Pflegeprozess finden sich dementsprechend Ele- Pflegeprozesses, die sich hauptsächlich in der Anzahl
mente der drei vorgestellten Theorien wieder. der aufeinanderfolgenden Phasen beziehungsweise
Im Sinne der Systemtheorie beschreibt der Pfle- der Gliederung der Schritte unterscheiden. Im Folgen-
geprozess die formalen Gegebenheiten in der Pflege. den werden drei Pflegeprozessmodelle vorgestellt:
Diese entsprechen der äußeren Form der Pflege, den 1. „Vier-Phasen-Modell“ von Yura und Walsh,
Vorschriften, welche die einzelne Pflegeperson ein- 2. „Fünf-Phasen-Modell“ nach Brobst,
halten muss. Dazu gehört die im § 4 des Kranken- 3. „Sechs-Phasen-Modell“ von Fiechter und Meier.
pflegegesetzes geforderte „umfassende und geplante
Pflegeassessment/Einschätzung
Pflegediagnosen
Pflegeplanung
Maßnahmen Maßnahmen
durchführen dokumentieren
Pflegeevaluation/Bewertung
Zielerreichung/ Ergeb- den Zustand des Auswertungsbericht wenn nötig den Pfle-
nisse bewerten Patienten neu ein- niederschreiben geplan überarbeiten
schätzen
6.
Beurteilung der 3.
Wirkung der Pfle- Festlegung
ge auf den pfle- der
gebedürftigen Pflegeziele
Menschen
6
4.
5.
Planung
Durchführung
der Pflege-
der Pflege
maßnahmen
Beispiel:
6. Maßnahmenbeurteilung = (Vergleich zwischen
1. Informationssammlung = (Erfassen der Soll- und Ist-Zustand)
Ist-Situation) Die Birne sitzt korrekt in der Fassung, das Licht
Eine Person betritt das Wohnzimmer, um ein Buch brennt, das Lesen im Raum ist wieder möglich.
zu lesen. Der Raum ist dunkel, das Licht im Raum Das Ziel bzw. der Soll-Zustand ist erreicht.
kann nicht angeschaltet werden, es funktioniert Der Problemlösungsprozess ist erfolgreich abge-
nicht. schlossen.
2. Problemformulierung und Erkennen von Ressour-
cen = (Definition des Problems) In Tab. 6.1 werden die einzelnen Schritte der Vier-,
Das Lesen im Zimmer ist unmöglich, da das Licht Fünf- und Sechs-Phasen-Pflegeprozess-Modelle zur
nicht anzuschalten ist. Die Glühbirne ist defekt. Es Veranschaulichung gegenübergestellt.
ist eine Glühbirne als Reserve im Haus (Erkennen Alle vorgestellten Modelle gehen übereinstim-
der Ressourcen). mend davon aus, dass es sich bei dem Pflegeprozess
3. Zielfestlegung = (Formulierung des Soll-Zustan- um einen dynamischen, zyklischen Vorgang handelt.
des) Die einzelnen Schritte bzw. Phasen bauen jeweils
Der Raum ist beleuchtet. Das Lesen im Raum ist aufeinander auf. Die pflegerische Versorgung passt
wieder möglich. sich beim Arbeiten nach dem Pflegeprozess kontinu-
4. Maßnahmenplanung = (Suche nach Entschei- ierlich den Bedürfnissen des zu pflegenden Men-
dungs- und Lösungsmöglichkeiten) schen und seiner Umwelt an, bis dieser die Pflege
Die Glühbirne mit der entsprechenden Wattzahl nicht mehr benötigt.
auswählen. Kann ich die Birne selbstständig aus- Alle drei Modelle enthalten folgende fünf Haupt-
tauschen oder brauche ich eine Hilfsperson? Wer- komponenten:
den Hilfsmittel, z. B. eine Leiter, benötigt? 1. Erfassen der Situation des betroffenen Menschen,
5. Durchführung der geplanten Maßnahmen 2. Planen der Pflege,
Das Warten auf eine Hilfsperson ist nicht notwen- 3. Durchführung der geplanten Pflege und die
dig. Die Glühlampe wird unter Zuhilfenahme einer 4. Auswertung der durchgeführten Pflege, sowie
Leiter ausgetauscht. 5. Anpassung an den aktuellen Pflegebedarf.
!
Merke: Der Pflegeprozess ist eine wissen- und Neuanpassung enthalten“ (Fiechter und Meier
6 schaftliche, systematische, zielgerichtete, 1998).
kontinuierliche und dynamische Methode Pflege ist für sie darüber hinaus „ein zwischen-
der Pflege zur Problemlösung. Er beginnt mit dem ers- menschlicher Beziehungsprozess, bei dem zwei Per-
ten Kontakt der Pflegeperson mit der zu betreuenden sonen (Pflegender und Gepflegter) zueinander in
Person und endet mit dem letzten Kontakt zu diesem Kontakt treten, um ein gemeinsames Ziel, das Pfle-
Menschen. Die einzelnen Schritte bzw. Phasen des Pfle- geziel, zu erreichen. Schwester und Patient stehen
geprozesses bauen logisch aufeinander auf und stehen zueinander in einer Wechselwirkung und beeinflus-
in einer Wechselbeziehung zueinander. sen ihr Verhalten gegenseitig. Beide sind in ihren
Wahrnehmungen von verschiedenen Faktoren, die
Zusammenfassung: in der gegenwärtigen Situation liegen oder aus der
Modelle des Pflegeprozesses persönlichen Lebensgeschichte stammen, beein-
■ unterscheiden sich weniger im Inhalt als in ihrer flusst“ (Fiechter und Meier 1998).
Gliederung, Diese Definition enthält die beiden zentralen
■ zeichnen sich durch Wechselbeziehungen zwischen Aussagen:
den einzelnen Phasen (dynamischer Prozess) aus ■ Der Pflegeprozess ist eine systematische, zielge-
und richtete Methode zur Problemlösung. Bei der
■ werden zyklisch durchlaufen, bis kein weiterer Pflege von Menschen muss ein rationaler Pro-
Handlungsbedarf besteht. blemlösungsansatz eingesetzt werden.
■ Der Pflegeprozess ist ein zwischenmenschlicher
Beziehungsprozess, bei dem eine Pflegeperson
6.4 Pflegeprozess als und ein hilfsbedürftiger Mensch in Beziehung zu-
Problemlösungs- und einander treten. Er ist auf alle Altersgruppen von
Beziehungsprozess Menschen, Neugeborene, Kleinkinder, Jugend-
liche, Erwachsene oder alte Menschen, anwend-
Verena Fiechter und Martha Meier beschreiben den bar. Nicht nur die betroffene hilfsbedürftige Per-
Pflegeprozess nicht nur als Problemlösungs-, son- son, sondern auch deren soziales Umfeld, wie
dern auch als Beziehungsprozess. Für sie verfolgt Angehörige, Lebenspartner, Freunde, Nachbarn
der Pflegeprozess das Ziel, auf systematische Art oder sonstige Personen, welche in die Pflege in-
und Weise dem Bedürfnis des Patienten nach pfle- tegriert sind, sollen in den Prozess mit einbezo-
gerischer Betreuung zu entsprechen. gen werden, damit auch sie sich – wenn nötig –
Der Pflegeprozess besteht „aus einer Reihe von zu bestehenden Problemen, Gewohnheiten und
logischen, voneinander abhängigen Überlegungs-, vorhandenen Fähigkeiten äußern können.
Entscheidungs- und Handlungsschritten, die auf
eine Problemlösung, also auf ein Ziel hin, ausgerichtet Als Methode zur Problemlösung (Problemlösungs-
sind und im Sinne eines Regelkreises einen Rückkop- prozess) beinhaltet der Pflegeprozess die Vorausset-
pelungseffekt (Feedback) in Form von Beurteilung zung für wissenschaftliches, methodisches Vor-
gehen. Die Arbeitsweise muss organisiert und struk-
turiert sein (s. a. 6.2.2). Außerdem wird durch syste- Sie muss geprägt sein von gegenseitiger Akzep-
matisches Pflegen eine gleichbleibende Pflegequali- tanz auch bei unterschiedlichen Werten und Nor-
tät gewährleistet, der Pflegebedarf der einzelnen men, von Aufmerksamkeit, Engagement, von der Be-
Person wird genau dargelegt und begründet. reitschaft zur Unterstützung, von Zuwendung und
Der Pflegeprozess gibt somit ein System vor, das Anteilnahme. Hierdurch entsteht eine Atmosphäre,
sich jede Pflegeperson zu Eigen machen sollte, um in der Vertrauen und Wohlbefinden der hilfsbedürf-
ein systematisches, organisiertes, strukturiertes, ko- tigen Person wachsen kann; die Lebenskräfte, Reser-
ordiniertes und kontinuierliches Pflegen zu ermög- ven und Energien werden für den Genesungsprozess
lichen. aktiviert. Diese Atmosphäre gibt Raum für eine of-
Der Pflegeprozess verläuft darüber hinaus zielge- fene Begegnung, in der der betreute Mensch Fragen
richtet. Menschen, die auf Grund einer Erkrankung stellen und seine Wünsche, Bedürfnisse und Be-
in eine Abhängigkeit geraten sind, wird durch be- fürchtungen mitteilen und somit aktiv in den Pfle-
wusstes pflegerisches Handeln im Rahmen des Pfle- geprozess einbezogen werden kann. Auf diese Weise
geprozesses geholfen, ihren persönlichen Bedürfnis- können nicht nur die physischen, sondern auch die
6
sen des alltäglichen Lebens gerecht zu werden. psychischen Belange eines Menschen Berücksichti-
Die wissenschaftliche Methode der Problemlö- gung finden und Fehleinschätzungen von Seiten der
sung dient als Hilfsmittel für die Beschreibung und Pflegenden reduziert werden (Sieger et al. 2010).
Bewertung der Pflege. Mit Hilfe des Pflegeprozesses In allen Phasen des Pflegeprozesses wird die zwi-
können die Aufgaben und Tätigkeiten der Pflege schenmenschliche Beziehung zwischen Pflegeper-
transparent dargestellt und der Erfolg überprüft son und zu Pflegenden – in unterschiedlicher Inten-
werden. Die Pflege als Berufsgruppe kann ihren ei- sität – entwickelt. Die Aufnahme und Entwicklung
genen Aufgabenbereich verdeutlichen, sich gegen- einer erfolgreichen pflegerischen Beziehung ist an
über anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen verschiedene Bedingungen geknüpft.
abgrenzen und vor allem die Zusammenarbeit mit So muss die Pflegeperson sich ihrer eigenen Per-
den Personen, die ihre Dienstleistung in Anspruch sönlichkeit bewusst sein. Dazu gehört auch die Fä-
nehmen, verbessern. higkeit, Faktoren zu kennen, die menschliches Ver-
Der Pflegeprozess gestaltet sich auch als ein dy- halten beeinflussen. Pflegepersonen sind darüber
namischer Beziehungsprozess. Durch ihn werden hinaus gefordert, ihr eigenes Erleben und ihre Ge-
die intersubjektiven (zwischenmenschlichen) und fühle ehrlich wahrzunehmen, sie sich bewusst zu
intrasubjektiven (innermenschlichen) Dimensionen machen und kontinuierlich zu reflektieren.
deutlich, die bei jedem Aufeinandertreffen von Men- Auch Meinungen, Überzeugungen und Einstel-
schen stattfinden. lungen zu Themen wie Krankheit, Gesundheit, Alter,
Der Pflegeprozess wird nur dann optimal und Tod, Geburt, Drogenkonsum, etc. müssen bewusst
somit effektiv durchlaufen, wenn auch eine erfolg- reflektiert werden, da sie die Haltung gegenüber
reiche zwischenmenschliche Beziehung zwischen einem anderen Menschen beeinflussen. Diese Refle-
der Pflegeperson und der zu betreuenden Person xion ermöglicht einen beruflichen wie auch persön-
besteht.
Problemlsungsprozess Beziehungsprozess
Ð zielgerichtet Ð offene Begegnung
Ð systematisch Ð aktiviert Ressourcen
Ð logisch Ð Bedrfnisse und Wnsche knnen
Ð transparent artikuliert werden
lichen Reifungsprozess und die Entwicklung einer tenerhebung im Rahmen der Informationssamm-
professionellen Haltung gegenüber pflegebedürfti- lung unterschieden.
gen Menschen. Letztlich können Pflegepersonen Die gesammelten Informationen sind die Basis
nur so auf die sich immer wieder verändernden Le- für alle weiteren Schritte im Pflegeprozess. Nur
benssituationen der einzelnen Menschen eingehen. wenn alle pflegerelevanten Informationen bekannt
Der Pflegeprozess ist nicht nur eine systemati- sind, können Pflegeprobleme, Ressourcen und Pfle-
sche, logische Methode der Pflege, sondern auch geziele richtig erkannt und benannt, sowie die ge-
ein Beziehungsprozess zwischen zu Pflegenden und eigneten Pflegemaßnahmen ausgewählt werden.
professionell Pflegenden. Er lebt von der Interaktion Nur dann besteht Aussicht auf Erfolg der Pflege.
beider Partner und dient als Strukturierungshilfe,
die mit den konkreten Inhalten der jeweiligen Pflege ▌ Objektive und subjektive Daten
gefüllt werden muss (Abb. 6.5). Im Rahmen der Informationssammlung wird zwi-
schen objektiven und subjektiven Daten unterschie-
den.
6 6.5 Schritte des Pflegeprozesses Unter objektiven Daten werden Daten bezie-
hungsweise Informationen verstanden, die unvor-
Im Folgenden werden die Schritte des Pflegeprozes- eingenommen und unparteiisch, ohne persönliche
ses näher beschrieben. Dabei wird das Modell des Wertung und nicht von persönlichen Gefühlen und
Pflegeprozesses nach Fiechter und Meier zugrunde Vorurteilen bestimmt sind. Sie sind unabhängig von
gelegt, da ihr Modell im deutschsprachigen Raum einer subjektiven Sichtweise. Zu den objektiven
häufig angewandt wird. Daten gehören alle messbaren Werte. Würde eine
zweite Person bei übereinstimmenden Bedingungen
6.5.1 Informationssammlung die Daten bei der gleichen Person ermitteln, käme
Der erste Schritt im Pflegeprozess nach Fiechter und sie zu identischen Ergebnissen.
Meier ist die Informationssammlung.
Beispiel: Objektive Daten sind die Körper-
Definition: Das Wort Information stammt von größe, das Körpergewicht, die Körpertem-
dem lateinischen „informatio“, was so viel wie peratur, die Blutdruckwerte, die Pulsfre-
„Bildung“ oder „Belehrung“ bedeutet. Im Be- quenz, die Menge der Flüssigkeitsein- und -ausfuhr,
reich der Kommunikation ist die Information eine alle Laborwerte, Pupillenreaktion, etc.
Mitteilung, Nachricht oder Auskunft.
Subjektive Daten hingegen sind immer auf ein Sub-
Informationen über den pflegebedürftigen Men- jekt bezogen, sie sind vom Subjekt ausgehend und
schen können durch die Erhebung von Daten, zum von diesem abhängig. Subjektive Daten sind von Ge-
Beispiel im Rahmen von Messungen, Beobachtungen fühlen, Stimmungen und Urteilen bestimmt, also
oder Befragungen gewonnen werden (s. a. Band 2, bewertet und parteiisch. So kann ein und derselbe
Kap. 3). Ziel und Zweck einer umfassenden Informa- ausgelöste Schmerzreiz (gleiche Dauer, dieselbe In-
tionssammlung in der Pflege ist es, den zu pflegen- tensität, gleiche Lokalisation) von mehreren Per-
den Menschen kennenzulernen und seine Gesund- sonen unterschiedlich stark empfunden werden.
heits- bzw. Krankheitssituation so vollständig wie Subjektive Daten sind Äußerungen über ein Empfin-
möglich zu erfassen. den.
Die Informationssammlung ist ein kontinuierli-
cher Prozess. Sie findet bei der ersten und bei jeder Beispiel: Subjektive Daten können Äuße-
weiteren Interaktion mit dem zu betreuenden Men- rungen über Schmerzen, Ängste, Einsamkeit,
schen statt. Informationen beziehungsweise Daten Müdigkeit, Zukunftssorgen oder Erwartun-
können unterschiedlich klassifiziert werden. Unter- gen und Vorstellungen sein.
schieden werden objektive, subjektive, direkte und
indirekte Daten. Ebenso werden Beobachtungen der
hilfsbedürftigen Menschen und Gespräche mit
ihnen und ihren Angehörigen als Methoden der Da-
!
Merke: Zu den objektiven Daten gehören quelle die Informationen stammen. Direkte Daten
alle messbaren Werte. Zu den subjektiven stammen direkt von dem entsprechenden pflegebe-
Daten werden alle Informationen, die dürftigen Menschen, deshalb werden sie auch als
durch die Aussagen von der zu betreuenden Person Daten „aus erster Hand“ bzw. primäre Daten be-
über ihr jeweiliges Empfinden erhoben werden, ge- zeichnet. Grundsätzlich können direkte Daten so-
rechnet. Sie sind nicht messbar.
wohl objektiv als auch subjektiv sein. Da sie direkt ▌ Methoden der Datenerhebung
vom betroffenen Menschen stammen, haben sie na- Zu den Methoden der Datenerhebung im Rahmen
turgemäß eine hohe Aussagekraft. Dabei spielen der Informationssammlung gehören die Beobach-
neben verbalen auch nonverbale Äußerungen, zum tung des Menschen sowie Gespräche, insbesondere
Beispiel mittels der Mimik, Gestik, Körperhaltung, das Aufnahmegespräch.
etc. eine Rolle. Sie müssen gemeinsam mit dem be-
troffenen Menschen auf ihre Bedeutung hin einge- ▌ Beobachtung
ordnet werden. Als Beobachtung wird das aufmerksame und be-
Indirekte Daten werden aus sogenannten Sekun- wusste, zielgerichtete und systematische Wahrneh-
därquellen gewonnen. Die Information kann nur in- men eines Zustandes, Verhaltens oder einer Situati-
direkt, das heißt „aus zweiter Hand“ erhoben wer- on bezeichnet. Beobachtung geschieht über die
den. Auch sie können objektiver oder subjektiver Sinne und kann durch Hilfsmittel und technische
Natur sein. Indirekte Daten werden von Drittper- Geräte unterstützt werden. Zu den Sinnen werden
sonen, zum Beispiel Verwandten, Lebenspartnern, gerechnet:
6
Freunden, Nachbarn, Pflegepersonal, Ärzten etc. ge- ■ Sehen (optischer Sinn),
wonnen. Auch Patientendokumente wie Kurven, ■ Hören (akustischer Sinn),
Überweisungsbögen, Anamnesebögen, Kranken- ■ Tasten (haptischer, taktiler Sinn),
geschichte, Befunde jeglicher Art etc. können Quel- ■ Riechen (olfaktorischer Sinn),
len für indirekte Daten sein. ■ Schmecken (gustatorischer Sinn).
Ein vollständiges Bild der Situation des betroffe-
nen Menschen kann nur entstehen, wenn so viele Je mehr Sinne aktiviert und eingesetzt werden,
Datenquellen wie möglich genutzt werden. desto differenzierter und umfassender ist die Beob-
achtung.
!
Merke: Direkte Daten beziehungsweise In- Die Beobachtung unterliegt wie die Wahrneh-
formationen werden direkt vom betroffenen mung verschiedenen Einflussfaktoren. Hierzu gehö-
Menschen erhoben. Dieser stellt hierbei die ren physische Faktoren, wie z. B. Müdigkeit, psy-
primäre Quelle der Information dar. Indirekte Daten chische Faktoren, z. B. Liebeskummer oder äußere
werden aus Sekundärquellen, also von anderen Per- Rahmenbedingungen, die sich auf die Qualität der
sonen oder aus schriftlichen Aufzeichnungen gewon- Beobachtung auswirken (s. a. Band 2, Kap. 1 u. 2).
nen. Auch sollten sich beobachtende Pflegepersonen
darüber im Klaren sein, dass es sich in einer Pflege-
▌ Assessment-Instrumente situation meist um eine teilnehmende Beobachtung
Derzeit haben sich einige Assessment-Instrumente handelt. Bei der teilnehmenden Beobachtung nimmt
beim Feststellen des tatsächlichen Pflegebedarfs in der Beobachter durch seine Anwesenheit auf die be-
der Praxis bewährt. Der Begriff „Assessment“ obachtete Situation Einfluss. Es ist wichtig, seine ei-
stammt aus der englischen Sprache und bedeutet genen Gefühle und das eigene Verhalten als Ein-
(Ein-)Schätzung. Im deutschsprachigen Raum wer- flussfaktoren auf die Qualität der Beobachtung zu
den Assessment-Instrumente zur systematischen kennen. Es hängt zu einem großen Teil von dem
Erhebung des speziellen Pflegebedarfs von Patien- Beobachter ab, was er sieht und was er sehen möch-
tengruppen, z. B. in der Pädiatrie, Onkologie oder te.
Gerontologie und in Form von Skalen zur Einschät- Im Zusammenhang mit der Beobachtung ist auch
zung bestimmter Risiken eines pflegebedürftigen die körperliche Untersuchung, das Messen und Er-
Menschen, z. B. des Thromboserisikos (s. Bd. 4; mitteln von pflegerelevanten physischen Daten bei
Kap. 13) eingesetzt. Einschätzungsinstrumente hel- der Informationssammlung von Bedeutung.
fen, die Aufmerksamkeit für pflegerelevante Daten Durch den Einsatz von Hilfsmitteln werden ob-
zu erhöhen. Beachtet werden muss jedoch, dass jektive Parameter, wie zum Beispiel der Blutdruck-
nicht alle Instrumente ausreichend wissenschaftlich wert, die Pulsfrequenz, das Körpergewicht, die Kör-
fundiert sind und sie damit in Bezug auf ihre Vali- pergröße, die Körpertemperatur, die Atemfrequenz
dität jeweils kritisch überprüft werden müssen. etc. festgestellt. Das Erfassen dieser körperlichen Pa-
rameter kann in ein Aufnahmegespräch zwischen
Pflegeperson und pflegebedürftigen Menschen inte- Teambesprechungen, bei der Verrichtung einer Pfle-
griert werden. getätigkeit oder dem Besuch eines Angehörigen etc.
Eine Reihe von Hilfsmitteln können in der Pflege Dabei spielt das Erstgespräch zwischen pflegebe-
zur Messung eingesetzt werden, z. B. Blutdruck- dürftigem Menschen und betreuender Pflegeperson
messgerät, Stethoskop, Pulsuhr, Waage, Messlatte, eine besondere Rolle, da dabei die pflegerische Be-
Thermometer etc. ziehung beginnt.
Die so ermittelten Informationen gehören zu den Für das Gespräch zur Informationssammlung
objektiven Daten. Auch Wunden, Bewegungsein- zwischen Pflegeperson und pflegebedürftigem
schränkungen des pflegebedürftigen Menschen Menschen gibt es verschiedene sprachliche Begriffe.
o. Ä. müssen im Rahmen der Informationssammlung Dementsprechend sind die entsprechenden Formu-
(Abb. 6.7) so präzise wie möglich beschrieben wer- lare für die Dokumentation der Informationen, wel-
den (s. a. Band 2). che aus diesem Gespräch entnommen werden, un-
terschiedlich überschrieben.
!
Merke: Beobachten ist das aufmerksame
6
!
und bewusste, zielgerichtete und systemati- Merke: Die Begriffe Aufnahmegespräch und
sche Wahrnehmen eines Zustandes, Verhal- Pflegeanamnese werden oft synonym ver-
tens oder einer Situation. Beim Beobachten werden wendet.
alle Sinnesorgane aktiviert. Ziel der Beobachtung in
der Pflege ist es, Informationen zu erhalten, um die Sobald ein pflegebedürftiger Mensch im Kranken-
Situation und den Zustand eines Menschen genau er- haus oder Pflegeheim aufgenommen ist oder der
fassen zu können. erste Besuch in der häuslichen Pflege stattgefunden
hat, sollte das Anamnesegespräch geplant werden.
▌ Aufnahmegespräch Dabei sind auch Angehörige in das Gespräch ein-
Es gibt viele Gesprächssituationen, in denen Infor- zubeziehen. Der Inhalt, Ablauf und zeitliche Umfang
mationen ausgetauscht werden, zum Beispiel zwi- des Gespräches ist in starker Weise von dem Befin-
schen pflegebedürftigem Menschen und Pflegeper- den und den Bedürfnissen des zu Pflegenden und
son, Angehörigen und anderen an der Pflege Betei- seiner Angehörigen abhängig.
ligten oder zwischen der Pflegeperson und den An- In der Regel findet das Aufnahmegespräch im
gehörigen. Diese Gesprächssituationen ergeben sich Krankenhaus nach einer kurzen Ruhepause, im An-
bei der Pflegevisite, bei der Dienstübergabe, den schluss an die ärztliche Aufnahme, statt. Lässt der
Zustand des pflegebedürftigen Menschen kein Ge-
spräch zu, kann es auf einen späteren Termin ver-
schoben werden. Dieser sollte auf Normalstationen
Informationen im Pflegeprozess
Ziel: genaues Erfassen der Situation und des Zustan- jedoch innerhalb der ersten 24 Stunden nach der
des eines Menschen Aufnahme liegen.
Um auf das Gespräch gut vorbereitet zu sein,
Daten sollten zuvor die Einweisungspapiere mit der Ein-
weisungsdiagnose und evtl. durchgeführten Unter-
objektive Daten subjektive Daten
suchungen und deren Ergebnisse von der Pflegeper-
son gesichtet werden. Für das gegenseitige Kennen-
Daten lernen ist ein angenehmes Klima während der Ge-
sprächssituation sehr fördernd.
direkte Daten indirekte Daten Zum Gespräch gehört, dass sich die Pflegeperson
mit Namen vorstellt und ihre berufliche Qualifikation
Methoden der Datenerhebung: nennt. Sie weist den pflegebedürftigen Menschen auf
Ð Beobachtung (inkl. Messung, krperliche Unter-
seinen privaten Bereich für die Zeit des Krankenhaus-
suchung)
Ð Gesprch aufenthaltes hin, nennt die zuständigen Pflegeper-
sonen und Stationsärzte, bespricht den Stationsablauf
Abb. 6.7 Datenerhebung in der Informationssammlung und das weitere Vorgehen bei der Diagnose oder The-
rapie und zeigt die Räumlichkeiten der Station.
Um eine entspannte Atmosphäre zu schaffen, ist den. Die Ergebnisse des Gesprächs werden auf
es nützlich, eine Sitzgruppe oder einen anderen einem entsprechenden Formular schriftlich doku-
Raum aufzusuchen. Ist dies nicht möglich, sollten mentiert (Abb. 6.8).
mobile Mitpatienten aus dem Zimmer gebeten wer-
!
den. Der gemeinsame Austausch sollte nicht unter- Merke: Dem Aufnahmegespräch kommt bei
brochen werden. Um Ablenkungen von außen zu der Datenerhebung eine wichtige Rolle zu, da
vermeiden, kann ein Schild „Bitte nicht stören“ an es meist die erste längere Begegnung zwi-
der Zimmertür angebracht werden. schen Pflegeperson und pflegebedürftigem Menschen
Während der Besprechung sollten auf keinen Fall ist.
gleichzeitig Pflegeinterventionen durchgeführt wer-
den. Die Pflegeperson informiert die am Gespräch ▌ Dokumentation der erhobenen Daten
teilnehmenden Personen über Sinn, Inhalt und Die Dokumentation der erhobenen Daten sollte di-
Dauer des Gesprächs. Das Gespräch sollte ruhig, ent- rekt im Anschluss an die Informationssammlung er-
spannt, aber mit Aufmerksamkeit und voller Kon- folgen. Dabei muss die Vollständigkeit der erhobe-
6
zentration durchgeführt werden. Nur so können nen Daten gewährleistet sein. Es sind bestimmte
sich die Gesprächspartner ganz auf den Dialog mit Kriterien zu berücksichtigen, um ein einheitliches
ihrem Gegenüber einlassen. Vorgehen aller an der Dokumentation beteiligten
Die Pflegeperson leitet das Gespräch und achtet Personen zu gewährleisten.
dabei gleichzeitig auf verbale und nonverbale Äuße- Es wird kurz, knapp, klar und präzise formuliert.
rungen ihres Gesprächspartners. Der pflegebedürf- Dabei müssen die Daten, wenn sie Eigeneinschätzun-
tige Mensch soll die Möglichkeit haben, ihn beschäf- gen, Wertungen oder Interpretationen enthalten,
tigende Fragen zu stellen. entsprechend als subjektive Daten gekennzeichnet
Die Pflegeperson macht sich während des Ge- werden. Dies gilt gleichermaßen für Aussagen der
spräches ein Bild von der aktuellen Situation, den pflegebedürftigen Menschen oder der Angehörigen
Fähigkeiten, Problemen und den momentanen Le- wie für subjektive Eindrücke des Pflegepersonals.
bensgewohnheiten des pflegebedürftigen Men- Die Schrift muss für alle am Pflegeprozess Betei-
schen. Gute Fachkenntnisse und eine geschulte Be- ligten lesbar sein. Jeder Eintrag wird mit Datum,
obachtungsgabe sind hierfür Voraussetzungen. Uhrzeit und einer Unterschrift bzw. einem Handzei-
Ziel des Gespräches ist es, ein Vertrauensverhält- chen versehen. Sobald von der Norm abweichende
nis aufzubauen, auf dessen Basis die aufgenommene Daten erhoben werden, sind diese sofort dem Arzt
Person sich auf detaillierte Aussagen einlassen kann. und den weiteren betreuenden Personen des profes-
Dabei sollten überwiegend offene Fragen gestellt sionellen Teams zu melden.
werden, die dem Gesprächspartner Gelegenheit ge- Bei der fortlaufenden Informationserhebung
ben, seine Belange mit seinen Worten zu äußern. werden die Reaktionen auf die Behandlung im Kur-
Durch aktives Zuhören und eine offene Körperhal- venblatt und dem Pflegebericht dokumentiert. Jede
tung signalisiert die Pflegeperson ihr Interesse an Zustandsveränderung wird eingetragen und mit der
ihrem Gesprächspartner (s. a. Kap. 10). Wichtig ist Situation am Aufnahmetag oder den gesetzten pfle-
hierbei eine vorurteilsfreie und empathische Hal- gerischen Zielen verglichen. Gegebenenfalls erfor-
tung der Pflegeperson, damit der zu Pflegende dert die fortlaufende Informationssammlung eine
seine Wünsche und Probleme offen ansprechen Änderung im Pflegeplan (s. a. 6.5.4).
kann.
Auf keinen Fall sollte ein „Frage- und Antwort- Zusammenfassung:
spiel“ entstehen, weshalb in diesem Zusammenhang Informationssammlung
auf einen kritischen Umgang mit standardisierten ■ Für die Informationssammlung ist eine gute Vor-
Fragebögen hingewiesen wird. Checklisten über die bereitung und geplante Durchführung ebenso
einzelnen Problem- und Lebensbereiche können als wichtig wie die Pflegeanamnese.
Strukturierungshilfe unterstützend bei den ersten ■ Die im Gespräch gewonnenen Informationen wer-
Gesprächen hinzugenommen werden. Sie dienen je- den anschließend im Pflege-Aufnahme-Protokoll
doch lediglich als Merkhilfe und dürfen nicht wie festgehalten:
beim Fragebogen Punkt für Punkt „abgehakt“ wer-
Fallsituation:
Frau Perlinger ist 72 Jahre alt und lebt seit 10 Jahren mit ihrem vier Jahre jüngeren Lebenspartner Herrn Moser in einer 4-Zimmer-Wohnung im
Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses am Stadtrand. Frau Perlinger hat einen Sohn, der ca. 20 km entfernt mit seiner Familie in einem kleinen
Dorf wohnt, ihre Tochter lebt in den USA. Ihre Tochter sieht sie aufgrund der Entfernung nur sehr selten, pflegt aber über Skype eine enge Ver-
bindung mit ihr und ihren Enkelkindern. Ihr Sohn besucht sie und ihren Lebenspartner mindestens einmal in der Woche, um sie bei den Einkäufen
und bei der Pflege des kleinen Schrebergartens zu unterstützen.
Vor drei Jahren stürzte Frau Perlinger beim nächtlichen Toilettengang und zog sich eine Oberschenkelhalsfraktur rechts zu. Frau Perlinger bekam
damals aufgrund ihres Alters eine zementierte Hüft-TEP implantiert. Sie war anschließend in der Rehabilitationsklinik und kann ihr Bein normal
belasten. Frau Perlinger hat eine bekannte globale Herzinsuffizienz, die medikamentös gut eingestellt ist.
Herr Moser berichtet, dass seine Lebenspartnerin nach dem damaligen Klinikaufenthalt jedoch körperlich sehr abgebaut hat. Sie hat Angst zu
stürzen und geht deshalb auch nicht mehr oft aus dem Haus. Frau Perlinger wurde vor zwei Tagen wegen Exsikkose und allgemeiner Schwäche in
die Klinik eingewiesen. Sie hat zu Hause kaum noch etwas getrunken und auch nur wenig gegessen. Als ihr Sohn zu Besuch kam, fand er sie im
Sessel sitzend vor und seine Mutter wirkte leicht desorientiert.
Frau Perlinger berichtet im Erstgespräch auf die Nachfrage, warum sie so wenig getrunken habe, dass sie Schmerzen beim Wasserlassen hatte und
sie diese durch das wenige Trinken vermeiden wollte. In ungewohnter Umgebung klagt Frau Perlinger immer wieder über Ein- und Durchschlafstö-
rungen. Seit zwei Jahren besitzt sie einen Rollator, an dem sie kurze Strecken sicher und ohne Belastungsdyspnoe gehen kann.
6
trägt Hörgerät, hat
Lydia Perlinger, 72 Jahre dieses aber oft nicht
weiblich eingeschaltet
Exsikkose, reduzierter
Allgemeinzustand
Abb. 6.8 a Fallstudie Frau Perlinger, b Beispiel für ein Pflege-Aufnahme-Protokoll anhand der Fallstudie von Frau Perlinger
!
Merke: Der erste Schritt im Pflegeprozess 3. verdeckte Pflegeprobleme,
nach Fiechter und Meier ist die Informati- 4. generelle Pflegeprobleme und
onssammlung. Die durch Beobachtung, kör- 5. individuelle Pflegeprobleme.
perliche Untersuchung und Gespräche ermittelten ob-
jektiven, subjektiven, direkten und indirekten Daten Ein aktuelles Problem ist real, es ist momentan vor-
sind die Basis für alle weiteren Schritte im Pflegepro- handen und kann durch die Pflegeperson beobachtet
zess. oder durch eine körperliche Untersuchung fest-
gestellt werden. Der pflegebedürftige Mensch ist
6.5.2 Erkennen von Pflegeproblemen und meist in der Lage das aktuelle Problem zu benennen.
Ressourcen des pflegebedürftigen
Menschen Beispiel: Ein aktuelles Problem kann sein:
Der zweite Schritt im Pflegeprozess nach Fiechter Herr M. leidet aufgrund einer Stomatitis
und Meier umfasst das Erkennen von Pflegeproble- unter Schmerzen.
men und Ressourcen des pflegebedürftigen Men- Potenzielle Pflegeprobleme sind mögliche Probleme,
schen. die bei einem pflegebedürftigen Menschen aufgrund
einer spezifischen Situation eintreten können, aber
▌ Pflegeprobleme nicht zwangsläufig eintreten müssen. Sie können
Fiechter und Meier definieren ein Problem als eine durch eine qualifizierte Pflegeperson vorhergesehen
„Beeinträchtigung des Patienten in irgendeinem Le- werden.
bensbereich, die seine Unabhängigkeit einschränkt
und ihn belastet. Wenn er dieses Defizit nicht selber Potenzielle Pflegeprobleme sind momentan nicht
kompensieren kann, braucht er Pflege. Wenn er sel- akut, können aber in Zukunft auftreten. Durch pro-
ber damit fertig wird, ist es weder für ihn noch für phylaktische Maßnahmen kann verhindert werden,
die Schwester ein Problem“ (Fiechter und Meier dass ein potenzielles Problem zu einem aktuellen
1990, S. 49). Problem wird.
Beispiel: Ein potenzielles Problem kann lich durch eine vorliegende Bewegungseinschrän-
sein: Herr M. ist aufgrund einer Nahrungs- kung wie eine Hemiplegie beeinträchtigt ist.
und Flüssigkeitskarenz soor- und parotitis- Individuelle Pflegeprobleme dagegen sind cha-
gefährdet. rakteristisch für einen bestimmten Menschen. Sie
sind für ihn typisch und betreffen seine persönliche
Verdeckte Pflegeprobleme sind nicht offenkundig. Lebenssituation und sein persönliches Erleben.
Entweder kennt der betroffene Mensch sie und Individuelle Pflegeprobleme lassen sich nicht ge-
möchte nicht darüber reden oder er ist sich ihrer neralisieren. Sie treten zu generellen Pflegeproble-
nicht bewusst. Die Pflegeperson kann verdeckte men hinzu.
Pflegeprobleme anhand des Verhaltens und der
Stimmungslage eines Menschen lediglich vermuten. Beispiel: Ein individuelles Problem kann
Ein Vertrauensverhältnis zwischen Pflegeperson sein: Herr M. kann sich aufgrund seiner
und der zu betreuenden Person ist sehr wichtig, Sehbehinderung nicht selbstständig in der
damit verdeckte Pflegeprobleme offen angespro- für ihn ungewohnten Umgebung des Krankenhauses
6
chen werden können. bewegen.
!
rekte und indirekte Daten durch Beobachtung, kör- Merke: Die Problemformulierung umfasst
perliche Untersuchungen und im Gespräch ermittelt die Art und Weise des Defizits, den Bereich
(Pflegeanamnese). Die erhobenen Daten werden der Beeinträchtigung, den Umfang des Prob-
analysiert, d. h. systematisch untersucht und im lems sowie dessen Ursachen und Auswirkungen auf
Hinblick auf ihre Bedeutung für den pflegebedürfti- den betroffenen Menschen.
gen Menschen interpretiert. Hieraus ergeben sich
eine oder mehrere Annahmen bezüglich des Pflege- Die Angabe von Ursachen für die bestehenden Pfle-
bedarfs, sog. Hypothesen. Diese Annahmen werden geprobleme ist deshalb notwendig, weil nur so in
durch gezielte weitere Informationssammlung be- einer späteren Phase des Pflegeprozesses das Pro-
stätigt, konkretisiert oder widerlegt und in Pfle- blem richtig gelöst werden kann. Wenn die Ursache
geproblemen bzw. -diagnosen ausgedrückt. des Problems nicht bekannt ist, ist eine Vielzahl von
Maßnahmen zur Problemlösung denkbar.
▌ Dokumentation der Pflegeprobleme
Im Pflegeplan werden die Pflegeprobleme nach Beispiel: Leidet ein Mensch unter einer Im-
6
ihrer Priorität, d. h. entsprechend ihrer Dringlichkeit mobilität aufgrund einer Hemiplegie nach
und Wichtigkeit aufgelistet. einem apoplektischen Insult, werden die
Das Pflegeproblem, dem der pflegebedürftige Maßnahmen zur Mobilisation anders aussehen als
Mensch am meisten Bedeutung zumisst, steht an bei einem Menschen, der immobil ist, weil er im Um-
oberster Stelle. Dem gegenüber muss die Pflegeper- gang mit seiner neuen Unterarmgehstütze noch unge-
son die Pflegeprobleme abwägen, die sie aus ihrer übt ist.
fundierten Pflegebedarfserhebung ermittelt hat und
aus ihrer Fachexpertise heraus weiß, dass diese vor- Hiermit wird deutlich, dass eine effektive Maßnah-
rangig bearbeitet werden müssen. Hierzu gehören menplanung bzw. Problemlösung nur dann möglich
z. B. Probleme, die eine vitale Bedrohung darstellen, ist, wenn die Ursache des Pflegeproblems bekannt ist.
oder auch Schmerzen, gegen die vorrangig Maßnah- Wird nach einer speziellen Pflegetheorie gearbei-
men ergriffen werden müssen, da sie sich auf alle tet, dann wird bei der Dokumentation der Pfle-
anderen Belange des betroffenen Menschen auswir- geprobleme z. B. nach Orem festgehalten, in wel-
ken. In der Regel handelt es sich hierbei um aktuelle chem Lebensbereich das Selbstfürsorgedefizit be-
Probleme. Durch diese Priorisierung kann gewähr- steht, beziehungsweise bei Bezug auf die Lebens-
leistet werden, dass die individuellen Bedürfnisse aktivitäten von Roper, Logan und Tierney wird no-
des pflegebedürftigen Menschen berücksichtigt tiert, welcher Bereich der Lebensaktivitäten auf wel-
und bearbeitet werden. che Weise betroffen ist (s. a. Kap. 4).
Die Pflegeprobleme müssen vollständig erhoben Die gemachten Beobachtungen werden ohne Be-
und dokumentiert sein. Erst wenn alle pflegerele- wertungen und Interpretationen in der Spalte „Pfle-
vanten Probleme erfasst sind, können entsprechen- geprobleme“ im Pflegeplan festgehalten. Tab. 6.2
de Ziele formuliert und die entsprechenden Maß- zeigt ein mögliches Formular für einen Pflegeplan.
nahmen eingeleitet werden. Nur dann kann bei der Von links nach rechts werden folgende Punkte do-
Auswertung der Pflege auch ein gutes Ergebnis er- kumentiert:
zielt werden. ■ Datum,
Das Problem wird kurz, prägnant und knapp be- ■ Pflegeprobleme des pflegebedürftigen Men-
schrieben. Dabei ist auf eine lesbare Schrift und schen,
Übersichtlichkeit zu achten.
■ Ressourcen des pflegebedürftigen Menschen, lichkeiten und Fähigkeiten zu fördern, sowie seine
■ Pflegeziele, Selbstheilungskräfte in der Pflege zu nutzen.
■ Pflegemaßnahmen, Häufig werden die Ressourcen in der Praxis nicht
■ Handzeichen der betreffenden Pflegeperson, oder nur unzureichend formuliert. Auch das andere
■ Spalte für das Absetzen gelöster Probleme Extrem kann beobachtet werden: Jedem Pflegepro-
(„Stopp“). blem wird eine Ressource zugeordnet. Dies ist je-
doch nicht immer möglich.
Mittlerweile gibt es von unterschiedlichen Firmen Insgesamt ergibt sich ein großer Umfang an mög-
eine Reihe von Dokumentationssystemen, die im lichen Ressourcen. Um einen sinnvollen Überblick
Wesentlichen die oben genannten Elemente enthal- der Gesamtheit aller möglichen Ressourcen zu er-
ten. halten, werden diese in unterschiedliche Kategorien
eingeteilt.
Zusammenfassung: Zu den körperlichen Ressourcen zählen alle kör-
Pflegeprobleme perlichen Leistungen wie zum Beispiel die Sehfähig-
6
■ Es werden 5 Arten von Pflegeproblemen unter- keit, das Hörvermögen, die Bewegungsmöglichkei-
schieden, ten, die wieder unterteilt werden in Fein- und Grob-
■ diese werden nach ihrer Priorität im Pflegeplan motorik, in passive und aktive Bewegungsvorgänge.
aufgelistet, Des Weiteren gehören dazu die Aufnahme von Flüs-
■ Pflegeziele und Maßnahmen werden ihnen zuge- sigkeit und Nahrungsmitteln, das Atmen etc.
ordnet, Zu den inneren, intellektuellen, persönlichen
■ sie enthalten keine Bewertung und keine Interpre- oder geistigen Ressourcen werden z. B. gerechnet:
tation. ■ Entwicklung von eigenen Problemlösungsstrate-
gien,
▌ Ressourcen ■ Vertrauen in die eigene Person,
Der Begriff der Ressourcen wird in vielen Fachrich- ■ Verstand, Vernunft, Verstehen,
tungen benutzt. ■ logisches und rationales Denkvermögen,
■ Sprachgefühl, Wahrnehmungsfähigkeit, Lern-
Definition: In der Psychologie wird unter einer fähigkeit,
Ressource die Art verstanden, wie ein Mensch ■ die Möglichkeit, das eigene Leben zu gestalten,
eine an ihn gestellte Anforderung verarbeitet; ■ die Fähigkeit, das eigene Tun zu reflektieren und
der persönliche, individuelle Verarbeitungsstil des Ein- verantwortliche Entscheidungen zu treffen,
zelnen zur Bewältigung von auftretenden Lebensauf- ■ Lebensmut und Lebenslust,
gaben, die sogenannte Handlungskompetenz. ■ Kreativität, Fantasie und Flexibilität sowie
■ Humor und Freude etc.
Nur wenn die Handlungskompetenz größer ist als
die an den Menschen gestellte Anforderung, kann Aus dieser Kategorie ist die größte Aktivierung von
diese bewältigt werden. Lebenskräften und Energie möglich, da sie sämtliche
Existenzebenen des Menschen berührt und damit
!
Merke: Das Ziel in der Pflege ist es, die Res- beeinflusst.
sourcen des einzelnen Menschen optimal zu Unter der dritten Kategorie, den räumlichen Res-
nutzen und in die Pflege einzubeziehen, sourcen, wird die Umgebung des Menschen verstan-
damit dieser seinen Gesundungsprozess selbst aktiv den. Lebt er z. B. in einer Millionenstadt mit guter
unterstützen kann. Infrastruktur, aber schlechter Luft oder in einem
ländlichen Gebiet mit weniger ausgeprägter Infra-
Schwester Liliane Juchli hat den Begriff der Ressour- struktur, dafür aber in einer „natürlicheren“ Umge-
cen bereits in den 70er Jahren verstärkt angewandt. bung?
Der Begriff stellt auch heute noch einen Gegenpol zu Die vierte Kategorie umfasst die sozialen Res-
der stark defizit- und krankheitsbezogenen Pflege sourcen. Hierunter werden die soziale Umwelt des
dar. Ziel ist es, sich stärker am Gesunden des Men- Einzelnen, sein soziales Netz, wie z. B. Freunde und
schen zu orientieren, seine noch vorhandenen Mög- Verwandte, und seine sozialen Aktivitäten verstan-
den. Dazu gehört unter anderem die Frage, welche Tab. 6.3 Praxisbeispiele zu den Kategorien der Ressourcen
seiner Verwandten und Freunde in die Pflege ein-
Kategorie der Praxisbeispiel
bezogen werden können. Ressourcen
Bei Kindern ist z. B. das Wissen und Können der
Eltern eine wichtige Ressource. Um sich ein mög- Körperliche Res- Fr. K. kann sich selbstständig im Bett um-
sourcen drehen.
lichst vollständiges Bild des Menschen machen zu
können, ist es auch wichtig, seinen persönlichen Le- Innere, persönli- Hr. L. weiß über die Auswirkungen des Dia-
bensstil zu kennen. Welche sozialen Erwartungen che, geistige Res- betes mellitus Bescheid.
und Werte besitzt er, was ist ihm wichtig? Wie ge- sourcen
staltet er, wenn er noch beruflich tätig ist, sein Be- Räumliche Res- Fr. F. wohnt im Erdgeschoss und hat einen
rufsleben, wie seine Freizeit? Welche Hobbys pflegt sourcen ebenerdigen Zugang zu ihrer Wohnung.
er?
Soziale Ressourcen Fr. I. hat eine Tochter, die sie regelmäßig
Zu den ökonomischen Ressourcen eines Men- besuchen kommt.
schen gehören materielle Güter und finanzielle
6 Ökonomische Res- Hr. M. verfügt über die finanziellen Mittel,
Möglichkeiten, die z. B. die Gestaltung des Lebens-
sourcen für die Pflege zu Hause soziale Dienste in
raums ermöglichen. Anspruch zu nehmen.
Unter spirituellen Ressourcen werden die Werte
Spirituelle Ressour- Hr. S. ist Christ, nimmt jeden Sonntag am
verstanden, welche die betreffende Person verinner-
cen Gottesdienst teil und findet in seinem
licht hat. So ist es von Bedeutung, ob die zu betreu- Glauben Unterstützung für die Krankheits-
ende Person einer Glaubensrichtung angehört oder bewältigung.
ob sie nicht gläubig ist, ob sie Vorbilder für ihr Leben
hat, Sinn in ihrem Leben sieht und voller Hoffnung
ist oder eher mutlos und die Hoffnung in das Leben ▌ Dokumentation der Ressourcen des
aufgegeben hat.
pflegebedürftigen Menschen
Tab. 6.3 gibt einen Überblick über die Einteilung
der Ressourcen in sechs mögliche Kategorien und Die ermittelten Ressourcen des Menschen werden
nennt jeweils ein Beispiel aus der Praxis. sinnvoll den jeweiligen Pflegeproblemen zugeord-
Das Erkennen von Ressourcen erfordert Übung. net.
Viele Pflegepersonen handeln problemorientiert,
d. h. sie erkennen sofort die Pflegeprobleme und Beispiel: Eine mögliche Ressource bei einer
möchten diese möglichst schnell beseitigen. Dabei alleinerziehenden Mutter, die stationär auf-
werden die Fertigkeiten und Fähigkeiten der zu be- genommen werden muss und sich um die
treuenden Person oft übersehen. Betreuung ihres Kindes sorgt, könnte darin bestehen,
Werden die Ressourcen im Pflegeplan berück- dass ihre Eltern das Kind während ihres Kranken-
sichtigt, erlangt der hilfsbedürftige Mensch schnel- hausaufenthaltes zu sich nehmen.
ler seine Selbstständigkeit zurück.
Im Pflegeplan werden die ermittelten Ressourcen
!
Merke: Ressourcen sind Fähigkeiten und des betroffenen Menschen in der dafür vorgesehe-
Fertigkeiten, die dem einzelnen Menschen nen Spalte schriftlich festgehalten (vgl. Tab. 6.2). Sie
zur Verfügung stehen und durch eine akti- werden dabei den Pflegeproblemen zugeordnet, zu
vierende Pflege gefördert werden können. Sie helfen, deren Bewältigung sie beitragen.
den Genesungsprozess positiv zu beeinflussen oder
eine kritische Lebenssituation beziehungsweise -auf- Zusammenfassung:
gabe sinnvoll zu bewältigen. Ressourcen
■ Ressourcen in der Pflege sind Fähigkeiten, Möglich-
keiten eines Menschen,
■ bisher war die Pflege eher Krankheits- und defizit-
orientiert,
■ heute werden die Fähigkeiten zur Selbsthilfe und Pflegeziele beziehen sich nicht nur auf den körper-
die Selbstheilungskräfte des pflegebedürftigen lichen, sondern auch auf den psychischen Lebens-
Menschen in den Pflegeprozess integriert. bereich. Die Zielsetzung kann auf folgende Kriterien
Bezug nehmen:
6.5.3 Festlegung der Pflegeziele ■ Leistung und Können eines Menschen,
Jeder Mensch setzt sich Ziele in seinem Leben, sei es ■ Wissen des Menschen,
im privaten oder beruflichen Bereich. Gäbe es keine ■ Verhalten und Erleben des Menschen,
Ziele in unserem Dasein, würden wir die Richtung ■ Messbare Befunde und Ergebnisse,
unseres Lebens nicht kennen. Unter diesen Umstän- ■ Körperlicher Zustand,
den wäre es für den Einzelnen schwer, den Sinn ■ Gefahren und Risiken.
seines Lebens zu definieren. Realistische Ziele
regen zum Handeln an und motivieren, an einer Praxisbeispiele zu den einzelnen Bezugskriterien
Aufgabe so lange zu arbeiten, bis sie mit Erfolg abge- sind in Tab. 6.4 aufgeführt.
schlossen ist; dann kann mit Stolz darauf zurück- Jedes Pflegeziel muss der Lebenssituation des
6
geschaut werden. Menschen angepasst sein.
Auch im Rahmen des Pflegeprozesses werden
Ziele festgesetzt. Zu jedem formulierten Pflegepro-
blem gehört ein Pflegeziel, an dem die zu planenden Tab. 6.4 Beispiele einzelner Pflegezielsetzungen mit den
Pflegemaßnahmen ausgerichtet werden. dazugehörigen Bezugskriterien
Pflegeziele müssen realistisch, erreichbar und
Bezug des Praxisbeispiel
überprüfbar sein, um sowohl den hilfsbedürftigen Pflegeziels
Menschen als auch die an der Pflege beteiligten Per-
sonen zu motivieren, dieses Ziel zu erlangen. Wenn Leistung/Kön- Fr. A. läuft innerhalb von 6 Tagen mit den
nen des Men- Unterarmgehstützen selbstständig.
ein Mensch die angestrebten Ziele kennt und um die schen Hr. B. wechselt innerhalb von 5 Tagen unter
Maßnahmen weiß, die ihn zu diesem Ziel führen, Anleitung seinen Stomabeutel.
kann er aktiv mitarbeiten. Aus diesem Grund sollten
Wissen des Fr. C. kennt die Risiken bei Einnahme gerin-
die Pflegeziele im Rahmen der Pflegeplanung auch
Menschen nungshemmender Medikamente und hält sich
immer gemeinsam mit dem betroffenen Menschen an die Verhaltensvorschriften.
und ggf. dessen Angehörigen erarbeitet und fest- Hr. D. kennt die Wirkungsweise seiner Medi-
gelegt werden. kamente und nimmt diese jeden Morgen um
die gleiche Zeit (8.00 Uhr) ein.
Pflegeziele müssen überprüfbar sein, da sie Kri-
terien und Maßstäbe für die Effektivität der Pflege Verhalten und Hr. E. kann über seine Trauer um seine ver-
sind. Als Kriterium wird z. B. ein bestimmter Zeit- Erleben des storbene Tochter reden.
Menschen Peter geht jeden Tag mindestens eine Stunde
raum angegeben, in dem ein Ziel erreicht werden lang ins Spielzimmer, um mit anderen Kindern
soll. Aber auch die Formulierung konkreter Mess- zu spielen.
werte bzw. Mengenangaben, z. B. „Hr. X. trinkt 3
Messbare Be- Fr. G. nimmt täglich eine reduzierte Trink-
Liter Flüssigkeit am Tag“ macht ein Ziel überprüfbar. funde und Er- menge von 1200 ml zu sich.
Nur durch die Überprüfung kann festgestellt wer- gebnisse Hr. H. reduziert innerhalb von einer Woche
den, ob ein geplantes Ziel teilweise oder komplett sein Körpergewicht um 1 kg.
erreicht ist: Die aktuelle Situation des pflegebedürf- Körperlicher Fr. Is. Zunge ist belagfrei und ihre Mund-
tigen Menschen (Ist-Zustand) wird mit dem zu er- Zustand schleimhaut ist feucht.
reichenden Ziel (Soll-Zustand) verglichen. Hr. Ks. Nasenschleimhaut ist bei liegender
Nasensonde intakt.
!
Merke: Die Festlegung von Pflegezielen Gefahren und Fr. L. kennt die gesundheitlichen Risiken des
macht die durchgeführten Pflegemaßnah- Risiken Nikotinabusus und reduziert die tägl. Menge
der Zigaretten schrittweise.
men bewertbar, d. h. es kann bewertet wer-
Hr. M. kennt die Gefahr der Thrombose und
den, ob die ausgewählten Maßnahmen zum Erreichen führt prophylaktische Maßnahmen selbststän-
des festgelegten Ziels geführt haben. dig durch.
Nicht immer kann von einer vollständigen Ge- ▌ Dokumentation von Pflegezielen
!
sundung als Ziel ausgegangen werden. Manchmal
Merke: Das Formulieren von Pflegezielen
muss die betreffende Person lernen, mit Behin-
begünstigt das reflektierte und systemati-
derungen zu leben. Ein Ziel kann auch sein, einen
sche Handeln. Die Begründung für die
würdigen, schmerzfreien Tod zu erleben.
durchgeführte Pflege wird somit nachvollziehbar.
Pflegeziele werden in Nah- und Fernziele, bezie-
hungsweise Kurzzeit- oder Teilziele und Langzeit- Deshalb müssen Pflegeziele formuliert und doku-
ziele unterschieden. Fiechter und Meier beschreiben mentiert werden.
Fernziele als den Zustand, der nach Ablauf des ge- Die Formulierung der Pflegeziele erfolgt aus Sicht
samten Pflegeprozesses erreicht sein soll. Sie sind des pflegebedürftigen Menschen, auf positive Art
auf einen längeren Zeitraum bezogen, der bis zur und Weise und so präzise wie möglich. Das bedeu-
Entlassung eines Menschen aus dem Krankenhaus tet, dass die Kriterien zur Überprüfung der Ziele,
oder darüber hinaus reichen kann. z. B. Zeiträume oder Mengenangaben, so genau wie
Demgegenüber sind Nahziele kleine Etappen auf möglich angegeben sein müssen.
6
dem Weg zu einem End- oder Fernziel. Jedes er- Dabei ist darauf zu achten, dass Ziele eindeutig,
reichte Nahziel vermittelt dem pflegebedürftigen kurz, knapp und präzise formuliert sind. Sie werden
Menschen, dessen Angehörigen und der Pflegeper- in der Gegenwartsform, im Präsens, verfasst.
son, dem Fernziel ein Stück näher gekommen zu Die Dokumentation der Pflegeziele (Abb. 6.9) er-
sein. In einem Gesundungsprozess können Nahziele folgt in der dafür vorgesehenen Spalte im Pflegeplan
die Motivation des Kranken sehr unterstützen. Zu (vgl. Tab. 6.2).
hoch gesteckte, nicht erreichbare Pflegeziele, sei es
!
Fern- oder Nahziele, können sich auf den pflegebe- Merke: Pflegeziele beschreiben den Zustand
dürftigen Menschen und die Pflegeperson demoti- und legen Ergebnisse fest, die durch eine ge-
vierend und entmutigend auswirken. plante Pflege gemeinsam mit dem betroffe-
Eine mögliche Teilung eines Fernziels in mehrere nen Menschen angestrebt werden. Sie sind als Soll-
Nahziele zeigt das folgende Beispiel: Zustand definiert und leiten sich von dem Ist-Zustand
ab. Sie sind richtungsweisend für die vorgenommenen
!
Merke: Fernziele sind übergeordnete Ziele, Pflegemaßnahmen.
welche den Zustand des Menschen nach
Durchlaufen des Pflegeprozesses beschrei-
ben. Nahziele sind einzelne Teilziele, die zum Errei-
chen der Fernziele eingesetzt werden. Pflegeziele
• müssen realistisch, erreichbar und überprüfbar sein
• werden gemeinsam mit dem pflegebedürftigen
Fernziel Menschen und dessen Angehörigen erarbeitet und
Frau K. kann nach dem Einsetzen der TEP (Total- festgelegt
Endo-Prothese) am 25.07. selbstständig auf dem
Stationsflur mit Unterarmgehstützen laufen. Pflegeziele
6.5.4 Planung der Pflegemaßnahmen werden sie in eine systematische und logische Rei-
Nach der Formulierung von Pflegeproblemen, Res- henfolge gebracht und in der dafür vorgesehenen
sourcen und Pflegezielen erfolgt im vierten Schritt Spalte des Pflegeplans dokumentiert (vgl. Tab. 6.2).
des Pflegeprozesses nach Fiechter und Meier die Dabei wird festgelegt:
Planung der Pflegemaßnahmen. Hier bringt die Pfle- ■ Personen, welche die Pflegemaßnahmen ausfüh-
geperson ihr Fachwissen und ihre praktischen Er- ren. Das können Pflegepersonen, Angehörige
fahrungen in den Pflegeprozess ein. Die Pflegemaß- oder spezielle Fachleute aus anderen Fachgebie-
nahmen orientieren sich an den bekannten Pfle- ten wie zum Beispiel Logopäden oder Physiothe-
geproblemen und Ressourcen des pflegebedürftigen rapeuten sein,
Menschen sowie an den gesetzten Pflegezielen. ■ Art und Anwendung der verwandten Materia-
lien,
!
Merke: Pflegemaßnahmen sind die aus- ■ Lokalisation der Anwendung (betroffenes Kör-
gewählten Mittel, mit denen die im vorheri- perteil),
gen Schritt des Pflegeprozesses formulierten ■ Häufigkeit, Zeitpunkt und Zeitraum der Maßnah-
6
Pflegeziele erreicht werden sollen. Sie werden gemein- me,
sam mit dem Betroffenen unter Berücksichtigung sei- ■ ggf. der einzuplanende Zeitaufwand der Anwen-
ner Wünsche und ggf. der seiner Angehörigen formu- dung.
liert.
Die Zusammenstellung von Pflegeproblemen, vor-
Dabei wird nicht nur die Art der Pflegemaßnahmen handenen Ressourcen, Pflegezielen und geplanten
bestimmt, sondern auch, wer, wie, wann, womit und Pflegemaßnahmen wird Pflegeplan genannt. Der
wie häufig diese Pflegemaßnahme durchführt. Die Pflegeplan ist von großer Bedeutung, da er als ver-
einzelnen Maßnahmen werden so konkret beschrie- bindliche Pflegeverordnung für alle an der Pflege
ben, dass jede Pflegeperson sie auf die gleiche Art beteiligten Personen gilt.
und Weise durchführen kann. Hierdurch wird die
!
