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verstehen & pflegen 1

verstehen & pflegen 1

Grundlagen
beruflicher Pflege
Herausgegeben von
Annette Lauber

unter Mitarbeit von


Marion Kaster
Elke Kobbert
Brigitte Maurer
Hanna Mayer

4., aktualisierte Auflage

241 Abbildungen

Georg Thieme Verlag


Stuttgart · New York
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Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; lungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung er-
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über weitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behand-
http://dnb.d-nb.de abrufbar. lung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in
diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation er-
wähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass
Autoren, Herausgeber und Verlag große Sorgfalt darauf ver-
wandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei
Fertigstellung des Werkes entspricht.
Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applika-
tionsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr über-
nommen werden. Jeder Benutzer ist angehalten, durch
sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Prä-
parate und gegebenenfalls nach Konsultation eines Spezia-
listen festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für
Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen
gegenüber der Angabe in diesem Buch abweicht. Eine sol-
che Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten
Präparaten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht
worden sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf
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ren an jeden Benutzer, ihm etwa auffallende Ungenauigkei-
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3. Auflage 2012 die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys-
temen.
Zeichnungen: Barbara Gay, Bremen; Christine Lackner,
Ittlingen; BITmap, Mannheim
Umschlaggestaltung: Thieme Gruppe
Umschlagfotos: ©Africa Studio – Fotolia,
©VRD – Adobe Stock
Satz: Druckhaus Götz GmbH, D-71636 Ludwigsburg
Druck: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co.KG, Calbe

DOI: 10.1055/b-005-143656

ISBN 978-3-13-240649-0 1 2 3 4 5 6

Auch erhältlich als E-Book:


eISBN (PDF) 978-3-13–240650-6
Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser, sche Interventionen (Band 3) sowie Prävention und
wir freuen uns, Ihnen hiermit die 4. Auflage der Rehabilitation (Band 4). Inhalte und Themen der
Lehrbuchreihe verstehen & pflegen vorlegen zu kön- einzelnen Bände der Reihe sind aufeinander bezo-
nen. Herausgeberinnen und Autorinnen ist es ein gen; selbstverständlich ist aber auch eine Einzel-
Anliegen, mit der vorliegenden Lehrbuchreihe nutzung möglich. Alle Kapitel wurden für die 4. Auf-
einen Beitrag zu einer fundierten und qualitativ lage inhaltlich überprüft und aktualisiert; neue Er-
hochwertigen Pflegeausbildung zu leisten und Leh- kenntnisse und Entwicklungen aufgenommen; Lay-
rende wie Lernende in ihrem beruflichen Handeln out und grafische Darstellung modernisiert.
zu unterstützen. Ihren konstruktiven und ermuti- Wenngleich für die Aktualisierung eines Werkes
genden Rückmeldungen, liebe Leserinnen und Leser, auf viel Bewährtes zurückgegriffen werden kann,
entnehmen wir, dass wir dieses Ziel in aller Regel stellt der Bearbeitungsprozess Autorinnen und He-
auch erreichen. rausgeber dennoch immer wieder vor Herausforde-
Als die Lehrbuchreihe in den Jahren 2001 bis rungen, von denen die termingerechte Abgabe der
2004 erstmals aufgelegt wurde, befanden sich die bearbeiteten Manuskripte nicht zwangsläufig die
Diskussionen um eine Zusammenführung der 3 größte ist. In solchen Phasen gewinnt dann eine ver-
Pflegeberufe Altenpflege, Gesundheits- und Kran- bindliche und wertschätzende Unterstützung durch
kenpflege sowie Gesundheits- und Kinderkranken- den Verlag an Bedeutung. Unser Dank gilt deshalb
pflege noch in den Anfängen. Heute, 15 Jahre später, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Georg
geht es stärker darum, den besten Weg der Zusam- Thieme Verlags für ihre ausgesprochen motivieren-
menführung auszuwählen und zu beschreiten. de und engagierte Unterstützung. Danken möchten
Daher verfolgt auch die 4. Auflage von verstehen & wir auch allen Autorinnen und Autoren, die wir für
pflegen einen integrativen Ansatz, der gleicherma- die Mitarbeit an dieser Auflage gewinnen konnten,
ßen Gemeinsamkeiten und Spezifika der Pflegebe- und die – teilweise nun schon über viele Jahre – ihre
rufe thematisiert. Expertise für verstehen & pflegen zur Verfügung stel-
Beibehalten wurde auch der bisherige Aufbau len.
und die didaktische Konzeption, bei der jeder Band Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir
einen Schwerpunkt ausführlich thematisiert und viel Freude bei der Arbeit mit den Bänden der Lehr-
dabei eine konsequent pflegeberufliche Perspektive buchreihe!
einnimmt: Grundlagen beruflicher Pflege (Band 1),
Wahrnehmen und Beobachten (Band 2), Pflegeri- Hildesheim und Stuttgart im Oktober 2017

V
Vorwort

Herausgeberin
Dr. rer. cur. Annette Lauber
Dipl.-Pflegepädagogin (FH)
Pflegewissenschaftlerin (M.Sc.)
Irmgard-Bosch-Bildungszentrum
Auerbachstraße 110
70376 Stuttgart

Autorinnen
P. Fickus* Brigitte Maurer
Dipl.-Pflegewissenschaftlerin (FH)
A. Hammer* Irmgard-Bosch-Bildungszentrum
Auerbachstraße 110
A. Heißenberg* 70376 Stuttgart

Marion Kaster M. Nagl-Cupal*


Dipl.-Pflegewirtin (FH)
Dipl.-Sozialmanagerin (FH) Univ.-Prof. Mag. Dr. Hanna Mayer
Angstweg 29 Diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester
53547 Dattenberg Professorin für Pflegewissenschaft
Leiterin des Instituts für Pflegewissenschaft
Elke Kobbert der Universität Wien
Leitung der Weiterbildung Pflege in der Onkologie Universität Wien – Fakultät für Sozialwissenschaften
Irmgard-Bosch-Bildungszentrum Alser Straße 23/12
Auerbachstraße 110 A-1080 Wien
70376 Stuttgart

Die im Buch mit * gekennzeichneten Autoren haben an früheren Auflagen mitgewirkt, und ihre Beiträge sind
in der aktuellen Auflage noch teilweise enthalten.

VI
Inhalt

Inhalt

I Pflege und Entwicklung 2.5 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54


2.5.1 Pflege im 1. Weltkrieg und in
1 Leitbild und Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 der Weimarer Republik . . . . . . 55
Annette Lauber 2.5.2 Pflege im Nationalsozialismus
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 und im 2. Weltkrieg . . . . . . . . . 55
1.1 Pflege – Eine Begriffsbestimmung . . . . 4 2.5.3 Neuordnung der Pflegeausbil-
1.2 Berufsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 dungen nach 1945 . . . . . . . . . . 58
1.3 Definitionen der Pflege . . . . . . . . . . . . . 10 2.6 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
1.4 Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.6.1 Gesetz über die Berufe in der
1.5 Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . 15 Krankenpflege . . . . . . . . . . . . . . 61
1.5.1 Gesundheit und Krankheit in 2.6.2 Gesetz über die Berufe in der
Altertum und Mittelalter . . . . . 15 Altenpflege . . . . . . . . . . . . . . . . 62
1.5.2 Biomedizinisches Krankheits- 2.6.3 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.6.4 Weiterbildungsmöglichkeiten
1.5.3 Definition der Weltgesundheits- für Pflegepersonen . . . . . . . . . . 64
organisation (WHO) . . . . . . . . . 18 2.6.5 Berufspolitische Entwicklungen 65
1.5.4 Salutogenetisches Modell . . . . . 19
3 Berufliche Handlungskompetenz . . . . . 69
2 Entwicklung der Pflege zum Beruf . . . . 24 Anja Heißenberg*, Annette Lauber
Marion Kaster Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3.1 Kompetenzbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
2.1 Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3.1.1 Zuständigkeitsbereich . . . . . . . 70
2.1.1 Griechenland . . . . . . . . . . . . . . 28 3.1.2 Handlungskompetenz . . . . . . . . 72
2.1.2 Römisches Reich . . . . . . . . . . . . 30 3.2 Kompetenzerwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
2.1.3 Christentum . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.2 Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.2.1 Klöster als Hospitäler und
Bildungsstätten . . . . . . . . . . . . . 32 II Pflege und Profession
2.2.2 Pflege durch die Hospitaliter-
orden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 4 Pflegetheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
2.2.3 Hexenverfolgung . . . . . . . . . . . . 37 Annette Lauber
2.2.4 Kinderheilkunde und Alters- Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 4.1 Professionelle Pflege . . . . . . . . . . . . . . . 87
2.3 Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 4.2 Theorien und Modelle in der Pflege . . . 88
2.3.1 Lohnwartesystem und katho- 4.2.1 Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
lische Pflegeorden . . . . . . . . . . 39 4.2.2 Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
2.3.2 Krise der Krankenpflege im 4.2.3 Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
18. Jh. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 4.2.4 Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . 91
2.3.3 Hospitalwesen in der Neuzeit . 42 4.2.5 Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
2.4 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptio-
2.4.1 Organisationsformen der Pflege 44 nelle Modelle der Pflege . . . . . . . . . . . . 95
2.4.2 Florence Nightingale und Jean 4.3.1 Hildegard Peplau – Inter-
Henri Dunant . . . . . . . . . . . . . . 51 personale Beziehungen in der
Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

VII
Inhalt

4.3.2Ida Jean Orlando – Die lebendige 5.6.2 Planungsphase . . . . . . . . . . . . . 150


Beziehung zwischen Pflegenden 5.6.3 Durchführungsphase . . . . . . . . 153
und Patienten . . . . . . . . . . . . . . 98 5.6.4 Auswertungsphase . . . . . . . . . . 153
4.3.3 Martha Rogers – Theoretische 5.6.5 Publikationsphase . . . . . . . . . . 154
Grundlagen der Pflege . . . . . . . 102 5.7 Evidence Based Nursing – eine auf For-
4.3.4 Dorothea Orem – Strukturkon- schung begründete Pflegepraxis . . . . . . 155
zepte der Pflegepraxis . . . . . . . 105 5.8 Pflegeforschung – eine ethische Heraus-
4.3.5 Betty Neuman – Das System- forderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5.8.1 Grundsätze ethischen Vor-
4.3.6 Madeleine Leininger – Kulturelle gehens in der Pflegeforschung . 156
Dimensionen menschlicher 5.8.2 Ethikkommissionen und die
Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Verantwortung des Einzelnen . 157
4.3.7 Jean Watson – Pflege: Wissen-
schaft und menschliche Zuwen- 6 Pflegeprozess und Pflegequalität . . . . . 160
dung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Astrid Hammer*, Elke Kobbert, Brigitte Maurer
4.3.8 Juliet Corbin/Anselm Strauss: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Modell der Krankheitsverlaufs- Astrid Hammer*, Brigitte Maurer
kurve (Chronic Illness Trajectory 6.1 Entwicklung des Pflegeprozesses . . . . . 161
Model) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 6.2 Ansätze zur Problemlösung . . . . . . . . . 164
4.3.9 Das Roper-Logan-Tierney- 6.2.1 Nicht-rationale Ansätze zur
Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Problemlösung . . . . . . . . . . . . . 164
4.3.10 Marie-Luise Friedemann – 6.2.2 Rationale Ansätze zur Problem-
Familien- und umweltbezogene lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 6.3 Modelle des Pflegeprozesses . . . . . . . . . 168
4.3.11 Monika Krohwinkel – Fördernde 6.3.1 Vier-Phasen-Modell . . . . . . . . . 169
Prozesspflege mit integrierten 6.3.2 Fünf-Phasen-Modell . . . . . . . . . 169
ABEDLs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 6.3.3 Sechs-Phasen-Modell . . . . . . . . 170
4.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 6.4 Pflegeprozess als Problemlösungs-
und Beziehungsprozess . . . . . . . . . . . . . 172
5 Pflegewissenschaft und -forschung . . . 137 6.5 Schritte des Pflegeprozesses . . . . . . . . 174
Hanna Mayer, Martin Nagl-Cupal* 6.5.1 Informationssammlung . . . . . . 174
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 6.5.2 Erkennen von Pflegeproblemen
5.1 Historischer Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . 138 und Ressourcen des pflege-
5.2 Wissensquellen beruflicher Pflege . . . . 138 bedürftigen Menschen . . . . . . . 180
5.3 Pflegewissenschaft: Begriffsbestimmung 6.5.3 Festlegung der Pflegeziele . . . . 185
und Gegenstandsbereich . . . . . . . . . . . . 140 6.5.4 Planung der Pflegemaßnahmen 187
5.4 Pflegeforschung: Begriffsbestimmung 6.5.5 Durchführung der Pflege . . . . . 191
und Gegenstandsbereich . . . . . . . . . . . . 141 6.5.6 Beurteilung der Wirkung der
5.4.1 Forschung auf der Mikro-Ebene 142 Pflege auf den pflegebedürfti-
5.4.2 Forschung auf der Meso-Ebene 142 gen Menschen . . . . . . . . . . . . . 192
5.4.3 Forschung auf der Makro-Ebene 143 6.6 Entlassungsmanagement und Pflege-
5.5 Grundlagen der Empirischen Pflegefor- überleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
schung: Quantitativer und qualitativer 6.6.1 Pflegeüberleitung/Überleitungs-
Forschungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
5.5.1 Quantitativer Forschungsansatz 144 6.6.2 Expertenstandard Entlassungs-
5.5.2 Qualitativer Forschungsansatz . 145 management in der Pflege . . . . 194
5.6 Der Weg zum empirischen Wissen: 6.6.3 Funktion und Rolle des Pflege-
Der Forschungsprozess . . . . . . . . . . . . . 148 prozesses im Entlassungs-
5.6.1 Theoretische Phase . . . . . . . . . . 148 management . . . . . . . . . . . . . . . 195

VIII
Inhalt

6.7 Einflussfaktoren auf die Durchführung 8 Arbeitsorganisation und Pflegesysteme 235


der Pflege nach dem Pflegeprozess . . . 197 Astrid Hammer*, Elke Kobbert
6.8 Pflegeprozess und Pflegetheorie . . . . . . 198 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
6.8.1 Roper/Logan und Tierney: Die 8.1 Pflegesysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Elemente der Krankenpflege . . 199 8.1.1 Funktionelle Pflege/Funktions-
6.8.2 Hildegard Peplau: Interpersona- pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
le Beziehungen in der Pflege . . 200 8.1.2 Patientenorientierte Pflege/
6.9 Pflegeprozess und Pflegestandards . . . . 202 Individualisierte Pflege . . . . . . 238
6.9.1 Strukturorientierte Standards . 202 8.2 Arbeitsorganisationen . . . . . . . . . . . . . . 240
6.9.2 Prozessorientierte Standards . 203 8.2.1 Gruppenpflege/Bereichspflege 240
6.9.3 Ergebnisorientierte Standards . 205 8.2.2 Zimmerpflege . . . . . . . . . . . . . . 240
6.9.4 Vorteile und kritische Aspekte 8.2.3 Einzelpflege . . . . . . . . . . . . . . . 240
beim Arbeiten mit Pflege- 8.2.4 Primary Nursing . . . . . . . . . . . . 241
standards . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
6.10 Pflegequalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
Elke Kobbert
6.10.1 Grundlagen zum Qualitäts- III Pflege und Beziehung
begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
6.10.2 Gesetzliche Grundlagen zur 9 Ethik und Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
Qualitätssicherung in der Pflege 209 Annette Lauber
6.10.3 Qualitätsmanagement . . . . . . . 211 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
6.10.4 Qualitätsmangementsysteme 9.1 Zentrale Begriffe der Ethik . . . . . . . . . . 249
im Gesundheitswesen . . . . . . . 213 9.1.1 Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
6.10.5 Maßnahmen und Instrumente 9.1.2 Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
zur Förderung des Verbes- 9.1.3 Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
serungsprozesses . . . . . . . . . . . 214 9.2 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
6.10.6 Maßnahmen und Instrumente 9.2.1 Formen der Ethik . . . . . . . . . . . 255
zur Förderung der Pflege- 9.2.2 Normative Ethik . . . . . . . . . . . . 255
qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 9.3 Pflegeethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
9.3.1 Geschichtlicher Überblick . . . . 259
7 Pflegediagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 9.3.2 Berufskodizes . . . . . . . . . . . . . . 260
Annette Lauber 9.3.3 Verantwortung und verant-
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 wortliches Handeln in der
7.1 Entwicklung der Pflegediagnosen . . . . . 221 Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
7.2 Arten von Pflegediagnosen . . . . . . . . . . 224 9.3.4 Ethische Prinzipien für die
7.2.1 Problemfokussierte Pflege- Pflegepraxis . . . . . . . . . . . . . . . 267
diagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 9.4 Ethische Entscheidungsfindung . . . . . . 275
7.2.2 Risikopflegediagnosen . . . . . . . 226 9.4.1 Modell für die ethische
7.2.3 Pflegediagnosen der Gesund- Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
heitsförderung . . . . . . . . . . . . . 226 9.4.2 Stufenpläne . . . . . . . . . . . . . . . . 276
7.3 Klassifikation von Pflegediagnosen . . . . 227 9.4.3 Ethische Fallbesprechung . . . . . 278
7.3.1 Klassifikation der NANDA . . . . 227 9.4.4 Nimwegener Methode der
7.3.2 Andere Ordnungssysteme . . . . 229 ethischen Fallbesprechung . . . 279
7.4 Pflegediagnosen im Pflegeprozess . . . . 231

IX
Inhalt

10 Kommunikation und Pflege . . . . . . . . . . 283 10.7.4 Beratungsgespräche . . . . . . . . . 311


Anja Heißenberg*, Annette Lauber 10.7.5 Kollegiale Beratung . . . . . . . . . . 313
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 10.7.6 Konfliktgespräche . . . . . . . . . . . 314
10.1 Kommunikation im täglichen Handeln . 284 10.8 Partnerzentrierte Gespräche . . . . . . . . . 315
10.2 Kommunikation als Regelkreis . . . . . . . 285 10.9 Themenzentrierte Interaktion (TZI) . . . 318
10.3 Formen der Kommunikation . . . . . . . . . 286 10.9.1 Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
10.3.1 Verbale Kommunikation . . . . . 286 10.9.2 Zentrale Elemente . . . . . . . . . . 319
10.3.2 Nonverbale Kommunikation . . 287 10.9.3 Postulate . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
10.3.3 Kongruenz und Inkongruenz 10.9.4 Hilfsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
der Nachricht . . . . . . . . . . . . . . 289 10.9.5 Themenzentrierte Interaktion
10.3.4 Beziehungen und Kommuni- in der Pflege . . . . . . . . . . . . . . . 321
kation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 10.10 Supervision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
10.4 Das Kommunikationsmodell nach Schulz 10.10.1 Supervision in der Pflege . . . . . 322
von Thun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 10.10.2 Formen der Supervision
10.4.1 Vier Seiten einer Nachricht . . . 292 (Setting) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
10.4.2 Vier Empfangs-Ohren . . . . . . . . 294 10.10.3 Balint-Gruppen . . . . . . . . . . . . . 324
10.5 Kommunikationsstörungen vermeiden 296
10.6 Kommunikation als Beziehungsgrund- Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
lage in der Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
10.7 Spezielle Gesprächssituationen . . . . . . . 301 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
10.7.1 Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . 301
10.7.2 Informationsgespräche . . . . . . . 306 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
10.7.3 Anleitungsgespräche . . . . . . . . 310

X
I Pflege und Entwicklung

II Pflege und Profession

III Pflege und Beziehung


I Pflege und Entwicklung

Übersicht
1 Leitbild und Pflege · 4
2 Entwicklung der Pflege zum Beruf · 24
3 Berufliche Handlungskompetenz · 69

Das, was heute unter Pflege verstanden wird, ist zu einem großen Teil das Ergebnis his-
torischer Prozesse und gesellschaftlicher Entwicklungen, die nicht nur ausschließlich die
Pflege, sondern auch andere wissenschaftliche Disziplinen in hohem Maße beeinflusst
haben. Für die Pflege und das Pflegeverständnis besonders relevant sind dabei Überlegun-
gen zur Sichtweise des Menschen und die Auseinandersetzung mit zentralen Begriffen wie
Gesundheit und Krankheit, da diese sich sowohl auf die Beziehung zum pflegebedürftigen
Menschen als auch auf den Aufgabenbereich der Pflege ausgewirkt haben und noch immer
auswirken.
Der Blick in die Geschichte der Pflege zeigt darüber hinaus, dass Pflegen eine elementare
Tätigkeit von Menschen ist, die aber erst seit ca. 100 Jahren als eigenständiger Beruf mit
einer dazugehörigen Ausbildung anerkannt wird. Gleichzeitig zieht die berufliche Aner-
kennung der Pflege die Frage nach den für die Berufsausübung erforderlichen Kompetenzen
nach sich, denn diese müssen in den Ausbildungen der Pflegeberufe vermittelt werden, um
den Berufsangehörigen die Bewältigung des beruflichen Alltags zu ermöglichen. In den drei
Kapiteln des ersten Teils dieses Buches werden grundsätzliche Überlegungen zur Pflege im
Hinblick auf zentrale Themen wie Menschenbild, Gesundheit und Krankheit vorgestellt.
Weiter werden die Entwicklung der Pflege zum Beruf sowie die für die beruflich ausgeübte
Pflege erforderlichen Kompetenzen der Pflegepersonen beleuchtet.

BAND 1 Pflege und Entwicklung 3


1 Leitbild und Pflege
1
Annette Lauber

Übersicht
Einleitung · 4
1.1 Pflege – Eine Begriffsbestimmung · 4
1.2 Berufsbild · 5
1.3 Definitionen der Pflege · 10
1.4 Menschenbild · 11
1.5 Gesundheit und Krankheit · 15
1.5.1 Gesundheit und Krankheit in Altertum und
Mittelalter · 15
1.5.2 Biomedizinisches Krankheitsmodell · 16
1.5.3 Definition der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) · 18
1.5.4 Salutogenetisches Modell · 19
Fazit · 21
Literatur · 22
auseinanderzusetzen, da sie sowohl die Pflegetheorie
als auch die Pflegepraxis maßgeblich beeinflussen.
Schlüsselbegriffe
Das folgende Kapitel beschreibt grundlegende
▶ Berufsbild Aufgaben der Pflegeberufe und stellt Sichtweisen
▶ Menschenbild vom Menschen sowie den Wandel des Gesundheits-
▶ Patientenorientierte Pflege und Krankheitsverständnisses vor.
▶ Umfassende Pflege
▶ Individuelle Pflege
▶ Gesundheit 1.1 Pflege –
▶ Krankheit Eine Begriffsbestimmung
▶ Biomedizinisches Modell
▶ Salutogenetisches Modell Der Begriff „Pflege“ bzw. „pflegen“ wird in vielen
Zusammenhängen gebraucht.
Menschen pflegen ihr Auto, ihre Schönheit, Blu-
Einleitung men, Beziehungen zueinander und den Umgang
miteinander. Personen, die sich um die Sauberkeit
Berufliche Pflege ist auf pflegebedürftige Menschen in Büros oder anderen Räumen kümmern, werden
ausgerichtet. Ihre Aufgabenbereiche und Tätigkeits- als Raumpfleger und Raumpflegerinnen bezeichnet.
felder werden zu einem wesentlichen Teil von dem Die Tätigkeit „pflegen“ kann also als etwas gese-
zugrunde liegenden Menschenbild und dem Ver- hen werden, das selbstverständlich in den Alltag von
ständnis von Gesundheit und Krankheit beeinflusst. Menschen integriert ist.
Beide unterliegen vielfältigen Einflüssen aus Ge- „Pflegen“ bezieht sich in diesem Zusammenhang
schichte, Kultur und Wissenschaft. Ebenso wie auf eine angemessene Behandlung von Gegenstän-
diese sich veränderten, hat sich auch die Sichtweise den bzw. Objekten, damit diese z. B. schön aussehen
vom Pflegeberuf gewandelt. und so dem menschlichen Empfinden von Ästhetik
Für Angehörige der Pflegeberufe ist es deshalb entsprechen, wachsen und sich entwickeln oder ein-
wichtig, sich mit den grundlegenden Annahmen fach nur Freude bereiten. Etwas pfleglich behandeln
über den Menschen und mit den verschiedenen Be- ist immer auch Ausdruck einer gewissen Wertschät-
trachtungsweisen von Gesundheit und Krankheit zung, die dem zu pflegenden Gegenstand entgegen-
gebracht wird.

4 Pflege und Entwicklung BAND 1


1.2 Berufsbild

Entsprechend dem jeweils gepflegten Objekt Auch Eltern, die ihre kranken Kinder pflegen,
nimmt die Pflege eine bestimmte konkrete Gestalt oder erwachsene Männer und Frauen, die ihre pfle- 1
an, d. h. sie äußert sich in objektspezifischen Hand- gebedürftigen Eltern zuhause versorgen und betreu-
lungen und Tätigkeiten, die die jeweilige Pflege aus- en, besitzen keine pflegerische Berufsausbildung.
machen. Die pflegerische Berufsausübung ist im Gegensatz
Bei der Blumenpflege ist dies z. B. die Zufuhr von zur Berufsbezeichnung von Gesundheits- und Kran-
ausreichend Wasser und Dünger; zur Autopflege ge- kenschwestern/-pflegern, Gesundheits- und Kinder-
hört das Waschen und Polieren des Autos in regel- krankenschwestern/-pflegern sowie Altenpflegerin-
mäßigen Abständen. Schönheitspflege kann u. a. in nen und Altenpflegern, die im Gesetz über die Be-
einer sorgfältigen Mani- und Pediküre bestehen und rufe in der Krankenpflege bzw. im Gesetz über die
Beziehungen werden durch regelmäßige Telefonate Berufe in der Altenpflege geregelt ist, gesetzlich
oder wechselseitige Besuche gepflegt. nicht geschützt. Daher können auch „Laien“, d. h.
Beruflich ausgeübte Pflege ist auf den pflegebe- Personen ohne Pflegeausbildung, pflegerisch tätig
dürftigen Menschen und seinen individuellen Pfle- werden.
gebedarf ausgerichtet. An ihm orientieren sich die Demnach stellt sich die Frage, wozu Pflegeper-
auszuführenden Pflegehandlungen der Pflege- sonen eine Berufsausbildung benötigen, wenn doch
personen. Im Gegensatz zu den oben genannten Ge- auch Personen ohne Ausbildung pflegen dürfen,
genständen wie Autos, Blumen etc. ist der Mensch bzw. welche Kennzeichen und Merkmale die Ab-
als Subjekt, d. h. als Lebewesen mit einem eigenen grenzung der beruflich ausgeübten Pflege von der
Bewusstsein, jedoch ungleich komplexer. Er ist fähig nicht beruflich ausgeübten ermöglichen.
zu empfinden, Gefühle zu haben und diese zu äu-
ßern, und über die physiologischen Bedürfnisse
nach Nahrung, Luft und Flüssigkeit hinaus ist er 1.2 Berufsbild
u. a. angewiesen auf ein soziales Umfeld, in dem er
Zuwendung, Nähe, Akzeptanz und Wertschätzung Mit der Abgrenzung der beruflich bzw. professionell
erfährt und wechselseitig austauscht. ausgeübten Pflege von der „Laienpflege“ und der
Das, was der einzelne Mensch benötigt, um zu Erarbeitung spezifischer Aufgaben, Inhalte und Tä-
gedeihen und sein Menschsein zu entfalten, ist in tigkeiten der beruflich ausgeübten Pflege haben sich
höchstem Maße individuell. Dabei spielen Einfluss- u. a. verschiedene pflegerische Berufsverbände be-
faktoren, wie z. B. das Alter, soziale Beziehungen, der schäftigt. Sie haben hierzu Stellungnahmen und
kulturelle Hintergrund, ökonomische Verhältnisse Richtlinien herausgegeben, die allesamt unter der
etc., eine wichtige Rolle. Bezeichnung Berufsbild geführt werden.
Hieraus ergeben sich für die Pflege von Men- Die Berufsbilder der Verbände enthalten genauere
schen entsprechend individuelle Anforderungen, Aussagen über den Verantwortungsbereich der Pfle-
die die Pflege zu einem komplexen Feld machen ge sowie über die speziellen Aufgaben von professio-
und die die inhaltliche Bestimmung dessen, was nellen Pflegepersonen.
zur Pflege von Menschen gehört, häufig erschweren. Der Deutsche Pflegerat e.V. (DPR) wurde 1998
Ebenso wird eine einheitliche Begriffsbestimmung gegründet. Als Bundesarbeitsgemeinschaft Pflege-
bzw. Definition von „Pflege“ hierdurch kompliziert. und Hebammenwesen haben sich in dieser Orga-
Eine zusätzliche Problematik ergibt sich aus der nisation Berufsverbände der Pflege zusammen-
Tatsache, dass Pflege nicht nur von Angehörigen der geschlossen, um gemeinsame Positionen zu ent-
Pflegeberufe, also professionell oder beruflich Pfle- wickeln und die Interessen der Pflege und des Heb-
genden, ausgeübt wird, sondern auch von Personen, ammenwesens auf politischer Ebene zu vertreten.
die keine pflegerische Berufsausbildung absolviert
haben. Jeder kennt einfache Maßnahmen der Selbst-
pflege, wenn er Kopf- oder Zahnschmerzen verspürt
oder eine Grippeinfektion auskuriert. Nicht immer
werden hier beruflich Pflegende hinzugezogen.

BAND 1 Pflege und Entwicklung 5


1 Leitbild und Pflege

2004 hat der deutsche Pflegerat eine Rahmen- deln bieten soll. Die Aufgaben der beruflich aus-
1 berufsordnung verabschiedet, die beruflich Pflegen- geübten Pflege werden in der Rahmenberufsord-
den u. a. eine Orientierung für ihr berufliches Han- nung wie folgt beschrieben:

Berufsbild „Professionell Pflegende“ ■ übung geltenden Vorschriften informieren und sie


▌ „Präambel beachten.
Die ethischen Grundsätze der professionell Pflegenden ■ II. Professionell Pflegende üben die Pflege ohne
basieren auf dem Grundgesetz der Bundesrepublik Wertung des Alters, einer Behinderung oder Krank-
Deutschland, das die Unantastbarkeit der Würde des heit, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung,
Menschen festlegt. Darüber hinaus gelten die aktuellen des Glaubens, der Hautfarbe, der Kultur, der Natio-
wissenschaftlich fachlichen Erkenntnisse sowie die ethi- nalität, der politischen Einstellung, der Rasse oder
schen Regeln der einzelnen Berufsorganisationen und des sozialen Status aus.
-verbände. Pflege heißt, den Menschen in seiner aktu- ■ III. Eigenverantwortliche Aufgaben professionell
ellen Situation und Befindlichkeit wahrnehmen, vorhan- Pflegender sind:
dene Ressourcen fördern und unterstützen, die Familie – Feststellung des Pflegebedarfs, Planung, Organi-
und das soziale, kulturelle und traditionelle Umfeld des sation, Durchführung und Dokumentation der
Menschen berücksichtigen und in die Pflege einbezie- Pflege,
hen sowie gegebenenfalls den Menschen auf seinem – Evaluation der Pflege, Sicherung und Entwick-
Weg zum Tod begleiten. lung der Qualität der Pflege,
– Beratung, Anleitung und Unterstützung von
▌ Professionell Pflegende Leistungsempfängern und ihrer Bezugsper-
■ leisten ihren berufsspezifischen Beitrag zum gesell- sonen,
schaftlichen Auftrag zur Gesundheitsfürsorge und – Einleitung lebenserhaltender Sofortmaßnahmen
Krankheitsverhütung, zur Wiederherstellung von bis zum Eintreffen des Arztes oder der Ärztin.
Gesundheit, zur Unterstützung und Hilfeleistung ■ Aufgaben im Rahmen der Mitwirkung sind:
bei chronischen Erkrankungen, Behinderungen, Ge- – eigenständige Durchführung ärztlich veranlass-
brechlichkeit und im Sterbeprozess. ter Maßnahmen,
■ ermitteln den Pflegebedarf, führen die Maßnahmen – Maßnahmen der medizinischen Diagnostik, The-
des Pflegeplanes durch und überprüfen die Effekti- rapie oder Rehabilitation,
vität des pflegerischen Handelns. – Maßnahmen in Krisen- und Katastrophensitua-
■ erhalten und unterstützen die Lebensaktivitäten tionen.
und eigenständige Lebensführung des Menschen. Professionell Pflegende arbeiten interdisziplinär mit an-
■ kommunizieren und kooperieren mit allen am Pfle- deren Berufsgruppen zusammen. Sie entwickeln multi-
ge- und Betreuungsprozess Beteiligten. disziplinäre und berufsübergreifende Lösungen von Ge-
■ fördern durch ihr Handeln das Ansehen des Berufs- sundheitsproblemen. [. . .]“ (Deutscher Pflegerat e. V.
standes und durch Beteiligung an Pflegeforschungs- 2004).
projekten die Pflegewissenschaft.
■ stärken die berufliche Interessenvertretung, indem
sie sich in einem Berufsverband organisieren.
Die Rahmenberufsordnung des DPR ist für alle seine
■ arbeiten an den Lösungen der gesellschaftlichen
Probleme mit, die sich auf die Pflege auswirken,
Mitgliedsverbände verbindlich. Einige Landespflege-
und informieren die Gesellschaft über Gesundheits- räte haben mittlerweile eigene Berufsordnungen für
fragen. Pflegende geschaffen, so u. a. Sachsen, Hamburg,
[. . .] Bremen, Berlin-Brandenburg und das Saarland. Sie
haben als gesetzliche Ordnung bindenden Charakter
▌ § 2 Aufgaben für alle Angehörigen der erfassten Pflegeberufe
■ I. Professionell Pflegende sind verpflichtet, ihren (i. d. R. Gesundheits- und Krankenpfleger, Gesund-
Beruf entsprechend dem allgemein anerkannten heits- und Kinderkrankenpfleger sowie Altenpfle-
Stand pflegewissenschaftlicher, medizinischer und ger). Berufsordnungen machen Aussagen zum Be-
weiterer bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse aus- rufsbild und den Berufsaufgaben und sie beschrei-
zuüben. Sie müssen sich über die für die Berufsaus- ben die Berufspflichten gegenüber anderen sowie
diejenigen zur Kompetenzerhaltung und Qualitäts-
sicherung.

6 Pflege und Entwicklung BAND 1


1.2 Berufsbild

Auszug aus der Berufsordnung für Gesundheits- (2) Pflegefachkräfte arbeiten mit anderen Berufsgruppen 1
und Krankenpflegerinnen, Gesundheits- und des Gesundheitsbereiches zusammen. Dabei achten
Krankenpfleger, Gesundheits- und Kinder- sie den Kompetenzbereich anderer Berufsgruppen.
krankenpflegerinnen und Gesundheits- und Sie übernehmen im Rahmen der Mitwirkung bei Di-
Kinderkrankenpfleger sowie Altenpflegerinnen agnostik, Therapie und Rehabilitation Aufgaben an-
und Altenpfleger (Pflegefachkräfte-Berufsord- derer Berufsgruppen, wenn sie ihnen zur eigenstän-
nung der Hansestadt Hamburg) vom digen Durchführung übertragen werden. Pflegefach-
29. September 2009 kräfte tragen sowohl für die Entscheidung der Über-
▌ § 2 Ziele nahme als auch für die Qualität der Durchführung
(1) Mit der Festlegung von Berufspflichten der Pflege- einer über tragenen Maßnahme die Verantwortung.
fachkräfte dient die Berufsordnung dem Ziel, Pflegefachkräfte dürfen nur solche Aufgaben über-
1. das Vertrauen zwischen Pflegefachkräften und nehmen, für die sie ausreichend qualifiziert sind.
Pflegebedürftigen herzustellen, zu erhalten und ▌ § 5 Berufspflichten
zu fördern, Pflegefachkräfte haben insbesondere folgende Vorschrif-
2. die Qualität der pflegerischen Tätigkeit im Interes- ten zu beachten:
se der Gesundheit der Bevölkerung zu sichern und 1. Allgemeine Berufspflichten:
3. berufswürdiges Verhalten zu fördern sowie berufs- Eine pflegerische Berufsausübung verlangt, dass Pfle-
unwürdiges Verhalten zu verhindern. gefachkräfte
(2) Pflege ist unter Berücksichtigung und ohne Bewer- a) beim Umgang mit Pflegebedürftigen deren Selbst-
tung von Nationalität, Glauben, politischer Einstel- ständigkeit, Würde und Selbstbestimmungsrecht
lung, Kultur, sexueller Identität, Hautfarbe, Alter, Ge- respektieren sowie die Persönlichkeit und die
schlecht oder sozialem Status auszuführen. Privatsphäre stets achten,
▌ § 3 Berufsbild b) sich mit Übernahme der Behandlung der Pflege-
Grundlage pflegerischer Berufstätigkeit sind das Kranken- bedürftigen zur gewissenhaften Versorgung mit
pflegegesetz und das Altenpflegegesetz. Die Pflegefach- geeigneten pflegerischen Einschätzungsverfahren
kräfte bedienen sich der fachlichen, personalen, sozialen und Behandlungsmethoden verpflichten,
und methodischen Kompetenzen, die zur Pflege von c) Rücksicht auf die Gesamtsituation der Pflegebe-
Menschen in unterschiedlichen Pflege- und Lebenssitua- dürftigen nehmen,
tionen sowie Lebensphasen erforderlich sind. Die Tätig- d) den Mitteilungen der Pflegebedürftigen gebüh-
keit ist dabei unter Einbeziehung geeigneter präventiver, rende Aufmerksamkeit entgegen bringen und Kri-
kurativer, rehabilitativer und palliativer Maßnahmen auf tik sachlich begegnen.
die Wiedererlangung, Verbesserung, Erhaltung und För- 2. Spezielle Berufspflichten:
derung der physischen und psychischen Gesundheit der a) Schweigepflicht:
zu pflegenden Menschen auszurichten. Für sterbende Pflegefachkräfte sind grundsätzlich zur Verschwie-
Menschen ist die bestmögliche, würdevolle Begleitung genheit über alle ihnen in Ausübung ihres Berufes
zu gewährleisten. anvertrauten oder bekannt gewordenen vertrauli-
chen Informationen der ihnen anvertrauten Pfle-
▌ § 4 Berufsaufgaben gebedürftigen und deren Bezugspersonen ver-
(1) Pflegefachkräfte üben ihre Berufstätigkeit eigenver- pflichtet; sie sind zur Offenbarung befugt, soweit
antwortlich und im Rahmen ärztlich veranlasster dies gesetzlich bestimmt ist, sie von der Schwei-
Maßnahmen (Delegation) eigenständig aus. Als Pfle- gepflicht entbunden worden sind oder soweit die
gefachkräfte sind sie in Absprache mit den Pflegebe- Offenbarung zum Schutze eines höherwertigen
dürftigen und ihren Bezugspersonen insbesondere Rechtsgutes, insbesondere auch bei begründetem
verantwortlich für die Erhebung und Feststellung Verdacht einer Misshandlung, eines Missbrauchs
des Pflegebedarfes sowie für Planung, Organisation, oder einer schwerwiegenden Vernachlässigung,
Durchführung, Dokumentation und Evaluation der erforderlich ist; gesetzliche Aussage- und Anzeige-
Pflege. Dabei beraten, fördern und unterstützen sie pflichten bleiben unberührt; soweit gesetzliche
die Pflegebedürftigen und ihre Bezugspersonen in Vorschriften die Schweigepflicht der Pflegenden
der individuellen Auseinandersetzung und im Um- einschränken, sollen sie die Pflegebedürftigen da-
gang mit ihrer Gesundheit und Krankheit. Pflegefach- rüber unterrichten,
kräfte leiten Auszubildende und pflegerische Hilfs-
kräfte in der fachpraktischen Pflege an.

BAND 1 Pflege und Entwicklung 7


1 Leitbild und Pflege

1 b) Auskunftspflicht: f) Mitteilungspflicht:
Pflegefachkräfte sind verpflichtet, Pflegebedürfti- Pflegefachkräfte, deren Gesundheit so weit einge-
gen oder stellvertretend ihren Bezugspersonen die schränkt ist, dass die Berufsausübung wesentlich
erforderlichen Auskünfte über die geplanten pfle- beeinträchtigt ist oder Pflegebedürftige gefährdet
gerischen Maßnahmen in verständlicher und ange- werden können (wie zum Beispiel bei übertrag-
messener Weise zu erteilen, baren Krankheiten), sind verpflichtet, dieses ihrem
c) Beratungspflicht: Arbeitgeber oder der zuständigen Behörde mit-
Pflegefachkräfte haben die Pflegebedürftigen zuteilen, um geeignete Maßnahmen im Interesse
unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Arbeitnehmer- und Patientenschutzes ergrei-
über notwendig durchzuführende Pflegemaßnah- fen zu können.
men und über mögliche alternative Pflege- und
▌ § 6 Kompetenzerhaltung und
Versorgungsformen zu informieren; dabei ist das
Recht auf Ablehnung empfohlener Pflegemaßnah-
Qualitätssicherung
men zu beachten; die Beratungspflicht schließt die (1) Pflegefachkräfte sind verpflichtet, eigenverantwort-
Information über gesundheitsfördernde und ge- lich Maßnahmen zur beruflichen Kompetenzerhal-
sundheitserhaltende Maßnahmen, Methoden und tung zu ergreifen. Geeignete Maßnahmen sind
Verhaltensweisen ein, neben dem Studium der Fachliteratur insbesondere
d) Informations- und Beteiligungspflicht: pflegefachliche Fortbildungen, die dem Erhalt der
Pflegefachkräfte haben den am Behandlungs- und fachlichen Kompetenz durch kontinuierliche Aktuali-
Betreuungsprozess beteiligten Angehörigen ande- sierung des Wissensstandes und der pflegerischen
rer Berufsgruppen die notwendigen Informationen Technologie unter Berücksichtigung wissenschaftli-
im Rahmen des Behandlungs- oder Betreuungsver- cher Erkenntnisse und neuer Verfahren dienen. Die
trages und der gesetzlichen Bestimmungen wei- Fortbildungen sollen sich auf alle pflegerischen Fach-
terzugeben; es sind rechtzeitig entsprechend spe- richtungen in ausgewogener Weise erstrecken; sie
zialisierte Pflegefachkräfte oder Ärztinnen bzw. umfassen auch den Erwerb notwendiger pflegerecht-
Ärzte hinzuziehen, wenn die eigene Kompetenz licher und gesundheitsökonomischer Kenntnisse
zur Lösung der pflegerischen und therapeutischen sowie die Verbesserung kommunikativer und sozialer
Aufgabe nicht ausreicht, Kompetenzen und schließen Methoden der Qualitäts-
e) Dokumentationspflicht: sicherung, des Qualitätsmanagements und der evi-
Pflegefachkräfte haben die von ihnen erbrachte denzbasierten Pflege wie die konsentuierten nationa-
Pflegetätigkeit in strukturierter Form zu dokumen- len Expertenstandards ein.
tieren; hierzu wird ein im Arbeitsbereich installier- (2) Pflegefachkräfte haben in dem Umfang von kom-
tes Dokumentationssystem verwendet; die Doku- petenzerhaltenden Maßnahmen Gebrauch zu ma-
mentationen erfolgen ausreichend, zeit- und chen, wie dies zur Erhaltung und Entwicklung der
handlungsnah, leserlich und werden fälschungs- zur Berufsausübung notwendigen Fachkenntnisse er-
sicher unterschrieben; das Dokumentationssystem forderlich ist. Der Umfang von mindestens zwanzig
muss allen am Behandlungs- und Betreuungspro- Fortbildungspunkten aus kompetenzerhalten den
zess beteiligten Angehörigen anderer Berufsgrup- Maßnahmen entsprechend der Anlage ist jährlich
pen im Rahmen des Behandlungs- oder Betreu- von jeder Pflegefachkraft verbindlich zu erbringen.
ungsvertrages und der gesetzlichen Bestimmun- Gegenüber der für das Gesundheitswesen zuständi-
gen zugänglich sein; die Pflegefachkräfte haben gen Behörde oder einer von dieser ermächtigten
den Pflegebedürftigen auf deren Verlangen Ein- Stelle müssen auf Anforderung in geeigneter Form
sicht in die sie betreffenden Krankenunterlagen entsprechende kompetenzerhaltende Maßnahmen
zu gewähren; auf Schutzmaßnahmen zu beachten, nachgewiesen werden können.
(3) Pflegefachkräfte übernehmen im Team und in der
Institution Verantwortung, indem sie sich an der
Qualitätsentwicklung und -sicherung beteiligen.“

8 Pflege und Entwicklung BAND 1


1.2 Berufsbild

Hier wird Folgendes deutlich: telt werden (s. a. Kap. 3). Die Berufsausübung erfolgt
■ Pflege ist ein eigenständiger Beruf des Gesund- auf der Basis von Erkenntnissen der Pflegewissen- 1
heitswesens, der einer Ausbildung bedarf und schaft, aber auch unter Einbezug der Erkenntnisse
gegen Bezahlung ausgeübt wird. anderer Wissenschaftsdisziplinen, wie z. B. der Psy-
■ Pflege setzt am ganzen Menschen an. Sie ist so- chologie, Gerontologie, Soziologie, Pädagogik, Medi-
wohl auf kranke als auch auf gesunde Anteile des zin etc. Berufliche Pflege ist darüber hinaus nicht
Menschen gerichtet, was den Bereich der Präven- nur auf die kranken und körperlichen Anteile eines
tion und Rehabilitation sowie der Palliativpflege Menschen gerichtet, sondern schließt auch seine ge-
einschließt. sunden Anteile sowie psychische und soziale Kom-
■ Pflege wird unter Einbezug der Erkenntnisse der ponenten ein.
Pflegewissenschaft und der Erkenntnisse wichti-

!
ger Bezugswissenschaften, wie z. B. der Medizin, Merke: Der Einbezug der gesunden Anteile
Psychologie, Soziologie etc. ausgeübt. pflegebedürftiger Menschen und die Aus-
■ Angehörige der Pflegeberufe sind zuständig für weitung der Pflegeberufe auf den Bereich
die Einschätzung der Pflegebedürftigkeit eines der Prävention und Rehabilitation hat sich auch in
Menschen sowie die Planung, Durchführung der Änderung der Berufsbezeichnung zu Gesundheits-
und Bewertung der Pflege. Sie beraten und leiten und Kinderkrankenpfleger/in bzw. Gesundheits- und
pflegebedürftige Menschen an. Krankenpfleger/in des seit 2004 geltenden Gesetzes
■ Pflegepersonen sind aufgefordert, das eigene über die Berufe in der Krankenpflege nierdergeschla-
Wissen und Können durch Fort- und Weiterbil- gen. Darüber hinaus werden die Gemeinsamkeiten
dung zu entwickeln. der Pflegeberufe betont, indem immer häufiger von
■ Die Ausübung der Pflege erfolgt in Zusammen- „Pflege“ als verbindendem Element gesprochen wird
arbeit mit anderen Berufen des Gesundheits- (Abb. 1.1).
wesens.
Berufliche Pflege wird in verschiedenen stationären,
Hiermit lässt sich auch die berufliche Pflege von der teilstationären und ambulanten Einrichtungen des
nicht beruflich ausgeübten Pflege abgrenzen: Pflege Gesundheitsweses und der Altenhilfe ausgeübt.
darf nur dann berufsmäßig ausgeübt werden, wenn Hierzu gehören u. a.:
eine entsprechende pflegerische Berufsausbildung ■ Ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen,
erfolgreich abgeschlossen wurde. wie Krankenhäuser, Kinderkliniken, Sozialstatio-
Im Gegensatz zur nicht beruflich ausgeübten er- nen, Alten- und Pflegeheime,
folgt die beruflich ausgeübte Pflege gegen Bezah- ■ Fachkliniken, wie z. B. Psychiatrische Kranken-
lung. Zur pflegerischen Berufsausübung gehören häuser, Neurologische Rehabilitationszentren
Kompetenzen, die während der Ausbildung vermit- oder Kurkliniken,

Abb. 1.1 Die Alltagsnähe des Begriffs


Abgrenzung der Begriffe der Pflege „pflegen“ erfordert eine Darstellung der
Merkmale beruflich ausgeübter Pflege.