Kontinuität der Pflege gesichert und eine Bewertung Merke: Pflegeprobleme, Ressourcen des
oder Beurteilung der Pflege möglich. pflegebedürftigen Menschen, Pflegeziele
und ausgewählte Pflegemaßnahmen werden
Beispiel: Ist bei einem dekubitusgefähr- im sogenannten Pflegeplan dokumentiert. Er ist ver-
deten Menschen zum Erreichen des Pflege- bindliche Grundlage für alle an der Pflege beteiligten
ziels „intakte Haut“ ein zweistündlicher La- Personen.
gewechsel durch Mikrolagerung als Maßnahme zur
Dekubitusprophylaxe festgelegt, so lässt sich nur bei Der Pflegeplan umfasst:
kontinuierlicher Durchführung der festgelegten Maß- ■ Pflegeprobleme des pflegebedürftigen Men-
nahme die Effektivität dieser Maßnahme ermitteln. schen,
■ Ressourcen des pflegebedürftigen Menschen,
Im Gegensatz dazu ist die ungeplante Pflege ohne ■ Pflegeziele beziehungsweise die zu erreichenden
Erstellung eines Pflegeplanes ein intuitives Handeln Ergebnisse und
jedes Einzelnen aus der Situation heraus, wobei ■ Pflegemaßnahmen in systematischer und logi-
nicht ermittelt werden kann, ob die bzw. welche scher Reihenfolge als verbindliche Pflegeverord-
Maßnahme effizient ist. Die Pflegemaßnahmen er- nung.
geben sich hierbei aus der zufälligen Entscheidung
einzelner Personen, in Abhängigkeit von ihrem Wis- Je intensiver der pflegebedürftige Mensch und seine
sen und Können. Dadurch variieren die Pflegemaß- Angehörigen in den Pflegeprozess einbezogen wer-
nahmen, so dass die Ergebnisse der Pflegehandlun- den, desto mehr können sie an der Behebung der
gen nicht ausgewertet werden können. Pflegeprobleme mitwirken. Tab. 6.5 zeigt den mög-
lichen Pflegeplan mit den aktuellen Hauptpfle-
▌ Dokumentation der Pflegemaßnahmen geproblemen von Frau Perlinger.
Die erforderlichen Pflegemaßnahmen werden kurz, Wurde ein Pflegeziel erreicht, wird die dazuge-
knapp und verständlich formuliert. Darüber hinaus hörige Maßnahme mit einem Absetzungszeichen
188
Datum Pflegediagnose/Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen Handzeichen Stopp
20.07. Frau Perlinger hat aufgrund einer zu geringen ● Frau Perlinger trinkt täglich mindestens 1 ● Frau Perlinger zu jeder Mahlzeit 1-2 Gläser Wasser bzw. A.H.
Trinkmenge Anzeichen dafür, dass sie ein bis max. 1,5 Liter Flüssigkeit. Wunschgetränke anbieten und zum Trinken auffordern.
Flüssigkeitsdefizit hat. Dies zeigt sich darin, ● Frau Perlingers Haut und Lippen sind bis ● Frau Perlinger cremt jeden Morgen ihre Haut mit einer
● dass Frau Perlingers Haut trocken und zum (Datum) intakt und geschmeidig. W/Ö Körpercreme und zweimal täglich ihre Lippen mit
schuppig ist, ihre Lippen spröde und in den ● Frau Perlinger weiß bis zum (Datum), dass einem Lippenbalsam ein.
Mundwinkeln eingerissen sind, die Schmerzen beim Wasserlassen gerin- ● Mit Frau Perlinger und ihrem Lebenspartner am (Datum)
und desorientiert wirkt. sie aufgrund der geringen Trinkmenge keitszufuhr und einer intakten Haut, dem schmerzfreien
BAND 1
Ressource: zeitweise verwirrt war. Wasserlassen und einer klaren Orientierung aufzuzeigen.
Frau Perlinger trinkt die ihr angebotenen Ge-
tränke nach Aufforderung selbstständig.
20.07. Frau Perlinger ist aufgrund ihrer körperlichen ● Frau Perlinger kennt bis zum (Datum) ihre ● Mit Frau Perlinger und Herrn Moser am (Datum) ein A.H.
Schwäche und der bestehenden Dranginkon- intrinsischen und extrinsischen Sturzrisi- Beratungsgespräch zu den bestehenden Sturzrisikofak-
tinenz stark sturzgefährdet. Dies zeigt sich kofaktoren und Strategien, um ihr Sturz- toren führen und gemeinsam mit dem Paar Strategien
● an ihrem unsicheren Gangbild und risiko zu minimieren. zur Vermeidung der extrinsischen Risikofaktoren ent-
● dem hektischen Handeln, wenn sie Harn- ● Frau Perlinger weiß, dass sie nur in Be- wickeln.
drang verspürt. gleitung einer Pflegeperson zum Bad oder ● Frau Perlinger auf Wunsch mit dem Rollator ins Bad bzw.
Ressource: auf den Flur gehen darf. zum Frühstückstisch begleiten.
Frau Perlinger steht in Begleitung einer Pfle- ● Frau Perlinger benutzt ab dem (Datum) ● Frau Perlinger am (Datum) die Benutzung des Toilet-
gekraft auf und geht sicher am Rollator den Toilettenstuhl neben ihrem Bett tenstuhls erklären und sie bei der Mobilisation auf den
selbstständig und sicher. Toilettenstuhl anleiten.
Fortsetzung ▶
Tab. 6.5 (Fortsetzung)
20.07. Frau Perlinger ist aufgrund ihrer körper- Frau Perlinger führt ab sofort ihre Körper- ● Frau Perlinger nach dem Frühstück mit dem Rollator A.H.
lichen Schwäche und der bekannten Herz- pflege ohne Anzeichen einer Dyspnoe ins Bad begleiten.
insuffizienz in ihrer Belastbarkeit einge- durch. ● Frau Perlinger im Bad eine Sitzgelegenheit anbieten.
schränkt. Dies zeigt sich darin, dass Frau ● Frau Perlinger selbstständig die Pflege des Oberkör-
Perlinger ihre Körperpflege nicht selbst- pers incl. Haare kämmen und Zähne putzen durch-
ständig durchführen kann. führen lassen.
Ressource: ● Den Rücken und die Beine von Frau Perlinger wa-
Frau Perlinger kann sich ihr Gesicht und schen.
ihren Oberkörper selbstständig waschen. ● Frau Perlinger bei der Intimpflege unterstützen.
● Während der Körperpflege auf Anzeichen der Belas-
tungsgrenzen achten und evtl. Pausen einlegen.
● Frau Perlinger beim An- und Auskleiden unterstützen.
● Frau Perlinger mit dem Rollator zurück ins Zimmer
zum Mobilisationsstuhl begleiten.
20.07. Frau Perlinger hat aufgrund der ungewohn- Frau Perlinger kann ab dem (Datum) zu ● Am (Datum) ein Gespräch mit Frau Perlinger bzgl. A.H.
ten Umgebung Ein- und Durchschlafproble- ihrer gewohnten Zeit ein- und danach ihrer Schlafgewohnheiten/-rituale führen.
me. Dies zeigt sich darin, dass Frau Perlinger durchschlafen. ● Frau Perlinger bei der Umsetzung ihrer persönlichen
tagsüber müde ist und teilweise einnickt. Gewohnheiten vor dem Schlafengehen unterstützen.
(Beispielsweise Herrn Moser bitten, das Kopfkissen
seiner Lebenspartnerin mitzubringen, damit diese
besser einschlafen kann.)
20.07. Die häusliche Versorgung ist aufgrund der Die Selbstpflege von Frau Perlinger nach ● Am (Datum) ein Beratungsgespräch mit Frau Perlin- A.H.
nachlassenden Selbst- und Dependenzpfle- ihrer Entlassung ist in ihrem häuslichen ger, ihrem Sohn und Herrn Moser bzgl. der Entlas-
gekompetenz von Frau Perlinger und Herrn Umfeld gesichert. sung und der häuslichen Versorgung führen.
Moser nicht gesichert. Dies zeigt sich darin, ● Am (Datum) ein Gesprächstermin mit dem Sozial-
BAND 1
dass Frau Perlinger ihre Selbstpflege nicht dienst und Familie Perlinger bzgl. einer Pflegeeinstu-
mehr alleine bewältigen kann und ein Kli- fung vereinbaren.
nikaufenthalt erforderlich war. ● Am Tag vor der Entlassung den aktuellen poststatio-
nären Pflegebedarf von Frau Perlinger erheben.
6
6 Pflegeprozess und Pflegequalität
(zum Beispiel: >) im Pflegeplan abgesetzt, evtl. neu weis der Dienstleistung Pflege, nicht vergessen wer-
auftretende Pflegeprobleme werden im Pflegeplan den.
ergänzt. Tab. 6.6 zeigt die Definitionen, Arten und Krite-
Wird auf die geschilderte Art und Weise mit dem rien für die Formulierung von Pflegeproblemen,
Pflegeplan gearbeitet, ist er ein nützliches und wert- Ressourcen, Pflegezielen und Pflegemaßnahmen in
volles Hilfsmittel in der Pflege. Mit ihm kann die der Übersicht.
Pflege individuell auf den Empfänger der Pflege ab- Die Auswahl und das Zusammenstellen der erfor-
gestimmt werden. derlichen Pflegemaßnahmen erfordert den optima-
Auch die interdisziplinäre Kommunikation und len Einsatz von fachlichem Wissen und praktischen
Kooperation wird gefördert. Pflegerische, medizi- Erfahrungen. Der pflegebedürftige Mensch und
nische und andere Verordnungen können besser ko- seine Angehörigen müssen aktiv einbezogen wer-
ordiniert werden, die Pflege selbst wird transparent den.
und der Nachweis der Pflege wird möglich. Gerade
deshalb ist der Pflegeplan in der Aus- und Fortbil- Zusammenfassung:
6
dung von besonderer Bedeutung. Er erleichtert die Pflegemaßnahmen
Entwicklung von Fachwissen. Da die Ergebnisse der ■ beschreiben konkret jede Maßnahme,
Pflege sichtbar gemacht werden, steigt die berufli- ■ dokumentieren auf systematische und logische Art
che Zufriedenheit der Pflegeperson. Zuletzt darf der und Weise:
rechtliche Aspekt, der juristisch geforderte Nach-
Tab. 6.6 Definitionen, Arten und Kriterien für die Formulierung von Pflegeproblemen, Ressourcen, Pflegezielen und Pfle-
gemaßnahmen
Definition Beeinträchtigung des Fertigkeiten und Fähigkeiten, Zustand, der durch die ge- pflegerische Tätigkeiten, die
pflegebedürftigen Men- die dem einzelnen Menschen plante Pflege gemeinsam zum Erreichen der Pflege-
schen in einem Lebens- zur Verfügung stehen, um sei- mit dem Betroffenen an- ziele ergriffen werden
bereich, die seine Unab- nen Genesungsprozess positiv gestrebt wird
hängigkeit einschränkt zu beeinflussen oder seine kri-
und ihn belastet tische Lebenssituation bzw.
-aufgabe sinnvoll zu bewältigen
Kriterien zur unter Angabe von: sinnvolle Zuordnung der Res- ● aus Sicht des betroffe- so präzise, dass jede Pfle-
Formulierung ● Name des betroffenen sourcen zu Pflegeproblemen nen Menschen geperson sie auf die gleiche
Menschen ● realistisch und erreich- Art und Weise durchführen
● Art und Umfang der bar kann, d. h. unter Berück-
Beeinträchtigung ● präzise, d. h. unter An- sichtigung der W-Fragen:
● Ursachen und Auswir- gabe von Kriterien zur ● Wer?
kungen des Pfle- Überprüfung (z. B. ● Was?
geproblems Mengenangaben, Zeit- ● Wie?
● kurz, präzise und frei räumen) ● Wann?
von Interpretationen ● Wie oft?
● Womit?
● Wo?
– so werden sie von allen Pflegepersonen auf die- im dafür vorgesehenen Formular. Tab. 6.7 zeigt einen
selbe Weise durchgeführt und die Auszug aus dem Pflegebericht für Frau Perlinger.
– Kontinuität in der Pflege ist gesichert. Der Bericht ist sinnvoll gegliedert, dabei sind die
Aussagen objektiv, wertfrei und für jeden gut lesbar.
6.5.5 Durchführung der Pflege Sie enthalten Datum, Uhrzeit und das Handzeichen
In der fünften Phase des Pflegeprozesses wird die der jeweiligen Pflegeperson. Die Eintragungen sind
Pflege nach dem bestehenden Pflegeplan durch- auf die Pflegeprobleme und Pflegeziele bezogen und
geführt. Dabei muss der Pflegeplan von allen betei- werden direkt nach der durchgeführten Pflege do-
ligten Personen immer wieder kritisch reflektiert kumentiert.
und hinterfragt werden. Um einen Nachweis für
!
die durchgeführten Pflegemaßnahmen und damit Merke: Der Pflegebericht ist ein Teil der
für die erbrachten Leistungen zu haben, werden Pflegedokumentation. Er gibt über den ak-
diese im Durchführungsnachweis der Pflegedoku- tuellen Zustand des pflegebedürftigen Men-
mentation festgehalten. schen Auskunft, dabei finden dessen Reaktionen auf
6
die Pflege, aber auch z. B. auf Besuche von Angehöri-
!
Merke: Die Pflegedokumentation dient u. a. gen, diagnostische Maßnahmen o. Ä. besondere Be-
im Fall eines Schadensersatzanspruches der rücksichtigung.
rechtlichen Absicherung.
Die elektronische Datenverarbeitung (EDV) wird all-
Die durchgeführten Maßnahmen werden mit einem gemein in Arbeitsbereichen eingesetzt, die:
Handzeichen unter dem jeweiligen Datum und der ■ sich häufig wiederholen,
entsprechenden Uhrzeit abgezeichnet. ■ standardisierbar sind,
Werden Veränderungen im Zustand des pflegebe- ■ einen hohen Speicheraufwand aufweisen und
dürftigen Menschen festgestellt, müssen diese im ■ einen hohen mathematischen und logischen Auf-
Pflegebericht notiert werden. Der Pflegebericht gibt wand erfordern.
Auskunft über die Veränderungen, die durch die
Pflegemaßnahmen eintreten. Vom Pflegeplan ab- Auch in den Institutionen des Gesundheitswesens
weichende Pflegemaßnahmen werden hier begrün- kommen verstärkt Computer zum Einsatz. So wer-
det und kurz beschrieben. Treten solche Handlungen den viele administrative Aufgaben wie Dienstplan-
in einem kurzen Zeitraum gehäuft auf, ist dies ein erstellung, Belegungsstatistiken, Datenerfassung von
Signal dafür, dass ein neues Pflegeproblem aktuell Labor, Röntgen, Physiotherapie, Küche etc. compu-
wurde, welches in den Pflegeplan aufgenommen tergestützt erledigt.
werden muss. Die Eintragungen im Pflegebericht er- Auch im Zusammenhang mit dem Pflegeprozess
folgen stichwortartig, präzise, klar, kurz und knapp bzw. der Pflegeplanung kann entsprechende Hard-
21.07. 8:00 Uhr Frau Perlinger zum selbstständigen Benutzen des Toilettenstuhls angeleitet. Im Anschluss A.H.
daran Frau Perlinger mit dem Rollator zum Tisch begleitet. Beim Richten des Frühstücks und
der Einnahme der Medikamente unterstützt.
21.07. 9:30 Uhr Frau Perlinger mit dem Rollator zum Waschbecken begleitet. Frau Perlinger wäscht ihren A.H.
Oberkörper selbstständig. Sie benötigt immer wieder kleine Erholungspausen. Ihre Haut ist
intakt, aber weiterhin noch leicht schuppig.
21.07. 16:00 Uhr Mit Frau Perlinger und Herrn Moser das Beratungsgespräch zur kontinuierlichen Flüssig- P.W.
keitsaufnahme geführt. Beide verstehen den Zusammenhang zwischen den Symptomen von
Frau Perlinger und der zu geringen Trinkmenge. Sie kennen die Risiken einer zu geringen und
einer zu hohen Flüssigkeitsaufnahme. Herr Moser wirkt sehr interessiert und zeigt selbst-
ständig Beispiele auf, wann und wie er seine Lebenspartnerin unterstützen kann. Ein Trinkplan
für zu Hause wurde gemeinsam erarbeitet.
ware und Software eingesetzt werden, um die ge- Ziel ist es, den Datenaustausch innerhalb der Insti-
samte Dokumentation zu vereinfachen und zu be- tutionen oder institutsübergreifend zu beschleuni-
schleunigen. gen, um eine optimale Behandlung zu ermöglichen.
Für jeden pflegebedürftigen Menschen wird eine Einige Institutionen wenden bereits ein Note-
elektronische Akte angelegt, in die alle Daten ge- book zur Abspeicherung der einzelnen elektro-
speichert und bei Bedarf auf dem Bildschirm abge- nischen Patientenakten an (z. B. bei jeder Pflegein-
rufen oder als Formulare ausgedruckt werden. Es tervention mit der zu betreuenden Person oder
existiert Software, die Standardpflegepläne enthält, während der Visite im interdisziplinären Team).
die durch individuelle Pflegeprobleme und dazuge- Der Vorteil der EPA liegt darin, dass Diagnosen
hörige Pflegeziele und Pflegemaßnahmen ergänzt schneller erstellt, therapeutische Maßnahmen zeit-
werden. In Zukunft sollen spezielle Software-Pro- gleich eingeleitet, damit Therapieerfolge erhöht und
gramme die Entscheidungsfindung in der Phase die durchschnittliche Klinikaufenthaltsdauer redu-
der Problemfindung und Planung der geeigneten ziert werden. Behandlungsfehler und Doppelunter-
Pflegemaßnahmen unterstützen. suchungen werden vermieden, was insgesamt zur
6
Durch den Einsatz von EDV kann darüber hinaus Kosteneffizienz beiträgt. Jedoch bestehen noch
die statistische Auswertung von Information für das viele Unklarheiten im einheitlichen Vorgehen. Aus
Pflegemanagement und die Pflegeforschung erleich- diesem Grund existieren internationale Standardi-
tert werden. Dazu ist eine einheitlich definierte sierungsgremien, die Festlegung weltweiter Stan-
Fachsprache ebenso wichtig wie die Definition und dards z. B. für die medizinische Terminologie, den
Klassifizierung von Pflegeproblemen, Pflegezielen Umgang mit Datenaustausch, Zugangsberechtigung,
und Pflegemaßnahmen. Verschiedene europäische Datensicherheit usw. bearbeiten.
Komitees, wie zum Beispiel die Association For Com-
mon European Nursing Diagnosis, Interventions and 6.5.6 Beurteilung der Wirkung der Pflege auf
Outcomes, kurz ACENDIO, arbeiten an der Klassifi- den pflegebedürftigen Menschen
kation von gemeinsamen europäischen Pflegediag- Im sechsten Schritt des Pflegeprozesses wird die
nosen, Maßnahmen und Ergebnissen (s. a. Kap. 7). nach dem Pflegeplan durchgeführte Pflege hinsicht-
Für den Einsatz der EDV müssen einige Rahmen- lich ihrer Effizienz bewertet und beurteilt. Die Be-
bedingungen und Grundvoraussetzungen geschaffen wertung wird auch als Evaluation bezeichnet. Der
sein. Aufgrund des Datenschutzes muss genau fest- Begriff „Evaluation“ wird von dem lateinischen
gelegt sein, wer Zugriff zu den erhobenen Daten hat, Wort „valere“ abgeleitet, was „stark sein“ oder
diese ändern oder Daten hinzufügen darf. Für die „wert sein“ bedeutet. Evaluation bedeutet die sach-
Einführung einer EDV-gestützten Pflegeplanung und fachgerechte Bewertung, also das Einschätzen
müssen die Mitarbeiter mit der Methode des Pfle- eines Objektes oder eines Sachverhaltes nach sei-
geprozesses vertraut und entsprechende Pflegestan- nem Wert und seiner Bedeutung. In den Sozialwis-
dards erarbeitet sein. Darüber hinaus müssen auch senschaften und der Technik wird damit die Analyse
Schulungen der Mitarbeiter zum Umgang mit Com- und Bewertung eines Sachverhalts beziehungsweise
putern durchgeführt werden. die Effizienz- und Erfolgskontrolle bezeichnet.
!
▌ Elektronische Patientenakte Merke: Zur Beurteilung der Wirkung der
Die elektronische Patientenakte wird derzeit in vie- Pflege auf den pflegebedürftigen Menschen
len Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwe- werden die festgelegten Pflegeziele (Soll-Zu-
sens diskutiert und erprobt. stand) mit der aktuellen Situation des pflegebedürfti-
gen Menschen (Ist-Zustand) verglichen. Dabei werden
Definition: Bei der elektronischen Patienten- die Auswirkungen der Pflege offen dargelegt und
akte (EPA) handelt es sich um eine Zusammen- somit die Pflegeplanung auf ihre Sinnhaftigkeit hin
fassung aller gesundheitsbezogenen Daten überprüft.
einer Person (z. B. frühere Krankheitsbehandlungen,
Laborparameter, Röntgenbilder usw.) in elektro- Sind die formulierten Pflegeziele erreicht, können
nischer Form. die entsprechenden Pflegeprobleme und Pflege-
maßnahmen abgesetzt werden, da der gewünschte
türeffekt“ soll durch ein strukturiertes Entlassungs- gewählten Einrichtungen implementiert und evalu-
management verhindert und der Schnittstellenpro- iert werden. Sie dienen der Förderung der Pflege-
blematik zwischen den Institutionen vorgebeugt qualität in der Pflege in allen Handlungsfeldern.
werden. Die Entwicklung eines Expertenstandards dauert
ca. 12 Monate. Da pflegerisches Wissen eine be-
6.6.1 Pflegeüberleitung/Überleitungspflege grenzte Halbwertszeit hat und neue wissenschaftli-
Definition: Pflegeüberleitung alle Gedanken, che Ergebnisse hinzukommen, werden Experten-
Gefühle und Haltungen, die nötig sind, um standards in regelmäßigen Abständen überarbeitet.
eine weitere kontinuierliche Qualität in der Für die Entwicklung der Expertenstandards ist
Pflege zu gewährleisten, und zwar beim Übergang das DNQP verantwortlich. Das DNQP kooperiert
vom Krankenhaus zur ambulanten Pflege oder Pfle- mit dem Deutschen Pflegerat (DPR), der berufspoli-
geheimversorgung und umgekehrt “ (Joosten 1992 in tischen Dachorganisation der Pflegeverbände und
Sieger, 2003). Sie wird als Prozess verstanden, begin- wird vom Bundesministerium für Gesundheit und
nend am Tag der Aufnahme und endend am Tag der soziale Sicherung gefördert. Die aktuellen Experten-
6
Übernahme durch eine weiterbetreuende Institution standards können Sie unter dem folgenden Link ein-
(Sieger, 2003, S. 23). sehen: www.dnqp.de/de/expertenstandards- und
Überleitungspflege ist „die am Patienten erbrachte -auditinstrumente.
Dienstleistung, d. h., die unmittelbare Betreuung des Laut Moers und Schiemann (2004) sind Exper-
Patienten durch Pflegekräfte, die ihn beim Übergang tenstandards nicht mit Handlungsrichtlinien gleich-
von der einen Betreuungsform in die andere zumin- zusetzen, die sich beispielsweise auf knappe Ar-
dest zeitweise begleiten“ (Domscheit, Wingenfeld beitsablaufsbeschreibungen oder technische Anwei-
1996 in Sieger, 2003). Im Krankenhaus wird sie oft sungen beschränken. Vielmehr geben sie die Zielset-
durch eine oder mehrere Pflegepersonen, die dafür zung komplexer pflegerischer Aufgaben, das profes-
geschult sind, durchgeführt. sionelle Niveau sowie fachliche Handlungsalternati-
ven und Handlungsspielräume an. So werden The-
Die Pflegeüberleitung bezieht sich auf das prozess- men bearbeitet, die einen hohen kommunikativen
hafte Planen der Entlassung der Pflegeperson begin- Einsatz sowie empathische Zuwendung erfordern
nend bei der Aufnahme der zu betreuenden Person und bei denen die Förderung der Patientenautono-
bis zu ihrer Entlassung. Überleitungspflege bezeich- mie, Selbstpflegekompetenzen oder die Anpassung
net alle Maßnahmen, welche von einer oder mehre- an veränderte Lebensumstände eine Rolle spielen.
ren speziellen Pflegepersonen zur Überleitung in Demnach werden im Rahmen der Entwicklung von
eine andere Institution ergriffen werden. Dabei be- nationalen Expertenstandards Pflegethemen bear-
treut die „Überleitungs-Pflegeperson“ die entspre- beitet,
chende Person nur im Zusammenhang mit der Ent- ■ die innovative und komplexe Inhalte transportie-
lassung aus der Institution. Der nationale Experten- ren
standard Entlassungsmanagement in der Pflege gibt ■ die sich auf Pflegeprobleme beziehen, die einen
konkrete Richtlinien, wie die kontinuierliche Be- erheblichen Einschätzungsbedarf mit hohem In-
handlungs- und Betreuungsleistungen bei der Ent- teraktionsanteilen aufweisen
lassung aus dem Krankenhaus qualitativ gesichert ■ die eine orientierungsgebende Funktion für die
werden können. Pflegepraxis haben und
■ die den Transfer pflegewissenschaftlicher Er-
6.6.2 Expertenstandard Entlassungsmanagement kenntnisse fördern (ebd.).
in der Pflege
Ein Expertenstandard ist ein Instrument der Quali- Die Expertenstandards sind in Aussagen zu Struktur,
tätsentwicklung auf nationaler Ebene. Im Vergleich Prozess und Ergebnis unterteilt. Die Struktur bezieht
zu Pflegestandards aus der Praxis werden sie durch sich in der Regel auf die Kompetenzen und Fähig-
ein Expertenteam auf der Basis wissenschaftlicher keiten der Pflegeperson sowie auf die Rahmenbe-
Grundlagen entwickelt, in dem umfassende Litera- dingungen der Einrichtung, die beispielsweise geeig-
turrecherchen und -analysen der nationalen und in- nete Hilfsmittel zur Verfügung stellen oder bauliche
ternationalen Fachliteratur betrieben und die Stan- Bedingungen vorhalten müssen. Das Prozesskriteri-
dards vor ihrer Veröffentlichung modellhaft in aus- um richtet sich auf die Durchführung der Maßnah-
men. Die Pflegekraft wählt beispielsweise geeignete gemeinsam mit dem zu entlassenden Menschen
Assessmentinstrumente aus, um die Patientensitua- und seinen Angehörigen die Ziele. Dabei steht die
tion kriteriengeleitet einzuschätzen. Mit dem Ergeb- Selbstständigkeit im Vordergrund. Im vierten Schritt
nis wird formuliert, was erreicht werden soll, wenn werden ggf. Hilfsmittel organisiert und die entspre-
die Vorgaben der Struktur- und Prozesskriterien chenden finanziellen Unterstützungen beantragt. Im
eingehalten wurden. fünften Schritt wird die Entlassung nach den ge-
Das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung planten Maßnahmen durchgeführt. Der sechste
in der Pflege (DNQP) hat im November 2002 den und letzte Schritt beinhaltet die Evaluation der Pfle-
Expertenstandard zum Thema Entlassungsmanage- geüberleitung. Dies geschieht, indem die Pflegeper-
ment veröffentlicht, die 1. Aktualisierung erfolgte son 48 Stunden nach der Entlassung mit der zu be-
im Juli 2009. treuenden Person, deren Angehörigen und der
Der Expertenstandard „Entlassungsmanage- nachfolgenden Institution (Rehaklinik, häusliche
ment“ ist ein verbindliches, auf wissenschaftlichen Pflegeeinrichtung, Heim, etc.) Kontakt aufnimmt
Untersuchungen beruhendes Instrument, welches und die getroffenen Maßnahmen zur Entlassung
6
die Richtung für das Vorgehen bei der Entlassung auf ihre Zielerreichung hin kontrolliert. Abb. 6.11
aus dem Krankenhaus in andere Versorgungsinsti- zeigt einen möglichen Kurz-Bericht zur Pflegeüber-
tutionen oder umgekehrt vorgibt. leitung und seine Inhalte.
Er bezieht sich auf das Krankenhaus und muss
beim Einsatz in anderen Institutionen wie ambulan- Fazit: Der Pflegeprozess wird seit Mitte der
ten Rehabilitationseinrichtungen, Pflegeheimen, zu 70er Jahre des 20. Jahrhunderts in der deut-
Hause usw. modifiziert werden. schen Pflege diskutiert. Seit seiner gesetzli-
chen Verankerung im Krankenpflegegesetz von 1985
6.6.3 Funktion und Rolle des Pflegeprozesses im und im Altenpflegegesetz von 2001 ist er zur Pflicht
Entlassungsmanagement in der professionellen Pflegepraxis geworden.
Das Entlassungsmanagement wird als Prozess ver- Der Pflegeprozess ist eine systematische, zielge-
standen, der bereits mit der Aufnahme des pflegebe- richtete und dynamische Methode der Pflege zur Lö-
dürftigen Menschen in eine Institution beginnt. Be- sung von Problemen. Es sind verschiedene Modelle des
reits bei der Aufnahme wird folglich die Entlassung Pflegeprozesses bekannt, die sich in erster Linie durch
bzw. Überleitung des pflegebedürftigen Menschen in die Anzahl der aufeinander folgenden Schritte unter-
eine andere pflegerische Versorgungseinrichtung in scheiden. Alle Modelle ermöglichen ein geplantes, sys-
den Blick genommen und systematisch geplant. Auf tematisches und strukturiertes Arbeiten in der Pflege.
diese Weise können zeitliche Reibungsverluste an In den deutschsprachigen Ländern ist das „Sechs-
der Schnittstelle zwischen den Institutionen verrin- Phasen-Modell“ des Pflegeprozesses nach Fiechter und
gert und die Kontinuität der pflegerischen Dienst- Meier am weitesten verbreitet. Sie sehen den Pfle-
leistung für den pflegebedürftigen Menschen auch geprozess sowohl als einen Problemlösungs- als auch
zwischen unterschiedlichen Einrichtungen und Ver- als einen Beziehungsprozess. Dabei unterscheiden sie
sorgungsstrukturen sichergestellt werden. die Phasen der Informationssammlung, des Erkennens
Der Entlassungsprozess kann als Teil des eigent- von Pflegeproblemen und Ressourcen des Patienten,
lichen Pflegeprozesses oder als eigener Prozess ab- der Festlegung der Pflegeziele, der Planung der Pflege-
laufen (Dangel 2004). Im ersten Schritt nimmt die maßnahmen, der Durchführung der Pflege und der
Pflegeperson mithilfe eines Assessment- und Eva- Beurteilung der Wirkung der Pflege auf den betreffen-
luationsinstrumentes die Einschätzung der Pflege- den Menschen.
und Hilfsbedürftigkeit sowie mögliche Probleme In den einzelnen Phasen ist die schriftliche Doku-
bei der Bewältigung des täglichen Lebens spätestens mentation zur Ergebnissicherung und Weitergabe von
24 Stunden nach der Aufnahme vor. Im zweiten Informationen im interdisziplinären Team von spe-
Schritt beurteilt sie diese Fähigkeiten und erkennt zieller Bedeutung. Dabei spielen der Pflegeplan und
mögliche Probleme, welche nach der Entlassung der Pflegebericht eine besondere Rolle.
auftreten könnten. Dementsprechend formuliert sie
196
Übergeben von Datum Unterschrift
(Stempel)
Anschrift
BAND 1
Geb.-Dat. Konfession Diagnosen / pflegebegründete Diagnosen Arm- / Beinprothesen Hörapparat rechts links
Versicherter Gehhilfen
Knapp-
AOK LKK BKK IKK VdAK AEV schaft UV Wundverhältnis ja nein
Versorgt mit:
mor- mit- abends nachts
2. Angehörige Telefon Medikation siehe Anlage gens tags Kontraktur ja nein
Gesundheitsfürsorge Ort:
selbst- bedingt teilweise unselbst-
Vermögenssorge Sich bewegen können ständig selbstständig selbstständig ständig
Aufenthaltsbestimmung Aufstehen
Telefon Gehen
Schwerbehindertenausweis Pflegeinfos
Grund der Überleitung Bedarfsmedikation Inkontinenz Stuhl Urin
letzter Stuhlgang:
zeitlich persönlich
Orientierung beeinträchtigt: örtlich situativ
letzter Eintrag entspricht der Medikation am Tag der Überleitung Kostform:
letzter Krankenhausaufenthalt selbstständig
von bis im Nahrungs- u. Flüssigkeitsaufnahme unselbstständig
6.7 Einflussfaktoren auf die Durchführung der Pflege nach dem Pflegeprozess
Der Pflegeprozess ist als formales Handlungs- Krankenpflegegesetz vom 21. 07. 2003 fordert in
modell eine Methode, die keine Angaben zur inhalt- Abschnitt 2 Ausbildung § 3 Ausbildungsziele die
lichen Gestaltung der einzelnen Phasen macht und der a. Erhebung und Feststellung des Pflegebedarfs,
Einbindung in einen theoretischen Bezugsrahmen be- Planung und Organisation, Durchführung und
darf. Dokumentation der Pflege,
Das Arbeiten mit dem Pflegeprozess kann durch b. Evaluation der Pflege,... (BGBl. 2003 I, Nr. 36).
den Einsatz von EDV und Pflegestandards unterstützt
werden. Bei dem Einsatz dieser Hilfsmittel muss je- Demnach ist jede Pflegeperson für ihr Tun eigenver-
doch immer die individuelle Situation des zu betreu- antwortlich. Um eigenverantwortlich handeln zu
enden Menschen im Auge behalten und berücksichtigt können, sind neben dem Fach- und Sachwissen
werden. auch Qualifikationen aus anderen Bereichen nötig.
Hierzu gehören zum Beispiel Wissen über Arbeits-
organisation, Arbeits- und Lerntechniken, Kommuni-
6.7 Einflussfaktoren auf die kations- und Kooperationsfähigkeit, etc. (s. a. Kap. 2).
Durchführung der Pflege nach 6
Die Durchführung der Pflege nach dem Pfle-
dem Pflegeprozess geprozess hängt maßgeblich von der Qualifikation
der jeweiligen Pflegepersonen ab.
Die Durchführung der Pflege nach dem Pflegepro-
zess ist von vielen Faktoren abhängig. In Anlehnung ▌ Arbeitsorganisation des Pflegedienstes
an Fiechter und Meier können drei Einflussgrößen Der Pflegedienst muss Rahmenbedingungen schaf-
unterschieden werden, die im Folgenden näher be- fen, die eine geplante Pflege nach dem Pflegepro-
schrieben werden. zess ermöglichen. Da die verschiedenen Institutio-
nen des Gesundheitswesens unterschiedliche Ziele
▌ Qualifikation der betreuenden Personen verfolgen, sind entsprechend unterschiedliche Ziel-
Im Arbeitsleben werden unter Qualifikation die vorgaben und Rahmenbedingungen von Bedeutung.
Merkmale eines Menschen hinsichtlich seiner Ar- Je nach den räumlichen, materiellen und personel-
beitsfähigkeit (= Wissen), seiner Arbeitsdisposition len Gegebenheiten ergeben sich dadurch unter-
und Arbeitskondition (= Können) und seiner Ar- schiedliche Möglichkeiten für eine prozessorientier-
beitsbereitschaft (= Wollen) verstanden. Zu den te Pflege. Im Folgenden werden einige Rahmenbe-
Merkmalen der Qualifikation eines Menschen gehö- dingungen beschrieben, die eine geplante Pflege
ren: nach dem Pflegeprozess unterstützen.
■ kognitive Merkmale (Kenntnisse, Verstehen, Fä- Rahmenbedingungen:
higkeit der Problemlösung), ■ Auf jeder Station/jedem Wohnbereich sollte ein
■ affektive Merkmale (Interessen, Empfinden, Handbuch mit Beschreibung der Stationsgege-
Werthaltung), benheiten, angewandten Pflegemethoden und
■ sensomotorische Merkmale (manuelle Geschick- gültigen Pflegestandards zur Orientierung der
lichkeit, Körpergeschicklichkeit, Reaktionsver- Mitarbeiter vorhanden sein.
mögen) und ■ Ein Pflegedokumentationssystem, das die pro-
■ physiologische Merkmale (Belastbarkeit, Ausdau- zessorientierte Pflegedokumentation erlaubt, si-
er, körperliche Kraft, Kondition, Sehen, Hören). chert die Kontinuität der Information über die
Pflege des einzelnen pflegebedürftigen Men-
Die Qualifikationen der betreuenden Personen ver- schen.
langen außerdem die sogenannten Schlüsselqualifi- ■ In regelmäßigen Abständen sollten Dienstüber-
kationen. Hierunter werden berufsübergreifende gaben stattfinden. Sie dienen dem Austausch
Qualifikationen, wie Teamfähigkeit oder Fähigkeit und der Information über die erbrachte Pflege.
zur selbstständigen Problemlösung, verstanden In einer besonderen Form können sie auch als
(s. a. Kap. 3). Diese sind in allen Arbeitsbereichen Übergabe am Patientenbett durchgeführt werden
aufgrund der schnellen Entwicklung der Technik (s. a. Kap. 10).
und Wissenschaft von großer Notwendigkeit. Das ■ Die Durchführung von Pflegevisiten dient einem
regelmäßigen Informationsaustausch zwischen
Pflegeperson B. versteht unter „guter Pflege“, dass sie Im Folgenden wird exemplarisch anhand zweier
die hilfsbedürftigen Menschen so viel wie möglich Pflegetheorien (s. a. Kap. 4) beschrieben, wie diese
selbst tun lässt. Ihre Aufgabe als Pflegeperson sieht sich auf die inhaltliche Gestaltung des Pflegeprozes-
sie darin, sie in den Bereichen, in denen sie Einschrän- ses auswirken.
kungen unterliegen, zu unterstützen. Sie ist der An-
sicht, dass das Ziel „Gesundheit“ schneller erreicht 6.8.1 Roper, Logan und Tierney: Die Elemente
werden kann, wenn hilfsbedürftige Menschen aktiv der Krankenpflege
in die Pflege einbezogen werden, weil auf diese
!
Merke: Die Pflegetheorie der englischen
Weise das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten ge-
Pflegewissenschaftlerinnen Nancy Roper,
stärkt wird und sie schneller lernen, mit Einschrän-
Winifred Logan und Alison Tierney ist im
kungen zurecht zu kommen.
deutschsprachigen Raum bekannt, wird in vielen
Fachbüchern besprochen und liegt einigen Curricula
Die Beispiele zeigen, wenn auch auf idealtypische
der Ausbildung in der Pflege zugrunde.
Weise, dass Unterschiede im Pflegeverständnis
6
bzw. in der persönlichen Sichtweise von Pflege Aus-
wirkungen haben können auf: Roper, Logan und Tierney veröffentlichten ihre
■ Art und Umfang, wie hilfsbedürftige Menschen in Theorie in dem 1980 erschienenen Buch „Die Ele-
die pflegerischen Aktivitäten einbezogen wer- mente der Krankenpflege“. Die drei Pflegetheoreti-
den, kerinnen verbinden dabei Erkenntnisse aus der Psy-
■ Art und Umfang der Handlungen der Pflegeper- chologie, der Physiologie und der Pflege. Ihrer Theo-
son und rie liegt ein Modell des Lebens zugrunde, das we-
■ Zielsetzung der Pflege. sentlich durch die zwölf Lebensaktivitäten charakte-
risiert ist, die allen Menschen gemeinsam sind. Der
Hieraus können eine Reihe von Schwierigkeiten, z. B. einzelne Mensch führt diese Lebensaktivitäten im
für die Kooperation in einer Pflegeeinheit, aber auch Verlauf der Lebensspanne von der Geburt bis zum
für die jeweiligen hilfsbedürftigen Menschen, ent- Tod mit unterschiedlich großer Unabhängigkeit bzw.
stehen, da sie von den in den Beispielen beschriebe- Abhängigkeit von anderen Menschen aus (s. a.
nen Pflegepersonen eine recht unterschiedliche Kap. 4).
Pflege erfahren. Die 12 Lebensaktivitäten nach Roper, Logan und
Pflegetheorien können an dieser Stelle zu einem Tierney sind:
gemeinsamen, einheitlicheren Pflegeverständnis 1. Für eine sichere Umgebung sorgen,
beitragen. Darüber hinaus machen Pflegetheorien 2. Kommunizieren,
Aussagen zu: 3. Atmen,
■ pflegerisch bedeutsamen Konzepten, wie z. B. 4. Essen und trinken,
Gesundheit, Krankheit, Pflege etc., 5. Ausscheiden,
■ Art und Umfang pflegerischer Aktivitäten, 6. Sich sauber halten und kleiden,
■ Rolle der Pflegepersonen im Gesundheitswesen 7. Die Körpertemperatur regulieren,
und 8. Sich bewegen,
■ Zielsetzung der Pflege. 9. Arbeiten und spielen,
10. Sich als Mann und Frau fühlen und verhalten,
Sie wirken sich so auf die inhaltliche Gestaltung aller 11. Schlafen und
Schritte des Pflegeprozesses aus. 12. Sterben.
!
Merke: Der Pflegeprozess ist eine Methode, Roper, Logan und Tierney gehen davon aus, dass die
die das strukturierte und systematische Unterschiede im Verhalten der jeweiligen Menschen
Vorgehen bei der Pflege von Menschen er- sich aus deren biologischen Lebensläufen und den
möglicht. Er muss in den theoretisch-konzeptuellen von ihnen in ihrem kulturellen und sozialen Umfeld
Bezugsrahmen einer Pflegetheorie eingebunden wer- gemachten Erfahrungen ergeben.
den, um inhaltlich sinnvoll gefüllt werden zu können.
Sobald ein Mensch aus einer relativen Unabhän- Tab. 6.8 Schritte des Pflegeprozesses nach Fiechter und
gigkeit in eine relative Abhängigkeit in einer oder Meier im Rahmen der Pflegetheorie von Roper, Logan und
Tierney
mehreren Lebensaktivitäten gerät, ist das ein
Grund für ein Eingreifen der Pflege. Schritte des Pflegepro- Inhalte nach der Pflegetheorie von Roper,
Dabei ist es die Aufgabe der Pflegeperson, den zesses nach Fiechter und Logan und Tierney
Meier
betroffenen Menschen darin zu unterstützen,
schnell wieder eine größtmögliche Unabhängigkeit 1. Informations- Erheben des relativen Abhängigkeits-
in der betroffenen Lebensaktivität zu erlangen oder sammlung grades in allen 12 Lebensaktivitäten
mit einer bleibenden Abhängigkeit zurecht zu kom-
2. Erkennen von Feststellen der aktuellen und/oder po-
men. Problemen und tentiellen Abhängigkeit in Bezug auf
Die Phasen des Pflegeprozesses können gut auf Ressourcen des die 12 Lebensaktivitäten
die Theorie von Roper, Logan und Tierney angewen- pflegebedürftigen Ermitteln der Gewohnheiten und Res-
Menschen sourcen in Bezug auf die 12 Lebens-
det werden. In der Informationssammlung ermitteln
aktivitäten
Pflegeperson und pflegebedürftiger Mensch ge-
6 3. Festlegung der Welche relative Unabhängigkeit kann/
meinsam Pflegeprobleme und Ressourcen bezogen
Pflegeziele soll in den einzelnen Lebensaktivitäten
auf die Lebensaktivitäten.
erreicht werden?
In der zweiten Phase des Pflegeprozesses wird
ermittelt, in welchen Lebensaktivitäten eine aktuelle 4. Planung der Pflege- Planung der Pflegemaßnahmen in
maßnahmen Bezug auf die Lebensaktivitäten
oder potenzielle Abhängigkeit (Problem) vorliegt
und über welche früheren Gewohnheiten und Be- 5. Durchführung der Durchführung von vorbeugenden, das
wältigungsstrategien der pflegebedürftige Mensch Pflege Leben erleichternden und unterstüt-
verfügt (Ressourcen). zenden Pflegemaßnahmen unter Ein-
bezug der Ressourcen
Auf die gleiche Art und Weise werden die ange-
strebten Ziele bzw. der zu erreichende Grad der Un- 6. Beurteilung der Wir- Beurteilung des erreichten Selbststän-
abhängigkeit in den einzelnen Lebensaktivitäten kung der Pflege auf digkeitsgrades in Bezug auf die Le-
den pflegebedürfti- bensaktivitäten; ggf. Festlegung neuer
festgehalten. gen Menschen Ziele und/oder Anpassung der Pflege-
In Abhängigkeit von den formulierten Zielen maßnahmen
werden in einem vierten Schritt die Pflegemaßnah-
men ausgewählt, die zum Erreichen des Ziels füh-
ren. die Beziehung zwischen Pflegeperson und pflegebe-
Zur Beurteilung bzw. Evaluation der Pflege wer- dürftigem Menschen steht. Peplau bezeichnet Pflege
den die Lebensaktivitäten vor und nach der Durch- als einen psychodynamischen Prozess, in welchem
führung der Pflege beurteilt und mit den geplanten die Beziehung zwischen Pflegeperson und pflegebe-
Zielen verglichen. Dabei gilt der erreichte Grad der dürftigem Menschen unterschiedliche Phasen
Unabhängigkeit des pflegebedürftigen Menschen als durchläuft und die beteiligten Personen wechselnde
Kriterium für die Zielerreichung. Rollen innehaben (s. a. Kap. 4). Peplau beschreibt
Sollte das vereinbarte Ziel in einem oder mehre- vier Phasen der Interaktion zwischen Pflegeperson
ren Bereichen der Lebensaktivitäten nicht erreicht und pflegebedürftigem Menschen:
sein, werden entweder neue Pflegemaßnahmen 1. Orientierung,
ausgewählt, die Intensität der bereits durchgeführ- 2. Identifikation,
ten Maßnahmen gesteigert oder neue Pflegeziele 3. Nutzung und
formuliert. Tab. 6.8 veranschaulicht die Schritte des 4. Ablösung.
Pflegeprozesses in der Pflegetheorie von Roper,
Logan und Tierney. In jeder dieser Phasen sind die Schritte des Pfle-
geprozesses anwendbar.
6.8.2 Hildegard Peplau: Interpersonale Die Orientierungsphase beschreibt Peplau als
Beziehungen in der Pflege den Beginn der pflegerischen Beziehung. Pflegeper-
Hildegard Peplau veröffentlichte ihre Theorie der son und pflegedürftiger Mensch begegnen sich zum
psychodynamischen Pflege 1952. Sie wird den sog. ersten Mal. Gemeinsam soll das Problem des pflege-
Interaktionsmodellen zugerechnet, da im Zentrum bedürftigen Menschen ermittelt werden. In der
Identifikationsphase hat sich laut Peplau eine Ver- Probleme auf, beginnt der Pflegeprozess in dieser
trauensbasis zwischen Pflegeperson und pflegebe- Phase von Neuem.
dürftigem Menschen entwickelt, die es dem pflege- Entscheidend ist, dass das Bewusstsein der je-
bedürftigen Menschen ermöglicht, sich der Pflege- weiligen Pflegeperson über die Phase, in der sich
person zu öffnen. Der pflegebedürftige Mensch er- die Beziehung zwischen ihr und dem pflegebedürf-
kennt die Pflegeperson als einen Menschen, der ihm tigen Menschen befindet, dazu beiträgt, den pflege-
bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse bzw. der Be- bedürftigen Menschen effektiver beim Erkennen
arbeitung seiner Probleme helfen kann. Gemeinsam und Bewältigen seiner Probleme zu unterstützen.
kann in dieser Phase ein Pflegeplan für den pflege- Tab. 6.9 zeigt die Phasen der Interaktion zwi-
bedürftigen Menschen erstellt werden. In der Phase schen Pflegeperson und pflegebedürftigen Men-
der Nutzung nimmt der pflegebedürftige Mensch schen (nach Peplau) in Verbindung mit dem Pfle-
die ihm gebotene Unterstützung in Anspruch und geprozess.
zieht bedingungslosen Nutzen aus den Angeboten, Pflege bezeichnet Peplau dann als hilfreich, wenn
die ihm von der Pflege entgegengebracht werden. beide, Pflegeperson und pflegebedürftiger Mensch,
6
Gemeinsam werden die Probleme des pflegebedürf- aus der pflegerischen Beziehung heraus sich persön-
tigen Menschen bearbeitet. Die Ablösungsphase ist lich weiterentwickeln und etwas lernen konnten.
dadurch gekennzeichnet, dass die Bedürfnisse des Wie exemplarisch an den Pflegetheorien von Ro-
pflegebedürftigen Menschen befriedigt sind. In die- per, Logan und Tierney und Peplau gezeigt, können
ser Phase steckt er sich Ziele für die Zukunft. In der auch andere Pflegetheorien als theoretisch-konzep-
Ablösungsphase berät und unterstützt die Pflege- tueller Bezugsrahmen für den Pflegeprozess dienen.
person den pflegebedürftigen Menschen in seinem Wichtig ist, dass der Pflegeprozess in einen theo-
Bemühen, künftig ohne fremde Hilfe handeln zu retischen Bezugsrahmen eingebunden wird, wenn
können. er sinnvoll eingesetzt wird und den Bedürfnissen
Der Verlauf der Phasen in Peplaus Theorie ist von pflegebedürftigen Menschen Rechnung tragen
linear, d. h. die einzelnen Phasen laufen idealtypisch soll.
entlang einer gedachten Achse in einer geraden Diese Ansicht vertreten auch Höhmann u. Mit-
Linie hintereinander ab (Überschneidungen bzw. arb., die in ihrer im Auftrag des Bundesministeriums
„Rückfälle“ in frühere Phasen sind möglich). Der für Arbeit und Sozialforschung durchgeführten For-
Pflegeprozess mit seinen sechs Phasen ist ein zykli- schungsstudie „Die Bedeutung des Pflegeplanes für
sches Geschehen, d. h. er wird im Sinne eines Regel- die Qualitätssicherung in der Pflege“ bereits 1996
kreises innerhalb der einzelnen Phasen so lange eine Schwierigkeit bei der Umsetzung des Pfle-
durchlaufen, bis das jeweilige Problem des pflegebe- geprozesskonzeptes in die Pflegepraxis darin sehen,
dürftigen Menschen in der Phase gelöst ist. Treten dass der Pflegeprozess häufig ohne Einbindung in
nach dem Lösen eines Problems in einer Phase neue theoretische Überlegungen in Pflegeeinrichtungen
Tab. 6.9 Phasen der Interaktion zwischen Pflegeperson und pflegebedürftigem Menschen (nach Peplau) und der Pfle-
geprozess
Der Pflegeprozess ist ein zyklischer Vorgang; es gibt kurzfristige und langfristige Ziele das Modell von Peplau ist linear: es hat
der Pflege: in jeder Phase des Peplauschen Modells kann es mehr als nur einen Pflege- einen Anfang und ein Ende
zyklus geben
eingeführt und damit zu einem rein mechanisti- Bienstein (1995) unterteilt Standards in Abhän-
schen Handlungsmodell wird. gigkeit von ihrer jeweiligen Größe. Standards der
Makro-Ebene beziehen sich auf den Gesamtstandard
eines Krankenhauses oder anderer Institutionen des
6.9 Pflegeprozess und Gesundheitswesens. Mediale Standards definieren
Pflegestandards übergreifende, größere pflegerelevante Handlungs-
einheiten im Gegensatz zu Mikrostandards, die ein-
Im Allgemeinen wird unter einem Standard eine zelne Pflegesituationen beschreiben.
Richtschnur, ein Maßstab oder eine Norm verstan- Neben dieser Einteilung der Standards nach ihrer
den. Ziel der Einführung eines Standards ist das Er- Größenordnung ist die Zuordnung zu verschiedenen
zeugen und die Sicherstellung einer bestimmten Standardarten gebräuchlich. Hierbei werden Pfle-
Leistung. gestandards in drei Arten unterschieden:
Die berufliche Pflege erbringt ihre Leistung im 1. strukturorientierte Standards,
Dienstleistungsbereich. Auch diese Arbeit muss 2. prozessorientierte Standards und
6
strukturiert erfolgen und Qualität garantieren. Die 3. ergebnisorientierte Standards.
hier eingesetzten Standards werden als Pflege-
standards bezeichnet. Der Einsatz von Pflegestan- 6.9.1 Strukturorientierte Standards
dards im Rahmen des Pflegeprozesses kann die pfle- Strukturorientierte Standards beziehen sich all-
gerische Arbeit u. a. dahingehend unterstützen, gemein auf die Organisationsstruktur eines Kran-
dass: kenhauses oder einer anderen Pflegeinstitution.
■ die Qualität der zu erbringenden Pflege auf Speziell davon abgeleitet beschreiben sie die Orga-
einem festgeschriebenen Niveau sichergestellt, nisationsform in der Pflege. Dabei berücksichtigen
■ die Einheitlichkeit von Arbeitsabläufen und Pfle- strukturorientierte Standards die betriebliche Ziel-
gemaßnahmen unterstützt, setzung, budgetäre Verhältnisse, Personalbedarf
■ ein ökonomisches Zeitmanagement ermöglicht und die Qualifikationen der einzelnen Pflegeper-
und sonen, Materialien und Ausstattung mit medizi-
■ die schriftliche Dokumentation erleichtert wird. nischen Geräten sowie räumliche Erfordernisse etc.
!
Merke: Pflegestandards sind allgemein gül-
minierten Pflegeperson aus dem Aufwachraum ab-
tige und anerkannte Maßstäbe für das Er- geholt werden.
bringen der Pflege. Sie liefern Kriterien, an- ■ Jede Pflegeperson muss mindestens 2mal jährlich
hand derer die Qualität in bestimmten Bereichen der an einer Fortbildung „Korrektes Handeln in Notfall-
Pflege erreicht und überprüft werden kann. situationen“ teilnehmen.
■ Jedes Zimmer eines Wohnbereiches hat maximal
Für die Pflege gibt es eine Reihe unterschiedlicher zwei Betten und eine räumlich abgetrennte Dusche
Standards, die verschiedenen Klassen zugeordnet mit Waschbecken und WC.
werden. Eine Klassifizierung bzw. Einteilung von ■ Mit jedem pflegebedürftigen Menschen wird ein
Pflegestandards kann u. a. hinsichtlich ihrer Größen- Aufnahmegespräch durch die betreuende exa-
ordnung und Art vorgenommen werden. minierte Pflegeperson geführt.
!
Merke: Strukturorientierte Standards be- Reinigung der Haare.
ziehen sich auf die Organisationsstruktur
einer Institution und berücksichtigen deren Häufigkeit:
personelle, lokale, temporale, technische, organisato- nach Wunsch des pflegebedürftigen Menschen,
rische und ökologische Ausstattung. mindestens 1 × pro Woche.
Tab. 6.10 Auszug aus einem möglichen Standardpflegeplan für pflegebedürftige Menschen nach abdominal-chirurgischen
Eingriffen
Schmerzen im Wundgebiet auf- ● Äußert Schmerzen nach NRS > 3 ● Information über Schmerzursache (OP-Reizung/Wun-
grund der intraoperativen Ge- ● Kennt Verhaltensweisen zur de) und Maßnahmen zur Schmerzlinderung (Positio-
websverletzung Schmerzreduktion (Positionierung) nierung/Analgetika nach Arztanordnung) am (Datum)
● Kennt die Möglichkeit der Schmerz- Positionierung:
kontrolle durch Gabe von Analgetika ● Bauchdecke entspannen (Kissen unter die Knie legen)
● Oberkörper leicht erhöht
Kann die Körperpflege nicht ● Hat gepflegtes Äußeres und fühlt ● 2 × täglich Körperpflege im Bett mit eigenen Körper-
selbstständig durchführen auf- sich erfrischt pflegeutensilien ermöglichen
grund postoperativer Immobilität ● Führt Körperpflege ab 3. postope- ● Hilfestellung/Übernahme durch die Pflegeperson je
rativen Tag am Waschbecken über- nach Zustand des Patienten
wiegend selbstständig durch ● 1. und 2. postoperativer Tag Körperpflege im Bett
● 3. postoperativer Tag Körperpflege am Waschbecken
6
Gefahr der Infektion der Einstich- ● Reizlose Einstichstelle und Venen- ● Information über Sinn, Zweck, voraussichtliche Liege-
stelle und von Phlebitis aufgrund verlauf dauer und Umgang mit der Kanüle und dem Infusi-
der Venenverweilkanüle zur Infusi- ● Kennt Anzeichen einer beginnenden onssystem (keine Manipulationen, Bewegungsradius,
onstherapie Infektion und meldet sich bei auf- Abknickungen)
tretenden Anzeichen ● 1 × tägl. aseptischer Verbandwechsel der Einstichstelle
● Kennt Bewegungsradius und Um- mit Inspektion der Einstichstelle und des Venenverlaufs
gang mit Infusionssystem auf Entzündungszeichen
Gefahr der postoperativen Darm- ● Führt am 3. postoperativen Tag ab ● Wenn bis zum 3. postoperativen Tag keine spontane
atonie aufgrund der intraoperati- ● Kennt Notwendigkeit des Abführens Defäkation erfolgt:
ven Manipulation am Bauchfell ● am 3. postoperativen Tag Abführmaßnahmen nach
Arztanordnung
● Information über Sinn und Zweck sowie Wirkung der
Abführmaßnahme
Gefahr des postoperativen Harn- ● Lässt spontan und beschwerdefrei ● Wenn postoperativ nach 6 Stunden keine spontane
verhalts innerhalb von 6 Stunden nach OP Miktion erfolgt:
Urin ● Stimulation der Miktion (Laufenlassen von Wasser/
Hände in lauwarmes Wasser legen)
● Evtl. Einmalkatheterismus nach Arztanordnung
!
Merke: Ein Standardpflegeplan umfasst reicht und warum es nicht erreicht wurde.
generelle und potenzielle Pflegeprobleme, Der ergebnisorientierte Standard bezieht sich auf
-ziele und -maßnahmen, die bei der Mehr- den im Pflegeprozess letzten Schritt, die „Beurtei-
zahl einer Patientengruppe auftreten. Er kann für lung der Wirkung der Pflege auf den pflegebedürf-
Menschen mit bestimmten Krankheitsbildern, einzel- tigen Menschen“, also auf die Evaluation der Pflege-
ne Pflegediagnosen oder typische pflegerische Situa- maßnahmen und der gesetzten Fernziele.
tionen erarbeitet werden. Ein Beispiel für einen ergebnisorientierten Stan-
dard ist: Patienten, die aus der speziellen Diabetes-
Klinik entlassen werden, können sich bei der Entlas-
sung selbstständig die jeweils erforderliche Menge
Insulin injizieren.
!
Merke: Der ergebnisorientierte Standard gefördert. Die eigenen Tätigkeiten werden reflek-
beschreibt den Gesundheits- und Zufrieden- tiert, was sowohl die persönliche als auch die beruf-
heitszustand des pflegebedürftigen Men- liche Weiterentwicklung unterstützt.
schen, der Angehörigen und der betreuenden Per- Auch der zeitliche Aufwand für die Dokumenta-
sonen. Er ist das Maß des Erfolges, welcher durch tion kann mit Hilfe von Standards vermindert wer-
das Erreichen, teilweise Erreichen oder Nichterreichen den. So kann z. B. im Pflegebericht vermerkt wer-
der Pflegeziele nachweisbar ist. den, dass der Dauerkatheter nach Standard X gelegt
wurde. Dann müssen nur noch das Datum, die Zeit,
Die unterschiedlichen Standardarten sind unmittel- die Charrière (Durchmesser des Katheterlumens),
bar voneinander abhängig. Der Ergebnisstandard evtl. aufgetretene Komplikationen und das entspre-
kann nur so gut sein, wie der strukturorientierte chende Handzeichen der ausführenden Person do-
und der prozessorientierte Standard dies ermögli- kumentiert werden.
chen. Es müssen immer alle drei Bereiche betrachtet Wurden die Standards gemeinsam von allen im
und bearbeitet werden, um eine gute Pflegequalität Behandlungsteam Tätigen erarbeitet, werden sie in
6
zu erreichen und zu sichern (Abb. 6.12). der Regel akzeptiert und somit eine Kontinuität der
geleisteten Pflege und eine gute Zusammenarbeit
6.9.4 Vorteile und kritische Aspekte beim im Team ermöglicht.
Arbeiten mit Pflegestandards Des Weiteren kann eine Leistungserfassung der
Das Arbeiten mit Pflegestandards bringt eine Reihe Pflegetätigkeiten durch Pflegestandards erfolgen,
von Vorteilen mit sich. Pflegestandards gewährleis- indem durch Vergleichsstudien der benötigte Zeit-
ten eine qualitativ hochwertige und einheitliche aufwand für bestimmte standardisierte pflegerische
Pflege für die betroffenen Menschen, indem sie ein Tätigkeiten ermittelt wird.
bestimmtes Maß an Pflegequalität vorgeben. Sie Wird nun ein Pflegeplan an Hand von Standards
sind ein rationales Arbeitsinstrument, da die zu be- für einen pflegebedürftigen Menschen erstellt, kann
achtenden Punkte bei der Durchführung bestimmter auf Grund des ermittelten Zeitaufwandes einzelner
Pflegemaßnahmen im Standard enthalten sind. standardisierter Pflegetätigkeiten aus dem Doku-
Arbeiten Pflegepersonen nach den Standards, ist mentationssystem die erbrachte Leistung im Sinne
routiniertes Handeln mit einem geringeren Zeitauf- des Zeitaufwandes ermittelt werden.
wand möglich. Dadurch wird wirtschaftliches Pfle-
!
gen unterstützt. In vielen Institutionen des Gesund- Merke: Die Vorteile beim Arbeiten mit Pfle-
heitswesens haben sich Projektgruppen gebildet, die gestandards lassen sich wie folgt zusam-
sich mit der Entwicklung von Pflegestandards be- menfassen:
schäftigen. ■ Pflegestandards machen Pflegeleistungen sichtbar
Hierdurch wird gleichzeitig die Auseinanderset- und messbar,
zung der Pflegepersonen mit beruflichen Themen
■ Pflegestandards dienen als Instrument für die Eva- allen Einrichtungen des Gesundheitswesens in den
luation der Pflegequalität, letzten Jahren eine neue Qualitätskultur entwickelt.