Pflege in der Selbstpflege nicht-berufliche berufliche


Umgangs- Plege Pflege
sprache
– von Dingen – z. B. bei leich- – z. B. Pflege von – Berufsausbil-
– von Bezieh- ten Erkrankun- Verwandten dung
ungen gen – Bezahlung
– wissenschaft-
liche Grund-
lage
– Berufsbild

BAND 1 Pflege und Entwicklung 9


1 Leitbild und Pflege

■ Einrichtungen für Menschen mit körperlicher 4. Bewegung und Beibehaltung wünschenswerter


1 und geistiger Behinderung. Haltung,
5. Schlaf und Ruhe,
Dabei gewinnen teilstationäre und ambulante Ange- 6. Auswahl geeigneter Kleidung – Ankleiden und
bote, wie Kurzzeitpflege, Tageskliniken und Tages- Auskleiden,
pflege, durch den vom Gesetzgeber ausgegebenen 7. Aufrechterhaltung der Körpertemperatur im
Grundsatz „ambulant vor stationär“ zunehmend an normalen Bereich durch Anpassung der Klei-
Bedeutung. dung und Veränderung der Umwelt,
8. Sauberhalten des Körpers und seine gute Pflege

!
Merke: Die beruflich ausgeübte Pflege sowie Schutz der Haut,
zeichnet sich aus durch eine erfolgreich ab- 9. Vermeidung von Gefahren in der Umgebung und
geschlossene pflegerische Berufsausbildung, Vermeidung der Gefährdung anderer,
in der die notwendigen Kompetenzen vermittelt wur- 10. Kommunikation mit anderen durch Äußerung
den. Die Ausübung der Pflege erfolgt gegen Bezahlung von Gefühlen, Bedürfnissen, Befürchtungen
und unter Einbezug pflegespezifischer sowie anderer oder Meinungen,
Wissenschaftsdisziplinen. Berufliche Pflege ist nicht 11. Verehrung Gottes entsprechend dem eigenen
nur auf die kranken und körperlichen Anteile eines Glauben,
Menschen, sondern darüber hinaus auch auf seine 12. Arbeit in einer Art und Weise, dass ein Gefühl
psychischen und sozialen sowie gesunden Anteile ge- für Erfolg sich einstellt,
richtet. 13. Spielen oder an verschiedenen Formen der Er-
holung teilnehmen,
14. Lernen, entdecken oder Neugierde befriedigen,
1.3 Definitionen der Pflege soweit dies zur normalen Entwicklung und Ge-
sundheit führt, und Inanspruchnahme der ver-
Um die Pflege inhaltlich genauer zu bestimmen, fügbaren Gesundheitseinrichtungen.
haben eine Reihe von Pflegewissenschaftlerinnen
und -wissenschaftlern ebenfalls Definitionen für Sind Menschen aus irgendeinem Grund, beispiels-
„Pflege“ verfasst. Eine der frühesten und bekanntes- weise durch eine Erkrankung oder Behinderung, vo-
ten Definitionen stammt aus dem Jahre 1960 von rübergehend oder dauerhaft nicht in der Lage, die
der amerikanischen Pflegetheoretikerin Virginia aufgeführten Bedürfnisse zu erfüllen, ist es die Auf-
Henderson (1897 – 1996): gabe der Pflegepersonen, sie in diesen Bereichen zu
unterstützen mit dem Ziel, sie schnellstmöglich wie-
Definition: „Die einzigartige Aufgabe der der zur Unabhängigkeit zu befähigen.
Krankenpflege ist es, dem einzelnen, krank Wie jede Definition ist auch die Definition der
oder gesund, bei der Durchführung jener Tätig- Pflege von Virginia Henderson abhängig von der je-
keiten zu helfen, die zur Gesundheit oder Rekonvales- weils zugrunde gelegten Perspektive, aus der ein
zenz (oder zu einem friedlichen Tod) beitragen, die er Gegenstand – in diesem Fall die Pflege – betrachtet
ohne Hilfe selbst durchführen würde, wenn er die wird. Ihre Definition fokussiert die Annahme, dass
dazu notwendige Kraft, den Willen oder das Wissen Menschen Lebewesen mit spezifischen Bedürfnissen
hätte. Dieses ist auf eine Weise zu tun, die dem Pa- sind. Das Ziel der Pflege bzw. ihre Sichtweise von
tienten die schnellstmögliche Wiedererlangung seiner Gesundheit ist eng verbunden mit Unabhängigkeit
Unabhängigkeit erlaubt“ (zit. n. Steppe 1990, S. 585). in den genannten Bedürfnisbereichen.
Henderson war eine der ersten Pflegetheoretike-
Henderson beschreibt in ihrer Theorie 14 Grund- rinnen. Sie hat ihre Definition von Pflege zu einer
bedürfnisse des Menschen, die gleichzeitig die Be- Zeit verfasst, als es noch nicht unbedingt üblich war,
reiche, in denen Pflege tätig wird, verdeutlichen: sich auf einer theoretischen Basis mit der Pflege
1. Normale Atmung, auseinanderzusetzen. Seit Mitte der 50er Jahre des
2. Ausreichendes Essen und Trinken, 20. Jahrhunderts sind jedoch vor allem im anglo-
3. Beseitigung der Körperausscheidungen, amerikanischen Raum eine Reihe von Theorien
über die Pflege und damit auch eine Vielzahl von

10 Pflege und Entwicklung BAND 1


1.4 Menschenbild

Definitionen der Pflege entstanden. Allen gemein- 1.4 Menschenbild


sam ist, dass sie versuchen, den Handlungsbereich 1
und das Wesentliche der Pflege in Worte zu fassen. Definition: Das Menschenbild beschreibt die
Die jeweilige Definition ist dabei immer eng im einer wissenschaftlichen Disziplin zugrunde ge-
Zusammenhang mit dem persönlichen Hintergrund legte Sichtweise vom Menschen.
und der wissenschaftlichen Perspektive der Pflege-
theoretikerinnen und Pflegetheoretiker zu sehen.
Sie setzen jeweils unterschiedliche Schwerpunkte, So betrachtet die Biologie den Menschen als einen
z. B. auf die Bedürfnisse von Menschen, die Bezie- biologischen, lebenden Organismus. Entsprechend
hung und Interaktion zwischen Pflegepersonen ist sie auf die naturwissenschaftliche Forschung am
und pflegebedürftigen Menschen oder auch auf die Menschen ausgerichtet, während z. B. in der Psycho-
Ergebnisse pflegerischer Interventionen. logie die Erforschung des menschlichen Verhaltens
Zu Beginn der theoretischen Auseinandersetzung und Erlebens zentral ist.
mit „Pflege“ herrschte die Überzeugung vor, dass es So ließe sich die Reihe weiter fortführen. Die in-
eine allgemeingültige Theorie und folglich auch eine nerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin zugrunde
allgemeingültige Definition von Pflege geben müsse. liegende Sichtweise vom Menschen bestimmt u. a.
Heute ist dieser Gedanke aufgegeben worden zu- den Bereich der Forschung und die hierbei ange-
gunsten der Überzeugung, dass ein so vielfältiges wendeten Methoden.
und komplexes Gebiet wie die Pflege auch mehrere Da die Pflege sich am Menschen orientiert, muss
Theorien und Definitionen nebeneinander benötigt auch gerade für die Pflegewissenschaft bzw. die ver-
(s. a. Kap. 4). schiedenen Pflegetheorien das Menschenbild, auf
Die eine, alle Aspekte der Pflege berücksichtigen- dem sie gründen, beschrieben werden. Die Beschrei-
de Definition für Pflege gibt es demnach nicht. bung des Menschenbildes ist einerseits wichtig für
Eng verbunden mit der Sichtweise bzw. der De- die Bestimmung der noch relativ jungen Pflegewis-
finition der Pflege ist immer auch die zugrunde lie- senschaft als wissenschaftliche Disziplin, da es maß-
gende Sichtweise vom Menschen, auf den die Pflege geblich den Gegenstand und die Methoden der Pfle-
ausgerichtet ist, sowie das vorherrschende Ver- geforschung bestimmt. Es hat andererseits auch
ständnis von Gesundheit und Krankheit. Auswirkungen auf die in der Praxis ausgeübten Tä-
tigkeiten, die in den Aufgabenbereich der Pflege-
Zusammenfassung: berufe fallen.
Definition der Pflege

!
■ Definition der Pflege von Virginia Henderson Merke: Das Menschenbild bestimmt maß-
1960: Pflege als Unterstützung von gesunden geblich die Ausrichtung sowohl innerhalb
und/oder kranken Menschen bei der Erfüllung der Pflegewissenschaft als auch in der
von Grundbedürfnissen. Pflegepraxis.
■ Definitionen der Pflege werden beeinflusst vom
Menschenbild sowie dem zugrunde gelegten Ver- ▌ Kartesianisches Menschenbild
ständnis von Gesundheit und Krankheit. Das kartesianische Menschenbild basiert auf den
■ Pflegetheorien akzentuieren jeweils unterschiedli- Ausführungen des französischen Philosophen und
che Aspekte der Pflege, deshalb gibt es viele ver- Mathematikers René Descartes (1596 – 1650). Er
schiedene Definitionen der Pflege nebeneinander. war auf der Suche nach einem „unerschütterlichen
Fundament“, auf das sich „sichere Erkenntnis“ grün-
den lässt.
„Geist“ und „Materie“ betrachtete er als zwei
grundsätzlich verschiedene „Substanzen“. Daraus
folgerte er, dass der Körper des Menschen unabhän-
gig von seinem Geist zu betrachten und zu unter-
suchen sei und umgekehrt. Diese „Zweiteilung“ des
Menschen wird auch als kartesianischer Dualismus
bezeichnet.

BAND 1 Pflege und Entwicklung 11


1 Leitbild und Pflege

Auf Descartes geht auch das Prinzip von Ursache ganismen) eingegliedert sind. Bis hinauf zu sozialen
1 und Wirkung, das sogenannte „Kausalitätsprinzip“, Systemen können auf diese Weise Systemstufen
zurück. Nach diesem Prinzip geschieht nichts ohne identifiziert werden.
Ursache; Ursache und Wirkung sind aufeinander be- Die verschiedenen Stufen bzw. Ebenen eines sol-
zogen. Einerseits bleibt keine Ursache ohne Wir- chen hierarchischen Systems stehen miteinander in
kung, andererseits gibt es keine Wirkung ohne Ur- Kontakt und tauschen Informationen aus. Auf diese
sache, wodurch sich alle Phänomene auf einen Weise ist zu erklären, warum Veränderungen einer
Grund zurückführen lassen. Systemstufe jeweils Auswirkungen auf andere Sys-
Diese mechanistische Sichtweise wurde in der temstufen haben und beispielsweise kritische Le-
Folge auf den Menschen übertragen: Der Mensch bensereignisse auf der sozialen Systemstufe sich
wurde als eine Art „Maschine“ betrachtet, deren auf den Organismus eines Menschen auswirken
Mechanismus Störungen unterliegen kann, für die können.
Ursachen zu suchen sind und die repariert werden Systeme werden darüber hinaus als Einheiten ge-
können. Dabei sind die Ursachen für die Störungen sehen, die sich nicht, bzw. nur unzureichend, durch
und die „Reparatur“ des Körpers prinzipiell ohne die Summe ihrer Teile beschreiben lassen. Mit dem
Berücksichtigung anderer Aspekte des Menschen, Übergang von einfachen zu komplexeren System-
wie beispielsweise psychischer oder sozialer Anteile, ebenen (z. B. von einzelnen Organen zum Organis-
durchführbar. mus) lassen sich Eigenschaften beobachten, die auf
Die mechanistische Sichtweise vom Menschen einer niedrigeren Stufe nicht zu beobachten waren.
fand Eingang in das biomedizinische Krankheits- Das Ganze wird so mehr als die Summe seiner Teile.
modell, das nicht nur in der Medizin, sondern auch

!
in vielen anderen Bereichen der Gesundheitsvorsor- Merke: Psychosomatische Ansätze betrach-
gung genutzt wird. Der Mensch erscheint in diesem ten den Menschen als lebendes System. Ver-
Verständnis als Ansammlung von Körperteilen und änderungen innerhalb der einzelnen Sys-
Organen. Krankheit wird entsprechend als Funk- temebenen haben Auswirkungen auf andere System-
tionsstörung einzelner Körperteile betrachte. Jede ebenen; so stehen physische, psychische und soziale
Krankheit kann auf eine Störung bzw. eine bestimm- Systeme des Menschen in einer Wechselbeziehung.
te Ursache zurückgeführt werden. Heilung erfolgt,
indem die Ursache für die Organstörung heraus- ▌ Holistische und ganzheitliche Ansätze
gefunden und behoben wird. Die Pflegewissenschaft beruft sich häufig auf Be-
schreibungen des Menschen, die die Betonung auf

!
Merke: Das naturwissenschaftlich-mecha- die Wechselwirkung und das Zusammenspiel von
nistische Menschenbild basiert auf dem physischen, psychischen und sozialen Anteilen des
Prinzip von Ursache und Wirkung und geht Menschen legen und so ein „ganzheitliches“ Men-
von einer dualistischen Betrachtungsweise des Men- schenbild entwerfen.
schen aus, bei der Körper und Geist als voneinander Diese Ansätze werden entsprechend unter dem
unabhängige Bereiche gesehen werden. Begriff „Ganzheitlichkeit“ oder auch „Holismus“ ge-
ordnet, was übersetzt so viel wie „Ganzheit“ bedeu-
▌ Psychosomatische Ansätze tet. Holismus beschreibt eine philosophische Rich-
Das naturwissenschaftlich-mechanistische Bild vom tung, die alle Erscheinungen des Lebens aus einem
Menschen mit der strikten Trennung zwischen Kör- ganzheitlichen Prinzip ableitet.
per und Geist wird insbesondere in psychosomati- Eine Pflegetheorie, die sich explizit auf die holis-
schen Ansätzen aufgelöst. tische Philosophie bezieht, ist die „Wissenschaft
Hierbei wird davon ausgegangen, dass der Körper vom unitären Menschen“ der amerikanischen Pfle-
ein „lebendes System“ ist. Dieser Ansatz basiert auf getheoretikerin Martha Rogers (s. a. Kap. 4.3.3).
Erkenntnissen der sog. Systemtheorie, die von einer Mensch und Umwelt sind in ihrem Verständnis
hierarchischen Ordnung ausgeht, bei der einfache Energiefelder, die in einem ständigen Austausch ste-
Systeme (z. B. Zellen) Bestandteile komplexerer Sys- hen und so zu einem unteilbaren Ganzen werden.
teme (z. B. von Geweben oder Organen) und diese
wiederum in noch komplexeren Systemen (z. B. Or-

12 Pflege und Entwicklung BAND 1


1.4 Menschenbild

▌ Konsequenzen für die berufliche Pflege


Innerhalb der holistischen Ansätze werden auch
die Selbstheilungskräfte eines Menschen für seinen Entsprechend müssen in eine Pflege, die auf dieser 1
Krankheitsprozess betont. Der Pflege selbst werden Sichtweise vom Menschen basiert, neben körper-
dabei heilende Kräfte zugeschrieben. Auch Konzepte lichen auch psychosoziale und umweltbezogene As-
wie therapeutische Berührung, Geistheilung und pa- pekte einbezogen werden.
rapsychologische Elemente können im Rahmen der
Pflege zum Einsatz kommen, da unter Bezug auf die Beispiel: Ist beispielsweise eine alleinerzie-
holistische Perspektive keine Orientierung und The- hende Mutter aufgrund einer Appendizitis
rapieform ausgeschlossen werden darf. Ein Problem gezwungen, sich zur Operation in ein Kran-
dabei ist, dass sich diese eher philosophisch-spiritu- kenhaus zu begeben, ist es wahrscheinlich, dass sie
ellen Aspekte nur schwer bzw. gar nicht wissen- sich Sorgen um ihre Kinder macht. Für sie ist damit
schaftlich untersuchen lassen. Für eine junge wis- nicht allein ihre körperliche Verfassung belastend,
senschaftliche Disziplin wie die Pflege ist aber gera- sondern auch die Trennung von ihren Kindern bzw.
de dieser Aspekt sehr wichtig. die Frage, wer sich während des Krankenhausaufent-
Ganzheitliche Ansätze verzichten auf die philoso- haltes um ihre Kinder kümmern kann.
phisch-spirituelle Grundlegung des Holismus.
Eine allein auf die körperliche Situation ausgerichte-
Definition: „Unter „ganzheitlicher Pflege“ te Pflege kann den Bedürfnissen dieser Frau nicht
kann die wissenschaftlich fundierte, umfassen- gerecht werden.
de und individuelle Pflege eines Menschen ver- Ebenso ist es im Rahmen holistischer und ganz-
standen werden, die unter beruflichen Bedingungen heitlicher Ansätze undenkbar, am pflegebedürftigen
innerhalb eines institutionellen Rahmens und ohne Menschen zu handeln, den Menschen also als passi-
ideologische Bindung stattfindet“ (Bischoff 1996, ves Objekt zu betrachten. Beide Ansätze verlangen,
S. 116). Im Gegensatz zu den holistischen Ansätzen dass der „ganze“ Mensch in seine Pflege einbezogen
wird hier also die wissenschaftliche Fundierung wird, wodurch Pflegen zum Handeln mit dem pfle-
grundgelegt und die berufliche Ausübung der Pflege gebedürftigen Menschen wird.
in einem institutionellen Rahmen fokussiert.

!
Merke: Ganzheitliche Ansätze betrachten
Auch im Rahmen der Ganzheitlichkeit kommen al- den Menschen als Einheit von Körper, Geist
ternative Therapieformen zum Einsatz, wie bei- und Seele. Bei der Pflege von Menschen
spielsweise basale Stimulation, Massagen oder Fuß- müssen dementsprechend ihre physischen, psy-
reflexzonenmassage, deren Wirksamkeit sich aber chischen und sozialen Anteile bzw. Bedürfnisse be-
im Vergleich zu denen des Holismus zumindest be- rücksichtigt werden.
gründet vermuten lässt.
Bei der Einbeziehung des pflegebedürftigen Vor allem die ganzheitlichen Ansätze finden sich in
Menschen in die Pflege werden im Rahmen ganz- nahezu allen Pflegetheorien in unterschiedlicher
heitlicher Ansätze weniger seine Selbstheilungskräf- Ausprägung wieder. Dennoch werden sie von eini-
te als vielmehr die Begleitung und Beratung betont, gen Pflegewissenschaftlern auch kritisch betrachtet.
um ihn so zu Mitverantwortung zu befähigen. Kritikpunkte sind u. a.:
■ Die vorgesehene partnerschaftliche Beziehung

!
Merke: Dem holistischen und dem ganz- zwischen Pflegeperson und pflegebedürftigem
heitlichen Menschenbild ist gemeinsam, Menschen verlangt, dass sich beide als ganze
dass sie den Menschen als eine untrennbare Menschen in den Pflegeprozess einbringen. Dies
Einheit von Körper, Geist und Seele betrachten, die ist im Rahmen einer beruflich ausgeübten Pflege
sich in einem Gleichgewicht befinden müssen. nur schwer zu erreichen, da nur eine Annähe-
rung an ein symmetrisches Verhältnis geschehen
kann, letztlich aber immer ein gewisses asym-
metrisches Verhältnis, nämlich das zwischen
Helfer und hilfsbedürftigem Menschen, bestehen
bleibt.Wenn, wie von den ganzheitlichen Ansät-

BAND 1 Pflege und Entwicklung 13


1 Leitbild und Pflege

zen gefordert, ein absolut partnerschaftliches ▌ Patientenorientierte Pflege


1 Verhältnis zwischen Pflegeperson und pflegebe- Die Bezeichnung patientenorientierte Pflege stellt
dürftigem Menschen entstehen soll, setzt dies den pflegebedürftigen Menschen in das Zentrum
voraus, dass nicht nur Probleme und Bedürfnisse pflegerischer Handlungen. Zum Ausdruck kommt
des zu Pflegenden zur Sprache kommen, sondern diese Ausrichtung in der Pflege u. a. in der pflegeri-
auch die der Pflegeperson, was aber den Abbau schen Arbeitsorganisation, wenn Pflegesysteme wie
von Professionalität zur Folge hätte. „Bezugspflege“ oder „primary nursing“ eingesetzt
■ Das Einbeziehen psychischer und sozialer Aspek- werden. Hierbei steht nicht der reibungslose orga-
te bzw. Bedürfnisse des pflegebedürftigen Men- nisatorische Ablauf des Krankenhaus- oder Alten-
schen wird im Rahmen holistischer und ganz- heimbetriebs im Mittelpunkt pflegerischer Aktivitä-
heitlicher Ansätze nicht nur als wichtig erachtet, ten, sondern der zu pflegende Mensch, an dem sich
sondern darüber hinaus mit einem Anspruch auf die Arbeitsorganisation orientiert (s. a. Kap. 8).
Absolutheit belegt. Hieraus ergibt sich eine abso- Patientenorientierung ist darüber hinaus jedoch
lute Zuständigkeit der Pflegepersonen für alle nicht nur eine spezifische Aufgabe der Pflegeberufe:
Bedürfnisse der zu Pflegenden, die in der beruf- Gerade in den Institutionen des Gesundheitswesens
lichen Pflege nicht eingelöst werden kann und sind alle an hauswirtschaftlicher Versorgung, Diag-
strenggenommen auch zu einer permanenten nostik, Pflege und Therapie beteiligte Berufsgruppen
Überforderung der Pflegepersonen führt. aufgefordert, ihre Arbeitsorganisation in Bezug auf
■ Auch der Anspruch, „ganzheitlich“ wahrnehmen die Orientierung am pflegebedürftigen Menschen zu
zu müssen, erweist sich in der Realität als nicht überdenken.
einlösbar. Menschliche Wahrnehmung unterliegt
der Selektion, was zwangsläufig dazu führt, dass ▌ Umfassende Pflege
auch ganze Objekte und Subjekte in Teilen wahr- Die umfassende Pflege ist als Gegenstück zu sehen
genommen werden. zur einseitig krankheitsbezogenen Sichtweise, die
auf dem kartesianischen Menschenbild basiert. Um-
Diese Totalität des ganzheitlichen Anspruchs, d. h. fassende Pflege bedeutet konsequente Berücksichti-
die Zuständigkeit der Pflegepersonen für alle kör- gung physischer, psychischer und sozialer Anteile
perlichen, psychischen und sozialen Bedürfnisse und Bedürfnisse der zu Pflegenden. Hierzu gehört
eines Menschen, und die Notwendigkeit eines abso- auch der Einbezug von Angehörigen, Eltern oder an-
lut partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen Pfle- deren wichtigen Bezugspersonen.
gepersonen und pflegebedürftigen Menschen lässt
sich nach Meinung vieler Pflegewissenschaftler in ▌ Individuelle Pflege
der Pflegepraxis nicht verwirklichen. Der Begriff individuelle Pflege trägt der Ausrichtung
Unbestritten ist jedoch, dass die berufliche Pflege pflegerischer Aktivitäten auf den konkreten, einzel-
über die körperlichen Anteile und Bedürfnisse der nen Menschen Rechnung. Obwohl es grundsätzliche
zu Pflegenden hinausgeht und auch psychische Regeln für pflegerische Handlungen gibt, müssen
und soziale Bedürfnisse eines Menschen berücksich- diese jeweils auf die individuelle Situation des zu
tigt. Die Gestaltung der Beziehung zwischen Pflege- pflegenden Menschen angepasst werden. Hierzu ge-
personen und zu pflegenden Menschen orientiert hört z. B., dass vorhandene Fähigkeiten und Ressour-
sich an einem gleichberechtigten, eher partner- chen des zu Pflegenden, miteinbezogen werden und
schaftlichen Verhältnis. Bezeichnungen für Pflege, das Regelwissen hinsichtlich seiner Anwendbarkeit
die dieser Ausrichtung Rechnung tragen, sind vor auf die konkrete Situation des pflegebedürftigen
allem „patientenorientierte“, „umfassende“ und „in- Menschen überprüft bzw. modifiziert wird.
dividuelle“ Pflege. Beispielsweise unterliegt die Vorgehensweise bei
der Ganzkörperpflege im Bett prinzipiell bei allen
Menschen denselben Regeln. Individuelle Pflege,
d. h. an den Ressourcen des pflegebedürftigen Men-
schen orientierte Pflege verlangt jedoch, die Situati-
on, Bedürfnisse und Fähigkeiten des jeweiligen pfle-

14 Pflege und Entwicklung BAND 1


1.5 Gesundheit und Krankheit

Ausdrucksform beruflicher Pflege 1.5 Gesundheit und Krankheit 1


Beschreibungen bzw. Definitionen der Pflege wer-
Patientenorien- Umfassende Individuelle
tierte Pflege
den nicht nur von der gewählten wissenschaftlichen
Pflege Pflege
– Gestaltung der
Perspektive und dem zugrunde gelegten Menschen-
– der ganze – Pflege muss
Arbeitsorgani- Mensch ist auf den kon- bild beeinflusst, sondern auch von dem Gesund-
sation wichtig, nicht kreten Men- heits- und Krankheitsverständnis, auf dem sie basie-
nur seine schen ange-
Krankheit passt werden ren. Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit
hat Auswirkungen auf die Art und den Einsatz pfle-
gerischer Aktivitäten, beispielsweise wenn es um
Fragen geht wie „Wann ist Pflege notwendig?“
„Wie haben Art und Umfang der pflegerischen
Abb. 1.2 Beschreibung pflegerischer Handlungen
Dienstleistung auszusehen?“. Das Gesundheits- und
Krankheitsverständnis beeinflusst folglich maßgeb-
lich das Pflegeverständnis.
gebedürftigen Menschen und gegebenenfalls seiner Gesundheit und Krankheit sind Begriffe, die in
Bezugspersonen einzubeziehen. der Alltagssprache selbstverständlich benutzt wer-
den. Gesundsein stellt in den westlichen Industrie-
Beispiel: Bei der Ganzkörperpflege im Bett nationen einen hohen gesellschaftlichen Wert dar.
kann sich individuelle Pflege darin zeigen, Dennoch ist eine allgemeingültige Definition von
dass die Wassertemperatur individuell an- Gesundheit und Krankheit schwer zu formulieren
gepasst wird, der Patient bei der Einnahme einer an- bzw. zu finden. Das, was unter Gesundheit bzw.
genehmen Position unterstützt wird oder der pflege- Krankheit verstanden wird, unterliegt geschicht-
bedürftige Mensch nach einer Apoplexie mit Halbsei- lichen, kulturellen, wissenschaftstheoretischen und
tenlähmung des Körpers gemäß seinen verbliebenen auch individuellen Einflüssen. Entsprechend hat die
Fähigkeiten einbezogen wird und z. B. die gelähmte Sichtweise von Gesundheit und Krankheit im Laufe
Körperseite selbstständig wäscht. der Geschichte der Menschheit einen starken Wan-
del durchlaufen (s. a. Kap. 2).
Die Ausrichtung der Pflege auf individuelle Proble-
me und Ressourcen pflegebedürftiger Menschen 1.5.1 Gesundheit und Krankheit in Altertum und
wird durch den Einsatz des Pflegeprozesses, einer Mittelalter
Methode zur systematischen Erfassung des Pflege- In vor- und frühgeschichtlicher Zeit sowie in den
bedarfs und zur Problemlösung, unterstützt (s. a. frühen Hochkulturen China, Ägypten, Mesopota-
Kap. 6). mien und Indien war die Betrachtungsweise von
Krankheit stark von magisch-religiösen Vorstellun-

!
Merke: Patientenorientierte, umfassende gen geprägt. Krankheit wurde als „Strafe der Götter“
und individuelle Pflege sind Begriffe, die die betrachtet, die den menschlichen Körper in Form
Ausrichtung pflegerischer Handlungen auf von Dämonen heimsuchen und auf diese Weise
den pflegebedürftigen Menschen beschreiben, dabei ihren Unwillen über menschliches Fehlverhalten
aber den inhaltlich unscharfen Begriff „Ganzheitlich- zum Ausdruck bringen und bestrafen.
keit“ meiden und auf den Totalitätsanspruch der In der griechischen Antike begannen sich mit der
ganzheitlichen Ansätze verzichten (Abb. 1.2). Naturphilosophie erste vernunftbetonte Erklärungs-
versuche für die Entstehung von Gesundheit und
Krankheit abzuzeichnen. Unter Gesundheit wurde
in erster Linie das harmonische, ausgeglichene
Leben im Einklang mit der Natur verstanden.
Ein Beispiel hierfür ist die Elementenlehre, die
den Elementen der Natur Wasser, Luft, Feuer und
Erde die Eigenschaften feucht, trocken, warm und

BAND 1 Pflege und Entwicklung 15


1 Leitbild und Pflege

kalt zuordnete. Die ausgewogene Mischung in Zu- heit und Gesundheit werden als statische, starre
1 sammensetzung, Wirkung und Menge war gleichbe- Zustände betrachtet.
deutend mit Gesundheit; Abweichungen führten zur ■ Krankheiten äußern sich in bestimmten Sympto-
Krankheit. men, die von entsprechend geschulten Experten
Unter dem Einfluss des Christentums und im (Ärztinnen und Ärzten) diagnostiziert werden.
Zuge der Christianisierung wurde das Gesundheits- ■ Gesundheit kann nur im Zusammenhang mit
und Krankheitsverständnis wieder stärker in das re- Krankheit, nämlich als „Freisein von Krankheit“,
ligiöse Weltbild eingebunden. Vor allem im Mittel- und damit negativ definiert werden.
alter galt Gesundheit als Belohnung für Gottgefällig-
keit, während Krankheit als Strafe für Sünden be- Diese Ausrichtung spiegelt sich bis heute im deut-
trachtet wurde. Heilung erschien in diesem Ver- schen Gesundheitswesen wider.
ständnis als von Gott gegeben, der hierzu heilkun- Das biomedizinische Modell hatte auch starken
dige Menschen als „Instrumente“ einsetzte. Einfluss auf die Aufgaben der Pflege als Beruf und
die pflegerischen Tätigkeiten: Die Berufsausübung
1.5.2 Biomedizinisches Krankheitsmodell war in erster Linie auf die kranken Anteile pflegebe-
Ein Wandel dieser Sichtweise ergab sich vor allem dürftiger Menschen gerichtet. Die Notwendigkeit
durch das Zeitalter der Aufklärung und die natur- pflegerischer Tätigkeit war dann gegeben, wenn
wissenschaftliche Wende, die im 17. Jahrhundert ein Mensch krank wurde, und hatte vor allem die
mit Descartes ihren Ausgangspunkt hatte. Pflege des kranken Körpers zum Gegenstand.
Die folgenden bahnbrechenden Erfolge der Medi- Vielfach wird Kritik am biomedizinischen Modell
zin, beispielsweise Erkenntnisse der Bakteriologie, von Krankheit geäußert. Die Kritikpunkte beziehen
führten zur Entdeckung einer ganzen Reihe von sich nach Waller (2002) vor allem auf:
krankheitsverursachenden Mikroorganismen, womit ■ die einseitige biologische Orientierung, die das
religiöse Erklärungsmodelle für Krankheit zugunsten Erfassen und Erklären von Krankheiten ohne er-
der naturwissenschaftlichen Sichtweise immer mehr kennbare organische Ursache, z. B. von psy-
in den Hintergrund traten. chischen und psychosomatischen oder von chro-
Krankheit musste immer weniger mit dem Ein- nischen Erkrankungen, unmöglich macht,
wirken Gottes erklärt werden, da sich auf einer wis- ■ die begrenzte Effektivität in Bezug auf die Bewäl-
senschaftlichen Basis beweisen ließ, dass hierfür in tigung von Krankheiten (beispielsweise spielen
erster Linie Krankheitserreger verantwortlich wa- in Bezug auf die Bekämpfung von Infektions-
ren. Krankheit wurde von der am Prinzip von Ursa- erkrankungen neben der Entdeckung spezi-
che und Wirkung orientierten, naturwissenschaft- fischer Krankheitserreger umwelt-, ernährungs-
lich-mechanistischen Sichtweise entsprechend als und verhaltensbedingte Einflüsse eine wesentli-
Abweichung von der anatomisch-physiologischen che Rolle),
Norm, von der „normalen“ Funktion des Körpers ■ die auf den einzelnen Menschen ausgerichtete
betrachtet. Gesundheit war demzufolge das „Frei- und kurative Orientierung, die präventive und
sein“, die Abwesenheit von Krankheit bzw. „das rehabilitative Maßnahmen vernachlässigt, da die
noch nicht Kranksein“. Medizin erst dann einsetzt, wenn die Krankheit
Das biomedizinische Modell von Krankheit ba- bereits vorliegt, sowie
siert auf folgenden Grundannahmen: ■ die Delegation der Verantwortlichkeit für Ge-
■ Jede Krankheit kann auf eine bestimmte Grund- sundheit an Experten (Ärzte) mit der Folge der
schädigung des Körpers zurückgeführt werden, Zunahme einer Medikalisierung der Gesellschaft.
die entweder in der Zelle oder in einer Störung
mechanischer oder biochemischer Abläufe be- Erst langsam zeichnet sich im Gesundheitswesen ein
steht. Wandel weg von der einseitig krankheitsorientierten
■ Jede Krankheit hat eine spezifische Ursache und Sichtweise ab. Viele Krankenkassen bieten z. B. ver-
einen spezifischen Verlauf, der sich beschreiben mehrt Programme zur Gesundheitsförderung für ihre
und vorhersagen lässt und der sich ohne medizi- Mitglieder an und bauen ihre Leistungen im präven-
nische Intervention verschlimmert. tiven und rehabilitativen Bereich aus.
■ Krankheit ist objektiv, d. h. unabhängig von der
jeweils erkrankten Person zu bestimmen. Krank-

16 Pflege und Entwicklung BAND 1


1.5 Gesundheit und Krankheit

Beispiel: Auch in dem seit 2004 gültigen modelle für die Pathogenese, d. h. für die Entstehung
Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege von Krankheit, eine Erweiterung. Einer dieser Ansät- 1
wird den Bereichen Prävention und Rehabi- ze ist das sog. „Stress-Coping-Modell“ (Belastungs-
litation und der Beratung und Anleitung von pflege- Bewältigungsmodell, Abb. 1.3).
bedürftigen Menschen und deren Bezugspersonen ein Nach diesem Modell sind nicht mehr nur körper-
größerer Stellenwert in der Pflegeausbildung einge- liche Ursachen an der Entstehung von Krankheit be-
räumt. Dies zeigt sich konsequent auch in den ver- teiligt, sondern auch psychische und soziale Fak-
änderten Berufsbezeichnungen „Gesundheits- und toren. Kritische Lebensereignisse, z. B. der Tod eines
Krankenpfleger/in“ und „Gesundheits- und Kinder- nahen Angehörigen sowie arbeits- und berufsspezi-
krankenpfleger/in“. fische Belastungen wirken als Stressoren auf den
Menschen ein. In Abhängigkeit von den individuel-

!
Merke: Das biomedizinische Modell von len Bewältigungsmöglichkeiten (Coping-Strategien)
Krankheit ist einseitig krankheitsorientiert entscheidet sich, ob und in welcher Weise gesund-
und auf körperliche Störungen bezogen. heitliche Konsequenzen für den betroffenen Men-
Krankheit und Gesundheit sind fest zu bestimmende schen entstehen.
Zustände, die sich wechselseitig ausschließen. Bei den Bewältigungsmöglichkeiten werden per-
sönliche und kollektive Bewältigungsmöglichkeiten
Zusammenfassung: unterschieden. Zu den persönlichen Bewältigungs-
Entwicklung des Gesundheits- und Krank- möglichkeiten gehören u. a. psychische Fähigkeiten
heitsbegriffes des betroffenen Menschen wie beispielsweise
■ Altertum: Krankheit als Strafe der Götter; Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, die eine
■ griechische Antike: Gesundheit ist Harmonie, Ba- konstruktive Auseinandersetzung mit kritischen Er-
lance der Elemente; eignissen begünstigen.
■ christliche Sichtweise: Gesundheit ist Belohnung Kollektiven Bewältigungsmechanismen werden
für Gottgefälligkeit; z. B. gute Beziehungen zu Freunden oder die Einbin-
■ Biomedizinisches Modell: Krankheit als Wirkung dung in soziale Gruppen zugeordnet. Auch sie kön-
von Krankheitserregern (Ursache); Gesundheit ist nen Unterstützung zur Bewältigung einer kritischen
die Abwesenheit von Krankheit. Situation geben.
Sind die Bewältigungsmöglichkeiten eines Men-
▌ Erweiterung des biomedizinischen schen nicht ausreichend, können die Stressoren
Krankheitsmodells Stress im psychosozialen Erleben des Betroffenen
Das medizinische Krankheitsmodell erfuhr vor auslösen, der sich wiederum auf das organisch-so-
allem durch die psychosomatischen Erklärungs- matische Geschehen negativ auswirkt. Am Ende die-

Coping
Rollen- Psycho- Organisch-
diskontinuität soziales somatisches Vorboten
Live
Deprivation Erleben Geschehen der Krankheit
events
relative = = Krankheit
Deprivation Stress Stress

Arbeits- und Berufs- Alltägliches


=
spezifische Belastungen Geschehen

Sozialstruktur Individuum Organismus

Abb. 1.3 Stress-Coping-Modell

BAND 1 Pflege und Entwicklung 17


1 Leitbild und Pflege

ses Prozesses ergibt sich eine manifeste Erkrankung. Die Definition der Weltgesundheitsorganisation
1 Das Modell gibt also eine Erklärung dafür, wie sozia- blieb nicht unumstritten. Kritisiert wurde vor allem,
le und psychische Konflikte eine körperliche Erkran- dass ein „Zustand vollkommenen körperlichen, geis-
kung auslösen können. tigen und sozialen Wohlbefindens“ angesichts der
Lebenssituation der Mehrheit der Weltbevölkerung

!
Merke: Krankheit entsteht nach dem zu unrealistisch bzw. utopisch sei. Strenggenommen
Stress-Coping-Modell folglich durch ein Un- könne nach dieser Definition kaum ein Mensch als
gleichgewicht zwischen auf den Menschen gesund gelten.
einwirkenden Stressoren einerseits und Bewälti- Dennoch setzte sie entscheidende Impulse für
gungsmöglichkeiten des betroffenen Menschen ande- einen Wandel des Gesundheits- und Krankheitsver-
rerseits. ständnisses, das stärker gesundheitsbezogen, umfas-
send und das subjektive Erleben einbeziehend sein
1.5.3 Definition der sollte. Die Prävention, d. h. das Vorbeugen und Ver-
Weltgesundheitsorganisation (WHO) hindern von Krankheit, sowie die Gesundheitsför-
Gegen die starke Ausrichtung auf den Krankheits- derung, d. h. die Erhaltung und Entwicklung von
begriff und die einseitig auf körperliche Störungen Gesundheit, erhielten einen hohen Stellenwert.
ausgerichtete Betrachtungsweise des biomedizi-

!
nischen Modells wandte sich bereits 1946 die Welt- Merke: Die Definition der WHO von 1946
gesundheitsorganisation (WHO). In ihrer damals führte zu einer verstärkten Ausrichtung auf
formulierten Definition heißt es: den Begriff „Gesundheit“, wodurch Präven-
tion und Gesundheitsförderung einen höheren Stellen-
Definition: „Gesundheit ist ein Zustand voll- wert im Gesundheitswesen erhielten. Sie bezieht
kommenen körperlichen, geistigen und sozialen neben dem subjektiven Erleben auch die physische,
Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von psychische und soziale Dimension des Wohlbefindens
Krankheit und Gebrechen“ (zit. n. Klemperer 2014, ein.
S. 45 f.).
Dieser Wandel zeigt sich z. B. in der Definition der
Damit wurde die stark naturwissenschaftliche Be- Pflege des International Council of Nursing (ICN):
trachtungsweise und krankheitsbezogene Sichtwei- „Pflege umfasst die eigenverantwortliche Versor-
se von Gesundheit und Krankheit entscheidend er- gung und Betreuung, allein oder in Kooperation
weitert: mit anderen Berufsangehörigen, von Menschen
■ Gesundheit wurde erstmals nicht nur als körper- aller Altersgruppen, von Familien oder Lebens-
liche Gesundheit beschrieben. Die WHO-Definiti- gemeinschaften, sowie von Gruppen und sozialen
on bezieht auch die psychische und soziale Di- Gemeinschaften, ob krank oder gesund, in allen Le-
mension des Menschen mit ein, wodurch gleich- benssituationen (Settings). Pflege schließt die För-
zeitig neben körperlichen auch psychische und derung der Gesundheit, Verhütung von Krankheiten
soziale Faktoren zur Entstehung von Krankheit und die Versorgung und Betreuung kranker, behin-
beitragen können. derter und sterbender Menschen ein. Weitere
■ Gesundheit wurde nicht mehr nur allein durch Schlüsselaufgaben der Pflege sind Wahrnehmung
objektive Faktoren bestimmt, sondern umfasste der Interessen und Bedürfnisse, Förderung einer si-
mit der Formulierung „Wohlbefinden“ auch das cheren Umgebung, Forschung (Advocacy), Mitwir-
subjektive Erleben von Gesundheit bzw. Krank- kung in der Gestaltung der Gesundheitspolitik,
heit und ermöglichte so, Gesundheit und Krank- sowie im Management des Gesundheitswesens und
heit als Kontinuum mit ineinander übergehen- in der Bildung“ (ICN 2010, Übersetzung durch DBfK).
den, fließenden Übergängen zu betrachten. Auch im deutschen Krankenpflegegesetz von
■ Die Sichtweise wandelte sich von einer krank- 2003 heißt es in § 3:
heitsbezogenen zur gesundheitsbezogenen Per- „(1) Die Ausbildung [. . .] soll [. . .] fachliche, per-
spektive: Gesundheit wurde hier unabhängig sonale, soziale und methodische Kompetenzen zur
von Krankheit und in einer positiven Formulie- verantwortlichen Mitwirkung insbesondere bei der
rung definiert. Heilung, Erkennung und Verhütung von Krankhei-

18 Pflege und Entwicklung BAND 1


1.5 Gesundheit und Krankheit

ten vermitteln. Die Pflege [. . .] ist dabei unter Ein- Krankheit, der Pathogenese, sondern um die Erklä-
beziehung präventiver, rehabilitativer und palliati- rung der Entstehung von Gesundheit, d. h. der Salu- 1
ver Maßnahmen auf die Wiedererlangung, Verbes- togenese, geht.
serung, Erhaltung und Förderung der physischen Er konzentriert sich auf die Frage: Wie entsteht
und psychischen Gesundheit der zu pflegenden Gesundheit bzw. welche Faktoren sind daran betei-
Menschen auszurichten. [. . .] (Ausbildungsziel)“ ligt, dass ein Mensch seine Position auf dem Ge-
(BGBl. I 2003 Nr. 36). sundheits-Krankheits-Kontinuum beibehalten bzw.
Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabili- an den Pol „Gesundheit“ annähern kann?
tation sind hier als Aufgabengebiet der beruflich Hier wird deutlich, dass Antonovsky Gesundheit
Pflegenden verankert. Hierdurch werden neue Auf- und Krankheit nicht als zwei Zustände versteht, die
gaben an die Pflegepersonen herangetragen, bei- sich gegenseitig ausschließen, wie es beispielsweise
spielsweise die Beratung pflegebedürftiger Men- im biomedizinischen Modell der Fall ist. Er betrach-
schen hinsichtlich gesunder Ernährung. tet Gesundheit und Krankheit als dynamischen Pro-
zess, der zwischen den beiden Polen „sicher gesund“
1.5.4 Salutogenetisches Modell und „sicher krank“ eine Reihe von ineinander über-
Die Schwerpunktsetzung der WHO, weg von der gehenden Zwischenbereichen aufweist.
Krankheit und hin zur Gesundheit, hat sich auch in Ebenso konzentriert sich sein Ansatz nicht auf
den neueren Erklärungsmodellen zur Entstehung „krank machende“ Risikofaktoren, sondern auf „ge-
von Krankheit niedergeschlagen. Einer dieser Ansät- sund machende“ Bewältigungsmöglichkeiten, die er
ze geht auf den amerikanischen Medizinsoziologen auch als Gesundheitsfaktoren oder „Copingressour-
Aaron Antonovsky zurück, der 1987 sein Modell der cen“ bezeichnet.
„Salutogenese“ vorstellte. Der Begriff „Salutogenese“ Das Modell der Salutogenese besteht aus vier
stammt aus der griechischen Sprache und bedeutet zentralen Konzepten: Kohärenzgefühl, Gesund-
übersetzt „Entstehung von Gesundheit“. heits-Krankheits-Kontinuum, Stressoren und Span-
Schon mit der Bezeichnung seines Ansatzes nungszustand und den generalisierten Wider-
macht Antonovsky deutlich, dass es ihm mit seinem standsressourcen (Abb. 1.4).
Modell nicht um die Erklärung der Entstehung von

Psychosoziale, physische
und biochemische Stressoren

Spannungszustand

Sozio- Psycho- Spezifische KohŠrenz- Erfolgreiche Erfolgloser Stress- Krankheits-


kultureller soziale, Lebens- gefŸhl Spannungs- Versuch zustand erzeuger
und genetische erfahrungen bewŠltigung einer und
historischer und konsti- Spannungs- ãschwache
Kontext tutionelle bewŠltigung Glieder in
generali- der KetteÒ
sierte Wider-
standsres-
sourcen

Gesundheits-Krankheits-Kontinuum

Abb. 1.4 Vereinfachte Darstellung der Gesundheitstheorie nach Antonovsky

BAND 1 Pflege und Entwicklung 19


1 Leitbild und Pflege

▌ Kohärenzgefühl ▌ Gesundheits-Krankheits-Kontinuum
1 Als Kohärenzgefühl bezeichnet Antonovsky eine Antonovsky betrachtet Gesundheit und Krankheit
Grundhaltung der Welt und dem eigenen Leben ge- als gegenüberliegende Pole eines Kontinuums, auf
genüber. Es kann als eine Art Zuversichtlichkeit oder dem sich ein Mensch entweder näher zum Pol Ge-
Vertrauen eines Menschen darauf beschrieben wer- sundheit oder zum Pol Krankheit einordnet. Ge-
den, dass Ereignisse im Lebenslauf erklärt, als He- sundheit und Krankheit sind in seiner Vorstellung
rausforderungen eine Auseinandersetzung wert sind also keine Zustände mehr, die sich gegenseitig aus-
und mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen schließen. Vielmehr ist die Position auf dem Kon-
bewältigt werden können. tinuum veränderbar und jeder Mensch trägt gleich-
Das Kohärenzgefühl besteht aus drei wesentli- zeitig gesunde und kranke Anteile in sich. Er ist also
chen Komponenten: dem Gefühl der Verstehbarkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt entweder dem Pol
(kognitive Komponente), dem Gefühl von Handhab- Gesundheit oder dem Pol Krankheit näher bzw. wei-
barkeit bzw. Bewältigbarkeit (kognitiv-emotionale ter entfernt.
Komponente) und dem Gefühl von Sinnhaftigkeit
bzw. Bedeutsamkeit (motivationale Komponente). ▌ Stressoren und Spannungszustand
Als Gefühl der Verstehbarkeit beschreibt Antonov- Physikalische, biochemische und psychosoziale Fak-
sky die Fähigkeit von Menschen, Reize, die aus der toren wirken als Stressoren auf den Menschen ein
Umwelt auf sie einströmen, als geordnete und struk- und erzeugen einen Spannungszustand. Eine erfolg-
turierte Informationen zu verarbeiten. Die Überzeu- reiche Spannungsbewältigung hat nach Antonovsky
gung eines Menschen, Schwierigkeiten grundsätz- eine gesundheitserhaltende bzw. sogar gesundheits-
lich lösen zu können, bezeichnet er als Gefühl der fördernde Wirkung, da diese Erfahrung sich positiv
Handhabbarkeit. Dieses Gefühl hängt eng mit dem auf das Kohärenzgefühl auswirken kann. Kann ein
Wahrnehmen und Erkennen eigener Ressourcen – Mensch den Spannungszustand nicht bewältigen,
auch sozialer Art – zur Problembewältigung zusam- entsteht eine für ihn belastende Situation, die – je
men. Das Gefühl der Sinnhaftigkeit betrachtet Anto- nach Ausmaß – zur Schwächung der körperlichen
novsky als entscheidende Komponente des Kohä- Gesundheit führen kann.
renzgefühls. Es drückt das Ausmaß aus, in dem ein Das Kohärenzgefühl eines Menschen kann einer-
Mensch das eigene Leben als emotional sinnvoll seits helfen, Stressoren als neutral, also nicht be-
empfindet, und ermöglicht die Betrachtung auftre- drohlich zu bewerten, andererseits trägt es dazu
tender Schwierigkeiten eher als Herausforderung bei, situationsangemessen und auf die Lösung des
denn als Belastung. Problems ausgerichtet zu reagieren.
Das Kohärenzgefühl nimmt seiner Meinung nach
entscheidenden Einfluss auf den Gesundheits- und ▌ Generalisierte Widerstandsressourcen
Krankheitszustand eines Menschen. Je stärker es Neben dem Kohärenzgefühl nehmen laut Antonov-
ausgeprägt ist, desto eher ist ein Mensch in der sky auch generalisierte Widerstandsressourcen
Lage, auf Ereignisse und Schwierigkeiten flexibel zu eines Menschen Einfluss auf die Bewältigung eines
reagieren, da er hilfreiche Ressourcen aktivieren Spannungszustandes. Hierzu rechnet er u. a. körper-
kann. Entsprechend wird er Anforderungen an liche Faktoren, Intelligenz, finanzielle Möglichkeiten,
seine Person weniger als Belastungen bzw. Stresso- soziale Unterstützung und kulturelle Eingebunden-
ren empfinden. Das Kohärenzgefühl bildet sich in heit. Sie können in den unterschiedlichsten Situatio-
der Auseinandersetzung mit den Erlebnissen und nen und Lebensereignissen wirksam werden und
Erfahrungen aus, die ein Mensch während seines erhöhen die Widerstandsfähigkeit eines Menschen.
Lebens macht.

20 Pflege und Entwicklung BAND 1


1.5 Gesundheit und Krankheit

!
Merke: Der salutogenetische Ansatz ist ein Zusammenfassung:
Erklärungsmodell für die Entstehung von Moderne Sicht von Gesundheit und Krankheit 1
Gesundheit. Gesundheit wird als Ergebnis ■ Definition der WHO: Starke Betonung der Gesund-
einer erfolgreichen Spannungsbewältigung betrachtet. heit; Prävention und Gesundheitsförderung als Teil
Hieran sind maßgeblich das Kohärenzgefühl eines der Pflege.
Menschen, das zur Aktivierung und Auswahl der ge- ■ Salutogenetisches Modell: Gesundheit und Krank-
eigneten Ressourcen beiträgt, und die generalisierten heit als Pole eines Kontinuums; Gesundheit als Er-
Widerstandsressourcen beteiligt. gebnis erfolgreicher Spannungsbewältigung; Kohä-
renzgefühl und Widerstandsressourcen ermögli-
Relevanz hat dieser Ansatz für die beruflich aus- chen Spannungsbewältigung.
geübte Pflege in erster Linie dadurch, dass er den ■ Aufgabe der Pflege: Ressourcen aufdecken, Ver-
Stellenwert der Ressourcen eines Menschen für trauen des Menschen in eigene Fähigkeiten för-
seine Gesundheit verdeutlicht. dern, indem er aktiv in seine Pflege einbezogen
Dies verstärkt einerseits die Notwendigkeit, Res- wird und so selbst etwas für seine Gesundheit
sourcen in die Pflege eines Menschen einzubezie- tun kann.
hen, mit dem Ziel, zu seiner Gesundheit beizutra-
gen. Andererseits wird hierdurch auch der pflegebe- Fazit: Der Begriff „Pflegen“ findet im Alltag
dürftige Mensch selbst in die Pflege einbezogen, vielfältige Verwendung. Daher ist es not-
wodurch er lernt, selbst zu seiner Gesundheit bei- wendig, die beruflich ausgeübte Pflege von
tragen zu können. Pflegepersonen sollten Menschen den anderen Formen der Pflege klar abzugrenzen. Das
in schwierigen Situationen auch beim Erkennen vor- wird maßgeblich durch die von verschiedenen pflege-
handener Ressourcen unterstützen. rischen Berufsverbänden verfassten Berufsbilder un-
Auf diese Weise kann das Selbstbewusstsein des terstützt, die Aufgaben und Verantwortungsbereich
betroffenen Menschen gestärkt und somit indirekt der Pflegeberufe näher beschreiben.
auch zur Ausbildung eines höheren Kohärenzsinns Beruflich ausgeübte Pflege erfolgt gegen Bezahlung
beigetragen werden. und setzt eine erfolgreich abgeschlossene Berufsaus-
Gleichzeitig kann die Betrachtung von Gesund- bildung in der Alten-, Gesundheits- und Kinderkran-
heit und Krankheit als Kontinuum und nicht als sta- ken- oder Gesundheits- und Krankenpflege voraus, in
tische, starre Zustände für die Pflege wertvolle Im- der die für die Berufsausübung erforderlichen Kom-
pulse geben. In das Verständnis von Gesundheit und petenzen erworben wurden. Sie erfolgt theoriegeleitet
Krankheit geht auf diese Weise eine individuelle auf der Basis der Erkenntnisse der Pflegewissenschaft
Komponente ein. Beide Begriffe werden so nicht und ihrer Bezugswissenschaften.
mehr ausschließlich von der medizinischen Diagno- Für den Begriff „Pflege“ finden sich bei den ver-
se bestimmt, sondern vielmehr vom Erleben des be- schiedenen Pflegetheoretikerinnen und -theoretikern
troffenen Menschen und seiner Einschätzung der zahlreiche Definitionen, die sowohl vom zugrunde ge-
Lebensqualität. legten Menschenbild als auch vom Gesundheits- und
Pflegerisches Handeln erweitert sich so auf un- Krankheitsverständnis beeinflusst werden. Beide wir-
terstützende Maßnahmen, die die Stärkung der ein- ken sich sowohl auf die Pflegewissenschaft als auch
geschränkten bzw. bedingten Gesundheit zum Ziel auf die Pflegepraxis und das Pflegeverständnis aus.
haben. Dies ist vor allem für Menschen von Bedeu- Lange Zeit waren die naturwissenschaftlich-me-
tung, die von einer chronischen Einschränkung ihrer chanistische Sichtweise vom Menschen und das bio-
Gesundheit betroffen sind. medizinische Modell von Krankheit allein bestimmend
Bei der Pflege dieser Menschen sind vor allem für die Ausübung medizinischer und pflegerischer Ar-
beratende Fähigkeiten der Pflegepersonen gefragt, beit. Die einseitige Ausrichtung auf die Entstehung,
beispielsweise in Bezug auf die spezielle Ernährung Erklärung und Behandlung von Krankheit sowie das
oder die sportlichen Aktivitäten, die zu einer hohen Verständnis von Krankheit als rein körperlicher Stö-
Lebensqualität auch bei einer dauerhaft einge- rung wird zunehmend kritisiert. In jüngerer Zeit wer-
schränkten Gesundheit beitragen. den hier starke Impulse für eine integrative Sichtwei-
se, d. h. den konsequenten Einbezug psychischer und
sozialer Einflüsse auf die Gesundheit bzw. Krankheit

BAND 1 Pflege und Entwicklung 21


1 Leitbild und Pflege

eines Menschen, sowie eine stärkere Betonung von


1 Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabilitation Literatur:
gesetzt. Wegbereiter für diesen Wandel war die be-
reits 1946 von der Weltgesundheitsorganisation for- Adler, R. H. et al. (Hrsg.): Uexküll. Psychosomatische Medizin.
Theoretische Modelle und klinische Praxis. 7. Aufl. Else-
mulierte Definition von Gesundheit, mit der Gesund-
vier Urban&Fischer, München 2012
heit erstmalig positiv, d. h. nicht in Bezug zur Krank-
Antonovsky, A.: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Ge-
heit, beschrieben wurde. Eine konsequente Weiterfüh- sundheit. dgvt (Deutsche Gesellschaft für Verhaltensthe-
rung dieses Ansatzes vertritt der Medizinsoziologe rapie)-Verlag, Tübingen 1997
Antonovsky in seinem salutogenetischen Modell, in Berufsordnung für Gesundheits- und Krankenpflegerinnen,
dem er der Frage nach der Entstehung von Gesundheit Gesundheits- und Krankenpfleger, Gesundheits- und Kin-
nachgeht, Gesundheit und Krankheit als Pole eines derkrankenpflegerinnen und Gesundheits- und Kinder-
krankenpfleger sowie Altenpflegerinnen und Altenpfleger
Kontinuums darstellt und Faktoren beschreibt, die
(Pflegefachkräfte-Berufsordnung). Hamburgisches Gesetz-
Menschen unterstützen, ihre Gesundheit zu erhalten.
und Verordnungsblatt Nr. 43, 2009, S. 339–340
In der Pflege zeigt sich der Wandel des Menschen- Bischoff, C.: Zum Ganzheitsbegriff in der Pflege. In: Krüger, H.,
bildes und des Gesundheits- und Krankheitsverständ- G. Piechotta, H. Remmers: Innovation der Pflege durch
nisses in der Ausrichtung auf eine patientenorientier- Pflegewissenschaft. Perspektiven und Positionen. Altera-
te, umfassende und individuelle Pflege des Menschen. Verlagsgesellschaft, Bremen 1996, S. 103ff
Sie hat u. a. Konsequenzen für die Ausrichtung der Blättner, B., H. Waller: Gesundheitswissenschaft. Eine Einfüh-
rung in Grundlagen, Theorie und Anwendung, 5. Aufl.
Arbeitsorganisation sowie den Einbezug psychosozia-
Kohlhammer, Stuttgart 2011
ler und emotionaler Aspekte in die Pflege und verlangt Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
die Anpassung regelgeleiteter Vorgehensweisen auf (Hrsg.): Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Mo-
die individuelle Situation eines pflegebedürftigen dell der Salutogenese – Diskussion und Stellenwert. Köln
Menschen und seiner Bezugspersonen. Die stärkere 2001
Ausrichtung auf gesundheitsfördernde, präventive Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK): Definition
der Pflege - International Council of Nurses ICN. Online:
und rehabilitative Bereiche pflegerischen Handelns
www.dbfk.de
findet sich auch in den neuen Berufsgesetzen der Al-
Deutscher Pflegerat e. V. (Hrsg.): Rahmenberufsordnung. Ber-
tenpflege von 2003 und den Berufen in der Kranken- lin 2004
pflege von 2004 wieder, in denen diesen Bereichen Dielmann, G.: Krankenpflegegesetz und Ausbildungs- und
deutlich höhere Ausbildungsanteile als bisher zukom- Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege.
men. Nicht zuletzt schlägt sich dies auch in den geän- Mabuse, 3. Aufl. Frankfurt am Main 2013
derten Berufsbezeichnungen „Gesundheits- und Kin- Fawcett, J.: Spezifische Theorien der Pflege im Überblick. Ver-
lag Hans Huber, Bern 1999
derkranken- bzw. Gesundheits- und Krankenpfleger/
Franke, A.: Modelle von Gesundheit und Krankheit. 3. Aufl.
in“ nieder.
Hogrefe, Bern 2012
Hurrelmann, K. et al. (Hrsg.): Lehrbuch Prävention und Ge-
sundheitsförderung. 4. Aufl. Hogrefe, Bern 2014
Hurrelmann, K., O. Razum (Hrsg.): Handbuch Gesundheits-
wissenschaften. 6. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim 2016
Jacob, C.: Gesundheitsförderung im pflegerisch-klinischen
Kontext. Verlag Hans Huber, Bern 2004
Klemperer, D.: Sozialmedizin, Public Health, Gesundheitswis-
senschaften. Lehrbuch für Gesundheits- und Sozialberufe.
3. Aufl. Hogrefe, Bern 2015
Müller, E.: Leitbilder in der Pflege. Eine Untersuchung indivi-
dueller Pflegeauffassungen als Beitrag zu ihrer Präzisie-
rung. Verlag Hans Huber, Bern 2001
Müller, E.: Pflegewissenschaft und Naturwissenschaften. Kri-
tische Anmerkungen zu einem schwierigen Verhältnis als
Ausgangspunkt zu seiner Neubestimmung. Pflege 12
(1999) 35
Robert Bosch Stiftung (Hrsg.): Pflegewissenschaft. Grundle-
gung für Lehre, Forschung und Praxis. Denkschrift. Blei-
cher, Gerlingen 1996

22 Pflege und Entwicklung BAND 1


Literatur

Rogers, M.: Theoretische Grundlagen der Pflege. Eine Einfüh- Waller, H.: Sozialmedizin. Grundlagen und Praxis, 6. Aufl.
rung. Lambertus, Freiburg i.B. 1995 Kohlhammer, Stuttgart 2007
1
Schwartz, F. W. et al. (Hrsg.): Das Public Health Buch. Gesund- Wydler, H. u. a. (Hrsg.): Salutogenese und Kohärenzgefühl.
heit und Gesundheitswesen. Elsevier Urban & Fischer, Grundlagen, Empirie und Praxis eines gesundheitswissen-
München 2012 schaftlichen Konzeptes, 4. Aufl. Juventa, Weinheim 2010
Steppe, H.: Pflegemodelle in der Praxis. 2. Folge: Virginia
Henderson. Die Schwester/Der Pfleger 29 (1990) 584
Uexküll, Th. von: Was weiß die Medizin vom Menschen? In:
Rössner, H. (Hrsg.): Der ganze Mensch. Aspekte einer Im Internet:
pragmatischen Anthropologie. dtv 1986 www.deutscher-pflegerat.de; Stand: 22. 06. 2017
Uexküll, Th. von, W. Wesiack: Theorie der Humanmedizin. www.dbfk.de; Stand: 22. 06. 2017
Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns, 2., durch-
gesehene Aufl., Urban und Schwarzenberg, München
1991

BAND 1 Pflege und Entwicklung 23


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf
Marion Kaster

2
Übersicht
Einleitung · 24
2.1 Antike · 28
2.1.1 Griechenland · 28
2.1.2 Römisches Reich · 30
2.1.3 Christentum · 31
2.2 Mittelalter · 32
2.2.1 Klöster als Hospitäler und
Bildungsstätten · 32
2.2.2 Pflege durch die Hospitaliterorden · 35
2.2.3 Hexenverfolgung · 37
2.2.4 Kinderheilkunde und Altersfürsorge · 38
2.3 Neuzeit · 38
2.3.1 Lohnwartesystem und katholische
Schlüsselbegriffe
Pflegeorden · 39
2.3.2 Krise der Krankenpflege im ▶ Caritas
18. Jahrhundert · 41 ▶ Ordenspflege
2.3.3 Hospitalwesen in der Neuzeit · 42 ▶ Mutterhaussystem
2.4 19. Jahrhundert · 44 ▶ Lohnwartesystem
2.4.1 Organisationsformen der Pflege · 44 ▶ Freiberufliche Pflege
2.4.2 Florence Nightingale und Jean Henri ▶ Professionalisierung
Dunant · 51
2.5 20. Jahrhundert · 54
2.5.1 Pflege im 1. Weltkrieg und in der Einleitung
Weimarer Republik · 55
2.5.2 Pflege im Nationalsozialismus und im Fürsorge und die Bereitschaft, anderen in Notsitua-
2. Weltkrieg · 55 tionen zu helfen, ist ein wichtiger Bestandteil
2.5.3 Neuordnung der Pflegeausbildungen nach menschlicher Gemeinschaften. Schon immer halfen
1945 · 58 die Menschen einander bei Verletzungen und Er-
2.6 21. Jahrhundert · 61 krankungen. Jedoch ist zwischen den einfachen,
2.6.1 Gesetz über die Berufe in der wissenschaftlich nicht fundierten Pflegehandlungen
Krankenpflege · 61 der frühen Menschheitsgeschichte und der Entste-
2.6.2 Gesetz über die Berufe in der hung des Pflegeberufs, wie wir ihn heute kennen,
Altenpflege · 62 nicht nur viel Zeit vergangen. Vielmehr ist das heu-
2.6.3 Ausblick · 63 tige Erscheinungsbild der Pflege das Ergebnis einer
2.6.4 Weiterbildungsmöglichkeiten für Reihe von geschichtlichen Entwicklungen und wird
Pflegepersonen · 64 durch einen Blick in die Geschichte verständlicher.
2.6.5 Berufspolitische Entwicklungen · 65
Die historische Rückschau macht die Ursprünge
Fazit · 66
des Berufs bewusst, zeigt Fehler und Fehlentwick-
Literatur · 67
lungen auf und kann so bei der heutige Suche nach
einer berufspolitischen Perspektive unterstützend
und korrigierend wirken.
Das folgende Kapitel beschreibt die Entwicklung
der Pflege zum Beruf. Dabei werden entscheidende

24 Pflege und Entwicklung BAND 1


Einleitung

Etappen in der Entwicklung des Pflegeberufs und Vorab werden anhand einer Zeittafel die zeit-
wichtige Persönlichkeiten der Pflege dargestellt. geschichtlichen Entwicklungen in der Pflege zusam-
menfassend dargestellt (Tab. 6.5).

Tab. 2.1 Zeittafel

Jahr Zeitgeschichtliche Entwicklungen Entwicklungen in der Pflege

bis 35 000 v. Chr. Vor- und Frühgeschichte


Die Entwicklung des Homo sapiens ist ca. Knochenfunde, die deutliche Versteifungen der Wirbelsäule und
35 000 v. Chr. abgeschlossen. des Bewegungsapparates aufweisen, geben erste Hinweise darauf,
Die frühen Menschen entwickeln ihre Le- dass Menschen bereits in vor- und frühgeschichtlicher Zeit Krank-
bens- und Siedlungsweise entsprechend heiten ausgesetzt waren und pflegerische Betreuung erforderlich
ihrer biologischen und physischen Möglich- wurde. Im Denken der frühen Menschen werden Krankheiten von
keiten und in bestmöglicher Symbiose mit Dämonen und bösen Geistern verursacht. Das Handeln ist geprägt
ihrer Umwelt. durch Instinkt, Intuition und Empirie. Kranke werden durch Ange-
hörige gepflegt. Für die Behebung der Krankheiten und damit für
die Vertreibung der Dämonen und Geister sind Medizinmänner
und Schamanen zuständig.

4000 v. Chr. Frühe Hochkulturen


In Ägypten, Mesopotamien, Indien und Erstmals werden heilkundliche Erkenntnisse schriftlich festgehal-
China entstehen durch die Verschmelzung ten. Diese beinhalten zumeist hygienische Maßnahmen. Die Heil-
primitiver Kulturen archaische Hochkultu- kunde ist geprägt von magisch-religiösen Vorstellungen.
ren, die durch Entwicklung der Schriftspra- Geheilt wird durch Priester, Schamanen und Medizinmänner.
che, Schichtung der Bevölkerung sowie
durch die Arbeitsteilung gekennzeichnet
sind.

800 v. Chr. – Antike


400/500 n. Chr. Mit Antike ist die Epoche des Altertums im Die griechische Heilkunde wird vom römischen Reich übernom-
Mittelmeerraum gemeint. Vieles in unserem men und weiterentwickelt. Gesundheit wird als Ideal verstanden,
heutigen Sozialverhalten, in unserer Spra- das es zu erhalten oder wiederherzustellen gilt.
che, in Medizin und in der Pflege hat seine Im 5. Jahrhundert v. Chr. entsteht in Griechenland die Tempelme-
Wurzeln in der Antike. dizin, in der Priester, später Ärzte, tätig sind. Die berühmtesten
griechischen Ärzte sind Hippokrates, Asklepios und Galen.
In der frühen griechischen Naturphilosophie werden erstmals Er-
klärungen für Krankheit und Gesundheit auf wissenschaftlichem
Weg gesucht. Die Erforschung der Naturgesetze verdrängt bishe-
rige religiös geprägte Ansätze über die Entstehung von Krankhei-
ten

Christentum
Mit dem Christentum wird eine entschei- Die Legalisierung des Christentums durch Kaiser Konstantin zieht
dende Wende eingeläutet, die Auswirkun- die Ausbreitung des Christentums nach sich.
gen auf alle sozialen Lebensbereiche und Bereits die Urkirche organisiert die caritativen Aufgaben. Es wer-
insbesondere auf die Betreuung von Kran- den öffentliche Einrichtungen zur Aufnahme und Betreuung von
ken und Bedürftigen hat. Mit dem Tole- Hilfsbedürftigen geschaffen. Xenodochien als Häuser für sozial
ranzedikt von Mailand wird das Christentum Hilfsbedürftige und Kranke werden zu Vorläufern der späteren
als Religion erlaubt. Krankenhäuser. Das Christentum mit seinem Gebot der Nächs-
tenliebe und der Barmherzigkeit sorgt dafür, dass man sich auch
um chronisch und unheilbar Kranke kümmert.
Die caritativen Aufgaben werden vor allem von Frauen ausgeübt.
Hier wird der Grundstock für die Pflege als Frauenberuf gelegt.

Fortsetzung ▶

BAND 1 Pflege und Entwicklung 25


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

Tab. 2.1 (Fortsetzung)

Jahr Zeitgeschichtliche Entwicklungen Entwicklungen in der Pflege

500 – 1500 n. Chr. Mittelalter


2 Die Zeit in der europäischen Geschichte Heilkunde und Krankenpflege werden im Aachener Konzil von 817
zwischen Antike und Neuzeit wird als Mit- als Aufgabe von Mönchen und Nonnen festgelegt. Klöster werden
telalter bezeichnet. Die Grundzüge des Mit- zu Stätten der Wissenschaft, insbesondere der Medizin, und zu-
telalters sind u. a. die nach Ständen organi- gleich zu Behandlungsstätten für Mönche, Wanderer und Arme.
sierte Gesellschaft und die gläubig christli- In den Jahren 1472, 1473 und 1485 erscheinen die ersten Ab-
che Geisteshaltung. handlungen über Kinderkrankheiten.
Die Zeit ist u. a. geprägt durch Seuchen, Die Pflegetätigkeit wird durch Angehörige der Hospitaliterorden
Hexenverfolgung, Kreuzzüge und Ritter- (geistliche Orden, Ritterorden, weltliche Orden) auf der Basis der
orden. christlichen Caritas ausgeübt.

1500 n. Chr. Neuzeit


– 18. Jahrhundert Humanismus, Renaissance und Aufklärung, Die Hospitäler vollziehen ihre Veränderung hin zum Krankenhaus,
bedeutende geografische Entdeckungen in dem nur noch Kranke aufgenommen werden dürfen. Die Me-
und technische Erfindungen sowie die früh- dizin etabliert sich als Naturwissenschaft und macht u. a. große
kapitalistischen wirtschaftlichen und sozia- Fortschritte in der Anatomie (z. B. Entdeckung des Blutkreislaufs).
len Entwicklungen sind die Eckpfeiler der Den Entwicklungen in der Medizin, insbesondere in Therapie und
Neuzeit. Diagnostik, und den daraus entstehenden höheren Anforderungen
Kriege, Hunger und Seuchen, Reformation, an die Pflege, kann diese aufgrund der fehlenden Ausbildung nicht
Bauernkriege und Dreißigjähriger Krieg prä- entsprechen.
gen die Neuzeit und erschüttern Europa. Die Pflege wird durch bezahlte Wärterinnen und Wärter (Lohn-
wartesystem) ausgeübt sowie durch die noch in der Tradition der
christlichen Caritas stehenden Angehörigen der neuen katho-
lischen Pflegeorden.
Der Heidelberger Professor Franz Anton Mai (1742 – 1814) erkennt
die Notwendigkeit einer Ausbildung für Pflegende und gründet
1782 die erste deutsche Krankenwärterschule.

19. Jahrhundert 19. Jahrhundert


Im 19. Jahrhundert beeinflusst die Indus- Pastor Theodor Fliedner (1800 – 1864) gründet 1836 in Kaisers-
trialisierung das Leben der Menschen. Ins- werth den „evangelischen Verein für christliche Krankenpflege“, in
besondere in der zweiten Hälfte des dem eine praktische und theoretische Ausbildung der Schwestern
19. Jahrhunderts werden Arbeiterbewegung stattfindet.
und Sozialismus zu zentralen Begriffen. Florence Nightingale (1820 – 1910) richtet 1860 am St. Thomas-
Unter schwierigsten Bedingungen wird zu- Hospital in London die erste nicht konfessionelle und vom Kran-
meist Fabrikarbeit bei niedrigstem Lohn er- kenhaus unabhängige Krankenpflegeschule ein. Jean Henri Dunant
bracht. Fehlende Hygiene und eine unzurei- (1828 – 1910) erlebt die ungenügende ärztliche und pflegerische
chende Ernährung fördern Seuchen und die Versorgung der Verwundeten im Krim-Krieg auf dem Schlachtfeld
Entstehung von Krankheiten. von Solferino und begründet das Rote Kreuz. Es entstehen zahl-
Als Antwort auf die soziale Krise werden reiche Schwesternschaften vom Roten Kreuz, die nach dem Mut-
Ende des 19. Jahrhunderts die Sozialver- terhaussystem organisiert sind und Aufgaben in Kriegs- und Frie-
sicherungsgesetze (Krankenversicherungs- denszeiten übernehmen.
gesetz, Unfallversicherungsgesetz, Gesetz Die Medizin entwickelt auf der Basis der Naturwissenschaften ein
zur Alters- und Invaliditätssicherung) einge- neues Gesundheits- und Krankheitsverständnis. Durch die Ent-
setzt. deckungen von Rudolf Virchow (1821 – 1902), Louis Pasteur
(1822 – 1895), Ignaz Semmelweis (1818 – 1865), Robert Koch
(1843 – 1910) und Wilhelm Konrad Röntgen (1845 – 1923) macht
die Medizin große Fortschritte.
1802 wird in Paris das erste Kinderkrankenhaus Europas, das
„Hospital des enfants malades“, gegründet.
Die Differenzen zwischen konfessionellen und weltlichen Kranken-
pflegevereinigungen nehmen im 19. Jahrhundert zu und behin-
dern die Entwicklung eines beruflichen Selbstverständnisses.
Caritas und Diakonie treten mit ihren Vorstellungen von einer
Krankenpflege, die als „Liebesdienst“ ausgeübt wird, in Konkurrenz
zu den Forderungen, dass die Krankenpflege ein Beruf ist, dem
eine Ausbildung zugrunde liegen und der mit einer Bezahlung
vergütet werden sollte.

Fortsetzung ▶

26 Pflege und Entwicklung BAND 1


Einleitung

Tab. 2.1 (Fortsetzung)

Jahr Zeitgeschichtliche Entwicklungen Entwicklungen in der Pflege

20. Jahrhundert, 1. Weltkrieg und Weimarer Republik


1. Hälfte Ausgelöst durch das Attentat von Sara- Agnes Karll (1868 – 1927) gründet 1903 die erste deutsche Berufsorga- 2
jewo am 28. Juni 1914 beginnt der erste nisation der Krankenpflege und setzt sich dafür ein, dass die Kranken-
Weltkrieg. Nach Ende des 1. Weltkrieges pflege zu einem nicht gesundheitsgefährdenden, gesellschaftlich aner-
geht das deutsche Reich in die zunächst kannten und selbstständigen Frauenberuf werden soll.
verheißungsvolle Weimarer Republik Die Kinderheilkunde erhält durch den 1. Weltkrieg einen ersten Auftrieb.
über, die von 1919 bis 1933 dauert. Die Zwischen 1919 und 1921 werden zum ersten Mal Lehrstühle für Kin-
Weltwirtschaftskrise und der Aufstieg derheilkunde eingerichtet.
der Nationalsozialisten führen zum Un- Im 1. Weltkrieg erhält das Rote Kreuz einen großen Zulauf, während die
tergang der Republik. freiberufliche Krankenpflege größte Schwierigkeiten hat, für Aufgaben in
der Kriegskrankenpflege zugelassen zu werden.
Das erste deutsche Krankenpflegegesetz tritt am 1. Juni 1907 in Kraft
und beinhaltet eine einjährige Ausbildung. Die Krankenpflege wird damit
zugleich als staatlich anerkannter Beruf per Gesetz geregelt.
Die Kritik der Mutterhausverbände, die in der Krankenpflege noch
immer einen „Liebesdienst“ sehen, führt dazu, dass 1921 eine zweijäh-
rige Ausbildung nicht durchgesetzt werden kann.

Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg


Mit der Ernennung von Adolf Hitler zum 1938 wird das Gesetz zur Ordnung der Krankenpflege mit 1,5 Jahren
Reichskanzler am 30. 01. 1933 beginnt Ausbildung und einem zusätzlichen Anerkennungsjahr verabschiedet.
die Zeit der Herrschaft des Nationalso- In der Zeit des Nationalsozialismus sind Pflegende in der Gemeinde-
zialismus. Es folgen die planmäßige Ver- pflege, in Krankenhäusern, im Kriegsdienst und in Konzentrationslagern
nichtung der Juden und die Auslöschung eingesetzt und an Euthanasieprogrammen beteiligt. Die NS-Schwestern
„unwerten“ Lebens durch die Euthana- sollen die Elite der deutschen Schwestern darstellen und werden auch
sieprogramme. Die Annexions-, Unter- als „braune Schwestern“ bezeichnet. Während sich die Pflege der Illusion
drückungs- und Vernichtungspolitik gip- hingibt, ihrem humanitären Berufsethos treu zu bleiben, beteiligt sie sich
felt im 2. Weltkrieg (1939 – 1945), der an allen Umsetzungsphasen der systematischen Vernichtung.
am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Am 07. 04. 1948 wird die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 61
Kapitulation des deutschen Reiches zu Staaten gegründet.
Ende geht.

20. Jahrhundert, 1950 – 2016


2. Hälfte, und Nach Kriegsende wird Deutschland zu- 1957 wird ein einheitliches Krankenpflegegesetz für die Bundesrepublik
21. Jahrhundert nächst in vier Besatzungszonen auf- Deutschland mit 2 Jahren Ausbildungszeit verabschiedet.
geteilt. Bis 1949 kommt es zur Bildung Das Krankenpflegegesetz von 1957 wird 1965 geändert und führt zu
von zwei deutschen Teilstaaten. Im einer 3-jährigen Ausbildungszeit. Die Kinderkrankenpflege wird als ei-
Osten wird in der sowjetischen Besat- genständige Ausbildung mit aufgenommen und steht nun gleichbe-
zungszone die Deutsche Demokratische rechtigt neben der Krankenpflege.
Republik (DDR) gegründet. Das Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege mit einer 3-jährigen
Am 9. November 1989 wird die Grenze Ausbildungszeit wird 1985 verabschiedet.
zur Bundesrepublik und nach West-Berlin 1990 wird der erste Studiengang für Pflegende an der Fachhochschule
geöffnet. Seit dem 3. Oktober 1990 ist Osnabrück eröffnet. Aktuell bieten 78 Universitäten, Fachhochschulen
Deutschland wieder vereint. und Akademien ein Pflegestudium an. Das Angebot umfasst 149 Pfle-
Deutschland ist Mitglied der Europä- gestudiengänge, davon sind 105 Bachelor- und 44 Masterstudiengänge.
ischen Union (EU). Die EU ist ein Verbund Das erste bundeseinheitliche Altenpflegegesetz (AltPflG) wird am
von derzeit 28 Mitgliedsstaaten. Die An- 4. September 2003 verabschiedet.
fänge der EU gehen auf die 1950er Jahre 2004 tritt das Gesetz über die Berufe der Krankenpflege in Kraft und
zurück. Von den 28 EU-Staaten bilden 19 erweitert das Gesamtausbildungsziel um präventive, rehabilitative und
Staaten eine Europäische Wirtschafts- palliative Maßnahmen.
und Währungsunion. Im Jahr 2002 Im März 2016 legt die Bundesregierung einen Gesetzesentwurf zur Re-
wurde für diese Länder eine gemeinsame form der Pflegeberufe vor. Die Ausbildungen in der Alten-, der Gesund-
Währung, der Euro, eingeführt. heits- und Krankenpflege sowie der Gesundheits- und Kinderkranken-
pflege sollen zu einer gemeinsamen Ausbildung zusammengeführt
werden. Aufgrund großer Widerstände aus der Union kommt es nicht
zur Realisierung. Im Juni 2017 beschließt der Bundestag eine Verein-
heitlichung der Ausbildung. Sie sieht vor, dass nach zwei Jahren ge-
meinsamer Ausbildung die Auszubildenden entscheiden können, ob sie
ab dem dritten Ausbildungsjahr die generalistische Ausbildung fortset-
zen oder zwischen Kinderkranken- oder Altenpflege wählen.
Am 01. Januar 2016 wird die erste Pflegekammer Deutschlands in
Rheinland-Pfalz gegründet. Weitere Bundesländer wollen folgen.

BAND 1 Pflege und Entwicklung 27


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

2.1 Antike
Die Antike bzw. das Altertum umfasst den Zeitraum
2 von 800 v. Chr. bis 400/500 n. Chr.

!
Merke: Vieles in unserem heutigen Sozial-
verhalten, in unserer Sprache, in Medizin
und Pflege hat seine Wurzeln in der Antike.
So kommt dieser Zeitspanne eine die Zeit überdauern-
de Bedeutung zu. Worte wie Anatomie, Psychologie,
Ethik und Technik stammen aus dieser Epoche. We-
sentliche Impulse für die Heilkunde und Pflege gingen
dabei von den Kulturen im antiken Griechenland und
im römischen Reich aus.

Mit dem Aufkommen des Christentums entwickelte


sich die Idee der Caritas, der christlichen Nächsten-
liebe, die die Pflege am Nächsten als Dienst an Gott
ansieht.

2.1.1 Griechenland
Dass die in der Heilkunde Tätigen schon in der grie-
chischen Antike ein hohes Ansehen genossen, lässt
sich in den griechischen Heldengedichten nachlesen.
So heißt es in einem Vers der Ilias, dem Epos von
Homer: „Denn ein heilender Mann ist viele wert vor
den anderen“. Dies verdeutlicht das Verständnis von
Gesundheit und Krankheit in der frühgriechischen
Heilkunde. Gesundheit galt als ein hohes Ideal, wel-
ches zu erhalten oder wiederherzustellen war. Dabei
war auch die griechische Medizin in den Anfängen
der Antike noch stark von religiösen Vorstellungen
durchsetzt. Im Mittelpunkt stand für die alten Grie-
chen, die auch als „Hellenen“ bezeichnet werden,
die griechische Götterfamilie. Apollon, der Sohn
des Göttervaters Zeus, galt als der Gott von Krank-
heit und Heilung. Er soll auch der Vater von Askle-
pios (lat.: Aeskulap) gewesen sein. Asklepios, der um
1260 v. Chr. in Thessalien geboren wurde, arbeitete
als Arzt und wurde aufgrund zahlreicher Heilungen
um 500 v. Chr. zum Gott der Heilkunst erhoben Abb. 2.1 Asklepios, der Gott der Heilkunst. Römische Statue
(Abb. 2.1).

!
Merke: Sein Symbol, die um den Stab ge- den Tempelanlagen Tätigen waren zunächst nur
wundene heilige Schlange, gilt noch heute Priester, später auch Ärzte, die dafür Sorge trugen,
als Kennzeichen des ärztlichen Berufes. dass nur reine Menschen den Tempel betraten. Ster-
bende und Gebärende wurden nicht aufgenommen,
Nach den Lehren von Asklepios entwickelte sich um da man davon ausging, dass sie den Raum verunrei-
500 v. Chr. die sogenannte Tempelmedizin. Die in nigten. Damit wurde der allgemeinen Auffassung

28 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.1 Antike

entsprochen, dass unheilbar Kranke überhaupt nicht moralpathologie, die das Verständnis vom mensch-
mehr behandelt werden sollten. Dies hing auch lichen Körper, seiner Gesundheit und Krankheit bis
damit zusammen, dass die Pflege als eigenständiger ins 19. Jahrhundert hinein beeinflusste. Die körper-
Bereich und eine rein auf pflegerische Belange aus- eigenen Säfte Blut (haima), gelbe Galle (chole),
gerichtete Betreuung noch nicht existierten. schwarze Galle (melan chole) und Schleim (phleg-
2
Hatte sich die Heilbehandlung bisher auf das ge- ma) wurden als die vier Elemente des menschlichen
sammelte Erfahrungswissen (Empirie) gestützt, so Körpers betrachtet und mit den Qualitäten der Ur-
versuchte man nun Krankheit und Heilung rational elemente Warm, Trocken, Kalt und Feucht in Zusam-
zu verstehen. Seit 700 v. Chr. tauchten mit den Na- menhang gesetzt sowie den wichtigsten Organen
turphilosophen erste Versuche auf, Krankheit und Herz, Leber, Milz und Gehirn zugeordnet. Gesund-
Gesundheit auf einer natürlichen Grundlage, auf heit war dann gegeben, wenn sich die Körperele-
der Basis von Naturgesetzen, zu verstehen. mente in Zusammensetzung, Wirkung und Quanti-
In der Fortführung dessen, was die Naturphiloso- tät im richtigen Gleichgewicht befanden. Krankheit
phen begonnen hatten, entwickelte Empedokles von war dem gegenüber ein Zustand, in dem eine falsche
Agrigent (495 – 435 v. Chr.) die Elementenlehre Mischung der Säfte und ihrer Eigenschaften vorlag.
(Abb. 2.2). Auf diese Weise erklärte man sich unter anderem
Innerhalb dieser Lehre stellen die vier gleichwer- die Depression, damals schon ein bekanntes Leiden,
tigen Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde die als ein Überwiegen der schwarzen Galle („Melan-
Bausteine der natürlichen Welt dar. Die Elementen- cholie“). Das Bestreben der Natur sei es, das Gleich-
lehre wurde zur Grundlage der Säftelehre oder Hu- gewicht wieder herzustellen.

Choleriker

r Jug
me Leber en
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gelbe Galle
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schwarze Galle
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Abb. 2.2 Schema der griechischen Elemente- und Säftelehre

BAND 1 Pflege und Entwicklung 29


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

Die frühe griechische Naturphilosophie löste sich ■ Schlafen und Wachen,


vom primitiven magischen, empirischen Denken ■ Ausscheidungen und Absonderungen,
und suchte nach Gesetzmäßigkeiten. Erklärungen ■ Anregungen des Gemüts.
für Krankheit und Gesundheit wurden erstmalig
2 auf wissenschaftlichem Weg gesucht. In der griechischen Antike galt Gesundheit als ein
hohes Ideal, sie stand für die Harmonie in der Physis
▌ Hippokratische Medizin (500 – 250 v. Chr.) und im sozialen Austausch. Krankheit bedeutete
Der griechische Arzt Hippokrates, um 460 v. Chr. auf dementsprechend eine Dysharmonie. Kranke und
der Insel Kos geboren und um 377 v. Chr. in Thessa- Behinderte galten als sozial minderwertig und wur-
lien gestorben, gelangte schon zu Lebzeiten zu den nur dann gesellschaftlich geduldet, wenn eine
einem hohen Ansehen und wird vielfach als der „Va- Aussicht auf Besserung bestand. Chronisch Kranke
ter der Medizin“ beschrieben (Abb. 2.3). und z. B. durch das Alter Geschwächte wurden iso-
Er gehörte den Asklepiaden an und arbeitete als liert und deklassiert.
Wanderarzt; auf der griechischen Insel Kos errichte-
te er eine Medizinschule. 2.1.2 Römisches Reich
Heute gilt es bei fünf Schriften als gesichert, dass Im Allgemeinen bezeichnet man mit dem römischen
sie tatsächlich von Hippokrates stammen. Der hip- Reich das von der Stadt Rom beherrschte Gebiet in
pokratische Eid, der die ethische Grundlage des der Zeit von 600 v. Chr. bis 500 – 600 n. Chr. Die Aus-
Arztberufes festlegte, stammt wahrscheinlich nicht weitung der Stadt zum römischen Weltreich ging
von Hippokrates selbst. Die hippokratische Medizin, rasch voran. Bis 264 v. Chr. wurde ganz Italien von
auch als Humoralpathologie bezeichnet, beinhaltete den Römern beherrscht. Die Eroberung von Spanien,
die Notwendigkeit einer genauen und umfangrei- Nordafrika, Griechenland, Frankreich und Teilen von
chen Krankenbeobachtung, die sowohl die Kranken- Deutschland folgte.
geschichte als auch die Lebensbedingungen des Pa- Die römische Staatsidee fand ihren Niederschlag
tienten umfasste, um so die Ursache der Krankheit im Zwölftafelgesetz von 450 v. Chr., in dem u. a. zahl-
zu erkennen. Dabei wurde nie ein einzelnes Organ, reiche Vorschriften über hygienische Angelegenhei-
sondern immer der Mensch in seiner Ganzheit be- ten festgehalten wurden. Wasserleitungen, Abwas-
trachtet. Auf den ganzen Menschen war auch die sersysteme oder das Verbot der Totenverbrennung
Therapie ausgerichtet, deren zentrales Element die innerhalb der Stadt gehen auf dieses Gesetz zurück.
Diätetik (griech.: Lehre von der vernünftigen Le- Um 200 n. Chr. besaß Rom mit ungefähr 800 öffent-
bensweise) war. Hierunter verstand man die Ein- lichen Bädern bereits einen hohen Stand der Ge-
flussnahme auf die verschiedenen Lebensbedingun- sundheitspflege.
gen oder die Regelung der Lebensordnung. Die Medizin der römischen Antike war zunächst
Folgende Lebensbedingungen wurden zum ebenfalls noch stark von Magie, Religion und empi-
Hauptansatzpunkt der Therapie: rischen Kenntnissen geprägt.
■ Licht und Luft, Die wissenschaftliche Medizin kam mit Asklepia-
■ Speise und Trank, des von Bithymien im 1. Jh.v. Chr. nach Rom. Er
■ Arbeit und Ruhe, gründete die erste römische Ärzteschule der Metho-
diker. Es folgten die Gründung der Schulen der
Pneumatiker und Eklektiker. Als der berühmteste
Abb. 2.3 Hippokrates Vertreter der Eklektiker gilt Galen aus Pergamon.
Er studierte Mathematik, Philosophie und Medi-
zin, wurde in seiner Heimatstadt Gladiatorenarzt
und ging anschließend nach Rom, wo er bald zu
großem Ansehen gelangte, u. a. auch deshalb, weil
er öffentlich Tierzergliederungen und Experimente
an lebenden Tieren vornahm. Um 169 wurde er
Leibarzt des römischen Kaisers Marc Aurel (Kaiser
von 161 – 180). Galen verfasste zahlreiche Schriften,
die insgesamt gesehen einen Spiegel des Wissens

30 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.1 Antike

der Antike darstellen. Insbesondere seine Anatomie 2.1.3 Christentum


und Physiologie waren lange Zeit Grundstock der Mit dem Leben von Jesus von Nazareth wurde
Medizin. gleichzeitig ein neues Zeitalter im Umgang mit
Galen erweiterte die Säftelehre der Hippokrati- Kranken eingeläutet, welches sich vor allem in der
ker und entwickelte seine eigene Theorie über die Pflege ausdrückte. Nach Jesus’ Tod bildeten sich
2
Blut- und Nährstoffverteilung im Körper, die bis ins christliche Gemeinden, die nach seinen Lehren leb-
17. Jahrhundert Bestand haben sollte (Abb. 2.4). ten. Eine besondere Verbundenheit innerhalb der
Durch die Ausbreitung Roms nach Griechenland Christen entstand dadurch, dass sie ihren Glauben
kam es zur Übernahme und Weiterentwicklung der verheimlichen mussten, nachdem Kaiser Nero 64
griechischen Heilkunde im römischen Reich. Be- n. Chr. die Christenverfolgung ausgerufen hatte.
rühmtester Vertreter war Galen aus Pergamon, des- Man traf sich heimlich in Höhlen und in unterirdi-
sen Theorie über die Blut- und Nährstoffverteilung schen Gewölben, den sogenannten Katakomben.
im menschlichen Körper, bis ins 17. Jahrhundert hi- Das Gebot der Caritas, der christlichen Nächsten-
nein Gültigkeit besaß. liebe, war schon zum Zweck der Selbsterhaltung
sinnvoll. Ausgeübte Nächstenliebe und Barmherzig-
keit entsprachen zudem den Geboten, die man den
Texten der heiligen Schrift entnehmen konnte. Für
Freie Endigungen
die Christen bedeutete der Dienst am Nächsten zu-
und
Anastomosen* Luftzufuhr gleich Dienst an Gott.
Dunst- Erstmals in der Geschichte der Menschheit wer-
abgabe
den auch chronisch und unheilbar Kranke, Alte,
Bettler – kurz alle, die Hilfe benötigten – unterstützt
Arterien
(lufthaltig) und gepflegt, auch wenn keine Aussicht auf Heilung
und spätere Wiederaufnahme der Arbeit bestand.
Calor Auch zwischen Arm und Reich wurden keine Unter-
innatus
im linken schiede gemacht.
Blutbildung
Herzen Das vorbildliche Leben der Christen beeindruck-
Pfortader te, motivierte zum Nachahmen und trug zu seiner
mit Chylus Nahrungs-
aufnahme raschen Verbreitung bei.
Gallenblase Für die Urkirche entstand die Notwendigkeit,
mit gelber Milz
sich dieser caritativen Aufgabe auch organisatorisch
Galle
zu stellen. Eine Folge hiervon war die Einrichtung
des Diakonates für Frauen (diakonein, griech.:
Kot schlichtes Dienen). Sie waren hauptsächlich für die
Taufe und Salbung der Bekehrten zuständig, erst an
zweiter Stelle stand die Sorge um Kranke und Hilfs-
Anastomosen
bedürftige. Obwohl sich anfänglich auch Männer an
und
freie Endigungen der Kranken- und Armenversorgung beteiligten,
wurde hier der Grundstock für die Pflege als Frau-
enberuf gelegt.
arterielles venöses Speisebrei schwarze Nach seiner Bekehrung zum Christentum erließ
Blut und Galle Kaiser Konstantin (305 – 337) im Jahr 313 das Tole-
schwarze Galle ranzedikt von Mailand, welches das Christentum als
* Die Rolle der Gehirnkammern und des Spiritus Religion erlaubte. Nun konnten öffentliche Einrich-
animales ist hier außer Acht gelassen. tungen zur Aufnahme und Betreuung von Hilfs-
bedürftigen geschaffen werden.
Abb. 2.4 Schema der Blut- und Nährstoffbewegung nach der Man kannte mehrere solcher Einrichtungen, die
Theorie von Galen je nach ihrer Belegung unterschiedlich bezeichnet
wurden. So nannte man das Haus für alte Menschen
Gerokomeion, das Haus für Säuglinge Brephotro-

BAND 1 Pflege und Entwicklung 31


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

pheion und das Haus für sozial Hilfsbedürftige und erste Universitätsgründungen und die Etablierung
Kranke Xenodochion (gr.) bzw. Hospitalium (lat.). Im der Medizin als Wissenschaft.
ersten ökumenischen Konzil, einer Versammlung
von Bischöfen in Nikaea im Jahr 325, machten sie 2.2.1 Klöster als Hospitäler und Bildungsstätten
2 es sich zur Auflage, in ihrer jeweiligen Diözese ein Die Legalisierung des Christentums durch Kaiser
Xenodochion zu errichten. Dies wurde im 4. Konzil Konstantin brachte die Ausbreitung des Christen-
von Karthago (398) ausdrücklich wiederholt. tums mit sich und führte im 5. Jh. zur Gründung
Die Xenodochien stellten noch keine Kranken- vieler Klöster. Die Klostergemeinschaften, in denen
häuser im heutigen Sinne dar. Sie waren vielmehr mehrere Mönche unter der Leitung eines Abtes zu-
Sozialasyle, wenngleich sie als Vorläufer des späte- sammenlebten, boten ideale Möglichkeiten zur Aus-
ren christlichen Hospitalwesens zu betrachten sind. übung der christlichen Barmherzigkeit. Innerhalb
Die Mutter von Konstantin, Helena, soll das erste dieser Klostergemeinschaften wurde das medizi-
Xenodochion in Konstantinopel gestiftet haben. In nische Wissen der Antike weiterentwickelt.
Rom wurde das erste Xenodochion um 380 von der Mit den Klostergründungen, die meist auch über
Patrizierin Fabiola gegründet, die Berichten zufolge Klostergärten mit Heilpflanzen verfügten, ent-
die Kranken persönlich von der Straße mitnahm und wickelten sich gleichzeitig Behandlungsstätten für
pflegte. Mönche, Wanderer und Arme. Aus diesem Grunde
Zunehmend waren es Frauen aus den oberen wird hier auch der Begriff Kloster- oder Mönchs-
Schichten, die sich zur tätigen Nächstenliebe ent- medizin verwendet.
schlossen. Die Worte Jesu Christi: „Was ihr dem Ge-
ringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir ▌ Benedikt von Nursia
getan“, wurden handlungsweisend. Vor allem Benedikt von Nursia (480 – 543) setzte sich
für die Fortentwicklung von Medizin und Kranken-
Zusammenfassung: pflege ein. Er gründete auf dem Hügel Monte Cassi-
Heilkunde no bei Neapel einen eigenen Orden, den Benedikti-
■ In der griechischen Heilkunde wurden erstmals nerorden, dessen Hauptanliegen die Ausübung der
Erklärungen für Krankheit und Gesundheit auf Caritas war. Grundlage der Lehre Benedikts war die
wissenschaftlichem Weg gesucht, hippokratisch-galenische Medizin.
■ wichtigste Vertreter: Asklepios (Gott der Heil- Die Ordensregel von Benedikt von Nursia wurde
kunst), Empedokles von Agrigent (Entwickler der über seinen eigenen Orden hinaus bis ins 12. Jh. hi-
Elementenlehre) und Hippokrates (Begründer der nein zur Grundlage des gesamten abendländischen
hippokratischen Medizin). Mönchtums und zum Vorbild für die Ausübung von
■ Im römischen Reich wurde die griechische Heil- Medizin und Krankenpflege. Sie verpflichtete zu Ar-
kunde übernommen und weiterentwickelt, mut, Demut und Ehelosigkeit, Gehorsam gegenüber
■ wichtigster Vertreter: Galen aus Pergamon (ent- dem Abt und vor allem unter dem Leitspruch „Ora et
wickelt eine Theorie über die Blut- und Nährstoff- labora“ (Bete und arbeite) zu praktischer Tätigkeit
verteilung im menschlichen Körper). zum Nutzen des Klosters.
■ Erstmals sorgt man sich auch im Christentum um Auch von staatlicher Seite wurden die Orden ver-
chronisch und unheilbar Kranke. stärkt zur Krankenbetreuung aufgefordert.