■ Pflegestandards können eingesetzt werden, um
den Bedarf an Pflegepersonal zu eruieren, 6.10.1 Grundlagen zum Qualitätsbegriff
■ Pflegestandards sind Richtlinien für die Inhalte von
Beispiel: Stellen sie sich vor: Sie haben von
Curricula in Aus-, Fort- und Weiterbildung, ihren Großeltern zum Geburtstag Geld für
■ Pflegestandards erleichtern im Zusammenhang ein neues Handy geschenkt bekommen, das
mit dem Pflegeprozess die Pflegedokumentation, sie sich nun kaufen möchten. Sie haben sicherlich be-
■ Pflegestandards unterstützen die Einarbeitung stimmte Ansprüche an das Gerät. Formulieren Sie,
neuer Mitarbeiter, Berufsanfänger und Lernender nach welchen Kriterien Sie das Handy auswählen
in den Pflegeberufen, würden. Was wäre Ihnen besonders wichtig? Fertigen
■ Pflegestandards tragen zur Rationalisierung von Sie ein Mind-Map an und machen Sie sich die ver-
Arbeitsabläufen bei, ohne die individuelle Versor- schiedenen Einflussfaktoren auf ihre Kaufentschei-
gung eines pflegebedürftigen Menschen zu beein-
dung bewusst. 6
trächtigen.
Beim Arbeiten mit Pflegestandards sind allerdings Der Begriff Qualität (lat. qualitas) bedeutet neutral
auch einige kritische Aspekte zu beachten. Pfle- gesehen, so viel wie „Beschaffenheit“, „Merkmal“,
gestandards dürfen nicht unüberlegt angewendet „Eigenschaft“ oder „Zustand“ und kann sich auf ein
werden. Der unreflektierte Einsatz von Standards Objekt, auf einen Prozess oder auf ein System bezie-
führt dazu, dass pflegerische Handlungen auto- hen. Häufig wird mit dem Begriff aber auch ein Gü-
matisch ablaufen und in unvorhergesehenen, plötz- temerkmal eines Produkts beschrieben. Das Produkt
lich eintretenden Situationen u. U. nicht angemessen kann eine Ware oder eine Dienstleistung sein. Am
reagiert wird. Beispiel des Handykaufs könnte sich die Qualität auf
Werden Standardpflegepläne nicht an die indivi- das Produkt „Handy“, auf dessen Eigenschaften be-
duelle Situation eines pflegebedürftigen Menschen ziehen oder auf den Prozess der Produktion und des
angepasst, kann keine auf die tatsächlichen Bedürf- Vertriebes durch den Hersteller oder auf das Ma-
nisse und Ressourcen des Menschen abgestimmte nagement des Gesamtbetriebs. Werden die Quali-
Pflege erfolgen. tätsmerkmale des Handys betrachtet, geht es
darum z. B. die Bedienung und die Vielfalt der Funk-
tionen des Handys zu bewerten. Bezogen auf die
6.10 Pflegequalität Dienstleistung kann z. B. die Servicequalität bei der
Beratung beim Kauf des Handys oder bei einer Re-
Elke Kobbert
klamation unter bestimmten Kriterien beurteilt
In den letzten Jahren hat das Thema „Qualität“ in werden.
allen Handlungsfeldern der Pflege an Bedeutung ge-
!
wonnen. Infolge des demografischen Wandels und Merke: Jedes Produkt oder jede Dienstleis-
dem daraus zu erwartenden Anstieg älterer und tung besitzt bestimmte Eigenschaften und
pflegeabhängiger Menschen, stellt sich zum einen Merkmale anhand derer einzelne Qualitäts-
die Frage, wie die Versorgungs- und Lebensqualität merkmale abgeleitet werden können.
dieser Gruppen auch in Zukunft gewährleistet wer-
den kann. Zum anderen hat der Gesetzgeber das Beispiel: Stellen Sie sich vor: Ihre 89jährige
Thema Qualität zu einem zentralen Thema erhoben, Nachbarin Frau Obermaier, kann sich auf-
indem interne und externe Qualitätssicherungs- grund zunehmender Mobilitätseinschrän-
maßnahmen für alle Einrichtungen verpflichtend kung nicht mehr alleine versorgen. Nun hat sie sich
und verbindlich eingefordert werden. entschlossen, in eine stationäre Altenhilfeeinrichtung
Aufgrund des gesetzlichen Auftrags, den berufs- zu ziehen. Frau Obermaier bittet Sie, ihr bei der Suche
ethischen Ansprüchen der unterschiedlichen Berufs- nach einer für sie geeigneten Einrichtung zu helfen.
gruppen, der wirtschaftlichen Erfordernisse sowie Überlegen Sie, welche Kriterien zur Auswahl der Ein-
des zunehmenden Konkurrenzdrucks hat sich in richtung Sie heranziehen und anhand welcher Fak-
toren Sie die Qualität der Einrichtung einschätzen Organization for Standardization. Für die Bestim-
würden. Vergleichen Sie Ihre Aufzeichnungen mit mung der Qualität eines Produktes wird also nicht
denen für das Beispiel des Handykaufes. Welche über- nur das Produkt allein analysiert, sondern die Ge-
geordneten Gemeinsamkeiten und Unterschiede wer- samtheit aller Abläufe, d. h. die Entwicklungs-
den für Sie deutlich? geschichte eines Produktes wie z. B. die Funktions-
und Konstruktionsidee, Prototypentwicklung, Ver-
Das Wort „Qualität“ wird im Sprachgebrauch häufig antwortlichkeiten, Erprobungsphasen, Fertigung,
verwendet, jedoch besteht keine Einigkeit darüber, Endkontrolle, Versand und Vertrieb.
was Qualität genau ist oder sein sollte. Wenn etwas Heute wird die Qualität von einer Vielzahl von
von „höchster Qualität“ ist, oder ein Qualitätssiegel Produkten von Zeitschriften oder Testberichten ana-
besitzt, dann wird unter Qualität in der Regel etwas lysiert, um dem interessierten Käufer in dem un-
Positives verstanden. Aber was Qualität genau be- übersichtlichen Markt von Anbietern bei der Pro-
deutet, ist schwer zu bestimmen. So gibt es unter- duktauswahl behilflich zu sein. Der Kunde kann
schiedliche Konzepte, die den Begriff konkretisieren. das Preis-Leistungs-Verhältnis vergleichen und
6
Nach DIN 66 050 wird Qualität definiert als die Ge- seine Kaufentscheidung unter Berücksichtigung der
samtheit der Merkmale, die ein Produkt oder eine ausgewiesenen Qualitätskriterien treffen.
Dienstleistung zur Erfüllung vorgegebener Forde-
rungen auszeichnet. Diese Definition zielt auf die ▌ Pflegequalität
Gebrauchstauglichkeit eines Produktes ab und da- Auch im Begriff der Pflegequalität spiegelt sich die
rauf, dass zuvor gesetzte Erwartungen auch tatsäch- Komplexität des Qualitätsbegriffs wieder. So gibt es
lich erfüllt werden. unterschiedliche Begriffsdefinitionen.
Die Diskussion um den Begriff „Qualität“ hat folg- Donabedian definierte im Jahr 1966 Qualität als
lich einen sehr normgebundenen Charakter, denn es Grad der Übereinstimmung zwischen den Zielen des
soll das Richtige getan werden, um die bestmögliche Gesundheitswesens und der wirklich geleisteten
Qualität zu erreichen (vgl. Görres 1999). Avedis Do- Pflege und der zuvor formulierten Standards und
nabedian gilt als der Begründer der Qualitätssiche- Kriterien.
rung im Gesundheitswesen. Er hat das dem Quali- Schiemann (1990, S. 527) erweiterte diese Defi-
tätsbegriff zugrunde liegende Prinzip herausgestellt: nition: „Pflegequalität [ist] der Vorgang des Be-
Er verdeutlichte, dass „Qualität erst mit der Über- schreibens von Zielen in Form von Pflegestandards
einstimmung zwischen normativer Erwartung und und Kriterien, das Messen des tatsächlichen Pflege-
tatsächlicher Leistung bzw. empirischer Realität re- niveaus und, falls erforderlich, das Festlegen und
sultiert“ (Feigenbaum 1954 in Göres 1999, S. 51). Evaluieren von Maßnahmen zur Modifizierung der
Die Erfüllung der normativen Erwartungen be- Pflegepraxis“. In den Definitionen von Donabedian
schreiben z. B. dass alle internen und externen Kun- und Schiemann zeigt sich, dass sich Pflegequalität
den mit den angebotenen Leistungen zufrieden sind. auszeichnet, indem Ziele und Standards der Pflege
Die empirische Realität definiert, wie diese Qualität beschrieben, Kriterien zur Beurteilung des Pflege-
unter wissenschaftlichen bzw. systematisch ablau- niveaus bestimmt sowie Pflegemaßnahmen und
fenden Untersuchungen beschrieben werden kann. deren Evaluationskriterien festgelegt werden, mit
Demnach spielen subjektive Kriterien, die durch deren Hilfe die Pflege angepasst werden kann. Pfle-
persönliche Bewertungen abgegeben werden und gequalität wird demnach in Verbindung mit der An-
objektive Kriterien, die durch nachprüfbare Be- wendung des Pflegeprozesses und das Arbeiten
schreibungen betrachtet werden können, eine Rolle. nach Pflegestandards betrachtet. Mit diesem Vor-
Damit wird die Mehrdimensionalität des Qualitäts- gehen werden keine überhöhten Erwartungen for-
begriffes deutlich. muliert, sondern die Pflege auf ein „akzeptables“
In der Industrie haben sich im Rahmen der Qua- Niveau gehoben. Bei der Qualitätsbeurteilung wer-
litätsdiskussion sogenannte DIN-ISO-Normen ent- den neben der Prüfung, ob die individuellen Pflege-
wickelt, mit denen die Komplexität und Mehr- ziele erreicht wurden, auch die Arbeitsbedingungen,
dimensionalität bei der Herstellung eines Produktes unter denen die Pflege erfolgte, berücksichtigt. So
transparent gemacht werden. DIN steht für Deut- spielen folgende Aspekte ebenfalls eine bedeutende
sches Institut für Normung und ISO für International Rolle:
■ die einrichtungsspezifische Ablauforganisation Ergebnisqualität. Sie macht Aussagen über das Errei-
■ die Pflegeorganisation und räumliche, personelle chen der geplanten Pflegeziele. Auch die Zufrieden-
und materielle Rahmenbedingungen, heit der Mitarbeiter spielt bei der Ergebnisqualität
■ Pflegemodelle und deren Umsetzung im Pfle- eine Rolle.
geprozess
■ die Zielsetzung der pflegerischen Behandlung 6.10.2 Gesetzliche Grundlagen zur
und Koordination der unterschiedlichen Berufs- Qualitätssicherung in der Pflege
gruppen. Qualitätssicherung in der Pflege bezieht sich auf die
pflegerische Grundversorgung und Prävention in
Qualitätsmerkmale in der Pflege müssen aus der Krankenhäusern, ambulante Versorgung und Pflege
Zielsetzung abgeleitet werden und sind zum Teil in teilstationären und stationären Altenhilfeeinrich-
aus der Sicht des Betrachters, d. h. zu einem be- tungen. Qualitätssicherung umfasst alle Maßnah-
stimmten Maße von subjektiven Faktoren abhängig. men, die der Optimierung der Pflege, bzw. der Ver-
Je nachdem wie hoch der Übereinstimmungsgrad sorgung der Patienten dient und die Pflegequalität
6
zwischen definierten Pflegezielen und dem erreich- sichert. Der Qualitätsbegriff bezieht sich auf die
ten Ergebnis ist, kann ein Eindruck davon gewonnen zuvor dargestellten Kategorien: Struktur- Prozess-
werden, welche Aspekte gut sind und welche ver- und Ergebnisqualität. Mit den Maßnahmen der Qua-
bessert werden können. litätssicherung soll das pflegerische Handeln reflek-
Zur Differenzierung des Qualitätsbegriffes ent- tiert, verbessert und gefördert werden.
wickelte Donabedian drei Kategorien: Struktur-,
!
Prozess- und Ergebnisqualität. Merke: Es werden externe und interne
Qualitätssicherungsanforderungen unter-
Strukturqualität. Hier geht es um die Rahmenbedin- schieden. Bei den externen Qualitätsanfor-
gungen, in denen die pflegerische Betreuung erfolgt. derungen werden die Qualitätskriterien nicht durch
Unter Qualitätsgesichtspunkten spielen z. B. die An- die Berufsangehörigen selbst, sondern von anderen
zahl der Mitarbeiter, die technische Ausstattung Personen definiert und überprüft. Bei der internen
sowie die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel eine Qualitätssicherung werden Überwachung und Über-
Rolle. Auch die Qualifikation der Beschäftigen in der prüfung in der Einrichtung intern geregelt.
Pflege sowie die Aus-, Fort- und Weiterbildungs-
bedingungen, die Koordination von Arbeitsabläufen ▌ Gesetzliche Grundlagen
und die Form der Kooperation der Pflegenden mit Aufgabe der deutschen Sozialversicherung ist es, den
anderen Berufsgruppen werden hierzu gerechnet. Lebensstandard des Versicherten und seine Stellung
in der Gesellschaft in existenziellen Risikosituatio-
Prozessqualität. Sie bezieht sich auf die direkte Pfle- nen zu erhalten. Zu den Grundpfeilern der sozialen
ge und spiegelt die Art und den Umfang der pflege- Sicherheit gehören Renten-, Kranken-, Arbeitslosen-,
rischen Leistung wider. Hier werden alle Schritte Unfall- und Pflegeversicherung.
des pflegediagnostischen Prozesses unter Qualitäts- Die Sozialgesetze sind im Sozialgesetzbuch (SGB)
gesichtspunkten betrachtet. Somit stehen die Erhe- zusammengefasst. Die wesentlichen Bereiche sind in
bung der Pflegediagnosen, die Erstellung der Pfle- zwölf Büchern gegliedert, die mit fortlaufenden Pa-
geplanung, die Durchführung und Evaluation der ragraphen nummeriert sind und jeweils als eigen-
Pflege sowie die Dokumentation im Vordergrund. ständige Gesetze gelten.
Aber auch die Entwicklung standardisierter und in- Von den 12 Sozialgesetzbüchern regeln SGB V,
dividueller Pflegepläne werden unter dem Fokus der SGB IX und SGB XI die Finanzierung der Versorgung
Prozessqualität betrachtet. in Krankenhäusern, ambulanten Einrichtungen und
der Pflege in teilstationären und stationären Alten-
hilfeeinrichtungen. Die Träger von Gesundheitsein-
richtungen, deren Leistungen über die Kranken-
bzw. Pflegeversicherung finanziert werden, sind an-
hand gesetzlicher Regelungen verpflichtet, Maßnah-
!
Merke: Halten die zugelassenen Leistungs- zeitig sind sie verpflichtet, Maßnahmen der Quali-
erbringer ihre Verpflichtungen zur Quali- tätssicherung sowie ein Qualitätsmanagement
tätssicherung nicht ein, können Vergütungs- durchzuführen, Expertenstandards anzuwenden
abschläge erfolgen (§ 137 SGB V 2. Absatz). sowie bei Qualitätsprüfungen mitzuwirken. Bei sta-
tionärer Pflege erstreckt sich die Qualitätssicherung
SGB IX: Das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) neben den allgemeinen Pflegeleistungen auch auf
enthält Vorschriften für die Rehabilitation und Teil- die medizinische Behandlungspflege, die soziale Be-
habe behinderter Menschen in Deutschland. Dieses treuung, die Leistungen bei Unterkunft und Verpfle-
Gesetz soll die Selbstbestimmung und gleichberech- gung sowie auf die Zusatzleistungen. Der Medizi-
tigte Teilhabe in der Gesellschaft für behinderte nische Dienst der Krankenversicherung (MDK) und
oder von Behinderung bedrohte Menschen fördern der Prüfdienst des Verbandes der privaten Kranken-
gruppen. Jeder Mitarbeiter trägt mit seinem persön- Das Total Quality Management ist ein Unterneh-
lichen und fachlichem Verhalten und seiner mehr menskonzept und bedeutet:
oder weniger ausgeprägten Dienstleistungsorientie- T = Total ist mit den Begriffen „allumfassend“
rung zur Reputation, dem guten Ruf bzw. dem oder „ganzheitlich“ zu beschreiben und zeigt auf,
Ansehen der Einrichtung bei. dass alle Bereiche eines Unternehmens, alle Abtei-
lungen, Mitarbeiter, Zulieferer, Produkte und Dienst-
Mitarbeiterorientierung. Die Mitarbeiter gehören zu leistungen in den Qualitätsprozess einbezogen sind.
den wichtigsten Erfolgsfaktoren eines Dienstleis- Q = Quality steht für die Erfüllung von Kunden-
tungsbetriebs. Jeder Mitarbeiter muss so qualifiziert erwartungen hinsichtlich fehlerfreier Produkte bzw.
sein, dass er die an ihn gestellten Aufgaben fachlich Dienstleistungen. Im Mittelpunkt stehen Führung
fundiert und ordnungsgemäß durchführen kann. und Prozesse, deren Leistungen kontinuierlich ver-
Damit trägt er seinen Teil zum Erfolg des Unterneh- bessert werden sollen.
mens bei. M = Management macht deutlich, dass es sich
um Führungsaufgaben handelt und steht für die
6
Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit. Die Rekrutierung strategische Zielsetzung, Planung und Ausführung
von Patienten, Bewohnern, Kunden und Klienten ist anstehender Aufgaben unter Beachtung der Anfor-
abhängig davon, wie die Leistungsfähigkeit einer derungen wie Zeit, Wirtschaftlichkeit und Funktio-
Einrichtung von den Bürgern in der Umgebung ein- nalität.
geschätzt und wie sie in Konkurrenz zu anderen Insgesamt stehen beim TQM drei wesentliche
Einrichtungen wahrgenommen wird. Ein erfolgrei- Prinzipien im Vordergrund:
ches Qualitätsmanagement erhält die Wettbewerbs- ■ Streben nach höchster Qualität. Es werden keine
fähigkeit im Vergleich mit anderen Leistungsanbie- Qualitätsmängel toleriert. Es geht darum das
tern. Richtige schon beim ersten Mal und auch weiter-
Die Umsetzung eines Qualitätsmanagements hin richtig zu tun. Fehler sollen in der Produktion
setzt einen Lernprozess von allen in der Einrichtung (oder im Dienstleistungsbereich) systematisch
beteiligten Mitarbeitern voraus. Qualitätsorientier- eliminiert werden und Verbesserungen kontinu-
tes Handeln kann nicht verordnet oder befohlen ierlich erfolgen. Alle Prozesse müssen nachvoll-
werden. Es müssen Rahmenbedingungen geschaffen ziehbar dokumentiert und Verbesserungen nach-
werden, in denen die Mitarbeiter eine Qualitätskul- gewiesen werden.
tur entwickeln und sich mit den Zielen der Einrich- ■ Kundenorientierung. Es gibt externe und interne
tung identifizieren. Kunden, deren Qualitätserwartungen vollständig
erfüllt werden sollen. Die externen Kunden sind
▌ Total Quality Management bedeutend für die Existenz des Unternehmens,
Wird von Qualitätsmanagement gesprochen, wird deren Wünsche erforscht werden müssen. Inter-
meist auf das Qualitätsmanagement auf der Ebene ne Kunden sind alle Mitarbeiter, deren Arbeits-
des Total Quality Management (TQM) Bezug genom- bedingungen so zu gestalten sind, dass in allen
men. Produktionsstufen die Qualitätsansprüche erfüllt
Ein Qualitätsmanagementsystem umfasst die or- werden können.
ganisatorischen Maßnahmen, die sicherstellen, dass ■ Einbezug aller Mitarbeiter. Vom obersten Ma-
ein Unternehmen Qualität im oben beschriebenen nagement bis zum einzelnen Mitarbeiter besteht
Sinne systematisch und geplant umsetzt. Zum Qua- die Verpflichtung zum qualitätsbewussten Han-
litätsmanagement gehören: deln. Jeder Mitarbeiter eines Betriebes – unab-
■ Qualitätspolitik/Standardisierung hängig von seiner Position – soll in den Prozess
■ nachvollziehbare, dokumentierte Prozesse der Qualitätsplanung und Qualitätserbringung
■ laufende Verbesserungen sowie Korrektur- und einbezogen werden und Verantwortung über-
Vorbeugungsmaßnahmen nehmen. Führungskräfte kontrollieren die Ver-
■ jährliche Audits, die die Konformität des Systems änderungsprozesse und übernehmen Vorbild-
mit der Norm bescheinigen funktion.
Das KTQ Zertifizierungsverfahren wird häufig Die Fremdbewertung läuft in folgenden Schritten
auch in konfessionellen Einrichtungen angewandt. ab (Thiemes Pflege):
Hierzu hat sich proCum Cert GmbH gegründet, ■ Informationsgespräch
eine Initiative von Caritas und Diakonie, die mit ■ Vorbereitung der Zertifizierung
der KTQ GmbH eng kooperiert. Zu den 69 KTQ-Kri- ■ Prüfung und Bewertung der Qualitätsmanage-
terien wurden weitere 33 Kriterien von proCum Cert mentdokumente
ergänzt, damit christliche Werte und ethische Fra- ■ Zertifikataudit im Unternehmen
gestellungen im Qualitätsmanagement konfessionel- ■ Zertifikaterteilung, Überwachung und Wieder-
ler Organisationen stärker betont werden. holungsaudit
Zertifizierungsprozess nach KTQ. Soll das interne Wird die Mindestpunktzahl bei der Selbst- und
Qualitätsmanagement einer Einrichtung des Ge- Fremdbewertung erreicht, kann das KTQ-Zertifikat
sundheitswesens KTQ-zertifiziert werden, muss für die gesamte Einrichtung erteilt werden. Der
diese zunächst anhand eines Bewertungskatalogs KTQ-Qualitätsbericht wird auf der einrichtungseige-
6
eine Selbstbewertung vornehmen. Grundlage hier- nen Homepage für den Gültigkeitszeitraum ver-
für ist das sogenannte KTQ-Manual (= Qualitäts- öffentlicht. Damit erhalten Kunden die Möglichkeit,
managementhandbuch), in dem alle notwendigen unterschiedliche Leistungsanbieter im Gesundheits-
Schritte erläutert sind, mit allen zu bearbeitenden bereich miteinander zu vergleichen und unter Qua-
Fragen zu den Leistungen, Prozessabläufen und litätsgesichtspunkten auszuwählen.
zum Qualitätsmanagement. Die Selbstbewertung er-
folgt anhand der Struktur des PDCA-Zyklus (S. 215) 6.10.5 Maßnahmen und Instrumente zur
und bezieht sich auf den gesamten Behandlungspro- Förderung des Verbesserungsprozesses
zess der Patientenversorgung. Es werden alle Be- Für die Umsetzung des Qualitätsmanagements müs-
rufsgruppen hierarchieübergreifend einbezogen. sen Rahmenbedingungen geschaffen und Mittel zur
Folgende Schwerpunkte werden im Rahmen der Verfügung gestellt werden, damit sich eine Quali-
KTQ-Kriterien erfasst: tätskultur entwickeln kann. So gibt es verschiedene
■ Patientenorientierung Maßnahmen und Instrumente, mit deren Hilfe kon-
■ Mitarbeiterorientierung tinuierliche Verbesserungsprozesse in einem Unter-
■ Sicherheit der Einrichtung nehmen angeregt und gefördert werden sollen.
■ Informationswesen
■ Führung der Einrichtung ▌ Qualitätszirkel
■ Qualitätsmanagement Definition: Qualitätszirkel sind innerbetrieb-
liche Arbeitskreise. Maximal 10 Mitarbeitern
Diese sechs Kategorien gliedern sich in weitere Teil- treffen sich, um Wissen und Erfahrungen der
kategorien. Im Rahmen der Selbstbewertung wird Mitarbeiter zu nutzen, damit die Qualität der Produk-
somit eine Ist-Analyse der Einrichtung vorgenom- te, der Dienstleistung, Arbeitsabläufe oder Arbeits-
men. Bereits bei der Selbstbewertung wird der kon- bedingungen verbessert werden.
tinuierliche Verbesserungsprozess eingeleitet,
indem identifizierte Probleme gelöst und Prozesse Ziel der Qualitätszirkel ist die Verbesserung der Leis-
optimiert werden. Hat die Einrichtung die erforder- tungsfähigkeit der Einrichtung. Die aktive Betei-
liche Punktzahl bei der Selbstbewertung erreicht, ligung der Mitarbeiter fördert das Problembewusst-
kann ein Antrag für die Fremdbewertung bei der sein für kontinuierliche Verbesserungsprozesse, Mo-
KTQ-GmbH gestellt werden. Im nächsten Schritt er- tivation und Arbeitszufriedenheit der beteiligten
folgt die Fremdbewertung durch ein KTQ-Visitoren- Mitarbeiter.
team. In Stichproben überprüfen sie alle Bereiche Die Arbeitsgruppen können von Mitarbeitern
und Abläufe der Einrichtung und die Übereinstim- einer Berufsgruppe oder interdisziplinär zusam-
mung der Selbstbewertung mit der aktuellen Situa- mengesetzt sein und unterschiedliche Hierarchie-
tion. ebenen einbeziehen. Die Teilnahme erfolgt auf frei-
williger Basis. Die Qualitätszirkelmitglieder treffen
sich in regelmäßigen Abständen und bearbeiten an-
stehende Probleme aus dem Arbeitsbereich. Die Ar- Ebene eingeführt, festgeschrieben und regelmäßig
beitsthemen werden entweder von der Gruppe auf Einhaltung überprüft.
selbst bestimmt oder von der Führungsebene vor- Es ergibt sich ein ständiger Zyklus von Planung,
gegeben. Mithilfe eines Problemlösungsprozesses Tätigkeit, Kontrolle und Verbesserung. Dadurch wer-
werden Verbesserungsvorschläge systematisch erar- den sämtliche Vorgänge im Unternehmen kontinu-
beitet. Die Ergebnisse werden vor der Leitungsebene ierlich analysiert und verbessert.
und anderen Mitarbeitern präsentiert, diskutiert
und anschließend von der Arbeitsgruppe unter Ein- ▌ Ideenmanagement
haltung des Instanzenwegs umgesetzt und evaluiert. Mit der Einführung eines Ideenmanagements wer-
Es gibt auch Qualitätszirkel zu fachlichen The- den die Mitarbeiter motiviert, Erfahrungen und
men, wie z. B. zur Einführung eines nationalen Ex- kreatives Potenzial in das Unternehmen einzubrin-
pertenstandards in der Einrichtung. gen. Auch kleinste Veränderungen sind erwünscht,
da sie in der Summe zu erheblichen Optimierungen
▌ PDCA-Zyklus führen können. Um Anreize für die Mitarbeiter zu
6
Verbesserungsvorschläge von Mitarbeitern oder von schaffen, werden angenommene Vorschläge prä-
hierzu eingerichteten Arbeitsgruppen (z. B. einem miert und z. B. in der Mitarbeiterzeitung veröffent-
Qualitätszirkel) müssen systematisch geplant und licht. Durch diese Anerkennung kann es zu einer
durchgeführt werden. Hierzu wird häufig ein vier- höheren Identifikation der Mitarbeiter mit dem Un-
phasiger Problemslösungsprozess (PDCA-Zyklus ternehmen kommen. Außerdem kann das Selbst-
oder Deming-Kreis, vgl. Abb. 6.13) angewendet: wertgefühl der Arbeitnehmer gesteigert werden,
P: Plan. In einer Ist-Analyse werden der aktuelle dies wirkt sich wiederum positiv auf die Arbeitsleis-
Stand transparent gemacht, notwendige Ziele für die tung aus.
Verbesserungsaktivitäten definiert und erforderliche Ideen können von Arbeitsgruppen im Rahmen
Maßnahmen festgelegt. eines Qualitätszirkels entwickelt und eingebracht
D: Do. Die geplanten Maßnahmen werden (ggf. oder in Verbindung mit dem Feedbackmanagement
zunächst exemplarisch) umgesetzt und optimiert. auch von Kunden bzw. von Patienten stammen.
C: Check. Die Auswirkungen der umgesetzten Mit dem Ideenmanagement werden folgende
Maßnahmen werden beobachtet, festgehalten und Ziele verfolgt:
überprüft. Es wird gefragt, welche Resultate erzielt ■ stetige Verbesserung von Produkten, Verfahren
wurden und ob die zuvor formulierten Erwartungen und Prozessen durch viele kleine Schritte
tatsächlich eingetroffen sind. ■ Förderung von Rationalisierungsprozessen und
A: Act. Die gesamten Ergebnisse werden ana- Steigerung der Wirtschaftlichkeit
lysiert, neue Verfahrensweisen bei positiver Ge- ■ Verbesserung der Arbeitsbedingungen
samtbeurteilung standardisiert und auf breiter ■ Schonung der Umwelt
■ Steigerung der Arbeitssicherheit
Planungen Ziele
Die Organisation des Ideenmanagements kann über
anpassen planen eine zentrale Stelle erfolgen oder direkt von dem
Act Plan jeweiligen Vorgesetzten in der Abteilung entgegen-
genommen werden. Generell wird eine formale Prü-
fung der Idee vorgenommen und an ausgewählte
Entscheider weitergeleitet, die den Vorschlag fach-
lich beurteilen und eine mögliche Umsetzung in die
Wege leiten.
Check Do
Ergebnisse Planung
prüfen ausarbeiten
Mit der Etablierung eines Ideenmanagements vermieden, aber nicht verhindert werden. Die Pa-
wird das Potenzial der Mitarbeiter genutzt, um die tientenzufriedenheit spielt in allen Gesundheitsein-
Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit eines Unter- richtungen eine zentrale Rolle und bildet die Basis
nehmens zu steigern und damit letztendlich auch für die Bestandssicherung der Einrichtung.
Arbeitsplätze zu sichern.
▌ Befragungen von Patienten, Mitarbeitern und
▌ Beschwerdemanagement Einweisern
Definition: Im Rahmen eines Beschwerde- Im Rahmen des Qualitätsmanagements werden in
managements werden Kunden befragt, wie sie regelmäßigen Abständen umfangreiche Befragungen
die Leistungserfüllung des Unternehmens erlebt von Patienten, Mitarbeitern und ärztlichen Einwei-
haben und ob ihre Erwartungen erfüllt wurden. In sern durchgeführt und aus den Ergebnissen gezielte
Einrichtungen des Gesundheitswesens erhalten die Maßnahmen abgeleitet.
Pflegeempfänger häufig einen Auswertungsbogen, So werden die Patienten z. B. zum Aufnahmepro-
der anonym schriftlich ausgefüllt und in einen zentral zedere, zur Qualität der pflegerischen und ärzt-
6
aufgestellten Briefkasten eingeworfen werden kann. lichen Versorgung, zur Angehörigenintegration,
Um die Zufriedenheit der Kunden kontinuierlich zu zum Essen und zur Sauberkeit befragt.
verbessern, werden die Rückmeldungen zeitnah und Bei der Befragung der Mitarbeiter geht es um die
systematisch bearbeitet und ausgewertet. Ein gut Erfassung der Zufriedenheit aller Beschäftigen in
funktionierendes Beschwerdemangement liefert wich- dem Unternehmen. Hier können z. B. Aspekte zur
tige Hinweise über die Stärken und Schwächen eines Unternehmenskultur, zu den Arbeitsplatzbedingun-
Unternehmens. gen, zur Führungsqualität und zu Maßnahmen der
Personalentwicklung abgefragt werden.
Der Begriff Beschwerdemanagement ist häufig ne- Eine Befragung der einweisenden Ärzte oder der
gativ belegt, weil der Fokus auf die „Beschwerden“ Belegärzte spielt für die Kundengewinnung eine be-
und damit auf die Unzufriedenheit der Kunden ge- deutende Rolle. Hier können Fragen zur Außen-
lenkt wird. Vermehrt wird er durch den Begriff wahrnehmung, also zum Image einer Einrichtung
„Feedbackmanagement“ ersetzt, da positive und ne- oder zu bestimmten Abteilungen, zur Bekanntheit
gative Rückmeldungen gleichermaßen erfasst wer- besonderer Leistungsangebote, zu Anforderungen
den. der Kommunikation und Kooperation sowie zur Zu-
friedenheit mit der Krankenhausinfrastruktur ge-
▌ Das Feedbackmanagement kann helfen... stellt werden.
■ die Einrichtung aus der Sicht der Kunden und
deren Angehörigen zu beleuchten ▌ Risikomangement
■ die Ausgewogenheit positiver und negativer Alle Tätigkeiten sind mit gewissen Risiken verbun-
Rückmeldungen zu erfassen den. In den letzten Jahren wurden im Rahmen von
■ abteilungsspezifische und abteilungsübergreifen- Qualitätsmanagementsystemen in Krankenhäusern
de Probleme zu identifizieren oder Altenheime zunehmend Risikomanagement-
■ unterschwellige Probleme aufzuspüren systeme integriert. Dabei handelt es sich um ein
■ potenzielle Risiken zu minimieren und die Vorsorgeinstrument, das zur Schadenverhütung ein-
Marktchancen des Unternehmens zu erhöhen gesetzt wird. Ziel ist es, mögliche Risiken systema-
■ ein öffentlichkeitswirksames Zeichen der Kun- tisch zu identifizieren und sie hinsichtlich der Ein-
denorientierung zu setzen trittswahrscheinlichkeit und der Auswirkungen zu
■ aktiv und direkt Verbesserungen anzuregen bewerten und auszuschalten.
Im Rahmen der Patientenversorgung werden
Werden Beschwerden vom Pflegeempfänger direkt pflegerische, ärztliche und verwaltungstechnische
geäußert, sind die Mitarbeiter gefordert, diese sen- Tätigkeiten einer Analyse unterzogen, Maßnahmen
sibel wahrzunehmen und ein konstruktives und zur Risikovermeidung oder -begrenzung ermittelt
sachliches Gespräch darüber zu führen. Der Inhalt und Arbeitsabläufe und -prozesse optimiert. Da-
der Beschwerde wird objektiv an die Führungsebene durch sollen zum einen Patienten, Angehörige und
weitergeleitet. Generell gilt: Beschwerden sollen Mitarbeiter vor Schaden bewahrt werden wie z. B.
der Schutz vor Behandlungsfehlern, Schutz vor In- Rahmen der Pflegeplanung nachvollziehbar abgebil-
fektionen, Schutz vor Stürzen und zum anderen det und der Pflegeverlauf systematisch dokumen-
Schadensersatzansprüche reduziert werden. Des tiert. Durch die schriftlichen Aufzeichnungen findet
Weiteren geht es um den Schutz von Sachwerten, zum einen der Informationstransfer statt, zum an-
wie z. B. der Wertgegenstände von Pflegeempfän- deren wird die Qualität der Pflege abgebildet und
gern oder medizinischer Geräte. kontrollierbar.
Ein Risikomanagement setzt voraus, dass über Damit spielt die Pflegedokumentation im Rah-
Fehler oder gefährdete Situationen in einer Einrich- men der Qualitätsentwicklung in der Pflege eine
tung gesprochen wird. Aus Fehlern soll gelernt und bedeutende Rolle, in der alle Informationen über
eine positive Fehlerkultur entwickelt werden. Viele den jeweiligen Patient oder Bewohner berufsüber-
Einrichtungen haben ein elektronisches Fehlermel- greifend zusammengeführt werden. Die Notwendig-
desystem eingeführt, mit dem jeder Mitarbeiter Feh- keit zur Pflegedokumentation ergibt sich aus unter-
ler oder Gefährdungen melden kann. Die durch das schiedlichen gesetzlichen Forderungen des SGB V,
Risikomanagement optimierten Arbeitsabläufe ver- SGB XI und den Landesheimgesetzen. Die Dokumen-
6
mindern nicht nur Schadenshöhe und -frequenz, tation enthält alle Informationen, die zur Pflege und
sondern wirken sich u. a. auch positiv auf Personal- Behandlung notwendig sind:
und Sachkosten sowie auf Versicherungsprämien ■ die Pflegeanamnese als Grundlage des pflege-
aus. diagnostischen Prozesses
Im Jahr 2005 wurde das Aktionsbündnis Patien- ■ die verwendeten Assessmentinstrumente zur Ri-
tensicherheit (APS) gegründet. Hierbei handelt es sikoeinschätzung (z. B. zur Bestimmung eines De-
sich um eine Initiative von Vertretern der Gesund- kubitus- oder Sturzrisikos)
heitsberufe, ihrer Verbände und der Patientenorga- ■ Pflegeplanung und Berichte über den Pflegever-
nisationen, die sich für die Verbesserung der Patien- lauf
tensicherheit in Deutschland einsetzen. ■ Ergebnisse von Beobachtungen und Messungen
(z. B. Vitalzeichen, Flüssigkeitsbilanzierung)
6.10.6 Maßnahmen und Instrumente zur ■ ärztliche Leistungsnachweise (Verordnungen,
Förderung der Pflegequalität durchgeführte diagnostische Verfahren und the-
Im Rahmen des Qualitätsmanagements gibt es ver- rapeutische Behandlungen)
schiedene Maßnahmen und Instrumente, die die ■ pflegerische Leistungsnachweise (z. B. Dokumen-
Pflegequalität sicherstellen und anhand derer Pfle- tation der erbrachten Pflegeleistungen)
gequalität nachgewiesen werden können:
Die Pflegedokumentation dient damit
▌ Pflegediagnostischer Prozess und ■ der Sicherstellung des Informationstransfers im
Pflegedokumentation Pflege- und Behandlungsverlauf
Im Pflege- und Behandlungsverlauf sind die Pfle- ■ der Begründung der Pflegebedürftigkeit der Pfle-
genden gefordert, die Pflege nach dem Stand pfle- geempfänger gegenüber Kostenträgern (z. B. Er-
gewissenschaftlicher, medizinischer und anderer fassung der Pflegestufe durch den MDK)
bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse auszuüben. ■ der Vermeidung von Haftungsansprüchen und
Die pflegerischen Hilfen werden darauf ausgerichtet, Schadenersatzforderungen durch eine Beweislas-
dass die körperlichen, geistigen und seelischen Kräf- tumkehr bei juristischen Auseinandersetzungen
te der Pflegebedürftigen wieder gewonnen bzw. er- ■ der Darstellung der erbrachten Leistungen ge-
halten werden und dass sich die notwendigen Hilfen genüber Kostenträgern
an den Wünschen der zu pflegenden Person orien- ■ als Grundlage für interne und externe Qualitäts-
tieren. Die Pflegenden arbeiten eng mit anderen Be- prüfungen
rufsgruppen zusammen und entwickeln berufsüber-
!
greifend Lösungen zur Bewältigung von Gesund- Merke: Alles was nicht dokumentiert ist,
heitsproblemen. Sie stellen den Pflegebedarf fest, gilt als nicht durchgeführt!
übernehmen die Planung, Organisation, Durchfüh-
rung und Dokumentation sowie die Evaluation der
Pflege. Alle pflegebezogenen Prozesse werden im
Alles was praxis- und vergütungsrelevant ist, muss Bedürfnissen der zu pflegenden Person und in Ab-
übersichtlich, vollständig und nachvollziehbar doku- hängigkeit von situativen und pflegerischen Rah-
mentiert werden. Folgende Richtlinien sind bei der menbedingungen individuell angepasst werden.
Dokumentation zu beachten Hierbei kann der Standard eine Orientierungshilfe
■ jeder, der pflegerische Maßnahmen durchführt, sein, von dem eine professionell handelnde Pfle-
dokumentiert (einschl. Hilfskräfte und Prakti- gekraft begründet abweichen kann und muss.
kanten) Die verschiedenen Standardformen werden in
■ die Dokumentation wird mit Handzeichen ge- Kapitel 6.9 ausführlich beschrieben.
kennzeichnet, bei vorliegender Handzeichenle-
!
gende Merke: Pflegestandards sind ein wichtiges
■ es wird zeitnah dokumentiert – spätestens am Element der Qualitätssicherung. Sie definie-
Ende einer Schicht – sonst Verlust der Beweiskraft ren den Handlungsrahmen, in dessen Korri-
■ die Pflegedokumentation gilt als Urkunde im dor die individuelle Pflege stattfindet und anhand
Sinne des § 267 StGB: dessen die Pflegequalität bewertet werden kann.
6
– fehlerhafte Ausführungen dürfen nicht ra- Laut der gesetzlichen Grundlagen des § 112 SGB XI
diert, mit Tipp-ex überzeichnet oder über- sind die Träger von Pflegereinrichtungen verpflichtet,
klebt werden (kann als Urkundenfälschung im Rahmen der Qualitätssicherung Expertenstandards
interpretiert werden) anzuwenden.
– Korrekturen erfolgen, in dem der Eintrag Damit sind alle Leistungsanbieter, die Leistungen der
durchgestrichen und damit noch lesbar bleibt Pflegeversicherung erhalten, verpflichtet, Experten-
– nachträglich erforderliche Änderungen müs- standards bei der Pflege zu berücksichtigen. Damit
sen als solche kenntlich gemacht werden wird die weitreichende Akzeptanz der Expertenstan-
dards deutlich.
!
Merke: Die Pflegedokumentation bildet
eine wichtige Grundlage für interne und ex- ▌ Mitarbeiterqualifizierung
terne Qualitätsprüfungen und wird bei ju- Die Erfüllung der Qualitätsanforderungen in der
ristisch relevanten Haftungsansprüchen zur Beweis- Pflege ist entscheidend von den Fähigkeiten und
führung herangezogen. Kompetenzen der Pflegekräfte abhängig, die in der
Einrichtung angestellt sind.
▌ Pflegestandards
Im Rahmen des Pflegeprozesses wird mit Pfle- Berufliche Weiterentwicklung. Mit der Pflegeausbil-
gestandards gearbeitet. Pflegestandards sind Richt- dung eignen sich Auszubildende die beruflichen
linien bzw. Normen, die das Ziel und die Qualität der Handlungskompetenzen an, um die im Beruf zu be-
Pflegeleistung bei einer definierten Problemstellung wältigenden Aufgaben zu lösen. Wissen und Fähig-
und nachvollziehbare sowie überprüfbare Regeln keiten, die während der Berufsausbildung und den
zur Leistungserstellung beschreiben. Sie legen fest, ersten Berufsjahren gewonnen werden, genügen in
mit welchen Maßnahmen die pflegerische Leistung der Regel nicht, um langfristig die notwendigen
professionell erbracht werden soll. Damit wird die fachlichen Qualifikationen auf einem aktuellen
Durchführung der im Standard beschriebenen Pfle- Stand zu halten. Die Pflegenden sind nach der Aus-
gehandlungen nach aktuellen pflegefachlichen und bildung gefordert, Verantwortung für ihre persönli-
wissenschaftlichen Erkenntnissen sichergestellt und che und berufliche Weiterentwicklung zu überneh-
für alle Pflegekräfte verbindlich festgelegt. Pfle- men, indem sie regelmäßig an Fort- und Weiterbil-
gestandards sind schriftlich fixiert und sind Teil dungsmaßnahmen teilnehmen, um ihre in der Aus-
des Qualitätsmanagementhandbuchs. Zur Verein- bildung erworbenen beruflichen Handlungskom-
fachung und um den Schriftverkehr zu minimieren petenzen kontinuierlich weiter zu entwickeln.
kann bei der Dokumentation auf den Standard ver-
wiesen werden. Gezielter Personaleinsatz. Für jeden Arbeitsplatz
Die Orientierung an einem Pflegestandard be- und Tätigkeitsbereich wird bestimmt, welche Per-
deutet nicht, dass das pflegerische Handeln absolut sonalqualifizierung notwendig ist. Anhand von Stel-
einheitlich ablaufen sollte. Ein Standard muss den lenbeschreibungen wird ausgewiesen, welches An-
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Diskussionspapiere. Hochschule Wismar, Fachbereich
Wirtschaft. Heft 5 2005
Übersicht
Einleitung · 221
7.1 Entwicklung der Pflegediagnosen · 221
7.2 Arten von Pflegediagnosen · 224
7.2.1 Problemfokussierte Pflegediagnosen · 225
7.2.2 Risikopflegediagnosen · 226
7.2.3 Pflegediagnosen der Gesundheitsförderung ·
226
7.3 Klassifikation von Pflegediagnosen · 227
7.3.1 Klassifikation der NANDA · 227
7.3.2 Andere Ordnungssysteme · 229
7.4 Pflegediagnosen im Pflegeprozess · 231
7
Fazit · 233
des Diagnostizierens und das Erstellen von Diagno-
Literatur · 233
sen nicht an die Zugehörigkeit einer Berufsgruppe,
sondern vielmehr an die Expertise eines Menschen
Schlüsselbegriffe
für einen bestimmten Aufgaben- und Handlungs-
▶ Nordamerikanische bereich gebunden.
Pflegediagnosen- Auch in der Pflege gibt es seit Mitte des 20. Jahr-
vereinigung (NANDA) hunderts den Begriff „Pflegediagnose“. Das folgende
▶ Pflegefachsprache Kapitel gibt einen Überblick über die Entstehung
▶ Klassifikation und Entwicklung der Pflegediagnosen, stellt ver-
▶ Taxonomie schiedene Arten von Pflegediagnosen sowie deren
▶ Pflegediagnostischer Anwendung und Nutzen vor.
Prozess
!
Eine Pflegediagnose ist nach NANDA: Merke: Pflegediagnosen beziehen sich auf
die Reaktionen eines einzelnen oder einer
Definition: „Eine klinische Beurteilung einer Gruppe von Menschen, auf aktuelle oder po-
menschlichen Reaktion auf Gesundheitszustän- tenzielle Gesundheitszustände oder Lebensprozesse.
de/Lebensprozesse oder einer Vulnerabilität für
diese Reaktion eines Individuums, einer Familie,
Gruppe oder Gemeinschaft. Eine Pflegediagnose stellt 7.2 Arten von Pflegediagnosen
die Grundlage für die Auswahl der Pflegeinterventio-
nen zur Erzielung von Outcomes dar, für die die Pfle- Alle von der NANDA anerkannten Pflegediagnosen
gefachpersonen verantwortlich sind“ (angenommen werden mit einem Pflegediagnosetitel und einer zu-
auf der 9. NANDA-Konferenz, verändert in den Jahren gehörigen Definition versehen. Der Pflegediagnose-
2009 und 2013) (NANDA-I 2016, S. 499). titel ist eine Bezeichnung, die kurz und präzise die
Reaktion eines Menschen auf Gesundheitszustände/
Aus dieser Definition lassen sich mehrere Merkmale Lebensprozesse beschreibt.
von Pflegediagnosen ableiten: Der Pflegediagnosetitel „Selbstversorgungsdefizit
7 ■ Pflegediagnosen beschreiben die Reaktionen Körperpflege“ wird z. B. von der NANDA definiert als
eines Menschen oder einer Gruppe von Men- „beeinträchtigte Fähigkeit, Aktivitäten des Wa-
schen (Familien und Gemeinden) auf Gesund- schens/der Körperhygiene selbstständig auszufüh-
heitszustände oder Lebensprozesse. Pflegediag- ren oder abzuschließen“. Der Vorteil dieser Vor-
nosen beziehen sich auf das individuelle Verhal- gehensweise liegt darin, dass alle Pflegepersonen,
ten und Erleben des Patienten und nicht, wie die mit den NANDA-Pflegediagnosen arbeiten, ers-
etwa medizinische Diagnosen, auf die Krankheit tens dieselbe Formulierung, also eine einheitliche
selbst. Terminologie, verwenden und zweitens genau wis-
■ Die Reaktionen auf oder Folgen von Gesundheits- sen, was sich hinter dem Pflegediagnosetitel „Selbst-
problemen oder Lebensprozessen lassen sich an versorgungsdefizit Körperpflege“ verbirgt.
einem oder mehreren Zeichen und Symptomen Der Einsatz von Pflegdiagnosen kann sich in der
beobachten. Pflege in mehrerlei Hinsicht als nützlich und ge-
■ Gesundheitsprobleme oder Lebensprozesse kön- winnbringend erweisen: Zunächst einmal tragen
nen einerseits aktuell bestehen, also zum Zeit- Pflegediagnosen dazu bei, den eigenständigen und
punkt der Diagnosestellung bereits vorhanden spezifischen Handlungs- und Verantwortungs-
sein, andererseits können sie auch potenziell vor- bereich der Pflege zu beschreiben, indem sie Situa-
liegen, d. h. es kann ein Risiko für deren Auftre- tionen und Zustände benennen und beschreiben,
ten bestehen. die von beruflich Pflegenden festgestellt werden
■ Neben Gesundheitsproblemen können auch Le- und in denen beruflich ausgeübte Pflege erforder-
bensprozesse, wie z. B. die Zuschreibung oder lich ist. Damit verdeutlichen sie – sowohl innerhalb
Übernahme neuer Rollen, Reaktionen bei einem der eigenen Berufsgruppe, aber auch gegenüber an-
oder mehreren Menschen hervorrufen, die zur deren Berufsgruppen – wichtige Bestandteile des
Formulierung einer Pflegediagnose führen, z. B. Pflegewissens. Zugleich wird hierdurch die Entwick-
ein Elternrollenkonflikt. lung eines beruflichen Selbstverständnisses von
■ Bei der Planung der Pflege wählt die Pflegeper- Pflegepersonen unterstützt und der pflegerische
son die Pflegemaßnahmen und erreichbaren Verantwortungsbereich von dem anderer Berufe im
Pflegeziele aus, die sich auf die in der Pflegediag- Gesundheitswesen abgegrenzt (Tab. 7.1). In Bezug
nose beschriebenen Reaktionen des Patienten auf die Systematisierung des Pflegewissens leistet
beziehen. Die Pflegediagnose ist Ausgangspunkt hierbei das Klassifikationssystem der NANDA, die
für die Planung, Durchführung und Evaluation sog. Taxonomie II, einen großen Beitrag (s. S. 227).
der Pflege. Damit verkörpern Pflegediagnosen einen Teil der
■ Die Pflegeperson ist verantwortlich für das Errei- Pflegefachsprache, die der Verständigung von Pfle-
chen der aus der Pflegediagnose abgeleiteten gepersonen untereinander dient, indem sie die ge-
Pflegeziele. zielte Informationssammlung und die Identifikation
potenzieller und aktueller Patientenprobleme unter-
Definition Bezeichnungen für menschliche Reaktionen auf aktuelle Bezeichnungen für Krankheiten oder Organstörungen
oder potenzielle Gesundheitszustände oder Lebenspro-
zesse
Merkmale Sind eher flexibel, d. h. sie können sich ändern, wann Sind eher statisch, d. h. sie bleiben unverändert, bis die 7
immer sich die Reaktion des Patienten auf die Gesund- Krankheit oder Organstörung geheilt ist
heitszustände oder Lebensprozesse ändert
Individuell; abhängig von Person und Lebensumständen Relativ unabhängig von Person und Lebensumständen
Spezifische Pflegediagnosen integrieren das soziale Werden im Allgemeinen ohne Berücksichtigung der
Umfeld des Patienten und beschreiben z. B. die Familie sozialen Beziehungen des Patienten formuliert
oder Gemeinde als Funktionseinheit
Verantwortlichkeit Ausgangspunkt für Planung, Durchführung und Evalua- Ausgangspunkt für medizinische Therapie und deren
tion der Pflege Evaluation
Durchführung der Therapie von Ärzten, aber auch von
anderen Berufsgruppen
Verantwortung der Pflegeperson Verantwortung des Arztes
!
stützt und eine präzise und effiziente mündliche Merke: Pflegediagnosen sind feststehende,
und schriftliche Informationsweitergabe ermöglicht. mit einer Definition versehene Begriffe. Im
Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zu Gegensatz zu Pflegeproblemen bieten sie
der in Kapitel 6 beschriebenen Formulierung von den Vorteil einer einheitlichen Terminologie.
Pflegeproblemen: Pflegeprobleme lassen eine indi-
viduelle und damit uneinheitliche Formulierung zu;
die Verwendung des Pflegediagnosetitels ist vor- Hinsichtlich ihrer Struktur werden aktuell drei
gegeben, von einer Definition gestützt und erscheint Arten von Pflegediagnosen unterschieden: problem-
als einheitliche Terminologie, zum Beispiel: fokussierte Pflegediagnosen, Pflegediagnosen der
Gesundheitsförderung und Risikopflegediagnosen.
Beispiel: Pflegeproblem: Herr Franz kann
aufgrund einer rechtsseitigen Hemiparese 7.2.1 Problemfokussierte Pflegediagnosen
nach einem Schlaganfall die Körperpflege Definition: Problemfokussierte Pflegediagno-
nicht selbstständig durchführen. sen sind eine klinische Beurteilung einer uner-
Pflegediagnose: Selbstversorgungsdefizit Körperpflege wünschten menschlichen Reaktion auf einen
beeinflusst durch (b/d) neuromuskuläre Beeinträchti- Gesundheitszustand/Lebensprozesse, die bei
gung und beeinträchtigte Fähigkeit, die rechte Körper- einem Individuum, Familie, Gruppe oder Gemein-
seite wahrzunehmen, angezeigt durch (a/d) beein- schaft auftreten (NANDA-I 2016, S. 499).
trächtigte Fähigkeit, die linke Körperhälfte zu wa-
schen, an Wasser zu gelangen und Waschutensilien Sie bestehen aus drei Elementen: dem Pflegediagno-
zusammenzustellen. setitel, beeinflussenden, ätiologischen (ursächli-
chen) Faktoren sowie bestimmenden Merkmalen.
Die einzelnen Elemente werden mit den Formulie-
BAND 1 Pflege und Profession 225
7 Pflegediagnosen
rungen „beeinflusst durch“ bzw. „angezeigt durch“ Eine Risikopflegediagnose besteht aus zwei Elemen-
verbunden. Die Struktur einer aktuellen Pflegediag- ten: dem Pflegediagnosetitel und einem oder meh-
nose zeigt folgende Übersicht: reren Risikofaktoren. Als Risikofaktoren betrachtet
die NANDA „umweltbezogene Faktoren und physio-
logische, psychologische, genetische oder chemische
Struktur einer aktuellen Pflegediagnose: Elemente, die die Vulnerabilität eines Individuums,
1. Pflegediagnosetitel (PD) einer Familie, Gruppe oder Gemeinschaft steigern,
beeinflusst durch (b/d),
bis zu einem Ereignis mit ungesunden Folgen“
2. Beeinflussende Faktoren
(NANDA-I 2016, S. 504).
angezeigt durch (a/d),
Risikofaktoren werden ausschließlich im Zusam-
3. Bestimmende Merkmale.
menhang mit Risikopflegediagnosen angegeben. Bei
der Formulierung einer Risikopflegediagnose wird
der Pflegediagnosetitel mit dem Wort „Gefahr“ er-
Beeinflussende Faktoren sind „Faktoren, die eine Art gänzt. Die folgende Übersicht zeigt die Struktur
von zugehörigem Muster mit der Pflegediagnose einer Risikopflegediagnose.
aufzuweisen scheinen. Solche Faktoren können als
7 der Diagnose vorangehend, mit ihr verbunden, mit
ihr in Bezug stehend, zu ihr beitragend oder sie un- Struktur einer Risiko-Pflegediagnose:
terstützende“ beschrieben werden (NANDA-I 2016, 1. Gefahr von Pflegediagnosetitel (PD)
beeinflusst durch (b/d)
S. 504). Beeinflussende Faktoren sind unverzicht-
2. Risikofaktoren.
barer Bestandteil problemfokussierter Pflegediagno-
sen.
Bestimmende Merkmale und Symptome können
sowohl objektiver als auch subjektiver Natur sein. „Gefahr eines Flüssigkeitsdefizits“ wird von der
Objektive, d. h. messbare körperliche Zeichen wie NANDA definiert als „Risiko einer Verminderung
beispielsweise „erhöhte Körpertemperatur“ oder des intravaskulären, interstitiellen und/oder intra-
„verminderter Hautturgor“ gehören ebenso dazu zellulären Flüssigkeitsvolumens, welche die Gesund-
wie subjektive Zeichen, beispielsweise beobachtete heit beeinträchtigen könnte“ (NANDA-I 2016,
Verhaltensänderungen oder Aussagen der problem- S. 210).
fokussierten Patienten selbst. In der pflegerischen Praxis könnte diese Diagno-
Die Pflegediagnose „Flüssigkeitsdefizit“ wird von se dann wie folgt aussehen: Gefahr eines Flüssig-
der NANDA definiert als „Verminderung“ des intra- keitsdefizits beeinflusst durch (b/d) übermäßigen
vaskulären, interstitiellen und/oder intrazellulären Flüssigkeitsverlust über die physiologischen Wege
Flüssigkeitsvolumens. Dieser Zustand bezieht sich (z. B. Durchfall).
auf Dehydratation, Wasserverlust ohne Veränderung
des Natriumgehalts (NANDA-I 2016, S. 209). Sie 7.2.3 Pflegediagnosen der Gesundheitsförderung
könnte in der pflegerischen Praxis wie folgt formu- Definition: Pflegediagnosen der Gesundheits-
liert werden: Flüssigkeitsdefizit beeinflusst durch förderung sind „eine klinische Beurteilung der
(b/d) beeinträchtigten Regulationsmechanismus, an- Motivation und des Wunsches, das Wohlbefin-
gezeigt durch (a/d) trockene Haut und Schleimhäu- den zu steigern und das menschliche Gesundheits-
te, reduzierte Urinausscheidung und Durst. potenzial zu verwirklichen. Diese Reaktionen werden
durch die Bereitschaft ausgedrückt, spezielle Gesund-
7.2.2 Risikopflegediagnosen heitsverhaltensweisen zu verbessern und können bei
Definition: Risikopflegediagnosen sind „eine jedem Gesundheitszustand angewendet werden. Ge-
klinische Beurteilung der Vulnerabilität eines sundheitsfördernde Reaktionen können bei einem In-
Individuums, Familie, Gruppe oder Gemein- dividuum, einer Familie Gruppe oder Gemeinschaft
schaft, eine unerwünschte menschliche Reaktion auf vorliegen“ (NANDA-I 2016, S. 499).
Gesundheitszustände/Lebensprozesse zu entwickeln“ Auch bei Pflegediagnosen der Gesundheitsförderung
(NANDA-I 2016, S. 499). können beeinflussende Faktoren angegeben werden,
vor allem dann, wenn sie zur Eindeutigkeit der Di- Zusammenfassung:
agnose beitragen. Pflegediagnose
■ Aufbau einer Pflegediagnose: Pflegediagnosetitel
Pflegediagnosen der Gesundheitsförderung werden und Definition, je nach Typ der Pflegediagnose An-
dann formuliert, wenn ein Mensch den Wunsch äu- gabe von beeinflussenden Faktoren, bestimmenden
ßert, sein Gesundheitsverhalten zu verbessern und Merkmalen oder Risikofaktoren.
von einem bestehenden Gesundheitsniveau zu ■ 3 Arten von Pflegediagnosen:
einem höheren zu gelangen. Bei dieser Art von Pfle- – problemfokussierte Pflegediagnose,
gediagnosen wird der pflegerische Aufgabenbereich – Risikopflegediagnose,
der Prävention und der Gesundheitsberatung be- – Pflegediagnose der Gesundheitsförderung.
tont.
Pflegediagnosen der Gesundheitsförderung sind
zweiteilige Aussagen. Sie bestehen aus dem Pflege- 7.3 Klassifikation von
diagnosetitel und bestimmenden Merkmalen. Pflegediagnosen
In der Pflegepraxis könnte eine Pflegediagnose
der Gesundheitsförderung wie folgt gestellt werden: Ähnlich wie bei der Ordnung von Pflegetheorien
Bereitschaft für ein verbessertes Coping angezeigt (s. a. Kap. 4.2.5) werden Ordnungssysteme auch im 7
durch (a/d) drückt den Wunsch aus, das Wissen Zusammenhang mit Pflegediagnosen verwendet.
über Stressbewältigungsstrategien zu vermehren Die NANDA hat hierzu ein Klassifikationssystem,
und die Nutzung von problemorientierten Strate- die sog. Taxonomie II, entwickelt, das den Umgang
gien zu verbessern. mit und die Anwendung von Pflegediagnosen er-
Tab. 7.2 zeigt die verschiedenen Arten von Pfle- leichtern soll.
gediagnosen in der Übersicht.
7.3.1 Klassifikation der NANDA
Zu Beginn ihrer Arbeit listete die NANDA die aner-
Bereitschaft für eine verbesserte elterliche Fürsorge kannten Pflegediagnosen alphabetisch auf. Um
Readiness for enhanced parenting (00164) Übersichtlichkeit und Anwendung der Pflegediagno-
(2002, 2013; LOE 2.1) sen zu erleichtern, entwarf eine Gruppe von Pflege-
Domane 7: Rollenbeziehungen
theoretikern ein Klassifikationssystem. Ein Klassifi-
– Klasse 1: Fürsorgerollen kationssystem kann vereinfacht als eine Ordnungs-
hilfe beschrieben werden, die die Zuordnung einzel-
Definition: Ein Muster zur Bereitstellung eines Umfelds ner Elemente zu verschiedenen Klassen und deren
für Kinder oder andere abhängige Personen,
um Wachstum und Entwicklung zu fördern, Hierarchisierung ermöglicht. Das Klassifikationssys-
welches gestärkt werden kann. tem der NANDA geht von 13 Bereichen (Domänen)
und 47 Klassen aus, denen die einzelnen Pflegediag-
Bestimmende Merkmale
nosen zugeordnet werden. Damit umfasst die Taxo-
• Kinder äußern den Wunsch, das häusliche
Umfeld zu verbessern nomie II der NANDA 3 Ebenen: 1. Domänen, 2. Klas-
• äußerst den Wunsch, die elterliche sen und 3. Pflegediagnosen (Tab. 7.3).
Fürsorge zu verbessern Klassifikationssysteme bilden in diesem Ver-
• Elternteil äußert den Wunsch, die emotionale
Unterstützung der Kinder zu verbessern
ständnis eine logische und konsistente Struktur für
• Elternteil äußert den Wunsch, die emotionale die Systematisierung des aktuellen pflegerischen
Unterstützung einer anderen abhängigen Person Wissens. Wichtig ist dabei, dass sich die einzelnen
zu verbessern Domänen, Klassen und Pflegediagnosen nicht über-
schneiden und klar voneinander abgrenzen lassen.
Abb. 7.1 Bereitschaft für eine verbesserte elterliche Fürsorge Auf diese Weise können Pflegediagnosen im diag-
(nach NANDA-I 2016). nostischen Prozess leichter aufgefunden werden.
Neue Pflegediagnosen werden ihrer Definition
entsprechend klassifiziert, d. h. dem jeweils passen-
den Bereich und einer spezifischen Klasse zugeord-
net. Gleichzeitig werden sie innerhalb der einzelnen
Klassen alphabetisch nach dem diagnostischen Be-
Situation des Es bestehen ein oder mehrere Es liegen ein oder mehrere Risiko- Zustand der Ausgeglichenheit;
Patienten Gesundheitsprobleme faktoren für ein Gesundheits- Stabiler Gesundheitszustand
problem vor
!
störung Merke: Die NANDA ordnet die von ihr an-
00 203 Gefahr einer renalen Durchblutungsstörung erkannten Pflegediagnosen in einem Klassi-
00 204 periphere Durchblutungsstörung
fikationssystem, das von 13 Domänen und
47 Klassen ausgeht.
▌ Klasse 5 Selbstversorgung
Fähigkeit, Aktivitäten zur Pflege des eigenen Körpers
7.3.2 Andere Ordnungssysteme
und der Körperfunktionen durchzuführen
Eine andere Art der Zuordnung von Pflegediagnosen
00 098 beeinträchtigte Haushaltsführung
wird von der amerikanischen Professorin für Pflege
00 182 Bereitschaft für eine verbesserte Selbstfürsorge
Marjory Gordon vorgeschlagen. Sie verwendet als
00 193 Selbstvernachlässigung
Diagnosekategorien elf funktionelle Gesundheits-
00 102 Selbstversorgungsdefizit Essen und Trinken
verhaltensmuster („functional health patterns“).
00 108 Selbstversorgungsdefizit Körperpflege
00 109 Selbstversorgungsdefizit Sich kleiden Neben den anerkannten und noch im Anerken- 7
00 110 Selbstversorgungsdefizit Toilettenbenutzung nungsprozess befindlichen Pflegediagnosen der
NANDA finden sich in ihrem auch in deutscher Spra-
che vorliegenden Handbuch weitere Pflegediagno-
sen, die sich in der Praxis als nützlich erwiesen ha-
Diese Art der hierarchischen Ordnung wird auch als ben, aber noch nicht von der NANDA anerkannt
Taxonomie bezeichnet. Auf diese Weise können wurden.
neue Pflegediagnosen in die Taxonomie II eingeord- Die elf von Gordon beschriebenen funktionellen
net werden, ohne dass die Codes der einzelnen Di- Gesundheitsverhaltensmuster zeigt die folgende
agnosen jeweils geändert werden müssen. Sie er- Übersicht:
leichtert auch die computerisierte Erfassung der Verhaltensmuster nach Gordon:
Pflegediagnosen. 1. Wahrnehmung und Umgang mit der eigenen
Gesundheit,
▌ Vorteile von Klassifikationssystemen 2. Ernährung und Stoffwechsel,
Die Klassifikation der Pflegediagnosen bringt eine 3. Ausscheidung,
Reihe von Vorteilen mit sich. Ein Klassifikationssys- 4. Aktivität und Bewegung,
tem ermöglicht die Ordnung und Strukturierung 5. Schlaf und Ruhe,
pflegerischen Wissens und trägt dazu bei, wissen- 6. Kognition und Perzeption,
schaftlich fundiertes Pflegewissen zu beschreiben 7. Selbstwahrnehmung und Selbstkonzept,
und zu entwickeln. Dies trägt auch wesentlich bei 8. Rollen und Beziehungen,
zur Auswahl und Bestimmung von Ausbildungs- 9. Sexualität und Reproduktion,
inhalten in den Pflegeberufen (Abb. 7.2). 10. Bewältigungsverhalten und Stresstoleranz,
Das Klassifikationssystem ermöglicht außerdem 11. Werte und Überzeugungen.
die computergesteuerte Erfassung, Analyse und Syn-
these pflegerischer Daten sowohl für die Pflegepra- Unabhängig davon, ob das Klassifikationssystem der
xis als auch für die Pflegeforschung. Gerade für den NANDA oder Gordons funktionelle Verhaltensmus-
Bereich der Pflegeforschung sind eine einheitliche ter zur Ordnung der Pflegediagnosen herangezogen
Terminologie und ein Klassifikationssystem wichtig, werden, ergeben sich für die Übertragbarkeit der
um Forschungsstudien vergleichbar machen und NANDA-Pflegediagnosen auf die Pflege in Europa
Forschungsergebnisse evaluieren zu können. Die und damit auch in Deutschland zwei große Pro-
Entwicklung neuer Pflegediagnosen kann auch als blembereiche.
ein Beispiel für die induktive Vorgehensweise bei Erstens ist es schwierig, die NANDA-Pflegediag-
der Pflegeforschung gesehen werden (s. a. Kap. 5). nosen in die deutsche Sprache zu übersetzen. Spra-
Außerdem wird durch die Verwendung klassifizier- che und Wortwahl sind immer auch Ausdruck der
jeweiligen Kultur, in der sie entstanden sind, des- Verbände zur Schaffung anderer Klassifikationssys-
halb muss bei den einzelnen Übersetzungen geprüft teme.
werden, ob sie für die bislang im deutschsprachigen Allen gemeinsam ist das Bestreben, eine einheit-
Raum verwendete Sprache in der Pflege „passen“. liche Terminologie für die Pflege zu schaffen um so
Zweitens hat die Pflege in Amerika einen ande- die systematische Weiterentwicklung des Pflege-
ren, erheblich mehr medizinorientierten und größe- wissens über Forschung zu unterstützen (Abb. 7.2).
ren psychosozialen Zuständigkeitsbereich als in Der International Council of Nurses (ICN) betont die
Deutschland. Auch diese Tatsache macht die Über- Wichtigkeit der Etablierung einer gemeinsamen in-
nahme der NANDA-Pflegediagnosen problematisch. ternationalen Fachsprache für die Pflege
Deshalb existieren neben der Klassifikation der ■ „(...) um die Pflegepraxis zu beschreiben und um
NANDA verschiedene Projekte unterschiedlicher die Kommunikation zwischen Pflegenden unter-
einander und zwischen Pflegenden und weiteren Evaluation der Pflege und damit auch auf die diag-
Personenkreisen zu verbessern nostischen Fähigkeiten von Pflegepersonen.
■ die Pflege des Menschen (Individuen, Familien,
Gemeinden) in ihrer Vielfalt zu beschreiben
■ Pflegedaten über Versorgungssetting, Zeit und 7.4 Pflegediagnosen im
Raum hinweg vergleichen zu können und damit Pflegeprozess
die Pflegeforschung zu optimieren
■ Versorgungsschwerpunkte und Ziele der pflege- Der Weg von der Informationssammlung im Pfle-
rischen Versorgung zu bestimmen, aber auch geprozess bis zur Formulierung einer oder mehrerer
eine angemessene Ressourcenverteilung auf der Pflegediagnosen wird auch als (pflege-)diagnosti-
Grundlage diagnostizierter Patientenbedürfnisse scher Prozess bezeichnet. Er beschreibt das Vor-
und identifizierter Pflegediagnosen (DBfK gehen einer Pflegeperson bei der Analyse, Synthese
2011).“ und Interpretation der erhobenen subjektiven und
objektiven gesundheits- und krankheitsbezogenen
Seit 1989 besteht ein Projekt ICN, das International Daten eines pflegebedürftigen Menschen im Hin-
Classification of Nursing Practice (ICNP®) genannt blick auf eine diagnostische Aussage. Dieser Prozess
wird und inhaltlich alle bestehenden Klassifikati- kann nach Gordon (2013) in folgenden Schritten be- 7
onssysteme sowie Interventionen und Ergebnisse schrieben werden:
einschließen soll. Die Vereinigung für gemeinsame ■ Sammlung der Informationen: Zunächst werden
europäische Pflegediagnosen, Pflegeinterventionen aus allen verfügbaren Informationsquellen pfle-
und Pflegeergebnisse (Association for Common Eu- gerelevante subjektive und objektive Informatio-
ropean Nursing Diagnosis, Interventions and Out- nen erhoben (s. a. Kap. 6).
comes – ACENDIO) besteht seit 1995 und bietet ■ Interpretation der Informationen: Die erhobenen
eine internationale Diskussions-Plattform für As- Daten werden hinsichtlich ihrer Bedeutung ana-
pekte rund um das Thema Pflegediagnosen. lysiert, interpretiert und beurteilt. Dabei werden
Pflegediagnosen leisten einen wertvollen Beitrag erste Schlussfolgerungen (Hypothesen) gezogen.
zur Bestimmung des pflegerischen Handlungs- und ■ Bündelung der Informationen: Die Informationen
Verantwortungsbereichs. Zudem lenken sie den werden auf der Basis der Schlussfolgerungen zu
Blick auf den Zusammenhang zwischen Pflege- sinnvollen Gruppen, sog. Kennzeichenclustern,
anamnese, pflegerischen Interventionen und der zusammengefügt und mit möglichen Diagnose-
kategorien abgeglichen. Dabei werden mögliche
Klassifikationssystem
(einheitliche Terminologie der Pflege)
3 benötigt sowohl Unterstützung oder Über- Seit 1973 arbeitet die Nordamerikanische Pflege-
wachung durch eine andere Person als auch Hilfs- diagnosenvereinigung (NANDA) an der Entwicklung
mittel oder –vorrichtungen und Klassifizierung neuer Pflegediagnosen. Das Klas-
4 ist vollständig abhängig und beteiligt sich nicht an sifikationssystem der NANDA geht von 13 Bereichen
der Versorgung (Domänen) und 47 Klassen aus, denen die einzelnen
Weisen die erhobenen Daten auf ein aktuelles Pflegediagnosen zugeordnet werden. Neben der Arbeit
oder potenzielles Pflegeproblem hin, schlägt Gordon der NANDA existieren verschiedene Klassifikations-
die Formulierung diagnostischer Hypothesen vor, projekte auf internationaler Ebene. Pflegediagnosen
die im weiteren Verlauf mit den Definitionen, Kenn- sind nicht unumstritten, können aber beispielsweise
zeichen und Risikofaktoren der Pflegediagnosen im die Identifizierung und nähere Beschreibung des pfle-
jeweiligen Gesundheitsverhaltensmuster abgegli- gerischen Tätigkeitsbereiches und die Systematisie-
chen werden. Ggf. sind differenzierte Assessments rung des Pflegewissens unterstützen und damit
erforderlich, um eine endgültige Pflegediagnose einen wesentlichen Beitrag zur Berufsentwicklung
festzulegen. der Pflege leisten.
Der pflegediagnostische Prozess stellt sich damit
weniger als eine einfache Abfolge der genannten
Komponenten dar. Er verlangt vielmehr ein kontinu- Literatur: 7
ierliches Abgleichen der gezogenen Schlussfolgerun-
gen mit weiteren Beobachtungen und neuen Infor- Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe (Hrsg.): Position
der Berufsverbände DBfK, ÖGKV und SBK zur Internatio-
mationen über den pflegebedürftigen Menschen.
nal Classification for Nursing Practice – ICNP®. DBfK 2011
Dabei spielen die klinische Erfahrung einer Pflege-
Duden Fremdwörterbuch, 11. Aufl. Bibliographisches Institut,
person, ihr Fachwissen und die Fähigkeit zur kriti- Berlin 2015
schen Reflexion eine wichtige Rolle. Ehmann, M., I. Völkel: Pflegediagnosen in der Altenpflege.
Pflegediagnosen stellen eine standardisierte Der Weg zur pflegefachlichen Aussage. 5. Aufl. Elsevier,
sprachliche Form, d. h. eine einheitliche Terminolo- München 2016
gie für die aus der Informationssammlung im diag- Freund, K.C.: Pflegequalitätsentwicklung und -leistungsdar-
stellung durch die Pflgeklassifikationen NANDA – NOC –
nostischen Prozess abgeleiteten Probleme eines
NIC. Pflegewissenschaft 11 (2008) S. 601-613
pflegebedürftigen Menschen zur Verfügung. Sie
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
sind das Ergebnis des (pflege-)diagnostischen Pro- Hogrefe AG, Bern 2013
zesses. Wie die formulierten Ressourcen und Proble- International Council of Nurses (ICN): ICNP. Internationale
me des pflegebedürftigen Menschen sind sie Aus- Klassifikation für die Pflegepraxis. Hans Huber, Bern 2002
gangspunkt für Planung, Durchführung und Evalua- Müller-Staub, M. u. a.: Geführte klinische Entscheidungsfin-
tion der Pflege. Sie können also anstelle der Pfle- dung zur Einführung von Pflegediagnosen. Eine cluster-
randomisierte Studie. Pflegewissenschaft 4 (2010) S. 233-
geprobleme in den Pflegeprozess integriert werden.
240
Müller-Staub, M. u. a.: Eine Studie zur Einführung von NAN-
Fazit: Pflegediagnosen beschreiben die Re- DA-I Pflegediagnosen, Pflegeinterventionen und pflege-
aktion von Menschen oder Gruppen von sensiblen Patientenergebnissen. Pflegewissenschaft 12
Menschen auf Gesundheitsprobleme oder (2009) S. 688-696
Lebensprozesse und unterscheiden sich damit von Müller-Staub, M., J. Georg, C. Abderhalten (Hrsg.): Pflegediag-
nosen und Pflegemaßnahmen. 5. Aufl. Hogrefe, Bern 2014
den medizinischen Diagnosen. Pflegediagnosen sind
Müller-Staub, M., K. Schalek, P. König (Hrsg.): Pflegeklassifi-
formal definierte Pflegeprobleme und können an
kationen und pflegerische Begriffssysteme. Hogrefe, Bern
deren Stelle in den Pflegeprozess integriert werden. 2016
Sie sind sowohl ein Beispiel für die induktive Begriffs- NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
bildung in der Pflege als auch für die Pflegefachspra- Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T.H., Kamitsuru, S.
che. Unterschieden werden problemfokussierte und (Hrsg.). RECOM, Kassel 2016
Risikopflegediagnosen sowie Pflegediagnosen der Ge- Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 266. Aufl. de Gruyter,
Berlin 2014
sundheitsförderung.
Schmitt, A.: Studien, Projekte und Implementierungen von Wieteck, P. (Hrsg.): Praxisleitlinien Pflege: Planen und Doku-
Pflegediagnosen im deutschsprachigen Raum. Pflegewis- mentieren auf Basis von Pflegediagnosen der Klassifikati-
senschaft 12 (2008) S. 662-675 on ENP®. 2. Aufl. RECOM, Kassel 2013
Schrems, B.: Verstehende Pflegediagnostik. Grundlagen zum
angemessenen Pflegehandeln. Facultas, Wien 2008
Schrems, B.: Der Prozess des Diagnostizierens in der Pflege. Im Internet:
Facultas , Wien 2003 www.acendio.net; Stand: 22. 06. 2017
www.dbfk.de; Stand: 22. 06. 2017
www.icn.ch; Stand: 22. 06. 2017
Übersicht
Einleitung · 235
8.1 Pflegesysteme · 235
8.1.1 Funktionelle Pflege/Funktionspflege · 236
8.1.2 Patientenorientierte Pflege/Individualisierte
Pflege · 238
8.2 Arbeitsorganisationen · 240
8.2.1 Gruppenpflege/Bereichspflege · 240
8.2.2 Zimmerpflege · 240
8.2.3 Einzelpflege · 240
8.2.4 Primary Nursing · 241
Fazit · 243
Literatur · 244
dinierte und zielgerichtete Durchführung von Ar-
8
beitsaufgaben und die zu verrichtenden Tätigkeiten.
Schlüsselbegriffe
Im Rahmen einer gut funktionierenden Arbeitsorga-
▶ Pflegesystem nisation wird ein patientenorientierter Pflegeansatz
▶ Funktionelle Pflege/Funktionspflege angestrebt.
▶ Patientenorientierte Pflege/Individuali- Das folgende Kapitel gibt einen Überblick über
sierte Pflege die verschiedene Arbeitsorganisationsformen bzw.
▶ Gruppen- bzw. Pflegesysteme, die in der Pflegepraxis zur Anwen-
Bereichspflege dung kommen. Diese Pflegesysteme zielen darauf
▶ Zimmerpflege ab, Arbeitsabläufe patientenorientiert, effektiv und
▶ Einzelpflege systematisch zu gestalten.
▶ Primary Nursing
8.1 Pflegesysteme
Einleitung
Jede Arbeit, ob sie nun zur Befriedigung von Bedürf-
Der Pflegeberuf ist ein Dienstleistungsberuf, in dem nissen oder zur Existenzsicherung erfolgt und bei
die Pflegenden gefordert sind, ihre Arbeit nach dem der schnellstmöglich und effektiv ein bestimmtes
Stand pflegewissenschaftlicher, medizinischer und Ziel erreicht werden soll, bedarf einer Planung. Die
anderer bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse aus- berufliche Arbeitsorganisation ist die Bezeichnung
zuüben. Pflegende unterstützen und begleiten Men- für alle Maßnahmen der Gestaltung von betrieblich
schen bei der Bewältigung von Gesundheitsproble- anfallender und arbeitsteilig verrichteter Arbeit. Mit
men mit dem Ziel, das höchstmögliche Maß an Le- einer gut funktionierenden Arbeitsorganisation wird
bensqualität und Selbstständigkeit wieder zu erlan- zum einen die Wirtschaftlichkeit gesteigert und
gen. zum anderen eine Humanisierung der Arbeit ge-
Sollen Pflegeempfänger eine qualitativ hochwer- währleistet. Zur Humanisierung der Arbeit gehören
tige Pflege erhalten, auch unter Berücksichtigung alle Bemühungen, welche die Arbeitswelt und die
der zunehmenden Leistungsverdichtung und dem Arbeitsbedingungen menschenwürdig gestalten.
erhöhtem Kostendruck in allen Einrichtungen des Dabei sollen unzumutbare Belastungen abgebaut
Gesundheitswesens, müssen alle zur Verfügung ste- und einer Unter- oder Überforderung der arbeiten-
henden Ressourcen effektiv eingesetzt werden. Ar- den Menschen entgegengewirkt werden.
beitsorganisationsformen unterstützen die koor-
Auch die Arbeit in der Pflege innerhalb von In- Im Rahmen der funktionellen Pflege betreuen
stitutionen des Gesundheitswesens muss organi- alle Pflegepersonen einer Pflegeeinheit die Gesamt-
siert und strukturiert werden. Dies wirkt sich nicht zahl der dort anwesenden Patienten oder Bewohner.
nur auf die Pflegepersonen als Erbringer der Arbeit Die Gesamtverantwortung für den entsprechenden
aus, sondern auch direkt auf die Empfänger der Pfle- Pflegebereich liegt bei der Stationsleitung. Sie hält
ge. Pflegesysteme sind Organisationsformen, die die Verbindung zu anderen Dienstleistungsträgern
den Arbeitsablauf in Pflegeeinrichtungen bestim- der Institution und koordiniert die auf der eigenen
men. Station anfallenden Aufgaben. Sie verteilt die anste-
henden Aufgaben und Tätigkeiten auf die Mitarbei-
Definition: Ein Pflegesystem beschreibt die ter, die in der jeweiligen Schicht arbeiten. Die Ar-
planmäßige, systematische und methodische beitszuweisung ist abhängig von der Qualifikation
Strukturierung der Arbeitsabläufe in der Pflege. der Mitarbeiter und ihrer hierarchischen Stellung
im Team. Dabei werden einzelne Aufgaben und Tä-
Grundsätzlich werden hierbei zwei Arten von Pfle- tigkeiten von jeweils einer Person für die gesamte
gesystemen unterschieden: Anzahl von Bewohnern, Klienten oder Patienten er-
▶ Funktionelle Pflege/Funktionspflege und ledigt.
▶ Patientenorientierte Pflege/Individualisierte Bei der funktionellen Pflege gibt es demnach
Pflege eine zuständige Pflegeperson, die z. B. für das Rich-
ten der Medikamente, eine weitere für die Ermitt-
8
8.1.1 Funktionelle Pflege/Funktionspflege lung der Vitalzeichen und wieder eine andere für
Die funktionelle Pflege war gegen Ende der siebziger die Durchführung der Behandlungspflege zuständig
Jahre das in Deutschland am häufigsten verbreitete ist. Entscheidend ist hierbei, dass die jeweilige Pfle-
Pflegesystem. Sie basierte auf den Prinzipien des geperson diese Aufgaben und Tätigkeiten für alle
Taylorismus, mit der Vorstellung, dass durch eine pflegebedürftigen Menschen der Pflegeeinheit aus-
differenzierte Arbeitsaufteilung die Qualität der Ar- führt. Sie trägt die Verantwortung für die Durchfüh-
beitsergebnisse verbessert wird. Die einzelnen Ar- rung, der ihr zugeteilten Arbeitsaufgaben. Pflege-
beitsschritte werden von Spezialisten ausgeführt, maßnahmen werden hierbei in die Begriffe der
die dadurch begrenzte und überschaubare Handgrif- Grund- und Behandlungspflege eingeteilt. Die
fe besser beherrschten als komplexe Aufgabenstel- „grundpflegerischen“ Tätigkeiten werden dann
lungen. meist hierarchisch nach „unten“ und Maßnahmen
der „Behandlungspflege“ nach oben delegiert. Die
!
Merke: Mit Taylorismus wird eine wissen- Versorgung des Pflegeempfängers ergibt sich aus
schaftlich begründete Betriebsführung be- der Summe der Einzelleistungen. Nicht die individu-
zeichnet, die von dem amerikanischen Inge- ellen Bedürfnisse der Pflegeempfänger stehen bei
nieur Winslow Taylor (1856-1915) begründet wurde, der Arbeitsorganisation im Vordergrund, sondern
mit der u. a. durch eine systematische Arbeitsauftei- die Stationsroutine gibt den Arbeitsablauf vor. Aus
lung eine Produktivitätssteigerung erzielt werden soll- diesem Grund wird die funktionelle Pflege auch als
te. stark arbeitsteilige bzw. tätigkeitsorientierte Organi-
sationsform bezeichnet (Abb. 8.1).
Das die Arbeit organisierende Prinzip liegt hierbei in
der Verteilung der Arbeit nach einzelnen Funktio- ▌ Vorteile der funktionellen Pflege
nen bzw. nach Einzeltätigkeiten. Dadurch soll in Die Vorteile der Funktionspflege liegen in der Über-
kurzer Zeit viel Leistung erbracht werden. Proble- sichtlichkeit der Arbeitsorganisation und der Ein-
matisch bei dieser Form der Arbeitsorganisation ist sparung von Personalkosten.
die Tatsache, dass die Arbeitserbringer nur Teilse-
quenzen bzw. einzelne Arbeitsschritte, nie jedoch Ausbildung spezieller Fertigkeiten. Durch die Arbeit
das Gesamtprodukt und Endergebnis ihrer Arbeit in Form von ineinander übergehenden, doch geson-
kennen lernen. Daher werden auch in der Industrie, derten Einzeltätigkeiten erlangen bestimmte Per-
z. B. der Automobilherstellung, neue Formen der Ar- sonen in bestimmten Arbeitsbereichen eine große
beitsorganisation erprobt. Fertigkeit. Die Arbeitenden spezialisieren sich auf
vorgeschriebene Handlungen und sind in diesen Be- keine intensive Pflegebeziehung zwischen Patient
reichen Experten. und Pflegeperson aufgebaut und keine ganzheitliche
Sichtweise auf den Patienten entwickelt werden.
Flexibler Personaleinsatz. Die Zuteilung der Auf-
gaben erfolgt bei der funktionellen Pflege in Abhän- Begrenzte Verantwortungsübernahme. Die einzel-
gigkeit der formalen Qualifikation der einzelnen nen Aufgaben und Tätigkeiten werden streng hierar-
Pflegeperson: Weniger „anspruchsvolle“ Aufgaben chisch bzw. zentralistisch durch die Stationsleitung
werden geringer qualifiziertem Personal übertragen. delegiert. Die berufliche Verantwortung bezieht sich
Nicht selten werden gering qualifizierte Mitarbeiter sehr auf Einzelaufgaben und Tätigkeiten und steht
für einzelne Pflegetätigkeiten angelernt, während weniger in Zusammenhang mit einer umfassenden
ausgebildetes, qualifiziertes Pflegepersonal die An- Patientenversorgung. Informationen, welche Pflege-
ordnungen und Kontrollfunktionen übernimmt. personen benötigen, um ihre Einzeltätigkeiten
durchzuführen, werden gezielt an diese weiterge-
▌ Nachteile der funktionellen Pflege geben. Arztvisiten und Übergaben zwischen den
Die Organisation im Rahmen der funktionellen Pfle- Schichten werden in der Regel nur von der Stations-
ge führt jedoch zu einer Reihe von Nachteilen so- leitung oder den Schichtleitungen durchgeführt, da
wohl für die arbeitenden Pflegepersonen als auch sie die meisten Informationen über die Patienten
für die Empfänger der Pflege. besitzen. Im Rahmen der funktionellen Pflege ge-
nießt die Stationsleitung absolute Autorität. Das Ar-
Fehlende Bezugspersonen. Inhaltlich zusammen- beiten mit einer begrenzten Verantwortlichkeit
hängende Arbeitsaufgaben werden zerlegt. Der Pa- kann bei den Pflegekräften zu einer sinkende Moti-
tient weiß nicht, welche Pflegeperson als Bezugs- vation und mangelnde Berufszufriedenheit führen
person für ihn zur Verfügung steht. Er hat viele An- und eine hohe Personalfluktuation auslösen.
sprechpartner, die sich jeweils nur für ihren Auf-
gabenbereich zuständig fühlen und nur über Teil-
bereiche der Pflege informiert sind. Daher kann
Einseitige Spezialisierungen. Durch die zunehmende wertet werden, da die Bedürfnisse der Pflegeemp-
Spezialisierung verliert die einzelne Pflegeperson fänger der Stationsroutine untergeordnet werden
die Qualifikation für Arbeitsaufgaben, die sie nur und keine vertrauensvolle Pflegebeziehung auf-
noch selten durchführt. Die Kompetenzen der ein- gebaut werden kann. Die Funktionspflege kommt
zelnen Pflegeperson werden nur in der jeweils aufgrund von knappen wirtschaftlichen bzw. per-
durchzuführenden Pflegetätigkeit deutlich. Ihre sonellen Ressourcen heute wieder zunehmend zum
Stärken und Schwächen bei der Übernahme der Ge- Tragen.
samtverantwortung für den Pflegeempfänger kann
nicht ausgebildet werden. 8.1.2 Patientenorientierte Pflege/
Individualisierte Pflege
Abwertung patientennaher Tätigkeiten. Bei der Auf- Mit der Orientierung an Pflegemodellen in den
teilung der Pflege in grund- und behandlungspfle- 1980er-Jahren und der Etablierung des Pflegepro-
gerische Aufgaben besteht die Gefahr, dass patien- zessmodells in der Praxis, wurden die Bedürfnisse
tennahe Aufgaben wie z. B. die Unterstützung bei des Pflegeempfängers in den Mittelpunkt der Be-
der Körperpflege überwiegend Mitarbeitern mit ge- trachtung gerückt. Damit kam es auch zunehmend
ringerer Qualifikation zugewiesen werden und z. B. zu Veränderungen in der Arbeitsorganisation und
organisatorische Aufgaben den in der Stationshie- zur Einführung patientenorientierter Pflegesysteme.
rarchie höher gestellten Pflegepersonen vorbehalten Die patientenorientierte Pflege wird auch als pa-
sind. Damit werden die patientennahen Tätigkeiten tientenzentrierte, ganzheitliche oder individuelle
8
und originären Pflegeaufgaben oftmals als weniger Pflege bezeichnet.
anspruchsvoll angesehen und mit einem geringeren Bei der patientenorientierten Pflege steht die in-
Sozialprestige belegt. dividuelle Betreuung des Pflegeempfängers im Mit-
telpunkt. Im Rahmen des Behandlungs- und Pflege-
Überschneidungen und Koordinationsprobleme. verlaufes übernimmt die Pflegekraft die Verantwor-
Werden Arbeitsgänge nicht gut zwischen den Mit- tung für die Erhebung des Pflegebedarfs, für die
arbeitern abgesprochen, häufen sich Doppelarbeiten Planung, Durchführung und Bewertung der Pflege-
und Arbeitsüberschneidungen, was einer effektiven leistungen, also für den gesamten Pflegeprozess
Arbeitsweise widerspricht. (Abb. 8.3).
Die Pflegeperson orientiert sich an den Bedürf-
Mangelnde Ausbildungsqualität. Auch die Ausbil- nissen des Patienten und übernimmt alle anfallen-
dung in den Gesundheitsfachberufen wird er- den pflegerischen Aufgaben. Die Arbeitsorganisation
schwert. Die Auszubildenden erhalten kaum die wird flexibel gestaltet.
Möglichkeit, Pflege in ganzheitlichen Zusammen- Die Verantwortung für die Pflege des Pflegeemp-
hängen kennen zu lernen. Sie beobachten lediglich fängers liegt bei der Pflegeperson, die dem Patien-
Teilsequenzen und Einzeltätigkeiten der Pflege. ten zugeteilt wurde. Die Stationsleitung übernimmt
Ein Pflegesystem das dauerhaft auf eine Funk- meist übergeordnete Aufgaben. Jede einzelne Pfle-
tionspflege ausgerichtet ist, muss eher negativ be- geperson ist gleichermaßen über ihren Pflege-
bereich informiert. Ansprechpartner für die ver-
schiedenen Berufsgruppen im Gesundheitswesen
Vor- und Nachteile der funktionellen Pflege
ist jeweils die dem Patienten zugeteilte Pflegekraft.
Vorteile Nachteile Sie ist bei Visiten und anderen Besprechungen betei-
ligt und vertritt die Belange der Pflegeempfänger,
• Spezialisierung • geringe Eigenverant-
• Arbeit kann nach wortung für die sie zuständig ist (Abb. 8.5).
Qualifikation zuge- • Doppelarbeit Die einzelnen Pflegepersonen müssen in der
wiesen werden • Abwertung patienten- Lage sein, sämtliche zu verrichtenden Aufgaben
naher Aufgaben
und Tätigkeiten an einem Patienten durchführen
zu können. Dementsprechend muss genügend und
Kosten- Frustration und ausreichend qualifiziertes Pflegepersonal vorhanden
optimierung Fluktuation
sein.
Die Einzelpflege ist die älteste Form der Arbeits- sentlichen entweder von ihr selbst ausgeführt oder
organisation in der Pflege. Sie geht auf die Zeit vor sie koordiniert und delegiert die Pflegemaßnahmen
dem Entstehen von Krankenhäusern zurück, als nach Einschätzung des Pflegebedarfs an andere Pfle-
kranke Personen zumeist von einem Familienange- gekräfte. Sie prüft das Erreichen der Pflegeziele und
hörigen versorgt wurden. passt bei Bedarf die Pflegeplanung an. Beratung und
Auch in der häuslichen Pflege findet die Einzel- Anleitung der Patienten oder deren Angehörigen
pflege statt. Pflegepersonen, die in mobilen Pflege- werden in der Regel von ihr vorgenommen. Im Rah-
diensten arbeiten, betreuen für definierte pflegeri- men einer kontinuierlichen Rechenschaftspflicht
sche Aufgaben hilfsbedürftige Menschen in ihrer werden alle Planungsschritte und die Ergebnisse
häuslichen Umgebung. des Pflegeprozesses nachvollziehbar dokumentiert
Zu den erforderlichen Rahmenbedingungen für und Entscheidungen begründet.
die Einzelpflege gehört eine entsprechende per- Während bei der Gruppen- bzw. Bereichspflege
sonelle Besetzung durch qualifiziertes Personal und die Verantwortung am Ende der Schicht aufhört, hat
Kostenträger, die die Finanzierung sicherstellen. die Primary nurse die Hauptverantwortung über die
ihr zugeteilten Patienten für die Dauer ihres Aufent-
8.2.4 Primary Nursing haltes über den gesamten Pflege- und Behandlungs-
Primary Nursing ist ein Pflegesystem, das in den prozess hinweg. Die Verantwortung wird nach
1960er Jahren in den USA von der Krankenschwes- Schichtwechsel nicht übertragen.
ter Marie Manthey am University of Minnesota Hos-
▌
8
pital entwickelt wurde. Dieses System verbindet in Vorteile des Primary Nursing
besonderer Weise die Umsetzung einer patienten- Das Primary Nursing Konzept bietet den Vorteil,
orientierten Pflege mit den notwendigen Arbeits- dass der Patient eine Bezugsperson hat, die ihn wäh-
abläufen. rend des gesamten Behandlungs- und Pflegeprozes-
ses betreut und an die er sich mit seinen Bedürf-
Definition: Der Begriff „Primary Nursing“ nissen und Wünschen wenden kann. Die Primary
wird im Deutschen mit Bezugspflege oder Pri- Nurse kooperiert eng mit Angehörigen und Bezugs-
mär-Pflege übersetzt. Auch in Deutschland personen, sodass sich ein intensiver Kontakt ent-
wird in neuerer Zeit das Konzept der Primary Nursing wickelt und eine effektive Pflegebeziehung geför-
in einzelnen Pflegeeinrichtungen umgesetzt. dert wird, die sich auf die Sicherheit und das Wohl-
befinden des betroffenen Menschen vorteilhaft aus-
Primary Nursing, Primäre Pflege oder Bezugspflege wirken kann. Für die im Rahmen der Gesundheits-
sind unterschiedliche Bezeichnungen für die gleiche gesetzgebung in den letzten Jahren entstandene
Form einer patientenorientierten Pflegeorganisati- Wettbewerbssituation unter den Gesundheitsein-
on, die in verschiedenen Regionen unterschiedlich richtungen kann eine erhöhte Patientenzufrieden-
genutzt werden. heit ein maßgeblicher Faktor für die Kundenbindung
Bei diesem Pflegesystem übernimmt die Primary sein.
Nurse eine Gruppe von Pflegeempfängern. Dabei
liegt das Zahlenverhältnis zwischen Pflegeperson Hohe berufliche Handlungskompetenz der Primary
und Patienten je nach Pflegeaufwand im Durch- Nurse. Die Pflegekräfte, die die Funktion als Primary
schnitt zwischen 1:5 bzw. 1:7. Die Arbeitszeit der Nurse ausüben, verfügen insgesamt über eine hohe
Primary Nurse ist auf die Kernprozesse der Versor- berufliche Handlungskompetenz mit hoher fachli-
gung abgestimmt. Sie steuert den gesamten pflege- cher Expertise in der Einschätzung des Pflegebe-
diagnostischen Prozess, in dem sie die Pflegeanam- darfs, in der Planungs- und Steuerungskompetenz
nese erhebt, den Pflegebedarf feststellt, Pflegepro- sowie in der Durchführung komplexer Pflegesitua-
bleme priorisiert und die Pflegeplanung erstellt, tionen. Gleichzeitig müssen diese Pflegekräfte über
die die Pflegeziele, Pflegemaßnahmen und Evaluati- eine ausgeprägte Delegationskompetenz verfügen,
onsaspekte der Pflege nachvollziehbar abbilden. Sie damit der Pflegeempfänger von den Pflegepersonen
ist ebenfalls zuständig für die Koordinierung des anstatt denjenigen Pflegepersonen betreut wird, die
Entlassungsmanagements. Die bei den Patienten seinem Pflegebedarf angemessen sind. Das heißt,
notwendigen Pflegeerfordernisse werden im We- zugeordnete Pflegefachkräfte, Pflegeassistenten
bzw. Pflegehilfskräfte und Auszubildende haben nauso wie die Primary Nurse bei einem Teil der
genau definierte Aufgaben und Tätigkeiten, die von Patienten als Associated Nurse fungieren kann.
der Primary Nurse koordiniert und kontrolliert wer- Die Associated Nurse vertritt die Primary Nurse
den. Diese Anforderungen an die berufliche Hand- bei deren Abwesenheit. Ihre Verantwortung liegt in
lungskompetenz der Primary Nurse macht die kon- der Ausführung des vorgegebenen Pflegeplans und
tinuierliche Teilnahme an gezielten Fort- und Wei- der Dokumentation der Pflegeergebnisse.
terbildungsmaßnahmen erforderlich.
Veränderte Rollenanforderungen der Stationslei-
Orientierung an einem partizipativen Menschenbild. tung. Die Stationsleitung ordnet die Patienten der
Das Konzept des Primary Nursing erfordert ein Um- Primary Nurse zu, überträgt ihr jedoch die Gesamt-
denken bezüglich der Rolle, Einstellung und Wert- verantwortung für den kompletten Pflegeprozess.
orientierung in der pflegerischen Beziehung zwi- Sie führt regelmäßige Reflexionsgespräche mit der
schen Pflegeperson und Patient. Das zugrunde lie- Primary Nurse, in denen diese ihre Rechenschafts-
gende Menschenbild betrachtet die Person als ent- pflicht zur Sicherstellung der Pflegequalität nach-
scheidungsfähiges und mündiges Individuum, wel- kommt. Bei Problemen, die die Primary Nurse
ches an seinem Genesungsprozess aktiv mitwirkt. nicht selbstständig lösen kann, steht sie dieser zur
Demnach entwickeln die Pflegeperson und der pfle- Verfügung. Ihre Aufgabenschwerpunkte liegen im
gebedürftige Mensch eine partnerschaftliche Bezie- allgemeinen Stationsmanagement und in der Mit-
hung, in der beide gleichberechtigt miteinander in- arbeiterführung.
8
teragieren.
Sicherstellung des Informationstransfers. Die Prima-
Definition: Bei einem partizipativen Mensch- ry Nurse ist die Schlüsselfigur in der Kommunikati-
bild (partizipativ = „mitwirkend“ oder „durch on mit allen am Pflege- und Behandlungsprozess
Beteiligung bestimmt“) wird der Pflegeempfän- beteiligten Personen und mit vor- und weiterbe-
ger als selbstbestimmter und selbstverantwortlich treuenden Einrichtungen. Sie vertritt die Belange
handelnder Mensch wahrgenommen, der bei allen der Pflegeempfänger bei Besprechungen im inter-
Entscheidungsprozessen bezüglich seines Pflegepro- disziplinären Team und gewährleistet so den Infor-
zesses einbezogen wird und diesen maßgeblich selbst mationstransfer zur Sicherstellung der Versorgungs-
bestimmt. kontinuität.
Wurde Anfang der 1990er-Jahre Primary Nursing
Gewährleistung einer kontinuierlichen Versorgung. in Deutschland als absoluter Exot in der Pflegeland-
Da die Primär-/Pflegeperson nicht an 7 Tagen der schaft gehandhabt, besteht seit Mitte/Ende der
Woche über 24 Stunden in der Institution anwesend 1990er-Jahre ein verstärktes Interesse an diesem
sein kann, delegiert sie in ihrer Abwesenheit die Pflegesystem. Zuerst erfolgten Pilotprojekte an ein-
pflegerische Versorgung an eine andere Pflegekraft, zelnen Krankenhäusern und Einrichtungen der Re-
die sogenannte Associated Nurse. Ihre Verantwor- habilitation, heute sind auch vermehrt Einrichtun-
tung liegt in der Ausführung des vorgegebenen Pfle- gen der Altenhilfe und ambulante Dienste mit der
geplans und der Dokumentation des Pflegeergebnis- Implementierung befasst. In einigen Häusern ist Pri-
ses. Nur in Notsituationen oder bei akuten Zustands- mary Nursing fest institutionalisiert (Tewes, 2006).
veränderungen des Patienten handelt die Associated In Umfragen konnte bezüglich des Primary Nur-
Nurse abweichend vom Pflegeplan, die sie im An- sing nachgewiesen werden, dass aus Sicht der be-
schluss dann mit der Primary Nurse reflektiert. fragten Pflegebedürftigen und Pflegepersonen eine
Demnach sind die Associated Nurses keine Pflegen- sehr hohe Zustimmung für die Bezugspflege vorhan-
den zweiter Klasse, sondern werden mit ihren ge- den ist, die individuelle Beratung und Betreuung der
samten fachlichen Fähigkeiten gefordert, indem sie zu betreuenden Personen sowie deren Angehörigen
sich z. B. kritisch mit der Pflegeplanung der Primary intensiviert werden konnte und durch Primary Nur-
Nurse auseinandersetzen. sing eine hohe Patientenzufriedenheit erreicht wird.
Je nach Qualifikationsprofil kann die Associated Die Mitarbeiter schätzen hauptsächlich ihr eigenver-
Nurse selbst bei einer limitierten Zahl von Patienten antwortliches Handeln sowie ihren größeren Hand-
die Funktion der Primary Nurse übernehmen, ge- lungsspielraum, was sich positiv auf die Arbeits-
zufriedenheit auswirkt (Böhrenkam, 2006; Krüger Die patientenorientierte Pflege lässt sich anhand
u. a., 2006). der Rahmenbedingungen in die Gruppen- bzw. Be-
Beim Primary Nursing übernimmt eine erfahrene reichspflege und Zimmerpflege unterteilen.
Pflegefachperson die Verantwortung für die Betreu- ■ Gruppen- bzw. Bereichspflege: ein Pflegeteam be-
ung einer begrenzten Anzahl von Patienten vom treut eine Gruppe von Patienten unter ganzheitli-
Zeitpunkt ihrer Aufnahme bis zu ihrer Entlassung chen Gesichtspunkten; dem Pflegeteam steht eine
und dies 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche. Gruppenleiterin vor
Der Vorteil dieser Organisationsform liegt in der ■ Zimmerpflege: eine Pflegeperson betreut fünf bis
Sicherstellung einer effizienten Arbeitsweise und sieben Patienten (ein bis mehrere Zimmer), pflege-
einem gezielten Personaleinsatz. Durch eine kon- risch und administrativ
tinuierliche Betreuung eines Menschen von seiner ■ Einzelpflege: eine Pflegeperson betreut einen Pa-
Aufnahme bis zur Entlassung wird die pflegerische tient 24 Std./Tag
Leistung transparent und trägt sowohl entscheidend
zur gesteigerten Zufriedenheit der Patienten und Im Rahmen der verschiedenen Pflegesysteme hat sich
Angehörigen als auch zur Arbeitszufriedenheit der das Konzept des Primary Nursing etabliert. Es ist eine
Pflegepersonen bei. patientenorientierte Form der Arbeitsorganisation,
bei der eine Pflegeperson die Gesamtverantwortung
Fazit: Unter Berücksichtigung der zuneh- für einen Patienten oder eine Patientengruppe von
menden Leistungsverdichtung und dem er- der Aufnahme bis zur Entlassung über 24 Stunden
8
höhtem Kostendruck müssen in allen Ein- und 7 Tage in der Woche trägt. Während der Abwe-
richtungen des Gesundheitswesens die zur Verfügung senheit der Primary Nurse wird sie von der sogenann-
stehenden Ressourcen effektiv eingesetzt werden. Es ten Associated Nurse vertreten. Das Konzept ermög-
gibt unterschiedliche Pflegesysteme, mit deren Hilfe licht die prozessorientierte, individuelle, ganzheitliche
die Arbeitsabläufe in der Pflege geplant und systema- Betreuung eines Menschen im Problemlösungs- und
tisiert werden. Hierbei haben sich funktional aus- Beziehungsprozess der Pflege.
gerichtete Pflegeorganisationsformen und patienten- Damit das Primary Nursing eine erhoffte Quali-
orientierte Pflegesysteme entwickelt. tätsverbesserung in der pflegerischen Versorgung leis-
Das funktionelle Pflegesystem organisiert die an- tet, sind bei der Umsetzung folgende Anforderungen
fallende Arbeit in der Pflege nach einzelnen Tätigkei- zu erfüllen:
ten. Dabei wird stark arbeitsteilig vorgegangen. Die ■ Hohe berufliche Handlungskompetenz der Primary
Arbeitsaufgaben werden in einzelne Fragmente „zer- Nurse
legt“, welche von unterschiedlichen Personen „be- ■ Orientierung an einem partizipativen Menschen-
dient“ werden. Das die Arbeit organisierende Prinzip bild
liegt hierbei in der Verteilung der Arbeit nach einzel- ■ Gewährleistung einer kontinuierlichen Versorgung
nen Funktionen beziehungsweise nach Einzeltätigkei- ■ Veränderte Rollenanforderungen der Stationslei-
ten. tung
Bei der patientenorientierten Pflege orientieren ■ Sicherstellung des Informationstransfers
sich die Arbeitsabläufe an der momentanen Situation
und den aktuellen Bedürfnissen des zu betreuenden Der Vorteil dieser Organisationsform liegt in der Si-
Menschen. Dabei wird der Patient in seiner Gesamt- cherstellung einer effizienten Arbeitsweise und einem
heit von Körper, Geist und Seele wahrgenommen. In gezielten Personaleinsatz. Durch eine kontinuierliche
den meisten Einrichtungen des Gesundheitswesens Betreuung eines Menschen durch eine fachlich kom-
haben sich patientenorientierte Pflegesysteme durch- petente Pflegekraft wird pflegerische Leistung trans-
gesetzt. Als Grundgerüst dienen festgelegte Arbeits- parent gemacht und trägt zur Zufriedenheit der Pa-
abläufe, die aber gleichzeitig eine individuelle Patien- tienten und Angehörigen und zur Arbeitszufriedenheit
tenbetreuung zulassen sollen. In Zeiten knapper Per- der Pflegepersonen bei.
sonalressourcen entstehen manchmal vorübergehend
Arbeitsorganisationen, die notgedrungen mehr oder
weniger zu Mischformen der beiden Pflegesysteme
führen.
Übersicht
9 Ethik und Pflege · 248
10 Kommunikation und Pflege · 283
Kommunikation und Ethik sind Themen, die im täglichen Miteinander eine wichtige Rolle
spielen. Auch in der pflegerischen Berufsausübung sind sie von wesentlicher Bedeutung,
insbesondere für den Aufbau und die Gestaltung einer professionellen Beziehung zwischen
pflegebedürftigem Menschen und Pflegeperson.
Sie muss geprägt sein von Wertschätzung und Akzeptanz dem Menschen mit Pflege- und
Hilfebedarf gegenüber sowie der Bereitschaft der Pflegeperson, die Situation des Gegen-
übers in ihrer subjektiven Bedeutung zu erfassen und hiermit verbundene Chancen und
Herausforderungen aus der jeweils individuellen Perspektive zu betrachten. Beides ist Vo-
raussetzung für die Anbahnung und Gestaltung einer vertrauensvollen Pflegebeziehung.
Kommunikative und ethisch-moralische Kompetenzen der Pflegepersonen sind hierzu un-
erlässlich, denn gerade die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen im professio-
nellen Kontext – also sowohl zwischen pflegebedürftigem Menschen und Pflegeperson, als
auch zwischen Pflegepersonen und Mitarbeitern der eigenen oder anderer Berufsgruppen –
präsentiert sich nicht selten als komplexe und störanfällige Angelegenheit.
Kommunikationswissenschaft und Ethik stellen in Form von Theorien, Modellen und Prin-
zipien Hilfen für eine gelungene Gestaltung von Interaktion und Kommunikation sowie für
die systematische Reflexion und Bearbeitung ethischer Konfliktsituationen im Pflegealltag
bereit.
Die folgenden Kapitel beleuchten sowohl die Ethik als auch die Kommunikation im Hinblick
auf ihre Bedeutung und Ausgestaltung in den Pflegeberufen.
Übersicht
Einleitung · 248
9.1 Zentrale Begriffe der Ethik · 249
9.1.1 Werte · 249
9.1.2 Normen · 251
9.1.3 Gewissen · 253
9.2 Ethik · 254
9.2.1 Formen der Ethik · 255
9.2.2 Normative Ethik · 255
9.3 Pflegeethik · 259
9.3.1 Geschichtlicher Überblick · 259
9.3.2 Berufskodizes · 260
9.3.3 Verantwortung und verantwortliches
dingung für eine gelungene und effektive Berufsaus-
Handeln in der Pflege · 265
übung ist.
9.3.4 Ethische Prinzipien für die Pflegepraxis · 267
Da sich die Ethik als Wissenschaft systematisch
9.4 Ethische Entscheidungsfindung · 275
9 9.4.1 Modell für die ethische Reflexion · 275
mit der Untersuchung menschlichen Handelns hin-
sichtlich seiner moralischen Qualität auseinander-
9.4.2 Stufenpläne · 276
setzt, kann sie wertvolle Hilfen bereitstellen, wenn
9.4.3 Ethische Fallbesprechung · 278
es darum geht, für moralische Aspekte pflegerischen
9.4.4 Nimwegener Methode der ethischen
Handelns sensibel zu werden und in der Pflege mo-
Fallbesprechung · 279
ralisch verantwortlich und begründet zu handeln.
Fazit · 281
Veränderungen im beruflichen Selbstverständnis
Literatur · 281
der Pflegeberufe und die verstärkten Professionali-
sierungsbestrebungen fordern von den Pflegeper-
Schlüsselbegriffe
sonen neben dem Pflegewissen auch ethisch-mora-
▶ Werte lische Kompetenzen und folglich die systematische
▶ Normen Auseinandersetzung mit den Werten und Normen,
▶ Gewissen auf denen pflegerisches Handeln basiert.
▶ Pflegeethik Dabei müssen alle Bereiche der Pflege (z. B. Pfle-
▶ Verantwortliches geforschung, Pflegelehre, Pflegepraxis) der ethi-
Handeln schen Reflexion unterzogen werden, wenn die Pfle-
▶ Ethische Prinzipien geberufe ihrem gesellschaftlichen Auftrag verant-
▶ Berufskodizes wortungsvoll nachkommen wollen.
Das folgende Kapitel beschreibt zunächst Grund-
begriffe und theoretische Ansätze der Ethik sowie
Einleitung deren Bedeutung für das pflegerische Handeln.
Es gibt einen Überblick über die Geschichte der
Überall dort, wo Menschen mit anderen Menschen Pflegeethik und stellt ethische Prinzipien sowie ein
in Kontakt kommen, stellt sich die Frage nach gutem Modell zur ethischen Beschlussfassung vor und
und richtigem Handeln. Sie stellt sich auch und ge- kann so eine Hilfe sein, wenn moralische Entschei-
rade in der beruflich ausgeübten Pflege, da hier das dungen in der Pflege getroffen werden müssen.
In-Beziehung-Treten zwischen Pflegepersonen und
pflegebedürftigen Menschen eine wesentliche Be-
Deshalb wird das Wertesystem auch als Werteskala im Dialog zu einer für alle Beteiligten tragbaren Lö-
bezeichnet. sung zu kommen. Die Ethik unterstützt diesen Pro-
Die Wertesysteme der einzelnen Menschen kön- zess des sorgfältigen Abwägens, indem sie es u. a.
nen sich stark voneinander unterscheiden: Werte, ermöglicht, die an einem Wertekonflikt beteiligten
die ein Mensch für sich selbst als wichtig erkannt Werte systematisch zu diskutieren.
hat, müssen nicht zwangsläufig auch für andere Des Weiteren motivieren Werte menschliches
Menschen von gleichrangiger Bedeutung sein. We- Handeln: Um die als wichtig erkannten persönlichen
sentlich ist auch, dass das Wertesystem bzw. die Werte zu verwirklichen, handeln Menschen ent-
Werteskala eines Menschen nicht unbedingt über sprechend.
den gesamten Lebensprozess hinweg gleich bleiben Wird beispielsweise der Wert „Gesundsein“ als
muss: Da alle Menschen im Verlauf ihres Lebens wichtig für das persönliche Leben erkannt, wird
kontinuierlich neue Erfahrungen machen, neuen Le- der betreffende Mensch motiviert sein, gesundheits-
benssituationen ausgesetzt sind und neues Wissen fördernde Maßnahmen zu ergreifen und sich even-
erlangen, kann sich analog dazu auch die jeweilige tuell sportlich betätigen, das Rauchen aufgeben oder
Werteskala verändern. auch bestimmte Ernährungsvorschriften einhalten.
So spielt z. B. der Wert „Gesundsein“ für jüngere
Menschen oftmals eine weniger entscheidende Rolle ▌ Werthaltung
als für ältere. Dies kann sich ändern, wenn beispiels- Dieser motivierende Aspekt von Werten wird auch
weise eine Krankheit auftritt: Durch die Erfahrun- mit dem Begriff „Werthaltung“ beschrieben. Hierun-
gen, die während der Erkrankung gemacht werden, ter wird eine anhaltende Neigung verstanden, sich
erhält der Wert „Gesundsein“ für den betroffenen so zu verhalten, dass das eigene Wertesystem im
9 Menschen einen höheren Stellenwert als vor der Er- Handeln zum Ausdruck kommt, also Gutes (Werte)
krankung. zu tun und zu fördern bzw. Böses (Nichtwerte) zu
Die Auseinandersetzung mit eigenen Wertvor- unterlassen.
stellungen ist entscheidend für die bewusste Gestal- Wenn Menschen beispielsweise den Wert „Auf-
tung des eigenen Lebens und die Fähigkeit, eigene richtigkeit“ für sich als wichtig erkannt haben, sind
Entscheidungen zu begründen. Dabei hat jeder sie eher geneigt, sich im Fall eines Konflikts für das
Mensch grundsätzlich die Freiheit, aus verschiede- Aussprechen der Wahrheit zu entscheiden.
nen Alternativen die für ihn wichtigen Werte zu In diesem Fall kann von einer ethisch „guten“
wählen. Gesinnung gesprochen werden.
Wichtig für die Ausbildung der Werthaltung sind
!
Merke: Werte sind bewusste und unbe- zum einen die Erfahrungen, die Menschen mit
wusste Orientierungsstandards für mensch- ihrem Handeln in vorherigen Situationen gemacht
liches Handeln. Moralische und nichtmorali- haben, zum anderen auch andere Menschen, z. B.
sche Werte werden in einem persönlichen Wertesys- Eltern, Freunde etc., die als Vorbilder fungieren
tem hierarchisiert, das von Mensch zu Mensch Unter- und eine bestimmte Werthaltung vorleben. Die
schiede aufweist. Werthaltung wird dabei zu einer Art unbewussten
Wissens bzw. zu einer inneren Haltung des Men-
▌ Wertekonflikte schen. Das hat den Vorteil, dass nicht in jeder Situa-
Diese Freiheit bei der Gestaltung eines Wertesys- tion erneut über die beteiligten Werte nachgedacht
tems bringt jedoch auch die Problematik eines mög- werden muss und daher Entscheidungen für oder
lichen Wertekonflikts mit sich: Selbst wenn ein gegen Handlungen schneller getroffen werden kön-
Mensch Klarheit über sein persönliches Wertesys- nen.
tem hat und sich in seinen Handlungen ausdrücklich Mit anderen Worten: Je öfter ein Mensch in Si-
auf bestimmte Werte beruft, muss er damit rechnen, tuationen gerät, in denen er sich für oder gegen
dass andere Menschen in derselben Situation anders Werte entscheiden muss, desto mehr verfestigt
handeln würden, weil sie sich auf andere, ihnen sich die eigene Wertvorstellung. Sie wird verinner-
wichtige Werte berufen. licht und schließlich zu einer überdauernden Wert-
In einer solchen Situation hilft die Klärung und haltung, die sich äußert in der Neigung, diesen Wert
das sorgfältige Abwägen der beteiligten Werte, um bei erneuter Prüfung im Handeln zu praktizieren.
!
Merke: Wenn Wertvorstellungen sich ver- Aus diesem Grund machen sie auch keine genau-
festigen und verinnerlicht werden, spricht en Angaben dazu, wie in einer konkreten Situation
man von einer Werthaltung (Abb. 9.1). gehandelt werden sollte. Sie fungieren vielmehr als
eine Art Kompass, der die Richtung des Handelns
9.1.2 Normen vorgibt, damit es gut und richtig ist. Beispiele für
Die Ethik macht Aussagen zu dem, was „gut“ und Prinzipien sind: Gerechtigkeit, Autonomie, Aufrich-
„richtig“ ist, d. h. sie beschäftigt sich u. a. mit Normen tigkeit etc. Die Ethik untersucht u. a., ob diese Prin-
für menschliches Handeln. Der Begriff „Norm“ zipien für menschliches Handeln gerechtfertigt sind
stammt aus der lateinischen Sprache und bedeutet bzw. begründet werden können.
übersetzt so viel wie „Richtschnur“, „Maßstab“ oder Einige dieser Prinzipien, die für das pflegerische
„Regel“. In der Industrie beschreibt dieser Begriff fest Handeln richtungsgebend sind, werden unter 9.3.4
vereinbarte Maße für bestimmte Arbeitsmaterialien näher beschrieben.
oder standardisierte Verfahren für Arbeitsabläufe. Konkrete Normen beziehen sich demgegenüber
Normen haben einen verbindlichen Charakter. auf Handlungen in Abhängigkeit von bestimmten
Der Vorteil beim Umgang mit ihnen liegt darin, Situationen, d. h. sie wenden allgemeine Normen
dass alle Menschen, die damit arbeiten, genau wis- auf eine konkrete Situation an. Bei vielen konkreten
sen, was sich hinter einer bestimmten Norm ver- Normen ist die Einhaltung durch gesetzliche Bestim-
birgt. Sie erleichtern das Alltagsleben, z. B. kann mungen geregelt.
sich jeder Mensch darauf verlassen, dass ein nach Menschliches Leben wird in nahezu jedem Land
DIN genormter A4-Briefbogen auch in einen DIN- dieser Welt als Wert anerkannt. Deshalb gibt es Nor-
A4-Briefumschlag passt. men, die dazu beitragen, menschliches Leben zu
Normen gibt es darüber hinaus aber auch im schützen. Die allgemeine Norm, die sich aus dem
zwischenmenschlichen Bereich. Sie erfüllen die Wert „menschlichen Lebens“ ableitet, ist die Auffor-
wichtige Funktion, die ihnen zugrunde liegenden derung „Du sollst menschliches Leben achten“. Die
Werte zu schützen. konkreten Normen, die sich auf den Wert „mensch-
!
Merke: Allgemeine und konkrete Normen
Befolgen bzw. die tatsächliche Umsetzung von
schützen die ihnen zugrunde liegenden Wer-
Werten und Normen durch den Einzelnen oder
te. Darüber hinaus fungieren sie als ver-
durch eine Gruppe von Menschen in praktisches Han-
bindliche Regeln im menschlichen Zusammenleben
9 deln wird als Moral bezeichnet.
und ermöglichen so eine soziale Ordnung.
!
Merke: Moral ist die gelebte sittliche Über- weise die Verweigerung des Kriegsdienstes aus Ge-
zeugung bzw. die praktizierte Umsetzung wissensgründen.
von Werten und Normen durch einzelne Eine Problematik bei der Auseinandersetzung
Menschen sowie Institutionen oder eine Gesellschaft. mit dem Gewissen besteht darin, dass sich das Ge-
wissen nicht bei jedem Menschen in der gleichen
9.1.3 Gewissen Art und Weise und mit der gleichen Intensität mel-
Die Fähigkeit, die Menschen dabei unterstützt, det. Dies hängt damit zusammen, dass das Gefühl
Gutes von Bösem bzw. Werte von Nichtwerten zu für „gut“ und „richtig“ wie auch die Entscheidung
unterscheiden, wird Gewissen genannt. für oder gegen einzelne Werte stark vom soziokul-
turellen Umfeld eines Menschen beeinflusst ist.
Definition: Das Gewissen fungiert als persön- Dabei besteht einerseits die Gefahr, dass sich bei
liche moralische Instanz, die Menschen dazu einem Menschen die Überzeugung herausbildet, dass
auffordert, sich in konkreten Situationen für nur das, was sein Gewissen als „richtig“ empfindet,
gutes und richtiges Handeln zu entscheiden. auch richtig ist und andere Meinungen für ihn keine
Gültigkeit besitzen. Andererseits können natürlich
Das setzt voraus, dass Menschen eine Vorstellung auch die im soziokulturellen Umfeld eines Menschen
davon oder ein Gefühl dafür haben, was als „gut“ vermittelten Vorstellungen über richtiges und fal-
und „richtig“ gilt. Die Vorstellung davon, was als sches Handeln selbst problematisch sein: Wenn wich-
„gut“ und „richtig“ gilt, bildet sich im Laufe der Ent- tige Bezugspersonen es mit der Ehrlichkeit nicht so
wicklung eines Menschen in der Auseinanderset- genau nehmen, besteht die Gefahr, dass sich diesbe-
zung mit bzw. der Kenntnis von geltenden Werten züglich das Gewissen bei von ihnen abhängigen Per-
und Normen heraus. Wichtig ist hierbei – ähnlich sonen, z. B. Kindern, nur mangelhaft ausbildet. 9
wie bei der Entwicklung persönlicher Werte – der Darüber hinaus besteht für Menschen auch die
Austausch mit anderen Menschen. Möglichkeit, sich gegen das eigene Gewissen zu ent-
Eltern, Lehrer, Freunde und andere wichtige Be- scheiden: Das Gewissen wird so bewusst übergan-
zugspersonen leben ihre Vorstellung von „gut“ und gen und kann sogar regelrecht abstumpfen, so dass
„richtig“ und geben diese an Kinder und andere es seine richtungsweisende Funktion auf das Gute
Menschen weiter. verliert. Der Ethik kommt hierbei die Funktion zu,
Jeder kennt das ungute Gefühl bzw. „schlechte dieses „Verhalten“ kritisch zu beleuchten und zu
Gewissen“, das sich bei einer „verbotenen“ Hand- hinterfragen.
lung einstellt – unabhängig davon, ob andere Men- Die Berufung auf das Gewissen mit der Aussage
schen hiervon Kenntnis erlangen oder nicht. Dem- „Das gebietet mir mein Gewissen“ reicht für die Be-
gegenüber vermitteln Handlungen, die im Einklang gründung einer Handlung in problematischen Situa-
mit dem Gewissen vollzogen werden, ein gutes Ge- tionen oft nicht aus, da sie für andere Menschen
fühl. In diesem Fall fungiert das „gute Gewissen“ manchmal inhaltlich nicht nachvollziehbar ist. In
sprichwörtlich als „sanftes Ruhekissen“. solchen Fällen ist es wichtig, klarzustellen, auf wel-
chen Werten und Normen eine Handlung oder Ent-
!