▌ Heilkunde und Krankenpflege im Kloster um 800


2.2 Mittelalter Der erste Mönchspapst, Gregor der Große
(590 – 604), verlangte, dass die Leitung der Xenodo-
Die Zeit zwischen Antike und Renaissance wird als chien ganz in die Hände von Ordensleuten gelegt
Mittelalter (500 – 1500) bezeichnet. Von besonderer werden sollte.
Bedeutung war die Anerkennung des Christentums
und mit ihm die zunehmende Bedeutung der Cari-
tas. Diese führte zur Einrichung und zum Ausbau
eines Hospitalwesens. In diese Zeit fallen auch

32 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.2 Mittelalter

Im Aachener Konzil von 817 wurden Heilkunde 2. Domus hospitium: Hier wurden vornehme Frem-
und Krankenpflege als Aufgabe von Mönchen und de, wie z. B. der Kaiser, der Landesfürst und frem-
Nonnen festgelegt. Mönche wurden in der Folge zu de kirchliche Würdenträger aufgenommen.
fachkundigen Gelehrten auf dem Gebiet der Heil- 3. Infirmarium: Das Infirmarium war das eigentli-
kunde, was zur Vereinigung von Hospital und Klos- che Klosterspital zur Betreuung der Ordensange-
2
ter führte. hörigen.
Auf diesem Weg entstanden nicht nur Klöster, 4. Leprosorium: Ein Gebäude, welches der Aufnah-
sondern zugleich Stätten der Wissenschaften, ins- me und Absonderung von Infektionskranken
besondere der Medizin. Neben der Krankenbetreu- diente.
ung im Sinne der Caritas widmeten sich die Mönche
zugleich dem Studium der theoretischen und prak- Auf dem um 800 entworfenen Idealplan des Klosters
tischen Medizin. von St. Gallen lassen sich die verschiedenen Gebäu-
Die Unterbringung der Kranken fand im Wesent- de und ihren unterschiedlichen Funktionen zur Ver-
lichen in vier Arten von mittelalterlichen Kranken- sorgung der Pilger, Armen und Kranken besonders
herbergen innerhalb der Klosteranlage statt: gut nachvollziehen, wenngleich das Kloster nie so
1. Hospitale pauperum: Es diente der Aufnahme erbaut wurde (Abb. 2.5).
von Armen, Pilgern und Kranken. Das Infirmarium, Apotheke, Aderlassraum, Woh-
nung des Arztes, Kräutergarten und zahlreiche hy-

Aderlass-
Küche und
Laxierhaus

Herd
Bad

Aborte
Badekufe

Kammer Refektorium Ofen

Laubengang
Aufseher
Kapelle

offener Hof Schwerkranke

Vorraum
Apotheke

Haus der
Ärzte
Schwer-
kranke

Brunnen

Arzt

Wohnraum Schlafraum
Kräuter-
garten

Aborte
Schornstein

Abb. 2.5 Klosterplan von St. Gallen, um 850

BAND 1 Pflege und Entwicklung 33


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

gienische Einrichtungen sollten dem Heil und der nehmen. In der Regel waren es jedoch die herkömm-
Heilung der Menschen zur Verfügung stehen. Das lichen Heilberufe, wie Hebammen, Bader und Chirur-
Hospitale pauperum selbst war dem eigentlichen gen, die der Bevölkerung zur Seite standen.
Klosterbereich vorgelagert; hier konnten die Werke Im Spätmittelalter entwickelte sich die Behand-
2 der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit an Pil- lung der Kranken weiter (Abb. 2.6). Die Abbildung
gern, Armen oder Kranken unter der Leitung des zeigt einen spätmittelalterlichen Krankensaal, in
Klosterarztes direkt angewendet werden. Später dem links eine Amputation durchgeführt wird, wäh-
wurde das Hospitale pauperum als Pfortenspital rend auf der rechten Seite der Darstellung zu erken-
oder Armenherberge bezeichnet. nen ist, dass bei einem anderen Kranken ein chirur-
Das Infirmarium, das eigentliche Klosterspital, gischer Eingriff am Kopf durchgeführt wird.
welches den kranken, gebrechlichen und alten Mön- In Europa entstanden aus den Klosterschulen
chen vorbehalten war, lag um einen zentralen In- zahlreiche Universitäten, so z. B. in Bologna, Heidel-
nenhof. berg, Montpellier, Oxford, Padua und Paris. In eini-
Im Kloster von Cluny soll es ein Infirmarium mit gen Klosterschulen wurde der Medizin ein besonde-
einer Kapazität von 80 – 100 Betten gegeben haben. rer Stellenwert eingeräumt, so z. B. in Montpellier.
Die Betten waren in einem dreischiffigen Bauwerk
untergebracht. Es gab Abwässerkanäle und Rauch- ▌ Hildegard von Bingen
abzug, Beleuchtungs- und Belüftungsanlagen und Innerhalb der Klostermedizin erlangte die Äbtissin
offene Feuerplätze, so dass es wohl das erste heiz- des Benediktiner-Klosters auf dem Rupertsberg bei
bare Großkrankenhaus im Abendland war. Bingen, Hildegard von Bingen (1098 – 1179), eine be-
Später entwickelte sich in den Städten und ent- sondere Bedeutung.
lang der Pilgerstraßen eine zweite Form des Hospi- Hildegard hinterließ ein umfangreiches schrift-
tals, die Langhausform. Das Besondere hieran war, stellerisches Werk, überwiegend von visionärem
dass sich Pflegesaal und Altar unter einem Dach be- Charakter. Drei große Werke sind aus Hildegards
fanden. Es waren lange, im Stil eines Kirchenschiffes Visionen entstanden: die Glaubenskunde, die Le-
errichtete Säle, an deren Stirnseite sich ein Altar benskunde und die Weltenkunde. Die Bände „Physi-
oder eine Kapelle befand. Das bekannteste Hospital ca“ (die Natur) und „Causae et curae“ (Ursachen und
dieser Art war das Hôtel Dieu in Paris, welches 829 Behandlung von Krankheiten) stellen demgegen-
erstmals erwähnt wurde. Noch heute befinden sich über eine Sammlung volkskundlicher, naturkund-
Anlagen dieser Bauart über ganz Europa verteilt, licher und medizinisch-pflegerischer Schriften dar.
z. B. im französischen Tonnerre oder in Deutschland Neben ihrer Tätigkeit als Äbtissin des Klosters arbei-
das Heilig-Geist-Hospital in Lübeck. tete Hildegard von Bingen als Ärztin. Das führte
Behandlung und Pflege im frühmittelalterlichen, dazu, dass neben Pilgern auch Kranke kamen, die
christlichen Hospital waren eher bescheiden und ihren Ruf als Wunderheilerin verbreiteten.
vor allem auf die geistliche Betreuung ausgerichtet, Spezielle Pflegemaßnahmen stellte Hildegard
da es sich mehr um Sozialasyle als um Krankenhäu- keine auf. Dies war auch gar nicht nötig, beruhte
ser handelte. doch ihr Handeln auf dem Grundsatz: „Pflege das
Krankheit war neben Hinfälligkeit und Hilfslosig- Leben, wo du es triffst.“ Besondere Bedeutung in
keit nur ein Motiv zur Aufnahme. Ärzte wurden al- der Betreuung der Kranken kommt der „discretio“
lenfalls als Berater hinzugezogen und die pflegeri- zu. Damit ist die hilfreiche Umsicht, die Vorsicht
schen Verrichtungen orientierten sich vorrangig an und die Vorsorge gemeint.
der diätetischen Leitlinie des benediktinischen Le- Hildegard von Bingen war eine der letzten großen
bensstiles. Im Mittelpunkt stand die Anwendung Vertreterinnen der Klostermedizin des Mittelalters.
der Heilkräuter, die durch Therapiemethoden wie Schon zu ihren Lebzeiten veränderten sich die Wis-
z. B. Aderlass, Schröpfen und Umgang mit dem Glüh- senschaften und die Medizin, da sie sich verstärkt in
eisen ergänzt wurden. Richtung der Naturwissenschaften orientierten.
Die Klostermedizin selbst stand vor allem den An-
gehörigen der Ordensgemeinschaft zur Verfügung. In
geringerem Umfang konnte die Bevölkerung der nä-
heren Umgebung die Klostermedizin in Anspruch

34 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.2 Mittelalter

Abb. 2.6 Darstellung von verschiedenen Operationsszenen in einem spätmittelalterlichen Krankensaal

▌ Paracelsus, der Begründer einer neuen In der Chemie übte er den größten Einfluss auf die
Heilmittellehre Medizin seiner Zeit aus:
Gegen Ende des Mittelalters wurde Philippus Aureo- Auf der Suche nach neuen Arzneimitteln experi-
lus Theophrastus Bombastus von Hohenheim mentierte er und schuf den inzwischen klassisch
(1493 – 1541), genannt Paracelsus, geboren. gewordenen Satz: „Allein die Dosis macht, dass ein
Als Arzt und Schriftsteller wanderte er durch Eu- Ding kein Gift sei“.
ropa und wurde zu einem der bedeutendsten Ärzte Für Paracelsus war die Pflege dann gefordert,
der Medizingeschiche. Um als Arzt fähig zu sein, wenn der Arzt seine Mittel verausgabt hat. Die Pfle-
musste man nach seiner Auffassung die Natur stu- ge ist es dann, die „sein joch und bürd auf ihren
dieren. Darüber hinaus machte er sich das Wissen rucken nehmen soll“, denn: „da ist nicht mehr, als
der Bader, Bauern und Handwerker zunutze. Die Er- der pure, lautere Mensch“ (Seidler 1993, S. 117). Pa-
kenntnisse von Paracelsus widerlegten die Elemen- racelsus vertritt hier noch den christlichen Pflege-
ten- und Säftelehre von Hippokrates und Galen und gedanken und markiert zugleich den Übergang in
stellten einen Versuch dar, die Krankheiten nach eine neue Epoche.
ihren Ursachen einzuteilen.
Seine Heilkunde beruhte im Wesentlichen auf 2.2.2 Pflege durch die Hospitaliterorden
den folgenden Grundlagen: Das Edikt von Clermont (1130, Tab. 2.2) führte zu
■ Philosophie, einer Einschränkung der Mönchsmedizin. Die Mön-
■ Astronomie, che wurden u. a. auf den Vorrang der geistlichen
■ Chemie und Pflichten gegenüber der Medizin hingewiesen. Die
■ Tugend. Aufgabe der Pflegetätigkeit, die sogenannte Ordens-
pflege, ging auf drei große Gruppen der Ordens-

BAND 1 Pflege und Entwicklung 35


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

Tab. 2.2 Edikt von Clermont, 1130: Einschränkung der Der bekannteste Ritterorden ist der Johanniter-
Pflegeaufgaben der Mönche führt zu Übernahme der Pflege orden. Er entstand in Jerusalem aus der Gemein-
durch die Hospitaliterorden
schaft der „Brüder des Hospitals vom heiligen Jo-
Geistliche Ritterorden Weltliche Orden Beginen hannes“. Im 13. Jahrhundert verfügte der Johanni-
2 Orden terorden bereits über 4000 Ordensniederlassungen
und übte in zahlreichen Hospitälern, z. B. in Jerusa-
Christliche Ritter der Laienvereini- Frauenorden
Caritas Kreuzzüge gung Bettel- ohne lem pflegerischen Dienst aus. Nach 1291 nannten
orden Gelübde sich die Johanniter Malteser. Weitere Ritterorden
waren die Deutschritter und die Lazariter.
– Augustiner – Johanniter- – Franziskaner
– Zisterzienser orden (später – Dominikaner
– Cluniazenser Malteser) – Graue ▌ Weltliche Orden
– Deutscher Schwestern Hierbei handelte es sich ursprünglich um Laienver-
Orden (Dritter
einigungen, die sich zu caritativem Dienst zusam-
– Lazariter Orden)
menschlossen. Sie stellten sich unter den Schutz
der Kirche und legten die Gelübde Armut, Keusch-
heit und Gehorsam ab, waren aber keine ursprüng-
bewegungen über: die geistlichen Orden, die Ritter- lich kirchliche Einrichtung. Für die Krankenpflege
orden und die weltlichen Orden. Aufgrund ihrer Tä- von besonderer Bedeutung waren die Bettelorden,
tigkeit wurden sie auch als „Hospitaliter“ bezeich- zu denen die Franziskaner und Dominikaner zählen,
net. und die sich im 13. Jahrhundert vor allem in den
großen Städten niederließen. Die Ordensangehöri-
▌ Geistliche Orden gen lebten ohne Besitz und waren auf die Almosen
Klösterliche Gemeinschaften, die streng nach den der Bevölkerung angewiesen.
benediktinischen Gelübden Armut, Keuschheit und Der Franziskanerorden geht auf seinen Gründer,
Gehorsam lebten, wie z. B. die Orden der Augustiner, den 1228 heilig gesprochenen Franz von Assisi
der Zisterzienser und der Cluniazenser, widmeten (1182 – 1226), zurück. Zunächst waren sie lediglich
sich auf der Basis der christlichen Caritas, wenn- eine Vereinigung von Weltleuten, die im Geiste von
gleich nicht in erster Linie, der Krankenfürsorge. Franz lebten. Franz, der anfänglich als Bußprediger
Die weiblichen Zweige der Orden, die sich der Kran- in Erscheinung trat, legte 1210 seinen Gleichgesinn-
ken annahmen, taten dies in einem größeren Um- ten eine Ordensregel vor, die vor allem die Befol-
fang. So ist bekannt, dass die Patienten im Hôtel- gung des Armutsgelübdes, den unbedingten Gehor-
Dieu in Paris seit dem 13. Jahrhundert der Pflege sam gegen die Oberen und das demütige Dienen für
der Augustinerinnen anvertraut wurden. Kranke und Elende vorschrieb. 1223 erhielt der
Orden der „Minderen Brüder“, wie Franz von Assisi
▌ Ritterorden ihn nannte, die förmliche päpstliche Bestätigung.
Zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert fanden Für die Krankenpflege war vor allem der von Franz
zahlreiche Kreuzzüge statt, die zum einen Pilger- von Assisi gegründete Dritte Orden, dessen Mitglie-
fahrten zu den heiligen Stätten in Palästina waren der als Tertiären bezeichnet wurden, von Bedeu-
und zum anderen der Verteidigung des christlichen tung. Deren Aufgabe bestand in erster Linie in der
Glaubens gegen die islamischen Türken dienten, die Pflege der Kranken.
1071 Jerusalem erobert hatten. Von kirchlicher Seite Zunächst waren in den Gemeinschaften beide
betrachtete man diese Kriege als heilig, gerecht und Geschlechter vertreten, später kam es zu getrennten
gottgefällig. Dem gegenüber standen die Taten der Kongregationen. Im späten Mittelalter wurden die
Kreuzritter. Auf dem Weg zum Orient wurde ge- Schwestern des dritten Ordens auch als graue
plündert und geraubt. Schwestern bezeichnet. Sie legten weniger Gelübde
In Zusammenhang mit den Kreuzzügen entstan- ab und lebten auch nicht in Klöstern, sondern in
den die sogenannten Ritterorden, die die christli- ihrer bisherigen Umgebung. Einige bedeutende Per-
chen Pilger auf der Reise ins heilige Land beschütz- sönlichkeiten stammen aus den Reihen der Tertiä-
ten und sich zudem um kranke und verletzte Pilger ren, z. B. Elisabeth von Thüringen (1207 – 1231), die
kümmerten. 1235 heilig gesprochen wurde. Sie übte im Umkreis

36 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.2 Mittelalter

der Wartburg auf aufopfernde Weise Armen- und 2.2.3 Hexenverfolgung


Krankenpflege aus. Nachdem sie dem Dritten Ein düsteres Kapitel im späten Mittelalter stellt die
Orden beigetreten war, widmete sie sich in einem Folterung und Verbrennung der als Hexen verfolgten
von ihr gegründeten Hospital ausschließlich der Frauen dar. Als Hexen galten Frauen, denen man
Krankenpflege und wurde nach ihrem Tode zur vorwarf, im Dienste widergöttlicher Mächte (Dämo-
2
Schutzheiligen der Grauen Schwestern ernannt. nen oder Teufel) zu stehen. Aus diesem Verbund
Eine weitere wichtige Persönlichkeit aus den Rei- heraus sollten sie übermenschliche Fähigkeiten be-
hen der Tertiären war Katharina von Siena sitzen. Trotz aller neuen Erkenntnisse über Natur
(1347 – 1380). Sie pflegte Pestkranke und gewann und Erde glaubten die Menschen noch an Hexen.
als theologische Schriftstellerin ein hohes Ansehen. Was anfänglich als „Hexenglaube“ begann und
Der Dominikanerorden wurde von Dominikus vom Christentum zunächst lediglich als heidnisch
aus Calaroga (1170 – 1221) in Spanien gegründet. verdammt wurde, entartete nach der Reformation
Wie schon bei den Franziskanern waren es auch in der frühen Neuzeit zum „Hexenwahn“. Zehntau-
hier die weiblichen Ordensangehörigen, die sich sende fielen der Folter und dem Scheiterhaufen zum
der Pflege widmeten. Opfer (Abb. 2.7).
Über mehr als vier Jahrhunderte wurden die
▌ Beginen Hexen in Deutschland, England, Italien und anderen
Gegen Ende des 12. Jahrhunderts kam es im belgi- Ländern Europas verfolgt.
schen Brabant, wahrscheinlich durch den belgischen Etwa 85 % der Hingerichteten, deren Zahlen bis in
Priester Lambert la Bèghe, zur Gründung einer die Millionen geschätzt werden, waren Frauen. „Die
neuen Pflegegemeinschaft, die sich deutlich von Hexenverfolgungen waren gut organisierte Feldzüge,
den bestehenden unterschied. Zahlreiche Kriege initiiert, finanziert und durchgeführt von Kirche und
und die Kreuzzüge hatten für einen Frauenüber- Staat“ (Ehrenreich 1988, S. 13).
schuss gesorgt. Die zurückgebliebenen Witwen und
Jungfrauen schlossen sich zu Gemeinschaften zu-
sammen und lebten in kleinen Siedlungen, den Be-
ginenhöfen. Ohne an irgendein Ordensgelübde ge-
bunden zu sein, konnten sie jederzeit aus der Ge-
meinschaft austreten. Diese Unabhängigkeit führte
in der Folge dazu, dass sich die Beginen – sie wur-
den auch als Beguinen oder Begharden bezeichnet –
in Belgien, den Niederlanden und Deutschland eines
großen Zustroms erfreuten.
Neben der Armen- und Krankenfürsorge widme-
ten sie sich auch sozialen Aufgaben. Ihre Unabhän-
gigkeit von der Geistlichkeit und ihre scharfe Kritik
an deren Vorgehen führte dazu, dass sie auf dem
Wiener Konzil von 1311 öffentlich der Ketzerei be-
schuldigt wurden: „Sie seien nichtsnützige Schma-
rotzer und taugten zu nichts anderem, als bei Pro-
zessionen und Beerdigungen zu beten, wofür sie
dann bezahlt wurden“ (Möller 1994, S. 22). Die Be-
mühungen der Kirche, die Gemeinschaft der Begi-
nen aufzuheben, sowie Ungehorsam und Müßiggang
ihrer Mitglieder führten im 15. Jahrhundert zu
ihrem Untergang.

Abb. 2.7 Folterung durch Beinschraube und Aufzeichnung des


Geständnisses, Paris, 1541

BAND 1 Pflege und Entwicklung 37


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

Grundlage für die Hexenjäger war der Malleus phylaktische und therapeutische Maßnahmen, vor
Maleficarum oder Hexenhammer, der 1484 von allem Richtlinien für Diätetik und Hygiene, vor-
Heinrich Institoris und Jacob Sprenger, beide päpst- geschlagen wurden.
liche Inquisitoren, in Köln veröffentlicht wurde. Der
2 Hexenhammer beschrieb Methoden und Mittel zur Zusammenfassung:
Überführung und Bekämpfung von Hexen. Klostermedizin
Im Rahmen der Hexenverfolgung und -verbren- ■ Klöster als Hospitäler und Bildungsstätten,
nung wurden Tausende von heilkundigen Frauen ■ wichtigste Vertreter: Hildegard von Bingen, Bene-
umgebracht und damit auch gleichzeitig ihr um- dict von Nursia.
fangreiches Wissen über Diagnose, Therapie und Hospitaliterorden: Aufgabe der Pflegetätigkeit wird
die Pflege von kranken Menschen vernichtet. auf vier große Orden übertragen:
■ geistliche Orden,
2.2.4 Kinderheilkunde und Altersfürsorge ■ Ritterorden,
Im Mittelalter befasste sich die Kinderheilkunde ins- ■ weltliche Orden und
besondere mit der Eindämmung der hohen Kinder- ■ Beginen.
sterblichkeit. Schätzungen gehen davon aus, dass Hexenverfolgung: Tausende von heilkundlichen Frau-
über die Hälfte aller lebend geborener Kinder en wurden ermordet.
schon im Kleinkindalter starben. Für die Aufnahme
nicht ehelich geborener Kinder entstanden im Mit-
telalter die sogenannten Findelhäuser, in denen ka- 2.3 Neuzeit
tastrophale hygienische Zustände herrschten.
Schon bald nach der Erfindung des Buchdrucks Die Neuzeit charakterisierende Ereignisse waren die
erschienen in kurzer Reihenfolge drei Abhandlun- Entdeckung von Amerika, Renaissance, Humanis-
gen über Kinderkrankheiten. Es waren die Lehr- mus, Reformation und der Frühkapitalismus durch
bücher von P. Bagellari (1472), von C. Roeland (1485) die Fugger. Erschüttert wurde das alte Europa in der
und dem ersten in deutscher Sprache gedruckten frühen Neuzeit durch Kriege, Hunger und Seuchen.
Buch von B. Metlinger (1473). Das älteste Hebam- Der Augustinermönch Martin Luther
menlehrbuch, dem Ausführungen über Pflege, Er- (1483 – 1546) löste die Glaubensspaltung mit pro-
nährung und Krankheiten bei Neugeborenen ange- testantischer Reformation und katholischer Gegen-
fügt waren, erschien 1513 und stammte von Eucha- reformation aus. Im Jahr 1525 kam es in Deutsch-
rius Rhodion (gestorben 1526), einem Stadtarzt in land zum Bauernkrieg, dem zehntausende Bauern
Worms. zum Opfer fielen und der die Bauern weiterhin
Eine organisierte Altersfürsorge gab es im Mittel- zum harten, elenden Leben in Unfreiheit verurteilte.
alter nicht. Meist herrschte die Auffassung vor, dass Der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648), der zu-
im Alter die Hinfälligkeiten zunahmen, Alter und nächst als Machtkampf zwischen der evangelischen
Krankheit galten oft als identisch. Alter wurde als und der katholischen Fürstenpartei in Deutschland
eine Last angesehen, die Hilfe erforderlich machte begann, endete als europäischer Machtkampf, kos-
und derer sich die Gemeinden annehmen mussten. tete allein in Deutschland mindestens 6 Millionen
Auf der anderen Seite wurde der alternde Mensch Menschen das Leben und hinterließ ein zerstörtes
als weise geschätzt und fand allgemeine Anerken- und entvölkertes Land.
nung sowie öffentliche Zuwendung. Im 16. und 17. Jh. kam es zu zahlreichen neuen
Für Männer boten die Klöster einen Ort der Ge- Erkenntnissen in vielen Bereichen der Medizin, so
borgenheit, an welchem älter werdende Mönche, z. B. in der Anatomie und Physiologie. Die bedeu-
abdankende Herrscher, aber auch Heimatlose und tendste Entdeckung machte der Engländer William
unheilbar Kranke unterschlüpfen konnten. Für alte Harvey (1578 – 1657). Er wies den Blutkreislauf
Frauen waren es fromme Stiftungen oder die Wohn- nach, und mit der Entdeckung der Kapillaren durch
gemeinschaften der Beginen, die Hilfe anboten. Im den italienischen Anatom Marcello Malpighi
späten Mittelalter wurden Gesundheitsregeln für al- (1629 – 1694) konnte die bis dahin noch immer gül-
ternde Menschen formuliert, in denen für drei ver- tige Theorie der Blut- und Nährstoffverteilung von
schiedene Perioden des Alters entsprechende pro-

38 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.3 Neuzeit

Tab. 2.3 Medizinische Errungenschaften in der Neuzeit

Wann Wer Was

1543 Andreas Vesal (1514 – 1564) veröffentlicht ein 663 Seiten umfassendes Lehrbuch der
griechischer Arzt, menschlichen Anatomie und markiert damit den Beginn der 2
Chirurg, Anatom wissenschaftlichen Anatomie

1689 Walter Harris (1647 – 1712) veröffentlicht die erste größere Abhandlung über
englischer Arzt „Akute Krankheiten der Kinder“ in London

1761 Leopold Auenbrugger (1722 – 1809) erfindet die medizinische Untersuchungstechnik


österreichischer Arzt Perkussion

1788 Jenner Edward (1749 – 1823) entwickelt die Pockenimpfung


englischer Arzt, Chirurg

Galen abgelöst werden. Weitere medizinische Er- der und der von Vinzenz von Paul gegründete
rungenschaften werden in Tab. 2.3 dargestellt. Orden der barmherzigen Schwestern bzw. Orden
der Vinzentinerinnen.
2.3.1 Lohnwartesystem und katholische
Pflegeorden ▌ Katholischer Pflegeorden von Juan de Dios
Die Reformation hatte ihre Spuren auch in den Klös- Der Portugiese Juan de Ciudad (1495 – 1550), später
tern hinterlassen. In den Ländern, die sich zur Re- als Juan de Dios oder Johannes von Gott heilig ge-
formation bekannten, wurden die Klöster zweckent- sprochen, gründete 1540 im spanischen Granada ein
fremdet. Die Ordensleute verließen sie und die Klös- Hospital sowie eine Vereinigung von Weltleuten, die
ter wurden zu Irrenhäusern, Gefängnissen oder Ar- sich der caritativen und pflegerischen Betreuung der
menhäusern. Kranken widmete. Anfänglich arbeitete seine kleine
In den nördlich gelegenen protestantischen Län- Vereinigung ohne Satzung, doch bereits 1586 nann-
dern kam es daher zu einem Mangel an Pflegeper- te sie sich mit päpstlicher Genehmigung Orden der
sonen. Eine neue Organisationsform wurde notwen- Barmherzigen Brüder und verbreitete sich über ganz
dig, um die Personallücken zu füllen. Europa. Der Orden wurde zum Symbol der christli-
chen Krankenpflege. Neben den drei Gelübden Ar-
▌ Lohnwartesystem mut, Gehorsam und Ehelosigkeit wurde als viertes
In vielen Städten entstand das Lohnwartesystem. Gelübde das der Hospitalität abgelegt, womit sich
Gegen Lohn wurde hier von Wärtern und Wärterin- die Brüder zum unentgeltlichen Krankendienst
nen der Dienst an Kranken ausgeführt. Unter Lohn sowie zum ausschließlichen Wirken als Kranken-
wurde damals ein Naturallohn verstanden, d. h. die pfleger verpflichteten. Im bayrischen Neuburg an
Wärter erhielten Unterkunft, Kost und ein Bett im der Donau wurde von 1623 bis 1626 mit dem St.-
Krankensaal. Die Caritas, die christliche Nächstenlie- Wolfgang-Hospital das erste Hospital der Barmher-
be, die ehemals die Motivation für die Ausübung der zigen Brüder auf deutschem Boden gebaut. Im Un-
Pflege gewesen war, drohte unterzugehen. Hinzu terschied zu den städtischen Hospitälern, die mehr
kam, dass das Lohnwartpersonal häufig aus den un- Sozialasylen glichen, nahmen die Barmherzigen Brü-
teren Bevölkerungsschichten kam. Die meisten der in ihren Häusern überwiegend Kranke auf, aller-
konnten weder lesen noch schreiben, und häufig dings ausschließlich Männer. Bereits 1658 wurden
fielen sie zudem durch Unzuverlässigkeit, Vernach- in Neuburg Krankenprotokolle eingeführt, die so-
lässigung der Kranken und Unehrlichkeit auf. wohl Inhalte der Krankengeschichten als auch der
Erst die Gründung neuer katholischer Pflegeor- Pflege dokumentierten.
den führte zu einer Verbesserung in der Versorgung Juan de Dios gilt in der katholischen Kirche noch
der Kranken. Maßgeblichen Anteil daran hatten der immer als Schutzpatron der Krankenhäuser, der
von Juan de Dios (Johannes von Gott) im 16. Jahr- Kranken und des Pflegepersonals.
hundert gegründete Orden der barmherzigen Brü-

BAND 1 Pflege und Entwicklung 39


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

Abb. 2.8 Vinzenz von Abb. 2.9 Barmherzige


Paul Schwester um 1635

▌ Katholischer Pflegeorden von Vinzenz von Paul seiner engsten Anhängerinnen, Madame le Gras,
Im Bereich der weiblichen Krankenpflege kam es zu übernahm die Betreuung der Mädchen. Am 29.
grundsätzlich Neuem durch den später heilig ge- Nov. 1633 bezog sie mit einigen jungen Mädchen
sprochenen Franzosen Vinzenz von Paul in Paris ein kleines Haus, welches zur Wiege eines
(1581 – 1660). neuen Ordens werden sollte: des Ordens der Barm-
Vinzenz von Paul (Abb. 2.8) studierte zunächst herzigen Schwestern, auch Vinzentinerinnen ge-
Theologie in Toulouse. Während einer Pfarrvertre- nannt.
tungszeit in Châtillon-les-Dombes wurde ihm die Vinzenz ging es vor allem darum, dass seine
vernachlässigte Armen- und Krankenfürsorge be- Schwestern zur praktischen Arbeit am Krankenbett
wusst, woraufhin er die Confrérie de la Charité, ausgebildet wurden. Gelübde, Klausur und mehrere
eine weibliche Caritasbruderschaft, gründete. Nach Andachten täglich schienen hierbei eher im Wege zu
drei Monaten der Prüfung erhielt die Gruppe feste stehen. In der weltlichen Tracht der einfachen Bau-
Regeln. Nun konnten sich Frauen, gleich ob verhei- ersfrau sollten die Schwestern auftreten und ihre
ratet, verwitwet oder unverheiratet, der Gemein- Arbeit verrichten (Abb. 2.9).
schaft anschließen. Dennoch wurden bereits am 26. März 1634 feste
Als Vinzenz von Paul 1621 nach Paris zurück- Regeln aufgestellt, die jedoch nicht mit denen der
kehrte, gründete er auf Anregung von Mme. Gous- traditionellen, strengen kirchlichen Gemeinschaften
salt die Gesellschaft der „Dames de la Charité“, zu zu vergleichen waren. Ebenso stellten die Gelübde,
der vornehmlich höher gestellte Damen gehörten. die auf ein Jahr befristet waren, keine eigentliche
Mme. Goussault und die anderen Damen halfen im religiöse Weihe einer Ordensfrau dar.
Hôtel Dieu den Augustinerinnen und wurden von Einen besonderen Stellenwert erhielt die fachli-
Vinzenz beraten. Ihre Tätigkeit dehnte sich aus auf che Ausbildung der Schwestern. Sie mussten Lesen,
die Gefangenenfürsorge, die Betreuung sittlich ge- Schreiben und Rechnen lernen, wurden mit den
fährdeter Mädchen sowie auf die Beaufsichtigung Grundregeln praktischer pflegerischer Tätigkeit ver-
eines Hospizes für alte Ehepaare. traut gemacht und durften zur Ader lassen und
Gesellschaftliche Verpflichtungen, Angst vor An- schröpfen. Von Vinzenz von Paul hörten sie Vorträge
steckung oder der Einspruch der Ehemänner führ- über die ethischen Grundsätze der Krankenpflege.
ten dazu, dass die Frauen zunehmend Dienstboten

!
zu den Fürsorgediensten schickten. Da diese aber oft Merke: Für die Entwicklung der Pflege be-
unzuverlässig waren, stellte Vinzenz von Paul junge, deutsam ist, dass hier zum ersten Mal von
dienstwillige, gläubige und kräftige Mädchen vom einer fachlichen Ausbildung der Schwestern
Land ein, die zunächst bei den Damen wohnten, die Rede ist.
wo sie in die Arbeit eingeführten wurden.
Die Zahl der Mädchen nahm so zu, dass eine
systematische Ausbildung notwendig wurde. Eine

40 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.3 Neuzeit

▌ Mutterhaussystem wurden später vom Roten Kreuz übernommen und


Der gute Ruf der Schwesternschaft verbreitete sich finden dort noch bis heute ihre Anwendung.
über die Grenzen von Paris hinaus. Es kam zu zahl-
reichen Neugründungen, die zugleich eine wesentli- 2.3.2 Krise der Krankenpflege im 18. Jh.
che Neuerung, das sogenannte Mutterhaussystem, Das 18. Jahrhundert, auch als das Zeitalter der Auf-
2
mit sich brachten. Vom Mutterhaus aus konnten klärung bezeichnet, schloss schließlich die Neuzeit
die Schwestern dorthin entsandt werden, wo sie ab. Charakteristisch für die Zeit der Aufklärung war
benötigt wurden. So forderte im Jahr 1639 das Hos- der Glaube an die Vernunftstruktur der Welt, der
pital von Angers zur Übernahme der kompletten Glaube an die Wissenschaft und den Fortschritt der
Pflege des Hauses eine Gruppe von barmherzigen menschlichen Kultur sowie die Überzeugung von
Schwestern an. der natürlichen Freiheit, Gleichheit und Güte aller
Madame le Gras nahm dies zum Anlass, für ihre Menschen.
Schwestern einen Vertrag abzuschließen. Der Ver- Anfang bis Mitte des 18. Jahrhunderts waren die
trag, der zum Vorbild für alle weiteren Mutterhaus- Hospitäler noch immer von Hilfsbedürftigen aller
verträge oder Gestellungsverträge wurde, legte das Art hoffnungslos überfüllt. Die hygienischen Ver-
Verhältnis zwischen den Schwestern, Hospital und hältnisse waren entsprechend katastrophal. Eine ge-
Mutterhaus fest. Die Verträge sahen vor, dass die ordnete Pflege konnte vor diesem Hintergrund nicht
Schwestern in ihrer Arbeit der Leitung des Spitals stattfinden. Das Niveau des pflegenden Standes sank
unterstellt waren und dass sie die ärztlichen Anord- kontinuierlich, zumal immer häufiger Lohnwärter
nungen gehorsam auszuführen hatten. Für Unter- allenfalls Aufseherdienste erfüllten und selbst die
kunft und Verpflegung war das Spital zuständig. Da- Pflegeorden nur noch lernunfähigen Pflegenach-
rüber hinaus hatte das Hospital die Würde und Au- wuchs anbieten konnten.
torität der Schwestern zu achten, dies bedeutete In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spitz-
u. a., dass die Schwestern nicht öffentlich getadelt ten sich die politischen und sozialen Verhältnisse zu
werden durften. In allen administrativen, disziplina- und führten auch innerhalb der Heilkunde zu Ver-
ren und religiösen Angelegenheiten unterstanden änderungen:
die Schwestern weiterhin dem Mutterhaus in Paris.
Das Mutterhaus hatte zudem das Recht, die Schwes- ▌ Wandel des Hospitals zum Krankenhaus
tern jederzeit abzuberufen und auszutauschen. Waren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die
In der Folge breitete sich die Ordensgemeinschaft Hospitäler noch immer von Hilfsbedürftigen aller
auch aufgrund ihres guten Rufes immer weiter aus. Art belegt, sollten Ende des 18. Jahrhunderts nur
So forderte u. a. die Königin von Polen barmherzige noch Kranke aufgenommen werden, die geheilt
Schwestern nach Warschau an, und sogar in Kanada und deren Krankheiten erforscht wurden. Die Medi-
wurden Schwestern ansässig. Als Madame Le Gras ziner, bisher nur Ratgeber, zogen als forschende, leh-
starb, waren bereits 350 Schwestern an 70 Arbeits- rende und praktizierende Gruppe in das Kranken-
plätzen in Frankreich und Polen eingesetzt. haus ein. Die Zahl der Krankenhausplätze blieb den-
Der Orden wurde 1655 vom Papst als Kranken- noch weit hinter dem bestehenden Bedarf zurück,
pflegeorden anerkannt. Vinzenz von Paul betreute so dass eine permanente Überbelegung die Pflege-
den Orden weiterhin und leitete die Kriegsfürsorge bedingungen enorm erschwerte.
in Lothringen und anderen Kriegsgebieten. Des Wei-
teren war er an der Organisation transportabler ▌ Mangel an Pflegepersonal
Volksküchen für Arme sowie an der Gründung von Die wenigen vorhandenen Pflegepersonen waren
Hospitälern beteiligt. nicht für die neue Situation ausgebildet. Es kam
Der durch die Reformation bedingte Mangel an durchaus vor, dass Ärzte keine Kranken aufnahmen,
pflegenden Ordensleuten wurde durch das Lohn- wenn zu deren Betreuung keine ausgebildete Wär-
wartesystem einerseits und die kath. Pflegeorden terin zur Verfügung stand. Jedoch bildeten selbst die
von Juan de Dios und Vinzenz von Paul andererseits Pflegegemeinschaften qualitativ und quantitativ nur
teilweise aufgefangen. Die Gestellungsverträge, als ungenügend aus.
eine Sonderform der Arbeitnehmerüberlassung,

BAND 1 Pflege und Entwicklung 41


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

!
Abb. 2.10 Franz Anton Mai Merke: Der Heidelberger Professor Franz
Anton Mai erkannte die Notwendigkeit
einer Ausbildung für die Pflegenden und er-
öffnete 1782 die erste deutsche Krankenpflegeschule
2 in Heidelberg.

Sowohl die Krankenwärterschule als auch Mais Pla-


nung für den Unterricht an der Universität wurden
abgelehnt. So wurde die Krankenwärterschule von
seinen Kollegen als „Pfuscherschule“ verurteilt und
schließlich 1806, nachdem Mai Heidelberg verlassen
hatte, wieder geschlossen.
Dennoch nahmen sich immer mehr Ärzte der

!
Merke: In der 2. Hälfte des 18. Jh. ent- Schulung der Krankenwärter an, so z. B. auch der
wickelten sich die Hospitäler zu Kranken- Berliner Charité-Arzt Johann Friedrich Dieffenbach
häusern. Den höheren Ansprüchen der Me- (1792 – 1847), der 1832 die „Anleitung zur Kranken-
dizin konnten die unausgebildeten Wärter und Wär- wartung“ schrieb und vorübergehend die Leitung
terinnen nicht entsprechen. der Krankenwärterschule inne hatte.

▌ Franz Anton Mai und die erste 2.3.3 Hospitalwesen in der Neuzeit
Krankenwärterschule Die Hospitäler des 16. und 17. Jahrhunderts hatten
Dem Heidelberger Professor der Geburtshilfe Franz sich im Vergleich zu vorangegangenen Jahrhunder-
Anton Mai (1742 – 1814) gelang es zumindest in An- ten kaum verändert. Sie wurden außerhalb der Stadt
sätzen, die Pflege in den Hospitälern zu verbessern errichtet und verfügten noch immer über große
(Abb. 2.10). Krankensäle mit Altar oder Kapelle. In der Kreuz-
Er stellte fest, dass eine mangelhafte Pflege nicht mitte war der Altar aufgestellt. Die Hospitäler
nur die Genesung behinderte, sondern sogar zum waren in den meisten Fällen überfüllt und es
Tode führen konnte. Andererseits konnte eine gute herrschten völlig unzureichende hygienische Ver-
Pflege einen Beitrag dazu leisten, die verlorene Ge- hältnisse. Es war durchaus üblich, dass Patienten
sundheit wiederherzustellen. Mai beschloss daher, postoperativ neben Kranken mit Infektionen lagen.
eine Krankenwärterschule zu errichten. Nach seinen In den Krankensälen stank es nach Eiter, Fieber-
Plänen wurde am 15. April 1782 eine „öffentliche schweiß und Exkrementen. Für zwei Hilfsbedürftige
Schule zur Erziehung wohl unterrichteter Kranken- stand jeweils ein Bett zur Verfügung.
wärter“ und damit die erste deutsche Krankenpfle- Die Hospitäler der großen Städte, wie z. B. das
geschule ins Leben gerufen. Die Ausbildung an der Hôtel-Dieu in Paris, zählte mitsamt seiner Filiale
Schule dauerte drei Monate und endete mit einer mehrere tausend Patienten. Katastrophale hygie-
Prüfung. Im Sommersemester 1797 hielt Franz Mai nische Bedingungen und eine von schlecht ausgebil-
eine Vorlesung über „Krankenwärterlehre“ an der deten Pflegenden ausgeführte Pflege führten zu
Universität Heidelberg. Ein Jahr später forderte einer Mortalität von 20 – 25 Prozent in den Jahren
Mai, die Krankenwärterlehre an den Universitäten 1721 – 1773. Als Ursache hierfür wurde das soge-
einzuführen. Im Jahr 1801 eröffnete er gemeinsam nannte Hospitalfieber genannt, hervorgerufen
mit der Universität Heidelberg eine „Schule für Ge- durch zu viele Menschen auf geringem Raum sowie
sundheits- und Krankenwärterlehre weiblicher Zög- die mangelnde Lüftung und Beseitigung des Abfalls.
linge“. Die Idee war es, heranwachsenden Mädchen
Kenntnisse in der Gesundheitslehre zu vermitteln. ▌ Neugestaltung der Hospitäler
Nach erfolgreichem Schulbesuch sollten sie in die Nach dem Brand des Hôtel-Dieu wurden neue
berufsmäßige Krankenpflege wechseln. Maßstäbe für die Krankenhausarchitektur gesetzt.
Es wurden dezentral gelegene Pavillionkrankenhäu-
ser geplant, d. h. mehrere kleinere Krankenhäuser
sollten nebeneinander errichtet werden, um verbes-
serte hygienische Bedingungen zu garantieren.

42 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.3 Neuzeit

Die Arbeitsbedingungen für die Pflegenden bereitet hatte. Rousseau erkannte die Kinder als er-
waren ebenfalls alles andere als gut. Auch sie litten ziehungsfähige Glieder der Gemeinschaft an. Der
erheblich unter den hygienischen Bedingungen, den Staat sah sich veranlasst mit Unterstützung der Me-
vielen Todesfällen, und konnten den vielen Tausend dizin und eines anwachsenden sozialen Netzes sich
Patienten weder quantitativ noch qualitativ gerecht vor allem der armen, ausgesetzten und kranken Kin-
2
werden. Eine Neugestaltung des Krankenhauswe- der anzunehmen und sich um deren Überleben zu
sens wirkte sich auch positiv auf das Arbeitsumfeld bemühen. Vor diesem Hintergrund wurden die
der Pflegenden aus. Das von Joseph II. 1784 in Wien kranken Kinder zum Gegenstand intensiver ärzt-
errichtete allgemeine Krankenhaus sollte wegwei- licher Anstrengungen.
send werden für die Umgestaltung des Hospitalwe- Das Bestreben, die Kindersterblichkeit zu senken,
sens zum Krankenhauswesens. Es verfügte über ließ das Konzept der Ambulatorieren entstehen, wo-
2000 Betten, die auf eine Krankenabteilung, ein Sie- nach die Kinder in ihrer Umgebung belassen und
chenhaus, ein Findelhaus sowie einen Gebärbau und dort medizinisch und pflegerisch betreut wurden.
einen Narrenturm verteilt waren. Der englische Arzt G. Armstrong gründete 1769 die
In Deutschland hatte für viele kleinere Häuser erste Poliklinik für Kinder in London. Der Wiener
das um 1787 in Bamberg errichtete städtische Kran- Arzt Mastalier errichtete 1787 das erste „öffentliche
kenhaus Vorbildcharakter. Es war ausschließlich für Kinderkrankeninstitut“. In Deutschland entstand
heilbare Kranke bestimmt. Viele ältere Hospitalanla- 1793 in Breslau das „Institut für arme, kranke Kin-
gen wurden Ende des 18. Jahrhunderts umgewan- der“. In Paris eröffnete man 1802 das erste Kinder-
delt und nahmen künftig nur noch Kranke auf. Die krankenhaus, das Hospital „des enfants malades“. In
verbliebenen Hospitäler wurden zu Alten- und Pfle- Berlin gab es bereits 1843 zwei Kinderkrankenhäu-
geheimen. Nach und nach trennte man auch die ser.
Kranken nach verschiedenen Krankheitsarten und Die Entwicklung in der medizinischen und pfle-
verbesserte die Inneneinrichtungen. gerischen Betreuung kranker Kinder zeigte sich auch
Schon im 16. Jahrhundert hatte man psychiatri- in der Literatur. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
scher Kliniken eingerichtet, damals als „Tollhäuser“ ging es in der kinderheilkundlichen Literatur in ers-
und „Irrenspitäler“ bezeichnet. Die Möglichkeiten, ter Linie um präventive Maßnahmen, mit denen ver-
psychisch Kranken zu helfen, waren jedoch äußerst mieden werden sollte, dass die schwache kindliche
gering und die Hilflosigkeit fand ihren Ausdruck in Physis irgendwie in Gefahr kam. Zahlreiche Hinwei-
zum Teil erschreckenden Verhaltensweisen. So wur- se, wie vorzugehen sei, wurden deshalb an die ge-
den Irre z. B. gegen Entgelt Besuchern vorgezeigt. richtet, die sich um die kranken und hinfälligen Kin-
Katastrophale hygienische Verhältnisse, überfüll- der bemühten: die Mutter, Amme oder der Pädago-
te Krankenhäuser und eine beängstigend hohe Mor- ge.
talität waren die Ursache für eine Neugestaltung der
Krankenhäuser: Zum ersten Mal wurden einzelne Zusammenfassung:
Krankenabteilungen räumlich und in der Belegung Neue Organisationsformen der Pflege
der Kranken unterschieden. Außerdem verbesserte ■ Lohnwartesystem: Pflege wird von bezahlten Wär-
man die hygienischen Zustände. tern und Wärterinnen ausgeübt,
■ katholische Pflegeorden: Juan de Dios und Vincenz
▌ Kinderkrankenhäuser von Paul gründen Ordensgemeinschaften, die sich
Zu Beginn des 18. Jh. beklagte man eine hohe Wo- vorrangig der Ausübung der Krankenpflege annah-
chenbettsterblichkeit. So stellte die „Encyclopédie men.
francaise“ für die Mitte des 18. Jahrhunderts fest, Ausbildung der Pflegenden
dass ein Viertel der Kinder bereits im ersten Jahr ■ Franz Anton Mai gründet 1782 die erste Kranken-
starb, in den zwei ersten Lebensjahren ein Drittel pflegeschule.
und bis zum dritten Jahr mindestens die Hälfte der
Kinder.
Für die Heilkunde erwuchsen aus dieser Situati-
on neue Aufgaben, zumal sich in Philosophie und
Pädagogik eine Umbewertung des Kindesalters vor-

BAND 1 Pflege und Entwicklung 43


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

Tab. 2.4 Medizinische Errungenschaften im


2.4 19. Jahrhundert 19. Jahrhundert

Wann Wer Was


Das 19. Jahrhundert wurde ganz entscheidend von
2 der Industrialisierung beeinflusst, die ihren Anfang 1807 Samuel Hahnemann begründet die Homöo-
(1755 – 1843) pathie
mit der Erfindung der Dampfmaschine durch James
deutscher Arzt
Watt (1769) nahm. Im Gegensatz zu England setzte
sich die Industrialisierung in Deutschland nur lang- 1819 Rene Theophile Hyacinthe erfindet das Stethoskop
sam durch. Zur Industriellen Revolution kam es Laennec (1871 – 1826)
französischer Arzt
durch die Zunahme der technischen Erfindungen,
der verbesserten Hygiene und Gesundheitsvorsorge, 1847 Ignaz Semmelweis entdeckt die Ursache des
der wachsenden Nahrungsmittelproduktion und der (1818 – 1865) Kindbettfiebers und führt
ungarischer Arzt die Händedesinfektion ein
stetig ansteigenden Bevölkerungszahl.
Vor 1848 lebte die Mehrzahl der Lohnarbeiter 1858 Rudolf Virchow begründet die Zellular-
noch auf dem Land; das änderte sich in der zweiten (1821 – 1902) pathologie
deutscher Arzt, Patholo-
Hälfte des Jahrhunderts. Es kam zur sogenannten ge, Wissenschaftler
Landflucht, die Menschen suchten Arbeit in der
Stadt. Unter unmenschlichen Bedingungen wurden 1877 Robert Koch entdeckt Tuberkelbakterium,
(1843 – 1910) Cholera- und Milzbrand-
die Arbeiter dem Takt der Maschine unterworfen. deutscher Arzt, erreger und wird der Be-
Täglich waren 16 bis 17 Stunden Arbeit zu leisten Bakteriologe gründer der Bakteriologie
für so geringe Löhne, dass Frauen und Kinder eben- und Infektionslehre
falls in die Fabrik gehen mussten, um das Existenz-
1894 Arthur Schlossmann gründet die weltweit erste
minimum der Familie zu sichern. (1867 – 1932) Klinik für kranke Säuglinge
In beengten Wohnverhältnissen hausten die Fa- deutscher Arzt in Dresden
milien und konnten sich mit ihren Einkünften
1895 Wilhelm Conrad Röntgen entdeckt die Strahlen, die
knapp am Leben halten. Fehlende Hygiene und (1845 – 1923) Weichteile durchdringen
eine unzureichende Ernährung förderten Seuchen deutscher Physiker können und Fotografien des
und die Entstehung von Krankheiten, die schlimme knöchernen Skeletts mög-
lich machen (Röntgenstrah-
soziale und existenzielle Folgen hatten, da keine fi- len)
nanziellen Rücklagen gebildet werden konnten.
Als Antwort auf die daraus entstehende soziale
Krise wurde Ende des 19. Jahrhunderts die Sozial-
versicherung eingeführt, die in drei Gesetzen ihren 2.4.1 Organisationsformen der Pflege
Ausdruck fand: 1883 kam es zur Verabschiedung des Anfang des 19. Jahrhunderts konnte jeder, der wollte,
Krankenversicherungsgesetzes, 1884 zum Unfallver- ohne jegliche Fachkenntnis die Krankenpflege aus-
sicherungsgesetz, 1889 zum Gesetz betreffend der üben. Von den Krankenhäusern wurde das gern in
Invaliditäts- und Altersversicherung. Anspruch genommen. Dementsprechend unzurei-
Die veränderten Rahmenbedingungen blieben chend und schlecht angesehen war die Pflege. Recht
nicht ohne Einfluss auf die Pflege in den Kranken- anschaulich beschrieb Johann Friedrich Dieffenbach
häusern. Bedingt durch die Industrialisierung kam (1792 – 1847) in seinem Buch „Anleitung zur Kran-
es zu einem Bevölkerungswachstum mit einer paral- kenwartung“ von 1832 die Situation der Pflege:
lel verlaufenden Zunahme der Arbeiterschicht. Im
Krankheitsfall waren die Arbeiter auf die Hilfe des
Krankenhauses angewiesen, da die familiären Bin- Anleitung zur Krankenwartung
dungen schwächer wurden. „§ 3 Es ist ein wahrer Jammer anzusehen, welche Men-
Im 19. Jh. wurden in der Medizin weitere bahn- schen man als Krankenwärter und Wärterinnen anstellt.
Jeder Alte, Versoffene, Triefäugige, Blinde, Taube, Lah-
brechende Entdeckungen gemacht, die in Tab. 2.4
me, Krumme, Abgelebte, jeder, der zu nichts in der
dargestellt sind.
Welt mehr taugt, ist dennoch nach Meinung der
Leute zum Wärter gut genug. (...) So ist denn dieser
schöne, edle Beruf in Verruf gekommen. Man suche