Merke: Das Gewissen ist eine ganz persön- scheidung basiert und aus welchen Gründen jemand
liche Angelegenheit, eine Art „innere Stim- der Meinung ist, dass sie so und nicht anders aus-
me“, die den einzelnen Menschen in seinem geführt werden sollte.
Handeln verpflichtet, das sittlich Gute zu tun.
Zusammenfassung:
Gewissensinhalte können nicht vorgeschrieben und Gewissen
niemand darf gegen sein Gewissen zu Handlungen ■ Das Gewissen ist die Fähigkeit eines Menschen,
gezwungen werden. Deshalb ist die Gewissensfrei- Gutes und Böses zu unterscheiden,
heit z. B. auch im Grundgesetz der Bundesrepublik ■ für die Entwicklung des Gewissens ist der Aus-
Deutschland verankert (siehe oben). Die Ablehnung tausch mit anderen Menschen notwendig,
bestimmter Handlungen unter Berufung auf das Ge- ■ Gewissensinhalte sind individuell, im Grundgesetz
wissen hat vor dem Gesetz Gültigkeit, so beispiels- ist „Gewissensfreiheit“ verankert,
!
Merke: Das Gewissen unterstützt in kon- Der Begriff „Ethik“ ist abgeleitet von dem grie-
kreten Situationen das Abwägen zwischen chischen Wort „ethos“, das „gewohnter Ort des Le-
Werten und Nichtwerten und die Entschei- bens, Sitte oder Charakter“ bedeutet. Die Ethik ist
dung für gutes und richtiges Handeln. ein Teilbereich der Philosophie und geht auf den
9 griechischen Philosophen Aristoteles (384 – 322
v. Chr.) zurück. Sie untersucht das sittliche Wollen
Tab. 9.1 Wichtige Begriffe der Ethik und Handeln von Menschen in verschiedenen Le-
benssituationen und versucht, allgemeingültige Aus-
Begriff Definition
sagen über gutes und gerechtes menschliches Han-
Wert Bewusste oder unbewusste Orientierungsstandards deln zu machen.
bzw. Leitvorstellungen für menschliches Handeln Einige wichtige Funktionen der Ethik sind unter
(Beispiel: Freundschaft, Luxus, Pünktlichkeit, Ord- 9.1 bereits erwähnt worden. Allgemein können die
nungsliebe etc.)
Aufgaben der Ethik wie folgt beschrieben werden:
Wert- Neigung, sich aufgrund von Werten so zu verhalten, ■ Ethik beschäftigt sich mit der systematischen Be-
haltung dass diese Werte im Handeln zum Ausdruck kom- trachtung von Werten und Normen,
men ■ Ethik untersucht das menschliche Handeln hin-
Allgemeine Verbindliche Leitlinien oder Regeln, die das mora- sichtlich seiner moralischen Qualität,
Normen lische Handeln von einzelnen oder Gruppen von ■ Ethik beschreibt die in einer Gesellschaft gelten-
(Prinzipien) Menschen leiten. Prinzipien schützen die ihnen zu-
den Werte und Normen und untersucht, ob diese
grunde liegenden Werte (Beispiel: Gerechtigkeit,
Autonomie etc.) zu rechtfertigen sind,
■ Ethik versucht, allgemein gültige Grundsätze zu
Konkrete Konkretisierung allgemeiner Normen in einer be-
formulieren, und löst damit das Handeln des ein-
Normen stimmten Situation (Beispiel: Es darf keine aktive
Sterbehilfe geleistet werden) zelnen Menschen aus der persönlichen Beliebig-
keit.
Moral- Grundnorm, die die Notwendigkeit moralischen
prinzip Handelns begründet (Beispiel: Die „Goldene Regel“:
Handele nur so, wie du selbst behandelt werden Aber: Ethik ist keine exakte Wissenschaft, d. h. es
möchtest) dürfen von ihr keine „fertigen“, konkreten Hand-
lungsanweisungen für jede erdenkliche Situation er-
Moral Gelebte, praktizierte moralische Überzeugung von
einzelnen oder Gruppen von Menschen wartet werden. Sie macht eher allgemeine Aussagen
dazu, welche Richtung menschliches Handeln ein-
Gewissen Persönliche moralische Instanz, inneres Gefühl für schlagen sollte, damit es gut und richtig ist. Die
„richtig“ und „falsch“, unterstützt bei der Unter-
scheidung zwischen Werten und Nichtwerten
Ethik hat also eine mehr begleitende und unterstüt-
zende Funktion vor allem da, wo Menschen nach Begriffen ethische Diskussionen geführt und welche
einer Orientierung für ihr Handeln suchen. Methoden dabei angewandt werden sollten. Der
Sie bietet einen neutralen Rahmen, in dem z. B. Metaethik geht es folglich um die Auseinanderset-
Probleme, die menschliches Wohlbefinden betref- zung über Ethik als Wissenschaft schlechthin.
fen, diskutiert werden können. Für viele dieser pro-
!
blematischen Situationen gibt es nicht die eine rich- Merke: Innerhalb der Ethik werden in
tige Lösung: Hier stellt die Ethik Theorien und Prin- Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Erkennt-
zipien bereit, die im Rahmen eines Gesprächs mit nisinteresse drei Formen unterschieden:
allen beteiligten Personen zu einer Lösung beitragen deskriptive Ethik, normative Ethik und Metaethik.
können (s. a. 9.4).
9.2.2 Normative Ethik
!
Merke: Die Wissenschaft, die sich mit der Definition: Normative Ethik prüft Normen für
systematischen und methodischen Unter- menschliches Handeln hinsichtlich ihrer mora-
suchung und Reflexion von Werten und Nor- lischen Qualität und versucht, diese Normen zu
men beschäftigt, wird Ethik genannt. begründen.
9.2.1 Formen der Ethik Die Aufgabe der normativen Ethik besteht darin, die
Je nach Erkenntnisinteresse, also dem Ziel der Un- moralischen Werte und Normen in einen systema-
tersuchung, lassen sich im Bereich der Ethik drei tischen Zusammenhang zu bringen und durch ein
Formen unterscheiden: deskriptive Ethik, normative oder mehrere Moralprinzipien zu begründen. Der
Ethik und Metaethik. normativen Ethik geht es darum, das vorherrschen-
Die deskriptive Ethik (beschreibende Ethik) stellt de Verständnis von Moral, d. h. von gutem und rich- 9
die in einer Gesellschaft, Institution, Berufsgruppe tigen Handeln, nicht nur – wie in der deskriptiven
oder Kultur geltenden ethischen Grundsätze, Werte Ethik – zu beschreiben, sondern darüber hinaus zu
und Normen dar. Dabei geht es der deskriptiven bewerten. Ergebnis normativer Ethik können auch
Ethik nicht um eine Wertung oder Beurteilung der ethische Prinzipien und Modelle zur Beurteilung
beschriebenen Handlungen. Sie stellt lediglich fest, menschlichen Verhaltens sein.
welche Werte und Normen innerhalb einer Gruppe Im Rahmen der normativen Ethik lassen sich ver-
Geltung haben, versucht diese zu erklären und kann schiedene Denkrichtungen bzw. Arten der mora-
so zu einer Theorie über menschliches Verhalten in lischen Begründung menschlichen Handelns unter-
verschiedenen Situationen führen. scheiden. Eine der bekanntesten Einteilungen der
Die normative Ethik geht hier einen Schritt wei- normativen Ethiktheorien ist die in folgenorientierte
ter: Sie untersucht die in einer Gesellschaft gelten- und nicht-folgenorientierte Theorien.
den ethischen Normen und Werte und bewertet sie
hinsichtlich ihrer moralischen Qualität. Dabei wer- ▌ Folgenorientierte Theorien
den ethische Kriterien bzw. Prinzipien und Modelle Definition: Die folgenorientierten Theorien
zur Bewertung menschlichen Handelns entworfen. betrachten die Folgen bzw. Konsequenzen, die
Aufgabe der normativen Ethik ist es darüber hi- eine menschliche Handlung nach sich zieht,
naus, Begründungen für gutes und richtiges Handeln und bewerten sie nach einem höchsten Ziel.
bereitzustellen. Die normative Ethik kann im Rah-
men ethischer Konflikte und Probleme Orientie- Aus diesem Grund werden sie auch als konsequen-
rungshilfe für Entscheidungen geben. Für das tägli- tialistische Theorien oder teleologische Theorien be-
che Leben hat diese Form der Ethik die größte Rele- zeichnet. Der Begriff „teleologisch“ ist abgeleitet von
vanz. Deshalb werden verschiedene Denkrichtungen griechischen Wort „télos“, was „Ziel“ oder „Zweck“
der normativen Ethik unten näher betrachtet. bedeutet. Das höchste Ziel, das als ethisches Kriteri-
Die Metaethik schließlich beschäftigt sich mit um fungiert, ist dabei innerhalb der verschiedenen
methodischen und sprachlichen Fragen, die die teleologischen Theorien sehr unterschiedlich.
Ethik allgemein betreffen. Ähnlich wie im Bereich Zu den Hauptvertretern dieser Gruppe von Ethik-
der Metatheorie (s. a. Kap. 4.2.4) werden hier u. a. theorien gehört der sogenannte Utilitarismus. Der
Überlegungen angestellt, mit welchen sprachlichen Begriff „Utilitarismus“ ist vom lateinischen Adjektiv
„utilis“ abgeleitet, was mit „nützlich“ übersetzt wer- Einer der wichtigsten Vertreter dieser Art von
den kann. Eine Handlung gilt im Rahmen dieser Ethiktheorien ist der deutsche Philosoph Immanuel
Ethiktheorie dann als ethisch gerechtfertigt, wenn Kant (1724 – 1804). Das, was eine Handlung zu einer
ihre positiven Folgen die negativen Folgen für alle moralisch bzw. sittlich guten Handlung macht, be-
von dieser Handlung betroffenen Menschen über- misst sich seiner Meinung nach ausschließlich am
wiegen. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, Willen des Handelnden. Entsprechend kommt Kant
was als positive Folge bzw. als negative Folge in zu der Ansicht, dass im strengen Sinne nur das Wol-
einem konkreten Fall anzusehen ist. len sittliche Qualität haben kann, da an der Hand-
Für die ethische Rechtfertigung einer Handlung lung selbst nicht unmittelbar zu erkennen ist, wel-
im Rahmen der utilitaristischen Normbegründung cher Motivation sie entsprungen ist.
ist es streng genommen unwichtig, ob die Handlung Menschen können als autonome Wesen willent-
selbst von moralischen Wert ist. lich denken und handeln. Die dem Menschen inne-
wohnende Fähigkeit zur Vernunft fordert von ihm,
Beispiel: Verdeutlicht werden kann dies an sich bei seinen Handlungen für das sittlich Gute zu
der Notlüge: Die Handlung als solche wider- entscheiden. Diese Forderung erscheint als Pflicht.
spricht dem ethischen Prinzip der Wahrhaf- Handlungen, die aus der Anerkennung dieser Pflicht,
tigkeit, wenn dadurch aber z. B. Menschen vor Scha- der Achtung des moralischen Gesetzes getätigt wer-
den bewahrt werden können, darf gelogen werden. den, sind entsprechend sittlich gute Handlungen.
(9.1)Als oberste sittliche Forderung bzw. als Moral-
Der Utilitarismus ist nicht unumstritten. Problema- prinzip formulierte Kant den „Kategorischen Impe-
tisch ist vor allem, dass niemand alle Folgen, die rativ“ (s. S. 252). Menschliche Handlungen müssen
9 eine Handlung nach sich zieht, voraussehen kann. folglich Maximen (Willensgrundsätzen) entspre-
Darüber hinaus wird gegen den Utilitarismus häufig chen, die in sich gut und für jeden Menschen und
angeführt, dass er in einer konkreten Situation in jeder Situation gültig, also verallgemeinerbar
große Nachteile für Minderheiten mit sich bringen sind.
kann: Wird die Richtigkeit einer Handlung allein
anhand der Menge von Menschen gemessen, für Beispiel: Wenn die Pflicht, die Wahrheit zu
die sie Vorteile bringt, müssen die Interessen einer sagen, als gut erkannt wird, besteht die un-
kleineren Zahl dahinter zurücktreten, was in einer bedingte Verpflichtung, in jeder Situation
konkreten Situation erhebliche Nachteile für einzel- die Wahrheit zu sagen – unabhängig davon, welche
ne Menschen bringen kann. Folgen hieraus entstehen können. Notlügen, die viel-
leicht größeren Schaden abwenden, sind im Rahmen
▌ Nicht-folgenorientierte Theorien dieser Ethiktheorie nicht zu rechtfertigen.
Innerhalb der nicht-folgenorientierten Ethiktheo-
rien werden die Folgen einer Handlung bei ihrer Kant war außerdem der Überzeugung, dass Men-
Bewertung völlig außer Acht gelassen. Sie werden schen aufgrund der Tatsache, dass sie denkende, au-
auch als deontologische Ethiktheorien bezeichnet. tonome Wesen sind, Achtung verdienen. Sie dürfen
Der Begriff „Deontologie“ ist abgeleitet vom grie- nicht als „Mittel zum Zweck“ benutzt werden. Kant
chischen Wort „to déon“, was „das Erforderliche“ formuliert deshalb den zweiten Teil des „Kategori-
oder „die Pflicht“ bedeutet. schen Imperativs“ als: „Handle so, dass du die
Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Per-
Definition: Innerhalb der Deontologie gelten son eines jeden anderen, jederzeit zugleich als
Handlungen dann als sittlich richtig, wenn sie Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Kant
Grundsätzen folgen, die in sich gut sind. 1983, zit. n. Steimkamp und Gordijn 2005, S. 63).
Dem Menschen kommt als autonomem Wesen rende Gesinnung spielen im Rahmen der Verant-
absoluter, innerer Wert zu – auch als Menschenwür- wortungsethik bei der Bewertung des Handelns
de bezeichnet, der von anderen Menschen respek- eine wichtige Rolle.
tiert und geachtet werden muss. Die niederländischen Pflegewissenschaftler und
Auch die Deontologie ist nicht unumstritten. Pro- Ethiker Arie van der Arend und Chris Gastmans
blematisch bei dieser Art von Ethiktheorie ist, dass haben 1996 ein Modell der „personalistischen Ver-
sie der konkreten Situation, in der gehandelt werden antwortungsethik“ als Grundlage für die Pflegeethik
muss, keine Beachtung schenkt. Einige Kritiker mei- beschrieben (Abb. 9.4).
nen auch, dass bei der ethischen Bewertung von Sie betrachten für die ethische Bewertung
menschlichen Handlungen unbedingt die Folgen menschlichen Handelns drei Aspekte als wesentlich:
der Handlung einbezogen werden müssen. Auch 1. die motivierende Gesinnung,
können verschiedene Pflichten miteinander konkur- 2. die wahrnehmbare Handlung und
rieren: Welcher Pflicht soll dann der Vorrang gege- 3. die vorhersehbaren Folgen der Handlung.
ben werden?
Teleologische und deontologische Begründungen Hierdurch werden einseitige Sichtweisen vermie-
bzw. Rechtfertigungen von ethischen Normen unter- den, die sich wie folgt darstellen lassen:
scheiden sich in Bezug auf die Schwerpunkte, die sie ■ Die alleinige Betrachtung der motivierenden Ge-
bei der Begründung setzen. Beide Ansätze der Ethik sinnung läuft Gefahr, in einen Subjektivismus zu
verfolgen jedoch dasselbe Ziel: Sie wollen dazu bei- entgleisten, was bedeutet, dass das Subjekt, der
tragen, Maßstäbe für richtiges menschliches Han- einzelne Mensch, zum absoluten Maßstab für
deln zu entwerfen und zu begründen. Wahrheit und Werte wird und die moralische
Da beide Ansätze für die alltägliche menschliche Qualität der wahrnehmbaren Handlung sowie 9
Praxis aus den oben angeführten Gründen jedoch ihrer Folgen unberücksichtigt bleibt.
häufig als zu einseitig angesehen werden, wenden ■ Die ausschließliche Betrachtung der Konsequen-
sich aktuelle Ansätze häufig der sogenannten Ver- zen einer Handlung (Konsequentialismus) lässt
antwortungsethik zu (Abb. 9.3). die ethische Qualität der motivierenden Gesin-
In diesem Rahmen wird versucht, alle an einer nung und der wahrnehmbaren Handlung außer
Handlung beteiligten Elemente bei der ethischen Be- Acht.
wertung einer Handlung zu berücksichtigen. Dabei ■ Wird allein die moralische Qualität der wahr-
werden vor allem – aber nicht ausschließlich – die nehmbaren Handlung beachtet (Objektivismus),
Folgen, die eine Handlung nach sich zieht, berück- zählen allein objektive Gegebenheiten, nicht
sichtigt. Auch die Handlung selbst und die motivie- aber die Folgen einer Handlung und die motivie-
rende Gesinnung des handelnden Menschen.
folgenorientierte nicht-folgenorien-
!
Ethik tierte Ethik Merke: Eine Handlung gilt im Rahmen die-
Teleologie Deontologie ses Modells dann als ethisch vertretbar,
wenn sowohl die motivierende Gesinnung
und die wahrnehmbare Handlung als auch die abseh-
Verantwortungsethik
baren Folgen der Handlung dem Kriterium der Men-
schenwürde standhalten bzw. die Menschenwürde
Abb. 9.3 Formen der Ethik fördern.
ethischer Maßstab
Menschenwürdigkeit
Handeln
Gefahr: Objektivismus
Gesinnung Folgen
Gefahr: Subjektivismus Gefahr: Konsequentialismus
Werte Normen
Gewissen
Kanalisieren spontaner ethischer Reaktionen
9 +
Ethik
Prozess rational-ethischer Reflexion
Die von van der Arend/Gastmans betonte Unter- geperson, die erst kürzlich ihr Pflegeexamen abgelegt
scheidung zwischen Gesinnung und Handlung hat und ihren ersten alleinverantwortlichen Nacht-
schlägt sich auch im Sprachgebrauch nieder: Die dienst absolviert, erneuert den Verband und kontrol-
ethische Bewertung der motivierenden Gesinnung liert die Einstichstelle der Nierenfistel, die sich als un-
wird mit „gut“ und „böse“ bezeichnet, die der Hand- auffällig darstellt. Sie gibt sich viel Mühe, den ablei-
lung mit den Begriffen „richtig“ und „falsch“. Selbst tenden Schlauch neu zu befestigen, damit er Frau
wenn eine Handlung aus einer subjektiv guten Ge- Hitzmann nicht stört, weil sie vermutet, dass der
sinnung heraus erfolgt, kann sie objektiv betrachtet alte Verband zu fest verklebt war und die Schmerzen
falsch sein, wie das folgende Beispiel zeigt: ausgelöst hat. Als das Druckgefühl nach einer Stunde
nicht nachgelassen hat, verabreicht sie Frau Hitz-
Beispiel: Frau Hitzmann, 29 Jahre alt, ist mann die vom Arzt für den Bedarfsfall angeordneten
vor vier Tagen an einer angeborenen Fehl- Analgetika. Kurze Zeit darauf fühlt Frau Hitzmann
bildung des Nierenbeckens der linken Niere sich etwas besser. Wenngleich sie nicht ganz be-
operiert worden, die zu immer wiederkehrenden Nie- schwerdefrei ist, beschließen die Pflegeperson und
renbeckenentzündungen geführt hatte. Um die Opera- Frau Hitzmann gemeinsam, den diensthabenden Arzt
tionsnaht im Nierenbecken vor einer Insuffizienz zu nicht zu verständigen, sondern bis zum Morgen zu
schützen, wurde die bei dieser Art von Operation (Nie- warten.
renbeckenplastik) übliche Nierenfistel gelegt, eine Als die Nierenfistel am Morgen durch den zuständigen
Drainage, die den Urin direkt aus dem Nierenbecken Arzt kontrolliert wird, stellt sich heraus, dass sie ver-
in ein Ableitungssystem überführt. stopft ist. Hierdurch konnte der Urin nicht abfließen,
Frau Hitzmann meldet sich in der Nacht mit Schmer- hat sich im Nierenbecken gestaut und das Druck-
zen und einem Druckgefühl in der Nierengegend, die gefühl verursacht. Glücklicherweise ist die Operati-
sie nicht schlafen lassen. Die nachtdiensthabende Pfle- onsnaht nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, so
dass Frau Hitzmann eine erneute Operation erspart rische Berufsausübung angewandt. Aus diesem
werden konnte. Grund wird die Pflegeethik auch zu dem Bereich
Wie würden Sie die motivierende Gesinnung der Pfle- der „angewandten Ethik“ gerechnet.
geperson in diesem Fall beurteilen? War die Handlung Ethische Überlegungen in der Pflege haben zum
der Pflegeperson richtig oder falsch? Hätten Sie sich in Ziel, für moralische Aspekte pflegerischen Handelns
dieser Situation anders verhalten? Wenn ja, warum? zu sensibilisieren und gutes und richtiges Handeln
Welche Rolle spielt pflegerisches Fachwissen bei der in der Pflege zu begründen. Auch in der Pflege
ethischen Bewertung einer Pflegehandlung? kommt der Ethik die wichtige Aufgabe zu, u. a. in
Form von Theorien und Prinzipien moralisches Han-
Wenn der Pflegeethik dieser integrative Ansatz zu- deln in der Pflege zu begründen und Hilfestellung
grunde gelegt wird, kommt dem Begriff „Verantwor- zur Entscheidungsfindung bei moralischen Proble-
tung“ bzw. „verantwortliches Handeln“ eine zentrale men zu geben. Dabei liegt der Schwerpunkt der
Rolle in der pflegerischen Berufsausübung zu. Aus pflegeethischen Diskussion aktuell auf den mora-
diesem Grund wird er unter 9.3.3 näher beschrie- lischen Aspekten der Beziehung zwischen Pflege-
ben. personen und pflegebedürftigen Menschen, Bewoh-
nern von Alten- und Pflegeheimen sowie deren An-
!
Merke: Innerhalb der normativen Ethik gehörigen.
werden folgenorientierte Theorien und Betrachtet man die Geschichte der Pflegeethik, so
nicht-folgenorientierte Theorien unterschie- zeigt sich, dass das moralische Handeln von Pflege-
den. Vertreter der Verantwortungsethik plädieren für personen in der Beziehung zu pflegebedürftigen
eine gleiche Bewertung von Gesinnung, Handlung und Menschen und deren Angehörigen erst seit Mitte
Folgen bei der ethischen Evaluation menschlichen der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts in das Blickfeld 9
Handelns. der pflegeethischen Diskussion gerückt ist.
!
und Verbreitung sogenannter Berufskodizes für Merke: Berufskodizes beschreiben beruf-
Pflegepersonen unterstützt. Sie sollen einerseits liche Werte und Normen und geben Berufs-
einen gewissen moralischen Standard für die pfle- angehörigen eine Orientierungshilfe für be-
gerische Berufsausübung sicherstellen, andererseits rufliches Handeln.
auch anderen Berufsgruppen und vor allem der Ge-
sellschaft verdeutlichen, was sie von den Berufs- ▌ Berufskodizes in der Pflege
angehörigen der Pflegeberufe erwarten können. Das erste Dokument, das sich mit Regeln für gutes
Auf die Entstehung und Bedeutung von Berufskodi- und richtiges pflegerisches Handeln auseinander-
zes wird im Folgenden näher eingegangen. setzt, ist das bereits erwähnte Gelübde von Florence
Nightingale (1893). Hier stehen die Person der Kran-
kenschwester und ihr persönliches Verhalten stark vom ICN (International Council of Nurses – Welt-
im Vordergrund. bund der Krankenschwestern und Krankenpfleger)
Neueren Berufskodizes für Pflegepersonen geht verfasst worden ist. Die letzte Überarbeitung dieses
es verstärkt um die Beziehung der Berufsangehöri- Berufskodex hat im Jahr 2012 stattgefunden.
gen zu pflegebedürftigen Menschen und der Unter- Der ICN-Kodex beschreibt die grundlegenden
stützung der Berufsangehörigen bei moralischen Aufgaben der Pflegepersonen, grundlegende Werte
Konflikten. und Normen der Berufsangehörigen (Achtung vor
Heute gibt es eine Reihe von Berufskodizes für dem Leben, der Würde, den Grundrechten des Men-
Pflegepersonen, die zumeist von den verschiedenen schen etc.) und die Beziehung der Berufsangehöri-
Berufsverbänden herausgegeben werden. Viele der gen zu ihren Mitmenschen, zur Berufsausübung, zur
aktuellen Berufskodizes orientieren sich am bekann- Profession sowie die Kooperation mit Kollegen und
testen Ethik-Kodex für Pflegepersonen, der 1953 anderen Professionen.
Ethische Grundregeln für die Krankenpflege Die Pflegende teilt mit der Gesellschaft die Verantwor-
Pflegende haben vier grundlegende Aufgaben: Gesund- tung, Maßnahmen zugunsten der gesundheitlichen und
heit zu fördern, Krankheit zu verhüten, Gesundheit wie- sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung, besonders der von
derherzustellen und Leiden zu lindern. benachteiligten Gruppen, zu veranlassen und zu unter-
Es besteht ein universeller Bedarf an Pflege. Untrennbar stützen.
von Pflege ist die Achtung der Menschenrechte, ein- Die Pflegende setzt sich für Gleichheit und soziale Ge-
schließlich dem Recht auf Leben und Entscheidungsfrei- rechtigkeit bei der Verteilung von Ressourcen, beim Zu-
heit, kultureller Rechte, auf Würde und auf respektvolle gang zur Gesundheitsversorgung und zu anderen sozia- 9
Behandlung. Pflege wird mit Respekt und ohne Wertung len und ökonomischen Dienstleistungen ein.
des Alters, der Hautfarbe, des Glaubens, der Kultur, einer Die Pflegende zeigt in ihrem Verhalten professionelle
Behinderung oder Krankheit, des Geschlechts, der sexu- Werte wie Respekt, Aufmerksamkeit und Eingehen auf
ellen Orientierung, der Nationalität, der politischen Ein- Ansprüche und Bedürfnisse, sowie Mitgefühl, Vertrauens-
stellung, der ethnischen Zugehörigkeit oder des sozialen würdigkeit und Integrität.
Status ausgeübt.
Die Pflegende übt ihre berufliche Tätigkeit zum Wohle ▌ Pflegende und die Berufsausübung
des Einzelnen, der Familie und der sozialen Gemeinschaft Die Pflegende ist persönlich verantwortlich und rechen-
aus; sie koordiniert ihre Dienstleistungen mit denen an- schaftspflichtig für die Ausübung der Pflege sowie für die
derer beteiligter Gruppen. Wahrung ihrer fachlichen Kompetenz durch kontinuierli-
che Fortbildung.
▌ Elemente des ICN-Ethik-Kodex Die Pflegende achtet auf ihre eigene Gesundheit, um ihre
Der ICN-Ethik-Kodex für Pflegende hat 4 Grundelemente, Fähigkeit zur Berufsausübung nicht zu beeinträchtigen.
die den Standard ethischer Verhaltensweise bestimmen. Die Pflegende beurteilt die individuellen Fachkompeten-
zen, wenn sie Verantwortung übernimmt oder delegiert.
▌ Pflegende und ihre Mitmenschen Die Pflegende achtet in ihrem persönlichem Verhalten
Die grundlegende professionelle Verantwortung der Pfle- jederzeit darauf, ein positives Bild des Pflegeberufs zu
genden gilt dem pflegebedürftigen Menschen. Bei ihrer vermitteln sowie das Ansehen des Berufs hochzuhalten
professionellen Tätigkeit fördert die Pflegende ein Um- und das Vertrauen der Bevölkerung in den Pflegeberuf
feld, in dem die Menschenrechte, die Wertvorstellungen, zu stärken.
die Sitten und Gewohnheiten sowie der Glaube des Ein- Die Pflegende gewährleistet bei der Ausübung ihrer be-
zelnen, der Familie und der sozialen Gemeinschaft res- ruflichen Tätigkeit, dass der Einsatz von Technologie und
pektiert werden. die Anwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse
Die Pflegende gewährleistet, dass die pflegebedürftige vereinbar sind mit der Sicherheit, der Würde und den
Person zeitgerecht die richtige und ausreichende Infor- Rechten der Menschen.
mation auf eine kulturell angemessene Weise erhält, auf Die Pflegende strebt danach, in der beruflichen Praxis
die sie ihre Zustimmung zu ihrer pflegerischen Versor- eine Kultur ethischen Verhaltens und offenen Dialoges
gung und Behandlung gründen kann. Die Pflegende be- zu fördern und zu bewahren.
handelt jede persönliche Information vertraulich und
geht verantwortungsvoll mit der Weitergabe von Infor-
mationen um.
▌ Pflegende und die Profession lichen Arbeitsumfeld bei und engagiert sich gegen un-
Die Pflegende übernimmt die Hauptrolle bei der Fest- ethisches Handeln und unethische Rahmenbedingungen.
legung und Umsetzung von Standards für die Pflegepra-
xis, das Pflegemanagement, die Pflegeforschung und ▌ Pflegende und ihre Kollegen
Pflegebildung. Die Pflegende sorgt für eine gute Zusammenarbeit mit
Die Pflegende beteiligt sich an der Entwicklung for- ihren Kolleginnen und mit den Mitarbeitenden anderer
schungsbasierter beruflicher Kenntnisse, die eine evi- Bereiche.
denzbasierte Berufsausbildung unterstützt. Die Pflegende greift zum Schutz des Einzelnen, der Fami-
Über ihren Berufsverband setzt sich die Pflegende für die lie und der sozialen Gemeinschaft ein, wenn deren Wohl
Schaffung einer positiven Arbeitsumgebung und für den durch eine Kollegin oder eine andere Person gefährdet
Erhalt von sicheren, sozial gerechten und wirtschaftlichen ist.
Arbeitsbedingungen in der Pflege ein. Die Pflegende han- Die Pflegende ergreift geeignete Schritte, um Mitarbei-
delt zur Bewahrung und zum Schutz der natürlichen Um- tende bei der Förderung ethischen Verhaltens zu unter-
welt und ist sich deren Bedeutung für die Gesundheit be- stützen und zu leiten.
wusst. Die Pflegende trägt zu einem ethisch verantwort- (Quelle: www.dbfk.de)
Die erste Verantwortung der Pflegenden gilt laut Die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürfti-
ICN-Kodex dem pflegebedürftigen Menschen, des- ger Menschen ist im September 2005 vom „Runden
9 sen Glauben, Wertvorstellungen und Gewohnheiten Tisch Pflege“ veröffentlicht worden. Im Auftrag der
sie in der Berufsausübung respektiert. Er beschreibt Bundesministerien für Familie, Senioren, Frauen und
u. a. auch die Verantwortung der Pflegenden, aktiv Jugend sowie Gesundheit erarbeiteten Vertreterin-
an der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen nen und Vertreter aus Verbänden, Ländern und
Grundlagen der Profession mitzuwirken. Kommunen, Praxis und Wissenschaft Handlungs-
Auf den ICN-Kodex nimmt auch ausdrücklich die empfehlungen zur Umsetzung menschlicher, fachli-
Rahmen-Berufsordnung für professionell Pflegende cher und finanzierbarer Pflege und Betreuung. Ein
Bezug, die im Mai 2004 vom Deutschen Pflegerat Ergebnis ist die genannte Charta, die die Rechte von
e. V. (DPR) erstellt und von dessen Mitgliederver- Menschen in Deutschland beschreibt, die der Hilfe
sammlung verabschiedet wurde (s. a. Kap. 1). Sie gilt und Pflege bedürfen.
für Altenpflegerinnen/Altenpfleger, Gesundheits- Ein Dokument, das sich mit den Rechten des Kin-
und Kinderkrankenpflegerinnen/Gesundheits- und des im Krankenhaus auseinandersetzt, ist die „Charta
Kinderkrankenpfleger sowie für Gesundheits- und für Kinder im Krankenhaus“. Obwohl sie nicht als Be-
Krankenpflegerinnen/Gesundheits- und Kranken- rufskodex für Gesundheits- und Kinderkrankenpfle-
pfleger, die in der Bundesrepublik Deutschland ihren gerinnen und -pfleger bezeichnet werden kann, be-
Beruf ausüben. Neben den Aufgaben professionell schreibt sie dennoch wichtige Werte und Normen,
Pflegender umfasst die Rahmen-Berufsordnung auch die bei der beruflich ausgeübten Pflege und Therapie
Angaben über die Berufspflichten (u. a. Schweige-, von Kindern im Krankenhaus von allen hieran betei-
Auskunfts-, Beratungs- und Dokumentationspflicht). ligten Berufsgruppen beachtet werden müssen.
Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger tragen Staat und Gesellschaft eine besondere Verantwor-
Menschen – September 2005 tung für den Schutz der Menschenwürde hilfe- und pfle-
▌ Präambel gebedürftiger Menschen. Ziel dieser Charta ist es, die
Jeder Mensch hat uneingeschränkten Anspruch auf Res- Rolle und die Rechtstellung hilfe- und pflegebedürftiger
pektierung seiner Würde und Einzigartigkeit. Menschen, Menschen zu stärken, indem grundlegende und selbst-
die Hilfe und Pflege benötigen, haben die gleichen Rech- verständliche Rechte von Menschen, die der Unterstüt-
te wie alle anderen Menschen und dürfen in ihrer beson- zung, Betreuung und Pflege bedürfen, zusammengefasst
deren Lebenssituation in keiner Weise benachteiligt wer- werden. Diese Rechte sind Ausdruck der Achtung der
den. Da sie sich häufig nicht selbst vertreten können, Menschenwürde, sie sind daher auch in zahlreichen na-
Charta für Kinder im Krankenhaus 6. Kinder sollen gemeinsam mit Kindern betreut wer-
Verabschiedet durch die 1. Europäische „Kind im Kran- den, die von ihrer Entwicklung her ähnliche Bedürf-
kenhaus“-Konferenz, Leiden (NL) Mai 1988 Das Recht auf nisse haben. Kinder sollen nicht in Erwachsenensta-
bestmögliche medizinische Behandlung ist ein fun- tionen aufgenommen werden. Es soll keine Alters-
damentales Recht, besonders für Kinder (European Asso- begrenzung für Besucher von Kindern im Kranken-
ciation for Children in Hospital; EACH). Das bedeutet: haus geben.
1. Kinder sollen nur dann in ein Krankenhaus auf- 7. Kinder haben das Recht auf eine Umgebung, die
genommen werden, wenn die medizinische Betreu- ihrem Alter und ihrem Zustand entspricht und die
ung, die sie benötigen, nicht ebensogut zu Hause ihnen umfangreiche Möglichkeiten zum Spielen, zur
oder in einer Tagesklinik erfolgen kann. Erholung und Schulbildung gibt. Die Umgebung soll
2. Kinder im Krankenhaus haben das Recht, ihre Eltern für Kinder geplant, möbliert und mit Personal aus-
oder eine andere Bezugsperson jederzeit bei sich zu gestattet sein, das den Bedürfnissen von Kindern
haben. entspricht.
3. Bei der Aufnahme eines Kindes im Krankenhaus soll 8. Kinder sollen von Personal betreut werden, das
allen Eltern die Mitaufnahme angeboten werden, durch Ausbildung und Einfühlungsvermögen befä-
und ihnen soll geholfen und sie sollen ermutigt wer- higt ist, auf die körperlichen, seelischen und entwick-
den zu bleiben. Eltern sollen daraus keine zusätzli- lungsbedingten Bedürfnisse von Kindern und ihren
chen Kosten oder Einkommenseinbußen entstehen. Familien einzugehen.
Um an der Pflege ihres Kindes teilnehmen zu kön- 9. Die Kontinuität in der Pflege kranker Kinder soll
nen, sollen Eltern über die Grundpflege und den Sta- durch ein Team sichergestellt sein.
tionsalltag informiert werden. Ihre aktive Teilnahme 10. Kinder sollen mit Takt und Verständnis behandelt
9 daran soll unterstützt werden. werden, und ihre Intimsphäre soll jederzeit respek-
4. Kinder und Eltern haben das Recht, in angemessener tiert werden.
Art ihrem Alter und ihrem Verständnis entsprechend Teilnehmende Länder und ihre Initiativen:
informiert zu werden. Es sollen Maßnahmen ergrif- Belgien – Kind en Ziekenhujs, BR Deutschland – AKIK,
fen werden, um körperlichen und seelischen Stress Dänemark – NOBAB, Finnland – NOBAS, Frankreich –
zu mildern. APACHE, Großbritannien – NAWCH, Island – NOBAB, Ita-
5. Kinder und Eltern haben das Recht, in alle Entschei- lien – ABIO, Niederlande – Kind en Ziekenhuis, Norwegen
dungen, die ihre Gesundheitsfürsorge betreffen, ein- – NOBAB, Schweden – NOBAB, Schweiz – Kind im Kran-
bezogen zu werden. Jedes Kind soll vor unnötigen kenhaus; unterstützt durch die Weltgesundheitsorganisa-
medizinischen Behandlungen und Untersuchungen tion (WHO) während der 2. Europäischen „Kind im Kran-
geschützt werden. kenhaus“-Konferenz, Mutzing (BRD) September 1991.
▌ Aufgaben und Ziele von Berufskodizes ■ der Berufskodex soll Hilfestellung bei der Lösung
Berufskodizes sind das Ergebnis innerberuflicher moralischer Konflikte geben und der Gesellschaft
Diskussionen über die ethischen Aspekte eines Be- verdeutlichen, was sie von den Berufsangehöri-
rufes. Sie erfüllen die wichtige Funktion zu verdeut- gen erwarten kann.
lichen, wie die Berufsgruppe ihren gesellschaftli-
chen Auftrag erfüllen will. Sie können auch ein Mit- Der Berufskodex für Pflegepersonen beschreibt die-
tel zur Selbstregulation der Berufsgruppe sein. jenigen Werte und Normen, die für das berufliche
Die amerikanische Pflegewissenschaftlerin Sara Handeln der Pflegepersonen maßgeblich sind. Er
T. Fry (1995) beschreibt die Funktionen und Ziele verdeutlicht der Gesellschaft, was sie von Pflegeper-
eines Berufskodex wie folgt: sonen erwarten kann, und gibt den Berufsangehöri-
■ Berufsangehörige sollen zu moralischem Verhal- gen Hilfestellung bei der moralischen Entschei-
ten angehalten und für moralische Aspekte ihrer dungsfindung.
Arbeit sensibilisiert werden, Prinzipien der allgemeinen Ethik werden auf das
■ ethische Standards in der Berufspraxis sollen in- Praxisfeld der Pflege bezogen. Auf diese Weise wird
nerhalb der Berufsgruppe durchgesetzt und ge- deutlich, wie berufliches Pflegehandeln aussehen
schützt werden, sollte, wenn es Bedürfnislagen von pflegebedürfti-
gen Menschen und deren Autonomie respektieren ■ nach Maßgabe bestimmter Kriterien (z. B. Fach-
will. wissen der Pflegewissenschaft).
Da Berufskodizes versuchen, möglichst viele ethi-
sche Aspekte pflegerischen Handelns zu erfassen, Um voll verantwortlich für etwas gemacht werden
können sie konsequenterweise keine konkreten zu können, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein.
Handlungsanweisungen für spezifische Situationen Ein Mensch ist ethisch dann verantwortlich für sein
geben. Handeln, wenn er dieses:
Es ist nicht möglich, alle Aspekte und Umstände, 1. selbst ausgeführt hat und
die in einer konkreten Pflegesituation zum Tragen 2. das Ausführen seiner Handlung aus freiem Wil-
kommen, in einem Ethik-Kodex abzubilden. Daher len und aufgrund eigener Einsicht geschehen ist.
können Berufskodizes die eigenständige Auseinan- Wer zu einer Handlung gezwungen wird (z. B.
dersetzung der Pflegepersonen mit ihrem mora- unter Androhung von Strafe), hat keine Wahl,
lischem Handeln im Beruf nicht ersetzen. sich anders zu entscheiden, und muss seine
Für das moralisch kompetente und verantwort- Handlung deshalb auch nur begrenzt verantwor-
liche Handeln im Pflegealltag ist das Wissen über ten. Wer jedoch anders hätte handeln können, ist
Theorien und Prinzipien der Ethik eine wichtige Hil- für sein Handeln voll verantwortlich.
festellung. Was aber ist unter dem Begriff „Verant-
wortung“ bzw. verantwortliches Handeln zu verste- Wenn ein Mensch etwas „verantworten“ soll, be-
hen? Und welche Kriterien muss pflegerisches Han- deutet das, dass er sein Handeln „in Frage stellen
deln erfüllen, um verantwortlich zu sein? lassen“ und „Antwort auf eine Frage geben“ soll. Er
wird gebeten zu erklären und zu begründen, warum
9.3.3 Verantwortung und verantwortliches er so und nicht anders handelt. Er steht für sein 9
Handeln in der Pflege Handeln sich selbst oder anderen Menschen gegen-
Der Begriff „Verantwortung“ wird im alltäglichen über „Rede und Antwort“ und legt „Rechenschaft“
Sprachgebrauch häufig verwendet: Redewendungen darüber ab.
wie „Verantwortlich sein für etwas oder jemand“, Wenn ein Mensch diese Bereitschaft zeigt,
„etwas nicht verantworten können“ oder „die Ver- schließt das gleichzeitig ein, dass er den anderen
antwortung übernehmen“ belegen diese Aussage. Menschen und seine Frage ernst nimmt. Das setzt
Er gehört darüber hinaus auch zu den grund- aber voraus, dass er nicht absolut auf dem eigenen
legenden Begriffen der Ethik. Der Mensch besitzt Standpunkt und seinen Interessen beharrt.
die Freiheit, willentlich zu denken und zu handeln.
!
Diese Fähigkeit wird auch als Autonomie bezeichnet. Merke: Verantwortliches Handeln schließt
Ohne Autonomie, d. h. die Freiheit selbst zu bestim- die Bereitschaft ein, sein eigenes Handeln
men, was man tun möchte, hätte Moral letztlich in Frage stellen zu lassen und es auf Anfrage
keine Bedeutung, denn moralisches Handeln kann zu begründen bzw. zu rechtfertigen.
sich nur dort zeigen, wo ein Mensch in freier Ent-
scheidung und ohne Zwang unter einer Vielzahl von Die Aufforderung zu verantwortlichem Handeln be-
Möglichkeiten das Gute und Richtige wählt bzw. gegnet Menschen in ihrem Alltag auf vielfältige
wählen kann. Weise. Häufig sind es unausgesprochene Fragen,
Aus diesem Grund kann er auch für sein Handeln z. B. durch das eigene Gewissen, die einen Menschen
verantwortlich gemacht werden, d. h. er kann ge- zum verantwortlichen Handeln auffordern. In der
fragt werden, warum er so und nicht anders handelt Pflege gehen diese „unausgesprochenen Fragen“ in
bzw. gehandelt hat. erster Linie vom anderen Menschen, d. h. vom pfle-
Verantwortung besteht immer: gebedürftigen Menschen bzw. der besonderen Si-
■ von jemandem (z. B. von Pflegepersonen), tuation, in der er sich befindet, seinen Bedürfnissen,
■ für etwas (z. B. für Pflegehandlungen), seiner Hilflosigkeit oder auch seinem Leiden aus.
■ vor einer Instanz (z. B. vor dem eigenen Gewis- Die Pflegeperson „antwortet“ auf die „Anfrage“ des
sen, vor pflegebedürftigen Menschen, vor dem pflegebedürftigen Menschen zunächst mit ihrer Be-
Gericht), reitschaft, Verantwortung für ihn zu übernehmen.
Besonders offensichtlich geschieht dies z. B. bei möglich sein, allen Wünschen und Bitten pflegebe-
der Aufnahme eines Menschen in eine Institution dürftiger Menschen nachzukommen.
des Gesundheitswesens während des Aufnahme- Im oben angeführten Fall kann das beispielswei-
gespräches. Die Pflegeperson erklärt sich als zustän- se aufgrund der Tatsache sein, dass der betreffende
dig, als Ansprechpartnerin bzw. als Bezugsperson Mensch eine noch nicht geschlossene Operations-
für den zu pflegenden Menschen. Sie signalisiert wunde hat. In diesem Fall ist eine Körperpflege
und übernimmt damit Verantwortung für sein unter der Dusche nicht angebracht, da sie die
Wohlergehen. Wundheilung gefährden würde. Die entsprechende
Diese besonderen Situationen und Bedürfnisse, Pflegeperson würde also auch unverantwortlich
aus denen die Fragen an die Pflegeperson gestellt handeln, wenn sie diesem Menschen die Hilfestel-
werden, sind von Mensch zu Mensch verschieden. lung beim Duschen leisten würde. Sie darf dem
Die „Antworten“ auf die „Anfragen“ des pflegebe- Wunsch des zu Pflegenden nicht entsprechen, weil
dürftigen Menschen werden im persönlichen beruf- es gegen das gültige Fachwissen verstößt.
lichen Handeln gegeben und müssen zwangsläufig Die Verantwortlichkeit der Pflegeperson zeigt
so vielfältig und unterschiedlich sein, wie es die Si- sich in diesem Fall darin, dass sie ihr Handeln gegen-
tuationen der pflegebedürftigen Menschen sind. über dem pflegebedürftigen Menschen rechtfertigt,
Verantwortliches Handeln in der Pflege ist die Ant- d. h. ihm gegenüber begründet, warum sie seinem
wort auf die individuelle Situation des zu Pflegen- Wunsch nicht entsprechen kann. Sie kann auch Al-
den. Es muss demzufolge an der individuellen Situa- ternativen aufzeigen, z. B. eine Haarwäsche am
tion und den Bedürfnissen des pflegedürftigen Men- Waschbecken oder ein Fußbad. Das fördert das
schen orientiert sein. Wohlbefinden des anderen, ohne jedoch die Heilung
9 Hieraus lässt sich z. B. ableiten, warum der Pfle- der Wunde zu gefährden.
geprozess als methodisches Handeln in der Pflege An diesem Beispiel wird zweierlei deutlich:
unter Einbezug des zu pflegenden Menschen statt- 1. Verantwortliches Handeln in der Pflege bedeutet
finden muss. Geplante Pflege nach dem Pflegepro- nicht automatisch, jeder Bitte oder jedem Be-
zess kann letztlich nur dann verantwortlich sein, dürfnis eines anderen Menschen zu entsprechen.
wenn sie am pflegebedürftigen Menschen und sei- Handeln kann auch verantwortlich sein, wenn
nen Problemen und Ressourcen orientiert ist. der Bitte des anderen nicht entsprochen wird.
Unverantwortlich ist demgegenüber, wenn unab- Unerläßlich für verantwortliches Handeln ist je-
hängig von der individuellen Situation jedem Men- doch, dass die ausgesprochene oder unaus-
schen dieselbe Pflege verordnet wird. In diesem Fall gesprochene Frage des anderen ernst genommen
wird nicht auf seine individuelle „Frage“ und Situa- wird. Dieses „Ernstnehmen“ verlangt von der
tion „geantwortet“, sondern an ihm und seinen Be- Pflegeperson, das eigene Handeln dem anfragen-
dürfnissen vorbei und damit nicht verantwortlich den Menschen gegenüber zu begründen bzw. zu
gehandelt. rechtfertigen, sich also auf einen Dialog einzulas-
Konkret zeigt sich verantwortliches pflegerisches sen. Verantwortliches Handeln zeigt sich folglich
Handeln z. B., wenn einem pflegebedürftigen Men- in erster Linie in der Haltung der Pflegeperson,
schen auf seinen Wunsch und seine Bitte hin das der grundsätzlichen Einstellung und Bereitschaft,
morgendliche Duschen anstelle einer Körperpflege sich vom pflegebedürftigen Menschen anfragen
am Waschbecken ermöglicht wird. Pflegepersonen zu lassen und seine Fragen ernst zu nehmen.
sind als Berufsgruppe zuständig für diese Dienstleis- 2. Verantwortliches Handeln in der Pflege setzt
tung und Hilfestellung, die von keiner anderen Be- pflegerisches Fachwissen voraus. Verantwort-
rufsgruppe im Krankenhaus angeboten wird. Die liches Handeln ist begründetes Handeln. Um
Hilfestellung bei der Körperpflege fällt in ihren Ver- Gründe für oder gegen pflegerische Handlungen
antwortungsbereich. Unverantwortlich wäre es, die- angeben zu können, müssen Pflegepersonen
sem Wunsch des pflegebedürftigen Menschen nicht Pflegewissen besitzen. Dieses Wissen ist auch
zu entsprechen. die Voraussetzung dafür, in einem konkreten
Ähnliches gilt für viele andere Pflegesituationen. Fall mögliche Handlungsalternativen aufzeigen
Dennoch wird es in einzelnen Fällen nicht immer zu können.
Der Wissensaspekt des verantwortlichen Handelns 9.3.4 Ethische Prinzipien für die Pflegepraxis
zeigt sich konkret auch dort, wo eine Pflegeperson Die voranstehenden Ausführungen haben Verant-
eine Handlung nicht ausführt, weil ihr das nötige wortlichkeit als Grundhaltung für Pflegepersonen
Fachwissen fehlt. beschrieben. Hieraus ergeben sich bereits einige An-
forderungen, denen pflegerisches Handeln als Ant-
Beispiel: Es ist „unverantwortlich“ von wort auf die Situation des pflegebedürftigen Men-
einer Auszubildenden in einem Pflegeberuf, schen entsprechen muss. Verantwortliches Handeln
wenn sie z. B. einen Verbandwechsel ohne ist begründetes und begründbares Handeln. Hierzu
Kenntnis der Verbandtechnik, der Wundarten oder können ethische Prinzipien einen wichtigen Beitrag
der Phasen der Wundheilung durchführt. leisten.
Ethische Prinzipien bzw. allgemeine Normen
Der Anspruch, verantwortlich handeln zu wollen, sind theoretische Werkzeuge der Ethik. Diese Prin-
verlangt in dieser Situation, die eigenen Grenzen zipien sind Richtlinien für menschliches Handeln.
zu erkennen und den Verbandwechsel von anderen Sie können wesentlich dazu beitragen, moralisches
Pflegepersonen durchführen zu lassen bzw. ihn bzw. gutes und richtiges Handeln zu begründen und
unter der Anleitung einer erfahrenen Pflegeperson den Prozess der moralischen Entscheidungsfindung
durchzuführen. unterstützen.
Die Übernahme von Verantwortung in der Pflege Prinzipien geben die Richtung an, die mensch-
bedeutet, sich von der individuellen Situation des liches Handeln nehmen sollte, um gut und richtig
pflegebedürftigen Menschen ansprechen zu lassen zu sein. Sie dienen der Rechtfertigung bzw. Begrün-
und ihn als Mensch mit Wünschen, Bedürfnissen dung von konkreten Normen oder Handlungsregeln.
und Ressourcen zu respektieren. Viele in der pflegerischen Berufsausübung geltende 9
Diese Sichtweise von Verantwortung betont den Regeln bei der Pflege von Menschen lassen sich auf
Aspekt der Wechselseitigkeit. Verantwortliches Han- ethische Prinzipien zurückführen.
deln in der Pflege ist nicht auf ein bestimmtes Han- Darüber hinaus bieten Prinzipien eine Argumen-
deln gerichtet, sondern verlangt die grundlegende tationshilfe beim Austausch über ethische Probleme
Bereitschaft (Haltung), auf den pflegebedürftigen und tragen so dazu bei, einerseits die eigene Ent-
Menschen einzugehen und sich im wechselseitigen scheidung zu begründen, andererseits im gemein-
Dialog über die jeweils beste „Antwort“ in einer Si- samen Austausch mit anderen zu einer ethisch ver-
tuation zu verständigen, d. h. im gegenseitigen Aus- tretbaren Entscheidung zu kommen.
tausch über eine mögliche, für alle Beteiligten nach- Da Prinzipien jedoch sehr allgemein formuliert
vollziehbare, wünschenswerte, gute „Antwort“ bzw. sind, machen sie keine Aussagen darüber, wie eine
Handlung nachzudenken. Handlung in einer konkreten Situation aussehen
sollte, deshalb muss in der konkreten Situation je-
Zusammenfassung: weils geprüft werden, welches Prinzip auf welche
Verantwortung Art und Weise zur Anwendung kommen kann.
■ Ethische Verantwortung besteht für Handlungen, Die konkrete Anwendung von Prinzipien kann
die ein Mensch selbst sowie aus freiem Willen zwischen den einzelnen Kulturen stark variieren.
und aufgrund eigener Einsicht ausgeführt hat. Selbst wenn Einigkeit über ein Prinzip, wie z. B.
■ Verantwortliches Handeln in der Pflege setzt pfle- Wahrhaftigkeit, besteht, kann es innerhalb verschie-
gerisches Fachwissen voraus, dener Kulturen durchaus unterschiedliche Auffas-
■ ist an die Bereitschaft geknüpft, im Dialog mit pfle- sungen darüber geben, was als Lüge gilt und was
gebedürftigen Menschen zu einer Entscheidung für nicht.
eine Handlung zu kommen und Auch sind Situationen denkbar, in denen Prinzi-
■ beschreibt eine grundlegende Haltung von Pflege- pien konkurrieren, in der Pflege sind dies häufig die
personen. Prinzipien Autonomie und Fürsorge. Hier muss dann
entschieden werden, welches Prinzip in dieser Si-
tuation größere Bedeutung hat.
!
Merke: Ethische Prinzipien fungieren als Der Respekt vor der Autonomie eines Menschen ist
theoretische Werkzeuge, die die Richtung abgeleitet von der Tatsache, dass alle Menschen
menschlichen Handelns aufzeigen, damit es einen bedingungslosen Wert an sich haben, wie es
als gut und richtig gelten kann. Sie tragen dazu bei, auch Immanuel Kant im zweiten Teil seines Katego-
Handeln zu begründen und in problematischen Situa- rischen Imperativs ausdrückt (s. a. 9.2.2 Normative
tionen zu einer guten und richtigen Entscheidung zu Ethik).
kommen. Respekt vor der Autonomie anderer Menschen
heißt, den Willen des anderen bei Entscheidungen
Die amerikanische Pflegewissenschaftlerin Sara T. einzubeziehen und zu respektieren. Grundsätzlich
Fry (1995) erachtet folgende ethische Prinzipien als bedeutet die Achtung des Prinzips der Autonomie
für die pflegerische Berufsausübung wichtig und auch, vor jeder Handlung, die Auswirkungen auf
hilfreich: einen anderen Menschen hat, ihn darüber zu infor-
■ Autonomie, mieren und sein Einverständnis einzuholen.
■ Wohltätigkeit, In der Geschichte der Betreuung kranker und
■ Gerechtigkeit, pflegebedürftiger Menschen ist mit diesem Prinzip
■ Aufrichtigkeit, nicht immer verantwortungsvoll umgegangen wor-
■ Loyalität. den. Häufig kam hier ein Modell zum Tragen, das
dem kranken Menschen die Rolle des Kindes, der
Diese Prinzipien und ihre Bedeutung für pflegeri- Krankenschwester die Mutter- und dem behandeln-
sches Handeln werden im Folgenden näher be- den Arzt die Vaterrolle zuschrieb. „Mutter“ und „Va-
schrieben. ter“ des kranken Menschen wussten am ehesten,
9 was für ihn, das „Kind“, das Beste war. Entsprechend
▌ Autonomie wenig wurden die „Kinder“ in Entscheidungen be-
Das Prinzip der Autonomie bezieht sich auf die Frei- züglich ihrer medizinischen und pflegerischen The-
heit des Menschen, willentlich zu denken und zu rapie einbezogen. Viele Patienten ordneten sich
handeln. Die zwei Aspekte der Autonomie werden ohne Widerspruch dieser Rollenzuschreibung unter.
entsprechend als Willensfreiheit und Handlungs- Heute hat dieses auch als „parentalistisch“ be-
bzw. Entscheidungsfreiheit bezeichnet. zeichnete Modell seine Tragfähigkeit und Gültigkeit
Unter Willensfreiheit wird dabei die innere Fä- eingebüßt, nicht zuletzt deshalb, weil immer mehr
higkeit des Menschen verstanden, überhaupt wäh- kranke und pflegebedürftige Menschen verständli-
len zu können bzw. einen Zustand von selbst anzu- cherweise auf ihr Informations- und Mitsprache-
fangen. recht bei Entscheidungen, die ihr Wohlbefinden be-
Der Mensch hat die Freiheit, sich in einem Pro- treffen, bestehen.
zess der Reflexion mit den Gegebenheiten auseinan- Besondere Relevanz für die Pflege hat das ethi-
derzusetzen und sie entweder gutzuheißen oder sie sche Prinzip der Autonomie deshalb, weil Pflegeper-
zu verwerfen und auf ihre Veränderung hinzuwir- sonen in ihrer pflegerischen Praxis häufig mit Situa-
ken. tionen konfrontiert werden, in denen die Willens-
Die Handlungsfreiheit ist immer dann gegeben, und Entscheidungsfreiheit von pflegebedürftigen
wenn unter mehreren Möglichkeiten eine gewählt Menschen eingeschränkt sein kann. In diesem Fall
werden kann. In diesem Zusammenhang gilt auch erfährt das Prinzip Autonomie Grenzen, z. B. wenn:
Nicht-Handeln als Handeln. ■ ein pflegebedürftiger Mensch über zu wenig In-
formationen verfügt, um eine Entscheidung tref-
Definition: Der Begriff Autonomie leitet sich fen zu können,
ab von den griechischen Worten „autos“ = ■ die Willens- und Entscheidungsfreiheit eines
„selbst“ und „nomos“ = „Gesetz“. Ein autonomer Menschen eingeschränkt ist, z. B. durch eine psy-
Mensch zu sein heißt demzufolge, freie Entscheidun- chische Erkrankung oder die besondere psy-
gen bezüglich des eigenen Lebensweges zu treffen und chische Situation, die sich aus der Auseinander-
dabei Rücksicht auf die autonomen Entscheidungen setzung mit einer schwerwiegenden Erkrankung
anderer Menschen zu nehmen. ergibt,
■ die Willens- und Entscheidungsfreiheit z. B. bei werden, damit er in die Lage versetzt wird, eine
komatösen Patienten ganz fehlt. echte Entscheidung über das weitere pflegerische
Vorgehen zu treffen. Dabei müssen mögliche Sach-
Auch bei der Pflege von Kindern sind dem Prinzip verhalte und Alternativen in einer für ihn verständ-
Autonomie Grenzen gesetzt, da die Willens- und lichen Sprache präsentiert werden.
Entscheidungsfähigkeit eng an die Reife der Persön- Das bedeutet auch, dass hier auf keinen Fall eine
lichkeit und damit an das Alter gekoppelt sind. Je Fachsprache verwendet werden darf (s. a. Kap. 10).
jünger ein Kind ist, desto weniger wird es in der Gegebenenfalls kann man sich rückversichern,
Regel als in der Lage betrachtet, autonome Entschei- indem der betroffene Mensch aufgefordert wird,
dungen zu treffen. In diesen Fällen treten die Eltern den Sachverhalt in seinen eigenen Worten zu wie-
als Entscheidungsträger auf; der volle rechtliche An- derholen. So kann man sichergehen, dass er ihn ver-
spruch auf eigenständige Entscheidungen beginnt standen hat.
erst mit der Vollendung des 18. Lebensjahres. In konkreten Situationen muss auch die jeweilige
Dies schließt jedoch nicht aus, dass auch jüngere psychische Situation eines Menschen berücksichtigt
Kinder dem Reifegrad ihrer Persönlichkeit entspre- werden: Schwierige private Situationen oder auch
chend in Entscheidungen, die ihr Wohlbefinden be- die Mitteilung einer schwerwiegenden medizi-
treffen, einbezogen werden sollten. Wenngleich es nischen Diagnose bedeuten häufig auch eine vorü-
wohl problematisch sein kann, Kindern die eigenstän- bergehende Einschränkung der Entscheidungsfähig-
dige Entscheidung zu überlassen, ob sie sich einer keit.
Chemotherapie unterziehen wollen oder nicht, kön- Hier ist es oftmals angebracht, die Entscheidung
nen auch jüngere Kinder durchaus in der Lage sein, zu vertagen, da sie in diesen Fällen am tatsächlichen
z. B. die Entscheidung zu treffen, ob sie lieber im Kran- Bedürfnis des betroffenen Menschen vorbeigeht, 9
kenhaus oder zu Hause gepflegt werden wollen. wenn er aktuell oder vorübergehend nicht in der
In jedem Fall sollte der Wunsch des Kindes Be- Lage ist, eine autonome Entscheidung zu treffen.
rücksichtigung finden, was auch hier bedeutet, dass Wie eng die Willens- und Entscheidungsfähigkeit
die relevanten Informationen in einer für Kinder eines Menschen mit seiner umfassenden und ver-
verständlichen Sprache vermittelt werden. antwortlichen Information verbunden ist, zeigt fol-
Aus dem Einbeziehen der Willens- und Entschei- gendes Beispiel:
dungsfreiheit haben sich zwei Konzepte in der Me-
dizin und auch in der Pflege entwickelt, die in kon- Beispiel: Herr Gardek ist 70 Jahre alt, ver-
kreten Situationen die Handhabung der Einwil- heiratet und Rentner. Seine Ehe blieb kin-
ligung erleichtern können: die „wirksame Einwil- derlos. Frau Gardek leidet seit mehreren
ligung“ und die „mutmaßliche Einwilligung“. Jahren an einer Depression, die medikamentös gut
eingestellt ist, von Zeit zu Zeit jedoch in eine akute
▌ Wirksame Einwilligung Phase übertritt. Herr Gardek liebt seine Frau sehr
Die wirksame Einwilligung eines Menschen in Maß- und fühlt sich für sie verantwortlich.
nahmen der Pflege und Therapie, die auch als sog. Vor 4 Wochen hat Herr Gardek bei der Miktion zum
„informed consent“ bezeichnet wird, gilt nicht nur ersten Mal Blut im Urin bemerkt. Sein Urologe über-
für die Teilnahme an Forschungsvorhaben, sondern weist ihn ins Krankenhaus, wo bei einer Blasenspie-
auch für die Einwilligung in die pflegerische Betreu- gelung mit Gewebeentnahme ein Blasen-Karzinom
ung und Behandlung. festgestellt wird. Der behandelnde Arzt klärt Herrn
Wer eine Entscheidung treffen soll bzw. seine Gardek über seine Diagnose auf und informiert ihn
Zustimmung zu etwas geben soll, benötigt Informa- gleichzeitig darüber, dass die einzig mögliche kurative
tionen darüber, was zu tun beabsichtigt ist und mit Therapie in der Entfernung der Harnblase mit an-
welchen Konsequenzen gerechnet werden muss. schließender Anlage einer künstlichen Urinableitung
Deshalb ist ein sorgfältiges Informieren über die (Urostomie) mit Beutelversorgung besteht.
möglichen Schritte eine wesentliche Voraussetzung Herr Gardek ist nach dem Gespräch sehr deprimiert.
für eine wirksame Einwilligung. Seine spontane Reaktion ist: „Sie können alles mit mir
Konkret bedeutet dies, dass dem betroffenen machen, aber einen Beutel am Bauch will ich auf kei-
Menschen alle relevanten Informationen gegeben nen Fall“. Er fragt sich auch, wie er seiner Frau die
▌ Wohltätigkeit
bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch
nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen Definition: Das Prinzip „Wohltätigkeit“ ist
seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen „die Verpflichtung Gutes zu tun und Leiden zu
oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt“ verhüten“ (Fry 1995, S. 26).
(§ 1901 a Abs. 1 Satz 1 BGB). Eine Patientenver-
fügung ist folglich die schriftliche Niederlegung des Strenggenommen fallen hierunter die ethischen
erklärten Willens eines Menschen. Sie gibt Auskunft Prinzipien der „Benefizienz“ und der „Non-malefi-
darüber, was ein Mensch in Fragen der Gesundheits- zienz“.
versorgung wollen und wünschen wird, wenn er Der Begriff „Benefizienz“ kommt aus der lateini-
nicht mehr in der Lage ist, seinen Willen aktiv und schen Sprache und bedeutet „Wohltat“. Hierunter
selbstbestimmt zu äußern. Sie ist eine vorsorgliche werden Handlungen verstanden, die auf das Wohl-
Willenserklärung, die dann wirksam wird, wenn der ergehen anderer Menschen abzielen. Das Prinzip der
Betroffene nicht mehr in der Lage ist, seine notwen- Benefizienz beschreibt eine moralische Verpflich-
dige Zustimmung oder Ablehnung zu einer Behand- tung, zum Wohl anderer Menschen zu handeln.
lungsmaßnahme direkt zu äußern. Pflegerisches Handeln zielt auf das Wohlergehen
Vielfach wird zusätzlich zur Anfertigung einer des pflegebedürftigen Menschen. Das bedeutet, dass
Patientenverfügung auch die schriftliche Nieder- alle pflegerischen Maßnahmen zum Wohl des zu
legung einer Vorsorgevollmacht empfohlen. Sie pflegenden Menschen beitragen sollen. Was im Ein-
kann für unterschiedliche Bereiche erstellt werden, zelnen das Wohl des pflegebedürftigen Menschen
z. B. für Rechtsgeschäfte in Vermögensangelegenhei- ausmacht, ist sehr individuell. Der ICN-Kodex kon-
ten, für Aufenthalt- und Wohnungsangelegenheiten, kretisiert dies in den vier grundlegenden Aufgaben
Behörden etc. Der Vollmachtgeber überträgt für den pflegerischen Handelns: 9
Fall, dass er selbst geschäfts- und einwilligungsunfä- ■ Gesundheit fördern,
hig ist, einer Person seines Vertrauens die Voll- ■ Krankheit verhüten,
macht, für ihn gemäß seinem Willen zu handeln. ■ Gesundheit wiederherstellen und
Für die Betreuung und Pflege in Einrichtungen des ■ Leiden lindern.
Gesundheitswesens ist insbesondere eine Vorsor-
gevollmacht in Gesundheits- und Aufenthaltsange- Unter Non-malefizienz wird das Bewahren vor Scha-
legenheiten wesentlich. Hierin werden die Befugnis- den verstanden. Der Begriff leitet sich ab aus dem
se des Bevollmächtigten zur Einwilligung bzw. Ab- Lateinischen und bedeutet „keinen Schaden zufü-
lehnung von ärztlichen Maßnahmen, zur Unterbrin- gen“. Pflegerisches Handeln soll so ausgerichtet
gung mit freiheitsentziehender Wirkung und zu sein, dass es dem pflegebedürftigen Menschen
freiheitsentziehenden Maßnahmen (z. B. durch Bett- nicht schadet.
gitter, Medikamente und Ähnliches) in einem Heim Beide Prinzipien verlangen von Pflegepersonen
oder in einer sonstigen Einrichtung geregelt. u. a., dass sie ihre Fachkenntnisse auf dem aktuellen
Darüber hinaus können in einer sogenannten Be- Stand der Wissenschaft halten, um zum größtmög-
treuungsverfügung Wünsche geäußert werden, wel- lichen Wohl des pflegebedürftigen Menschen bei-
che Person im Falle einer Betreuungsbedürftigkeit tragen zu können und Schaden durch wissenschaft-
als gesetzlicher Vertreter vom Betreuungsgericht lich überholte Pflegehandlungen zu vermeiden.
eingesetzt werden soll.
Zusammenfassung:
!
Merke: Schriftlich verfasste Patientenver- Ethische Prinzipien für die Pflegepraxis
fügungen, Vorsorgevollmachten und Betreu- ■ zeigen die Richtung für ethisches Handeln auf,
ungsverfügungen sind vorsorgliche Willens- ■ sind Entscheidungshilfe und tragen dazu bei, Han-
erklärungen eines Menschen. Sie werden dann wirk- deln zu begründen.
sam, wenn der Betroffene nicht mehr in der Lage ist,
seine notwendige Zustimmung oder Ablehnung zu
einer Behandlungsmaßnahme direkt zu äußern und
sind im konkreten Entscheidungsfall für alle Beteilig-
ten bindend.
▌ Gerechtigkeit ▌ Aufrichtigkeit
Das Prinzip „Gerechtigkeit“ geht zurück auf Aristo- Das Prinzip „Aufrichtigkeit“ verpflichtet, die Wahr-
teles, der hierzu den Satz prägte: „Gleiches muss heit zu sagen, nicht zu lügen bzw. andere zu hinter-
gleich, Ungleiches ungleich behandelt werden“. gehen. Es bezieht sich wesentlich auf die Kommuni-
Diese Ausführung ist eine formale Bestimmung der kation zwischen Menschen und damit natürlich
Gerechtigkeit, denn sie macht keine genaueren An- auch auf die Gestaltung zwischenmenschlicher Be-
gaben dazu, unter welchen Umständen zwei oder ziehungen.
mehr Menschen als gleich oder ungleich gelten. Auch das Prinzip der Aufrichtigkeit ist nicht nur
Hieraus lässt sich jedoch ableiten, dass Menschen in der Pflege von Bedeutung. Überall da, wo Men-
nicht ungleich behandelt werden sollten, es sei schen miteinander in Beziehung treten – auch im
denn, dass es wichtige Aspekte einer Situation gibt, privaten Alltag, ist Aufrichtigkeit im Reden und Han-
die dies rechtfertigen. Die Frage bleibt: Was ist deln wichtig.
Gleichheit? In der beruflich ausgeübten Pflege treten Men-
Der formale Aspekt dieser Aussage benötigt folg- schen auf einer professionellen Basis miteinander in
lich eine Konkretisierung. Arndt (1996, S. 63) schlägt Beziehung. Der Pflegeprozess als methodisches Han-
hierzu unter Bezug auf Beauchamp und Childress deln ist neben einem Problemlösungs- auch ein Be-
(1989) fünf Möglichkeiten gerechter Verteilung vor: ziehungsprozess (s. a. Kap. 6). Hierbei nimmt die in-
1. jeder Person das Gleiche, terpersonale Kommunikation einen hohen Stellen-
2. jeder Person entsprechend individueller Bedürf- wert ein. Sie ist wesentlich an der Gestaltung eines
nisse, erfolgreichen Pflegeprozesses zwischen Pflegeper-
3. jeder Person entsprechend eigener Bemühungen, sonen und pflegebedürftigen Menschen beteiligt.
9 4. jeder Person im Austausch für eigene Beiträge, Der Aufbau einer tragfähigen und vertrauensvol-
5. jeder Person nach den Gesetzen des freien Mark- len Beziehung ist wiederum untrennbar verbunden
tes. mit der Aufrichtigkeit und Authentizität der Bezie-
hungspartner, denn Vertrauen kann nur dort entste-
Das Prinzip der Gerechtigkeit ist überall dort von hen, wo sich die beteiligten Personen gegenseitig
besonderer Bedeutung, wo knappe Ressourcen ge- auf die Ehrlichkeit des anderen verlassen können.
recht verteilt werden sollen. Ein aktuelles Problem, Ist dies nicht der Fall, wird eine erfolgreiche und
das unter dem Prinzip der Gerechtigkeit diskutiert effiziente pflegerische Betreuung nur schwer bzw.
wird, ist beispielsweise die Verteilung von Organen überhaupt nicht möglich sein.
zur Organtransplantation. Das Prinzip der Aufrichtigkeit ist auch eng mit
Bezogen auf die pflegerische Berufsausübung dem Prinzip der Autonomie verbunden. Pflegebe-
geht es bei der Diskussion über Gerechtigkeit um dürftige Menschen haben ein Recht darauf, umfas-
die gerechte „Verteilung“ pflegerischer Dienstleis- send über die sie betreffenden Dinge informiert zu
tung. Fry hält hierfür die Zuteilung von pflegeri- werden, da das Treffen von Entscheidungen mög-
schen Leistungen entsprechend den individuellen lichst viele und richtige Informationen voraussetzt.
Bedürfnissen eines Menschen für angebracht. Hier können Schwierigkeiten mit dem Prinzip
Sie interpretiert das Prinzip Gerechtigkeit so, der Aufrichtigkeit für Pflegepersonen besonders
dass Menschen, die gleiche Pflegebedürfnisse haben, dann entstehen, wenn es um die Aufklärung eines
auch gleiche Pflegeleistungen erhalten sollten. pflegebedürftigen Menschen hinsichtlich seiner me-
Ebenso sollten diejenigen, die größere Bedürfnisse dizinischen Diagnose geht. Die Aufklärungsverant-
haben, entsprechend mehr Pflegeleistungen erhal- wortung bzw. -pflicht liegt beim Arzt. Häufig
ten. kommt es hier zu der Situation, dass Pflegepersonen
Unter das Prinzip der Gerechtigkeit fällt auch die bereits früher als der pflegebedürftige Mensch über
Tatsache, dass alle Menschen, unabhängig von ihrer seine medizinische Diagnose informiert sind. Sie
Rasse, Kultur, Hautfarbe etc., den gleichen Zugang zu dürfen aber mit dem betroffenen Menschen von
und den prinzipiell gleichen Anspruch auf pflegeri- Rechts wegen nicht darüber sprechen, was zu inne-
sche Leistungen erhalten sollten. Dieser Aspekt ist ren Konflikten führen und die Beziehung zum pfle-
beispielsweise auch im ICN-Kodex beschrieben. gebedürftigen Menschen beeinträchtigen kann.
▌ Loyalität
Das Prinzip „Loyalität“ beschreibt die Verpflichtung,
sich selbst oder anderen Menschen gegenüber treu Autonomie
zu bleiben. Loyalität kann beispielsweise gefordert
sein gegenüber einer Regierung, einem Vorgesetzten
oder auch gegenüber Berufskollegen. Dialog Fürsorge
Sich loyal gegenüber Berufskollegen zu verhalten, Würde
zeigt sich konkret beispielsweise in der Tatsache,
dass vor pflegebedürftigen Menschen, deren Ange-
hörigen oder Mitarbeitern anderer Berufsgruppen Verant-
wortung Gerechtigkeit
nicht schlecht über diese Kollegen gesprochen wird.
In der Pflege geht es aber nicht nur um die Loya-
lität gegenüber Mitarbeitern oder Vorgesetzten, son-
Abb. 9.6 Ethische Prinzipien für die Ethik in der Pflege (nach
dern auch um die Verpflichtung zur Treue gegen- Rabe 2009)
über dem pflegebedürftigen Menschen. Diese Ver-
pflichtung ergibt sich aus der pflegerischen Bezie-
hung und umfasst beispielsweise den vertraulichen Als Person kommt dem Menschen Würde zu – so
Umgang mit Informationen von und über den pfle- hat es auch Kant im zweiten Teil des Kategorischen
gebedürftigen Menschen. Imperativs formuliert (s. a. Kap. 9.2.2). Im Gesund-
heitswesen ist die Würde eine Menschen häufig be-
Definition: Die Pflicht, solche Informationen droht: Körperliche oder psychische Einschränkun-
vertraulich zu behandeln, wird auch als Berufs- gen führen zur Abhängigkeit von Helfern, Experten- 9
geheimnis oder berufliche Schweigepflicht be- wissen und institutionelle Routinen sind häufig nur
zeichnet. schwer zu durchschauen, auch in der Sprache wer-
den pflegebedürftige Menschen durch die Bezeich-
Die Bedeutung, die der Wahrung des Berufsgeheim- nung „Patient“ entpersonalisiert. Bedeutung hat das
nisses und der Schweigepflicht zugemessen wird, ethische Prinzip „Würde“ in der Pflege vor allem,
erkennt man auch daran, dass sie als grundlegende weil Pflegende Körper- und Schamgrenzen über-
Pflicht in vielen pflegerischen Ethik-Kodizes be- schreiten, bei sehr persönlichen Lebensaktivitäten
schrieben und in der Bundesrepublik Deutschland wie Körperpflege, Ausscheidung, Ernährung unter-
in § 203 des Strafgesetzbuches geregelt ist. stützen und nicht zuletzt auch Verständnis, Zuwen-
Auch die deutsche Pflegeethikerin Marianne dung und Begleitung anbieten. Mit Informationen
Rabe (2009) beschreibt ethische Prinzipien für die vertraulich umgehen sowie das Einverständnis vor
pflegerische Berufsausübung. Neben Verantwor- jedweder Handlung mit und an pflegebedürftigen
tung, Autonomie und Gerechtigkeit beschreibt sie Menschen einholen, sind wichtige Aspekte einer
Würde, Fürsorge und Dialog, die sie im Gesundheits- Pflege, die die Würde des Menschen beachtet.
wesen und in der Pflege als besonders verletzlich
und für die Bewahrung einer guten moralischen Fürsorge. Fürsorge wird laut Duden definiert als „tä-
Praxis als sehr wichtig erachtet. tige Bemühung um jemanden, der der Fürsorge be-
darf“ (Duden 2011). Der Begriff wird verwendet z. B.
Würde. Rabe stellt die Würde als übergeordnetes im Zusammenhang mit der Sorge von Eltern für ihre
Prinzip in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen; Kinder (elterliche Fürsorge) oder auch – etwas ver-
alle anderen Prinzipien sind auf sie bezogen und altet – für öffentliche Mittel, die Bedürftigen zukom-
konkretisieren jeweils spezifische Aspekte der men. Als ethisches Prinzip sieht Rabe die Fürsorge
Würde (Abb. 9.6). Alle sechs Prinzipien ergänzen als Antwort oder Reaktion des Menschen auf Ver-
und korrigieren sich; die Überbetonung eines Prin- letzlichkeit oder Leiden eines anderen Menschen –
zips führt häufig zur Verletzung eines anderen, z. B. als „professionalisierte Nachfolgerin des alten Lie-
kann sehr fürsorgliches Handeln Menschen in ihrer besideals“ in der Pflege“. Sie ist die unterstützende
Autonomie einschränken. Handlung für einen Menschen und eng verbunden
mit dem Prinzip „Autonomie“. In vielen Pflegesitua-
tionen kann es für Pflegende eine große Herausfor- Die beschriebenen Prinzipien bestimmen die grund-
derung sein, das Recht eines Menschen auf Selbst- sätzliche Richtung pflegerischen Handelns. Als
bestimmung im fürsorglichen pflegerischen Han- Grundsätze der Ethik tragen sie dazu bei, mensch-
deln angemessen zu berücksichtigen. lichem Handeln eine gute und richtige Richtung zu
weisen. Nicht immer ist es möglich, alle dieser Prin-
Dialog. Für Rabe umfasst Dialog als ethisches Prinzip zipien in vollem Umfang im pflegerischen Handeln
den „gegenseitigen Respekt, Gleichberechtigung und zu verwirklichen.
Gerechtigkeit, das Bemühen um Verstehen und Kon- In manchen Situationen können auch mehrere
sens, sowie Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit und Un- Prinzipien betroffen sein, die miteinander konkur-
voreingenommenheit“ (Rabe 2009). Insbesondere rieren, so dass die Wahl des guten und richtigen
im Gesundheitswesen beschreibt sie die Kommuni- Handelns schwerfällt. Dennoch können sie eine
kation und Interaktion als geprägt von Ritualen, wichtige Hilfe sein, wenn es darum geht, eigenes
Machtstrukturen und Zeitmangel – alles Aspekte, Handeln verantwortlich zu gestalten und zu begrün-
die einem auf Verständigung und gegenseitigen Res- den, wie in folgendem Beispiel:
pekt ausgerichteten Miteinander entgegenstehen.
Für Pflegende ist es wichtig, eine dialogische Grund- Beispiel: Herr Schmidt, 74 Jahre, ist verwit-
haltung zu entwickeln, die Wünsche und Bedürfnis- wet und seit dem Tod seiner Frau vor 6 Mo-
se pflegebedürftiger Menschen ernst nimmt und naten im Alten- und Pflegeheim. Vor 3 Jah-
versucht, Ursachen und Bedingungen für spezifische ren erlitt er einen linkshirnigen Apoplex, der zu einer
Verhaltensweisen zu ergründen und zu verstehen – Hemiplegie der rechten Körperseite führte.
insbesondere dann, wenn eine empfohlene pflegeri- Bis zu ihrem Tod hatte seine Frau ihn zu Hause ge-
9 sche oder medizinische Therapie abgelehnt wird. pflegt. Herr Schmidt ist seit 15 Jahren an einem insu-
Rabe sieht die dialogische Grundhaltung aber auch linpflichtigen Diabetes mellitus erkrankt und benötigt
als wesentlich für den Umgang innerhalb der eige- 2 × täglich eine Insulininjektion. Die Injektionen wer-
nen Berufsgruppe und im interprofessionellen Kon- den vom Pflegepersonal verabreicht, da Herr Schmidt
text. In einem konfliktfreien Umfeld können sich aufgrund seiner Hemiplegie und einer Sehbehin-
pflegebedürftige Menschen sicher und „in guten derung durch eine diabetische Retinopathie die Ein-
Händen“ fühlen – und ethische Problemstellungen heiten an der Spritze nicht selbst ablesen kann.
gemeinsam diskutiert und angegangen werden. Herr Schmidt kommt mit seiner veränderten sozialen
Situation, dem Verlust und der Trauer um seine Frau
Zusammenfassung: sowie dem Umzug ins Alten- und Pflegeheim schlecht
Ethische Prinzipien (Pflegepraxis) zurecht, was sich in einer aggressiven Grundhaltung
■ Autonomie: Willens- und Handlungs- bzw. Ent- und häufigen Beschwerden über das Essen, sein Zim-
scheidungsfreiheit des pflegebedürftigen Menschen mer und vor allem über die pflegerische Betreuung
respektieren, z. B. über „wirksame“ und „mutmaß- äußert.
liche Einwilligung“, Frau Hartmann hat vor 6 Wochen ihr Altenpflegeexa-
■ Wohltätigkeit: Pflegerisches Handeln auf das men erfolgreich bestanden und ist an diesem Wochen-
Wohlergehen des pflegebedürftigen Menschen aus- ende die verantwortliche Pflegeperson für Herrn
richten und ihn vor Schaden bewahren, Schmidt. 30 Minuten vor dem Abendessen bereitet
■ Gerechtigkeit: Gleiches muss gleich, Ungleiches un- sie das Insulin für Herrn Schmidt vor und injiziert
gleich behandelt werden, z. B. Pflegeleistungen an es. Bei der Dokumentation der Insulin-Injektion stellt
der Pflegebedürftigkeit ausrichten, sie fest, dass sie versehentlich die für morgens vor-
■ Aufrichtigkeit: Nicht lügen, die Wahrheit sagen, gesehene Insulinmenge injiziert hat.
(Grundlage für den Beziehungsprozess zwischen Wie soll sich Frau Hartmann Ihrer Meinung nach ver-
Pflegeperson und pflegebedürftigem Menschen), halten? Welche ethischen Prinzipien sind betroffen?
■ Loyalität: Treu zu jemandem stehen, z. B. Vertrau-
licher Umgang mit Informationen, berufliche
Schweigepflicht wahren.
!
Merke: Die Fähigkeit, moralische Entschei- über die Diagnose seiner Frau und erklärt ihm, dass
dungen zu treffen, wird zu den wesentlichen seine Frau unheilbar erkrankt ist. Herr Zertel bittet
Merkmalen einer professionellen Pflege ge- den Arzt, seiner Frau die infauste Prognose nicht mit-
rechnet. zuteilen, da Frau Zertels Mutter erst vor 2 Jahren nach
langem Leiden an Brustkrebs verstorben ist. Herr Zer-
Bevor einige Hilfsmittel zur moralischen Entschei- tel möchte, dass seine Frau ihre letzten Monate unbe- 9
dungsfindung vorgestellt werden, soll zunächst ge- schwert verbringen kann. Er ist der Meinung, dass es
klärt werden, welche Merkmale ein Problem zu seiner Frau noch schlechter ginge, wenn sie die Wahr-
einem moralischen Problem machen. heit erführe.
In der beruflich ausgeübten Pflege sind es im Der Arzt respektiert den Wunsch von Herrn Zertel.
Wesentlichen vier Problemfelder für moralische Frau Zertel ist zu diesem Zeitpunkt so schwach, dass
Konflikte: sie ihre Körperpflege nicht selbstständig durchführen
1. Konflikte zwischen Pflegepersonen und pflege- kann. Bei der morgendlichen Hilfestellung fragt Frau
bedürftigen Menschen, Zertel ihre Bezugspflegeperson: „Ich fühle mich so
2. Konflikte innerhalb der pflegerischen Berufs- schwach und jetzt kann ich mich nicht einmal mehr
gruppe, selbst waschen. Wenn ich den Arzt frage, warum es
3. Konflikte zwischen Pflegepersonen und Angehö- mir so schlecht geht, habe ich das Gefühl, er weicht
rigen anderer Berufsgruppen, mir aus. Ich glaube, dass ich sterben muss. Das stimmt
4. Konflikte zwischen persönlichen und beruflichen doch, Schwester, oder?“
Werten. Wie soll sich die zuständige Pflegeperson verhalten?
Moralische Konflikte unterscheiden sich von nicht- Um in einer solchen Situation Klarheit zu gewinnen,
moralischen Konflikten dadurch, dass ein oder meh- sollte versucht werden, das moralische Problem und
rere moralische Werte und Normen beteiligt sind, den Kontext, in dem es auftritt, möglichst genau zu
von denen nicht alle gleichzeitig im Handeln ver- beschreiben, die beteiligten Werte und Prinzipien zu
wirklicht werden können. So entsteht Unsicherheit identifizieren und unter Einbezug aller Betroffenen
darüber, wie in dieser Situation richtig entschieden und unter Zuhilfenahme ethischer Theorien und
werden kann. Im Folgenden ein Beispiel für diesen Prinzipien zu einer gemeinsamen und verantwort-
Konflikt: lichen Entscheidung zu kommen.
drei Schritten vor (Abb. 9.7). Nach einer Schilderung sens) wichtig, sondern auch deren jeweilige Begrün-
der Situation sollen zunächst die persönlichen Reak- dungen und Erläuterungen. Insbesondere hierin
tionen der Diskussionsteilnehmerinnen thematisiert drückt sich laut Rabe die ethische Kompetenz der
werden. Die spontane Äußerung von Gefühlen wie Beteiligten aus, die sie als wichtiges Bildungsziel be-
moralischem Unbehagen, Mitgefühl, Empörung etc. schreibt.
trägt dazu bei, diese potenziellen Störfaktoren aus- Im Gegensatz zu den im Folgenden beschriebe-
zuschalten und den Weg frei zu machen für die Be- nen Stufenplänen und Modellen ist das Modell der
trachtung der Situation aus Sicht der jeweiligen be- ethischen Reflexion wesentlich weniger stark durch
teiligten Personen. Auf dieser Basis können mögliche Fragestellungen strukturiert. Rabe sieht hierin die
Handlungsalternativen für die aktuelle Situation er- Chance, die Diskussion stärker geleitet durch die As-
mittelt werden. pekte des aktuellen Problems und durch die Interes-
Für den Schritt der ethischen Reflexion ist die sen, Erkenntnisse und Gedanken der Teilnehmerin-
Bestimmung des ethischen Problems zentral, das nen zu leiten. Dabei ist ihrer Meinung nach die Ge-
vor dem Hintergrund der in der Situation bedeut- fahr geringer, inhaltliche Aspekte zugunsten des Ab-
samen Grundsätze, Prinzipien und Werthaltungen arbeitens der Prozessschritte zu vernachlässigen.
diskutiert wird. Dabei ist auch die Frage nach der
Verantwortung für die Situation und den Ebenen, 9.4.2 Stufenpläne
auf denen die Verantwortung angesiedelt ist (per- Ein wichtiges Hilfsmittel bei der Suche nach einer
sönlich, institutionell, gesellschaftspolitisch), we- verantwortlichen Problemlösung können sogenann-
sentlich. te Stufenpläne sein – auch als Bezugsrahmen für
Schließlich werden im dritten Schritt die Er- ethische Entscheidungsfindungen bezeichnet. Es
9 kenntnisse aus der Diskussion als ethisch begründe- gibt eine ganze Reihe unterschiedlicher Bezugsrah-
te Beurteilung zusammengefasst. Dabei sind nicht men.
nur die Feststellungen als solche (Konsens oder Dis- Allen gemeinsam ist, dass sie einen Rahmen bie-
ten, der die systematische und methodische Heran-
gehensweise an ein bestehendes moralisches Pro-
blem unterstützt. Sie tragen dazu bei, die aktuelle
1. Situationsanalyse
Problemsituation genau zu untersuchen, um mög-
• Persönliche Reaktionen
lichst alle relevanten Informationen und Interessen
• Die Sicht der anderen.
Perspektive aller am Fall beteiligten Personen der beteiligten Personen offenzulegen.
• Alternative Handlungsmöglichkeiten und ihre Einige dieser Bezugsrahmen sind – ähnlich wie
Folgen für die Betroffenen der Pflegeprozess – in Form eines Problemlösungs-
prozesses konzipiert (s. a. Kap. 6). Verena Tschudin
2. Ethische Reflexion
(1988) hat ihr Stufenmodell zur ethischen Entschei-
• Benennung des ethischen Problems
• Formulierung der normativen Orientierungen dungsfindung ausdrücklich an die Schritte des Pfle-
und übergeordneten Prinzipien1, die für diese geprozesses angelehnt. Es wird im Folgenden vor-
Situation von Bedeutung sind gestellt und erläutert.
• Verantwortungsebenen:
– persönlich
▌ Stufenplan für den ethischen
– institutionell
– gesellschaftspolitisch Entscheidungsfindungsprozess
▌ Erster Schritt: Erkennen des Problems
3. Ergebnisse
■ Handelt es sich um ein aktuelles oder um ein
• Ethisch begründete Beurteilung
• Konsens/Dissens
potenzielles Problem?
• Nötige praktische Konsequenzen und ihre Durch- ■ Wie ist das Problem entstanden?
setzung ■ Weshalb ist es ein schwieriges Problem?
1
■ Welche Fakten sind wichtig? Welche Fakten sind
Zu den normativen Orientierungen gehören die
moralischen Normen, Grundsätze und Werthal- irrelevant oder unwichtig?
tungen, die den Diskutanten zu dem Fall einfallen. ■ Welche Werte sind in Frage gestellt?
■ Weist das Problem Aspekte auf, die zur Aufwer-
Abb. 9.7 Modell für die ethische Reflexion (nach Rabe 2009) tung der Person eines Beteiligten beitragen, oder
solche, die sich mit dem Gewissen von Beteilig- ■ Geht es um die Frage, ob weiter behandelt wer-
ten nicht vereinbaren lassen? den soll oder nicht?
■ Welches sind die Ansichten des Patienten? Was ■ Geht es um Werte, die einander widersprechen?
will er? ■ Welche Werte sind wichtiger? Weshalb?
■ Welche Personen sind direkt betroffen? ■ Ist es eine Frage der beruflichen Beziehungen?
■ Welche Rolle spielen die beteiligten Personen? ■ Wird an eine Klausel der Berufsethik appelliert?
■ Wie sieht jede einzelne Person das Problem? ■ Wird dadurch die Situation beeinflusst oder ver-
■ Welches sind die Erwartungen jeder Person be- ändert?
züglich des Ergebnisses? ■ Ist ein Kompromiss möglich, oder muss das Pro-
■ Welche Personen haben eine Schlüsselposition? blem durch einen entschiedenen Schritt gelöst
■ Wie sieht die allgemeine, pflegerische, medizi- werden?
nische und soziale Situation dieser Schlüsselper-
son(en) aus? ▌ Dritter Schritt: Ausführung
■ Welche Aspekte lassen sich verändern, welche ■ Was soll getan werden?
nicht? ■ Wer tut es? Wann? Wie?
■ Lässt sich dieses Problem mit andern Situationen
oder ähnlichen Fällen vergleichen? ▌ Vierter Schritt: Auswertung
■ Welche weiteren wesentlichen Punkte sind zu ■ Ist das Problem durch die Entscheidung gelöst
berücksichtigen? worden? Wenn nicht, weshalb nicht?
■ Inwiefern hat die Lösung eines spezifischen Pro-
▌ Zweiter Schritt: Planung blems einen Einfluss auf das Verhalten in wei-
■ Welche Vorgehen sind möglich? teren ähnlichen Fällen? 9
■ Welches sind die kurzfristigen oder langfristigen ■ Waren die Erwartungen realistisch? Wenn nicht,
Möglichkeiten? weshalb nicht?
■ Welches sind die möglichen Folgen jedes Vor- ■ Waren nur einzelne Aspekte realistisch? Welche?
gehens? ■ Weshalb waren einzelne Aspekte nicht realis-
■ Wem wird geholfen? tisch?
■ Inwiefern ist es überhaupt möglich, zu einem Er- ■ Wenn wir noch einmal entscheiden müssten,
gebnis zu gelangen? würden wir wieder gleich entscheiden? Wenn
■ Wird jemandem durch ein bestimmtes Ergebnis nicht, weshalb nicht?
Schaden zugefügt? Wenn ja, wie? ■ Können wir sagen, dass die Entscheidung zur
■ Ist das Problem mit einer einzigen Entscheidung Mehrung des Guten beigetragen hat?
größer oder ist anzunehmen, dass weitere Ent- ■ Haben andere Leute von der ursprünglichen Ent-
scheidungen notwendig sein werden? scheidung ebenfalls einen Nutzen gehabt?
■ Besteht ein zeitliches Limit? ■ Waren, dank dieser Entscheidung, weitere ähn-
■ Welches ist die grundsätzliche Frage bei diesem liche Entscheidungen leichter zu fällen?
Problem? ■ Ist irgendein Aspekt dieser ethischen Entschei-
■ Geht es um das Recht der Person oder um die dung zu einem universellen Gesetz geworden?
Handlung (Deontologie)?
■ Geht es darum, die Wünsche des Patienten zu Das Modell systematisiert die ethische Entschei-
respektieren? dungsfindung in den vier Schritten
■ Geht es um berufliche Verantwortung? 1. Analyse,
■ Welche ethischen Prinzipien stehen auf dem 2. Planung,
Spiel? 3. Durchführung und
■ Besteht ein Konflikt zwischen diesen Prinzipien 4. Evaluation.
oder überschneiden sie sich?
■ Welches dieser Prinzipien ist das wichtigste? Innerhalb der einzelnen Phasen des Modells formu-
■ Geht es um die Folgen einer Handlung (Teleolo- liert Tschudin eine Reihe von Fragen, die helfen, das
gie)? moralische Problem, die betroffenen Werte und
!
Standpunkte der beteiligten Personen und Folgen Merke: Stufenpläne bzw. Bezugsrahmen für
möglicher Entscheidungen genau zu bestimmen. ethische Entscheidungsfindungen sind Hilfs-
In der Phase der Analyse wird die aktuelle pro- mittel, die den Prozess der Entscheidungs-
blematische Situation so genau wie möglich be- findung strukturieren und systematisieren.
schrieben, damit das moralische Problem genau be-
stimmt und besser verstanden werden kann. Hierbei ▌ Einsatz von Stufenplänen
geht es darum, die vom Konflikt betroffenen Per- Stufenpläne zur ethischen Beschlussfassung sind
sonen, deren Interessen, Meinungen und Stand- eine Methode, die dazu beiträgt, eine komplexe Si-
punkte zu identifizieren. Wichtig ist auch, die mora- tuation – in diesem Fall ein moralisches Problem –
lischen Aspekte auf der einen Seite, also z. B. die möglichst genau zu untersuchen. Der große Vorteil
beteiligten Werte, und auf der anderen Seite die liegt darin, dass ein zunächst wenig überschaubares
nicht-moralischen Aspekte, beispielsweise pflegeri- Problem anhand konkreter Fragen exakt beschrie-
sche und medizinische Tatsachen, aufzudecken. ben und der Prozess der Problemlösung auf eine
In der Phase der Planung werden unter Einbezug systematische, strukturierte und für alle beteiligten
ethischer Theorien und Prinzipien mögliche Hand- Personen nachvollziehbare Art und Weise erfolgt.
lungsalternativen und deren Folgen diskutiert. Hier Die Entscheidung wird auf diese Weise nicht
kommen die unterschiedlichen Betrachtungsweisen überflüssig, aber sie wird durch die Beteiligung der
der Ethik zum Tragen, die Diskussion ethischer Prin- Betroffenen im wechselseitigen Austausch auf eine
zipien oder auch die Rolle, die das Gewissen einzel- gemeinsame, breite Basis gestellt und zu einer be-
ner Betroffener in dieser Situation spielt. Am Ende gründeten, ethisch verantwortlichen Entscheidung.
der Planungsphase steht die Entscheidung für eine Berücksichtigt werden muss jedoch, dass die von
9 der möglichen Handlungsalternativen. Tschudin vorgeschlagenen Fragen zur Identifikation
In der Phase der Durchführung wird die aus- des Problems sich nicht als abgeschlossene Liste ver-
gewählte Handlungsalternative nach dem in der Pla- stehen. Sie können und müssen je nach Situation um
nungsphase festgelegten Plan durchgeführt. Tschu- relevante Fragen erweitert werden.
din betont, dass die Entscheidung, die in der Pla- Auch lässt sich der gesamte Prozess der ethi-
nungsphase getroffen wurde, auch wirklich in der schen Reflexion nur schwer vollständig in einem
vereinbarten Art und Weise ausgeführt werden Stufenplan abbilden. Er fungiert – wie auch der Pfle-
muss. Nur so kann eine effektive Bewertung der ver- geprozess – als Methode, die der Einbindung in ethi-
einbarten Handlung erfolgen. sche Theorien und Prinzipien bedarf. Ein Stufenplan
Wie im Rahmen des Pflegeprozesses sieht Tschu- systematisiert lediglich den Rahmen der ethischen
din in ihrem Modell der pflegerisch-ethischen Be- Entscheidung und gibt die Form des Prozesses, nicht
schlussfassung eine Phase der Evaluation vor. Hier jedoch die ethischen Prinzipien selbst vor.
werden sowohl der Prozess der Entscheidungsfin-
dung als auch die Effizienz der ausgewählten Ent- 9.4.3 Ethische Fallbesprechung
scheidung hinsichtlich der Lösung des Problems be- Ähnlich wie Stufenpläne können auch ethische Fall-
urteilt. Erfolgreiche Problemlösungen lassen sich auf besprechungen einen strukturierten und systemati-
zukünftige ähnliche moralische Probleme übertra- schen Rahmen für ethische Entscheidungsfindungen
gen. bieten.
Bei nicht zufriedenstellenden Lösungen muss er-
neut nach einer Lösung gesucht, d. h. der Prozess Definition: „Ethische Fallbesprechung auf
erneut durchlaufen und fehlende bzw. zu wenig be- Station ist der systematische Versuch, im Rah-
rücksichtigte Elemente ergänzt werden. Die sorgfäl- men eines strukturierten, von einem Moderator
tige Evaluation der Entscheidung und des Entschei- geleiteten Gesprächs mit einem multidisziplinären
dungsprozesses erleichtert nicht zwangsläufig die Team innerhalb eines begrenzten Zeitraumes zu der
Lösung eines zukünftigen Problems, aber sie kann ethisch am besten begründbaren Entscheidung zu ge-
neue Entscheidungsprozesse erheblich erleichtern. langen“ (Steinkamp u. Gordijn 2005, S. 220).
Die Nimwegener Methode der ethischen Fallbespre- 9.4.4 Nimwegener Methode der ethischen
chung ist an der Universität Nimwegen in den Nie- Fallbesprechung (Steinkamp u. Gordijn,
derlanden entwickelt worden und sieht die Ent- 2005)
scheidungsfindung als Ergebnis eines interdiszipli- ▌ 1. Problem
nären Austauschs aller an Pflege und Therapie betei- Wie lautet das ethische Problem?
ligten Personen vor. Auf diese Weise können die
spezifischen Sichtweisen und Expertisen der jewei- ▌ 2. Fakten
ligen Berufsgruppen offen gelegt und für die ethisch Medizinische Gesichtspunkte:
am besten begründbare Entscheidung nutzbar ge- ■ Wie lautet die Diagnose des Patienten und wie ist
macht werden. Die ethische Entscheidung wird so die Prognose?
auf eine breite Basis gestellt, explizit begründet und ■ Welche Behandlung kann vorgeschlagen wer-
für alle Beteiligten nachvollziehbar. Unter Begleitung den?
durch einen Moderator werden im Rahmen der ■ Hat diese Behandlung einen günstigen Effekt auf
ethischen Fallbesprechung Fragestellungen erörtert, die Prognose? In welchem Maße?
die alle Beteiligten dabei unterstützen (Steinkamp u. ■ Wie ist die Prognose, wenn von dieser Behand-
Gordijn, 2005): lung abgesehen wird?
■ das ethische Problem zu erfassen, ■ Welche Erfolgsaussicht hat die Behandlung?
■ medizinische, pflegerische, soziale, weltanschau- ■ Kann die Behandlung dem Patienten gesundheit-
liche und organisatorische Fakten zu analysieren, lich schaden?
■ Argumente aus einer ethischen Perspektive he- ■ Wie verhalten sich die positiven und negativen
raus zu entwickeln und zu bewerten, Auswirkungen zueinander?
■ eine begründete ethische Entscheidung zu tref- 9
fen. Pflegerische Gesichtspunkte:
■ Wie ist die pflegerische Situation des Patienten
Der Prozess der ethischen Entscheidungsfindung zu beschreiben?
wird dabei in den genannten vier Schritten systema- ■ Welcher Pflegeplan wird vorgeschlagen?
tisiert, denen jeweils eine Reihe von Leitfragen zu- ■ Inwieweit kann der Patient sich selbst versor-
geordnet ist (s. u.). gen? (Ist zusätzliche Unterstützung von außen
Steinkamp und Gordijn schlagen parallel zur verfügbar?)
Durchführung ethischer Fallbesprechungen auch ■ Welche Vereinbarungen sind über Aufgabenver-
die Einrichtung klinischer Ethikkomitees vor. Sie teilungen in der Pflege getroffen worden?
sollten die in der Institution vertretenen Berufs-
gruppen repräsentieren (z. B. Ärzte, Pflegepersonen, Weltanschauliche und soziale Dimension:
Sozialarbeiter, psychologischer Dienst, Physiothera- ■ Was ist über die Weltanschauung des Patienten
pie, Seelsorge, Verwaltung, Juristen, Ethiker). Ihre bekannt?
Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, Träger und ■ Gehört der Patient einer Glaubensgemeinschaft
Institutionen des Gesundheits- und Sozialwesens in an?
Bezug auf ethische Fragen zu beraten, ethische Leit- ■ Wie sieht er selbst seine Krankheit?
linien zu entwickeln, für die ethische Aus-, Fort- und ■ Wie prägt die Weltanschauung des Patienten
Weiterbildung von Mitarbeitern Verantwortung zu seine Einstellung gegenüber seiner Krankheit?
tragen und Empfehlungen für wiederkehrende, ■ Hat er ein Bedürfnis nach seelsorgerischer Be-
ethisch problematische Situationen zu entwickeln. gleitung?
Leitlinien und Empfehlungen haben dann wiederum ■ Wie sieht das soziale Umfeld des Patienten aus?
eine unterstützende Funktion für die ethischen Fall- ■ Wie wirken sich Krankheit und Behandlung auf
besprechungen. Auch in Deutschland haben sich be- seine Angehörigen, seinen Lebensstil und seine
reits in einigen Kliniken und Pflegeeinrichtungen soziale Person aus?
Ethikkomitees etabliert. ■ Übersteigen diese Auswirkungen die Kräfte des
Patienten und seiner Umgebung?
■ Wie können persönliche Entfaltung und soziale
Integration des Patienten gefördert werden?
■ Welche Behandlungsalternative steht am meisten chene Fragen des pflegebedürftigen Menschen an die
in Übereinstimmung mit den Werten der Eltern? Pflegeperson, setzt die Bereitschaft zum Dialog in der
■ Was bedeutet es für das Kind, falls der Auffas- pflegerischen Beziehung sowie pflegerisches Fachwis-
sung der Eltern entsprochen bzw. gerade nicht sen voraus, um mit dem pflegebedürftigen Menschen
entsprochen wird? gemeinsam zu einer tragbaren Entscheidung zu ge-
langen.
Lange andauernde Behandlung: Hilfestellung im Prozess der moralischen Entschei-
■ In welchen Situationen muss das Vorgehen in der dungsfindung können darüber hinaus Stufenpläne
Pflege überdacht und evtl. verändert werden? und Modelle ethischer Fallbesprechungen geben, die
■ Welche Haltung vertritt der Patient gegenüber diesen Prozess strukturieren und systematisieren.
Veränderungen des Vorgehens in der Pflege?
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Problemlösung, Arndt, M.: Aus Fehlern lernen. Pflege 9 (1996) 12
■ Entscheidungsfindung und deren Begründung Beauchamp, T. L., J. F. Childress: Principles of Biomedical
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Höffe, O. (Hrsg.): Lesebuch zur Ethik. Philosophische Texte
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zipien, die sich auch in den pflegerischen Berufskodi-
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zes wiederfinden, sind Autonomie, Wohltätigkeit, Ge- Höffe, O. (Hrsg.): Lexikon der Ethik, 7. Aufl., Beck, München
rechtigkeit, Aufrichtigkeit und Loyalität. 2008
Für die pflegerische Berufsausübung kommt dem Körtner, U.: Grundkurs Pflegeethik. 2. Aufl. Facultas, Wien
Begriff „Verantwortung“ bzw. „verantwortliches Han- 2011
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Übersicht
Einleitung · 283
10.1 Kommunikation im täglichen
Handeln · 284
10.2 Kommunikation als Regelkreis · 285
10.3 Formen der Kommunikation · 286
10.3.1 Verbale Kommunikation · 286
10.3.2 Nonverbale Kommunikation · 287
10.3.3 Kongruenz und Inkongruenz der
Nachricht · 289
10.3.4 Beziehungen und Kommunikation · 289
10.4 Das Kommunikationsmodell nach
Schulz von Thun · 291 Schlüsselbegriffe
10.4.1 Vier Seiten einer Nachricht · 292
▶ Verbale Kommunikation
10.4.2 Vier Empfangs-Ohren · 294
▶ Nonverbale Kommunikation
10.5 Kommunikationsstörungen
▶ Kongruente Botschaft
vermeiden · 296
▶ Inkongruente Botschaft
10.6 Kommunikation als Beziehungsgrundlage
▶ Beziehung
in der Pflege · 300 10
▶ Kommunikationsstörung
10.7 Spezielle Gesprächssituationen · 301
▶ Aktives Zuhören
10.7.1 Vorüberlegungen · 301
▶ Partnerzentriertes Gespräch
10.7.2 Informationsgespräche · 306
▶ Supervision
10.7.3 Anleitungsgespräche · 310
▶ Themenzentrierte Interaktion
10.7.4 Beratungsgespräche · 311
▶ Feedback
10.7.5 Kollegiale Beratung · 313
10.7.6 Konfliktgespräche · 314
10.8 Partnerzentrierte Gespräche · 315
10.9 Themenzentrierte Interaktion (TZI) · 318
Einleitung
10.9.1 Axiome · 318
Kommunizieren ist eine grundlegende Tätigkeit
10.9.2 Zentrale Elemente · 319
jedes Menschen. Es ermöglicht den Informations-
10.9.3 Postulate · 319
austausch zwischen Menschen bezüglich Sachfra-
10.9.4 Hilfsregeln · 320
gen, aber auch die Mitteilung von Stimmungen,
10.9.5 Themenzentrierte Interaktion
Wünschen, Gefühlen und Bedürfnissen. Menschen
in der Pflege · 321
treten über verbale und nonverbale Kommunikation
10.10 Supervision · 321
zueinander in Beziehung.
10.10.1 Supervision in der Pflege · 322
Das gilt nicht nur im privaten Bereich, sondern
10.10.2 Formen der Supervision (Setting) · 323
auch für das berufliche pflegerische Handeln: Der
10.10.3 Balint-Gruppen · 324
Pflegeprozess ist sowohl ein Problemlösungs- als
Fazit · 325
auch ein Beziehungsprozess, der nur dann erfolg-
Literatur · 325
reich verlaufen kann, wenn sich die beteiligten Per-
sonen einander mitteilen können.
Darüber hinaus erfordert auch die Kooperation Kommunizieren ist eine Tätigkeit, die von jedem
im Team kommunikative Kompetenzen. Kommuni- Menschen in vielfältiger Form ständig ausgeübt
kation ist jedoch ein sehr komplexes Geschehen und wird. Und doch gibt es gleichzeitig kaum etwas im
hierdurch sehr störanfällig. Nicht immer versteht Leben, das so oft für Missverständnisse verantwort-
der Gesprächspartner das Gesagte so, wie es ge- lich ist wie eine missglückte Kommunikation.
meint ist. Die Folge hiervon sind Kommunikations- Im menschlichen Zusammenleben erfüllt die
störungen, die sich nicht nur auf den Informations- Kommunikation vielfältige Aufgaben:
fluss, sondern auch auf die Beziehung zwischen den ■ Kommunikation ermöglicht den Austausch, die
Gesprächspartnern auswirken können. Vermittlung und die Aufnahme von Sachinforma-
Sowohl im persönlichen als auch im beruflichen tionen.
Bereich sind deshalb Kenntnisse über die verschie- ■ Kommunikation ermöglicht den Austausch, die
denen Ausdrucksformen und möglichen Störfak- Vermittlung und die Aufnahme von Gefühlen,
toren der Kommunikation unerlässlich. Mögliche Empfindungen und Bedürfnissen.
Störfaktoren erkennen hilft, Kommunikationsstö- ■ Kommunikation ermöglicht die Einflussnahme
rungen zu vermeiden, und trägt dazu bei, Kom- auf das Verhalten anderer Menschen und trägt
munikationsabläufe und zwischenmenschliche Be- so entscheidend zur Organisation menschlichen
ziehungen effektiv und erfolgreich zu gestalten. Zusammenlebens bei.
Das folgende Kapitel beschreibt die Grundlagen
zwischenmenschlicher Kommunikation, gibt Hilfen Ohne Kommunikation ist ein geregeltes Zusammen-
zum Vermeiden von Kommunikationsstörungen leben nicht denkbar. Sie bietet Menschen die Mög-
und geht auf verschiedene Gesprächsarten und -for- lichkeit, ihre Bedürfnisse zu äußern und mit ande-
men des pflegerischen Alltags ein. ren Menschen in Kontakt zu treten, um z. B. Bezie-
hungen einzugehen und aufrechtzuerhalten.
Dementsprechend kann Kommunikation als die
10 10.1 Kommunikation im Grundlage menschlicher Beziehungen bezeichnet
täglichen Handeln werden. Deshalb ist Kommunikation auch eine
Form der Interaktion zwischen Menschen. Dabei re-
Definition: Als Kommunikation wird der Pro- gelt die Sprache als Kommunikationsmittel zu einem
zess der Informationsübertragung zwischen In- wesentlichen Teil menschliches Zusammenleben.
dividuen mittels sprachlicher (verbaler) und/ Zwischenmenschliche Beziehungen sind auch die
oder nichtsprachlicher (nonverbaler) Ausdrucksmittel Grundlage zwischen Pflegeperson und Patient. Der
bezeichnet. Pflegeprozess ist sowohl ein Problemlösungs- als
auch ein Beziehungsprozess.
In einer hochtechnisierten Zeit findet Informations- Ein wesentliches Mittel zum Aufbau einer profes-
austausch als eine besondere Form auch zwischen sionellen Beziehung zum hilfsbedürftigen Menschen
Mensch und Maschine (als Hilfsmittel) statt. ist die Kommunikation mit ihren verschiedenen For-
Im Zusammenhang mit der Pflege interessiert men. Ohne Kommunikation ist das Pflegeprozess-
vor allem die Kommunikation zwischen Menschen. geschehen nicht denkbar.
Diese Art der Kommunikation wird auch als inter- Aus diesem Grund ist kommunikative Kom-
personale bzw. zwischenmenschliche Kommunikati- petenz eine Voraussetzung für pflegerisches Han-
on bezeichnet. deln und im Weiteren auch die Grundlage des be-
ruflichen Miteinanders.
Definition: Kommunikation ist die Verständi-
gung durch die Verwendung von Zeichen und
Sprache, die der Übertragung und dem Aus-
tausch von Informationen dienen.
Störungen
psychologische/semantische
Kommunika- De-
Sender Codieren tionsmittel codie- Empfänger
Kommunika- ren
tionskanal
Nachricht
Feedback
Psychologe Watzlawick, der sich u. a. mit mensch- ■ Kommunikation geschieht in einem Regelkreis
licher Kommunikation beschäftigte, formulierte (Feedback-Schleife),
hierzu folgenden Grundsatz: „Jedes Verhalten er- ■ Kommunikation kann bei Störungen zu Missver-
zeugt ein Gegenverhalten!“ ständnissen führen.
Hierdurch schließt sich der Regelkreis und be-
ginnt von neuem. In allen Sequenzen verbergen
sich mögliche Störfaktoren, die den Regelkreis der 10.3 Formen der Kommunikation
Kommunikation behindern können. Insbesondere
im Bereich der Codierung und Decodierung können Der Mensch verfügt durch verbale (sprachliche) und
Missverständnisse auftreten, da diese Bereiche den nonverbale (nicht-sprachliche) Ausdrucksmöglich-
Gesprächspartnern viel Gestaltungsfreiheit erlauben. keiten über zwei Hauptformen der Informations-
Die Ursachen für mögliche Störungen sind vielseitig: übertragung. Auf die verschiedenen Ausdrucksfor-
sie können sowohl im semantischen als auch im psy- men und ihre Bezüge zueinander wird in den fol-
chologischen Bereich, also der Wahrnehmung liegen. genden Teilkapiteln eingegangen.
Semantische Störungen stehen häufig im Zusam-
menhang mit dem gewählten Kommunikationsmit- 10.3.1 Verbale Kommunikation
tel. Wenn Sender und Empfänger einer Nachricht Zur verbalen Kommunikation wird das gesprochene,
nicht dieselbe Sprache sprechen oder ein Vokabular das geschriebene und auch das vertonte Wort ge-
gewählt wird, das dem Empfänger nicht vertraut ist, zählt. Sprache und Stimme eines Menschen als Trä-
kann die gesendete Nachricht nicht entschlüsselt ger der verbalen Kommunikation spielen eine ent-
werden. Gleiches gilt für nonverbale Kommunikati- scheidende Rolle.
onsmittel wie Mimik, Gestik, etc., die z. B. in verschie- Die verbale Kommunikation wird auch als digita-
denen Kulturen unterschiedliche Bedeutung haben. le Kommunikation bezeichnet. Sprache ist die diffe-
Psychologische Störungen des Regelkreises hän- renzierteste Möglichkeit, sich ganzheitlich dar-
10
gen i. d. R. mit der psychischen Verfassung des Sen- zustellen. Kinder erwerben das Sprachverständnis
ders oder Empfängers einer Nachricht zusammen. etwa im zweiten, das Sprachvermögen im dritten
Eine wichtige Rolle spielt hierbei auch die bestehen- Lebensjahr. Ob die Fähigkeit des Spracherwerbs ge-
de Beziehung zwischen den Kommunikationspart- netisch bedingt ist, wird bis heute kontrovers dis-
nern. Kommunikation wird beeinflusst von den ver- kutiert.
schiedenen Beziehungen (Rollen und Erwartungen, Gesichert ist dagegen die Tatsache, dass Men-
berufliche Positionen) von Menschen zueinander, schen ein gewisses sprachliches Umfeld benötigen,
aber Kommunikation beeinflusst auch die Gestal- um sprechen zu lernen. Um herauszufinden, welche
tung von Beziehungen. Nationalsprache isolierte Menschengruppen erler-
nen würden, wurden um das 15. Jahrhundert von
!
Merke: Im Regelkreis der Kommunikation dem schottischen König James IV. recht unmensch-
bedienen sich Sender und Empfänger ver- liche Versuche durchgeführt. Die isolierten Men-
schiedener Kommunikationsmittel und -ka-
näle, um sich zu verständigen. Um eine gesendete
Nachricht verstehen zu können, muss der Code des
Senders vom Empfänger decodiert werden. Gelingt
dieses nicht, kann es zu Kommunikationsstörungen
kommen.
Zusammenfassung:
Interpersonale Kommunikation
■ Aufgaben: Kommunikation von Sachinformationen
und Mitteilungen über Gefühle,
■ wesentliches Mittel zum Aufbau einer professionel-
len Beziehung zum Patienten, Abb. 10.2 Kommunikation ist ein wesentlicher Bestandteil pro-
fessioneller Pflege
schen entwickelten aber wider Erwarten eine ganz ausgegangen werden muss, dass diese die Fachspra-
eigene Laut- und Zeichensprache. Daraus kann zum che nicht beherrschen.
einen geschlossen werden, dass Menschen in Grup-
!
pen eine Art Sprache als Kommunikationsmittel Merke: Die sprachlichen Aspekte Sprach-
entwickeln, dass aber zum Erlernen einer bestimm- code, Dialekt und Fachsprache können zu
te Nationalsprache ein entsprechendes sprachliches Kommunikationsstörungen führen, wenn
Umfeld nötig ist. die Sprache (das Kommunikationsmittel) vom Emp-
Das soziale Umfeld wirkt sich auf Art und Um- fänger nicht decodiert werden kann.
fang des Wortschatzes aus. Dieser wird unterschie-
den in einen aktiven Wortschatz, also Wörter, die Die Fähigkeit, die Stimme einzusetzen, ist abhängig
von einem Menschen in Sprache und Schrift ver- von anatomischen und physiologischen Vorausset-
wendet werden, und einen passiven Wortschatz, zungen und entwickelt sich durch Erziehung, Ge-
d. h. Wörter, die lediglich verstanden werden. Eine wohnheiten und Erfahrungen. Ihr Einsatz kann trai-
erfolgreiche Kommunikation ist allerdings auch ab- niert werden. Sie dient als natürliches Kommunika-
hängig vom Sprachcode, den eine Person aufgrund tionsmittel des gesprochenen Wortes und besitzt
von Erziehung und sozialer Umgebung erfahren hat. eine starke Ausdruckskraft. Sie kann beim Ge-
Wissenschaftler unterscheiden diesbezüglich den sprächspartner gewollte, aber auch ungewollte
restringierten vom elaborierten Sprachcode. Empfindungen auslösen.
Der restringierte Sprachcode ist u. a. gekenn- Der Klang einer Stimme wird als tief, hoch, rau,
zeichnet durch geringe Ausdrucksalternativen und nasal, hell, sanft etc. beschrieben. Ferner vermitteln
eine bildliche Darstellung von Sachverhalten. Der Aspekte wie Geschwindigkeit und Rhythmus dem
elaborierte Sprachcode zeichnet sich demgegenüber Empfänger Informationen über die Befindlichkeit
aus durch einen differenzierten Wortschatz und die des Senders.
Fähigkeit, abstrakte Sachverhalte verbal darstellen
10
zu können. Beispiel: Einen Menschen, dessen Stimme in
Innerhalb einer Landessprache werden zudem den Ohren des Empfängers ungewöhnlich
häufig Dialekte gesprochen, die je nach Situation hoch klingt, durch schnelle Sprechgeschwin-
zum Gelingen, aber auch Misslingen von Kommuni- digkeit gekennzeichnet ist, einen unregelmäßigen
kationsabläufen beitragen können. Sprache und Rhythmus hat, wobei vielleicht sogar Wortsilben ver-
Wortschatz variieren z. B. aber auch zwischen ein- schluckt werden, wird der Empfänger wahrscheinlich
zelnen Berufsgruppen. Hier werden häufig soge- als aufgeregt interpretieren, selbst dann, wenn die
nannte „Fachsprachen“ gesprochen, da die Alltags- verwendeten Worte sehr sachlich sind.
sprache mit ihren regionalen und sprachlichen Va-
rianten und individuellen persönlichen Prägungen Auch die Betonung der einzelnen Worte kann die
einer fachlichen Verständigung nur begrenzt gerecht eigentlichen Gedanken des Senders verraten. Je
werden kann (s. a. Band 2, Kap. 4). nach der Beziehung der beiden Kommunikations-
Eine Fachsprache dient dem effizienten und öko- partner kann die Stimme unterschiedliche Empfin-
nomischen Informationsaustausch innerhalb bzw. dungen auslösen, wie z. B. Verärgerung, Betroffen-
zwischen Berufsgruppen. Ein Ansatz einer einheitli- heit oder auch Besorgnis. Welche Ausdruckskraft al-
chen Fachsprache in der Pflege ist die Anwendung lein die Stimme im Rahmen der verbalen Kommuni-
von Pflegediagnosen (s. a. Kap. 7). kation hat, wird besonders beim Telefonieren deut-
So sehr die Fachsprache in der Kommunikation lich, da hier die optische Wahrnehmung des Ge-
zwischen Berufsangehörigen und im Rahmen der sprächspartners vollständig entfällt.
Professionalisierung der Pflegeberufe von Nutzen
ist, darf sie als Kommunikationsmittel jedoch nur 10.3.2 Nonverbale Kommunikation
in Situationen verwendet werden, in denen beide Definition: Die nonverbale Kommunikation
Kommunikationspartner diesen Sprachcode verste- bezieht sich auf die Körpersprache und wird
hen. In der Kommunikation zwischen Pflegeper- über Körperhaltung, Mimik und Gestik aus-
sonen und hilfsbedürftigen Menschen sollte sie des- gedrückt.
halb nicht eingesetzt werden, da zunächst davon
Aber auch Gegenstände, wie etwa ein Blumenstrauß Unter dem Begriff Gestik werden alle mensch-
als Zeichen der Zuneigung, haben zu entsprechen- lichen Gebärden zusammengefasst. Vor allem die
den Anlässen eine eigene Aussagekraft. Bewegungen der Arme und Hände begleiten die ver-
Etwa 65 % des Kommunikationsablaufes erfolgen bale Kommunikation. Sie werden auch als Aus-
über den Einsatz von Körpersprache, die i. d. R. un- drucksbewegungen bezeichnet und können zur Ver-
bewusst vonstatten geht. Die Körpersprache hat also stärkung des gesprochenen Wortes eingesetzt wer-
einen wesentlichen Anteil an der zwischenmensch- den.
lichen Kommunikation. Wird diese Tatsache im Ge- Als Mimik wird das Mienenspiel des Gesichtsaus-
spräch beachtet und werden die nonverbalen Sig- drucks mittels Gesichtsmuskulatur bezeichnet. Auch
nale in der Kommunikation berücksichtigt, kann der Gesichtsausdruck eines Menschen kann Infor-
Missverständnissen vorgebeugt werden. mationen über seine emotionale Stimmung geben.
Lachen, Weinen, Stirnrunzeln etc. sind beobachtbare
!
Merke: Körpersprache qualifiziert die ver- mimische Ausdrucksmöglichkeiten.
bale Kommunikation zusätzlich und gibt
!