44 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.4 19. Jahrhundert

In vier Organisationsformen, der katholischen Or-


Krankenwärter und welcher Auswurf der Menschheit denspflege, der evangelischen Diakonie, den welt-
sammelt sich da und wie wenig ehrbare, brave, tüchti-
lichen Mutterhausverbänden und der freiberufli-
ge Menschen...“ (Möller 1994, S. 57).
chen Krankenpflege, versuchte man eine Verände-
rung der Situation herbeizuführen.
2
Hier war eine Neuorganisation notwendig, denn Eine als desolat zu beschreibende Krankenpflege,
weder die Ordenspflege, noch die im Lohnwart- inhaltlich zerrissen, stand am Anfang des 19. Jahr-
system Beschäftigten konnten quantitativ und qua- hunderts und konnte den neuen Anforderungen
litativ den steigenden Anforderungen gerecht wer- weder qualitativ noch quantitativ gerecht werden.
den. Es kam zur Gründung von zahlreichen konfes-
sionellen und weltlichen Krankenpflegevereinigun- ▌ Katholische Ordenspflege
gen, die versuchten, sich den Problemen zu stellen. Die katholische Ordenspflege bildete im frühen
Die Differenzen zwischen den religiösen und welt- 19. Jahrhundert den Anfang der organisierten Kran-
lichen Mutterhausverbänden und der freiberufli- kenpflege.
chen Pflege verschärften sich indes: Während die In Deutschland waren Anfang des 19. Jahrhun-
Angehörigen der freiberuflichen Krankenpflege dert drei weibliche katholische Pflegeorden von Be-
diese als Beruf sahen, der eine qualifizierte Ausbil- deutung, die alle in der Tradition der Barmherzigen
dung zur Grundlage haben und eine entsprechende Schwestern standen. Ihnen war die Ausübung der
Bezahlung umfassen sollte, herrschte bei den Mut- Krankenpflege als christliche Liebestätigkeit ge-
terhausverbänden die Auffassung vor, dass die Kran- meinsam:
kenpflege in erster Linie als ein mehr oder weniger
unentgeltlicher Dienst zu verstehen war. Aus diesen ▌ Borromäerinnen
unterschiedlichen Positionen heraus konnte sich Seit 1811 sandte das Mutterhaus von Nancy Borro-
kaum ein berufliches Selbstverständnis entwickeln. mäerinnen in Krankenhäuser des französisch beein-
Steppe (1990) beschreibt drei Ursachen, die im flussten Rheinlandes, damit sie dort ihre Unterstüt-
19. Jahrhundert von großer Bedeutung für die wei- zung in der Krankenpflege anböten.
tere Entwicklung der Pflege waren: Die Arbeiten in der Pflege erlernten die Mädchen
1. Arbeitsteilung zwischen Pflege und Medizin und von geübten älteren Schwestern. An eine drei Monate
damit zugleich die geschlechtsspezifische Ar- dauernde Probezeit schloss sich das Noviziat an. Nur
beitsteilung zwischen Frauen und Männern: Mit etwa 25 % der Bewerberinnen legte schließlich das
der Etablierung der Medizin als Naturwissen- Gelübde ab und wurde in den Orden aufgenommen.
schaft benötigten die Ärzte ein ihnen unterge-
ordnetes Personal, welches die Arbeiten abnahm, ▌ Clemensschwestern
die eher als unwissenschaftlich betrachtet wur- Die Genossenschaft wurde 1808 in Münster von Bi-
den, wie z. B. Kommunikation und Fürsorge. schof Clemens August Freiherrn Droste zu Vische-
Hinzu kam, dass gerade die bürgerlichen Frauen ring (1773 – 1845) gegründet und widmete sich
eine Betätigung suchten, in denen sie ihre weib- neben der Krankenpflege der Erziehung von Waisen
lichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen und der Betreuung von Strafgefangenen. Eine Aus-
konnten. Die Pflege wurde als der Beruf für die bildung in der Pflege erhielten die Schwestern nicht,
bürgerliche Frau erkannt. die Kenntnisse wurden durch das praktische Tun auf
2. Durchdringung auch der freiberuflichen Pflege Station erlernt.
mit den ethischen Werten des unentgeltlichen
Liebesdienstes: Motiviert von der christlichen ▌ Vinzentinerinnen
Nächstenliebe gingen die bürgerlichen Frauen in Sie gründeten 1823 ein Mutterhaus in Straßburg
die Pflege und übertrugen ihre Vorstellungen und trugen zu einer verbesserten pflegerischen Ver-
auch auf die freiberufliche Pflege. sorgung in Hessen, Bayern und Österreich bei
3. Zuordnung der Pflege zu den bürgerlichen Beru- (Abb. 2.11).
fen und damit als Beruf für die bürgerlichen Die pflegenden Ordensschwestern standen nach
Frauen: Die bürgerliche Frau in der Pflege lehnte wie vor in der Tradition der alten kirchlichen Pflege-
zugleich alle Bestrebungen der Arbeiterbewe- gemeinschaften. Die tätige Nächstenliebe (Caritas)
gung ab, den Arbeitsalltag erträglich zu gestalten. und die selbstlose Hingabe der Schwestern an den

BAND 1 Pflege und Entwicklung 45


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

Amalie Sieveking (1794 – 1859) gründete 1831 unter


dem Eindruck einer Choleraepidemie einen „Weib-
lichen Verein für Armen- und Krankenpflege“. Ziel
war es, mit Unterstützung gebildeter Frauen die
2 Hauspflege zu reaktiveren.
Der protestantische Pastor Theodor Fliedner
(1800 – 1864) hatte entscheidenden Einfluss auf
die Krankenpflege des 19. Jahrhunderts (Abb. 2.12).
Fliedner erkannte, dass eine Verbesserung der
bisher unzulänglichen pflegerischen Versorgung
der Kranken notwendig war. Die Tatsache, dass ein
großer Bedarf an besserem Pflegepersonal bestand,
wurde von Fliedner mit dem Gedanken der Diakonie
verknüpft. Er begann seine Bemühungen mit der
Gründung des „Evangelischen Vereins für christliche
Krankenpflege in der Rheinprovinz und Westfalen“
im Jahr 1836. In Kaiserswerth kaufte er ein Haus
und bezog es am 13. Oktober 1836 mit 33 Kranken
und 4 Pflegerinnen.
Fliedner ging es vor allem um die armen Men-
schen unter den Kranken. Sie sollten sowohl im Kran-
kenhaus als auch in ihren Wohnungen gepflegt wer-
den. Die Pflege sollte von weiblichen Diakonissen
Abb. 2.11 Barmherzige Schwestern (Vinzentinerinnen) vom
ausgeübt werden. Als Diakonissen wurden neben
Mutterhaus Nancy in der Tracht von Trier und Koblenz
den Frauen aus eher ländlichen Gegenden vor allem
auch bürgerliche Frauen gewonnen. Die Frauen ver-
Dienst am Kranken stellten das Fundament der Ar- pflichteten sich, auf der eingesetzten Stelle zu dienen,
beit dar und beruhten auf den ehemals gesetzten als Gegenleistung wurden sie auf Lebenszeit ver-
Grundlagen. Einen Unterricht erfuhren die Schwes- sorgt. Insbesondere für viele bürgerliche Frauen
tern über ältere Mitschwestern am praktischen Bei- schien es attraktiv zu sein, im Geist des frühchristli-
spiel. Der Gebrauch von Lehrbüchern lässt sich nur chen Diakoniegedankens unter Führung und Versor-
selten nachweisen. Der gute Ruf der traditionellen gung des Mutterhauses in der Öffentlichkeit tätig zu
katholischen Ordenspflege war auch unter der evan- sein, sodass die Zahl der Diakonissen schnell anstieg.
gelischen Bevölkerung weit verbreitet und machte Nach Fliedner galt es, die Ausbildung der Dia-
die Unterschiede zum Lohnwärtertum deutlich. konissen zu fördern, denn seiner Meinung nach
konnten nur ausgebildete Krankenschwestern eine
▌ Evangelische Diakonie und Theodor Fliedner gute Pflege ausüben. Als Vorbild für die Organisati-
Die Bemühungen, die katholische Ordenspflege wie- on dienten die Barmherzigen Schwestern. So über-
der aufleben zu lassen, blieben nicht ohne Einfluss
auf die protestantisch besiedelten Räume. Das posi- Abb. 2.12 Theodor Fliedner
tive katholische Vorbild sollte Nachahmer unter den (1800 – 1864). Bildnis von
O. Mengelberg (ca. 1857)
Protestanten finden. Deren Bemühungen basierten,
wie schon in den katholischen Kreisen, auf der all-
gemeinen Kritik an der Krankenpflege, dass diese
keine Nähe mehr zu der christlichen Nächstenliebe
habe. Die wichtigsten Vertreter waren Amalie Sieve-
king, Johann Daniel Neigebaur, Freiherr vom Stein,
Johannes Evangelista Gossner und vor allem Theo-
dor Fliedner.

46 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.4 19. Jahrhundert

nahm er u. a. den Gedanken des Mutterhauses. Die Die Historikerin Anna Sticker, die ein Buch über
Unterrichtung der Schwestern sollte durch einen das Ehepaar Fliedner geschrieben hat, bezeichnete
Arzt erfolgen, der sowohl praktische als auch theo- den 13. Okt. 1836, den Tag an dem das Diakonissen-
retische Anweisungen zu geben hatte. Die Schwes- mutterhaus in Kaiserswerth eröffnet wurde, als den 2
tern sollten bewusst als Helferin des Arztes aus- Beginn der neuzeitlichen Krankenpflege.
gebildet werden. Die Bemühungen der konfessionellen Verbände
Ergänzt wurde der Unterricht durch seine Frau wurden allerdings nicht ausschließlich positiv auf-
Friederike Fliedner (1800 – 1842) und durch die genommen. So sprach der Mediziner Virchow die-
erste Diakonisse Gertrud Reichardt, die eine erfah- sen die Existenzberechtigung ab, weil seiner Mei-
rene Pflegerin war. Das von Johann Friedrich Dief- nung nach jede kirchliche Aufgabe eines Pflegenden
fenbach verfasste Buch „Anleitung zur Krankenwar- verhindere, dass die Pflege rein sachlich angesehen
tung“ wurde dem Unterricht zugrunde gelegt. werden konnte.
Die Verbindung des Diakoniegedankens mit der
Ausübung der Krankenpflege brachte so manche ▌ Weltliche Mutterhausverbände/vaterländische
Probleme mit sich. Ging es Fliedner, dem Theologen, Frauenvereine
vor allem darum, dass der Krankendienst als kirch- Für die Entstehung neuer Organisationsformen der
liches Amt von frommen Frauen ausgeführt wurde, Pflege waren nicht zuletzt die zahlreichen Kriege
so war seine Frau Friederike anderer Auffassung. Sie mitverantwortlich. In Deutschland entstanden z. B.
sah vor allem die freiwillige Bereitschaft der Frauen, die Frauenvereine im Zusammenhang mit den Krie-
die sich zum Krankendienst meldeten. Diese waren gen zur Befreiung von der napoleonischen Herr-
jedoch häufig nicht der geistlichen Verantwortung schaft. Der Einsatz der Frauen in den Befreiungskrie-
einer Diakonisse gewachsen. gen wurde als vorbildlich für eine soziale Betätigung
So kam es, dass tüchtige Krankenpflegerinnen der Frau betrachtet. Die Frauen wurden zur Unter-
aufgenommen wurden, die jedoch nicht die Voraus- stützung der verwundeten und erkrankten Krieger
setzung zum Diakonissenamt mitbrachten, und um- und zur Linderung des im Lande verbreiteten Not-
gekehrt. standes eingesetzt. Eine Woche nachdem der preu-
ßische König, Friedrich Wilhelm III., einen Aufruf an

!
Merke: Die Verpflichtung der unverheirate- sein Volk gerichtet hatte, unterzeichneten neun
ten Frauen, sich für fünf Jahre im Diakonis- deutsche Prinzessinnen einen „Aufruf an die Frauen
senverein zu engagieren, verschaffte ihnen im preußischen Staate“. Sie gaben hierin die Grün-
das Recht, unangefochten in der Öffentlichkeit einem dung eines „Frauen-Vereins zum Wohle des Vater-
Beruf nachzugehen. Die Frauen erhielten freie Dienst- landes“ bekannt. Die Resonanz war groß, es bildeten
kleidung und ein festes Gehalt. sich rasch an vielen Orten vaterländische Frauenver-
eine. Aufgabe der Frauenvereine war, wie von den
Hinzu kamen freie Kost und Wohnung, Medikamen- Prinzessinnen vorgeschlagen, die unmittelbare Hil-
te und ärztliche Behandlung, Versorgung bei Dienst- feleistung zur Unterstützung des nationalen Befrei-
unfähigkeit und Alter und weitere Vorteile, so dass ungskrieges.
ein Eintritt in die Diakonissenanstalt für die meisten
Pflegerinnen mit einer Standeserhöhung verbunden Zusammenfassung:
war. Pflege im 19. Jahrhundert
Fliedners Vorstellungen von der Krankenpflege ■ kein berufliches Selbstverständnis, da:
und dem Leben der Diakonissen waren tief in dem – Arbeitsteilung zwischen männlicher Medizin
frühchristlichen Diakoniegedanken verwurzelt. Die und untergeordneter weiblicher Pflege,
Diakonisse dient in ihrer Pflege dem Herrn selbst, – Pflege als christlicher Liebesdienst,
die Arbeit am Kranken ist Arbeit am Reich Gottes. So – Pflege als bürgerlicher Beruf, keine Identifikati-
unterrichte Fliedner abends u. a. in Bibelkunde, on mit der Arbeiterbewegung.
Glaubenslehre und Ethik der Krankenpflege. Flied- ■ Organisationsformen der Pflege:
ner schuf mit seiner Konzeption die Voraussetzung – katholische Ordenspflege: Borromäerinnen,
für die Krankenpflege als dem bürgerlichen Frauen- Clemensschwestern, Vinzentinerinnen,
beruf schlechthin.

BAND 1 Pflege und Entwicklung 47


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

– evangelische Diakonie: Begründer Theodor sern Verträge ab, in denen die finanziellen Inhalte
Fliedner förderte die Ausbildung der Diakonis- geregelt waren. Danach erhielten die Schwestern al-
sen als Pflegerinnen, unterrichtet durch den lenfalls ein Taschengeld sowie freie Unterkunft und
Arzt, Verpflegung.
2 – weltliche Mutterhausverbände: vaterländische Die nicht gebundenen, freiberuflichen Schwes-
Frauenvereine zur Pflege, vor allem im Krieg. tern arbeiteten vielfach in der Privatpflege und hat-
ten zumeist unter katastrophalen Arbeitsbedingun-
▌ Freiberufliche Krankenpflege und Agnes Karll gen zu leiden. Die Arbeitszeiten betrugen oft 15
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es erneut zu Stunden und mehr, es gab keine entsprechenden
einem Mangel an Pflegekräften, der u. a. auch durch Erholungszeiten und für den Krankheits- oder Ren-
die Verabschiedung des Krankenversicherungsgeset- tenfall keine Absicherung. Hinzu kam eine absolut
zes im Jahr 1883 ausgelöst wurde. Nun waren auch unzureichende Bezahlung und völlige Arbeitsüber-
solche Bevölkerungsschichten im Krankenhaus an- lastung. Der oft zweifelhafte Ruf der Schwestern
zutreffen, die sich vorher einen Krankenhausaufent- war auch darauf zurückführen, dass sie häufig nur
halt nicht leisten konnten. Die Anzahl der Kranken- wenig oder gar nicht ausgebildet waren. Eine ehe-
häuser und der Krankenhausbetten stieg in den malige Rotkreuzangehörige war es schließlich, die
folgenden Jahren von 100 000 im Jahr 1877 auf auf die Missstände aufmerksam machte und Ver-
260 000 im Jahr 1900. änderungen herbeiführen wollte.
Fast alle in der Krankenpflege tätigen Schwestern Agnes Karll (1868 – 1927), in Embsen in der Lü-
waren an ein Mutterhaus gebunden. Die konfessio- neburger Heide geboren, besuchte bis zur 8. Klasse
nellen Schwestern, Rotkreuzschwestern sowie viele die Schule und trat anschließend in eine Privatschu-
weltliche, bürgerliche Schwestern hatten als Organi- le für Erzieherinnen und Privatlehrerinnen ein. Bis
sationsform das Mutterhaussystem übernommen zu ihrem 19. Lebensjahr arbeitete sie als Hauslehre-
und orientierten sich an den christlich motivierten rin auf einem mecklenburgischen Gutshof. Nachdem
Werten in der Ausübung der Krankenpflege. Die zwei ihrer Geschwister sehr früh gestorben waren
nichtkonfessionell gebundenen, in der Pflege tätigen und sie von der Arbeit einer Schwester während
Schwestern wurden vielfach als „wilde Schwestern“ einer Diphtherieepidemie auf dem Lande erfahren
tituliert. Man warf ihnen unehrenhafte Motive, vor hatte, wuchs in ihr der Wunsch, in die Krankenpfle-
allem im Umgang mit Männern, vor. J. Stangenber- ge zu gehen. Sie trat im August 1887 ins Rotkreuz-
ger schrieb 1901: „nur den weltlichen Schwestern, mutterhaus „Clementinenstift“ in Hannover ein und
den sogenannten „wilden“... ist der ganze männliche absolvierte dort zunächst eine Probezeit von sechs
Körper schrankenlos preisgegeben, und sie machen Monaten (Abb. 2.13).
von dieser Lizenz den ausgiebigsten Gebrauch... An- Nach dieser Zeit, in der sie von den älteren
gesichts dieser Zustände kann man nicht dringend Schwestern angelernt wurde und während der sie
genug an Eltern und Erzieher die Mahnung richten: häufig unter der Heftigkeit und den Quälereien der
Hütet Eure Pflegebefohlenen! Hütet Eure Töchter Oberin zu leiden hatte, verpflichtete sie sich zu den
vor der Krankenpflege, und können sie wirklich üblichen drei Dienstjahren, in denen sie ein geringes
dem inneren Drange nicht widerstehen, so gebt Taschengeld erhielt, welches bei weitem nicht aus-
nicht zu, dass sie in eine andere als religiöse reichte, um den inzwischen in Not geratenen Vater
Schwesterngemeinschaft eintreten...“ (Möller 1994, finanziell zu unterstützen.
S. 96). Es herrschte zudem die Überzeugung vor, Nach den drei Jahren, die ihr deutlich die Miss-
dass nur Mutterhausschwestern eine reine, mora- stände in der Krankenpflege vor Augen führten,
lisch einwandfreie Gesinnung haben konnten. Beruf- wechselte sie aus dem Mutterhausverband in die
lich ausgeübte Pflegetätigkeit ohne Einbindung in freiberufliche Pflege, um in Berlin als Privatpflegerin
christliche Ethik galt als verwerflich. zu arbeiten. Hier erfuhr sie zum einen Diskriminie-
Nach dem Verständnis der konfessionellen Ver- rung durch die Mutterhausverbände und zum ande-
bände und des Roten Kreuzes war die Krankenpfle- ren die Ausbeutung durch die Besitzerinnen der pri-
ge vor allem als „Liebestätigkeit“ zu verstehen und vaten Schwesternheime, in Form von katastrophalen
bedurfte selbstverständlich keiner Bezahlung. Bisher Arbeitsbedingungen und der auch hier ungenügen-
schlossen die Krankenhäuser mit den Mutterhäu- den Bezahlung. In den zehn Jahren, die sie in der

48 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.4 19. Jahrhundert

Um die Mitglieder besser informieren und vor


allem auch um Aufklärungs-, Bildungs- und Erzie-
hungsarbeit leisten zu können, erschien am 5. Ok-
tober 1905 die erste Ausgabe der „Mitteilungen an
unsere Schwestern“, die im Januar 1906 von der
2
Zeitschrift „Unterm Lazaruskreuz“ abgelöst wurde
(Abb. 2.14).
Ein Anliegen der Berufsorganisation und Agnes
Karlls war es, für die Krankenpflege eine sachgemä-
ße dreijährige Ausbildung mit gesetzlicher Veranke-
rung und staatlicher Prüfung einzufordern. Erst
1957 kam es schließlich zu einer dreijährigen Aus-
bildung. Die Bemühungen der Berufsorganisation
hatten nur teilweise Erfolg: Am 1. Juni 1907 trat in
Preußen das erste Krankenpflegegesetz in Kraft, das
allerdings lediglich eine einjährige Ausbildung vor-
sah. Damit wurde die Krankenpflege zugleich als
staatlich anerkannter Beruf per Gesetz geregelt und
ermöglichte den Frauen die wirtschaftliche Unab-
hängigkeit. Der deutsche Berufsverband trat 1904
dem von der englischen Oberin Bedford-Fenwick
Abb. 2.13 Agnes Karll. Fotografie aus dem Jahre 1912 im Jahr 1899 gegründeten „International Council of
Nurses“ (ICN), dem Weltbund der Krankenpflegerin-
nen, bei. Agnes Karll war von 1909 – 1912 Präsiden-
Privatpflege verbrachte, arbeitete sie sich an den tin des ICN. Der ICN tagt seitdem alle vier Jahre und
Rand des körperlichen Ruins. umfasst die nationalen Berufsverbände aus fast allen
Agnes Karll stand mit ihren Erfahrungen nicht Kulturstaaten. Nach ihrer Präsidentschaft im ICN
allein und fand bald Mitstreiterinnen, die sich mit hielt Agnes Karll im Wintersemester 1912 an der
ihr für bessere Arbeitsbedingungen einsetzten. Ziel Frauenhochschule in Leipzig in einem von ihr ini-
sollte es sein, die Krankenpflege zu einem nicht ge- tiierten Fortbildungskurs für Krankenschwestern
sundheitsgefährdenden, gesellschaftlich anerkann- Vorträge über die Geschichte der Krankenpflege.
ten und selbstständigen Frauenberuf zu machen. Am 12. Februar 1927 starb Agnes Karll an einem
Am 11. Januar 1903 kam es zur Gründungsver- Krebsleiden. Der Berufsverband musste 1933 seine
sammlung der „Berufsorganisation der Krankenpfle- Arbeit zunächst teilweise einschränken, um sie 1938
gerinnen Deutschlands (B.O.K.D. oder B.O.)“, nach- vollständig aufzugeben. Nach Kriegsende wurde der
dem Agnes Karll hierfür die Satzung entworfen hat- Verband unter dem Namen seiner Gründerin
te. Die Berufsorganisation bot ihren Mitgliedern, die „Agnes-Karll-Verband“ neu aufgebaut und 1973
alle eine ausreichende Berufsausbildung und min- nach dem Zusammenschluss mit mehreren Verbän-
destens dreijährige Berufserfahrung vorweisen den zum „Deutschen Berufsverband für Kranken-
mussten, die Vermittlung eines Arbeitsplatzes an, pflege“ (DBfK) umbenannt.
wobei die Selbstständigkeit im Vertragsabschluss

!
gewährleistet wurde. Damit wurde die Bindung an Merke: Agnes Karll, die Mitbegründerin der
ein Mutterhaus aufgegeben. Der Beitrag zur Organi- ersten deutschen Berufsorganisation für
sation war gering, das Gehalt stand den Schwestern Krankenpflege, hatte sich zum Ziel gesetzt,
frei zur Verfügung. Darüber hinaus stand die B.O.K.D. die Krankenpflege zu einem nicht gesundheitsgefähr-
ihren Mitgliedern in Arbeits- und Rechtsfragen zur denden, gesellschaftlich anerkannten, selbständigen
Seite. Das Verbandsabzeichen stellte das Lazarus- Frauenberuf zu machen. Am 1. Juni 1907 trat in Preu-
kreuz dar und es wurde eine Verbandstracht einge- ßen das erste deutsche Krankenpflegegesetz in Kraft.
führt.

BAND 1 Pflege und Entwicklung 49


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

Abb. 2.14 Deckblatt der Originalausgabe „Unterm Lazaruskreuz“

50 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.4 19. Jahrhundert

2.4.2 Florence Nightingale und Jean Henri sche Arbeit wurde ihrer Meinung nach nicht gleich-
Dunant wertig geschult. Im Jahr darauf kehrte sie für drei
Außerhalb Deutschlands waren es im 19. Jh. vor Monate, während der Kur ihrer Schwester in Karls-
allem Florence Nightingale und Jean Henri Dunant, bad, nach Kaiserswerth zurück und nahm an der
die die weitere Entwicklung der Pflege beeinfluss- praktischen Ausbildung teil, wobei sie später stets
2
ten. von Kaiserswerth als ihrer geistigen Heimat sprach.
1853 ging Florence Nightingale für einige Wochen
▌ Florence Nightingale nach Paris, um am Maison de la Providence die
Florence Nightingale (1820 – 1910) stammte aus praktische Krankenpflege der katholischen Barm-
einer wohlhabenden englischen Familie und wurde herzigen Schwestern kennenzulernen. Nach London
auf einer Italienreise ihrer Eltern in der italienischen zurückgekehrt, übernahm sie die Leitung eines Pfle-
Stadt Florenz, die ihr den Vornamen gab, geboren geheims für invalide Gouvernanten. Ein Jahr lange
(Abb. 2.15). übte sie diese Tätigkeit aus, bis sie der Ruf des
Florence erhielt standesgemäß eine ausgezeich- Kriegsministers erreichte, sich der im Krimkrieg
nete höhere Schulbildung und konnte auf den zahl- verwundeten Landsleute anzunehmen.
reichen Reisen mit ihren Eltern ihre umfangreichen 1854 hatten Großbritannien, Frankreich und die
Fremdsprachenkenntnisse festigen. Schon früh Türkei gemeinsam Russland den Krieg erklärt. Schon
wurde es ihr zu einem Bedürfnis, sich caritativen bald nach Kriegsbeginn gelangten Berichte von
Anliegen und hier vor allem der Krankenpflege zu grauenvollen Verhältnissen in den englischen Laza-
widmen. Für eine junge Dame aus höheren Kreisen retten an die Öffentlichkeit. Sie waren schließlich
war dies aber nicht standesgemäß, so dass es ihre der Auslöser für die Bitte des Kriegsministers an
Eltern verboten. Dies hinderte sie jedoch nicht da- Florence Nightingale, sich im Krimkrieg einzusetzen.
ran, sich über mehrere Jahre hinweg mit Publikatio- Im November 1854 kam Florence Nightingale mit
nen des In- und Auslandes über Krankenhauswesen einer Gruppe von 38 Schwestern, hiervon 18 Barm-
und Krankenpflege zu beschäftigen. herzigen Schwestern und 20 Pflegerinnen, in Skutari
Auf der Rückreise von einer Ägyptenreise nutzte (Istanbul) in der Türkei an und fand hier katastro-
sie im Jahr 1850 die Gelegenheit zu einem Besuch phale hygienische Verhältnisse vor. Es waren weder
der Diakonissenanstalt in Kaiserswerth. Die Arbeit Wasser und Seife noch Handtücher vorhanden.
der Diakonissen, vor allem aber deren geistige Hal- Florence Nightingale übernahm die Leitung des
tung, beeindruckte sie sehr. Die praktische pflegeri- Pflegedienstes und blieb bis zum 7. August 1856 in

Abb. 2.15 Florence Nightingale in einem Feldlazarett während des Krimkrieges (1854 – 1856)

BAND 1 Pflege und Entwicklung 51


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

Skutari. Ihre Bemühungen und ihr unermüdlicher Krankenhaus unabhängige und ihm nur zu Ausbil-
Einsatz ließen sie schon bald zum „Engel des Krim- dungszwecken angegliederte Krankenpflegeschule,
krieges“ oder zur „lady with the lamp“ werden. Letz- fand bald Verbreitung in den englischen Kolonien,
tere Bezeichnung wurde ihr zuteil, weil sie nachts in Amerika und in den skandinavischen Ländern.
2 auf den Schlachtfeldern mit einer Lampe nach Ver- Lediglich in Deutschland fand ihre Ausbildungsorga-
wundeten suchte. Unermüdlich setzte sie sich mit nisation keine Anerkennung und dementsprechend
ihren Helferinnen für verbesserte Verhältnisse in keine Verbreitung: Hier blieb es beim Mutterhaus-
den Lazaretten ein und sorgte dafür, dass die Sterb- system. Florence Nightingale arbeitete in den Jahren
lichkeitsrate von 42 % auf 2,2 % sank. bis zu ihrem Tod an vielen Problemen der öffent-
Während ihres zwei Jahre andauernden Einsat- lichen Gesundheitspflege und des Hospitalwesens.
zes verbesserte sie die praktische Kriegskranken- Ihr Geburtstag, der 12. Mai, wird seit 1967 vom
pflege und erprobte eine grundlegende Umgestal- ICN als der Tag der Krankenpflege gefeiert.
tung des englischen Militärsanitätswesens innerhalb Florence Nightingale, die erste Pflegetheoretike-
des Lazarettbetriebes. Auf 830 Seiten fasste sie ihre rin, trug durch das von ihr entwickelte System dazu
Vorschläge zusammen und leitete zugleich theoreti- bei, dass die Krankenpflege den Status eines erlern-
sche Verallgemeinerungen für Krankenhauswesen baren sozialen Berufes erhielt.
und Krankenpflege im zivilen Leben ab. Mit den
zwei Veröffentlichungen „Notes on nursing“ (Die ▌ Jean Henri Dunant
Pflege bei Kranken und Gesunden) und „Hints on Jean Henri Dunant (Abb. 2.16), ein Schweizer Ban-
hospitals“ (Bemerkungen über Hospitäler) leistete kier, wurde auf einer Italienreise Augenzeuge der
sie einen wichtigen Beitrag zur weiteren Entwick- Schlacht bei Solferino, die zwischen Frankreich und
lung der Krankenpflege und kann so als erste Pfle- Sardinien gegen Österreich stattfand. Am 24. Juni
getheoretikerin der Neuzeit bezeichnet werden. 1859 gab es bei Solferino 40 000 gefallene und ver-
Im Jahr 1860 nahm sie sich ihres wichtigsten An- wundete Soldaten. Dunant erlebte die ungenügende
liegens an: Die Krankenpflege sollte zu einem gut ärztliche und pflegerische Versorgung der Verwun-
ausgebildeten und öffentlich anerkannten Beruf deten auf dem Schlachtfeld und organisierte darauf-
werden. Die Grundlage hierfür sollte der 1855 er- hin spontan eine freiwillige Hilfsaktion der Einwoh-
richtete Nightingale-Fonds sein, der sich aus Spen- ner aus den umliegenden Ortschaften.
den von britischen Offizieren und Soldaten zusam- Drei Jahre später fasste er seine Erinnerungen an
mensetzte, die dank Florence eine verbesserte Laza- diese Aktion und an die Schrecken der verletzten
rettpflege erfahren hatten. Am 4. Juni 1860 wurde und sterbenden Soldaten in einer Broschüre unter
am St. Thomas-Hospital in London eine nach den dem Titel „Un souvenir de Solferino“ (Eine Erinne-
Vorstellungen von Florence Nightingale organisierte rung an Solferino) zusammen. Er verband damit zu-
Krankenpflegeschule angegliedert. Die Schule wurde gleich ein ihm wichtig gewordenes Anliegen, wo-
von der Stiftung finanziert und war deshalb auch nach in allen Ländern Freiwilligen-Vereine zu grün-
unabhängig vom Krankenhaus, welches die prakti- den seien, in denen ausgebildete Helfer in der Lage
sche Ausbildung gewährleistete. Die Schule begann wären, zu Kriegszeiten den Militärsanitätsdienst zu
mit 15 Schülerinnen, die eine einjährige Ausbildung unterstützen, um damit ähnliche Missstände in
erhielten, nebenbei als Hilfspflegerinnen im Kran- künftigen Kriegen zu vermeiden.
kenhaus arbeiteten und dann für zwei weitere Fort- Seine Vorschläge stellte er der in Genf seit
bildungsjahre verpflichtet wurden. Die Ausbildung 1810 tätigen Wohlfahrtsorganisation, der Schweize-
vermittelte einen im internationalen Vergleich ein- rischen Gemeinnützigen Gesellschaft, vor und fand
malig hohen Anteil an theoretischem Wissen. starke Befürworter seiner Idee. Die Gesellschaft
Zwei wesentliche Inhalte führten durch die Aus- gründete eine Kommission, die sich wiederum aus
bildung zu einer Reform der Krankenpflege. So Privatpersonen mehrerer europäischer Länder zu-
wurde einerseits die Krankenpflege auf den sozialen sammensetzte. Im Oktober 1863 fand eine erste in-
Stand eines erlernten Berufes gehoben und anderer- ternationale Konferenz statt, die allgemein als Grün-
seits bekam die Frau innerhalb der Gesellschaft die dungsakt des Roten Kreuzes gilt. Am 22. August
Möglichkeit, eine öffentlich anerkannte Ausbildung 1864 unterzeichneten in einer zweiten Konferenz
zu erhalten. Das Nightingale-System, also die vom Bevollmächtigte von zwölf Staaten die erste Genfer

52 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.4 19. Jahrhundert

Kreuz-Gesellschaften Unterstützung und Anhänger


unter den männlichen Hilfskräften, aber auch von
schon bestehenden oder entstehenden Frauenver-
einen, die sich dann häufig „Frauenvereine unter
dem Rothen Kreuz“ nannten. Der von der Großher-
2
zogin Luise von Baden (1838 – 1923) geschaffene
„Badische Frauenverein“ wurde 1866 vom Interna-
tionalen Komitee als erste nationale Rot-Kreuz-Or-
ganisation anerkannt.
Während sich in Deutschland die Übernahme
des Mutterhaussystems für die Rot-Kreuz-Schwes-
tern nach katholischem oder evangelischem Vorbild
durchsetzte, entwickelten sich die Rot-Kreuz-
Schwesternschaften in anderen europäischen und
außereuropäischen Ländern in jeweils unterschied-
lichen Organisations- und Ausbildungsformen. Mit
der Übernahme des Mutterhaussystems blieb es da-
bei, dass die Berufsausübung in Deutschland vor
allem als caritative Tätigkeit auf religiöser Grundlage
verstanden wurde. Im deutsch-französischen Krieg
von 1870/71 waren zahlreiche Frauenvereine des
Roten Kreuzes im Einsatz und betreuten die ver-
wundeten und kranken Soldaten. Der „Verband der
Deutschen Frauenhilfs- und Pflegevereine“, in dem
Abb. 2.16 Jean Henri Dunant (1828 – 1910) im Jahre 1863 sich die verschiedenen Vereine zusammenschlossen,
legte im August 1871 die Aufgaben für Kriegs- und
Friedenszeiten fest. So sollte in Friedenszeiten vor
Konvention. Hier wurde vor allem die Neutralität allem Sorge für die Förderung und Hebung der
der Feldlazarette und der sich dort aufhaltenden Krankenpflege getragen werden. In Kriegszeiten
Verwundeten, Kranken sowie des militärischen Pfle- hingegen sollten die Vereine an der Betreuung der
gepersonals und der zivilen Hilfskräfte vereinbart. im Felde Verletzten und Erkrankten und an der Un-
Zum allgemein verbindlichen Schutzzeichen wurde terstützung der dort tätigen Einrichtungen teilneh-
das Rote Kreuz im weißen Feld, die Flagge der men. Bis zum Ende des Jahrhunderts wurden von
Schweiz mit umgekehrten Farben. den Frauenvereinen in 25 deutschen Städten Ausbil-
Einem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz dungskrankenhäuser für die Rot-Kreuz-Kranken-
mit Sitz in Genf wurde die Verbindung zwischen schwestern eingerichtet. Die Ausbildung in den
den verschiedenen europäischen Staaten aufgetra- Häusern war vor allem von der ethischen Erziehung
gen. Dunant trat, nachdem er einen wirtschaftlichen geprägt, während die eher praktisch orientierten
Konkurs als Bankier erleiden musste, für einige Inhalte vor allem auf kriegschirurgische Assistenz-
Jahre aus der Öffentlichkeit und aus der Führung leistung ausgerichtet waren. Theoretische Kenntnis-
der Rot-Kreuz-Bewegung zurück. se wurden nur in geringem Umfang vermittelt, weil
Im Jahre 1895 wurde er durch mehrere Zeitungs- die führenden Persönlichkeiten des Roten Kreuzes
artikel wieder in das öffentliche Bewusstsein ge- der Meinung waren, dass zu viel Theorie eine Ver-
rückt und erhielt in den folgenden Jahren viele Eh- nachlässigung der praktischen Arbeit nach sich zie-
rungen, deren Höhepunkt die Verleihung des ersten hen und zu einem Verlust der zum Beruf gehören-
Friedensnobelpreises im Jahr 1901 war. den Bescheidenheit führen würde.
Die Weiterentwicklung der Rot-Kreuz-Idee hatte
auch Auswirkungen auf die Krankenpflege in Frie-
denszeiten. So fanden die sich verbreitenden Rot-

BAND 1 Pflege und Entwicklung 53


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

Zusammenfassung: deutsch-deutschen Grenze und zur Wiedervereini-


Organisationsformen Pflege gung Deutschlands am 3. Oktober 1990.
Katholische Ordenspflege Im 20. Jahrhundert kam es im Bereich der Medi-
■ Borromäerinnen, zin zu zahlreichen Entdeckungen, die Therapie und
2 ■ Clemensschwestern, Diagnostik dauerhaft beeinflussen sollten. In
■ Vinzentinerinnen. Tab. 2.5 werden einige dieser Entdeckungen dar-
Evangelische Diakonie gestellt.
■ Theodor Fliedner
Weltliche Mutterhausorden Tab. 2.5 Medizinische Errungenschaften im 20. Jahrhun-
dert
■ Frauenvereinigungen
Freiberufliche Pflege Wann Wer Was
■ Agnes Karll
Europäische Bewegungen 1906 Alois Alzheimer Der Psychiater Emil Kraepe-
(1864 – 1915) deutscher lin (1856 – 1926) bezeichnet
■ Florence Nightingale
Arzt, Neurologe, Psychia- die von Alzheimer beschrie-
■ Henri Dunant ter Hirnpathologe bene Krankheit als Morbus
Alzheimer

1929 Sir Alexander Fleming entdeckt das Penicillin


2.5 20. Jahrhundert (1881 – 1955)
schottischer Bakteriologe
Im auslaufenden 19. und im beginnenden 20. Jahr-
1944 Oswald Theodore Avery entdeckt die Desoxyribonu-
hundert stellte das deutsche Kaiserreich eine der (1877 – 1955) kleinsäure (DNS, engl. DNA)
größten und stärksten Industrienationen in Europa kanadischer Arzt und als Träger der Erbsubstanz
dar. Der erste Weltkrieg von 1914 – 1918 mit seinen Molekulargenetiker

großen Verlusten führte dazu, dass das deutsche 1967 C. Barnard führt die erste Herztrans-
Kaiserreich von 1871 von einer demokratischen Re- (1922 – 2002) plantation durch
publik abgelöst wurde. Die Weimarer Republik be- südafrikanischer Arzt

gann verheißungsvoll und hatte in den goldenen 1973 Godfrey N. Hounsfield entwickelt die Computer-
zwanziger Jahren von 1924 – 1929 ihre erfolgreichs- (1919 – 2004) tomografie (CT)
te Zeit. Sie wurde schließlich durch die Benennung englischer Elektronik- und
Mediziningenieur
von Adolf Hitler zum Reichskanzler abgelöst. Mit
Beginn der nationalsozialistischen Regierungsüber- 1973 P. C. Lauterbur Mitentwickler der Magnet-
nahme im Jahr 1933 wurde eine 12 Jahre dauernde (geb. 1925) resonanztomografie (MRT)
amerikanischer Chemiker
Schreckensherrschaft eingeläutet. Die Verfolgung
und Ausrottung der Juden und der politischen Geg- 1983 Barry J. Marshall entdecken das Magenbak-
ner führte in ihrer Perversion zu Bau und Einsatz (geb. 1951) terium Helicobacter pylori
australischer Arzt und erhalten 2005 für diese
der Konzentrationslager.
John R. Warren Entdeckung den Nobelpreis
Mit dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges be- (geb. 1911)
gann Deutschland mit der Eroberung weiter Teile australischer Arzt
Europas. Der Krieg tötete Millionen von Menschen
1998 Andrew Z. Fire entwickeln ein Verfahren,
und legte Deutschland vielerorts in Schutt und (geb. 1959) mit dem sich Gene stumm-
Asche. Nach 1945 begann die Zeit des Wiederauf- amerikanischer Biologe schalten lassen, und erhal-
baus in Deutschland. Craig Cameron Mello ten hierfür 2006 den Nobel-
(geb. 1960) preis
Aus den drei westlichen Besatzungszonen ent-
amerikanischer Bio-
stand 1949 die „Bundesrepublik Deutschland“, aus chemiker
der sowjetischen Besatzungszone die „Deutsche De-
2001 Laman Gray und Robert implantieren das erste,
mokratische Republik“ (DDR). Während der Westen
Dowling amerikanische eigenständig arbeitende
sich wirtschaftlich rasch erholte, vollzog sich im Herzchirurgen Kunstherz
Osten der wirtschaftliche Niedergang.
2003 „Human-Genom-Projekt“ vollständige Entschlüsselung
1989 kam es nach dem sich ausbreitenden Wi-
des menschlichen Erbguts
derstand gegen das DDR-Regime zur Öffnung der

54 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.5 20. Jahrhundert

2.5.1 Pflege im 1. Weltkrieg und in der Nach 1921 durften sich dann alle geprüften Frau-
Weimarer Republik en als Krankenschwester bezeichnen. Dieser Titel
Mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges sahen sich alle war bisher den Mutterhausverbänden vorbehalten.
Pflegekräfte, gleich ob in den Mutterhausverbänden Die Ausbildung der Säuglingspflegerinnen, die ein
oder in der freiberuflichen Pflege, dazu verpflichtet, Jahr dauerte und mindestens 200 theoretische Un-
2
im Krieg ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. terrichtsstunden umfasste, wurde erst 1917 aner-
Dies entsprach der nationalen Begeisterung, die mit kannt. In der Weimarer Republik wurde 1923 eine
dem ersten Weltkrieg aufgekommen war. In erster neue Vorschrift über die Prüfung von Säuglings- und
Linie waren aber die Schwestern des Roten Kreuzes Kinderpflegerinnen erlassen, die zugleich die Dauer
in der Kriegskrankenpflege aktiv. Sie errichteten der Ausbildung auf zwei Jahre erhöhte.
nun u. a. Verbandplätze, Kriegslazarette im Front- Eine reichseinheitliche Ausbildungsregelung kam
gebiet und Reservelazarette. am 20. März 1930. Hier erfolgte eine Unterschei-
Die Begeisterung war zu Beginn des Krieges so dung zwischen der Säuglings- und Kleinkinderpfle-
groß, dass sich Tausende unausgebildeter Frauen gerin, die für die Versorgung gesunder Kinder, und
und Mädchen, die häufig aus den Frauenvereinen der Säuglings- und Kleinkinderschwester, die für die
stammten, dem Roten Kreuz zu freiwilligen Hilfs- Versorgung kranker Kinder zuständig war.
leistungen zur Verfügung stellten. Insgesamt erhielt

!
das Rote Kreuz einen großen Zulauf in dieser Zeit, Merke: Im 1. Weltkrieg und während der
während die freiberufliche Krankenpflege die aller- Weimarer Republik präsentiert sich die Pfle-
größten Schwierigkeiten hatte, in der Kriegskran- ge berufspolitisch zersplittert, mit fehlendem
kenpflege zum Einsatz zu kommen. Selbstverständnis, den Ärzten untergeordnet und der
Arbeitslos gewordene Privatpflegerinnen wurden Tradition der selbstlosen Tätigkeit verbunden.
nur dann zum Kriegsdienst eingestellt, wenn sie auf
eine Bezahlung verzichteten. Aufgrund der zurück- Zusammenfassung:
gegangenen Nachfrage in der Haus- und Kranken- 1. Weltkrieg und Weimarer Republik
hauspflege stellte dies für die freiberuflichen ■ Schwestern des Roten Kreuzes arbeiten als kosten-
Schwestern eine Bedrohung ihrer Existenz dar. Des- lose Pflegerinnen für den Einsatz im Krieg,
halb ließen sich viele freiberufliche deutsche Kran- ■ Situation der freiberuflichen Pflegerinnen kritisch
kenpflegerinnen in österreichischen Lazaretten ein- durch Arbeitslosigkeit und geringe Bezahlung,
setzen und erhielten dort neben Kost und Logis ein ■ Diskussion über berufliche Rahmenbedingungen
Taschengeld. (Arbeitszeit, Bezahlung),
Auch nach Kriegsende, als Tausende von Schwes- ■ Arbeitsbereich der Pflege unklar, strikte Unterord-
tern arbeitslos waren, änderte sich nichts an den nung unter Anweisung des Arztes.
grundsätzlichen Positionen der Pflegeorganisatio-
nen. Es gab noch immer keine einheitliche staatliche 2.5.2 Pflege im Nationalsozialismus und im
Regelung in der Ausbildung der Pflegekräfte. Die 2. Weltkrieg
1907 in Preußen eingeführte einjährige Ausbildung Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler
mit fakultativer Prüfung am Ende sollte 1921 von am 30. Januar 1933 begann der Nationalsozialismus
einer zweijährigen Ausbildung mit abschließender in Deutschland. Das Ermächtigungsgesetz vom 24.
staatlicher Prüfung abgelöst werden. Dieses Vor- März 1933 gab Hitler die Möglichkeit, das gesamte
haben scheiterte erneut an der Kritik der Mutter- öffentliche Leben, Justiz, Wirtschaft und Kultur nach
hausverbände, die in der Krankenpflege immer und nach unter die Kontrolle des mit der Partei
noch vor allem einen „Liebesdienst“ sahen. Die gleichgesetzten Staates zu bringen.
eher technischen Handgriffe und Fähigkeiten waren Es folgten die planmäßige Vernichtung der Juden,
für sie nachgeordnet und mussten von daher nicht die fast sechs Millionen Juden des europäischen Ju-
in einem solchem Umfang geschult werden. Ledig- dentums das Leben kostete, sowie die Auslöschung
lich die Länder Preußen und Hamburg übernahmen „unwerten“ Lebens durch die Euthanasie.
die zweijährige Ausbildung, wobei die Prüfung auf Die Annexions-, Unterdrückung- und Vernich-
Freiwilligkeit beruhte. tungspolitik gipfelte im Zweiten Weltkrieg
(1939 – 1945), in dem in den Jahren 1939 und

BAND 1 Pflege und Entwicklung 55


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

1940 nacheinander Polen, Dänemark, Norwegen, Die NS-Schwestern sollten die Elite der deut-
Niederlande, Belgien und Frankreich unterworfen schen Schwestern darstellen und wurden vor allem
wurden. Mit der Kriegserklärung an die USA wurde in der Gemeindepflege eingesetzt, da man annahm,
zugleich die Wende im 2. Weltkrieg eingeleitet. dass sie dort den größten ideologischen Einfluss
2 Die Invasion der westlichen alliierten Truppen im ausüben könnten. Sie wurden aufgrund ihrer brau-
Juni 1944 führte am 8. Mai 1945 zur bedingungs- nen Berufskleidung auch als „braune Schwestern“
losen Kapitulation des Deutschen Reichs. Mit dem bezeichnet.
Zusammenbruch Deutschlands wurde dem Natio- Voraussetzung für die Aufnahme in die Ausbil-
nalsozialismus ein Ende gesetzt. dung der NS-Schwesternschaft war ein Ariernach-
weis sowie die Teilnahme im weiblichen Arbeits-
▌ Neuorganisation der Krankenpflege dienst, ein Jahr in der Landwirtschaft oder im Haus-
Schon kurze Zeit nach der Machtübernahme begann halt sowie Kenntnisse in der Wochen-, Säuglings-
der nationalsozialistische Staat, das Bildungssystem oder der allgemeinen Krankenpflege.
und die Berufe nach den eigenen Vorstellungen aus- Nach ihrer Ausbildung legte die NS-Schwester
zurichten. Davon betroffen war auch die Ausbildung folgenden Eid ab: „Ich schwöre Adolf Hitler, meinem
und Organisation der Krankenpflege. Die verschie- Führer, unverbrüchliche Treue und Gehorsam. Ich
denen Schwesternverbände wurden zusammen- verpflichte mich, an jedem Platz, an den ich gestellt
geschlossen, der Beruf insgesamt aufgewertet. werde, meine Berufsaufgaben als nationalsozialisti-
Pflegekräfte waren in den Jahren 1933 – 1945 in sche Schwester treu und gewissenhaft im Dienst der
der Gemeindepflege und in Krankenhäusern tätig, Volksgemeinschaft zu erfüllen, so wahr mir Gott
sie waren aber auch am Kriegsdienst, in den Kon- helfe.“ (Bundesarchiv Koblenz, NS 37/1039)
zentrationslagern und an der Euthanasie beteiligt. Die verbliebenen freien Schwestern wurden im
Zunächst wurde versucht, die bestehende berufs- Oktober 1936 im „Reichsbund der freien Schwestern
politische Zersplitterung mit einer Neuorganisation und Pflegerinnen“ zusammengeführt. Damit waren
der Krankenpflege zu beheben. Ziel einer neuen Or- im „Fachausschuss für Schwesternwesen“ die be-
ganisation sollte die Vereinheitlichung und Bünde- kannten fünf großen Gruppen der Schwesternver-
lung der einzelnen Berufsverbände und die inhalt- bände vertreten:
liche Angleichung sein. Hiermit beabsichtigte man 1. die NS-Schwesternschaft („Braune Schwestern“),
vor allem, die kirchliche Verbände zu verdrängen, 2. der Reichsbund freier Schwestern und Pflegerin-
da man bei ihnen den größten Widerstand gegen nen („Blaue Schwestern“),
die nationalsozialistische Ziele vermutete. 3. die Schwesternschaft des Deutschen Roten Kreu-
Gleichzeitig sollte der Einfluss der Verbände, die zes,
nationalsozialistische Ziele vertraten, gesteigert 4. die Diakoniegemeinschaft,
werden. Verantwortlich für die Neuordnung wurde 5. der Caritasverband.
Erich Hilgenfeldt, der Mitglied des Sachverständi-
genbeirates für Volksgesundheit und Leiter der na- Die nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV)
tionalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) war, die wurde zum führenden Spitzenverband der fünf
die einflussreichste Organisation des Gesundheits- Krankenpflegeverbände.
wesens darstellte. Zunächst wurden Reichsfach- Das eigentliche Ziel, die Gleichschaltung der ver-
schaften gegründet, die die berufsständigen und be- schiedenen Verbände, konnte jedoch trotz der straf-
rufsfachlichen Interessen vertreten sollten. fen und vereinheitlichten Organisation nie erreicht
Darüber hinaus wurde das Amt für Volkswohl- werden.
fahrt beauftragt, eine eigene NS-Schwesternschaft
zu bilden, die zugleich Parteiorganisation der ▌ Ausbildungordnung im Nationalsozialismus
NSDAP sein sollte. Die meisten freien Schwestern Die Ausbildung der NS-Schwestern dauerte zunächst
wurden hier vereinigt und erhielten einen besseren zwei Jahre, die sie in einem Internat verbrachten. Die
Lohn sowie bessere Arbeits- und Ausbildungsbedin- Freizeit diente der weltanschaulichen Grundschu-
gungen. lung. Mit der Zeit wurden insgesamt 175 NS-Kran-
kenpflegeschulen und 10 Säuglingsschulen errichtet,
in denen NS-Schwestern ausgebildet wurden.