Aufschluss über Gefühle und Beziehung der Merke: Der Kommunikationswissenschaft-
Gesprächspartner zueinander. ler Paul Watzlawick betont die Bedeutung
nonverbaler Aspekte in der Kommunikation,
Die Körperhaltung eines Menschen bestimmt ganz indem er den Grundsatz formuliert: „Man kann nicht
wesentlich den Eindruck, den dieser bei einem an- nicht kommunizieren. Alles Verhalten in einer zwi-
deren hinterlässt. Häufig ist die Körperhaltung Aus- schenmenschlichen Situation hat Mitteilungscharak-
druck der emotionalen Stimmung eines Menschen. ter“.
Beispiel: Eine gekrümmte Körperhaltung Jedes Verhalten und jede Körperhaltung, aber auch
mit hängenden Schultern und eingezogenem Schweigen bzw. Regungslosigkeit, wirkt beim Ge-
10
Kopf lässt z. B. auf ein mangelndes Selbst- sprächspartner und erzeugt immer ein Gegenver-
wertgefühl oder auf eine momentane Niedergeschla- halten.
genheit schließen. Demgegenüber drückt eine gerade
!
Haltung mit erhobenem Kopf und straffen Schultern Merke: Zu den nonverbalen Kommunikati-
eher positives Selbstwertgefühl oder eine momentan onsformen gehören Körperhaltung, Mimik
gehobene Stimmung aus (Abb. 10.3). und Gestik.
Damit wird deutlich, dass die Art der Körperhaltung ▌ Kulturelle Besonderheiten nonverbaler
im Rahmen der Kommunikation ebenfalls Informa- Kommunikation
tionen bzw. Nachrichten übermittelt. Die Kommunikation über nonverbale Ausdrucks-
möglichkeiten ist stark von der Zugehörigkeit zu
einer kulturellen Gruppe geprägt. Körperhaltung,
Mimik und Gestik werden in unterschiedlichen Kul-
turen mit unterschiedlicher Bedeutung belegt. So
stellt das Kopfnicken in unserem Kulturkreis eine
bejahende Geste, das Wiegen des Kopfes eine Hal-
tung der Skepsis dar. In manchen indischen Regio-
nen wird unter dem Wiegen des Kopfes jedoch eine
Geste der Zustimmung verstanden.
!
Merke: Die räumliche Distanz kennzeichnet Handbewegung mit einem resignierten Gesichtsaus-
die Art einer Kommunikationssituation und druck, passen verbale und nonverbale Kommunika-
zeigt die Beziehung zweier Menschen zuei- tion nicht zueinander (Abb. 10.4). Diese Art der Bot-
nander auf. Es werden die öffentliche, die soziale, die schaft ist für den Gesprächspartner schwierig zu in-
persönliche Distanz und die Intimdistanz unterschie- terpretieren. Der Empfänger der Botschaft ist unsi-
den. cher, ob er der verbalen oder nonverbalen Nachricht
Glauben schenken soll. Inkongruente Botschaften
10.3.3 Kongruenz und Inkongruenz der bedürfen deshalb unbedingt der Klärung (s. a. 10.4).
Nachricht Verschiedene Situationen, emotionale Empfin-
Verbale und nonverbale Kommunikation mit ihren dungen, Hoffnungslosigkeit, Ärger etc. können Ursa-
jeweiligen Aspekten gehören eng zusammen. Sie che für das mehrdeutige Verhalten des betreffenden
können sich gegenseitig ergänzen, aber auch im Wi- Menschen sein. Oftmals hängt es damit zusammen,
derspruch zueinander stehen. Stimmt die Körper- dass der Sender sich selbst über eine Situation un-
sprache mit der verbalen Aussage und dem Tonfall klar ist. Um in dieser Situation eine weitere erfolg-
überein, wird dies als kongruente Botschaft be- reiche Kommunikation zu ermöglichen, liegt es an
zeichnet. dem Gegenüber, in obigem Beispiel an der Pflege-
person, durch gezieltes Nachfragen die eigentliche
Beispiel: Äußert z. B. ein hilfsbedürftiger Botschaft zu ermitteln (Abb. 10.5).
Mensch gegenüber einer Pflegeperson seine
Angst vor einer Operation, neigt dabei sei- 10.3.4 Beziehungen und Kommunikation
nen Kopf und lässt die Schultern fallen, so wird seine Wie kommuniziert wird, ist auch abhängig von der
Aussage von der nonverbalen Ausdrucksform bestä- bereits bestehenden Beziehung, die von Rollen-
tigt und bekräftigt. Die verbale Nachricht „Ich habe erwartungen geprägt wird. Menschen haben auf-
Angst vor der Operation“ wird durch die nonverbale grund ihres Alters, ihrer beruflichen Position, ihrer
Nachricht (gesenkter Kopf, hängende Schultern) un- privaten Umgebung usw. bestimmte Aufgaben zu
!
Merke: Watzlawick formuliert hierzu den tution, wie z. B. dem Krankenhaus, die verschiede-
Grundsatz: „Jede Kommunikation hat einen nen Kompetenzbereiche mit Weisungsbefugnis ein
10
Inhalts- und einen Beziehungsaspekt“. Das Grund für asymmetrische Kommunikation.
„Was“ einer Nachricht deutet dabei auf den Inhalt
hin, das „Wie“ der Nachricht auf die Beziehung der ▌ Symmetrische Kommunikation
Gesprächspartner, und beinhaltet, wie der Sender die Die symmetrische Kommunikation stellt ein Streben
Nachricht vom Empfänger verstanden haben möchte. nach gleichberechtigter Kommunikation und nach
Verminderung von Rollen- und Statusunterschieden
Kommunikation bzw. Interaktion kann in Abhängig- dar. Sie ist gekennzeichnet durch den gemeinsamen
keit von Beziehungen, Rollen und Positionen in vier partnerschaftlichen Informationsaustausch. Die
verschiedene Grundtypen unterschieden werden, Kommunikation verläuft auf einer Ebene, d. h., es
die alle je nach Situation ihre Vor- und Nachteile besteht kein Hierarchiegefälle, also z. B. keine Wei-
sowie ihre Berechtigung haben können: es geht um sungsbefugnis.
die asymmetrische, die symmetrische, die wechsel- Die symmetrische Kommunikation findet unter
seitige Kommunikation sowie die Pseudokommuni- gleichberechtigten Kollegen, Freunden, Ehepartnern
kation. usw. statt. Sie ist die zwischen Pflegepersonen und
hilfsbedürftigem Menschen geeignete Gesprächs-
▌ Asymmetrische Kommunikation form, um eine vertrauensvolle Beziehung zu för-
Die asymmetrische Kommunikation ist durch ein dern.
Hierarchiegefälle, durch Rollenunterschiede der
kommunizierenden Personen gekennzeichnet, wie ▌ Wechselseitige Kommunikation
z. B. eine unterschiedliche Machtverteilung. Dabei Von einer wechselseitigen Kommunikation ist die
verläuft die Kommunikation nach bestimmten Re- Rede, wenn die Gesprächspartner wechselseitig
geln, wobei der „Ranghöhere“ aufgrund seiner Auto- sachlich und zielgerichtet Bezug nehmen auf die In-
rität z. B. Anweisungen, Befehle oder Empfehlungen formationen. Nur wenn sie jeweils genau auf die
von Verhaltensweisen erteilt und somit das Verhal- Inhalte des Gesagten, d. h. auf die Argumentation
ten des Gegenüber dirigieren und kontrollieren des Gesprächspartners eingehen, kann das Ge-
kann. sprächsziel erreicht werden. Daher bildet die wech-
▌ Pseudokommunikation
Die Pseudokommunikation hat bestimmte Rituale,
wie es z. B. bei einer Vereidigung oder einem Gottes-
dienst der Fall ist. Es gibt eine feste Rollenverteilung
und religiöse Rituale.
Die Absicht der Kommunikation ist bereits vor Abb. 10.6 Rollenmerkmale und äußere Attribute einer Rolle
der eigentlichen Durchführung bekannt, so dass die nehmen Einfluss auf die Kommunikation
Kommunikationspartner nach einem festgelegten
und ihnen bekannten Schema agieren können.
!
Ebenso ist die Position und Beziehung der Kom- Merke: Kommunikation und die Gestaltung
munizierenden bereits im Vorfeld festgelegt. von Beziehungen wird u. a. beeinflusst von
Erwartungen an Personen aufgrund ihrer
▌ Rollenmerkmale beruflichen Rolle. Diese kann durch äußere Rollen-
Die Beziehungen bei der Kommunikation werden oft merkmale verstärkt werden.
durch Rollenmerkmale verstärkt, wie z. B. äußere
Attribute oder stumme Merkmale, die eine Aus- Zusammenfassung:
sagekraft (Signalkraft) besitzen und dadurch zu Beziehung und Kommunikation
einem automatischen Verhalten führen können. Äu- ■ Asymmetrische Kommunikation ist gekennzeich-
ßere Attribute können sich positiv oder negativ auf net durch Rollenunterschiede und ein Hierarchie-
eine Beziehung auswirken. gefälle.
■ Symmetrische Kommunikation bezeichnet die
10
Beispiel: So geben im Krankenhaus die Klei- Kommunikation zwischen gleichberechtigten Ge-
dung, deren Farbe und das Namensschild sprächspartnern.
einer Person klare Signale über ihre Positi- ■ Wechselseitige Kommunikation meint den wech-
on, Stellung und Aufgabe, wodurch eine Rollen- selseitigen Austausch aufeinander bezogener Äu-
zuschreibung stattfindet, die dann die Form der Kom- ßerungen.
munikation und der Beziehung beeinflusst bzw. regelt ■ Pseudokommunikation erfolgt mittels festgelegter
(Abb. 10.6). Schemata.
■ Rollenmerkmale und äußere Attribute einer Rolle
Ähnlich kann es einem Menschen ergehen, der beeinflussen die Kommunikation und die Bezie-
einem anderen zum ersten Mal begegnet und auf- hungen zwischen Gesprächspartnern.
grund äußerer Merkmale zu einer Bewertung des
anderen kommt.
Auch frühere Erfahrungen spielen eine Rolle. 10.4 Das Kommunikationsmodell
nach Schulz von Thun
Beispiel: Wenn Kinder von einer Person in
weißer Kleidung eine schmerzhafte Spritze Erfolgreiche Kommunikation ist nicht nur von den
erhalten haben, werden die äußeren Attri- bereits beschriebenen Aspekten abhängig. Der deut-
bute, wie z. B. der weiße Kittel, mit erlebten Schmer- sche Professor Friedemann Schulz von Thun, der
zen verbunden und lösen die Erinnerung an eine un- sich an der Universität Hamburg im Fachbereich
beliebte Situation aus. Psychologie intensiv mit Informationsvermittlung
beschäftigt hat, entwarf 1977 ein Modell der Kom-
Damit wird die Kommunikation dann stark beein- munikation, das auch als „Quadrat der Nachricht“
flusst von den Erwartungshaltungen und den Rol- bezeichnet wird (Abb. 10.7).
lenzuschreibungen zwischen den Kommunikations-
partnern.
Das Modell basiert auf Entwicklungen von Bühler onsgeschehen in den Bereichen „Codierung“ und
(1934) und Watzlawick (1969). Schulz von Thun „Decodierung“ der Nachricht, die in der Abb. 10.1
geht in seinem Modell davon aus, dass jede gespro- bereits angesprochen wurden. Im Folgenden werden
chene Nachricht vier Aspekte beinhaltet: einen die vier Aspekte einer Nachricht näher beschrieben
Sachaspekt, einen Selbstoffenbarungsaspekt, einen (Abb. 10.8).
Beziehungsaspekt und einen Appellaspekt. Die As-
pekte werden auch als die „Seiten einer Nachricht“ 10.4.1 Vier Seiten einer Nachricht
bezeichnet. ▌ Sachaspekt
Das Modell beschreibt, dass innerhalb einer ein- Der Sachaspekt einer Nachricht umfasst die reine
zigen Aussage vier verschiedene Informationen sachliche Information. Die Sachlichkeit einer Nach-
i. d. R. unterschiedlicher Bedeutung weitergegeben richt ist dann gegeben, wenn weitere versteckte
werden, obwohl nur der Sachaspekt wörtlich aus- oder auch offene Botschaften, die noch der Decodie-
gesprochen wird. Schulz von Thun unternimmt rung bedürften, den Informationsaustausch nicht
eine differenzierte Beschreibung des Kommunikati- stören und keinen Einfluss nehmen.
Sachinhalt
offenbarung
Selbst-
Appell
10 Beziehung
Sachinhalt
offenbarung
„Ich bin
Appell
Beziehung
„Aufgrund Ihres
Verhaltens konnte
ich nicht schlafen!“
Beispiel: Herr M. morgens zur nachtdienst- Beispiel: Herr M., dessen Nachtruhe durch
habenden Pflegeperson: „Jedesmal, wenn Sie das Hereinkommen der Pflegeperson unter-
ins Zimmer kamen, bin ich aufgewacht und brochen wurde, könnte je nach Gesichtsaus-
habe ewig gebraucht, bis ich wieder einschlafen konn- druck, Tonfall und Betonung der Worte der Selbst-
te.“ Die Sachinformation dieser Aussage beinhaltet, offenbarungsaspekt sein: „Ich bin unausgeschlafen,
dass Herr M. nicht durchschlafen konnte und die was mich sehr ärgert“.
Nachtschwester mehrmals ins Zimmer kam.
Im Selbstoffenbarungsaspekt einer Nachricht ver-
!
Merke: Der Sachaspekt einer Nachricht be- birgt sich auch die Gefahr, einen falschen oder un-
inhaltet reine Informationen zur Sache. gewollten Eindruck zu hinterlassen.
▌ Beziehungsaspekt
▌ Selbstoffenbarungsaspekt Der Beziehungsaspekt einer Nachricht gibt sowohl
Nach Schulz von Thun enthält eine Nachricht neben Aufschluss darüber, wie der Sender den Empfänger
der Sachinformation auch einen Selbstoffenbarungs- sieht („Das halte ich von Dir“), als auch darüber, wie
aspekt. Dieser „offenbart“ Informationen über den er die Beziehung zum Kommunikationspartner ein-
Sender, sog. Ich-Botschaften. Dabei offenbart der schätzt. Der Beziehungsaspekt ist beeinflusst von
Sender etwas von sich und seiner Persönlichkeit. den Rollen, die Menschen einnehmen, und verbun-
Dieses kann freiwillig und bewusst oder unfreiwillig den mit entsprechenden Erwartungshaltungen (s. a.
und unbewusst geschehen. Offenbart der Sender 10.3.4). Bereits die Anrede („Du“ oder „Sie“) lässt
einer Nachricht bewusst etwas von sich und seiner eine bestimmte Beziehung erkennen. Vor allem non-
Persönlichkeit („so bin ich“), um bei seinem Ge- verbale Ausdrucksformen, wie Mimik, Gestik, aber
sprächspartner ein bestimmtes gewünschtes Bild auch der Tonfall, zeigt dem Gegenüber, was der Sen-
von sich zu produzieren, so wird diese Art der der von dem Empfänger hält.
10
Selbstoffenbarung auch als „Selbstdarstellung“ be- Gewollt oder ungewollt werden hierbei auch be-
zeichnet. Die unbewusste Selbstoffenbarung, welche stimmte Gefühle beim Empfänger der Botschaft aus-
auch „Selbstenthüllung“ genannt wird, geschieht gelöst. Strenggenommen beinhaltet der Beziehungs-
häufig über den nonverbalen (Mimik, Gestik etc.) aspekt eine „Du-Botschaft“, in der es um den Emp-
aber auch über den verbalen Ausdruck (Wortwahl, fänger selbst geht („So bist Du“; „So sehe ich Dich“).
Lautstärke). Auch sie kann zur Preisgabe persönli- Deshalb ist der Empfänger für diesen Aspekt der
cher Meinungen, Einstellungen und Emotionen des Nachricht häufig sehr sensibel.
Senders führen, ohne dass dieser sie bewusst beab-
sichtigt. Beispiel: Die Nachricht des Herrn M. könn-
te folgenden Beziehungsaspekt enthalten:
!
Merke: Der Selbstoffenbarungsaspekt lie- „Aufgrund Ihres Verhaltens konnte ich
fert Informationen über den Sender einer nicht schlafen!“ Diese Botschaft beinhaltet die Erwar-
Nachricht. Sie können bewusst oder unbe- tungshaltung, dass eine Pflegeperson in der Funktion
wusst vermittelt werden. als Nachtschwester die Ruhe auf Station gewährleis-
ten muss.
Nach Schulz von Thun ist es nicht möglich, Nach-
!
richten ohne Selbstoffenbarungsaspekt zu senden. Merke: Der Beziehungsaspekt beinhaltet In-
formationen über die Einstellung des Sen-
ders zum Empfänger und darüber, wie er
die Beziehung zwischen den Kommunikationspart-
nern einschätzt.
!
partner. Merke: Auf dem Sach-Ohr hört der Empfän-
Wird der Appellaspekt offen ausgesprochen, hat ger den Sachaspekt einer Nachricht.
der Gesprächspartner die Möglichkeit, hierauf eben-
so offen zu reagieren. Verdeckte Appelle haben
einen manipulativen Charakter, d. h., Menschen kön- ▌ Selbstoffenbarungs-Ohr
nen hierdurch ohne ihr Wissen zu der gewünschten Mit dem Ohr, welches die Selbstoffenbarung des
Verhaltensänderung gebracht werden. Senders wahrnimmt, wird der Empfänger zum
einen versuchen herauszufinden, mit wem er es zu
Beispiel: Herrn M.’s Nachricht könnte fol- tun hat. Zum anderen ist er um eine Situationsein-
genden Appellaspekt enthalten: „Kommen schätzung des Senders bemüht: „Wie geht es dem
Sie bitte nachts nicht mehr so oft bzw. leiser Sender?“ Dieser Aspekt kann sich sowohl auf eine
ins Zimmer!“ momentane Situation wie auch auf eine Lebens-
situation beziehen. Dabei kann der Empfänger an-
!
Merke: Der Appellaspekt einer Nachricht hand verbaler oder nonverbaler gesandter Botschaf-
kann offen oder versteckt sein, und umfasst ten Gefühle entdecken. Voraussetzung für den Emp-
10
die Absicht, Verhalten zu verändern. fang solcher Botschaften ist eine gewisse Sensibilität
und Offenheit für das ausgedrückte Empfinden des
10.4.2 Vier Empfangs-Ohren Senders.
Dieselben Aspekte, die beim Senden einer Nachricht
mit ihren vier Botschaften in unterschiedlicher Aus- Beispiel: Die Pflegeperson könnte registrie-
prägung beinhaltet sind, spielen beim Empfänger ren, dass Herr M. verärgert ist. Sicherlich
einer Botschaft eine wichtige Rolle. Sie werden be- gibt es weitere Möglichkeiten, wie die Pfle-
züglich des Empfängers die vier „Empfangs-Ohren“ gekraft die Selbstoffenbarung des Herrn M. wahr-
genannt (Abb. 10.9). nimmt, was wiederum von der Gesamtsituation und
auch von der Befindlichkeit der Pflegeperson abhängig
▌ Sach-Ohr ist.
Der Sachaspekt einer Nachricht wird durch das ko-
gnitive Verständnis für die gesendeten Inhalte emp-
! !
Merke: Auf dem Selbstoffenbarungs-Ohr Merke: Auf dem Beziehungs-Ohr nimmt der
nimmt der Empfänger die Selbstdarstellung, Empfänger ein bestimmtes Verhältnis wahr,
Selbstenthüllung und damit verbundene Be- das vom Sender signalisiert wird.
findlichkeiten des Senders einer Nachricht wahr.
▌ Appell-Ohr
▌ Beziehungs-Ohr Mit dem Appell-Ohr hört der Empfänger, was von
Durch die Nachricht, die der Empfänger auf dem ihm gefordert wird, welches Verhalten bzw. welche
Beziehungs-Ohr hört, wird er persönlich angespro- Verhaltensveränderungen von ihm gewünscht wer-
chen. Diese Ansprache geschieht aufgrund eines be- den. Bei Übereinstimmung mit dem Sachaspekt
stimmten Verhältnisses der Gesprächspartner zuei- wird der Empfänger überlegen, was er tun kann,
nander, oder aufgrund einer vermuteten Beziehung um die Informationen umzusetzen.
durch Erwartungen an eine bestimmte Berufsgrup-
pe und die dazugehörige Aufgabe bzw. Rolle. „Wa- Beispiel: Die Pflegekraft empfängt im Bei-
rum behandelt der mich gerade so“ oder „wie redet spiel des Herrn M. mit ihrem Appell-Ohr
die Person mit mir“ und „als welche Person in wel- wahrscheinlich die Aufforderung, nachts
cher Rolle sieht mich der Sender der Botschaft“ kön- nicht mehr so oft bzw. leiser ins Zimmer zu kommen,
nen Fragen sein, die sich der Empfänger stellt. damit Herr M. durchschlafen kann.
!
Beispiel: Die nachtdiensthabende Pflege- Merke: Mit dem Appell-Ohr hört der Emp-
person fühlt sich im Beispiel des Herrn M. fänger, welches Handeln und welche Verhal-
vielleicht verantwortlich für die Gewährung tensänderung von ihm gewünscht wird.
einer ausreichenden Nachtruhe. Auf dem Beziehungs-
Ohr könnte sie die Nachricht hören: „Ich bin verant- Das beschriebene Beispiel verdeutlicht, dass das Ge-
wortlich dafür, dass Herr M. nicht schlafen konnte“ lingen von Kommunikation zu einem wesentlichen
10
(Abb. 10.10). Teil bei dem Empfänger einer Botschaft liegt.
Die eigentliche Herausforderung an den Empfän-
ger liegt darin, die Hauptnachricht zu entschlüsseln,
das Zusammenspiel von nonverbalen und verbalen
Kommunikationsaspekten zu verstehen und zu ent-
scheiden, welche Seite der Botschaft überwiegend Gefahren für Kommunikationsstörungen vermeiden
angesprochen ist, um dann entsprechend reagieren zu können, gibt Tab. 10.1 einen Überblick über sehr
zu können. Hört die Person „einseitig“, wird die ei- häufig auftretende Störfaktoren in der Kommunika-
gentliche Nachricht dann vielleicht gar nicht emp- tion.
fangen. Die Kenntnisse möglicher Störfaktoren können
helfen, Gesprächssituationen besser zu verstehen
Zusammenfassung: und daraufhin gezielt eine gelingende Kommunika-
Kommunikationsmodell (Schulz von Thun) tion anzustreben, die innerhalb des Pflegeprozesses
■ jede Nachricht hat vier Seiten: die Basis für professionelle Pflege und Teamarbeit
– Selbstoffenbarungsaspekt, darstellt.
– Beziehungsaspekt,
!
– Sachaspekt, Merke: Eine erfolgreiche Kommunikation
– Appellaspekt. ist dann gegeben, wenn das Kommunikati-
■ Der Empfänger hat die Aufgabe, die Hauptnach- onsziel für alle Beteiligten erreicht wird, die
richt zu entschlüsseln. Erwartungen an den Gesprächspartner sich somit er-
füllen und Bedürfnisse befriedigt werden können.
!
Merke: Eine Störung der Kommunikation Positionen einnimmt. Deshalb wird an dieser Stelle
liegt dann vor, wenn die an der Kommuni- keine explizite Trennung der Gesprächsregeln be-
kation beteiligten Personen ihr Ziel nicht er- züglich Sender und Empfänger vorgenommen.
reichen und dadurch die gewünschte Wirkung aus-
bleibt. ▌ 1. Eine gute Vorbereitung bestimmt den Erfolg
und das Ergebnis
Das hat zur Folge, dass z. B. Erwartungen an das Die Grundvoraussetzung für einen guten Gesprächs-
Verhalten einer Person nicht erfüllt oder eigene Be- anfang ist eine gute Vorbereitung. Hierfür muss ein
dürfnisse und die des Partners ggf. nicht befriedigt zeitlicher Freiraum geschaffen werden. Dazu sollte
werden. überlegt werden, in welche Situation sich die Ge-
Eine gestörte Kommunikation wirkt sich deshalb sprächspartner begeben, oder in welcher Situation
auch auf die Beziehung der Kommunikationspartner sich beide bereits befinden. Je nach Anlass des
aus. Kommunikationsstörungen können darüber hi- Gespräches ist es sinnvoll, dem Gespräch einen Rah-
naus auch in individuelle Lebensbereiche hineinrei- men zu geben, d. h. die Intention (Absicht) der Kom-
chen. Kontaktprobleme, Schulversagen, Einsamkeit, munikation kurz zu schildern, damit sich die
Depressionen u.v.m. bis hin zu Selbstmordgedanken Gesprächspartner darauf einstellen können. Zum
können Folgen von andauernden Kommunikations- richtigen Anfang gehört auch die Auswahl des Zeit-
störungen und damit verbundenen Konflikten sein. punktes, um dem Gespräch einen entsprechenden
Im Bereich des Pflegehandelns kann es aufgrund zeitlichen Rahmen zu geben (10.7).
von Kommunikationsstörungen zu Hindernissen im
Verlauf des Pflegeprozesses kommen. Um mögliche
Ungeachtet der Beziehung der Kommunikations- Worte können eine hemmende Wirkung auf die
partner zueinander lautet eine Hauptregel, die Per- Kommunikation haben, wenn sie z. B. unverständ-
spektive (Sichtweise) des Gegenüber zu berücksich- lich sind oder einen Inhalt bewerten. Auch die Fä-
tigen. Das verlangt von den Gesprächspartnern die higkeit, einen elaborierten Sprachcode anzuwenden,
Fähigkeit, sich in den anderen hineinversetzen zu hemmt die Kommunikation, wenn der Gesprächs-
können, um ggf. für einen Moment seine Sichtweise partner einen restringierten Sprachcode verwendet.
annehmen und so seine Argumente verstehen zu Die Nachricht bleibt dem Gesprächspartner unver-
können. Wird diese Regel berücksichtigt (unter- ständlich. Um solche semantische Kommunikations-
stützt durch gezieltes Nachfragen, s. a. Feedback), störungen zu vermeiden, sollte darauf geachtet wer-
ist der Boden für eine symmetrische Kommunikati- den, dass
on bereitet. ■ beide Gesprächspartner denselben Sprachcode
verwenden, oder bei Anwendung unterschiedli-
!
Merke: Den Gesprächspartner ernst neh- cher Sprachcodes diese gegenseitig verstanden
men zeigt sich in der Wertschätzung und werden,
in dem ihm entgegengebrachten Respekt, ■ die Sprache und Ausdrucksweise des Gesprächs-
nicht in der Übereinstimmung der Meinungen. partners berücksichtigt wird,
■ Fachsprache vermieden wird, sobald diese von
einem Gesprächspartner nicht verstanden wer-
den kann,
■ eine eindeutige, klare Sprache verwendet wird, deutlich, von wem diese Nachricht eigentlich aus-
■ neutrale, nicht wertende Worte benutzt werden, geht. So kann es sich um eine Tatsache oder eine
um eine ungewollte Betroffenheit zu vermeiden. Meinung handeln. Ferner kann eine Nachricht be-
drohlich wirken, wenn durch „Wir“-Sprache die
!
Merke: Kommunikation kann durch die ganze Welt hinter einer Aussage zu stehen scheint.
Auswahl der für die Gesprächssituation an- In der Pflege erhält die „Wir“-Sprache ihre Bri-
gemessenen Worte und Sprachcodes positiv sanz zudem dadurch, dass Tätigkeiten zwar ange-
beeinflusst werden. kündigt, jedoch praktisch nur von einer Person
durchgeführt werden: „Wir waschen uns jetzt“. Bes-
▌ 4. Den geeigneten Kommunikationskanal ser wäre: „ich unterstütze Sie bei der Körperpflege“.
ansprechen Durch die Verwendung einer klaren Ich-Botschaft
Dieser Aspekt beinhaltet, sich zu überlegen, wie der erhält die Kommunikation ihre Deutlichkeit. Des-
Gesprächspartner die Nachricht empfangen kann. So halb sollten folgende Punkte beachtet werden:
ist es wenig sinnvoll, eine Broschüre zur Information ■ Ich-Botschaften senden und für sich selbst spre-
zu geben, wenn die betreffende Person an einer Seh- chen, es sei denn, es wird im Namen einer be-
einschränkung leidet. Um also diesbezüglichen stimmten Gruppe gesprochen. Dazu gehört auch
Missverständnissen vorzubeugen, muss eine dem das Aussprechen von Befürchtungen oder von
Gesprächspartner entsprechende Möglichkeit ge- dem, was einem nicht gefällt.
funden werden, die Nachricht verständlich und an- ■ „Wir“- und „Man“-Redewendungen sollten ver-
sprechend zu übermitteln. mieden werden, um Verallgemeinerungen ein-
zuschränken.
!
Merke: Die Auswahl eines oder mehrerer ■ Die eigene Meinung sollte nicht durch „Man“-Re-
geeigneter Kommunikationskanäle hilft, dewendung als Tatsache verkleidet, sondern als
Missverständnisse zu vermeiden. „Ich meine“, „Ich denke“ formuliert werden, um
10
herauszustellen, dass es um die persönliche Mei-
▌ 5. Die Eindeutigkeit der Körpersprache beachten nung geht.
Dem nonverbalen Verhalten in Kommunikations-
!
situationen kommt eine wesentliche Bedeutung zu. Merke: Das Senden von Ich-Botschaften
Zu beachten ist verdeutlicht den Inhalt einer Nachricht
■ eindeutige Signale gesendet werden, die der Ge- sowie die Beziehung der Gesprächspartner
sprächspartner verstehen kann, zueinander und zeigt eindeutig, von wem die Nach-
■ die verbale Nachricht und die Körpersprache zu- richt ausgeht.
einander stimmig bzw. kongruent sind,
■ die Kommunikationsdistanz dem Gesprächs- ▌ 7. Ein Feedback geben
anlass entspricht, Um zu klären, ob die Nachricht auch im Sinne des
■ Blickkontakt zum Gesprächspartner hergestellt Senders angekommen ist, oder um von Seiten des
werden kann, um Bereitschaft zur Kommunikati- Empfängers Unklarheiten zu beseitigen, ist ein Feed-
on zu signalisieren. back (Rückmeldung) notwendig. Hierdurch kann in
allen störanfälligen Bereichen, sei es nun im ver-
!
Merke: Der Inhalt von Nachrichten kann balen oder nonverbalen Bereich, eine Klärung her-
durch den Einsatz von eindeutiger Körper- beigeführt werden.
sprache unterstützt und verdeutlicht wer- Liegen nicht zu deutende Botschaften im Bereich
den. der Beziehung, ist hierdurch die Möglichkeit gege-
ben, Beziehungsprobleme anzusprechen und auf-
▌ 6. Für sich selbst sprechen zudecken. Nicht vergessen werden darf auch die
Ein wesentlicher Aspekt der kommunikativen Kom- Tatsache, dass ein Feedback beim Gesprächspartner
petenz besteht darin, Verallgemeinerungen im Ge- positive Verhaltensweisen stützen und fördern
spräch, z. B. die verbreitete Anwendung von Rede- kann, weil diese im Feedback anerkannt werden.
wendungen wie „man macht“ und „wir haben uns
überlegt“ zu vermeiden. Hierbei wird nämlich nicht
Ein Feedback sollte immer aus Ich-Botschaften Folgende Aspekte gehören zu den Voraussetzungen,
bestehen. Des Weiteren helfen folgende Aspekte für um aktiv zuhören zu können:
das Gelingen des Feedbacks: ■ Von den Gesprächspartnern gehen Haltungen
■ Nachfragen gezielt stellen, um die nicht verstan- aus, die möglichst frei sind von vorgefassten Mei-
dene Botschaft möglichst genau zu benennen. nungen. Die Gesprächspartner nehmen sich
Das Feedback stellt sozusagen den Beginn eines ernst.
neuen Dialogs zwischen den Gesprächspartnern ■ Den Gesprächspartnern liegt eine wertschätzen-
dar. Der Gesprächspartner, dem das Feedback ge- de Haltung zugrunde, die weder beurteilen, Kri-
geben wurde, bekommt Gelegenheit, darauf zu tik üben, Ratschläge geben will, oder gar Schuld-
reagieren. gefühle wecken möchte. Sie ist von gegenseiti-
■ Auch durch Körpersprache wird ein Feedback ge- gem Respekt geprägt.
geben, so dass der Empfänger einer Nachricht die ■ Die Gesprächspartner haben eine möglichst sym-
Möglichkeit besitzt, eine nonverbale Rückmel- metrische Position zueinander.
dung zu senden. Diese muss jedoch eindeutig
sein. Die Form des aktiven Zuhörens empfiehlt sich, um
■ Das Feedback sollte zu einem Zeitpunkt gegeben Informationen zu gewinnen, um Konflikte zu klären,
werden, an dem der andere es auch annehmen um jemanden zu bestätigen oder zu unterstützen,
kann. oder um in einer emotionsgeladenen Situation für
■ Ein Feedback umfasst sowohl positive als auch Verständnis zu sorgen (s. a. 10.8).
negative Aspekte. Ist die Ausgangsposition der Gesprächspartner
■ Beim Anhören eines Feedbacks muss genau da- erst einmal geklärt, kann zur Problemlösung über-
rauf gehört werden, was der andere Mensch gegangen werden. Lässt sich eine Situation jedoch
sagen möchte. Der Feedbackgeber sollte nicht bereits im Anfang nicht klären, kann ggf. auf die
unterbrochen werden. Anwendung der Metakommunikation zurückgegrif-
10
■ Letztlich bedeutet Feedback-Geben die Weiterga- fen werden.
be von Informationen über die eigene Wahrneh-
!
mung. Es ist nicht dazu da, den anderen zu ver- Merke: Aktives Zuhören fördert die Quali-
ändern. tät der Kommunikation hinsichtlich des Ver-
ständnisses füreinander, der Reflexion von
▌ 8. Aktiv Zuhören Inhalten und Gefühlen sowie der Konzentration auf
Aktiv Zuhören ist mehr als nur die physiologische das Hauptanliegen des Gespräches.
Fähigkeit, mit den Ohren hören zu können und Aus-
sagen durch „mmh“ oder Kopfnicken zu bestätigen. ▌ 9. Die Möglichkeiten der Metakommunikation
Zuhören ist eine Tätigkeit, die auch mit den Augen, nutzen
dem Herzen, mit dem ganzen Körper durchgeführt Kommunikationsforscher halten das Gespräch über
wird. Es ist ein aktives Tun, das in dieser besonderen Kommunikation und Kommunikationsstörungen für
Qualität auch aktives Zuhören genannt wird. Seinen den wichtigsten Aspekt, um Klarheit zu gewinnen
Ursprung hat das aktive Zuhören in der humanisti- und Kommunikationsstörungen zu vermeiden.
schen Psychologie. Diese aktive Form des Zuhörens Metakommunikation ist die Auseinandersetzung
■ fördert die Klärung von Ausgangspositionen, um über die Art, wie Menschen miteinander umgehen.
zu einer Kommunikationsgrundlage zu gelangen, Unter dem aus der Psychologie kommenden Begriff
■ fördert das Verständnis der Gesprächspartner Metakommunikation werden dreierlei Aspekte ver-
füreinander, standen:
■ hilft, gezielte Feedbacks zu geben und darüber ■ Kommunikation über die Kommunikation,
hinaus Inhalte und Gefühle zu reflektieren, ■ Kommunikation über die Beziehung zwischen
■ fördert die Denkprozesse und trägt somit we- den Kommunikationspartnern,
sentlich zum Gelingen des Kommunikations- ■ Verdeutlichen, wie eine Information verstanden
regelkreises in allen Aspekten bei. Kommunikati- werden soll.
on wird dadurch präziser und intensiver.
Metakommunikation als Kommunikation über die Die Chancen, die Metakommunikation bietet, liegen
Kommunikation dient z. B. dazu, Verabredungen z. B. in der Entspannung einer angespannten Situa-
und Regeln für die Art und Weise, wie Personen tion oder in der Möglichkeit, Situationen zu klären,
miteinander kommunizieren möchten, zu benen- um eine gemeinsame kommunikative Basis zu
nen. Es geht also um die Gestaltung einer Kommuni- schaffen und die Zusammenarbeit konstruktiv und
kationssituation, z. B.: „Wie wollen wir unser Ge- professionell zu gestalten.
spräch gestalten? Ich schlage vor, dass zunächst
!
jeder der Anwesenden eine kurze Stellungnahme Merke: Wann immer eine Situation fest-
abgibt, bevor wir die einzelnen Punkte näher dis- gefahren erscheint, ist Metakommunikation
kutieren. Sind Sie alle damit einverstanden?“ So eine Möglichkeit, Kommunikation und
können vor dem eigentlichen Gespräch Verein- menschliche Beziehungen konstruktiv in Bewegung
barungen getroffen werden, um ein Gespräch struk- zu setzen. Metakommunikation hilft durch Auseinan-
turiert und diszipliniert zu führen. Voraussetzung dersetzung über die Kommunikationsvorgänge, Kom-
ist jedoch, dass alle beteiligten Personen die auf- munikation an sich zu verstehen und diese erfolgreich
gestellten Regeln akzeptieren können. zu führen.
Metakommunikation als Kommunikation über
die Beziehung zwischen den Kommunikationspart- Zusammenfassung:
nern dient dazu, Positionen innerhalb von Kom- Neun Regeln für erfolgreiche Kommunikation
munikationssituationen zu klären. Sie hat jedoch 1. Das Gespräch vorbereiten.
auch das Ziel, Kommunikation partnerschaftlich zu 2. Den Gesprächspartner ernst nehmen.
gestalten. Hierbei steht die Frage im Vordergrund 3. Die richtige Wortwahl treffen.
„Wie erlebe ich dich und was spielt sich zwischen 4. Den geeigneten Kommunikationskanal anspre-
uns ab?“ chen.
5. Eindeutigkeit der Körpersprache beachten.
10
Beispiel: Ein Gesprächspartner könnte die 6. Für sich selbst sprechen.
Rückmeldung geben: „Ich erlebe Sie im Mo- 7. Feedback geben.
ment als sehr aufgeregt und habe den Ein- 8. Aktiv zuhören.
druck, dass Sie sehr verärgert sind. Ist das so?“ 9. Metakommunikation nutzen.
Beispiel: Wichtig kann die Klärung sein, ob lich. Die Vorüberlegungen werden im Folgenden
die Angehörigen für die Zeit des Kranken- näher beschrieben.
hausaufenthaltes versorgt sind etc., damit
der Patient nicht durch die Sorge um die Angehörigen Zusammenfassung:
noch zusätzlich belastet ist. Kommunikation in der Pflege
■ Ziel der Kommunikation in der Pflege ist, eine pro-
!
Merke: Das Ziel der Kommunikation be- fessionelle Beziehung aufzubauen, in der erfolgrei-
steht in der Pflege u. a. darin, eine Beziehung che Pflege möglich ist.
aufzubauen, innerhalb der eine erfolgreiche ■ Mittel:
Pflege möglich wird. – Transparenz, Offenlegung des Ziels der Pflege,
– symmetrische Beziehung,
Die Qualität der Kommunikation kann jedoch sehr – Fragestellung und Feedback, aktives Zuhören.
unterschiedlich sein. Sie ist abhängig von der kom-
munikativen Kompetenz, dem eigenen Selbstver-
ständnis sowie Rollenverständnis als Pflegekraft, 10.7 Spezielle
oder aber auch von der Einstellung der Kommuni- Gesprächssituationen
kationspartner sowie den Erwartungen, die eine
Pflegeperson an den Betroffenen stellt und umge- Spezielle Kommunikationssituationen erfordern
kehrt. speziell strukturierte Vorgehensweisen. Im Pflege-
Eine wesentliche Bedingung für den gelungenen beruf werden täglich sehr spezielle Gespräche, wie
Aufbau einer Beziehung ist Transparenz. Das bedeu- z. B. Informations-, Beratungs-, Anleitungs- sowie
tet, der hilfsbedürftige Mensch erfährt z. B., warum Konfliktgespräche u. v. m., geführt. Unabhängig von
gewisse Informationen für die Pflegeanamnese er- der Art des zu führenden Gespräches sind einige
beten werden. Dadurch wird dem Betroffenen das Vorüberlegungen notwendig, um den unterschiedli-
10
Ziel des Gespräches verdeutlicht. chen kommunikativen Ansprüchen gerecht zu wer-
Notwendig ist außerdem eine gezielte Ge- den.
sprächsführung, um sich einer symmetrischen Be-
ziehung anzunähern. Spürt der zum Krankenhaus- 10.7.1 Vorüberlegungen
aufenthalt gezwungene Mensch echtes Interesse, so Die Vorüberlegungen sollen helfen, sich für eine Art
entwickelt sich ein Gespräch, das die Basis für ge- des Gespräches zu entscheiden, das Ziel zu verdeut-
genseitiges Vertrauen bilden kann. Durch aktives lichen und Besonderheiten z. B. bezüglich des Ge-
Zuhören, aufmerksame Fragestellungen und Feed- sprächspartners zu berücksichtigen.
backs gelingt es dann, eine Beziehung zu gestalten, Je nach Art des Gespräches erhält dieses somit
auf deren Grundlage gemeinsam mit dem hilfs- einen speziellen Schwerpunkt, der dann im Vorder-
bedürftigen Menschen Ziele im Pflegeprozess for- grund steht.
muliert werden können. Auch hierbei sollte die Be- Die Vorüberlegungen zur Planung von Kommuni-
deutung des Fragen-Stellens als gemeinsame Ar- kationssituationen betreffen die Kriterien Intention,
beitsgrundlage erklärt werden, um Verständnis Aufmerksamkeit, Behalten, Teilnehmen und Wahr-
und Einverständnis zu erzielen. nehmung. Die einzelnen Kriterien stehen in enger
Der betroffene Mensch wird durch das Einbezie- Wechselbeziehung zueinander; ihre Übergänge
hen zum aktiv mitgestaltenden Partner und ist nicht sind fließend.
mehr nur passiver Teilnehmer, an dem gehandelt
und der behandelt wird. ▌ Intention eines Gespräches
Um diesen Ansprüchen des Beziehungsaufbaus Zunächst können vier Leitfragen gestellt werden, um
gerecht zu werden und für das Erreichen der Ziele die Intention eines Gespräches, d. h. die Absicht, mit
zu sorgen, sind einige Vorüberlegungen notwendig. der es erfolgt, zu klären:
Diese betreffen z. B. die Bestimmung der Gesprächs- 1. Inhalt des Gespräches?
art mit dem entsprechenden Ziel sowie besonders 2. Wer ist der Gesprächspartner?
zu beachtende Aspekte z. B. bezüglich der Rahmen- 3. Grund des Gespräches?
bedingungen. Auch die Planbarkeit und Spontaneität 4. Geeigneter Moment für das Gespräch?
solcher Gesprächssituationen wird dadurch deut-
Was ist der Inhalt des Gespräches? Diese erste Frage ▌ Aufmerksamkeit
bezieht sich z. B. auf den Sachaspekt eines Gesprä- Das Kriterium Aufmerksamkeit klärt die Frage, wie
ches. Beinhaltet das Gespräch die Klärung eines der Empfänger einer Nachricht die Signale optimal
Konfliktes, kann neben dem Sachaspekt auch der empfangen kann. Konkret geht es um die Wahrneh-
Beziehungsaspekt eine wesentliche Rolle spielen. mung von Nachrichten über die verschiedenen
Nachdem diese Frage geklärt wurde, ist es not- Kommunikationskanäle (s. a. 10.1 und 10.2). Der
wendig, eine persönliche Einschätzung zur eigenen Sender einer Nachricht überlegt sich hierzu, über
Kompetenz bezüglich des zu klärenden Inhaltes vor- welchen Kommunikationskanal er den Gesprächs-
zunehmen. Das ist notwendig für die Entscheidung, partner am besten erreichen kann, um dem Emp-
ein spezielles Gespräch selbstständig durchzuführen fänger seine Nachricht zu verdeutlichen. Dement-
oder ggf. eine Fachperson zur Hilfe hinzuzuziehen. sprechend wird der Sender seine Auswahl an Kom-
Die nächste Leitfrage bezieht sich auf den Emp- munikationskanälen treffen.
fänger. Wer ist der Gesprächspartner? soll klären, Die Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit des
welche Erwartungen der Kommunikationspartner Empfängers zu erregen, besteht darin, dass nur ein
hat und über welche Erfahrungen er verfügt. Hierzu aufmerksamer Mensch Informationen aufnehmen
gehört auch die persönliche Situation des Empfän- kann. Ferner kann ein Mensch durch die Aufmerk-
gers, die z. B. beim kranken Menschen einen starken samkeit eigenverantwortlich und aktiv an Entschei-
Einfluss auf die Erwartungen an die Pflegeperson als dungen beteiligt sein.
Sender einer Nachricht ausübt. Je mehr die Pflege- Nachrichten jeglicher Art können mit den fünf
person über den Empfänger ihrer Nachricht infor- Sinnen bzw. Kommunikationskanälen aufgenom-
miert ist, desto gezielter und erfolgreicher kann die men werden: durch Sehen, Tasten, Riechen, Hören
Kommunikation gestaltet werden. und Schmecken. Ob Informationen, Geschehnisse
Die dritte Leitfrage erfasst den Grund, den ei- etc. Aufmerksamkeit erregen, hängt von zwei Fak-
gentlichen Anlass der Kommunikation. Warum fin- toren ab:
10
det das Gespräch statt? Diese Frage klärt die Art des Objektive Faktoren sind die Einflüsse von außen,
Gespräches, so dass entschieden werden kann, ob es die Aufmerksamkeit auf sich lenken können. Das
sich z. B. um ein Informationsgespräch oder ein Be- kann z. B. eine bestimmte Art der Bewegung eines
ratungsgespräch handelt. von Schmerzen geplagten Menschen sein, ein Ge-
Der vierte Aspekt zur Verdeutlichung der Inten- räusch, Musik, Situationen usw., worauf eine Person
tion von Kommunikation ist die Frage nach dem aufmerksam wird.
Zeitpunkt der Kommunikation. Wann ist der geeig- Objekte wirken z. B. in ihrer Ästhetik, durch ihre
nete Moment für das geplante Gespräch? Die Antwort Größe, Neuheit, Intensität, oder weil sie Betroffen-
darauf richtet sich nach der Art der Gesprächsinhal- heit hervorrufen. Außergewöhnliche Ereignisse er-
te. Bei Informationen, die voraussichtlich belastende regen ein größeres Maß an Aufmerksamkeit als ge-
Nachrichten darstellen, muss unbedingt der aktuelle wohnte Ereignisse, auch wenn diese gewohnten Er-
seelische Zustand des hilfsbedürftigen Menschen eignisse noch so spektakulär in ihrem Ausmaß sein
berücksichtigt werden. Weitere Faktoren, die die sollten.
Auswahl des Zeitpunktes für eine gezielte Kom- Die subjektiven Faktoren beziehen sich auf jene
munikation beeinflussen, wie z. B. der Zeitaufwand, Einflüsse in den Personen selbst. So kann Müdigkeit,
die Dringlichkeit eines Gespräches oder Rahmenbe- Verärgerung etc. die Aufmerksamkeit einer Person
dingungen (Vorbereitung des Raumes etc.), finden beeinflussen. Ferner geht es um die Faktoren, die
zuvor Beachtung. ein Mensch selber erlernt und verinnerlicht hat,
Die Frage nach der Intention eines Gespräches die verstanden werden, oder die ihn interessieren.
klärt die Absicht und den Anlass unter Berücksich- Diese inneren subjektiven Faktoren, die bei jedem
tigung der Individualität des Gesprächspartners und Menschen aufgrund von Erfahrungen und Interes-
des geeigneten Zeitpunktes. sen anders ausgerichtet sind, führen dazu, dass Be-
ziehungen, Situationen etc. auf ebenso unterschied-
liche Weise wahrgenommen werden.
Die objektiven und subjektiven Faktoren haben
folgende Konsequenz für die Planung von Kom-
duelle Einschätzung, wie Sachverhalte am besten Entsprechend sollten am Anfang und Ende eines
behalten werden können, eine bedeutende Rolle. Be- Gespräches eher positive emotionale Informationen/
rücksichtigt werden muss jedoch unbedingt: Je Nachrichten gegeben werden, da diese durch den
komplexer der zu vermittelnde Sachinhalt ist, desto gewählten Zeitpunkt am ehesten im Gedächtnis
gezielter müssen die einzelnen Schritte geplant bleiben. Wird die strukturierte und dosierte Infor-
werden. Ist das Ziel einer Nachricht das Können mationsweitergabe an hilfsbedürftige Menschen be-
einer bestimmten Maßnahme, so sollte das Wissen rücksichtigt, so kann dies das Gefühl der Sicherheit
durch baldiges praktisches Einüben gefestigt wer- in der häufig nur wenig kontrollierbaren Situation
den. Aber auch das Durchdenken und Wiederholen der Erkrankung oder Behinderung unterstützen.
von Informationen und Handlungsabläufen unter-
!
stützt das Behalten von Sachverhalten. Merke: Vorüberlegungen, wie Inhalte einer
Eine andere Ursache des Vergessens ist ein Zuviel Nachricht am besten behalten werden kön-
an neuen Inhalten, die ältere Informationen über- nen, haben zum Ziel, Gesprächssituationen
decken können, besonders dann, wenn kaum Gele- so effektiv wie möglich zu gestalten.
genheit war, die vorherigen Kenntnisse zu vertiefen.
Hier eignet sich das Vermitteln von Informationen in Zusammenfassung:
kleinen Schritten mit Pausen ebenso wie die zuvor Gespräche in der Pflege
genannten Tipps. Bei allen Gesprächstypen gelten die gleichen Vorüber-
Bedeutung hat die Verarbeitung von Nachrichten legungen für erfolgreiche Gespräche:
in kleinen Schritten aber auch für die eigene Aus- ■ Was ist die Absicht und der Anlass für das Ge-
bildung, in diesem Fall das Lernen. Wichtig ist sie spräch?
auch in der Begegnung mit vergesslichen, z. B. älte- ■ Wie bekomme ich die Aufmerksamkeit meines Ge-
ren Menschen. Erhalten diese eine Fülle von anei- sprächspartners?
nandergereihten Informationen, so sind sie schnell ■ Wie behält mein Gesprächspartner die Informatio-
10
überfordert und fühlen sich unter Druck gesetzt. nen?
Informationen wohldosiert in kleinen Schritten zu ■ Wie fördere ich seine aktive Teilnahme am Ge-
vermitteln, hilft auch dem Pflegepersonal, da es spräch?
sich stereotype Wiederholungen („das habe ich ■ Wie nehme ich meinen Partner – und er mich –
Ihnen doch schon mal erklärt“) ersparen kann. Vor wahr?
allem aber bleibt dem hilfsbedürftigen Menschen
hierdurch das Gefühl der Überforderung in der ▌ Teilnahme
neuen Umgebung erspart. Die Planung der Teilnahme zielt darauf ab, die aktive
Beteiligung des Kommunikationspartners zu för-
Beispiel: Eine einfache Übung verdeutlicht, dern. Das Kriterium der Teilnahme zieht sich durch
welche Informationen in einer bestimmten alle Vorüberlegungen zur Gestaltung von Kommuni-
Zeit behalten werden können: kation hindurch.
Lassen Sie sich von einem Gesprächspartner ca. ■ Der Sender einer Nachricht plant hierzu bereits
15 – 20 Gegenstände benennen. Anschließend ver- bei den Überlegungen zur Intention, welchen Nut-
suchen Sie, diese Gegenstände zu wiederholen, wobei zen der Empfänger von der Botschaft hat, wie er
die Reihenfolge der Nennung vernachlässigt werden diese verarbeiten kann, also wie der Kommunika-
kann. tionspartner an dem Gespräch und der ganzen
Situation zu seinem Nutzen teilnehmen kann.
Festzustellen ist, dass üblicherweise die zuerst und ■ Er überlegt sich, wie Aufmerksamkeit erregt wer-
die zuletzt benannten Gegenstände zügig wieder- den kann, also soll auch hier eine aktive Teilnah-
holt werden können, während die anderen nur me erzielt werden.
mühsam genannt bzw. nicht erinnert werden kön- ■ Der Sender überlegt, wie der Empfänger durch
nen. Besonders wichtige Informationen sollten des- Eigenbeteiligung einbezogen werden und so
halb zu Beginn bzw. zum Ende eines Gespräches Sachaspekte besser behalten kann.
gegeben werden.
Dadurch entsteht ein Dialog mit wechselseitiger Diese Problematik der unterschiedlichen Sicht-
Aufrechterhaltung der Kommunikation. Kann ein weisen kann Kommunikation erheblich erschweren.
Gesprächspartner z. B. aufgrund von Kommunikati- Deshalb muss eine Vorüberlegung bezüglich der
onsstörungen nicht mehr am Gespräch teilnehmen, Wahrnehmung sein, die Nachricht so zu senden,
ist der Dialog beendet. dass der Empfänger den Standpunkt des Senders
Um diese Teilnahme zu erreichen, ist es notwen- versteht. Hilfreich kann diesbezüglich sein, sich in
dig, Feedback einzufordern oder zu ermöglichen. die Position des Gesprächspartners hineinzuverset-
Dadurch erkennt der Sender, ob der Empfänger die zen. Voraussetzung hierfür ist, möglichst viel über
Nachricht verstanden hat, um weiterhin am Ge- den Gesprächspartner und seine besondere Situati-
spräch teilnehmen zu können. on zu erfahren. Im Rahmen des Pflegeprozesses ist
Auch das Zuhören (s. a. 10.5) ist eine aktive Teil- das insbesondere in der Phase der Informations-
nahme an der Kommunikation, auch wenn vom Zu- sammlung und Erhebung der Pflegeanamnese mög-
hörenden in diesem Moment keine verbale Aktivität lich.
erfolgt.
!
Die Vorüberlegung zur aktiven Beteiligung des Merke: Werden Personen von anderen Per-
Gesprächspartners hat den Dialog zum Ziel. Die ak- sonen wahrgenommen, so wird dieser Vor-
tive Beteiligung findet sich in allen Bereichen des gang auch soziale Wahrnehmung genannt.
Kommunikationsregelkreises, jedoch stellt das Feed-
back eines der wichtigsten Möglichkeiten zur Teil- Die Art und Weise, wie eine Person eine andere
nahme dar. wahrnimmt, wirkt sich auf den Umgang miteinan-
der aus. Die Wirkung sozialer Wahrnehmung und
▌ Wahrnehmung des weiteren Kommunikationsverlaufes zwischen
Grundsätzlich sind Aufmerksamkeit und Wahrneh- zwei sich begegnenden Menschen verdeutlicht
mung sehr eng miteinander verbunden. Wahrneh- Abb. 10.11. Wie mag die Kommunikation zwischen
10
mung dient dazu, sich ein Bild von seinem Gegen- diesen beiden Personen wohl verlaufen?
über oder von einer Situation zu machen. Bei der Weiterhin beinhaltet der Begriff soziale Wahr-
Wahrnehmung interpretiert der Empfänger die nehmung auch psychische und soziale Aspekte, wie
Nachricht auf eine bestimmte Art und Weise. Wahr- z. B. Wertvorstellungen und Vorurteile, Gelerntes,
nehmungsvorgänge geschehen zum Teil unbewusst
und auf der Basis verschiedener Einflussfaktoren. Zu
diesen Faktoren gehören
■ Selbstwahrnehmung,
■ äußere Faktoren,
■ soziale Vergleichsprozesse.
Erwartungen, die eigene momentane emotionale genschaften ihm zugeschrieben werden und wel-
Stimmung, aber auch die berufliche Position, Rollen- cher Eindruck von ihm gewonnen wurde. Mögli-
beziehungen (beruflich und privat), Bedürfnisse cherweise können mithilfe der oben genannten Leit-
sowie das persönliche Selbstverständnis. Auch die fragen Vorurteile oder Situationen aufgedeckt wer-
soziale Schichtzugehörigkeit sowie kulturelle Aspek- den, die für einen verfälschten Eindruck verant-
te haben maßgeblichen Einfluss auf die Art und wortlich sind, so dass dieser korrigiert werden kann.
Weise, wie wir unsere Mitmenschen wahrnehmen. Ein Beruf wie die Pflege verlangt eine professio-
Da Pflegepersonen immer mit Menschen zu tun nelle Einstellung: Die Haltung anderen Menschen
haben, spielt die soziale Wahrnehmung, z. B. bei der gegenüber muss von Offenheit und bewusster
Erstellung einer Pflegeanamnese, eine große Rolle. Wahrnehmung geprägt sein. Überlegungen zu den
Zur Verdeutlichung können drei Leitfragen zur so- formulierten Leitfragen können die Entwicklung
zialen Wahrnehmung hilfreich sein: einer solchen Haltung unterstützen.
1. Welche Kriterien sind wichtig, wenn sich Pflege- Durch Vorüberlegungen zur Wahrnehmung kön-
personen einen Eindruck von einem Menschen nen Wahrnehmungsverzerrungen und verfälschte
verschaffen möchten? Eindrücke von anderen Menschen vermieden wer-
2. Wie beeinflusst die äußere Erscheinung eines den.
Menschen den Eindruck, der von ihm gewonnen Tab. 10.2 gibt einen Überblick über die wichtigs-
wird? ten Aspekte der Gesprächsvorbereitung.
3. Wie bilden sich Urteile über andere Menschen? Die zuvor beschriebenen Vorüberlegungen sind
die Voraussetzungen für die im Folgenden dar-
Diese drei Leitfragen sollen die Gefahr der Wahr- gestellten speziellen Gesprächssituationen. Diese
nehmungsfehler verhindern (s. a. Band 2, Kap. 1). kommen in Institutionen des Gesundheitswesens
Wahrnehmungsfehler führen zu einem verfälsch- täglich vor.
ten Eindruck von Personen. Gelangt eine Pflegeper- Vorüberlegungen wirken sich positiv auf Ge-
10
son im Umgang mit einem hilfsbedürftigen Men- sprächsgestaltung, Erfolg, Verständlichkeit und
schen zu einem falschen Eindruck, kann das u. U. auch auf die eigene Sicherheit in besonders schwie-
eine falsche Pflegemaßnahme zur Folge haben, ggf. rigen Situationen aus. Dabei spielt Routine eine
mit weitreichenden Konsequenzen. wichtige Rolle.
Ursachen für Wahrnehmungsfehler sind zum
einen die zuvor beim Thema Aufmerksamkeit er- 10.7.2 Informationsgespräche
wähnten subjektiven Einflüsse (Emotionen, Motiva- Ein Informationsgespräch verfolgt immer ein oder
tion, Interesse, soziale Situation). Auch die physische mehrere Ziele, es ist somit zweckgebunden. Im Vor-
Konstitution einer Pflegeperson kann sich auf die dergrund steht das Erreichen von Transparenz zu
Wahrnehmung auswirken. In der täglichen Stations- einem bestimmten Thema. Auch die Aufnahme-
arbeit sind das Unruhe, Rückenschmerzen etc., die bereitschaft zur Umsetzung von Neuerungen sowie
zu Wahrnehmungsfehlern führen können. das Gewinnen von Sicherheit im Handeln sind Ziel-
Diese individuellen Befindlichkeiten können ihre setzungen eines Informationsgespräches.
Auslöser in den zuvor beschriebenen objektiven Bezogen auf die Information eines pflegebedürf-
Faktoren haben, wie z. B. in knappen personellen tigen Menschen ist auch das Erreichen von Koope-
bzw. zeitlichen Ressourcen. Hier gilt es, sich solche ration ein häufiges Ziel dieser Gespräche, da Infor-
Besonderheiten und Einflüsse auf die Wahrneh- mationen die Basis für Handeln darstellen. Unter
mung bewusst zu machen, da sie zu einem falschen Berücksichtigung des Beziehungsaspektes stellen
Eindruck von dem anderen Menschen führen kön- sie auch ein Forum für Fragen dar, um durch Trans-
nen. parenz der Informationen zu dem beabsichtigten
Da die Wahrnehmung einer der störanfälligsten Ziel zu gelangen.
Bereiche von Kommunikation ist, erscheint es not- In der Pflege haben Informationen drei Haupt-
wendig, sich in manchen Situationen klarzumachen, aspekte:
wie der Gesprächspartner gesehen wird, welche Ei-
Die Vorüberlegungen Die Aufmerksamkeit in Die Vorüberlegungen dazu, Durch Vorüberlegungen Die Vorüberlegungen
zur Intention klären fol- einer Gesprächssitua- wie sich der Gesprächspart- bezüglich der Teilnahme zur Wahrnehmung wol-
gende Aspekte: tion wird beeinflusst ner die Gesprächsinhalte am wird geplant, wie und len, um einen falschen
● Was ist der Inhalt durch: besten merken kann, berück- wann: Eindruck zu vermeiden,
des Gespräches? ● Äußere Einflüsse, sichtigen: ● Der Empfänger einer grundsätzlich klären:
● Wer ist der Ge- wie z. B. Intensität, ● Die Motivation des Ge- Nachricht aktiv an der ● Wie eine Person zu
sprächspartner? Größe, Bedeutung, sprächspartners Kommunikation teilneh- einem bestimmten
● Welches ist der An- Neuheit ● Die Ansprache der geeig- men kann Eindruck kommt
lass, der Grund des ● Innere Einflüsse, neten Sinne, der Kom- ● Ein Feedback eingeplant ● Welchen Einfluss die
Gespräches? z. B. munikationskanäle oder eingefordert wer- äußere Erscheinung
● Wann ist der geeig- Müdigkeit, voraus- ● Die Möglichkeit zur prakti- den kann. Es ermöglicht dabei spielt
nete Zeitpunkt zur gegangene Erfah- schen Übung darüber hinaus den akti- ● Wie daraufhin die
Durchführung eines rungen etc. ● Die Notwendigkeit zum ven Dialog zwischen persönliche Urteils-
Gespräches? Wiederholen und Durch- beiden Gesprächspart- bildung erfolgt
denken eines Sachverhal- nern
tes
● Das Vermitteln von Sach-
verhalten in kleinen Schrit-
ten
1. Informationen sind Basis für den Pflegeprozess, Beziehung zwischen den Kommunizierenden aus-
2. Informationen sind notwendig, um die Zusam- wirkt.
menarbeit mit anderen Berufsgruppen zum Nut-
10
!
zen des hilfsbedürftigen Menschen zu gestalten, Merke: Das Informationsgespräch ist ziel-
3. Informationen an den hilfsbedürftigen Menschen gerichtet, wobei der Sachaspekt im Vorder-
bilden die Grundlage für ein gemeinsames zielge- grund steht. Das Ziel ist, Transparenz zu
richtetes Miteinander. schaffen, um Sicherheit im Handeln zu erreichen und
Möglichkeiten zur Mitentscheidung zu schaffen.