56 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.5 20. Jahrhundert

Am 28. September 1938 trat das „Gesetz zur Ord- Die Pflege war „als ausführendes Organ an allen
nung der Krankenpflege“ in Kraft und regelte damit Umsetzungsphasen der systematischen Vernichtung
erstmals die Krankenpflegeausbildung reichsein- beteiligt“ (Steppe 1993, S. 137) und gab sich dabei
heitlich. Bis dahin hatte die preußische Ausbil- zugleich der Illusion hin, ihrem humanitären Berufs-
dungsordnung von 1921 gegolten, die immer mehr ethos treu geblieben zu sein. Schwestern wie Pfleger
2
verändert und schließlich abgelöst wurde. Die Aus- waren während der Vergasungsaktionen in den Heil-
bildungsdauer wurde von bisher zwei auf eineinhalb anstalten und in der Phase der „wilden Euthanasie“,
Jahre verkürzt, da der Bedarf an Schwestern bei von November 1941 bis Juni 1943, anzutreffen. Wäh-
einer zweijährigen Ausbildung nicht mehr gedeckt rend der Vergasungsaktionen wurden von Januar
werden konnte. Erst 1943 wurde die Ausbildung 1940 bis August 1941 in sechs Anstalten nacheinan-
wieder auf 2 Jahre verlängert. der über 70 000 meldepflichtige Menschen getötet.
Die Ausbildungsinhalte, in § 8 geregelt, sahen vor Meldepflichtig waren sämtliche Patienten, die:
allem praktische Inhalte vor. Die 200 theoretischen ■ an Schizophrenie, Epilepsie, senilen Erkrankun-
Stunden waren mindestens zur Hälfte von Ärzten zu gen, Paralyse u. a. Lueserkrankungen, Schwach-
erteilen. Fächer der Erb- und Rassenkunde erfuhren sinn jeder Ursache, Enzephalitis, Huntington und
eine Aufwertung und sollten der Krankenschwester anderen neurologischen Erkrankungen litten,
eine Hilfestellung sein, wenn es darum ging, zwi- ■ sich seit mindestens fünf Jahren ununterbrochen
schen „Wert“ und „Unwert“ eines Menschen zu un- in Anstalten befanden,
terscheiden. Die hier ausgebildeten Krankenschwes- ■ als kriminelle Geisteskranke verwahrt wurden,
tern hatten vor allem Träger der nationalsozialisti- ■ nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen
schen Ideologie zu sein. oder nicht deutschen oder artverwandten Blutes
Die Ausbildung endete mit der staatlichen Kran- waren.
kenpflegeprüfung. Erstmals wurde diskutiert, dass
nur solche Personen die Krankenpflege ausüben, Im Rahmen der „wilden Euthanasie“ waren häufig
denen nach Abschluss der Ausbildung die Erlaubnis die Pflegekräfte allein tätig – auf Anordnung der
erteilt wurde. Ärzte. Durch Nahrungsentzug, Spritzen mit Luft
Schon ab 1930 wurde aus den Säuglings- und oder durch Medikamentengabe wurde getötet.
Kleinkinderpflegerinnen die Säuglings- und Klein- Auf der Suche nach Erklärungen für dieses Ver-
kinderschwestern. Aufgrund verschiedener Vor- halten kann man die Begründung häufig in einem
schriften wurde die Ausbildung reichseinheitlich ge- von Unterwürfigkeit und Gehorsam geprägten Be-
regelt und belief sich weiterhin auf zwei Jahre. rufsverständnis finden.
Orientiert am Gesetz zur Ordnung der Kranken- In den verschiedenen Prozessakten gaben Kran-
pflege wurde am 5. November 1939 eine Rechtsver- kenschwestern folgende Aussagen zu Protokoll:
ordnung über die berufsmäßige Ausübung der Säug-
lings- und Kinderpflege und der Errichtung entspre-
chender Schulen erlassen. Aussagen von Krankenschwestern
„Ich habe die Tötungen als Unrecht empfunden, so
▌ Aufgabenfelder der Krankenpflege im etwas durfte nicht geschehen. Die geschilderte Tätigkeit
habe ich deshalb ausgeführt, weil ich es als meine Pflicht
Nationalsozialismus
angesehen habe, ich denke, weil es mir meine Vorgesetz-
Nach Steppe (1993) gehörten zu den wichtigsten
ten so gesagt haben“ (Aussage Erna E., zitiert nach Step-
Aufgaben der Krankenpflege im Nationalsozialismus
pe 1993, S. 164). „Durch die langjährige Tätigkeit als
die Volksgesundheitspflege, die Krankenhauspflege,
Pflegerin, praktisch von meiner Jugend auf, war ich zu
die krankenpflegerische Versorgung des Parteiappa-
unbedingtem Gehorsam erzogen und Disziplin und Ge-
rates, die Kriegskrankenpflege, die Krankenpflege in
horsam waren oberstes Gebot in Pflegerinnenkreisen.
den eroberten Gebieten und die Beteiligung an den Wir alle und so auch ich fassten die Anordnungen der
Programmen zur Euthanasie. Ärzte, der Oberpflegerinnen und Stationspflegerinnen
Die Beteiligung an „Euthanasieprogrammen“ und als unbedingt zu befolgende Befehle auf und machten
an den „Menschenversuchen“ sollte als schrecklichs- uns oder konnten uns auch keine eigene Ansicht über die
tes „Arbeitsgebiet“ der deutschen Krankenpflege in Rechtmäßigkeit dieser Anordnungen machen. (...) Wie
die Geschichte eingehen.

BAND 1 Pflege und Entwicklung 57


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

strengungen eine pflegerische Versorgung zu ge-


schon wiederholt in dieser Vernehmung erwähnt, sah währleisten.
ich die Tötung der Geisteskranken als ein großes Un-
Insgesamt betrachtet wurde die Krankenpflege
recht an, und ich habe nie mit dem Vorsatz, einen
im Nationalsozialismus durch die verschiedenen
2 Menschen zu töten, ein Medikament verabreicht, son-
Aufgabenbereiche enorm aufgewertet und zu
dern habe stets dahinter eine entsprechende Anord-
einem wichtigen politischen Faktor. Der vorher ge-
nung oder einen Befehl, meine Pflichterfüllung als Be-
ring geschätzte, abwertend beurteilte Frauenberuf
amtin und die Unmöglichkeit einer Weigerung gese-
erhielt eine bedeutendere Stellung als jemals zuvor.
hen“ (Aussage M. T., zitiert nach Steppe 1993, S. 165).

Zusammenfassung:
Pflege im Nationalsozialismus
Die strikte Unterordnung unter die Ärzte und die ■ Zusammenschluss der verschiedenen Schwestern-
damit verbundene Gehorsamspflicht schienen dem- verbände,
nach vielen Pflegenden als Begründung für derartige ■ Aufwertung des Berufes, vielfältiger Einsatz:
Handlungen auszureichen. – Kriegseinsatz,
Die Krankenpflege im Dritten Reich führte in er- – Gemeindeschwester,
schreckender Weise das fehlende berufliche Selbst- – Krankenhaus,
verständnis vor Augen. In ungezählten Fällen wurde ■ „Braune Schwestern“, Elite der NS-Schwestern, die
allein aufgrund ärztlicher Anordnungen das Aus- ideologisch im Sinne der NSDAP wirken sollten,
löschen menschlichen Lebens legitimiert. ■ Beteiligung am Euthanasieprogramm: kritiklose
Ausführung der Anordnung der Ärzte,
▌ Widerstand des Pflegepersonals ■ vereinzelt Widerstand.
Parallel zu den Entwicklungen in der Bevölkerung
kam es auch unter den Pflegekräften vereinzelt 2.5.3 Neuordnung der Pflegeausbildungen nach
zum Widerstand gegen das nationalsozialistische 1945
Regime. So liegen Berichte von einzelnen Kranken- Nach Kriegsende begann rasch der Wiederaufbau
schwestern vor, die ihr Leben verloren aufgrund an- der deutschen Pflege, wobei bereits in den fünfziger
tifaschistischer Äußerungen. Jahren die Differenzen zwischen den verschiedenen
Die Diakonissin Ehrengard Frank-Schultz wurde, Berufsverbänden wieder deutlich zum Vorschein
nachdem sie das Misslingen des Attentats auf Hitler kam. Wieder einmal ging es darum, die Pflege zwi-
bedauert hatte, in Berlin-Plötzensee hingerichtet. schen Berufung und Beruf anzusiedeln.
Ebenfalls hier wurde die Krankenschwester Helene Die Neuordnung der Ausbildung in der Kranken-
Knotze hingerichet, nachdem sie vor Patienten ihren pflege stellt zugleich ein Spiegelbild der in der je-
Abscheu gegenüber Faschismus und Krieg geäußert weiligen Zeit vorherrschenden Berufsauffassung dar.
hatte. Luise Zorn, eine Krankenschwester aus Frank- So ist es nicht weiter verwunderlich, dass es bis
furt am Main, kümmerte sich um jüdische Patien- Mitte des 20. Jahrhunderts gedauert hatte, bis ein
ten, nachdem sich ihrer kein Arzt und Krankenhaus erstes bundeseinheitliches Ausbildungsgesetz ver-
mehr annahm. abschiedet wurde. Zu lange hatte die Auffassung
Selbst in den Konzentrationslagern gab es viele vorgeherrscht, dass die Krankenpflege als Dienst
Formen des Widerstandes, die häufig aus der Unter- der christlichen Nächstenliebe nur über ein geringes
wanderung bestehender Vorschriften, wie z. B. dem theoretisches Wissen verfügen müsse.
Verbot der medizinischen Versorgung von jüdischen Erst die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hat in
Patienten, bestanden. Im Konzentrationslager Da- diesem Zusammenhang zu einer Veränderung ge-
chau fälschte das Häftlingspersonal des Kranken- führt. Die Notwendigkeit theoretischen Wissens
hauses (Pflegekräfte, Ärzte) Unterlagen, um kranke und einer qualifizierten Ausbildung wurde erkannt
Häftlinge vor dem Abtransport in die Gaskammer zu und fand ihren Niederschlag in den verabschiedeten
bewahren. Viele jüdische Krankenschwestern, die Krankenpflegegesetzen.
im Konzentrationslager Theresienstadt inhaftiert
waren, versuchten unter übermenschlichen An-

58 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.5 20. Jahrhundert

▌ Krankenpflegegesetz vom 15. Juli 1957 Schwesternverbänden, eine Neuregelung der Kran-
Bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland kenpflegeausbildung zu planen.
im Mai 1949 hatten die Länderregierungen von Bre- In den Regierungsentwurf flossen schließlich ein-
men, Niedersachsen und Hamburg die bestehenden zelne Elemente eines SPD-Antrages, wie z. B. die er-
Vorschriften der Krankenpflegeausbildung von 1938 schwerte Zugangsberechtigung zur Krankenpfle-
2
verändert. Mit dem Grundgesetz erhielt der Bund geausbildung, ein, und mit dem folgenden Gesetz-
die Zuständigkeit für die Regelung der Krankenpfle- gebungsverfahren trat das Gesetz am 20. September
geausbildung, womit die Krankenpflegeverordnun- 1965 in Kraft. Mit der Einführung der Ausbildung für
gen von 1938 nur noch durch ein Bundesgesetz ge- Krankenpflegehelferinnen und -helfer wurde auch
ändert werden konnten. der Titel des Gesetzes verändert. Das Gesetz sollte
Schon bald darauf entstand die Diskussion um nur noch „Krankenpflegegesetz“ heißen. Ein Schutz
ein bundeseinheitliches Krankenpflegegesetz. der Berufsausübung wurde auch in diesem Gesetz
Am 2. Februar 1955 erhielten die Landesbehör- nicht formuliert. In der Folge wurde das Gesetz
den vom Bundesinnenministerium den Referenten- durch das Änderungsgesetz vom 3. September 1968
entwurf eines Gesetzes über die Ausübung der und das Änderungsgesetz vom 4. Mai 1972 verändert.
Kranken- und Kinderkrankenpflege. In dem Gesetz Die Änderungen setzten das Mindestalter für die
sollten erstmalig die Berufe der Krankenschwester Ausbildung herab und verlängerten die Übergangs-
und der Kinderkrankenschwestern zusammenge- frist hinsichtlich der schulischen Voraussetzungen.
fasst werden, und anstelle der 1940 geschaffenen
„Säuglings- und Kinderschwester“ sollte die Berufs- ▌ Krankenpflegegesetz vom 4. Juni 1985
bezeichnung „Kinderkrankenschwester“ stehen. Die Das novellierte Krankenpflegegesetz von 1965 hatte
gesetzliche Neuregelung, die am 16. Juni 1957 in 20 Jahre Gültigkeit und wurde nach lang anhalten-
Kraft trat, beinhaltete u. a. folgende Punkte: den Diskussionen 1985 abgelöst. Dabei ist wohl sel-
■ die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeich- ten „die Schaffung einer gesetzlichen Regelung für
nung, einen so relativ eng begrenzten Bereich mit so viel
■ die Dauer der Ausbildung von insgesamt drei Jah- Zeitaufwand, so vielen Entwürfen, Stellungnahmen,
ren (zwei Jahre Lehrgang, ein Jahr Praktikum), Anhörungen und nicht zuletzt mit so vielen Emotio-
■ mind. 400 Stunden theoretischer und praktischer nen der Beteiligten und Betroffenen verbunden ge-
Unterricht. wesen wie das im Juni 1985 verabschiedete Kran-
kenpflegegesetz.“ (Kruse 1987, S. 135)
Zwischen den Schwesternverbänden und den Be- Am 4. Juni 1985 wurde das „Gesetz über die Be-
rufsorganisationen hatte es während der Entste- rufe in der Krankenpflege“ (Krankenpflegegesetz –
hung des Gesetzes vor allem Streit um die Dauer KrPflG) als neues Krankenpflegegesetz vom Deut-
der Ausbildung und den Umfang des theoretischen schen Bundestag verabschiedet.
Unterrichtes gegeben. Vor allem die katholischen Im § 4 des Krankenpflegegesetzes werden die
Schwesternverbände waren es, die sich für die Bei- Zielsetzungen der Ausbildung genannt und mittel-
behaltung der zweijährigen Ausbildung einsetzten. bar auch die Aufgaben des ausgebildeten Pflegeper-
Demgegenüber standen viele Stimmen, die die sonals.
Dauer der Ausbildung als zu kurz ansahen. Mit dem neuen Gesetz wurden zugleich die in
Das verabschiedete Gesetz fand deswegen kaum einer EU-Richtlinie geforderten Normen umgesetzt.
Zustimmung und führte dazu, dass schon bald da- Das Krankenpflegegesetz vom 4. Juni 1985 ver-
rauf Bestrebungen bzgl. einer Novellierung des Ge- ankerte erstmals die Durchführung einer geplanten
setzes unternommen wurden. Pflege. Der Schutz der Berufsausübung in der Kran-
kenpflege wurde wiederum nicht gesetzlich gere-
▌ Krankenpflegegesetz vom 20. September 1965 gelt.
Das Krankenpflegegesetz von 1965 stellte kein
neues Gesetz im eigentlichen Sinne dar, sondern le-
diglich eine Novellierung des Gesetzes von 1957.
Bereits 1961 begann ein Ausschuss der Deutschen
Krankenhausgesellschaft in Zusammenarbeit mit

BAND 1 Pflege und Entwicklung 59


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

▌ Entwicklung der Ausbildung in der Spezialisierung möglich sein sollte. Dieser Vorschlag
Kinderkrankenpflege wurde jedoch nicht umgesetzt. Mit dem Kranken-
Mit dem Krankenpflegegesetz von 1957 wurde die pflegegesetz von 1985 wurde die Zahl der theoreti-
Berufsbezeichnung „Kinderkrankenschwester/pfle- schen Stunden und auch die Zahl der praktischen
2 ger“ erstmals auch im Gesetz genannt und damit Stunden in der Kinderkrankenpflegeausbildung ana-
gesetzlich geschützt, darüber hinaus wurde die Aus- log zur Krankenpflege erhöht.
bildung auf drei Jahre festgelegt. Die theoretische Das Krankenpflegegesetz von 2003 erhöht auch
Ausbildung sollte mindestens 400 Stunden Unter- für die Kinderkrankenpflege die Theoriestunden auf
richt umfassen. Schon zum damaligen Zeitpunkt 2100. Im Rahmen des Unterrichts fallen 500 Stun-
wurden Bedenken laut, in wie weit eine eigenstän- den auf die Differenzierungsphase in der Gesund-
dige Ausbildung für die Kinderkrankenpflege not- heits- und Kinderkrankenpflege.
wendig sei. Ein Zitat von 1956 gibt einen Hinweis
auf die damals geführte Diskussion: ▌ Entwicklung der Ausbildung in der Altenpflege
„Die Sonderstellung der Kinderkrankenschwester Die Altenpflege hat sich als eigenständiger Beruf erst
ist, historisch gesehen, eine spezifische Begleit- in der jüngsten Vergangenheit herausgebildet. Bis
erscheinung des Aufblühens der Kinderheilkunde Mitte der fünfziger Jahre wurde die Altenpflege in
in Deutschland. Sie ist insofern eine nationale Eigen- den Familien überwiegend von Ordensschwestern
tümlichkeit, die es in dieser Form so in anderen und Diakonissen geleistet, die als „Gemeindeschwes-
Ländern nicht gibt. Wenn in diesen Ländern die Kin- tern“ von Kirchen und Gemeinden angestellt wurden.
derkrankenschwestern die gleiche Primärausbil- Die veränderten sozialen Strukturen machen
dung erfährt als das Krankenpflegepersonal in den eine Betreuung und Aufnahme der alten und kran-
anderen Spezialkliniken, halten wir dies in Deutsch- ken Angehörigen in die Familien schon häufig aus
land für falsch und sind nicht bereit, auf die Sonder- räumlichen Gründen nicht mehr möglich und mach-
stellung der beruflichen Eigenständigkeit der Kin- te die Errichtung von Altenheimen notwendig. Zu-
derkrankenschwester zu verzichten“ (BA 1997, nächst waren es un- und angelernte Pflegekräfte,
S. 67). Das entscheidende Argument für ein Beibe- die hier eingesetzt wurde.
halten der eigenständigen Ausbildung war die The- In den fünfziger Jahren wurden erste Kurzlehr-
se, dass kranke Kinder besondere Schwestern brau- gänge zur Qualifizierung angeboten, um den Bedürf-
chen. Die Argumentation begründete sich des Wei- nissen der alten, nur zum Teil pflegebedürftigen
teren darauf, dass für Kinderkrankenschwestern Menschen gerecht zu werden. Die Pflege der alten
neben dem Aufgabengebiet der Krankenschwester Menschen wurde bis in die siebziger Jahre hinein als
erzieherische Aufgaben hinzu kämen, auch spiele Teil der Krankenpflege beschrieben.
sie die Rolle der Mutter. Um die Attraktivität der Arbeit in der Altenpflege
In den sechziger Jahren änderte sich diese Posi- zu erhöhen, wurde das eigenständige Berufsbild „Al-
tion. Zunehmend erkannte man die Bedeutung der tenpflege“ entwickelt. Im Rahmen einer Ausbildung
familiären sozialen Kontakte und öffnete die Statio- sollten nun sozial- und medizinalpflegerische Tätig-
nen für Eltern, die Besuchszeiten wurden gelockert; keiten vermittelt werden, die auf einen Einsatz der
ein Elternteil konnte bei dem kranken Kind bleiben. Altenpflegerinnen in Einrichtungen der Altenhilfe
Die Kinderkrankenschwester wurde zur Partnerin sowie in ambulanten Pflegediensten vorbereiten
der Eltern. sollten.
1965 wurde das Krankenpflegegesetz novelliert Es wurden erste Altenpflegeschulen eingerichtet,
und 1966 durch die Ausbildungs- und Prüfungsord- und 1969 erließ Nordrhein–Westfalen die erste Aus-
nung ergänzt. Die Kinderkrankenpflege wurde als bildungsordnung mit staatlicher Abschlussprüfung.
eigenständige Ausbildung mit aufgenommen und Etwas später folgten weitere Bundesländer. Eine ta-
stand nun gleichberechtigt neben der Krankenpfle- rifliche Gleichstellung mit der Krankenpflege erfolg-
ge. te in den Jahren 1988/89.
1969 wurde vom Agnes-Karll-Verband, dem spä- Seit den 80er-Jahren gab es vermehrt Bestrebun-
teren DBfK, ein Vorschlag formuliert, wonach die gen, die Altenpflegeausbildung, ähnlich wie die
Kinderkrankenpflege in die Krankenpflegeausbil- Krankenpflegeausbildung, bundeseinheitlich zu re-
dung mit integriert werden und anschließend eine geln.

60 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.6 21. Jahrhundert

„Gesundheits- und Krankenpfleger“ bzw. „Gesund-


2.6 21. Jahrhundert heits- und Kinderkrankenpflegerin“ oder „Gesund-
heits- und Kinderkrankenpfleger“ Folge geleistet. Im
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht Deutschland Weiteren wird in § 3 das Ausbildungsziel benannt:
vor einem Bevölkerungswandel, der sich durch die „(1) Die Ausbildung für Personen nach § 1 Abs. 1
2
gestiegene Lebenserwartung, durch die sinkenden Nr. 1 und 2 soll entsprechend dem allgemein aner-
Geburtenraten sowie die Migration erklären lässt. kannten Stand pflegewissenschaftlicher, medizi-
Der Wandel verlangt eine Anpassung der sozialen nischer und weiterer bezugswissenschaftlicher Er-
Sicherungssysteme an die neuen Rahmenbedingun- kenntnisse fachliche, personale, soziale und metho-
gen und fordert die Pflegeberufe auf, sich frühzeitig dische Kompetenzen zur verantwortlichen Mitwir-
auf die veränderten gesellschaftlichen Anforderun- kung insbesondere bei der Heilung, Erkennung und
gen einzustellen. Hinzu kommen gesundheitspoliti- Verhütung von Krankheiten vermitteln. Die Pflege
sche Veränderungen sowie berufspolitische Diskus- im Sinne von Satz 1 ist dabei unter Einbeziehung
sionen, die die Professionalisierung der Pflegeberufe präventiver, rehabilitativer und palliativer Maßnah-
weiter vorantreiben. In 2016 gelten noch das Kran- men auf die Wiedererlangung, Verbesserung, Erhal-
kenpflegegesetz und das Altenpflegegesetz von tung und Förderung der physischen und psy-
2003, deren Ablösung jedoch abzusehen ist. Gründe chischen Gesundheit der zu pflegenden Menschen
hierfür liegen einerseits in den berufspolitischen auszurichten. Dabei sind die unterschiedlichen Pfle-
Forderungen, aufgestellt vom Deutschen Bildungsrat ge- und Lebenssituationen sowie Lebensphasen und
für Pflegeberufe sowie dem Deutschen Pflegerat die Selbstständigkeit und Selbstbestimmung der
und präzisiert im Bildungskonzept „Pflege offensiv“ Menschen zu berücksichtigen (Ausbildungsziel).“
von 2006/2009. Im März 2016 legt die Bundesregie- (BGBl. 2003 Teil I, Nr. 36).
rung einen Gesetzentwurf zur Reform der Pflegebe- Deutlich wird in der Erweiterung des Gesamtaus-
rufe vor. Mit der Pflegebildungsreform sollen die bildungszieles auf präventive, rehabilitative und pal-
drei Ausbildungen zu einer einheitlichen gemein- liative Maßnahmen der gleichberechtigte Stellen-
samen Ausbildung mit den Berufsabschlüssen Pfle- wert von Kuration und Prävention. In der Ausbil-
gefachfrau und Pflegefachmann zusammengeführt dungs- und Prüfungsverordnung (KrPflAPrV) vom
werden. 10. November 2003 werden der theoretische und
der praktische Unterricht in zwölf Themenbereiche
2.6.1 Gesetz über die Berufe in der gegliedert, die eine am pflegerischen Handeln ori-
Krankenpflege entierte, fächerintegrative und kompetenzorientier-
Das Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege te Ausbildung in der Pflege verlangen:
(Krankenpflegegesetz, KrPflG) ist am 01. Januar 1. Pflegesituationen bei Menschen aller Alters-
2004 in Kraft getreten. Die neue Ausbildungs- und gruppen erkennen, erfassen und bewerten,
Prüfungsverordnung für die Berufe in der Kranken- 2. Pflegemaßnahmen auswählen, durchführen und
pflege (KrPflAPrV) wurde am 19. November 2003 auswerten,
veröffentlicht. Das neue Krankenpflegegesetz impli- 3. Unterstützung, Beratung und Anleitung in ge-
ziert insbesondere mehr Verantwortung für die ei- sundheits- und pflegerelevanten Fragen fach-
gene Gesundheit. Aufgrund der notwendig gewor- kundig gewährleisten,
denen Angleichungen von Berufsausbildungen im 4. Bei der Entwicklung und Umsetzung von Reha-
Kontext der Europäischen Union erhielt zugleich bilitationskonzepten mitwirken und diese in das
das Thema „Gesundheitsförderung“ einen weitaus Pflegehandeln integrieren,
größeren Stellenwert im Rahmen der Pflegeausbil- 5. Pflegehandeln personenbezogen ausrichten,
dung als zuvor. Dies findet bereits in der veränder- 6. Pflegehandeln an pflegewissenschaftlichen Er-
ten Berufsbezeichnung seinen Niederschlag. Wäh- kenntnissen ausrichten,
rend im vorangegangenen Gesetz die Berufsbezeich- 7. Pflegehandeln an Qualitätskriterien, rechtlichen
nungen „Krankenschwester“ oder „Krankenpfleger“ Rahmenbestimmungen sowie wirtschaftlichen
lauteten, wird hier dem neuen Auftrag der Gesund- und ökologischen Prinzipien ausrichten,
heitsförderung bereits in den neuen Berufsbezeich- 8. Bei der medizinischen Diagnostik und Therapie
nungen „Gesundheits- und Krankenpflegerin“ oder mitwirken,

BAND 1 Pflege und Entwicklung 61


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

9. Lebenserhaltende Sofortmaßnahmen bis zum probt. Integrative, integrierte und generalistische


Eintreffen der Ärztin oder des Arztes einleiten, Modellversuche zur Ausbildung in der Gesundheits-
10. Berufliches Selbstverständnis entwickeln und und Krankenpflege, Gesundheits- und Kinderkran-
lernen, berufliche Anforderungen zu bewältigen, kenpflege und Altenpflege sollen bis zur nächsten
2 11. Auf die Entwicklung des Pflegeberufs im gesell- Gesetzesnovelle fundierte Erkenntnisse liefern, in-
schaftlichen Kontext Einfluss nehmen wieweit eine Zusammenführung der drei Pflegeaus-
12. In Gruppen und Teams zusammenarbeiten“ bildungsgänge machbar und sinnvoll ist.
(KrPflAPrV, Anlage 1 zu § 1 Abs. 1).

!
Merke: Das Krankenpflegegesetz von 2003
Die praktische Ausbildung findet analog zu den führt zu einer Änderung der Berufsbezeich-
möglichen künftigen Arbeitsbereichen in stationä- nung, erhöht die Anzahl der Theoriestunden
ren Versorgungsangeboten statt sowie in rehabilita- und betont den Aspekt der Gesundheitsförderung als
tiven und palliativen Gebieten, darüber hinaus in berufliche Aufgabe.
der ambulanten Versorgung in präventiven, kurati-
ven, rehabilitativen und pallitativen Gebieten. 2.6.2 Gesetz über die Berufe in der Altenpflege
In Tab. 2.6 werden die Krankenpflegegesetze von Mit dem Gesetz über die Berufe in der Altenpflege
1939, 1957, 1965, 1985 und 2003 und die jeweiligen (Altenpflegegesetz – AltPflG), das am 01. August
Ausbildungs- und Prüfungsordnungen einander ge- 2003 in Kraft getreten ist, wird erstmals die Ausbil-
genübergestellt. dung in der Altenpflege bundeseinheitlich geregelt.
Die seit Beginn der 90er-Jahre stattgefundene Es löst gleichzeitig die bis dahin gültigen 16 länder-
Akademisierung und der Wissenszuwachs auch in spezifischen Regelungen ab. Neu ist damit auch, dass
pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen, zeigt sich die Altenpflege nun explizit den Heilberufen zuge-
an vielen Stellen im neuen Gesetz und verdeutlicht ordnet wird. Die Ausbildung in der Altenpflegehilfe
die Entwicklungen der Pflegeberufe. An vielen Aus- wird wie bisher von den Bundesländern geregelt. Ein
bildungsstätten werden in Anwendung der sog. wesentliches Ziel des Gesetzes ist es, bundesweit ein
„Modellversuchsklausel“ (§ 4 Abs. 6 KrPflG), die einheitliches Ausbildungsniveau sicherzustellen, da-
gleichlautend auch im Altenpflegegesetz von 2003 rüber hinaus das Berufsbild attraktiver zu gestalten
zu finden ist, unterschiedliche Konzepte für Ausbil- und insgesamt dem Beruf ein klares Profil zu geben.
dungsinhalte und –strukturen entwickelt und er- Über die bundesweit einheitliche Regelung der Aus-

Tab. 2.6 Gegenüberstellung der Krankenpflegegesetze und Ausbildungs- und prüfungsordnungen von 1938, 1957, 1965,
1985 und 2003

Gesetz Zugangsalter Dauer der Theoretischer Unter- Krankenpflegeunterricht Praktikum


Ausbildung richt/praktischer
Unterricht

Gesetz zur Ordnung der Krankenpflege vom 18 Jahre 1½ Jahre 200/ Ohne Angaben 1 Jahr
28. September 1938

Krankenpflegegesetz vom 15. Juli 1957 18 Jahre 2 Jahre 400/ Ohne Angaben 1 Jahr

Krankenpflegegesetz vom 20. September 18 Jahre 3 Jahre 1200/ 250 Std. –


1965

Fassung vom 3. September 1968 17 Jahre 3 Jahre –

Fassung vom 4. Mai 1972 17 Jahre 3 Jahre –

Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege 17 Jahre 3 Jahre 1600/3000 Std. 480 Std. –
vom 4. Juni 1985

Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege 17 Jahre 3 Jahre 2100/2500 Std. 950 Std. –
vom 16. Juli 2003

62 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.6 21. Jahrhundert

bildungsstrukturen, Ausbildungsinhalte und der Prü- betreut werden. Hierzu zählen u. a. geriatrische Re-
fungsanforderungen soll dieses Ziel erreicht werden. habilitationseinrichtungen, psychiatrische Kliniken
Im Rahmen der Ausbildung wird das medizinisch- mit gerontopsychiatrischen Abteilungen oder Ein-
pflegerische Kompetenzprofil gestärkt, und es wer- richtungen der offenen Altenhilfe
den sozialpflegerische und gerontologische Kennt- Die rechtlichen Strukturen der Ausbildung in der
2
nisse und Fähigkeiten vermittelt. Die Ausbildungszie- Altenpflege werden in Abb. 2.17 dargestellt.
le in § 3 des Altenpflegegesetzes verdeutlichen den

!
veränderten Verantwortungsbereich der Berufs- Merke: Mit dem Gesetz über die Berufe in
angehörigen und betonen die Notwendigkeit der Be- der Altenpflege vom 01. August 2003 wird
fähigung zum eigenverantwortlichen Handeln: die Ausbildung in der Altenpflege erstmals
„Die Ausbildung in der Altenpflege soll die bundeseinheitlich geregelt.
Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln,
die zur selbstständigen und eigenverantwortlichen 2.6.3 Ausblick
Pflege einschließlich der Beratung, Begleitung und Eine Reform der Ausbildungsgesetze der drei Pflege-
Betreuung alter Menschen erforderlich sind. Dies fachberufe (Altenpflege, Gesundheits- und Kranken-
umfasst insbesondere: pflege, Gesundheits- und Kinderkrankenpflege)
1. die sach- und fachkundige, den allgemein aner- wurde im Juni 2017 im Deutschen Bundestag be-
kannten pflegewissenschaftlichen, insbesondere schlossen. Am 22. Juni 2017 wurde das Pflege-
den medizinisch-pflegerischen Erkenntnissen berufsreformgesetz verabschiedet. Die neuen Aus-
entsprechende, umfassende und geplante Pfle- bildungsgänge starten 2020.
ge, Nach 10 Jahren Diskussion fand am 18. März
2. die Mitwirkung bei der Behandlung kranker 2016 die 1. Lesung des Gesetzes zur Neuregelung
alter Menschen einschließlich der Ausführung der Pflegeberufe im Deutschen Bundestag statt. Die
ärztlicher Verordnungen, einheitliche Ausbildung zur Pflegefachfrau oder zum
3. die Erhaltung und Wiederherstellung individu- Pflegefachmann sollte übergreifende Qualifikatio-
eller Fähigkeiten im Rahmen geriatrischer und nen vermitteln, mit dem Ziel, Menschen aller Alters-
gerontopsychiatrischer Rehabilitationskonzepte, gruppen in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen
4. die Mitwirkung an qualitätssichernden Maß- und im ambulanten Versorgungsbereich pflegen zu
nahmen in der Pflege, der Betreuung und der können.
Behandlung, Uneinigkeiten in der CDU/CSU-Bundestagsfrakti-
5. die Gesundheitsvorsorge einschließlich der Er- on führen Ende 2016 dazu, dass das Gesetzgebungs-
nährungsberatung, verfahren ins Stocken gerät. Im April 2017 verstän-
6. die umfassende Begleitung Sterbender, digen sich die Vertreter von CDU/CSU und SPD auf
7. die Anleitung, Beratung und Unterstützung von einen Kompromiss. Es soll für alle Pflegeberufe zu-
Pflegekräften, die nicht Pflegekräfte sind, nächst eine zweijährige gemeinsame Ausbildung ge-
8. die Betreuung und Beratung alter Menschen in ben. Anschließend können die Auszubildenden wäh-
ihren persönlichen und sozialen Angelegenhei- len, ob sie sich weiter in der generalistischen Pflege
ten, zur Pflegefachkraft ausbilden lassen wollen oder
9. die Hilfe zur Erhaltung und Aktivierung der ei- sich für eine einjährige Spezialisierung zur Alten-
genständigen Lebensführung einschließlich der oder Kinderkrankenpflege entscheiden. Wer nach
Förderung sozialer Kontakte, zwei Jahren die Ausbildung beendet, erwirbt den
10. die Anregung und Begleitung von Familien- und Abschluss des Pflegeassistenten. Bis zum
Nachbarschaftshilfe und die Beratung pflegen- 31. 12. 2025 soll die Anzahl der separaten Abschlüs-
der Angehöriger“ (BGBl. 2003 Teil I, Nr. 44). se ausgewertet werden und haben dann mehr als 50
Prozent den generalistischen Abschluss gewählt, sol-
Die praktische Ausbildung in der Altenpflege findet len die eigenständigen Berufsabschlüsse auslaufen
primär in stationären sowie in ambulanten Pfle- und nicht mehr weitergeführt werden.
geeinrichtungen statt. Einzelne Abschnitte der prak-
tischen Ausbildung können in anderen Einrichtun-
gen stattfinden, in denen ebenfalls alte Menschen

BAND 1 Pflege und Entwicklung 63


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

Abb. 2.17 Strukturen der Ausbildung in der Altenpflege

!
Merke: Die berufspolitischen und gesund- Möglichkeit zur Weiterbildung können sich Pflegen-
heitspolitischen Aktivitäten weisen auf eine de seit Anfang der 1990er-Jahre für Management,
generalistische Pflegeausbildung hin. Lehre und Wissenschaft innerhalb eines Studien-
gangs weiter qualifizieren. In 2016 bieten 78 Univer-
2.6.4 Weiterbildungsmöglichkeiten für sitäten, Fachhochschulen und Akademien ein Pfle-
Pflegepersonen gestudium in Deutschland an. Das Angebot umfasst
Mit der Etablierung der Intensivmedizin Mitte der 149 Pflegestudiengänge. Führend ist dabei die Pfle-
60er Jahre wurde die Pflege aufgefordert, sich den gewissenschaft gefolgt von Pflegemanagement und
neuen medizintechnischen Anforderungen zu stel- Pflegediagnostik.
len. Es entwickelten sich erste Spezialisierungslehr-

!
gänge für den Intensiv-, Operations- und Anästhe- Merke: Fort- und Weiterbildungen sowie
siebereich. In den folgenden Jahren entstanden für pflegerische Studiengänge bieten den Pflege-
die unterschiedlichen Einsatzfelder zusätzliche Wei- personen zahlreiche Möglichkeiten sich be-
terbildungslehrgänge. Heute gibt es u. a. in folgen- ruflich weiter zu bilden und akademisch zu qualifizie-
den Bereichen die Möglichkeit, die Weiterbildung ren.
zur Fachkrankenschwester bzw. zum Fachkranken-
pfleger zu absolvieren:
■ Intensivpflege, Arbeitsfelder von Pflegepersonen
■ Funktionsdienste (OP/Endoskopie), Gesundheits- und Krankenpfleger sowie Gesundheits-
■ Onkologie, und Kinderkrankenpfleger finden in der Pflegepraxis
■ Psychiatrie, unterschiedlichste stationäre, teilstationäre und ambu-
■ Rehabilitation. lante Versorgungsstrukturen vor, in denen pflegerische
Handlungskompetenz gefragt ist.
Die Weiterbildungen sind in der Regel berufsbeglei- Stationäre Einrichtungen:
tend organisiert und dauern zwei Jahre. Neben der ■ Allgemeinkrankenhäuser,
■ Fachkrankenhäuser,

64 Pflege und Entwicklung BAND 1


2.6 21. Jahrhundert

■ Rehabilitationskliniken, welches 2006 in seiner neuesten Version veröffentlicht


■ stationäre Hospizeinrichtungen. wurde. Die Grundzüge werden in Abb. 2.18 dargestellt.
Teilstationäre Einrichtungen: In seinem Bildungskonzept formuliert der Deutsche Bil-
■ psychiatrische Tagesklinik, dungsrat für Pflegeberufe erneut die Forderung nach
■ Schmerztagesklinik. einer Zusammenführung der Ausbildung der Gesund- 2
heits- und Kranken- bzw. Kinderkrankenpfleger und Al-
Ambulante Einrichtungen:
tenpfleger als generalistische Ausbildung und die An-
■ ambulante Kinderkrankenpflege,
siedlung an Hochschulen.
■ ambulante Pflege im Rahmen von Institutsambulan-
zen.

Altenpfleger finden in ihrer Praxis ebenfalls unter-


2.6.5 Berufspolitische Entwicklungen
schiedliche stationäre, teilstationäre und ambulante
In zahlreichen Pflegeorganisationen können sich
Versorgungsstrukturen vor, in den Aufgabenfelder für
Pflegende heute verbandlich organisieren, berufs-
sie zu identifizieren sind.
politisch vertreten und im Rahmen einer Berufshaft-
Stationäre Einrichtungen: pflichtversicherung absichern lassen. Der größte
■ Altenheime, und älteste Berufsverbund ist der Deutsche Berufs-
■ geriatrische Rehabilitationseinrichtungen, verband für Pflegeberufe (DBfK), der bereits 1903
■ Kliniken mit gerontopsychiatrischen Abteilungen. durch Agnes Karll gegründet wurde. Der DBfK ist
Teilstationäre Einrichtungen: föderal organisiert und nimmt seine Aufgaben so-
■ gerontopsychiatrische Tageskliniken, wohl durch Landesverbände als auch durch den
■ Tagespflege in Altenheimen. Bundesverband wahr. Im International Council of
Nurses ICN vertritt der DBfK Deutschland. Ein wei-
terer großer Verband ist die Arbeitsgemeinschaft
Deutscher Schwesternverbände und Pflegeorganisa-
Akademisch qualifizierte Pflegepersonen sind meist tionen e. V. (ADS). Sie ist der Zusammenschluss von
in Management (Pflegedienstleitungspositionen) Mutterhausverbänden, Schwesternverbänden, Ver-
und Lehre (Lehrer an Krankenpflege- und Altenpfle- bänden und Pflegeorganisationen, die im Bereich
geschulen) zu finden. Darüber hinaus sind mögliche des Deutschen Caritasverbandes, des Diakonischen
Tätigkeitsfelder die Arbeit in Fachverlagen, Berufs- Werkes der EKD und des Deutschen Roten Kreuzes
verbänden, Krankenkassen sowie im Finanz–Con- die Belange der Pflegeberufe vertreten. Die Pflegen-
trolling von Krankenhäusern. den in der Kinderkrankenpflege wurden ursprüng-
lich durch den Arbeitskreis der Kinderkrankenpfle-
gerinnen AKK vertreten. Dieser ging 1991 in den
Bildungskonzept des Deutschen Bildungsrates Berufsverband für Kinderkrankenschwestern und
für Pflegeberufe Kinderkrankenpfleger e. V. (BKK) über und wurde
Der Deutsche Bildungsrat für Pflegeberufe (DBR) be- 1999 in den Berufsverband Kinderkrankenpflege
fasst sich seit 1993 mit allen Aspekten der Aus-, Fort- Deutschland e. V. (BeKD) umbenannt. Im Bereich
und Weiterbildung in den Pflegeberufen. Der Bildungs-
der Altenpflege vertritt seit 1974 der Deutsche Be-
rat setzt sich aus Experten der Arbeitsgemeinschaft
rufsverband für Altenpflege e. V. DBVA die Belange
Deutscher Schwesternverbände und Pflegeorganisatio-
der in der Altenpflege tätigen Pflegepersonen.
nen e. V. ADS, dem Deutschen Berufsverband für Pfle-
Die Aufgaben der Berufsverbände bestehen ins-
geberufe DBfK und dem Bundesausschuss der Lehrerin-
besondere in:
nen und Lehrer für Pflegeberufe e. V. BA zusammen.
■ Interessenvertretung,
Als Partner der Spitzenorganisationen der Selbstverwal-
tung in Gesundheits- und Sozialwesen vertritt der Deut-
■ Beratung der Mitglieder,
sche Bildungsrat die Belange des Pflege- und Hebam-
■ Vertretung der Mitglieder auf politischer Ebene,
menwesens und koordiniert die Positionen seiner Mit- ■ Mitwirkung bei der Weiterentwicklung der Pfle-
gliederverbände. In der Auseinandersetzung mit den geberufe,
Themen der Pflegebildung hat der Deutsche Bildungs- ■ Möglichkeit einer Berufs- und Haftpflichtver-
rat für Pflegeberufe ein Bildungskonzept entworfen, sicherung,
■ Bereitstellung einer Verbands-/Fachzeitschrift.

BAND 1 Pflege und Entwicklung 65


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

ãPflegebildung Ð offensivÒ
Pflegeberufliche Bildung im Pflegeberufliche Bildung im
sekundŠren Bildungssystem tertiŠren Bildungssystem
2
Weiterbildung

Promotion

Modularisierte Weiterbildungen Master Weiterbil- Master of


¥ Manage- dungsmaster Education
Funktionsbezogene Fachbezogene ment ¥ Management ¥Lehramt an be-
Weiterbildungsmodule Weiterbildungsmodule ¥ Wissen- ¥ Wissenschaft ruflichen Schulen
Lebenslanges Lernen

mit Abschluss mit Abschluss schaft ¥ u.a. Ð Fachrichtung


¥ u.a. Gesundheit/Pflege
konsekutiv konsekutiv
Berufsbildung

ãHšhere BerufsfachschulenÒ Hochschulen Hochschulen


Gesundheit und Pflege Module Bachelor of nursing Module Bachelor of
Berufsqualifizierung mit zur An- Berufsqualifizierung zur An- education
Berufszulassung: rechnung mit Berufszulassung: rechnung Bildung
Gesundheit und Pflege Gesundheit und Pflege Beratung

Abschluss: Sekundarstufe I Abschluss: Sekundarstufe I


Schulbildung

2-jŠhrige BFS Realschule, Gymnasium, Gymnasium,


Gesundheit/Pflege Gesamtschule, Fachoberschule,
mit beruflichem Berufliche Schule, Gesamtschule,
Abschluss: Hauptschule mit quali- Berufliche Schule
Assistent/in Pflege fiziertem Abschluss

Abb. 2.18 Bildungskonzept des Deutschen Pflegerats für Pflegeberufe (2009)

Als Dachverband der elf bedeutendsten Pflege- und tet. Diese hat am 01. Januar 2016 ihre Arbeit auf-
Berufsverbände fungiert der Deutsche Pflegerat e. V. genommen. Weitere Bundesländer wollen folgen.
In ihm sind u. a. neben der ADS, dem DBfK und dem

!
BeKD auch der Bundesausschuss der Lehrerinnen Merke: Im Deutschen Pflegerat sind die elf
und Lehrer für Pflegeberufe e. V. BA, der Verband bedeutendsten Pflegeverbände vertreten.
Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Pflegeper- Rheinland-Pfalz hat die erste Pflegekammer
sonen e. V. BALK und der Deutsche Pflegeverband in Deutschland errichtet.
e. V. DPV organisiert. Als Spitzenverband des deut-
schen Pflege- und Hebammenwesens koordiniert Fazit: Die Anfänge der organisierten Pflege
und steuert der Deutsche Pflegerat e. V. u. a. die wurden mit dem Christentum in der späten
Durchsetzung der berufspolitischen Ziele und för- Antike begründet. Das Gebot der christli-
dert die berufliche Selbstverwaltung. Der Deutsche chen Nächstenliebe, der Caritas, verpflichtete zum
Pflegerat e. V. (DPR) begrüßt die politischen Initiati- Dienst am Nächsten und damit auch zur Sorge um
ven zur Gründung von Pflegekammern in verschie- den Kranken.
denen Bundesländern. Eine Pflegekammer ist eine Im späten Mittelalter nahmen sich vor allem die
Körperschaft des öffentlichen Rechts, in der Kraft Orden der Ausübung der Pflege an. Durch die Refor-
des Gesetzes Angehörige der Pflegeberufe Pflicht- mation kam es in der Neuzeit zu einem Mangel an
mitglieder sind. Die Pflegekammern sind landesweit Pflegepersonal, dem mit dem Lohnwartesystem be-
organisiert und den gesetzlichen Rahmen geben die gegnet wurde. Erstmals motivierte nicht mehr die
Bundesländer in den jeweiligen Heilberufe-Kam- christliche Nächstenliebe die Pflegenden. Im 18. Jahr-
mergesetzen. Die Pflegekammer reguliert den Pfle- hundert arbeiteten zu wenige und zu schlecht aus-
geberuf im Sinne einer Selbstverwaltung. Rhein- gebildete Pflegepersonen in den Hospitälern; daher
land-Pfalz hat die erste Landespflegekammer errich- wurde 1782 die erste Krankenwärterschule eingerich-
tet.