Die Inhalte des Informationsgespräches beziehen
sich hauptsächlich auf die Vermittlung von Fakten, ▌ Informationsgespräche mit dem Patienten
wie z. B. die Vorgehensweise bei bestimmten Pflege- Im Rahmen von Informationsgesprächen mit dem
maßnahmen, Inhalte von Dienstanweisungen, Um- hilfsbedürftigen Menschen müssen Informationen
gang mit neuen Medikamenten oder die Vorstellung dem Betroffenen so angeboten werden, dass er
von Jahresstatistiken. diese verstehen und verarbeiten kann. Zur Gestal-
Der Empfänger soll aufgrund der erhaltenen In- tung eines effektiven Informationsgespräches mit
formation Nutzen daraus ziehen können und das dem pflegebedürftigen Menschen sind im Folgen-
neue Wissen auch anwenden. Dieses Wissen bildet den einige Überlegungen aufgeführt, die als Leitfa-
die Grundlage, auf der dann weitere Informationen den genutzt werden können.
aufgebaut werden können.
!
Fehler, die im Zusammenhang mit Informations- Merke: Ein maßgeblicher Aspekt für ein er-
gesprächen gemacht werden, sind die Verwendung folgreiches Informationsgespräch ist die
von Fachsprache, die nicht von allen Empfängern Auswahl von Inhalt und Zielsetzung der In-
verstanden wird, oder die Vermittlung von mehr formation. Hierauf basiert jedes weitere Vorgehen.
Informationen als verarbeitet werden können. Bei-
des kann dazu führen, dass das Ziel der Information Der Inhalt einer Information kann sehr kurz und
nicht erreicht wird. Dies sollte deshalb bereits in der wenig erläuterungsbedürftig sein, wie z. B. die Infor-
Vorbereitung ausgeschlossen werden. Es kann sonst mation über den Zeitpunkt einer angeordneten Un-
anstelle eines Gefühls von Sicherheit das der Unsi- tersuchung (sofern der Betroffene bereits durch die
cherheit entstehen, welches sich wiederum auf die zuständige Person zur Notwendigkeit aufgeklärt
▌ ▌ Besprechungen im Pflegeteam
Dienstübergabe
Ziel ist der Austausch über die aktuelle Situation Bei der Teambesprechung stehen alle Themen im
pflegebedürftiger Menschen bzw. die Gewährleis- Vordergrund, die wichtig für die Stations- bzw.
tung des Informationsflusses zwischen allen Mit- Wohnbereichsorganisation sind.
arbeitern, um so die Kontinuität der Pflege sicher- Das können z. B. Überlegungen zur Gestaltung
zustellen. Grundsätzlich kann die Dienstübergabe der Ablauforganisation sein oder Veränderungen
intradisziplinär (auf die Berufsgruppe der Pflegen- der Bestellung von Materialien oder Medikamenten,
den beschränkt) oder interdisziplinär (unter Betei- die Bekanntgabe von Dienstanweisungen, Klärung
ligung verschiedener Berufsgruppen) ablaufen. organisatorischer Probleme, Einführung neuer Pfle-
Dienstübergaben finden i. d. R. dreimal täglich statt geprodukte und -hilfsmittel etc. Sinnvoll ist es, ein
bzw. immer bei einem Wechsel der Pflegepersonen. Protokoll anzufertigen, damit jede Pflegekraft und
Da es sehr unterschiedlich organisierte Pflege- neue Kolleginnen sich über die Neuerungen infor-
systeme mit stark variierenden Zuständigkeiten der mieren können.
einzelnen Pflegepersonen gibt, wird die Übergabe
dementsprechend unterschiedlich gestaltet. Allen ▌ Arztvisite
gemeinsam ist i. d. R. jedoch die Übergabe mittels Inhaltlich dient die gängige Arztvisite dem Informa-
der dokumentierten Pflegeplanung und des Pflege- tionsaustausch zwischen:
berichts, sowie der Austausch über Beobachtungen ■ dem kranken Menschen und dem behandelnden
zur aktuellen Befindlichkeit der zu Pflegenden. Hier- Arzt,
bei werden vor allem Veränderungen und Reaktio- ■ Pflegekräften und Arzt sowie
nen eines pflegebedürftigen Menschen auf Pflege- ■ Ärzten untereinander (z. B. Chefvisiten).
maßnahmen besprochen. Dabei sollte die Bezugs-
person des pflegebedürftigen Menschen die Über- Dabei handelt es sich um Informationen bezüglich
gabe an die Mitarbeiter durchführen, da sie den je- der weiteren medizinischen Behandlung, wie z. B.
10
weiligen Menschen am besten kennt. Weitere Inhal- Festlegung der Medikamentengabe, Planung von
te der Dienstübergabe sind die Weiterleitung medi- Untersuchungen oder operativen Eingriffen, Entlas-
zinischer Informationen (Organisation, Ergebnisse sungsvorgehen etc.
von Untersuchungen, etc.). Weitere Informationsgespräche (Abb. 10.13) fin-
Um die Zeit der Dienstübergabe effektiv zu nut- den im Rahmen von Besprechungen, z. B. Stations-
zen, empfiehlt es sich, nach einer im Team bespro- leitungs-, Mentoren-, und interdisziplinären Team-
chenen Struktur vorzugehen. Diese Struktur unter- besprechungen, statt. Sie geben neben dem Informa-
stützt ein zeitökonomisches Vorgehen und verhin- tionsaustausch einen Rahmen ab für die Diskussion
dert das Vergessen wichtiger Aspekte und ausufern- von Sichtweisen und Meinungen sowie für die ge-
de Abschweifungen vom Thema. meinsame Suche nach Lösungen bei Problemen.
Die Dienstübergabe findet in einigen Institutio-
nen auch als sog. „Übergabe mit dem Patienten“
statt. Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt vor Informationsgesprche
allem darin, dass der jeweilige pflegebedürftige
Mensch in die Übergabe einbezogen wird und so
die aus seiner Sicht wichtigen Dinge ansprechen mit Patienten im Team und mit
¥ Pflegevisite anderen Berufsgruppen
kann. ¥ bergabe mit dem ¥ Dienstbergabe
Patienten ¥ Besprechung im
Pflegeteam
!
Merke: Dienstübergaben dienen der Über-
¥ Arztvisiten
mittlung pflegebezogener Informationen auf
der Basis der dokumentierten Pflegeplanung
Ziel
eines pflegebedürftigen Menschen. ¥ Transparenz
Sie kann intra- oder interdisziplinär oder als Über- ¥ Sicherheit im Handeln
¥ Mglichkeit zur Mitentscheidung
gabe mit dem Patienten organisiert sein.
Eine entscheidende Voraussetzung für Anleitungs- Beispiel: Sie gibt dann nur noch Hilfestel-
gespräche ist, die eigene Fachkompetenz bezüglich lung zu einzelnen Schritten, die Herrn Sau-
des Anleitungsthemas zu ermitteln, um Sicherheit ber noch schwerfallen.
im zu vermittelnden Sachverhalt zu erhalten.
Auch hierbei gilt, dass die Staffelung und Rollenver-
Beispiel: In obigem Beispiel muss sich die teilung nach Möglichkeit mit dem betroffenen Men-
Pflegeperson über das Thema „Kompressi- schen abgesprochen werden sollte.
onsstrümpfe“ (z. B. Notwendigkeit, Gefahren
und Probleme, Technik und Tipps bezüglich des Anzie-
hens, Pflege der Strümpfe etc.) informieren.
Beispiel: Bei Herrn Sauber könnte eine ge- Viele Menschen scheuen sich aus unterschiedlichen
plante Staffelung und die jeweilige Rolle der Gründen nachzufragen. Daher ist es sinnvoll, den
Pflegeperson wie folgt aussehen: Anzuleitenden dazu zu ermuntern auszusprechen
■ 1. Tag: Pflegeperson demonstriert und erklärt das oder nachzufragen, was ihm noch schwer fällt oder
Anziehen der Kompressionsstrümpfe; Herr Sauber unklar ist. Somit erhält der Anleiter auch gleichzei-
hört und sieht zu. tig eine Rückmeldung hinsichtlich der Verständlich-
■ 2. Tag: Herr Sauber zieht die Kompressionsstrümp- keit seiner Anleitung.
fe selbstständig unter Anleitung durch die Pflege- Beide erhalten hierdurch die Gelegenheit, eine
person an. kurze Auswertung durchzuführen, zu überlegen, ob
■ 3. Tag: Herr Sauber zieht die Kompressionsstrümp- das Vorhaben gelungen ist, die Ziele erreicht wur-
fe selbstständig an ohne begleitenden Kommentar den, oder ob ggf. zu einem anderen Zeitpunkt eine
der Pflegeperson; sie sieht zu und korrigiert, falls nochmalige Anleitungssituation notwendig ist.
nötig. Anleitungsgespräche dienen der Weitergabe von
Wissen mit dem Ziel, dieses Wissen im Folgenden
Wichtig ist, dass die anzuleitenden Menschen weder praktisch anwenden zu können. Die Zielgruppe für
über- noch unterfordert werden. Das Tempo der An- Anleitungen sind neben pflegebedürftigen Men-
leitung ist immer an die individuelle Situation und schen häufig Lernende in den Pflegeberufen oder
Aufnahmefähigkeit des Menschen anzupassen. Berufsanfänger sowie neue Mitarbeiter.
Überlegungen zu den Rahmenbedingungen be-
ziehen sich auf die zur Verfügung stehende Zeit, im Zusammenfassung:
Krankenhaus auch auf Besuchszeiten, aber auch auf Anleitung
die räumlichen Gegebenheiten. Je nach dem zu ver- Anleitungsgespräche dienen der Wissensvermittlung
mittelnden Sachverhalt und unter Berücksichtigung und praktischen Umsetzung des Wissens
der Intimsphäre empfiehlt es sich, einen ruhigen, 1. Eigene Fachkompetenz überprüfen,
10
externen Raum aufzusuchen. Zum einen gewährleis- 2. Situation des Betroffenen berücksichtigen:
tet das eine konzentrierte Anleitung, ohne Ablen- – Material zur Veranschaulichung,
kung bzw. Störungen, zum anderen bietet diese Um- – Umfang und Komplexität des Sachverhalts,
gebung einen geschützten Raum für Nachfragen des 3. Vorgehen in Teilschnitten,
Betroffenen. 4. Rahmenbedingungen der Anleitung (Raum, Zeit),
Nach den einzelnen Teilschritten oder nach der 5. Rückmeldung/Feedback; Wiederholung/Einübung.
gesamten Anleitung muss bei dem angeleiteten
Menschen unbedingt eine Rückmeldung über die 10.7.4 Beratungsgespräche
vermittelten Inhalte eingeholt werden. Hierdurch Beratungsgespräche beziehen sich inhaltlich meist
bekommt dieser einerseits die Gelegenheit, noch auf bestimmte Probleme in einzelnen Lebensberei-
nicht verstandene Aspekte der Anleitung zu erfra- chen oder -situationen, in denen der Betroffene
gen, andererseits kann eine Überprüfung erfolgen, nicht alleine zurechtkommt und Hilfe benötigt.
ob das Ziel der Anleitung erreicht worden ist. Grund-
!
sätzlich kann das Feedback bei Anleitungsgesprä- Merke: Ziel eines Beratungsgespräches ist
chen verbal durch eine kurze Wiederholung des Ge- es, den betroffenen Menschen in der Suche
lernten durch den Patienten erfolgen, in vielen Fällen nach Lösungsmöglichkeiten zu unterstützen
bietet sich jedoch eine Demonstration bzw. das prak- und/oder eine Entscheidungshilfe bei der Bewältigung
tische Wiederholen der Situation an. Gegebenenfalls neuer bzw. schwieriger Lebenssituationen zu geben.
wird daraufhin eine Korrektur vorgenommen.
Wenn pflegebedürftige Menschen mit einschnei-
Beispiel: Herr Sauber könnte entweder den denden Veränderungen ihrer Lebenssituation, z. B.
Inhalt des Anleitungsgespräches noch ein- durch die Diagnose einer chronischen Erkrankung
mal mit eigenen Worten wiedergeben oder oder auch mit der Tatsache, dass sie in ihrem häus-
einzelne Schritte der Technik des „Anziehens von lichen Umfeld nicht mehr ohne pflegerische Unter-
Kompressionsstrümpfen“ wiederholen. stützung zurechtkommen, stellt dies in der Regel
eine Situation dar, in der Beratung durch eine Pfle- Grundsätzlich findet Beratung auch institutiona-
geperson hilfreich sein kann. lisiert statt. Dabei handelt es sich oft um präventive
Grundsätzlich soll mit einem Beratungsgespräch Beratung außerhalb des Krankenhauses, wie z. B. die
der Ratsuchende in die Lage versetzt werden, selbst- Empfehlung diverser Impfungen oder die breit an-
ständig nach geeigneten Lösungsvorschlägen zu su- gelegte AIDS-Prävention.
chen und dadurch für sein weiteres Handeln auch Auch kommunale Einrichtungen bieten gesund-
Verantwortung übernehmen. Dabei muss dem Rat- heitliche Beratungsmöglichkeiten – teilweise in Se-
suchenden die Möglichkeit der Entscheidungsfrei- minaren – an. Hierzu gehören auch Angebote für
heit gegeben sein, damit die Lösung auch als eine pflegende Angehörige. Ferner haben sich Pflegeper-
für ihn akzeptable angesehen werden kann. sonen durch Weiterqualifizierungen spezialisiert,
Die Kunst der Beratung besteht darin, dem Men- um spezielle Beratungsangebote für die betroffenen
schen keine vorgefertigten Lösungen anzubieten, Menschen geben zu können wie z. B. in der Ernäh-
sondern entsprechend seiner individuellen Situation rungsberatung oder Stomaberatung.
Möglichkeiten aufzuzeigen und ihn aktiv einzube- Um beratend tätig werden zu können, sind kom-
ziehen, da die Betroffenen sich und ihre Ressourcen munikative Kompetenzen unabdingbar. Außerdem
am besten kennen. verlangen Beratungsgespräche Fähigkeiten wie:
Dabei übernimmt die Pflegeperson als Beraterin ■ fachliche Kompetenzen bezüglich des Beratungs-
die Rolle einer Impulsgeberin, die Hilfe zur Selbst- themas,
hilfe bietet, in einer lenkenden, jedoch nicht bevor- ■ soziale Kompetenzen, die dazu beitragen, die Si-
mundenden Weise (s. a. Band 4, Kap. 2). tuation und die Fähigkeiten bzw. Ressourcen des
Diese Aspekte sind die wesentlichen Unterschie- betroffenen Menschen einzuschätzen,
de zur puren Information, in der es darum geht, ■ Fähigkeit, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen
Fakten zu vermitteln, die bereits feststehen. Bei Nähe und Distanz zum ratsuchenden Menschen
einem reinen Informationsaustausch gibt es kaum einzuhalten.
10
Entscheidungsspielraum für die beteiligten Per-
sonen. Die Beratung setzt demgegenüber an den Die Planung und Vorgehensweise des Beratungs-
Fakten, den gegebenen Tatsachen an, um nach Lö- gespräches ist vergleichbar mit dem prozesshaften
sungen im Umgang mit den Gegebenheiten zu su- Geschehen der Anleitung. Die Gruppe der Rat-
chen. Der Rahmen der Entscheidungsfreiheit kann suchenden in Institutionen des Gesundheitswesens
dabei variieren und ist auch abhängig von der besteht in erster Linie aus pflegebedürftigen Men-
Dringlichkeit der Lösungssuche bzw. der notwendi- schen und deren Bezugspersonen. Beratungsgesprä-
gen Verhaltensveränderung. che finden aber auch innerhalb der pflegerischen
Berufsgruppe, z. B. zwischen Lernenden in der Pfle-
Beispiel: So wird ein junger Mensch, der ge und Pflegepersonen, oder aber auch zwischen
plötzlich mit der Situation eines insulin- neuen Kollegen und Pflegepersonen statt.
pflichtigen Diabetes mellitus konfrontiert Entsprechend beinhalten die von Pflegekräften
ist, nicht frei entscheiden können, ob er Insulin sprit- durchgeführten Beratungsgespräche mit betroffenen
zen möchte oder nicht, da die Verabreichung lebens- Menschen und deren Angehörigen fachliche Infor-
notwendig für ihn ist. Jedoch gibt es wichtige Aspekte mationen im pflegerischen Rahmen, Hilfe zur Ent-
der weiteren Lebensgestaltung, wo er selbst Entschei- scheidungsfindung, Hilfestellungen zur Bewältigung
dungen treffen kann und für die er fachliche Beratung und Auseinandersetzung mit neuen Lebenssituatio-
benötigt. An dieser Stelle können Pflegepersonen Hil- nen. Beratungsgespräche mit Lernenden in der Pfle-
festellungen (z. B. bezüglich Besonderheiten der Kör- ge betreffen meist gezielte Lernsituationen.
perpflege, sportlicher Aktivitäten u.v.m.) geben.
!
Merke: Das Beratungsgespräch dient der
Je nach Intensität der notwendigen Beratung ist zu Bewältigung veränderter Lebenssituationen
entscheiden, ob die Pflegekraft als alleinige Fach- unter der Aktivierung der Eigenverantwort-
kraft beratend tätig sein kann oder ob das Hinzuzie- lichkeit und Kompetenz des betroffenen Menschen.
hen von anderen Fachkräften notwendig ist.
Abb. 10.14 Basis-Methoden, Ziele und Leitfragen in der kollegialen Beratung (nach Tietze 2003)
10
Zusammenfassung: Die Folgen sind häufig Belastungen durch die
Kollegiale Beratung entstehende unangenehme Arbeitssituation, Un-
■ zielt auf die Lösungssuche für Probleme und He- stimmigkeiten zwischen Mitarbeitern, die das Ar-
rausforderungen im beruflichen Kontext beiten im Team erschweren, wenn das Arbeitsklima
■ wird in Gruppen nach einem festen Ablauf und mit für die betreffenden Personen unerträglich wird.
definierten Methoden durchgeführt Unabhängig von der Art der beteiligten Personen
■ Gruppenmitglieder sind gleichberechtigt in wech- können alltägliche Konflikte durch die Berücksichti-
selnden Rollen als Beratende und Ratsuchende be- gung einiger wichtiger Regeln angegangen und be-
teiligt wältigt werden.
Das Ziel eines Konfliktgespräches ist, eine Klä-
10.7.6 Konfliktgespräche rung des auslösenden Sachverhaltes durch eine kon-
Konflikte können immer dann auftreten, wenn struktive Auseinandersetzung herbeizuführen, so
Menschen miteinander in Beziehung treten. dass alle Beteiligten mit der gemeinsam erarbeiteten
Die Auslöser von Konflikten im beruflichen Be- Lösung einverstanden sein können.
reich sind oft sehr unterschiedlich: Kommunikati- Diese Klärung bzw. Konfliktlösung kann in der
onsstörungen. Meinungsverschiedenheiten, Streitig- Beseitigung der Ursache liegen, z. B. in der Klärung
keiten bezüglich der Arbeitsorganisation und An- von Missverständnissen, Kompromisse beinhalten
wendung bestimmter Pflegemaßnahmen oder be- und ggf. zu einer Verhaltensänderung führen. Not-
züglich der Verteilung von Kompetenzen u. v. m. wendig ist hierbei eine von Respekt und gegenseiti-
können Anlass zu Konflikten geben. Dabei ergeben ger Achtung geprägte Grundeinstellung, mit der
sich Konfliktsituationen auch zwischen den ver- nach einer Lösung gesucht wird, die für alle Betei-
schiedenen Berufsgruppen. Auch Konflikte zwischen ligten zufriedenstellend ist.
Pflegepersonen und pflegebedürftigen Menschen Neben dieser Grundeinstellung müssen weitere
sowie deren Angehörigen können auftreten. Aspekte bedacht werden, wenn ein Problem gelöst
werden soll. Diese Aspekte können anhand der ver-
schiedenen Phasen eines Konfliktgespräches ver- fen um so Verbindlichkeit herzustellen und die
deutlicht werden soll: Effektivität und Sinnhaftigkeit der gemeinsamen Lö-
Günstig ist es, sich auf das kommende Konflikt- sung ermitteln zu können.
gespräch vorzubereiten, dieses zu planen, einen Ter- Sollten Konfliktlösungen durch solche Strategien
min in ruhiger Atmosphäre zu vereinbaren und den nicht zu bewältigen sein oder beziehen sich Konflik-
Grund des Treffens zu benennen. Rahmen und Um- te auf das gesamte Team und erreichen ein Ausmaß,
fang des Gespräches sollte von dem zu besprechen- in dem fremde Hilfe notwendig wird, da jede Person
den Sachverhalt abhängig gemacht werden. zu betroffen ist, um zur Lösung beizutragen, kann
Die gesprächsführende Person sollte sich über hier der Einsatz von Supervision als Hilfe sinnvoll
das Problem im Klaren sein, damit sie es konkret sein (10.10).
benennen kann.
Das Konfliktgespräch sollte in einem möglichst Zusammenfassung:
freundlichen und spannungsfreien Klima stattfinden, Regeln für ein Konfliktgespräch
denn diese Voraussetzungen sind als Ressource für ■ Respekt und gegenseitige Achtung der Konflikt-
das Gespräch an sich und auch für die weitere Zu- partner: Bei der Konfliktlösung sollte es nur „Ge-
sammenarbeit unerlässlich. winner“ geben,
Zunächst sollte der Gesprächsanlass sachlich und ■ Vorplanung von Raum und Zeit: gutes Klima schaf-
ohne Verallgemeinerungen („immer“, „nie“) geschil- fen,
dert werden. ■ Einleitung: sachliche Formulierung des kritischen
Ziel des Einstieges in ein Konfliktgespräch ist es, Sachverhalts, ohne persönlichen Angriff,
die Inhalte des Konfliktes durch Sachlichkeit als Tat- ■ Aufzeigen der möglichen Auswirkungen des pro-
sache offen und ehrlich zu formulieren, Geschehnis- blematischen Verhaltens,
se konkret zu beschreiben, um so eine Basis für das ■ zur Stellungnahme auffordern: „Hinter jedem Ver-
weitere Gespräch zu bereiten. halten stecken gute Gründe“,
10
Anhand der Fakten wird dann herausgestellt, wel- ■ Lösungsansatz für zukünftiges Verhalten suchen,
che Auswirkungen das zum Konflikt führende Ver- ■ gemeinsam überprüfbare Verhaltensweisen fest-
halten auf die Arbeitsorganisation und die Kollegen legen.
hat, um die eigentliche Problematik zu verdeutlichen.
Eine Schilderung der Perspektive der betroffenen
Person ist hierzu absolut notwendig, denn in den 10.8 Partnerzentrierte Gespräche
meisten Fällen gibt es Gründe und Ursachen für
ein bestimmtes Verhalten. Viele Konflikte lassen Das Partnerzentrierte Gespräch wird auch als „Hel-
sich bereits zu diesem Zeitpunkt klären. Ideen und fendes Gespräch“ bzw. als klienten- oder personen-
Wünsche werden hierbei deutlich, Alternativen zei- zentriertes Gespräch bezeichnet. Es basiert auf den
gen sich auf, der eigentliche Konfliktinhalt beginnt Arbeiten des amerikanischen Psychologen Carl Ro-
sich zu lösen und vielleicht sind sogar schon erste gers, eine der führenden Persönlichkeiten der Hu-
Lösungen erkennbar. manistischen Psychologie. Die Humanistische Psy-
Ziel des weiteren Gesprächsverlaufes ist es, ge- chologie vertritt eine Sichtweise des Menschen, bei
meinsam nach Lösungsansätzen für zukünftiges der dem Menschen grundsätzliche Fähigkeiten zur
Handeln zu suchen. Hierzu muss die betroffene Per- Selbstheilung zugesprochen werden, und eine
son unbedingt aktiv mit einbezogen werden, damit Grundhaltung der Therapeuten, die u. a. geprägt ist
sie die Lösungen akzeptieren kann. von zentralen Begriffen wie „menschliche Begeg-
In dieser Phase wird eine Lösung zur Verände- nung“, „Wachstum der Persönlichkeit“ und „persön-
rung des kritisierten Verhaltens erarbeitet. Ideal- liche Freiheit“.
typisch wird die Lösung von der betroffenen Person Rogers entwickelte ab den 40er Jahren des
formuliert, sie kann aber auch gemeinsam überlegt 20. Jahrhunderts das Konzept der „Klientenzentrier-
werden. ten Psychotherapie“, die heute auch unter dem Be-
In der Abschlussphase werden in beiderseitigem griff „Personenzentrierte Gesprächsführung“ be-
Einvernehmen Vereinbarungen zur Erprobung und kannt ist. Er ging davon aus, dass Menschen ein
Evaluation der gewünschten Veränderungen getrof- Grundstreben nach Selbstverwirklichung haben,
durch Erlebnisse in ihrer Kindheit aber den Zugang die Dinge, die sie bewegen, frei sprechen können.
zu eigenen Gefühlen teilweise verlieren bzw. unter Dabei steht die Gefühls- und Erlebniswelt des Ge-
Wahrnehmungsverzerrungen vor allem im Bereich sprächspartners im Zentrum, nicht die des „Helfers“.
der sozialen Wahrnehmung leiden können.
Ziel der Personenzentrierten Gesprächsführung ▌ 3. Einfühlsames Verstehen
ist es, im Gespräch ein Klima des Vertrauens und Das einfühlsame Verstehen wird auch als „Empathie“
der Offenheit herzustellen und so dem betroffenen oder „Aktives Zuhören“ bezeichnet (s. a. 10.5). Hier-
Menschen einen neuen Zugang zu seinem Erleben bei geht es darum, sich in die Situation des anderen
und seinen Gefühlen zu geben. Rogers spricht hier Menschen hineinzuversetzen und zu verstehen, wel-
auch von einem „wachstumsfördernden Klima“ zwi- che Gefühle er in der aktuellen Situation hat bzw.
schen Klient und Therapeut. Er beschreibt in seinen welche Gefühle er mit der aktuellen Situation ver-
Ausführungen eine Grundhaltung des Therapeuten, bindet. Anders ausgedrückt: Einfühlsames Verstehen
die ein solches Klima entstehen lassen kann und ist die Strategie zur Umsetzung von Echtheit und
deren Elemente auch in helfenden Gesprächen eine Akzeptanz. Hierzu gehören Aspekte wie z. B. das An-
zentrale Rolle spielen: sprechen des beim anderen Menschen wahrgenom-
menen Gefühls oder die Wiederholung der Äußerun-
▌ 1. Echtheit gen in eigenen Worten, um sicherzustellen, dass das
Das Element „Echtheit“ bedeutet, dass der „Helfer“ Gesagte auch richtig verstanden wurde. Dabei
in der Beziehung zu seinem Gesprächspartner ehr- kommt es vor allem darauf an, die wahrgenom-
lich und vor allem er selbst ist. Es soll kein „profes- menen Gefühle des Gegenübers richtig zu verstehen.
sionelles Gehabe“ an den Tag gelegt werden, son- Menschen, denen mit dieser Grundhaltung be-
dern eine echte Beziehung im Gespräch mit dem gegnet wird, können nach Rogers ihre Selbsthei-
anderen Menschen entstehen. Das geht letztlich lungskräfte aktivieren, sich selbst mehr Achtung
nur dann, wenn eine Bereitschaft besteht, sich und Akzeptanz entgegenbringen und aktiv nach Lö-
10
auch mit dem eigenen Gefühlsleben auseinander- sungen für aktuelle Situationen oder Probleme su-
zusetzen. chen.
In der Pflege ergeben sich häufig Situationen, in
▌ 2. Akzeptanz denen helfende Gespräche den betroffenen Men-
Bei der Akzeptanz geht es darum, dem Gesprächs- schen unterstützen können. Das gilt sowohl für pfle-
partner das Gefühl zu vermitteln, dass ihm wertfrei gebedürftige Menschen, die schwerwiegende medi-
begegnet wird. Dies geschieht zum einen durch eine zinische Diagnosen verarbeiten müssen, als auch für
bedingungslose positive Zuwendung und zum ande- Bezugspersonen, die ebenfalls von schwierigen, pro-
ren durch emotionale Wärme. Zentraler Gedanke blematischen Situationen betroffen sein können.
hierbei ist, dass Menschen in der Lage sind, ihre Si- Einfühlsames Verstehen bzw. aktives Zuhören kann
tuation für sich selbst positiv zu lösen, wenn sie über und muss geübt werden.
Regeln zur Umsetzung aktiven Zuhörens 10. Ich vermeide ein zeitweises Abschalten sowie ein in-
1. Ehe ich ein Gespräch führe, versuche ich, mir die nerliches Abschweifen zu anderen Themen.
äußeren und inneren Einflüsse und Gefühle, unter 11. Ich lasse den Partner ausreden und falle ihm nicht ins
denen ich momentan und grundsätzlich stehe, weit- Wort mit Meinungsäußerungen, voreiligen Interpre-
möglichst bewusst zu machen. (...) Das kann u. a. tationen und Zwischenfragen. Ich habe Zeit und Ge-
dadurch geschehen, dass ich vor einem Gespräch duld.
wahllos auf ein Papier aufschreibe, was mir gerade 12. Legt der Partner eine Pause ein, so wird sie „durch-
einfällt. gestanden“. Ich suche nicht krampfhaft nach über-
2. Ich sorge vor und während des Gesprächs für ein brückenden Worten und fülle nicht die Pause kurz-
Höchstmaß an äußerer und innerer Ruhe. entschlossen mit dem, „was ich schon lange sagen
3. Ich verhalte mich klientenzentriert (und nicht ego- oder fragen wollte“.
zentrisch): Ich zentriere und konzentriere mich auf 13. Ich stelle nur notwendige weiterführende Fragen.
den Gesprächspartner, auf seine Aussagen und Er- Die Fragen müssen aus dem Gespräch herauswach-
fahrungen, auf sein Vermögen und Unvermögen. sen und dürfen nicht hineingetragen werden.
4. Aufmerksames und ernsthaftes Zuhören kann sich 14. Wenn der Gesprächspartner Fragen stellt, höre ich
halbverbal (ja, hm) oder averbal äußern (Kopfnicken, zunächst darauf, welche Antworten er selber finden
Kopfhaltung, Sitzhaltung, Mimik, Handbewegung kann. Ich kann zu ihm sagen: Sie haben sich sicher-
usw.). lich schon selber Gedanken gemacht.
5. Ich höre nicht nur auf den Wortlaut, sondern auch 15. Ich achte sorgsam auf Verlockungen zu eigenem,
auf Wortwahl, Tonfall, Stimmlage, Sprechtempo, langatmigen Reden (Erzählungen aus meinem
Sprechpausen, Bruchstellen im Gesprächsverlauf Leben und Erfahrungsbereich, Schilderungen eines
usw. Nicht was die Worte sagen, ist von Bedeutung, „ähnlichen Falles“, Überredungsversuche, Dogmati-
sondern wie sie gesagt werden. Der Ton wird wich- sieren, Interpretieren usw.).
tiger als der Inhalt. 16. Sofern ich rede, wächst es aus dem Zuhören heraus 10
6. Ich stütze mich nicht nur auf das Hören, sondern (ist also reaktiv) und soll in neues Zuhören einmün-
auch auf das Sehen, und beachte also Mimik (vor den, also dem Partner ein neues Reden ermöglichen.
allem die Sprache der Augen), Gestik, Körperbau 17. Mittels Selbstwahrnehmung und Selbsterfahrung er-
usw. des Partners. Gleichzeitig beachte ich meine kenne ich, wo ich wenig oder gar nicht zuhören
eigene Körpersprache und Stimme: Kommt darin kann: Bei welchen Personen kann ich schwer zuhö-
eher echtes Zuhören oder eher Überhören und Weg- ren (Alter? Geschlecht? Beruf? Aussehen? Stimme?),
hören (also Ablehnung) zum Ausdruck? bei welchen Gesprächsthemen fällt mir das Zuhören
7. Ich achte nicht nur auf die logischen Aussagen des schwer (z. B. Sexualität, Religion, Gewalt, Suizid,
Gesprächspartners, sondern versuche zu erfassen, Zwanghaftigkeit)? Häufig liegt das an meinen
was der andere (noch) nicht verbalisieren kann, z. B. Schutz- und Abwehrmechanismen: Diese möchte
starke Gefühle, negative Emotionen (Vorsicht vor ich erkennen und vorsichtig damit umgehen.
subjektiven Unterschiebungen!). 18. Während ich zuhöre, habe ich die Grundhaltung des
8. Ich beachte Stichwörter, Reizwörter, Schlüsselsätze, Akzeptierens und der Wertschätzung gegenüber
Hauptfragen, aber auch Bruchstellen und Pausen. dem Partner und allem, was er sagt.
Gibt es einen „roten Faden“, ein bestimmtes Gefälle
oder Wiederholungen? (nach Weber 1996)
9. Wenn irgend möglich, notiere ich wichtige Ge-
sprächsprodukte. Der Partner muss damit einver-
standen sein und darf nicht durch auffälliges Mit-
schreiben irritiert werden.
!
Merke: Die TZI ist eine Form der Gesprächs- „Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen und seinem
führung, bei der die beteiligten Personen ge- Wachstum. Respekt vor dem Wachstum bedingt be-
meinsam an einem Thema oder einer Auf- wertende Entscheidungen. Das Humane ist wert-
gabe arbeiten (Interaktion), wobei das Thema im Zen- voll; Inhumanes ist wertbedrohend“ (Cohn 1988,
trum der Begegnung steht (Themenzentrierung). Sie S. 120).
wird vor allem bei der Kommunikation in Gruppen Der Fortbestand humaner (menschlicher) Werte
10
angewandt, ist aber auch im Einzelgespräch oder bei ist nach Cohn sowohl eine politische als auch die
der Partnerberatung einsetzbar. Aufgabe jedes Einzelnen.
10.9.2 Zentrale Elemente den „Globe“, das Umfeld, in welchem „Ich“, „Wir“
Ruth Cohn geht davon aus, dass bei der Kommuni- und Thema in Beziehung zueinander stehen, sym-
kation in Gruppen vier Elemente eine entscheiden- bolisiert.
de Rolle spielen:
!
■ Das „Ich“ (jedes einzelne Gruppenmitglied). Auf Merke: Zentrale Elemente der Themenzen-
die Pflege bezogen können das Pflegepersonen in trierten Interaktion sind das einzelne Grup-
Institutionen des Gesundheitswesens, Mitglieder penmitglied („Ich“), die Gruppe als Ganzes
des Therapeutischen Teams oder Angehörige an- („Wir“), die gemeinsame Arbeitsaufgabe („Thema“)
derer Berufsgruppen sein. und die Rahmenbedingungen, in denen die Gruppe
■ Das „Wir“ (die gemeinsame Interaktion unter- arbeitet („Globe“).
einander).
■ Das Thema (das zu bearbeitende Thema bzw. der Ruth Cohn geht davon aus, dass ein gewinnbringen-
Lernstoff oder die gemeinsame Aufgabe). In der des, konstruktives und persönlich bereicherndes Ar-
Pflege könnten dies Themen wie Pflegeverständ- beiten in Gruppen nur dann erfolgen kann, wenn
nis, eine auszuwählende Theorie für eine Pfle- alle vier Elemente die gleiche Gewichtung erhalten.
geeinheit, der Umgang mit verwirrten Men- Hilfe und Unterstützung hierbei können die von ihr
schen, Optimierung der Arbeitsabläufe etc. sein. formulierten zwei Postulate (Grundannahmen) und
■ Der sog. „Globe“ (alles, was den Einzelnen und neun Hilfsregeln sein.
die Gruppe umgibt). Hierunter sind u. a. zeitliche,
finanzielle und/oder personelle Rahmenbedin- 10.9.3 Postulate
gungen, die Erwartungen von pflegebedürftigen Ruth Cohn formuliert zwei Postulate, die sich aus
Menschen und Angehörigen an Pflegepersonen, den Axiomen ableiten lassen und diese in „handfes-
aber auch Ereignisse, die das einzelne Gruppen- te“, praktikable Handlungsrichtlinien fassen:
mitglied oder die gesamte Gruppe betreffen, zu 1. „Sei dein eigener Chairman, der Chairman deiner
10
verstehen. selbst. Das bedeutet:
a. Sei dir deiner inneren Gegebenheiten und
„Ich“, „Wir“ und „Thema“ sind dabei grundsätzlich deiner Umwelt bewusst.
gleich wichtig. Es muss ein ausgewogenes Verhältnis b. Nimm jede Situation als Angebot für deine
zwischen diesen Elementen herrschen, damit ein Entscheidungen. Nimm und gib wie du es ver-
konstruktives Arbeiten der Gruppe am Thema mög- antwortlich für dich selbst und andere willst“
lich ist. Ruth Cohn hat hierzu ein Modell entwickelt (Cohn 1988, S. 120f).
(Abb. 10.15). Das „Ich“, das „Wir“ und das Thema
werden durch die Ecken des Dreiecks repräsentiert. Menschen können und sollen eigenverantwortliche
Das Dreieck selbst ist von einem Kreis umgeben, der Entscheidungen treffen. Wichtig ist hierfür, dass so-
wohl das eigene Erleben als auch das der anderen
Gruppenmitglieder in die bewusste Entscheidung
einfließen soll. Jeder Mensch ist gefordert, das zu
Thema vertreten, was ihm wichtig ist, und dabei die beiden
Extreme Autonomie und Interdependenz zu berück-
sichtigen. Das Postulat fordert darüber hinaus aber
auch, die eigenen Spannungen zwischen physischen,
emotionalen, kognitiven und praktischen Fähigkei-
ten und Bedürfnissen bei der jeweiligen Entschei-
dung zu berücksichtigen.
Der Begriff der Störung steht in der Themenzen- Sicherheit darüber haben, dass der Sprecher auch
trierten Interaktion für alles, was den einzelnen ganz hinter seiner Aussage steht.
Menschen daran hindern kann, am Thema in der
Gruppe mitzuarbeiten. Dabei können die Störungen 2. Wenn du eine Frage stellst, sage, warum du fragst
sowohl durch positive Gedanken, Erlebnisse etc. als und was deine Frage für dich bedeutet. Sage dich
auch durch negative Erfahrungen, Ereignisse oder selbst aus, und vermeide das Interview.
auch durch körperliche Beeinträchtigungen, wie Fragen, die ohne Angabe von Gründen gestellt wer-
z. B. Schmerzen, hervorgerufen werden. Beiden ge- den, haben häufig den Charakter des „Ausfragens“.
meinsam ist, dass sie verhindern, aufmerksam und Ruth Cohn bezeichnet sie als „unecht“, weil sie kein
„ganz bei der Sache“ zu sein. echtes Interesse an der Antwort vermitteln können.
Wichtig ist hierbei, dass diese Störungen offen Bei unechten Fragen besteht die Gefahr, dass unech-
angesprochen werden, entweder von der betroffe- te Antworten gegeben werden und kein echter Dia-
nen Person selbst oder von den anderen Gruppen- log zwischen den Gesprächspartnern entsteht.
mitgliedern. Konstruktives Arbeiten ist nur mit der
uneingeschränkten Aufmerksamkeit aller möglich. 3. Sei authentisch (echt) und selektiv (auswählend)
Die zwei Postulate der Themenzentrierten Inter- in deinen Situationen. Mache dir bewusst, was
aktion betonen die Verantwortlichkeit des einzelnen Du denkst und fühlst, und wähle, was du sagst
Gruppenmitglieds sowohl für sich selbst als auch für und tust.
das gemeinsame Miteinander. Diese Regel fordert, nur dann zu sprechen, wenn ein
Bedürfnis nach verbalen Äußerungen besteht. Die
10.9.4 Hilfsregeln Äußerungen sollen im Einklang mit dem stehen,
Die von Ruth Cohn aufgestellten neun Hilfsregeln was dem jeweils sprechenden Menschen wichtig
für die Themenzentrierte Interaktion sollen die ist, und ehrlich sein. Lügen oder manipulative Äuße-
Gruppenmitglieder bei der Arbeit im TZI-Dreieck rungen zerstören das Vertrauen und Verständnis
10
unterstützen. Die Regeln selbst sind nach Cohn prin- zwischen den Gesprächspartnern.
zipiell in jeder TZI-Gruppe anwendbar, dürfen aber
nicht verabsolutiert oder „verordnet“ werden. 4. Halte dich mit Interpretationen von anderen so
Eine Möglichkeit kann sein, mit der Gruppe zu lange wie möglich zurück. Sprich statt dessen
Beginn der Arbeit die Regeln zu diskutieren und deine persönlichen Erfahrungen aus.
sich dann für einige oder auch alle der Regeln zu Es unterstützt die Interaktion zwischen den Ge-
entscheiden. Die Regeln sind so angelegt, dass sie sprächspartnern, wenn sie ihre eigenen Empfindun-
sowohl den eigenen Selbstverwirklichungsprozess gen und Bedürfnisse aussprechen, anstatt vorschnell
unterstützen als auch dazu beitragen, die anderen das Verhalten anderer zu interpretieren ( „Bitte rede
Gruppenmitglieder ernst zu nehmen. Im Folgenden jetzt nicht“ im Gegensatz zu: „Du redest immer, weil
werden die Hilfsregeln (zitiert nach Cohn 1988, Du im Mittelpunkt stehen willst“).
S. 124ff) mit einer kurzen Erläuterung vorgestellt.
5. Sei zurückhaltend mit Verallgemeinerungen.
1. Vertritt dich selbst in deinen Aussagen; sprich Verallgemeinerungen haben eine ähnlich störende
per „Ich“ und nicht per „Wir“ oder per „Man“. Wirkung auf den Gruppenprozess wie das Sprechen
Redewendungen wie „Wir sind der Meinung, dass“ per „Wir“ oder per „Man“.
oder „Man sollte aber berücksichtigen, dass“ führen
dazu, dass anderen Menschen nicht klar ist, wessen 6. Wenn du etwas über das Benehmen oder die
Aussage oder Meinung gerade angeführt wird. Ruth Charakteristik eines anderen Teilnehmers aus-
Cohn geht noch weiter, indem sie sagt, dass der sagst, sage auch, was es dir bedeutet, dass er so
Sprechende in diesem Fall nicht die Verantwortung ist, wie er ist (d. h. wie du ihn siehst).
für das übernimmt, was er sagt, sondern sich hinter Jede Meinung von bzw. über einen anderen Men-
einer „öffentlichen Meinung“ versteckt. In diesem schen ist eine persönliche, subjektive Meinung. Sie
Fall ist keine offene Kommunikation möglich. Die muss nicht zwangsläufig für alle anderen Gruppen-
Gesprächspartner haben aber nur dann eine Chance, teilnehmer gelten, d. h. sie ist nicht allgemeingültig.
zu einer Aussage Stellung zu nehmen, wenn sie
Einzelmensch Menschengruppe
8. Nur einer zur gleichen Zeit bitte.
Die Gruppe kann nur dann konstruktiv arbeiten,
wenn die Gruppenteilnehmer einander konzentrier- Abb. 10.16 Kommunikation in der Humanistischen Psychologie
tes Interesse entgegenbringen. Die Konzentration
auf mehrere verbale Beiträge gleichzeitig ist jedoch
nicht möglich. ■ der Auswahl eines bestimmten Pflegesystems,
■ Teambesprechungen (Dienstübergabe etc.),
9. Wenn mehr als einer sprechen will, verständigt ■ Teambesprechungen, die die Arbeit mit Patienten
euch in Stichworten, über was ihr zu sprechen zum Gegenstand haben,
beabsichtigt. ■ interdisziplinären Konferenzen,
Die kurze Verständigung darüber, welche Gesprächs- ■ Kleingruppenarbeit in Pflegeschulen etc.
beiträge anstehen, verhindert, dass sich jemand
übergangen fühlt. Die Reihenfolge der anstehenden Da die Effektivität und Kontinuität der Pflege zu
Beiträge kann in der Gruppe abgesprochen werden. einem großen Teil auf die Zusammenarbeit mehre-
Die genannten Hilfsregeln der Themenzentrier- rer Menschen angewiesen ist, kann auch hier das
ten Interaktion sind in vielen Bereichen anwendbar, konstruktive Miteinander zu einer wesentlichen
10
in denen es um Kommunikation in Gruppen geht. Verbesserung des „Klimas“ zwischen den Mitarbei-
Das gilt sowohl für das Therapeutische Team tern beitragen. Von diesem verbesserten Miteinan-
einer Pflegeeinheit als auch für die Arbeit in Klein- der profitiert letztlich das zentrale Anliegen der
gruppen während des Pflegeunterrichts. Sie können Pflege, der hilfsbedürftige Mensch (Abb. 10.16).
auch helfen in der Kommunikation zwischen zwei Die Themenzentrierte Interaktion ist eine Form
Menschen, z. B. zwischen Pflegeperson und pflege- der Gesprächsführung, die häufig im Rahmen der
bedürftigem Menschen. Supervision angewandt wird. Auf die Supervision
wird im nächsten Kapitel ausführlich eingegangen.
10.9.5 Themenzentrierte Interaktion in der
Pflege
Die Themenzentrierte Interaktion integriert alle Be- 10.10 Supervision
reiche des Menschseins. Durch die Anwendung die-
ser Art von Gesprächsführung werden über die Ar- Definition: Wörtlich übersetzt bedeutet das
beit an einem Thema gleichzeitig auch alle sozialen angloamerikanische Wort Supervision soviel
Kompetenzen des einzelnen Teilnehmers gefördert. wie „Aufsicht, Kontrolle, Leitung, Über-
So wird sowohl ein persönlicher Reifungsprozess als wachung“.
auch ein Reifungsprozess der Gruppe ermöglicht. Da
die Themenzentrierte Interaktion besonders geeig- Der Supervisor ist demnach eine Person, die über
net ist, die Kommunikation von Gruppen zu unter- das Geschehen wacht, die darübersteht, von oben
stützen, die an einem Thema bzw. einem Arbeits- bzw. außen schaut, kontrolliert. In einigen Berei-
auftrag arbeiten, ist ihr Einsatz auch in vielen Berei- chen und Ländern entspricht die o. a. Übersetzung
chen pflegerischen Handelns denkbar. Sie kann z. B. des Begriffes auch der Funktion, der Aufgabe von
eingesetzt werden beim Arbeiten eines Teams einer Supervision.
Pflegeeinheit an Projekten wie: In den meisten Bereichen der Supervision hat sie
■ dem Erarbeiten von Pflegestandards, sich im Laufe ihrer Geschichte jedoch immer mehr
■ der Arbeit an einem gemeinsamen Pflegever- differenziert und von der reinen Kontrolle zu einer
ständnis unter Berufung auf eine Pflegetheorie, Form der Praxisbegleitung, Beratung und Unterstüt-
zung entwickelt. Einzelne Aspekte wie beispielswei- Vorreiter waren zumeist die psychiatrischen Abtei-
se: lungen. Die Gründe, die für eine Supervision von
■ Supervision erfolgt immer im Zusammenhang Pflegekräften sprechen, sind vielfältig. So wird bei-
mit einer beruflichen Tätigkeit, spielsweise von einer Pflegekraft neben einem fach-
■ Ziel der Supervision ist, die persönlichen und be- lichen Wissen, manuellen Fähigkeiten und Fertigkei-
ruflichen Kompetenzen zu fördern und zu stär- ten vor allem auch ein hohes Maß an empathischen
ken, Fähigkeiten gefordert.
■ Supervision ermöglicht ein problemorientiertes Gerade in einer patientenorientierten Pflege ist
Lernen, diese soziale Kompetenz mehr gefordert als die
reine Ausübung von Pflegetätigkeiten, um eine trag-
gelten auch heute noch für alle Formen der Super- fähige, konstruktive Beziehung zwischen Pflegekraft
vision, unabhängig davon, in welchem Kontext sie und Patient aufzubauen. Themen wie „Nähe und
erfolgt. Distanz“, „Macht und Ohnmacht“, „Abhängigkeit
Die Entwicklung der Supervision ist gekenn- und Unabhängigkeit“ und der Umgang mit Leid
zeichnet durch die verschiedenen Absichten, die und Tod bestimmen häufig den Alltag von Pflegen-
mit der Supervision verfolgt wurden. Supervision, den. Durch die knapper werdenden finanziellen
die bereits Ende des letzten Jahrhunderts in England Mittel und die fortschreitende Technisierung wird
und den USA als eine Art Vorreiterposition entstan- die Belastung der Pflegekräfte ständig erhöht.
den ist, hatte zunächst die Tätigkeit der Sozialarbei- Häufig tritt ein Gefühl der Unzulänglichkeit und
ter im Blick, mit dem Ziel, deren Arbeitsleistung zu der Frustration auf, da dem eigenen Anspruch an
erhöhen und zu verbessern. Pflege nicht entsprochen, die Diskrepanz zwischen
Später, etwa in den 30er-Jahren, wurde die Su- Anspruch und Wirklichkeit nicht überbrückt wer-
pervisionstätigkeit mit dem Ziel der Selbstreflexion den kann. Eine der bekanntesten Folgen ist neben
über die eigene Berufstätigkeit in einen institutionel- einer hohen Fluktuation das Burnout-Syndrom.
10
len Rahmen gestellt. Hiermit wurde der Grundstein Durch Änderungen der Organisation innerhalb
für die berufliche Supervisionstätigkeit gelegt. In den einer Institution und/oder einer Abteilung treten
50er Jahren orientierte sich die Supervision immer daneben vermehrt auch Konflikte innerhalb und
mehr an der Psychologie und Psychotherapie. zwischen verschiedenen Berufsgruppen auf.
Seit den 70er Jahren gewinnt auch in Deutschland Die Supervision ist eine Möglichkeit der Unter-
die Supervision für Mitarbeiter in sozialen und me- stützung z. B. beim Umgang mit den verschiedens-
dizinischen Berufen immer mehr an Bedeutung, wo- ten Belastungen sowie intra- und interpersonellen
durch sie gleichzeitig einen praxisbezogenen Konflikten. Sie hat u. a. zum Ziel:
Schwerpunkt erhält. Sie wird in unterschiedlichen ■ die Förderung der Fähigkeit zur differenzierten
Gruppen, Institutionen und Projekten eingesetzt, Wahrnehmung (Fremd- und Eigenwahrneh-
wodurch sich die verschiedenen Formen der Grup- mung),
pen- und Teamsupervision entwickeln. Neben der ■ die Förderung der sozialen Kompetenzen,
Einbeziehung der verschiedenen Berufsfelder ändern ■ die Klärung der beruflichen Identität,
sich auch die Ziele und Schwerpunkte der Supervisi- ■ Raum zu geben, Situationen aus dem beruflichen
on. Sie will nun nicht mehr kontrollierende Instanz Alltag zu reflektieren.
sein, sondern Unterstützung und Beratung bieten.
Supervision kann als eine präventive Maßnahme ge-
!
Merke: Supervision ist eine Form der Pra- genüber berufsbedingtem Stress und dem Burnout-
xisbegleitung und Beratung bei der Aus- Syndrom angesehen werden. Zudem stellt sie auch
einandersetzung bzw. Reflexion der berufli- ein Instrument der Pflegequalitätsverbesserung und
chen Tätigkeit. Sie ermöglicht ein problemorientiertes -sicherung sowie der Professionalisierung dar. Wün-
Lernen und hat zum Ziel, persönliche und berufliche schenswert ist eine Einbindung der Supervision in
Kompetenzen zu fördern. die Ausbildung von Pflegepersonen, um gerade Be-
rufsanfängern zu helfen, sich mit ihrer Persönlich-
10.10.1 Supervision in der Pflege keit in den institutionellen Strukturen zu orientie-
Seit einigen Jahren findet die Supervision in ren und soziale Kompetenzen im Umgang mit Pa-
Deutschland auch zunehmend Eingang in die Pflege. tienten, Kollegen und Vorgesetzten zu entwicklen.
Teammitglieder untereinander. Gründe, die ein Leiter einer solchen Balintgruppe darf nur ein
Team veranlassen, Supervision für sich in Anspruch Psychoanalytiker mit entsprechender Ausbildung
zu nehmen, sind u. a.: sein.
■ Verbesserung der Kommunikation und Koope- Das Vorgehen einer Fallbesprechung innerhalb
ration innerhalb des Teams, Teamentwicklung, einer Balintgruppensitzung kann folgendermaßen
■ Sicherung und Verbesserung der Qualität der Ar- aussehen:
beit, ■ Vorstellung der Fälle, die die einzelnen Mitglie-
■ Verbesserung der Arbeitseffizienz, der mitbringen, und Entscheidung der Gruppe
■ Hilfe, Unterstützung bei der Bearbeitung von für einen Fall.
Konflikten innerhalb des Teams oder zwischen ■ Vorstellung des Falles durch den Einbringer in
Team und Träger, Form eines spontanen mündlichen Berichtes.
■ Erkennen und Verlassen eingefahrener Arbeits- ■ Rückfragen der Gruppe und des Leiters zur Sa-
routine, che.
■ Fehlende Transparenz von Entscheidungsstruk- ■ Nach dieser Materialsammlung wird der Fallein-
turen, bringer für die folgende Bearbeitung des Falles in
■ Fallbesprechungen. der Gruppe ausgeschlossen. Er nimmt nun die
Rolle eines Beobachters ein.
!
Merke: Supervision erfolgt in verschiede- ■ Die Teilnehmer beschreiben jetzt ihre Gefühle
nen Settings. Grundsätzliche Formen sind bezüglich des Falles sowie spontan auftauchende
die Einzel- und die Gruppensupervision. Bilder, Phantasien und Assoziationen.
■ Als nächstes folgt die Analyse und Diagnose des
10.10.3 Balint-Gruppen Falles (z. B.: „Der Fall beinhaltet...“, „Das Problem
Die Methoden und Konzepte, die in der Supervision ist, dass...“).
Anwendung finden, sind sehr vielfältig. Sie entstam- ■ Die nachfolgende Diskussion dient der Suche
10
men unterschiedlichen Richtungen und Schulen nach Lösungswegen.
(z. B. der Verhaltens-, Gesprächs-, Gestalttherapie ■ Im Anschluss daran wird der Falleinbringer wie-
oder der Psychoanalyse). Welche Methode Anwen- der in die Gruppe zurückgeholt und erhält von
dung findet, ist auch abhängig vom Inhalt und dem jedem Teilnehmer einen Vorschlag.
Ziel der Supervision. Eine der bekanntesten Metho- ■ Der Falleinbringer hat zum Abschluss das Wort
den ist die Balintarbeit im Rahmen von Fallbespre- und kann der Gruppe mitteilen, welche Aspekte
chungen. Sie soll deshalb als eine Möglichkeit kurz er mitnehmen kann, welche er für wichtig hielt
vorgestellt werden. und ob er hieraus Empfehlungen für das nächste
Nach dem Begründer Michael Balint wurde diese Mal verwenden kann.
spezielle Form der Fallbesprechung benannt, bei der
einzelnen „Fälle“ aus dem beruflichen Alltag, z. B. Die Balintgruppen haben für eine Reihe nachfolgen-
die Konfrontation mit tumorkranken Menschen, der Formen von Fallbesprechungen Modell gestan-
die den Einzelnen stark beschäftigen, in der Gruppe den, die auch im pflegerischen Bereich von Bedeu-
bearbeitet werden. Bei der Balintarbeit treffen sich tung sind, da sie zu einem besseren Verständnis der
die Teilnehmer regelmäßig in ca. 14-tägigen Abstän- Beziehung zum Patienten führen und eine Beglei-
den zu 11/2 – 2-stündigen Sitzungen. tung, insbesondere auch von unheilbar Kranken
Bei den Teilnehmern handelt es sich um Per- oder sterbenden Patienten, unterstützen.
sonen mit gleicher Berufstätigkeit (in der Regel Ärz-
!
te). Ziel der Balint-Gruppe ist, die Beziehung zwi- Merke: Die Arbeit in Balintgruppen ist eine
schen Helfer (z. B. Arzt) und Hilfesuchendem (z. B. Methode, die im Rahmen von Supervision
Patient) zu analysieren und dabei unbewusste Über- angewandt werden kann. Hier werden ein-
tragungs- und Gegenübertragungsphänomene zelne „Fälle“ in der Gruppe bearbeitet, um mögliche
sichtbar zu machen, um die Beziehung so besser zu Lösungswege für diese und ähnliche Situationen zu
verstehen. Da die Fallbesprechungen in dieser oder entwickeln.
auch ähnlicher Form nicht gruppendynamisch aus-
gerichtet sind, bereiten sie in der Regel wenig Unbe-
hagen und Angst.
Glossar Band 1
Abhängige Variable. Wird in der (Pflege-) Forschung Association for Common European Nursing Diagno-
beobachtet, um die Auswirkung der unabhängigen sis, Interventions and Outcomes (ACENDIO). Vereini-
Variable zu messen. gung für gemeinsame europäische Pflegediagnosen,
Pflegeinterventionen und Pflegeergebnisse, die eine
Abstraktionsgrad. Beschreibt den Grad der Überein- Klassifikation für europäische Pflegediagnosen er-
stimmung zwischen der beobachtbaren Wirklichkeit stellt
und der Beschreibung und Erklärung dieser Wirk-
lichkeit. Je höher der Abstraktionsgrad, desto größer Aufnahmegespräch. Gespräch zwischen Pflegeper-
der Unterschied zwischen beiden und umgekehrt son und pflegebedürftigem Menschen im Rahmen
der Informationssammlung, dem ersten Schritt des
Akkommodation. Bezeichnet nach dem schweizer Pflegeprozesses
Psychologen Jean Piaget einen Vorgang, bei dem
die kognitive Struktur eines Menschen erweitert Aufrichtigkeit. Für die pflegerische Berufsausübung
werden muss, um ein neues Element einordnen zu wichtiges ethisches Prinzip, das sich u. a. auf Ehrlich-
können keit und Wahrhaftigkeit in menschlichen Beziehun-
gen bezieht
Angewandte Forschung. Dient der Überprüfung und
Bewertung von Theorien im Hinblick auf ihre Autonomie. Für die pflegerische Berufsausübung
Brauchbarkeit und zur Lösung von Problemen in wichtiges ethisches Prinzip, das sich auf die Freiheit
der Pflegepraxis des Menschen, willentlich zu denken und zu han-
deln bezieht; umfasst die Willensfreiheit und Hand-
Anleitungsgespräch. Gespräch mit dem Ziel, Wissen lungs- bzw. Entscheidungsfreiheit eines Menschen
so zu vermitteln, dass es in praktisches Tun umge-
setzt werden kann, in der Pflege z. B. als Anleitung Balintgruppe. Form der Fallbesprechung, bei der
von pflegebedürftigen Menschen und/oder deren einzelne „Fälle“ aus dem beruflichen Alltag in der
Angehörigen zur selbständigen Durchführung von Gruppe bearbeitet werden, um mögliche Lösungs-
Pflegemaßnahmen oder zur Einarbeitung neuer wege für diese und ähnliche Situationen zu ent-
Mitarbeiter wickeln. Findet u. a. Anwendung bei der Auseinan-
dersetzung mit problematischen Situationen in der
Äquilibration. Bezeichnet nach dem schweizer Psy- Pflege, z. B. bei der Begleitung schwerstkranker
chologen Jean Piaget das Bestreben eines Menschen Menschen oder Sterbender
über die Mechanismen Akkommodation und Assi-
milation ein Gleichgewicht zwischen bislang unbe- Bedürfnismodell. Klasse von Pflegetheorien, bei
kannten Elementen und der eigenen kognitiven denen die Bedürfnisse der zu pflegenden Menschen
Struktur herzustellen im Mittelpunkt der Theorie stehen
Arbeitsorganisationsform. Beschreibt, welche Arbeit Benedikt von Nursia (480 – 547). Begründer des Be-
anfällt und wie sie auf das zur Verfügung stehende nediktinerordens, dessen Hauptanliegen die Aus-
(Pflege-) Personal verteilt wird; in der Pflege wer- übung der christlichen Caritas war
den Einzel-, Zimmer-, Gruppenpflege und Primary
Nursing unterschieden Benefizienz. Für die pflegerische Berufsausübung
wichtiges ethisches Prinzip, das sich darauf bezieht,
Assimilation. Bezeichnet nach dem schweizer Psy- anderen Menschen Gutes zu tun bzw. tun zu wollen
chologen Jean Piaget einen Vorgang, bei dem neue
Elemente in die bestehende kognitive Struktur eines Beratungsgespräch. Bezieht sich inhaltlich auf be-
Menschen eingeordnet werden stimmte Probleme in einzelnen Lebensbereichen
326
Abbildungsverzeichnis
335
Sachverzeichnis
Sachverzeichnis
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Sachverzeichnis
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Sachverzeichnis
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Sachverzeichnis
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Sachverzeichnis
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Sachverzeichnis
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Sachverzeichnis
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