66 Pflege und Entwicklung BAND 1


Literatur

Die aber immer noch desolate Pflege erforderte im Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe DBfK (Hrsg.): Bil-
19. Jahrhundert eine Neuorganisation, der sich die dungskonzept Pflege 2000, 2. Aufl., Eschborn 1994
Dühring, A., L. Habermann-Horstmeier: Das Altenpflegelehr-
konfessionellen Pflegeverbände mit einer Ausweitung
buch. 2. Aufl. Schattauer, Stuttgart 2000
des Mutterhaussystem auf katholischer Seite und der
Entwicklung des Diskonissenvereins auf evangelischer
Dunkel, W.: Pflegearbeit – Alltagsarbeit. Lambertus, Freiburg 2
im Breisgau 1994
Seite stellten. Die Differenzen zwischen den Pflegen- Ehrenreich, B., D. English: Hexen, Hebammen und Kranken-
den, ob die Pflege nun als Beruf oder caritative Tätig- schwestern, 14. Aufl. Frauenoffensive, München 1988
keit anzusehen sei, prägte die Pflege bis ins 20. Jahr- Eichhorn, S., B. Schmidt-Rettig (Hrsg.): Krankenhausmanage-
hundert. ment im Werte- und Strukturwandel. Kohlhammer, Stutt-
gart 1995
Erst 1965 kam es dann zu der bereits seit langem
George, J., M. Frowein (Hrsg.): Pflege Lexikon, Wiesbaden
geforderten dreijährigen Ausbildung für die Kranken-
1999
pflege. Im Zuge der sich etablierenden Intensivmedizin Katscher, L.: Krankenpflege 1945 – 1965. Diakonie-Verlag,
wurden Weiterbildungen für Pflegepersonen einge- Reutlingen 1997
richtet. Kellnhauser, E.: Krankenpflegekammern und Professionalisie-
Mit dem Anspruch der Patientenorientierung hielt rung der Pflege. Bibliomed, Melsungen 1994
die ganzheitliche prozesshafte Pflege Einzug. Kruse, A.-P.: Die Krankenpflegeausbildung seit der Mitte des
19. Jahrhunderts. W. Kohlhammer, Stuttgart 1987
In den 90er-Jahren wurden an über 30 Fachhoch-
Kunze, H., L. Kaltenbach, K. Kupfer (Hrsg.: Psychiatrie – Per-
schulen und Hochschulen Studiengänge für Pflegema- sonalverordnung, 6. akt. u. 3. erw. Aufl. W. Kohlhammer,
nagement, Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft Stuttgart 2010
eingerichtet. 2003 sind das derzeit gültige Altenpfle- Kurtenbach, H., G. Golombek, H. Siebers: Krankenpflegege-
gegesetz und das Gesetz über die Berufe in der Kran- setz, 4. Aufl. W. Kohlhammer, Stuttgart 1997
kenpflege in Kraft getreten. Im Juni 2017 beschließt Macek-Bitter, S.: Pflege psychiatrischer Patienten, RECOM
Verlag, Baunatal 1993
der Deutsche Bundestag eine Reform der Ausbildung
Möller, U., U. Hesselbarth: Die geschichtliche Entwicklung der
der Pflegeberufe.
Krankenpflege. Brigitte Kunz Verlag, Hagen 1994
Künftig soll die Ausbildung in der Pflege verein- Oehme, J., R. Schmoeger: Geschichte der Krankenpflege mit
heitlicht werden. Auszubildende in den Pflegeberufen Daten zu Naturwissenschaft, Technik und Geschichte,
können ab 2020 nach zwei Jahren gemeinsamer Aus- überarb. Aufl. Alete Wissenschaftlicher Dienst, Landshut
bildung die generalistische Ausbildung fortsetzen oder 1996
zwischen Kinder- oder Altenpflege wählen. Peters, H. F., W. Schär: Betriebswirtschaft und Management
im Krankenhaus, Ullstein Mosby, Berlin 1994
Robert Bosch Stiftung: Pflege braucht Eliten. Bleicher Verlag,
Gerlingen 1992
Literatur: Rüller, H. (Hrsg.): 3000 Jahre Pflege, 5. neubearb. u. akt. Aufl.
2015, Prodos Verlag, Brake-Unterweser 2015
Bals, T.: Was Florence noch nicht ahnen konnte. Bibliomed, Seidl, E.: Pflege im Wandel, 2. Aufl. Wilhelm Maudrich, Wien
Melsungen 1994 1993
BGBl 2003/Teil I, Nr. 36: Gesetz über die Berufe in der Kran- Seidler, E.: Geschichte der Medizin und der Krankenpflege, 7.
kenpflege überarb. und erw. Aufl. der „Geschichte der Pflege des
BGBl 2003/Teil I, Nr. 44: Gesetz über die Berufe in der Alten- kranken Menschen“. W. Kohlhammer, Stuttgart 2003
pflege Schaper, H.-P.: Krankenwartung und Krankenpflege. Leske +
Bundesausschuss der Länderarbeitsgemeinschaften der Leh- Budrich, Opladen 1987
rerinnen und Lehrer für Pflegeberufe: Bildung und Pflege. Schell, W.: Kurzgefasste Medizin- und Krankenpflegege-
Thieme, Stuttgart 1997 schichte. Brigitte Kunz Verlag, Hagen 1994
Bischoff, C.: Frauen in der Krankenpflege. 3. Aufl. Campus Schipperges, H.: Die Kranken im Mittelalter, 2. Aufl. C. H.
Verlag, Frankfurt, 3. Aufl. 2013 Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1990
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Steppe, H. (Hrsg.): Krankenpflege im Nationalsozialismus, 10.
Rechtliche Strukturen der Ausbildung in der Altenpflege akt. Aufl. Mabuse-Verlag, Frankfurt 2013
2003 Steppe, H.: Das Selbstverständnis der Krankenpflege. Deut-
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: ...es be- sche Krankenpflegezeitschrift Beilage 43 (1990) Heft 5
gann in Berlin. Götzky – Drucke, Bonn 1994 Steppe, H.: Krankenpflege im Wandel 1939 – 1989. Kranken-
CARE konkret: Wochenzeitung für das Pflegemanagement. 2 pflege 44 (1990) 11
(1999) 1. Vincentz Verlag, Hannover 1999 Steppe, H.: Dienen ohne Ende. Pflege 1 (1988) 4

BAND 1 Pflege und Entwicklung 67


2 Entwicklung der Pflege zum Beruf

Sticker, A.: Theodor und Friederike Fliedner, R. Brockhaus Wolff, H.-P., J. Wolff: Geschichte der Krankenpflege. RECOM-
Verlag, Wuppertal 1989 Verlag, Basel 1994
Stöcker, G., F. Wagner: Pflegebildung–offensiv. Die Schwester/ Peiper, A.: Chronik der Kinderheilkunde. 5. Auflage. Leipzig
Der Pfleger 45 (2006) 10 1992
2 Taubert, J.: Pflege auf dem Wege zu einem neuen Selbstver- Zwierlein, E.: Klinikmanagement: Erfolgsstrategien für die
ständnis. Mabuse-Verlag, Frankfurt 1992 Zukunft. Urban & Schwarzenberg, München 1997.
Thelen, A.: Zur Geschichte der Pädiatrie 1. Teil. Heilberufe 49
(1997) 10
Thelen, A.: Zur Geschichte der Pädiatrie 2. Teil. Heilberufe 49 Im Internet:
(1997) 53 www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/01/2016-
Toellner, R.: Illustrierte Geschichte der Medizin. Band 5, An- 01-13-reform-pflegeberufe.html; Stand: 27. 06. 2017
dreas & Andreas Verlagsbuchhandel, Salzburg 1982 www-dip.de; Stand: 22. 06. 2017
Tuschen, K. H., M.Quaas: Bundespflegesatzverordnung. Kohl- www.handelsblatt.com/politik/deutschland/pflegeberufe-
hammer, Stuttgart 1995 koalition-verstaendigt-sich-auf-reform/19627182.html;
Weig, W.: Psychiatrische Krankenpflege heute. Verlag Kirch- Stand: 22. 06. 2017
heim + Co. GmbH, Mainz 1988 www.pflegekammer-rlp.de; Stand: 22. 06. 2017
Wolff, H.-P. (Hrsg.): Biographisches Lexikon zur Pflegege- www.pflegestudium.de; Stand: 22. 06. 2017
schichte. Ullstein Mosby, Berlin 1997

68 Pflege und Entwicklung BAND 1


3 Berufliche Handlungskompetenz
Anja Heißenberg*, Annette Lauber

Übersicht
Einleitung · 69 3
3.1 Kompetenzbegriff · 69
3.1.1 Zuständigkeitsbereich · 70
3.1.2 Handlungskompetenz · 72
3.2 Kompetenzerwerb · 77
Fazit · 81
Literatur · 82

Schlüsselbegriffe
▶ Fach-/Methodenkompetenz
▶ Sozialkompetenz
▶ Personale Kompetenz Der Kompetenzerwerb ist darüber hinaus auch
▶ Kompetenzerwerb mit dem Ende der Berufsausbildung nicht abge-
▶ Reflexion schlossen, sondern muss in Anbetracht der Verände-
rungen des Berufsfelds „Pflege“ als lebenslange Auf-
gabe betrachtet werden.
Einleitung Berufliche Handlungsfähigkeit in der Pflege ver-
langt von Pflegepersonen neben Fach- und Metho-
Der Blick in die Geschichte der Pflege hat gezeigt, denkompetenz auch Kompetenzen im sozialen und
dass lange Zeit die Vorstellung vorherrschte, zur personalen Bereich, die zusammen das Rüstzeug für
Ausübung der Pflege würden keine besonderen den beruflichen Alltag darstellen und so einerseits
Kenntnisse und Fähigkeiten benötigt. Es genüge pflegebedürftigen Menschen eine qualitativ hoch-
vielmehr „ein großes Herz“ und ein „freundlicher, wertige Pflege garantieren, andererseits auch ein
hilfsbereiter Charakter“. Bereits Florence Nightin- wesentliches Element der Zufriedenheit von Pflege-
gale stellte sich gegen diese Sichtweise von Pflege. personen im Beruf darstellen.
Sie vertrat als eine der ersten Pflegepersonen die Das folgende Kapitel beschreibt verschiedene
Auffassung, dass Krankenpflege als Beruf auszuüben Kompetenzbereiche sowie deren Bedeutung für die
sei und entsprechend Kenntnisse und Fähigkeiten berufliche Handlungsfähigkeit von Pflegepersonen.
verlange, die in einer Ausbildung erworben werden
müssen. Heute ist die Berufsbezeichnung der Pfle-
geberufe gesetzlich geschützt und es besteht all- 3.1 Kompetenzbegriff
gemein Einigkeit darüber, dass zur qualitativ hoch-
wertigen Pflege von Menschen spezielles Wissen Definition: Der Begriff „Kompetenz“ stammt
und Können vonnöten sind. aus der lateinischen Sprache und wird im All-
Darüber hinaus ist das Tätigkeitsfeld und der Auf- gemeinen mit „Befähigung“, „Vermögen, etwas
gabenbereich der Pflegeberufe in einem Wandel be- zu tun“ oder auch „Zuständigkeit“ und „Befugnis“
griffen und stellt immer wieder neue und umfassen- übersetzt.
dere Anforderungen an die Kompetenzen der Pfle-
gepersonen. Strenggenommen wird er also einerseits im Zusam-
Vor allem während der Berufsausbildung bieten menhang mit der Beschreibung eines Aufgaben-
die Lernorte Schule und Praxis Gelegenheit, not- bzw. Zuständigkeitsbereiches, andererseits mit der
wendige Kompetenzen zu erwerben und weiter zu Beschreibung der für diesen Aufgabenbereich nöti-
entwickeln. gen Fähigkeiten verwandt.

BAND 1 Pflege und Entwicklung 69


3 Berufliche Handlungskompetenz

Folglich ist ein kompetenter Mensch also jemand, ■ Einleitung lebenserhaltender Sofortmaßnahmen
der für einen bestimmten Aufgaben- bzw. Hand- bis zum Eintreffen der Ärztin oder des Arztes“
lungsbereich zuständig ist und spezielle Fähigkeiten (BGBl. I S. 1442).
besitzt, um die mit diesem Bereich verbundenen
Aufgaben bewältigen zu können. Zudem wird die Mitwirkung von Pflegepersonen bei
Eine kompetente Pflegeperson kann in diesem der Durchführung ärztlich veranlasster Maßnah-
3 Sinn als eine Person beschrieben werden, die für men, bei Maßnahmen der medizinischen Diagnos-
die Pflege von Menschen zuständig ist und entspre- tik, Therapie oder Rehabilitation sowie bei Maßnah-
chend über die für ihren beruflichen Zuständigkeits- men in Krisen- und Katastrophensituationen auf-
bereich erforderlichen Fähigkeiten verfügt. Diese Fä- geführt. Besondere Erwähnung findet auch die in-
higkeiten ermöglichen berufliches Pflegehandeln, terdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Be-
weshalb sie häufig auch mit dem Begriff „berufliche rufsgruppen und die Aufgabe, multidisziplinäre
Handlungskompetenz“ beschrieben werden. Beide und berufsübergreifende Lösungen von Gesund-
Aspekte des Begriffs „Kompetenz“ werden in den heitsproblemen zu entwickeln.
folgenden Ausführungen näher beschrieben. Die nähere Bestimmung des Zuständigkeitsberei-
ches des Altenpflegeberufs ist im bundeseinheitli-
3.1.1 Zuständigkeitsbereich chen Altenpflegegesetz, das 2003 in Kraft getreten
Der Zuständigkeitsbereich der Pflegepersonen lässt ist, geregelt:
sich aus den jeweiligen Gesetzgebungen zur Berufs-
ausbildung ablesen. Berufe sind im Allgemeinen das
Ergebnis einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Da Altenpflegegesetz § 3
nicht jeder Mensch alles kann, wird die in einer „Die Ausbildung in der Altenpflege soll die Kenntnisse,
Gesellschaft „anfallende“ Arbeit auf eine Vielzahl Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln, die zur selbst-
ständigen und eigenverantwortlichen Pflege einschließ-
von Berufen verteilt.
lich der Beratung, Begleitung und Betreuung alter Men-
Gleichzeitig wird dafür Sorge getragen, dass die
schen erforderlich sind. Dies umfasst insbesondere:
jeweiligen Berufsangehörigen eine entsprechende
1. die sach- und fachkundige, den allgemein anerkann-
Berufsausbildung absolvieren, wodurch eine Befähi-
ten pflegewissenschaftlichen, insbesondere den me-
gung für die beruflichen Aufgaben, also die gesell-
dizinisch-pflegerischen Erkenntnissen entsprechen-
schaftlich erteilten Zuständigkeitsbereiche, sicher-
de, umfassende und geplante Pflege, (...)
gestellt werden soll. Der jeweilige Zuständigkeits- 3. die Erhaltung und Wiederherstellung individueller
bereich wird in gesetzlichen Regelungen, insbeson- Fähigkeiten im Rahmen geriatrischer und geronto-
dere in denen zur Berufsausbildung, näher bestimmt. psychiatrischer Rehabilitationskonzepte, (...)
Für den Beruf der Gesundheits- und Kranken- 8. die Betreuung, Beratung und Unterstützung alter
pfleger/in und der Gesundheits- und Kinderkran- Menschen in ihren persönlichen und sozialen Ange-
kenpfleger/in ist er vor allem in § 3 (Ausbildungs- legenheiten, (...)“ (BGBl. I, S. 1513).
ziel) des Gesetzes über die Berufe in der Kranken-
pflege von 2003 näher bestimmt worden (s. a.
Kap. 2). Hier wird die Zuständigkeit und das Anfor- Mit dieser gesetzlichen Bestimmung wird der Zu-
derungsprofil von Pflegepersonen u. a. für die eigen- ständigkeits- bzw. Kompetenzbereich der Altenpfle-
verantwortliche Ausführung der folgenden Auf- gerinnen und Altenpfleger insbesondere für die Be-
gaben beschrieben: ratung, Pflege, Begleitung und Betreuung älterer
■ „Erhebung und Feststellung des Pflegebedarfs, Menschen festgeschrieben.
Planung, Organisation, Durchführung und Doku-
mentation der Pflege, ▌ Wandel des Zuständigkeitsbereichs der Pflege
■ Evaluation der Pflege, Sicherung und Entwick- Der Zuständigkeitsbereich der Pflege verändert sich
lung der Qualität der Pflege, einerseits durch die soziodemografische Entwick-
■ Beratung, Anleitung und Unterstützung von zu lung in der Bundesrepublik Deutschland, anderer-
pflegenden Menschen und ihrer Bezugspersonen seits durch die vielfältigen Veränderungen der Ge-
in der individuellen Auseinandersetzung mit Ge- setzgebung im Gesundheitswesen in den letzten
sundheit und Krankheit, Jahren. Dieser Wandel bedeutet sowohl eine Erwei-

70 Pflege und Entwicklung BAND 1


3.1 Kompetenzbegriff

terung der Zuständigkeit als auch eine Verlagerung Alter


100
des Schwerpunkts der Pflege.
Allgemein kommt dem Begriff „Gesundheit“ ein Männer
90
Frauen

immer größerer gesellschaftlicher Stellenwert zu,


80
was zu einer Abkehr von der Medizin- und Krank-
heitsorientierung und zur Hinwendung zu Aufgaben 70

der Gesundheitsförderung und -sicherung, der Reha-


60
3
bilitation und der Hilfestellung bei der Alltagsbewäl-
tigung pflegebedürftiger Menschen führt (s. a. Kap. 1). 50

Soziodemografische Veränderungen führen zu


40
einem vermehrten Anteil älterer und hochbetagter
Menschen in der Gesellschaft (Abb. 3.1). Gleichzeitig 30

ist ein Zuwachs an chronisch kranken sowie geronto- 20


psychiatrisch erkrankten Menschen zu beobachten.
10
Hinzu kommt, dass auch der Anteil pflegebedürftiger
Menschen aus anderen Kulturen steigt (Abb. 3.2).
Auch die neuen Gesetzgebungen im Gesund- 800 600 400 200 0 0 200 400 600 800

heitswesen verändern das Anforderungsprofil der


Abb. 3.1 Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland am
Pflegeberufe. Insgesamt geht aufgrund des steigen- 31. Dezember 2014 in 1000 je Altersjahr © Statistisches Bundes-
den Kostendrucks die Tendenz dahin, Therapie und amt (Destatis), 2016
Pflege aus dem stationären in den ambulanten Be-
reich zu verlagern. Seit der Einführung des Pflege-
versicherungsgesetzes – verankert im Sozialgesetz-
buch XI (SGB XI) – ist zudem eine Zunahme an
0,19
Mill.

häuslicher Pflege zu verzeichnen. 0,28


Schleswig-
Holstein
Mill.

Für die stationären Altenpflegeeinrichtungen be- 0,09


Mill.
Hamburg
deutet dies, dass vor allem ältere, demente Men- 0,07
Mill.
zu Mecklenburg-
schen mit einem hohen Pflegebedarf diese Einrich- 0,11
Bremen Vorpommern
Brandenburg

Mill.

tungen aufsuchen, und zwar überwiegend dann, 0,57


Mill.

wenn der Pflegebedarf über die ambulante Pflege


Bremen 0,66
Mill.

Sachsen-
Berlin
Anhalt
nicht mehr zu decken ist. Niedersachsen

Die beschriebenen soziodemografischen Ver- 0,08


Mill.

2,27

änderungen und gesetzlichen Rahmenbedingungen Mill.


Thüringen

Nordrhein-
im Gesundheitswesen führen für die Pflegeberufe zu Westfalen
0,08
Mill.
0,93

veränderten Aufgabenfeldern. Aus den neuen Auf- Mill.

gabenfeldern und dem erweiterten Zuständigkeits-


0,16
0,39 Hessen Mill.
Mill.

bereich ergeben sich neue und veränderte Anforde- Rheinland-


Pfalz
Sachsen

rungen an die beruflichen Kenntnisse und Fähigkei-


1,58

ten und damit an die berufliche Handlungskom- 0,10


Mill.

Mill. 1,54

petenz von Pflegepersonen (Abb. 3.3).


Mill.
Bayern

Dies bedeutet unter anderem, dass pflegerische


Saarland
Baden-Württemberg

Kenntnisse und Fähigkeiten für die Betreuung älte-


rer und gerontopsychiatrisch erkrankter Menschen
Türkei Italien Serbien, Montenegro, Kosovo1 Griechenland Polen Sonstige

und von Menschen aus anderen Kulturen erweitert


1 Ab August 2006 werden neben der Staatsangehörigkeit von Serbien und Montenegro auch die Staatsangehörigkeiten der beiden Nachfolgestaaten "Serbien" und

werden müssen. Auf die Notwendigkeit des Ein- "Montenegro" nachgewiesen. Ab 01.05.2008 wird Kosovo getrennt nachgewiesen. Serbien ist vor und nach Ausgliederung des Kosovo in den Grafiken zusammen ausgewiesen.
Quelle: Ausländerzentralregister

bezugs kultureller Besonderheiten in die Pflege von


Abb. 3.2 Ausländische Bevölkerung am 31. 12. 2015 nach Bun-
Menschen hat vor allem die amerikanische Pflege-
desländern und ausgewählten Staatsangehörigen © Statistisches
wissenschaftlerin Madeleine Leininger in ihrer Bundesamt (Destatis), 2016
„Theorie der transkulturellen Pflege“ hingewiesen
(s. a. Kap. 4.3.6).

BAND 1 Pflege und Entwicklung 71


3 Berufliche Handlungskompetenz

Die Verlagerung auf Prävention und Rehabilitati- Die Kompetenz einer Person zeigt sich in den
on verlangt von Pflegepersonen daher auch ver- Handlungen, die sie ausführt, und in der Art und
mehrt Fähigkeiten und Kenntnisse im Bereich von Weise, wie sie dies tut. Kompetenz als solche ist
Anleitung und Beratung pflegebedürftiger Men- folglich nur indirekt über die ausgeführten Handlun-
schen und deren Angehöriger, um so Hilfen zur All- gen, eben die Performanz, zu beobachten.
tagsbewältigung im häuslichen Umfeld bereitstellen

!
3 zu können. Merke: Wichtig ist, dass sich Kompetenz
Auch wenn hier nur einige der zukünftig zu erwar- und Performanz eines Menschen wechselsei-
tenden Veränderungen skizziert wurden, wird deut- tig beeinflussen: Je mehr Kompetenz vor-
lich, dass der Aufgaben- bzw. Zuständigkeitsbereich handen ist, desto mehr Handlungsmöglichkeiten er-
von Pflegepersonen in einem Wandel begriffen ist. wachsen hieraus für einen Menschen. Umgekehrt
kann das Handeln selbst, also die Performanz, auch

!
Merke: Soziodemografische Entwicklungen zu einer Erweiterung der Kompetenz beitragen.
und veränderte gesetzliche Rahmenbedin-
gungen im Gesundheitswesen führen zu Diese Sichtweise beschreibt das Lernen, in diesem
einem sich wandelnden Aufgabengebiet und Zustän- Zusammenhang verstanden als „Aufbau und ständi-
digkeitsbereich der Pflegeberufe sowie zu neuen An- ge Erweiterung der kognitiven Struktur von Indivi-
forderungen an die berufliche Handlungskompetenz duen durch deren Auseinandersetzung mit der natu-
von Pflegepersonen (s. Abb. 3.3). ralen und sozialen Umwelt“ (Heursen 1993, S. 879).

!
3.1.2 Handlungskompetenz Merke: Kompetenz bezeichnet ein kogniti-
Kompetenz bezieht sich als Begriff nicht nur auf den ves Regelsystem, das menschlichem Handeln
Zuständigkeitsbereich von Personen, sondern auch zugrunde liegt. Sie lässt sich nur indirekt
auf die „Befähigung“ oder das „Vermögen, etwas zu über die ausgeführten Handlungen, die sogenannte
tun“. In diesem Zusammenhang wird Kompetenz als Performanz, beobachten. Kompetenz und Performanz
kognitives Regelsystem betrachtet, d. h. als sinnvolle beeinflussen sich wechselseitig, d. h. je größer die
Anordnung oder Zusammenspiel von Prozessen und Kompetenz, desto größer die einem Menschen zur
Strukturen, die mit dem Erkennen und Wahrneh- Verfügung stehende Bandbreite an Handlungen. Um-
men zu tun haben. gekehrt trägt das Handeln zur Erweiterung der kogni-
Hierzu gehören Elemente wie Denken, Erinnern, tiven Struktur bei.
Gedächtnis- und Lernprozesse, Planen etc. Diese
Strukturen liegen menschlichem Handeln zugrunde ▌ Die Entwicklung von Handlungskompetenz
bzw. versetzen einen Menschen erst in die Lage, Den Vorgang der kognitiven Entwicklung eines
bestimmten Anforderungen entsprechend zu han- Menschen in der Auseinandersetzung mit seiner
deln. Die aus der Kompetenz, d. h. dem kognitiven Umwelt hat der schweizer Psychologe Jean Piaget
Regelsystem eines Menschen erwachsende Hand- (1896 – 1980) genauer untersucht. Er war der erste,
lung wird als Performanz bezeichnet. der einen Zusammenhang und eine Wechselbezie-
hung zwischen Handeln und Denken beschrieb.

Abb. 3.3 Aspekte pflegerischer Kom-


Pflegekompetenz petenz

Aufgaben- und Fähigkeit und Vermögen,


Zuständigkeitsbereich etwas zu tun

– definiert im Krankenpflegegesetz – ermöglicht berufliches Pflege-


(in Kraft getreten 2004) handeln
– definiert im Altenpflegegesetz – zeigt sich im Handeln
(in Kraft getreten 2005) (Performanz)

72 Pflege und Entwicklung BAND 1


3.1 Kompetenzbegriff

Erkenntnis und damit kognitive Strukturen ent- ▌ Äquilibration


stehen aufgrund des Handelns eines Menschen mit Nach Piaget lösen neue, unbekannte Elemente und
Gegenständen. Gleichzeitig ermöglichen diese neu Informationen aus der Umwelt diese Prozesse der
ausgebildeten Denkstrukturen ein breiteres Spek- Akkomodation und Assimilation aus, da Menschen
trum an Handlungsmöglichkeiten. Piaget identifi- danach streben, sich ihre Umwelt durch Erkennen
zierte zwei Mechanismen, die die Wechselbezie- zu erschließen, und diese Informationen in ihre ko-
hung zwischen Handeln und Denken erklären: „As- gnitive Struktur einordnen möchten. Piaget nennt 3
similation“ und „Akkommodation“. dieses Bestreben „Äquilibration“.

▌ Assimilation Definition: Der Begriff „Äquilibration“


Definition: Der Begriff „Assimilation“ stammt stammt aus dem Lateinischen und bedeutet
aus der lateinischen Sprache und bedeutet „ein Gleichgewicht herstellen“.
„Ähnlichmachung“.
Unbekannte Elemente aus der Umwelt erzeugen Wi-
Die Assimilation beschreibt einen Vorgang, bei dem dersprüche sowie kognitive Konflikte und führen
neue, bislang unbekannte Informationen aus der hierdurch zu einem Ungleichgewicht, das der be-
Umwelt an die bestehenden kognitiven Strukturen troffene Mensch beseitigen möchte. Über die Me-
eines Menschen angepasst werden. Wenn eine Schü- chanismen Akkommodation und Assimilation kann
lerin oder ein Schüler beispielsweise lernt, einen das Gleichgewicht wiederhergestellt werden, was
pflegebedürftigen Menschen in die 30°-Seitenlage zum Aufbau immer komplexerer kognitiver Struktu-
zu positionieren, so wird diese neue Technik in ren führt.
ihre/seine bestehenden kognitiven Strukturen einge- Vereinfacht ausgedrückt führt also die bewusste
ordnet, wenn bereits andere Techniken bekannt Auseinandersetzung eines Menschen mit seiner
sind. Das bedeutet, die neue Technik wird in die be- Umwelt zur Ausbildung und Erweiterung seiner ko-
stehenden kognitiven Strukturen bezüglich anderer gnitiven Strukturen. Erweiterte kognitive Strukturen
Techniken eingeordnet. wiederum ermöglichen eine größere Bandbreite von
Handlungen.
▌ Akkommodation Diese Entwicklung lässt sich auch auf Strukturie-
Gleichzeitig wird zur Aufnahme der neuen Informa- rungsprozesse in anderen Bereichen, beispielsweise
tionen die kognitive Struktur erweitert, was Piaget im Bereich des menschliches Zusammenlebens in
als Akkommodation bezeichnet. Gruppen, in der Familie, am Arbeitsplatz etc., in
der Sprache oder auch im Gefühlsleben übertragen
Beispiel: Hier ist das u. a. die spezielle Po- und gilt sowohl für den privaten als auch für den
sitionierung der eingesetzten Hilfsmittel bei beruflichen Lebensbereich.
der 30°-Seitenlagerung.
Zusammenfassung:
Definition: Der Begriff „Akkommodation“ kognitive Entwicklung (Piaget)
stammt ebenfalls aus der lateinischen Sprache ■ Assimilation: Angleichung von neuen Informatio-
und bedeutet „Anpassung“ oder „Angleichung“. nen in die vorhandenen Denkstrukturen,
■ Akkommodation: Ausbau und Erweiterung der
Die Akkommodation beschreibt folglich einen Pro- bisherigen Denkstrukturen, wenn neue Informa-
zess, bei dem eine Anpassung bzw. Erweiterung der tionen dies notwendig machen,
kognitiven Struktur eines Menschen stattfindet, ■ Äquilibration: Ein Gleichgewicht zwischen neuen
wenn eine bislang unbekannte Information in die Informationen und den eigenen kognitiven Struk-
bestehende Struktur nicht eingeordnet werden turen herstellen.
kann.

BAND 1 Pflege und Entwicklung 73


3 Berufliche Handlungskompetenz

Lange Zeit herrschte die Überzeugung vor, dass der


Prozess menschlichen Lernens vor allem im Kindes-
alter und jungen Erwachsenenalter stattfindet.
Werte,
Heute wird jedoch allgemein davon ausgegangen, gebrochen Einstellungen ausgerichtet
dass menschliche Entwicklung ein lebenslanger Pro- durch auf

zess ist und auch im höheren Erwachsenenalter


3 neue Erfahrungen und Herausforderungen zu Fähigkeiten Bedürfnisse
Fertigkeiten Motive
neuem Wissen, erweiterten kognitiven Strukturen Wissen Ziele
und neuen Fähigkeiten führen. In diesem Zusam-
menhang kann Kompetenz folgendermaßen defi- fließen ein modifizieren
niert werden. in Erfahrungen

Definition: Kompetenz ist „die Fähigkeit zur


erfolgreichen Bewältigung komplexer Anforde- Tätigkeit im
rungen in spezifischen Situationen. Kompeten- zeitlichen
tes Handeln schließt den Einsatz von Wissen, von kog- Verlauf
nitiven und praktischen Fähigkeiten genauso ein wie
soziale und Verhaltenskomponenten (Haltungen, Ge-
fühle, Werte und Motivationen)“ (Gnahs 2010, S. 21).
Abb. 3.4 Kompetenz als Zusammenspiel verschiedener Fak-
toren, die menschliches Verhalten beeinflussen
Kompetenz umfasst demzufolge nicht ausschließlich
Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern auch
Aspekte wie Werte, Ziele, Bedürfnisse und Einstel- werden zu aktiv handelnden Menschen, die ihr
lungen (Abb. 3.4). Leben selbst gestalten und zu ändern vermögen.

!
Merke: Kompetenzentwicklung ist das Er- Hierfür ist die Möglichkeit, aber auch die Bereit-
gebnis eines kontinuierlichen Prozesses, bei schaft eines Menschen zur Kompetenzentwicklung
dem Ziele und Bedürfnisse eines Menschen wichtig.
zu Handlungen motivieren. Diese Handlungen ermög- Um die Kompetenz zur Teamarbeit bzw. Koope-
lichen Lernerfahrungen und führen zu Werten und ration mit anderen Menschen erwerben zu können,
Einstellungen, die wiederum seine Ziele und Bedürf- ist es wichtig, auch Gelegenheit zu bekommen, in
nisse beeinflussen. einem Team zu arbeiten. Darüber hinaus ist zudem
auch die Bereitschaft eines Menschen entscheidend,
Alle Aspekte zusammen nehmen Einfluss auf die mit anderen zusammen arbeiten zu wollen.
Entwicklung der Kompetenz eines Menschen und Kompetenz ist sowohl im privaten als auch im
darauf, wie ein Mensch mit neuen Anforderungen beruflichen Alltag eine entscheidende Vorausset-
umgeht und auf welche Art und Weise er seine per- zung zur Bewältigung von Herausforderungen.
sönlichen Ressourcen in konkreten Situationen zur Auch innerhalb der Familie können Veränderun-
Lösung von Problemen einsetzt. Zwei Aspekte sind gen im sozialen Gefüge, beispielsweise durch die
hierbei wesentlich: Geburt oder den Tod eines Familienmitgliedes, he-
1. Kompetenz kann sich während des gesamten Le- rausfordernd auf die anderen Familienangehörigen
bens entwickeln und ist nicht auf ein bestimmtes wirken und zur Kompetenzentwicklung auffordern.
Lebensalter beschränkt.
2. Kompetenz entwickelt sich in der Auseinander-
setzung mit der Umwelt. Dabei reagieren Men-
schen jedoch nicht nur auf die Herausforderun-
gen, die die Umwelt an sie stellt, sondern sie

74 Pflege und Entwicklung BAND 1


3.1 Kompetenzbegriff

▌ ▌ Sozialkompetenz
Berufliche Handlungskompetenz
Im Zusammenhang mit der Kompetenz von Pflege- Sozialkompetenz umfasst die „Bereitschaft und Fä-
personen interessiert vor allem die berufliche Hand- higkeit, soziale Beziehungen zu leben und zu gestal-
lungskompetenz. (Berufliche) Handlungskompetenz ten, Zuwendungen und Spannungen zu erfassen und
kann beschrieben werden als „die Bereitschaft und zu verstehen, sowie sich mit anderen rational und
Befähigung des Einzelnen, sich in beruflichen, ge- verantwortungsbewusst auseinanderzusetzen und
sellschaftlichen und privaten Situationen sachge- zu verständigen. Hierzu gehört insbesondere auch 3
recht durchdacht sowie individuell und sozial ver- die Entwicklung sozialer Verantwortung und Solida-
antwortlich zu verhalten“ (KMK 2011, S. 14). Sie be- rität“ (KMK 2011, S. 14).
fähigt einen Menschen, spezifische Aufgaben im Be- Da Pflege in der unmittelbaren Betreuungsleis-
ruf, aber auch in der Gesellschaft zu erfüllen. tung mit und für pflegebedürftige Menschen und
Berufliche Handlungskompetenz ist folglich die deren Angehörige besteht, kommt der Sozialkom-
Voraussetzung für berufliches Handeln. Sie ermög- petenz in der Pflege große Bedeutung zu. Um Pfle-
licht berufliches Handeln, und zwar so, dass den geprobleme und Ressourcen eines pflegebedürftigen
Anforderungen und Aufgaben, die im beruflichen Menschen ermitteln zu können, bedarf es neben
Alltag an einen Menschen gestellt werden, mit ziel- Fachkenntnissen auch der Fähigkeit zur Empathie,
und selbstbewusstem, reflektiertem und verant- d. h. der Fähigkeit, die Situation aus der Sicht des
wortlichem Handeln begegnet werden kann. Betroffenen selbst wahrzunehmen.
Um die Aspekte der beruflichen Handlungskom- Auch die Beratung pflegebedürftiger Menschen
petenz näher bestimmen zu können, wird sie häufig und deren Angehöriger sowie die Anleitung zu ge-
in folgende Teilbereiche unterteilt: Fachkompetenz, sundheitsförderndem Verhalten gewinnt in der
Sozialkompetenz und Selbstkompetenz. pflegerischen Berufsausübung immer mehr an Be-
deutung und setzt neben Fachkenntnissen vor
▌ Fachkompetenz allem Fähigkeiten im Bereich der Gestaltung von
Fachkompetenz die „Bereitschaft und Fähigkeit, auf Interaktion und Kommunikation, z. B. Kenntnisse
der Grundlage fachlichen Wissens uns Könnens, über verschiedene Gesprächstechniken, voraus.
Aufgaben und Probleme zielorientiert, sachgerecht, Darüber hinaus wird die Arbeit in den Pflegebe-
methodengeleitet uns selbstständig zu lösen und rufen in der Regel in Zusammenarbeit mit anderen
das Ergebnis zu beurteilen“ (KMK 2011, S. 14). Pflegepersonen und Angehörigen anderer Berufe
Hierzu gehören beispielsweise Allgemein- und des Gesundheitswesens, z. B. Ärzten und Physiothe-
Fachwissen, fachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, rapeuten, erbracht, was ebenfalls Teamfähigkeit, Ko-
aber auch analytisches und strukturierendes Den- operationsbereitschaft und Kommunikationsfähig-
ken sowie die Fähigkeit, Zusammenhänge und keit erfordert. Hierzu gehört unter anderem die Fä-
Wechselwirkungen zu erkennen. higkeit, den eigenen Standpunkt zu verdeutlichen
Auf die Pflege bezogen gehört zur Fachkom- und auch zu vertreten und mit Kritik und Konflikten
petenz u. a. Beobachtungsfähigkeit, die Fähigkeit, konstruktiv umgehen zu können.
physische und psychische Veränderungen bei pfle-
gebedürftigen Menschen wahrnehmen und einord- ▌ Selbstkompetenz
nen zu können, sowie die Fähigkeit, pflegerische Tä- Die Selbstkompetenz wird auch als personale Kom-
tigkeiten fach- und sachgerecht und unter Einbezug petenz bezeichnet. Selbstkompetenz umfasst die
des betroffenen Menschen durchführen zu können. „Bereitschaft und Fähigkeit, als individuelle Persön-
lichkeit die Entwicklungschancen, Anforderungen

!
Merke: Die Fachkompetenz einer Pflegeper- und Einschränkungen in Familie, Beruf und öffent-
son zeigt sich außerdem in ihrer Fähigkeit, lichem Leben zu klären, zu durchdenken und zu be-
die eigene Arbeit sinnvoll zu planen und zu urteilen, eigene Begabungen zu entfalten, sowie Le-
organisieren, durchzuführen und zu bewerten sowie benspläne zu fassen und fortzuentwickeln. Sie um-
Entscheidungen treffen und Probleme lösen zu kön- fasst Eigenschaften wie Selbstständigkeit, Kritik-
nen. Als systematische Methode kommt hier der Pfle- fähigkeit, Selbstvertrauen, Zuverlässigkeit, Verant-
geprozess (s. a. Kap. 6) zum Tragen. wortungs- und Pflichtbewusstsein. Zu ihr gehören
insbesondere auch die Entwicklung durchdachter

BAND 1 Pflege und Entwicklung 75


3 Berufliche Handlungskompetenz

Wertvorstellungen und die selbstbestimmte Bin- niken und Lernstrategien entwickelt werden, die be-
dung an Werte“ (KMK 2011, S. 14). rufsbezogen, aber auch über den Berufsbereich hi-
Methodenkompetenz, kommunikative Kom- naus weisen und für ein lebenslanges Lernen ge-
petenz und Lernkompetenz werden als Bestandteile nutzt werden können.
von Fach-, Selbst- und Sozialkompetenz betrachtet. Alle Teilkompetenzen zusammen machen beruf-
Methodenkompetenz umfasst dabei die „Bereit- liche Handlungskompetenz aus. Sie können als „Fun-
3 schaft und Fähigkeit zur zielgerichtetem, planmäßi- dament“ bzw. „Säulen“ dargestellt werden, die be-
gen Vorgehen bei der Bearbeitung von Aufgaben rufliche Handlungskompetenz „tragen“ und berufli-
und Problemen (zum Beispiel bei der Planung von ches Handeln ermöglichen (Abb. 3.5).
Arbeitsschritten)“ (KMK 2011, S. 15). Zur kommuni- In Abhängigkeit von der auszuführenden Hand-
kativen Kompetenz gehört die „Bereitschaft und Fä- lung können die einzelnen Teilbereiche jeweils in
higkeit, kommunikative Situationen zu verstehen unterschiedlicher Gewichtung notwendig werden.
und zu gestalten“ (KMK 2011, S. 15). Sie ermöglicht
es, in Kommunikation und Interaktion eigene Ab- Beispiel: Bei einigen Tätigkeiten, z. B. bei
sichten und Bedürfnisse, aber auch den Kommuni- der Bedienung eines Blutzuckermessgerätes,
kationspartner wahrzunehmen, zu verstehen und stehen fachlich-technische Fähigkeiten, d. h.
darzustellen. Schließlich ist auch die Lernkompetenz die Fach-/Methodenkompetenz einer Pflegeperson,
ein wesentlicher Bestandteil: Sie umfasst die „Be- stark im Vordergrund, bei anderen Tätigkeiten, wie
reitschaft und Fähigkeit, Informationen über Sach- z. B. der Gestaltung einer Gesprächssituation mit
verhalte und Zusammenhänge selbstständig und ge- einem pflegebedürftigen Menschen und seinen Be-
meinsam mit anderen zu verstehen, auszuwerten zugspersonen, ist in erster Linie die Sozialkompetenz
und in gedankliche Strukturen einzuordnen“ (KMK der Pflegeperson gefordert.
2011, S. 15). Dabei ist entscheidend, dass Lerntech-

Berufliches Handeln

Berufliche
Handlungskompetenz

Fachkompetenz Sozialkompetenz Selbstkompetenz


• Allgemein- und Fachwissen • Teamfähigkeit • Bereitschaft zur Selbst-
• Organisatorische Fähigkeiten • Einfühlungsvermögen entwicklung
• Betriebswirtschaftliche • Kommunikationsfähigkeit • Selbstrefektionsbereitschaft
Kenntnisse • Kooperationsbereitschaft • Leistungsbereitschaft
• EDV-Wissen • Konfliktlösungsbereitschaft • Lernbereitschaft
• Fachliche Fähigkeiten und • Partnerzentrierte Interaktion • Offenheit
Fertigkeiten • Konsensfähigkeit • Risikobereitschaft
• Sprachkenntnisse • Verständnisbereitschaft • Belastbarkeit
• Analytisches Denken • Glaubwürdigkeit
• Konzeptionelle Fähigkeiten • Emotionalität
• Strukturierendes Denken • Flexibilität
• Erkennen von Zusammen-
hängen und Wechselwirkungen
• Ganzheitliches Denkvermögen
• Kreativität und Innovations-
fähigkeit

Abb. 3.5 Haus der beruflichen Handlungskompetenz

76 Pflege und Entwicklung BAND 1


3.2 Kompetenzerwerb

Dennoch beschränken sich die Anforderungen in Dreyfus auf die Pflege. In ihrem Modell, das sie aus
den genannten Beispielen nicht ausschließlich auf Untersuchungen an Piloten und Schachspielern ent-
einen Teilbereich: Auch bei der Bestimmung des worfen haben, gehen Dreyfus und Dreyfus davon
Blutzuckers muss der betroffene pflegebedürftige aus, dass Lernende beim Erwerb von Fähigkeiten
Mensch über Sinn und Zweck, Notwendigkeit und fünf Leistungsstufen durchlaufen:
Ablauf der Maßnahme informiert und in die Tätig- 1. Neuling,
keit einbezogen werden. Die Begleitung eines Men- 2. Fortgeschrittener Anfänger, 3
schen mit einer bösartigen Erkrankung fordert 3. Kompetenter,
neben sozialer Kompetenz auch Fachwissen über 4. Erfahrener,
Verlauf und Prognose der Erkrankung (Fach-/Me- 5. Experte.
thodenkompetenz) sowie die Bereitschaft der Pfle-
geperson, sich die Begegnung mit diesem pflegebe- Dreyfus und Dreyfus beobachteten in ihren Unter-
dürftigen Menschen aktiv zu gestalten (Sozialkom- suchungen drei grundlegende Entwicklungen der
petenz). Leistungsfähigkeit vom Neuling zum Experten:
Werden Tätigkeiten von Pflegepersonen ohne Erstens vollzog sich eine Entwicklung von der
Einbezug aller Kompetenzbereiche ausgeführt, müs- Orientierung an abstrakten Grundregeln hin zu
sen sie zwangsläufig ineffektiv und ohne die ge- einem vermehrten Rückgriff auf konkrete eigene Er-
wünschte Wirkung bleiben. Obwohl also bei einigen fahrungen.
Pflegehandlungen eine Teilkompetenz im Vorder- Zweitens veränderte sich die Wahrnehmung
grund stehen kann, sind für zielgerichtetes und ef- konkreter Situationen dahingehend, dass sie nicht
fektives Pflegehandeln bei nahezu jeder pflegeri- mehr als Summe gleich wichtiger Teile, sondern
schen Tätigkeit Fähigkeiten in allen drei Kompetenz- vielmehr als Ganzes gesehen wurden, bei dem ein-
bereichen erforderlich. zelne Teile wichtig sind.
Drittens bemerkten Dreyfus und Dreyfus, dass

!
Merke: Berufliche Handlungskompetenz sich die untersuchten Personen von unbeteiligten
umfasst die Bereiche Fachkompetenz, Sozi- Beobachtern zu engagierten Handelnden wandelten,
alkompetenz und Selbstkompetenz. Wich- die in der Situation direkt beteiligt sind.
tige Bestandteile dieser 3 Bereiche sind Methoden- Benner ermittelte diese Kompetenzstufen auch
kompetenz, kommunikative Kompetenz und Lern- bei Pflegepersonen und versuchte in ihrer Unter-
kompetenz. Berufliches Pflegehandeln kann nur dann suchung herauszufinden, ob und, wenn ja, welche
effektiv, zielgerichtet, patientenorientiert und somit Unterschiede es in der Beurteilung ein und dersel-
qualitativ hochwertig sein, wenn Fähigkeiten aus ben pflegerischen Situation zwischen Neulingen
allen Kompetenzbereichen in die jeweilige pflegeri- und Pflegeexperten gibt. Hierzu beobachtete und
sche Tätigkeit einfließen. befragte sie mit ihren Mitarbeitern anhand von teil-
nehmender Beobachtung und von Interviews zahl-
reiche Pflegepersonen, um das versteckte Wissen
3.2 Kompetenzerwerb von Pflegepraktikern offen zu legen. Dabei ging es
ihr nicht darum, Pflegepersonen in unterschiedliche
Die voranstehenden Ausführungen machen deutlich, Kompetenzstufen einzuordnen, sondern vielmehr
dass für die pflegerische Berufsausübung vielfältige einen Beitrag zur Beschreibung des Praxiswissens
Kompetenzen erforderlich sind. zu leisten, der außerdem von Nutzen für die Struk-
Mit dem Erwerb von Pflegekompetenz und den turierung der Aus- und Fortbildung sein sollte.
Bereichen, in denen Pflegepersonen tätig sind, hat
sich insbesondere die amerikanische Pflegewissen- ▌ Theoretisches und praktisches Wissen
schaftlerin Patricia Benner auseinandergesetzt. Benner unterscheidet zwischen theoretischem und
Sie überträgt das Modell des Kompetenzerwerbs praktischem Wissen. Sie geht davon aus, dass sich
des amerikanischen Mathematikers und Systemana- theoretisches Wissen, das sie auch als das „Wissen,
lytikers Stuart Dreyfus und des Philosophen Hubert dass“ (engl.: Know – that) bezeichnet, von prakti-

BAND 1 Pflege und Entwicklung 77


3 Berufliche Handlungskompetenz

schem Wissen, von ihr „Wissen, wie“ (engl.: Know – dieses versteckte Wissen, das sich aus der prakti-
how) genannt, unterscheidet. Viele menschliche Fä- schen Erfahrung ergibt, systematisch zu erfassen.
higkeiten, wie z. B. Rad fahren oder Schwimmen,
werden ohne „Wissen, dass“ erworben und aus- ▌ Kompetenzstufen
geführt und könnten von den betreffenden Men- In Anlehnung an Dreyfus und Dreyfus beschreibt
schen theoretisch nicht unbedingt erklärt werden. Benner in ihrer Theorie fünf Kompetenzstufen der
3 Das Know-how entwickelt sich nach Ansicht von Pflegepersonen, denen sie charakteristische Merk-
Benner durch Erfahrung mit einer Tätigkeit. Über- male zuordnet.
tragen auf die Pflege bedeutet dies, dass sich zusätz- Die Stufe des Neulings ist gekennzeichnet durch
lich zu den erlernbaren Regeln erst durch Erfahrun- die Ausrichtung des Handelns an erlernten Regeln.
gen in der Pflegepraxis das Know-how der Pflege Da Neulinge noch über wenig bzw. keine Erfahrung
ausbildet. Dementsprechend lassen sich laut Benner mit konkreten Pflegesituationen verfügen, ist ihr
Unterschiede in der Arbeitsweise zwischen Berufs- Verhalten in kritischen Praxissituationen wenig fle-
anfängern und erfahrenen Pflegepersonen erken- xibel und sehr eingeschränkt, da allgemeine Regeln
nen, da letztere über Erfahrungen mit konkreten z. B. nur wenig Hinweise darüber geben können,
Praxissituationen verfügen. Praktisches Wissen um- welche Tätigkeiten Vorrang vor anderen haben. Auf
fasst nach Benner sechs Aspekte: dieser Kompetenzstufe sieht Benner z. B. Pflegeschü-
1. Sensibilität für feine qualitative Unterschiede, ler, aber auch Pflegepersonen, die in einen ihnen
d. h. der „Kennerblick“, der sich aufgrund reich- bislang unbekannten Praxisbereich der Pflege wech-
haltiger praktischer Erfahrungen herausbildet, seln.
2. ein gemeinsames Verständnis für hilfreiche, heil- Fortgeschrittene Anfängerinnen haben dem ge-
same und förderliche pflegerische Verhaltens- genüber bereits eine Reihe von Erfahrungen in rea-
weisen im Umgang mit hilfsbedürftigen Men- len Situationen sammeln können und sind in der
schen, vor allem in extremen Situation, Lage, immer wiederkehrende Aspekte einer Pflege-
3. Annahmen, Erwartungen und Einstellungen, die situation zu erkennen. Benner gibt hier das Beispiel,
nicht unbedingt Gegenstand des offiziell aner- dass die Erkenntnis darüber, wann ein Patient bereit
kannten Wissensbestandes sind, sich aber z. B. ist, sich mit seiner veränderten Lebenssituation in-
durch die Beobachtung vieler ähnlicher Krank- folge seiner Erkrankung zu befassen, erfordert, dass
heitsverläufe herausbilden, bereits Erfahrungen mit Patienten in ähnlichen Si-
4. paradigmatische Fälle und persönliches Wissen, tuationen gemacht wurden. Auf dieser Kompetenz-
d. h. Wissen, das sich anhand paradigmatischer stufe sieht Benner in erster Linie Berufsanfänger in
(einschneidender) Erfahrungen herausgebildet der Pflege, die vor allem Unterstützung bei der Iden-
hat, tifikation von Prioritäten benötigen.
5. Maximen, d. h. verschlüsselte Anweisungen, mit Als kompetente Pflegende bezeichnet Benner
denen sich Fachleute untereinander verständi- Pflegepersonen, die über ca. zwei bis drei Jahre Be-
gen, deren Bedeutung von Neulingen jedoch rufserfahrung in einem Bereich der Pflege verfügen.
nicht verstanden werden kann, Charakterisiert ist diese Kompetenzstufe durch
6. nicht vorhergesehene Aufgaben, die von anderen einen Wechsel des Handelns vom bloßen Reagieren
Berufsgruppen im Krankenhaus an Pflegeper- zum planvollen Vorgehen in der Praxis. Das bewuss-
sonen delegiert werden und in denen Pflegende te, überlegte Planen versteht Benner als das diffe-
Kenntnisse erwerben. renzierte Erkennen, welche Aspekte einer Situation
wichtig und welche zu vernachlässigen sind. Dies
Alle diese Aspekte pflegerischen Wissens ent- führt zu einem organisierten und effizienten Arbei-
wickeln sich laut Benner in der Pflegepraxis, d. h. ten. Hinzu kommt das Gefühl der kompetent Pfle-
in der Auseinandersetzung mit konkreten realen genden, ihren Aufgaben gewachsen zu sein.
Pflegesituationen. Pflegepersonen sind aufgefordert,

78 Pflege und Entwicklung BAND 1


3.2 Kompetenzerwerb

Erfahrene Pflegende nehmen nicht mehr einzel- Pflegemaßnahmen ableiten, ohne viel Zeit mit an-
ne Aspekte von Situationen wahr, sondern erfassen deren Diagnose- oder Handlungsmöglichkeiten zu
die Situation als Ganzes, das auf der Grundlage frü- verlieren. Pflegeexperten verfügen laut Benner
herer Erfahrungen mit ähnlichen Pflegesituationen über einen sicheren Blick für das Wesentliche und
spontan begriffen wird. Dabei werden Abweichun- ein Gefühl für die Situation.
gen vom Normalen und Erwarteten unmittelbar er-
kannt. Erfahrene Pflegende erkennen, welche As- ▌ Kompetenzbereiche 3
pekte einer Pflegesituation wichtig sind, können Benner identifizierte in ihren Interviews und Beob-
viele unerhebliche Möglichkeiten ausschließen und achtungen von Pflegepersonen einunddreißig Kom-
dringen hierdurch zum eigentlichen Problem durch. petenzen, die sie sieben Kompetenzbereichen der
Auf dieser Kompetenzstufe befinden sich nach Ben- Pflegepraxis zuordnet. Benner weist ausdrücklich
ner Pflegepersonen, die drei bis fünf Jahre Berufs- darauf hin, dass die von ihr erstellte Liste nicht als
erfahrung in einem Bereich der Pflege gesammelt vollständig zu betrachten ist, sondern durch geeig-
haben. nete Untersuchungen ergänzt und erweitert werden
Charakteristisch für die Pflegeexperten ist das muss. Die Übersicht zeigt die von Benner beschrie-
intuitive Erfassen einer Situation ohne den Rückgriff benen Kompetenzbereiche mit den dazugehörigen
auf handlungsleitende Regeln. Sie können den Kern Kompetenzen der Pflegepersonen.
eines Problems direkt erfassen und erforderliche

Kompetenzbereiche ■ Dem Patienten seine Lage so angenehm wie möglich


1 Wirkungsvolles Handeln bei Notfällen gestalten; ihm das Gefühl geben, ein Mensch zu sein,
■ Kompetent handeln in lebensbedrohlichen Notfall- auch angesichts von Schmerz und schwerstem Zu-
situationen: Probleme schnell erfassen sammenbruch
■ Das Unvorhersehbare bewältigen: Handlungsbedarf ■ Einfach da sein
und Ressourcen in Notfallsituationen rasch aufeinan- ■ Den Patienten dazu befähigen, sich so stark wie mög-
der abstimmen lich an seiner Genesung zu beteiligen und Verantwor-
■ Kritische Zustände beim Patienten erkennen und tung dafür zu übernehmen
damit umgehen, bis der Arzt eintrifft ■ Schmerzen einschätzen und geeignete Maßnahmen
sowohl für den Umgang mit ihnen als auch zu ihrer
2 Diagnostik und Patientenüberwachung Bekämpfung auswählen
■ Bedeutsame Veränderungen des gesundheitlichen ■ Trost spenden und Kontakt herstellen über körper-
Zustandes des Patienten erkennen und dokumentie- liche Berührung
ren ■ Die Angehörigen emotional und durch Informationen
■ Frühe Alarmsignale geben: Komplikationen und Ver- unterstützen
schlechterungen vorausahnen, noch ehe messbare di- ■ Den Patienten durch emotionale Krisen und Entwick-
agnostische Anzeichen vorliegen lungsprozesse führen. Neue Möglichkeiten aufzeigen,
■ Zukünftige Probleme erahnen: Vorausschauendes Hilfe beim Loslassen alter Gewohnheiten:
Denken – Leiten, lehren, vermitteln
■ Wissen, welche besonderen Probleme und Erfahrun- – Als psychologische und kulturelle Vermittler han-
gen mit den verschiedenen Krankheiten verbunden deln
sind: Die Bedürfnisse des Patienten erahnen – Ziele therapeutisch einsetzen u. a.
■ Die Möglichkeiten des Patienten einschätzen, gesund
zu werden und auf verschiedene Behandlungsstrate- 4 Organisation und Zusammenarbeit
gien anzusprechen ■ Mit den vielfältigen Bedürfnissen der Patienten umge-
hen: Prioritäten setzen
3 Helfen ■ Ein therapeutisches Team aufbauen und funktions-
■ Die heilende Beziehung: Ein heilendes Klima schaffen fähig erhalten zur Gewährleistung optimaler Therapie
und sich dafür einsetzen, dass Heilung geschehen ■ Die Folgen von Personalmangel und hoher Fluktuati-
kann on bewältigen:

BAND 1 Pflege und Entwicklung 79


3 Berufliche Handlungskompetenz

– Krisenmanagement betreiben ■ Medikamente mit Sorgfalt und geringem Risiko ver-


– Zeiten extremer Überbelastung voraussehen und abreichen: Überwachung von therapeutischen und
vermeiden unerwünschten Effekten wie Toxizität und Unverträg-
– Eine fürsorgliche Haltung gegenüber den Patien- lichkeiten
ten aufrechterhalten, auch ohne häufigen und ■ Mögliche Folgen von Immobilität bekämpfen: Präven-
engen Kontakt zu ihnen zu haben u. a. tion und Behandlung von Hautschädigungen, Mobili-
3
sation und Krankengymnastik zur Förderung der Be-
5 Beraten und Betreuen weglichkeit und Wiederherstellung, Prävention von
■ Das richtige Timing: Den Zeitpunkt erfassen, an dem Atemfunktionsstörungen
sich der Patient auf neue Erfahrungen einlassen kann ■ Eine Wundversorgung vornehmen, die schnelles Ab-
■ Dem Patienten dabei helfen, die Folgen seiner Krank- heilen, Wohlbefinden des Patienten und gutes Abflie-
heit in sein Leben zu integrieren ßen von Wundsekreten ermöglicht
■ Den Patienten sein Krankheitsverständnis ausspre-
chen lassen und seine Sichtweise nachvollziehen 7 Überwachung und Sicherstellung der Qualität
■ Dem Patienten eine Deutung seines Zustandes anbie- der medizinischen Versorgung
ten und Eingriffe erklären ■ Maßnahmen auf ihre medizinische und pflegerische
■ Die Funktion der Betreuung: kulturell heikle Aspekte Sicherheit überprüfen
der Krankheit zugänglich und verstehbar machen ■ Beurteilen, was ohne Risiko aus dem Behandlungsplan
gestrichen und was hinzugefügt werden kann
6 Durchführen und Überwachen von ■ Ärzte zur rechten Zeit zu den notwendigen Schritten
Behandlungen bewegen
■ Infusionen möglichst risiko- und komplikationslos be-
ginnen und fortführen

▌ Kompetenzerwerb in der Pflegeausbildung Diese Reflexion erfolgt üblicherweise im Rückblick


Bei genauerer Betrachtung der für die Pflege erfor- auf eine Situation oder Handlung, indem diese ge-
derlichen Kompetenzen wird deutlich, dass deren danklich nachvollzogen und im Hinblick auf gelun-
Erwerb nicht in drei Jahren Berufsausbildung abge- gene, herausfordernde, problematische oder interes-
schlossen sein kann. Er erstreckt sich im Sinne des sante Aspekte untersucht wird. Reflexion setzt eine
lebenslangen Lernens vielmehr auf die gesamte gewisse Distanz zum eigenen Handeln bzw. der kon-
Dauer des Berufslebens. kreten Situation voraus. Sie ermöglicht es, das eige-
Dennoch ist naturgemäß vor allem die Berufs- ne Handeln mit Abstand und aus einer neuen Per-
ausbildung darauf ausgerichtet, Lernende in den spektive heraus zu betrachten, besser zu verstehen
Pflegeberufen beim Erwerb der für die pflegerische und einer kritischen Beurteilung zu unterziehen. Auf
Berufsausübung grundlegenden Kompetenzen zu diese Weise können im Sinne des Lernens neue Er-
unterstützen. kenntnisse gewonnen werden, die in ähnlichen Si-
tuationen und bei weiteren Handlungen genutzt
▌ Kompetenzerwerb am Lernort Praxis werden können. Reflexion ist ein bewusstes und ak-
Die Einsätze am Lernort Praxis während der Berufs- tives Handeln, das wie andere Handlungen auch
ausbildung bieten ein ideales Feld, unter der Anlei- wiederholt geübt werden muss. Auch hier bieten
tung von erfahrenen Pflegepersonen Kompetenz in erfahrene Pflegepersonen und Praxisanleiterinnen
allen genannten Bereichen zu erwerben und zu ver- vor Ort eine wichtige Hilfestellung, indem sie Ler-
tiefen. Hier sollte insbesondere die Möglichkeit ge- nende beim Erkennen und Nutzen von Lernchancen
nutzt werden, in Abhängigkeit vom Ausbildungs- unterstützen. Auf diese Weise wird der Arbeitsort
stand das eigene Handeln (unter Aufsicht und An- „Station“ oder „Wohnbereich“ auch zu einem Lern-
leitung) zu planen, durchzuführen und zu bewerten. ort.
Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammen-
hang das Nachdenken über das eigene Handeln.

80 Pflege und Entwicklung BAND 1


3.2 Kompetenzerwerb

▌ Kompetenzerwerb am Lernort Schule ▌ Kompetenzerwerb am Lernort Skillslab


Auch die Pflegeausbildung am Lernort Schule ist auf Ideale Bedingungen für die Verknüpfung von theo-
die Unterstützung der Lernenden beim Erwerb von retischem und praktischem Wissen bietet das Ler-
Handlungskompetenz ausgerichtet. nen im Skillslab. Hierunter wird eine realitätsnahe
Kompetenzen können im eigentlichen Sinne Lernumgebung verstanden, in der Pflegehandlungen
nicht „vermittelt“ werden, sondern setzen ein akti- in einem geschützten Rahmen ohne den in der Pfle-
ves Tun und eine handelnde Auseinandersetzung gepraxis oftmals herrschenden Handlungsdruck ein- 3
mit Wissen und Können voraus. In der Pflegeaus- geübt und trainiert werden können. Auch pflegebe-
bildung kommen deshalb vor allem solche Lehr- dürftige Menschen werden so weniger belastet.
Lern-Methoden zum Einsatz, die einerseits Kom- Wichtiger Bestandteil des Lernens im Skillslab ist
petenzerwerb in allen Kompetenzbereichen ermög- dabei die Zusammenarbeit mit erfahrenen Pflege-
lichen, andererseits Lernende in der Pflege zum ak- personen. Sie demonstrieren das Vorgehen in kon-
tiven Mitarbeiten und Handeln auffordern. kreten Pflegesituationen und erläutern und begrün-
Auch während der theoretischen Ausbildung in den dabei die Handlungsschritte, die sie ausführen.
der Krankenpflege-, Kinderkrankenpflege oder Al- Lernende können auf diese Weise das Handeln der
tenpflegeschule können – neben der Fach- und Me- Experten nachvollziehen und „am Modell lernen“.
thodenkompetenz – Sozialkompetenz und personale Sie bekommen ein Feedback zu ihrer eigenen Hand-
Kompetenz erworben werden. Dies geschieht in ers- lungsausführung und erwerben Handlungssicher-
ter Linie über die Lehr- und Lernmethoden im Un- heit für die berufliche Pflegepraxis. Auch beim Ler-
terricht. nen im Skillslab spielt die Bereitschaft zum Nach-
Vor allem Kleingruppenarbeit und die Zusam- denken über das eigene berufliche Handeln in
menarbeit in selbst organisierten Lerngruppen för- Form von Reflexionen eine wichtige Rolle.
dern die Fähigkeit, sich über fachliche Probleme mit
anderen auseinanderzusetzen und Meinungen zu
diskutieren sowie einen eigenen Standpunkt zu ent- Fazit: Das Aufgabenfeld der Pflegeberufe be-
wickeln und zu vertreten. Gleichzeitig wird hier in findet sich in einem Wandel. Verantwortlich
einem geschützten Rahmen die Gelegenheit gebo- hierfür sind vor allem soziodemografische
ten, die Fähigkeit zur Teamarbeit zu schulen. Entwicklungen und neue Gesetzgebungen im Gesund-
Rollenspiele bieten in besonderem Maße Gele- heitswesen, die zu einer Erweiterung und Schwer-
genheiten, sich in die Situation eines anderen Men- punktverlagerung pflegerischer Aufgaben führen und
schen einfühlen zu lernen. Vorträge und Referate neue Anforderungen an die Kompetenz von Pflegeper-
fördern die eigenständige Auseinandersetzung mit sonen stellen.
einem Thema und unterstützen den Erwerb kom- Zur Ausübung einer qualitativ hochwertigen und
munikativer Fähigkeiten auch dahingehend, dass zielgerichteten Pflege sind Fähigkeiten in den Berei-
ein Sachverhalt anderen Auszubildenden verständ- chen Fachkompetenz, Sozialkompetenz und Selbst-
lich präsentiert werden muss. Projektunterricht kompetenz unerlässlich. Alle Teilbereiche zusammen
oder problemorientiertes Lernen ermöglichen das bilden die berufliche Handlungskompetenz und sind
zielgerichtete und gemeinsame Arbeiten an pflege- die Voraussetzung für erfolgreiches pflegerisches Han-
relevanten Fragestellungen und die selbst gesteuerte deln.
Planung, Durchführung, Bewertung und Reflexion Der Erwerb der für die pflegerische Berufsaus-
der eigenen Lernprozesse. So könnte die Reihe fort- übung erforderlichen Kompetenzen findet zu einem
gesetzt werden. wesentlichen Teil während der Berufsausbildung an
Entscheidend für den Erfolg beim Einsatz dieser den Lernorten Praxis und Schule statt. Er setzt dabei
Unterrichtsmethoden ist jedoch, dass sie bei den in hohem Maße die Bereitschaft der Lernenden zu
Auszubildenden auf die Bereitschaft zu Mitarbeit, Reflexion und aktiver Mitgestaltung des Lernprozesses
Engagement, Lernen und Kompetenzerwerb treffen. voraus. Kompetenzerwerb und die Weiterentwicklung
von Kompetenzen ist nicht auf die Berufsausbildung
beschränkt, sondern vollzieht sich im Sinne lebenslan-
gen Lernens während der gesamten Berufstätigkeit.

BAND 1 Pflege und Entwicklung 81


3 Berufliche Handlungskompetenz

Kirkevold, M.: Pflegewissenschaft als Praxisdisziplin. Hans


Literatur: Huber, Bern 2002
Kultusministerkonferenz (KMK): Handreichungen für die Er-
Benner, P.: Stufen zur Pflegekompetenz. From Noviceto Ex- arbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkon-
pert. Hans Huber, Bern 1994 ferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufs-
Deutscher Bildungsrat für Pflegeberufe (Hrsg.): Berufskom- schule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnungen
pentenzen professionell Pflegender. Berlin 2002 des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe. Aktuali-
3 Dielmann, G.: Krankenpflegegesetz und Ausbildungs- und sierte Auflage. Berlin 2011
Prüfunsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege. Oerter, R., L. Montada: Entwicklungspsychologie, 6. Aufl.
Kommentar für die Praxis. Mabuse, 3. Aufl. Frankfurt a.M. Beltz, Weinheim 2008
2013 Raven, U.: Handlungskompetenz in der Pflege und ihre Be-
Erpenbeck, J. et al. (Hrsg.): Handbuch Kompetenzmessung. deutung für die Professionalisierung des Berufsfeldes.
3. Aufl. Schäffer Poeschel, Stuttgart 2017 Pflege 8 (1995) 347
Gesetz über die Berufe in der Altenpflege (Altenpflegegesetz Schneider, W., U. Lindenberger: Entwicklungspsychologie.
– AltPflG, BGBl I, S. 1513) 7. Aufl. Beltz, Weinheim 2012
Gnahs, D.: Kompetenzen. Erwerb, Erfassung, Instrumente. Schwarz-Govaers, R.: Subjektive Theorien als Basis von Wis-
2. Aufl. wbv, Bielefeld 2010 sen und Handeln. Ansätze zu einem handlungstheoretisch
Gudjons, H., S. Traub: Pädagogisches Grundwissen. 12. Aufl. fundierten Pflegediagnostikmodell. Hans Huber, Bern
Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2016 2005
Heursen, G.: Kompetenz – Performanz. In: Lenzen, D. (Hrsg.): Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung und Erwerbs-
Pädagogische Grundbegriffe, Bd. 2: Jugend bis Zeugnis. tätigkeit. Ausländische Bevölkerung. Ergebnisse des Aus-
Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Ham- länderzentralregisters 2015. Wiesbaden 2016
burg, 1993 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Ältere Menschen in Deutsch-
land und in der EU. Wiesbaden 2016

82 Pflege und Entwicklung BAND 1


II Pflege und Profession

Übersicht
4 Pflegetheorien · 86
5 Pflegewissenschaft und -forschung · 137
6 Pflegeprozess und Pflegequalität · 160
7 Pflegediagnosen · 221
8 Arbeitsorganisation und
Pflegesysteme · 235

Seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts ist innerhalb der Pflegeberufe in Deutschland ein
deutliches Bestreben zu erkennen, sich als Profession und eigenständige wissenschaftliche
Disziplin zu etablieren. Eine entscheidene Bedingung für diesen Professionalisierungspro-
zess ist die Entwicklung und der Ausbau einer pflegespezifischen Wissensbasis, die im
konkreten pflegerischen Handeln umgesetzt wird.
Um das eigene Handeln effektiv zu gestalten und auch für andere Menschen transparent
und nachvollziehbar zu machen, muss es nicht nur aktuellen wissenschaftlichen Erkennt-
nissen entsprechen, sondern darüber hinaus strukturiert und auf eine systematische Art
und Weise erfolgen. Erforderlich hierfür sind neben entsprechenden Kompetenzen der
Pflegepersonen auch arbeitsorganisatorische Rahmenbedingungen, die eine Ausrichtung
der Pflege auf die pflegebedürftigen Menschen ermöglichen.
Theorien der Pflege, Pflegewissenschaft und -forschung sind dabei unverzichtbare
Elemente einer professionellen Pflegepraxis. Hierzu gehört zudem das strukturierte und
systematische Arbeiten, für das der Pflegeprozess mit den Phasen Bedarfserhebung,
Planung, Durchführung und Evaluation der Pflege einen Rahmen für eine qualitativ hoch-
wertige Dienstleistung bietet. Arbeitsorganisation und Pflegesysteme tragen darüber
hinaus dazu bei, Arbeitsabläufe patientenorientiert, effektiv und systematisch zu gestalten.

BAND 1 Pflege und Profession 85


4 Pflegetheorien
Annette Lauber

Übersicht
Einleitung · 86
4.1 Professionelle Pflege · 87
4 4.2 Theorien und Modelle in der Pflege · 88
4.2.1 Konzepte · 88
4.2.2 Theorien · 89
4.2.3 Modelle · 90
4.2.4 Theoriebildung · 91
4.2.5 Einteilung · 93
4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle
Modelle der Pflege · 95
4.3.1 Hildegard Peplau – Interpersonale
Beziehungen in der Pflege · 95
4.3.2 Ida Jean Orlando – Die lebendige Beziehung
zwischen Pflegenden und Patienten · 98
Einleitung
4.3.3 Martha Rogers – Theoretische Grundlagen
Das Streben nach Wissen ist so alt wie die Mensch-
der Pflege · 102
heit selbst. Wissen ist ein wichtiger Faktor bei der
4.3.4 Dorothea Orem – Strukturkonzepte der
Orientierung des Menschen in seiner Umwelt. Von
Pflegepraxis · 105
Geburt an machen Menschen Erfahrungen mit sich
4.3.5 Betty Neuman – Das System-Modell · 109
selbst, mit anderen Menschen und mit ihrer Umwelt:
4.3.6 Madeleine Leininger – Kulturelle Dimensio-
Ergebnis dieser Erfahrungen ist das Wissen. Im Laufe
nen menschlicher Pflege · 114
der Zeit haben sich wissenschaftliche Disziplinen,
4.3.7 Jean Watson – Pflege: Wissenschaft und
wie z. B. Mathematik, Physik oder auch Medizin, he-
menschliche Zuwendung · 117
rausgebildet, die sich auf die Untersuchung eines fest
4.3.8 Juliet Corbin/Anselm Strauss:
umrissenen Teilbereichs menschlichen Wissens spe-
Modell der Krankheitsverlaufskurve
zialisiert haben. Das auf diese Weise gewonnene
(Chronic Illness Trajectory Model) · 119
Wissen schlägt sich u. a. nieder in der Formulierung
4.3.9 Das Roper-Logan-Tierney-Modell · 123
von Theorien, mit deren Hilfe verschiedenste Sach-
4.3.10 Marie-Luise Friedemann – Familien- und
verhalte beschrieben, erklärt, vorhergesagt oder kon-
umweltbezogene Pflege · 127
trolliert werden sollen und die menschliches Han-
4.3.11 Monika Krohwinkel – Fördernde Prozess-
deln in unterschiedlichen Situationen leiten können.
pflege mit integrierten ABEDLs · 132
Auch die Pflege, als immer noch junge wissen-
4.4 Ausblick · 134
schaftliche Disziplin, entwickelt Theorien über den
Fazit · 136
ihr eigenen Gegenstandsbereich, die handlungslei-
Literatur · 136
tend für die Ausübung der pflegerischen Praxis
sind. Theoriegeleitetes Arbeiten in der Pflege führt
Schlüsselbegriffe
zu einer effizienten, begründbaren, transparenten
▶ Professionalisierungsprozess und überprüfbaren Pflegepraxis und trägt damit
▶ Pflegetheorie entscheidend zur Qualität der Pflege bei. Gleichzei-
▶ Konzept tig wird durch die systematische und strukturierte
▶ Modell Erschließung neuen Pflegewissens der Professiona-
lisierungsprozess der Pflegeberufe unterstützt.
Das folgende Kapitel ordnet die Entwicklung von
Pflegetheorien in den Professionalisierungsprozess

86 Pflege und Profession BAND 1


4.1 Professionelle Pflege

der Pflegeberufe ein, klärt grundlegende Begriffe Nach Weidner (1999) wird Professionalität in der
der Theoriebildung und stellt verschiedene Theorien aktuellen Diskussion anhand folgender Kriterien be-
der Pflege vor. schrieben:
■ Professionen leisten mit ihrer Arbeit einen we-
sentlichen Beitrag für und orientieren ihre Arbeit
4.1 Professionelle Pflege an einem für die Gesellschaft zentralen Wert
(Zentralwertbezogenheit).
Die Pflege hat sich vom unbezahlten Dienst am ■ Professionen erbringen ihre Arbeit in einem ge-
Nächsten hin zu einem Beruf entwickelt, dessen setzlich geschützten Handlungsraum (Auto-
Ausübung bestimmte Kompetenzen verlangt und nomie). In diesem Rahmen ist z. B. die Diskussion
4
der Ausbildung bedarf (s. Kapitel 2). Unter einem um die freiwillige Registrierung und die Einrich-
Beruf wird eine auf den Erwerb ausgerichtete Tätig- tung von Pflegekammern zu sehen.
keit verstanden, die der Absicherung der wirtschaft- ■ Professionen sind um ständige Aneignung von
lichen Existenz und sozialen Stellung dient. Kompetenzen bemüht, die es ihnen ermöglichen,
Im engeren Sinne umfasst ein Beruf eine Arbeits- individuelle Problemlagen von Menschen zu be-
tätigkeit, die eine spezialisierte und formalisierte arbeiten (Handlungsorientierung).
Ausbildung verlangt. Menschen, die sich um Hilfs- ■ Professionen sind bestrebt, das in ihrem Hand-
bedürftige kümmerten, hat es in den Jahrtausenden lungsbereich geltende Wissen zu einer Wissen-
der Menschheit schon immer gegeben. Pflege als schaft zu systematisieren (Wissenschaftlichkeit).
Beruf ist jedoch eine relativ junge Erscheinung.
Das erste reichseinheitliche deutsche Kranken- Die beschriebenen Aspekte verdeutlichen, dass der
pflegegesetz wurde erst im Jahre 1907 verabschie- Wechsel eines Berufes zu einer Profession nicht von
det. Es sah den erfolgreichen Abschluss einer Aus- heute auf morgen geschieht. Professionalisierung
bildung für die Erlaubnis zum Tragen der Berufs- muss vielmehr als eine kontinuierliche Entwicklung
bezeichnung „Krankenschwester/-pfleger“ vor. Eine gesehen werden, weshalb man auch von einem
gesetzliche Regelung für den Beruf „Kinderkranken- Professionalisierungsprozess spricht. Für die Pflege-
schwester/-pfleger“ ist 1957 hinzugekommen. 1967 berufe spielt in diesem Zusammenhang die Pflege-
wurde im Bundesland Nordrhein-Westfalen die wissenschaft eine wichtige Rolle. Sie versucht, beste-
erste Ausbildungsordnung mit staatlicher Ab- hendes Pflegewissen zu systematisieren und neues
schlussprüfung für die Altenpflege erlassen. Pflegewissen zu entwickeln, damit das pflegerische
Der Hauptgrund für die Entstehung von Berufen Handeln auf eine begründbare theoretische Basis
liegt im Bedarf an einer bestimmten Dienstleistung gestellt und der eigentliche Tätigkeitsbereich der
innerhalb der Gesellschaft. Die Altenpflegeberufe Pflegeberufe definiert werden kann. Dabei kommt
sind in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel: der Pflegeforschung (s. a. Kap. 5) und der Entwick-
Die Zunahme an pflegebedürftigen alten Menschen lung von Pflegetheorien entscheidende Bedeutung
in Deutschland hat dazu geführt, dass mit der Alten- zu.
pflege ein Beruf entstanden ist, der sich mit der In Großbritannien und den USA findet die Aus-
Betreuung und Pflege älterer Menschen befasst. einandersetzung mit Theorien in der Pflege bereits
Aber das Profil der einzelnen Berufe unterliegt seit Mitte der 50er Jahre statt. Das hat dazu geführt,
auch Veränderungen. Neue Technologien und wis- dass viele der im amerikanischen Raum entstande-
senschaftliche Erkenntnisse in der Pflege bzw. in nen Pflegetheorien auch in Deutschland Bedeutung
benachbarten Berufen, wie beispielsweise der Medi- erlangt haben. Einige von ihnen werden in diesem
zin, haben Auswirkungen auf die Pflegeberufe. In Kapitel vorgestellt.
diesem Zusammenhang sind die zahlreichen Fach-

!
weiterbildungen, z. B. für den Operationsdienst, den Merke: Pflegetheorien und Pflegeforschung
Intensivbereich oder die Psychiatrie zu nennen. An- ermöglichen die Weiterentwicklung pfle-
dere Veränderungen des Berufsprofils hängen mit gespezifischen Wissens und tragen so zur
der seit etwa 1985 diskutierten Professionalisierung Professionalisierung der Pflegeberufe bei.
der Pflegeberufe zusammen.

BAND 1 Pflege und Profession 87


4 Pflegetheorien

4.2.1 Konzepte
4.2 Theorien und Modelle in der Der kleinste Bestandteil einer Theorie wird als „Kon-
Pflege zept“ bezeichnet, häufig wird er auch „Begriff“ oder
„Konstrukt“ genannt. Konzepte können als eine Idee
Die Entwicklung von Theorien und Modellen hat oder eine gedankliche Vorstellung von Dingen und
eine große Bedeutung für den Professionalisierungs- Ereignissen beschrieben werden.
prozess der Pflegeberufe. Pflegetheorien leisten in
diesem Bereich wichtige Arbeit, weil sie sowohl Definition: Konzepte sind sprachliche Begriffe
Ausdruck des in der Pflege entwickelten Wissens für direkt oder indirekt wahrgenommene
4 sind, als auch durch ihre notwendige Überprüfung Dinge, Ereignisse oder Verhaltensweisen und
Anstoß zu neuen Forschungen geben. Diese For- fassen in Worte, was für die nähere Betrachtung als
schungen können ihrerseits wiederum zur Weiter- wichtig erachtet wird.
entwicklung pflegerischen Wissens beitragen. Die
Wechselwirkung von Theoriebildung und Forschung Diese wahrgenommenen Dinge, Ereignisse oder Ver-
wird auch als komplementär, d. h. sich gegenseitig haltensweisen werden auch als Phänomene bezeich-
ergänzend, bezeichnet. Neben ihrer Funktion im net. Konzepte sind aber nicht das Phänomen selbst,
Professionalisierungsprozess wirken sich Pflege- also beispielsweise ein Objekt wie ein Stuhl, sondern
theorien auch auf sämtliche Bereiche der pflegeri- lediglich eine Bezeichnung dafür. Je komplexer, d. h.
schen Praxis aus. Pflegetheorien tragen zu einer vielschichtiger und umfassender das wahrgenom-
wissenschaftlich fundierten Grundlage für die Pfle- mene Phänomen ist, desto schwieriger wird es,
gepraxis bei, beispielsweise ermöglichen Theorien einen Begriff oder ein Konzept hierfür zu formulieren.
über die Effektivität pflegerischer Maßnahmen be- Konzepte unterscheiden sich durch die Art ihrer
wusste und begründete Entscheidungen für oder Beziehung zur direkt wahrnehmbaren Wirklichkeit.
gegen bestimmte Pflegemaßnahmen. So können sie Objekte beschreiben, die sehr direkt
Pflegetheorien können darüber hinaus den Pro- auch in der Wirklichkeit erfahrbar sind, wie bei-
zess der Informationssammlung, den ersten Schritt spielsweise ein Stuhl oder die Eigenschaft „heiß“.
im Pflegeprozess, unterstützen (s. a. Kap. 6). Eine Solche, eng mit der Wirklichkeit verbundenen Kon-
Reihe von Formularen zur Dokumentation der Infor- zepte werden auch als empirische, mit den Sinnen
mationssammlung sind z. B. anhand von Konzepten erfassbare Konzepte bezeichnet. Sie entstehen durch
aus Pflegetheorien entwickelt worden. die direkte Beobachtung von Objekten, Eigenschaf-
Auch die Ausbildung in den Pflegeberufen kann ten oder Ereignissen.
anhand einer Pflegetheorie strukturiert werden, Im Gegensatz hierzu beschreiben die sogenann-
z. B. anhand der Lebensaktivitäten von Roper/ ten abstrakten Konzepte Phänomene, die nicht di-
Logan und Tierney (s. a. 4.3.9). rekt messbar oder in der Wirklichkeit beobachtbar
Über alle diese Mechanismen tragen Pflegetheo- sind. Wohlbefinden, Selbstpflegefähigkeit oder In-
rien zur Verbesserung der Pflegepraxis bei und hel- teraktion sind Beispiele für solche abstrakten Kon-
fen, die Qualität der pflegerischen Dienstleistung zu zepte. Sie setzen sich aus mehreren, weniger abs-
steigern. Wichtig hierbei ist allerdings, dass der je- trakten Konzepten zusammen, weshalb sie häufig
weilige Abstraktionsgrad einer Pflegetheorie be- auch als „Konstrukte“ bezeichnet werden. Konzepte,
rücksichtigt wird. Nicht jede Theorie ist so konkret, die im Zusammenhang mit dem abstrakten Konzept
dass sie unmittelbar umsetzbare Handlungsanwei- „Wohlbefinden“ eine Rolle spielen, könnten u. a. das
sungen enthält. Körpergewicht, die Mobilität oder auch die Fähigkeit
Aber was genau ist eigentlich eine Pflegetheorie? zur Kommunikation sein. Je abstrakter, d. h. weiter
Da Theorien aus mehreren elementaren Bestandtei- von der Wirklichkeit entfernt, ein Konzept ist, desto
len zusammengesetzt sind, sollen zunächst einige wichtiger ist es, hierfür eine genaue Beschreibung
der wichtigsten Begriffe geklärt werden. oder Definition zu geben, damit seine Bedeutung
auch von anderen Menschen erfasst und nachvoll-
zogen werden kann.

88 Pflege und Profession BAND 1


4.2 Theorien und Modelle in der Pflege

Konzepte bzw. Begriffe haben eine wichtige (1996) haben eine Definition entworfen, die unter-
Funktion im menschlichen Miteinander, weil sie im schiedlichste Aspekte umfasst und auf viele ver-
Rahmen der Kommunikation zur Verständigung von schiedene Theorien angewendet werden kann.
Menschen über Dinge, Ereignisse oder Erfahrungen
beitragen. Die Bildung von Konzepten, die auch als Definition: Chinn und Kramer definieren eine
Begriffsbildung bezeichnet wird, ist darüber hinaus Theorie als „eine kreative und präzise Struktu-
aber auch wesentlich für die Bildung und das Ver- rierung von Ideen, die eine vorläufige, zielge-
ständnis von Theorien. Nur wenn die innerhalb richtete und systematische Betrachtungsweise von
einer Theorie verwendeten Konzepte klar und für Phänomenen ermöglichen“ (Chinn/Kramer 1996,
andere Menschen nachvollziehbar beschrieben wer- S. 79).
4
den, kann auch die Theorie nachvollzogen und ver-
standen werden. Wichtig ist auch, dass Theoretiker Dieser Definition zufolge weisen Theorien mehrere
die Beziehungen zwischen den Konzepten ihrer Merkmale auf:
Theorie klären. Diese Beziehungen werden auch ■ Theorien sind eine kreative und präzise Struktu-
Thesen oder Propositionen genannt. rierung von Ideen, d. h. die wahrgenommenen
Phänomene werden mit Worten als Konzepte

!
Merke: Konzepte sind Begriffe für wahr- strukturiert. Welche Phänomene näher betrach-
genommene Phänomene. Sie werden als die tet und in Form von Konzepten Gegenstand einer
elementaren Bausteine einer Theorie oder Theorie werden, ist eine kreative Entscheidung
auch als Vorstufe einer Theorie betrachtet, deshalb des Theoretikers.
sind sie für die Theoriebildung und das Verständnis ■ Die Anordnung der Konzepte innerhalb einer
vorhandener Theorien von entscheidender Bedeutung. Theorie erlaubt eine systematische Betrachtung
einzelner Phänomene, d. h. die in der Theorie
4.2.2 Theorien enthaltenen Konzepte werden präzise definiert
Theorien bestehen aus einer Ansammlung von Kon- und ihre Beziehung geklärt. Auf diese Weise soll
zepten und Thesen, die in einen Gesamtzusammen- ein besseres Verständnis der Phänomene erreicht
hang gebracht worden sind (Abb. 4.1). werden.
Es gibt eine ganze Reihe von Definitionen für den ■ Theorien haben einen vorläufigen Charakter, d. h.
Begriff „Theorie“, die jeweils unterschiedliche As- sie basieren auf Wertvorstellungen und Annah-
pekte einer Theorie betonen. Chinn und Kramer men des Theoretikers. Die Theorien werden in

Pflegetheorie Theorie
Überprüfung, Bestätigung, Ablehnung

Zusammenhang zwischen
Konzepten, Gesamtstruktur
durch Forschung

Thesenbildung

Klärung der Beziehung


zwischen Konzepten

werden mit Worten


Konzept Konzept Konzept
als Konzepte strukturiert

in der Pflegepraxis wahrge-


Pflegepraxis
nommene Phänomene

Abb. 4.1 Zusammenhang zwischen Phänomen, Konzept und Theorie, dargestellt als schematisches Modell

BAND 1 Pflege und Profession 89


4 Pflegetheorien

der Praxis mittels wissenschaftlicher Forschung 4.2.3 Modelle


überprüft. Gegebenenfalls kommt es hierdurch Definition: Modelle können ganz allgemein als
zu einer Bestätigung, Umformulierung oder Kor- vereinfachte Darstellung der Funktion eines Ge-
rektur der Theorie. genstands oder des Ablaufs eines Sachverhalts
■ Theorien sind zielgerichtet, d. h. sie werden zu beschrieben werden.
einem bestimmten Zweck erstellt, der von Theo-
rie zu Theorie jedoch sehr unterschiedlich sein Sie sollen dazu beitragen, einen Gegenstand oder
kann. Bezogen auf die Pflege bedeutet dies, dass einen Sachverhalt besser verstehen zu können. In
Pflegetheorien Aussagen zu wichtigen pflegeri- der Pflegeausbildung kommen unterschiedlichste
4 schen Phänomenen, eben jenem Teil der Wirk- Modelle zum Einsatz, beispielsweise anatomische
lichkeit machen, die für die Pflege oder die Aus- Modelle, die die Lage der Organe zueinander ver-
übung der Pflege bedeutsam sind. Sie sollen dazu anschaulichen, oder die Übungspuppe, an der Pfle-
beitragen, diese Phänomene besser zu verstehen. gehandlungen geübt werden können. Andere Mo-
delle veranschaulichen einen Sachverhalt in Form
▌ Zielsetzung von Theorien mathematischer Gleichungen oder schematischer
Theorien verfolgen unterschiedliche Ziele. Es gibt Abbildungen, wie z. B. die Abb. 4.1.
beispielsweise Theorien, die die Auswirkungen des Auch im Zusammenhang mit Theorien in der
Nachtdienstes auf das Pflegepersonal beschreiben. Pflege werden Modelle verwendet. Prinzipiell kön-
Andere Theorien beschreiben die Effektivität pflege- nen sie vor der Theoriebildung oder danach entwor-
rischer Interventionen. fen werden. Wenn sie vorher angefertigt werden,
Unabhängig von den verschiedenen inhaltlichen helfen sie in erster Linie dem Theoretiker, sich über
Zielen der einzelnen Theorien, kann die Zielsetzung die möglichen oder fehlenden Beziehungen zwi-
von Theorien auch mithilfe wissenschaftlicher Be- schen den Konzepten seiner Theorie klar zu werden.
griffe beschrieben werden. Viele Modelle werden jedoch auch im Nachhinein
Einige Theorien beschränken sich auf die Be- erstellt, um die einzelnen Theorien und die Bezie-
schreibung einzelner, für die Pflege wichtiger Phä- hungen zwischen den in ihr enthaltenen Konzepten
nomene, weshalb sie auch deskriptive Theorien ge- zu veranschaulichen und für die Anwender der
nannt werden. Andere haben zum Ziel, verschiedene Theorie verständlich zu machen.
Phänomene zu erklären, und werden dementspre-

!
chend erklärende Theorien genannt. Prädiktive Merke: Allen Modellen gemeinsam ist, dass
Theorien können Veränderungen von Situationen sie die Wirklichkeit in reduzierter und ver-
vorhersagen. Kontrollierende Theorien geben An- einfachter Form wiedergeben und zu deren
weisungen für Handlungen, um bestimmte Situatio- Verständnis beitragen sollen.
nen in eine bestimmte Richtung verändern zu kön-
nen. In der Pflege wird der Begriff „Modell“ auch noch in
Als Praxistheorien werden solche Theorien be- einem anderen Zusammenhang gebraucht. Einige
zeichnet, die zum Ziel haben, eine bestimmte Pfle- der Theoretiker verwenden für Theorien mit großer
gepraxis „vorzuschreiben“. Wie kontrollierende Reichweite, sogenannte „globale Theorien“, die Be-
Theorien beschreiben sie, welche Handlungen aus- zeichnung „konzeptionelles Modell“. Ein konzeptio-
geführt werden müssen, um ein gewünschtes Er- nelles Modell gilt gegenüber einer Theorie als abs-
gebnis zu erreichen. Zusätzlich bewerten sie jedoch trakter, d. h. weiter von der Wirklichkeit entfernt
das Ergebnis, d. h. sie machen Aussagen dazu, ob ein und weniger spezifisch. Nichtsdestotrotz sind auch
Ergebnis überhaupt erstrebenswert ist, weshalb konzeptionelle Modelle Theorien, allerdings solche,
auch vom normativen Charakter der Praxistheorien die einen hohen Abstraktionsgrad und eine große
gesprochen wird. Reichweite aufweisen, d. h. sie beschreiben den Ge-
genstandsbereich der Pflege sehr umfassend, aber

!
Merke: Pflegetheorien ermöglichen eine wenig konkret.
systematische Betrachtung pflegerelevanter
Phänomene.

90 Pflege und Profession BAND 1


4.2 Theorien und Modelle in der Pflege

!
Merke: Modelle dienen der Veranschauli- Ida Jean Orlando hat ihre Theorie der „lebendigen
chung komplexer Gegenstände oder Sach- Beziehung zwischen Pflegenden und Patienten“ auf
verhalte. induktivem Weg entwickelt, indem sie zahlreiche
Einzelinteraktionen zwischen Pflegepersonen und
Patienten beobachtet und allgemeine Schlussfolge-
4.2.4 Theoriebildung rungen hieraus abgeleitet hat.
Zur Entwicklung einer Theorie können ganz unter- Die induktive Vorgehensweise zur Theoriebil-
schiedliche Methoden verwendet werden. Besonde- dung hat jedoch ihre Grenzen. Streng genommen
re Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der führt sie nur dann zu einem allgemein gültigen
induktiven und der deduktiven Vorgehensweise zu Schluss, wenn alle möglichen Einzelfälle beobachtet
4
(Abb. 4.2). worden sind. In der Realität ist es jedoch kaum
durchführbar, beispielsweise alle Menschen mit
▌ Induktion und Deduktion einem Dekubitus auf das Auftreten von Schmerzen
Prinzipiell können Theorien auf induktivem oder de- hin zu beobachten.
duktivem Weg entwickelt werden. So könnte in dem oben erwähnten Beispiel ein
Mensch aufgeführt werden, der aufgrund einer
Definition: Bei der induktiven Methode wer- kompletten Querschnittslähmung und dem damit
den von mehreren in der Pflegepraxis beobach- einhergehenden Sensibilitätsverlust in den unteren
teten Einzelfällen Rückschlüsse auf allgemeine Extremitäten einen Dekubitus am Sitzbein als nicht
Gesetzmäßigkeiten abgeleitet. schmerzhaft empfindet.
In diesem Fall würde die oben formulierte Theo-
Die induktive Methode geht also vom spezifischen rie also nicht zutreffen.
Einzelfall zu einem allgemeinen Sachverhalt, bzw.
von der konkreten zur abstrakten Ebene. Definition: Bei der deduktiven Methode wer-
den von allgemeinen Beziehungsaussagen, die
Beispiel: Herr N. hat einen Dekubitus, der auch als Prämissen bezeichnet werden, Rück-
Schmerzen verursacht. Frau O. hat einen De- schlüsse auf Einzelfälle gezogen.
kubitus, der Schmerzen verursacht. Herr P.
hat einen Dekubitus, der Schmerzen verursacht. Folg-
lich leiden alle Menschen mit einem Dekubitus unter
Schmerzen.

Abb. 4.2 Induktion und Deduktion


abstrakte Erkenntnis
deduktive Behauptung
Theoriebildung Annahme
Vorstellung

Pflegetheorie

Verallgemeinerung

Überprüfung

Pflegepraxis
induktive Phänomene (beobachtbar)
Theoriebildung konkrete Erfahrungen
Probleme

BAND 1 Pflege und Profession 91


4 Pflegetheorien

Sie verläuft im Gegensatz zur induktiven Methode als es ihnen um eine theoretische Auseinanderset-
von der abstrakten zur spezifischen, konkreten Ebe- zung über Theorien als solche geht. Im Folgenden
ne, wie in folgendem Beispiel dargestellt: sollen die auf den verschiedenen Ebenen gebildeten
Theorien näher beschrieben werden.
Beispiel: Immobile Patienten sind deku-
bitusgefährdet (Prämisse A). Herr T. ist ein ▌ Metatheorie
immobiler Patient (Prämisse B). Folglich ist Definition: Die Metatheorie befasst sich mit
Herr T. dekubitusgefährdet (Schlussfolgerung). methodischen und philosophischen Fragen der
Theoriebildung in der Pflege.
4 Auch die deduktive Vorgehensweise hat ihre Gren-
zen. Sie ist auf gültige, bestätigte Prämissen als Aus- Innerhalb der Metatheorie wird z. B. diskutiert, wel-
gangspunkte der Schlussfolgerungen angewiesen, che Arten von Theorien in der Pflege benötigt wer-
anderenfalls müssen auch die aus den Prämissen den, welche Ziele sie aufweisen sollten, welche Me-
abgeleiteten Schlussfolgerungen als ungültig ange- thoden zur Theorieentwicklung für die Pflege ange-
sehen werden. Viele der globalen Pflegetheorien bracht sind und auf welche Weise Theorien in der
oder konzeptionellen Modelle der Pflege, beispiels- Pflege bewertet werden können. Mit anderen Wor-
weise das System-Modell von Betty Neuman, sind ten: Auf der Ebene der Metatheorie werden theo-
auf deduktivem Weg entstanden, also von einer ab- retische Diskussionen über Theorien und Theoriebil-
strakten Erkenntnis oder Behauptung ausgehend. dung geführt.
Der überwiegende Teil dieser Diskussionen führt

!
Merke: Grundsätzliche Vorgehensweisen weder zu einer globalen oder praxisnahen Theorie
bei der Theoriebildung sind die Induktion noch zu einer Theorie mittlerer Reichweite. Den-
(Rückschlüsse von Einzelfällen auf allgemei- noch sind Diskussionen auf dieser Ebene wichtig,
ne Gesetzmäßigkeiten) und die Deduktion (Rück- da hier das Fundament für alle weiteren theoreti-
schlüsse aus allgemeinen Beziehungsaussagen auf schen Überlegungen geschaffen wird.
Einzelfälle).
▌ Globale Theorien
▌ Ebenen der Theoriebildung Globale Theorien werden auch „grand theories“,
Theoriebildung in der Pflege findet auf vier ver- „konzeptionelle Modelle“, „konzeptueller Rahmen“
schiedenen Ebenen statt. Unterschieden werden in oder „Paradigma“ genannt.
diesem Zusammenhang die Ebenen der praxisnahen
Theorien, die der Theorien mittlerer Reichweite und Definition: Globale Theorien beschreiben das
die Ebene der globalen Theorien. Sie unterscheiden Wesentliche und Spezifische der Pflege und tra-
sich in erster Linie in Bezug auf ihren Abstraktions- gen somit bei, die Pflege begrifflich anderen
grad und ihre Reichweite. Der Abstraktionsgrad be- Disziplinen im Gesundheitswesen zu unterscheiden.
schreibt den Unterschied zwischen der beobacht-
baren Wirklichkeit und der Beschreibung und Erklä- Globale Theorien sind übergeordnete, umfassende
rung dieser Wirklichkeit in der jeweiligen Theorie. Theorien, die wenige, aber umfassende Konzepte
enthalten. Sie haben eine große Reichweite und be-

!
Merke: Die Reichweite einer Theorie hängt schreiben einen größeren Bereich der Pflege als pra-
davon ab, welche Aspekte der Pflege sie be- xisnahe Theorien oder Theorien mittlerer Reichwei-
schreibt, d. h. wie umfassend sie versucht, te. Hierdurch ergeben sich allerdings auch einige
das Fachgebiet „Pflege“ zu beschreiben. Schwierigkeiten: Globale Theorien sind in der
Regel sehr abstrakt, d. h. von der Wirklichkeit weit
Theorien mit großer Reichweite sind in der Regel entfernt und dadurch nur schwer durch Forschung
auch sehr abstrakt, während sich Theorien mit ge- oder Praxis überprüfbar. Es sind viele interpretie-
ringer Reichweite zumeist auf konkrete Phänomene rende Schritte nötig, um zu erkennen, auf welches
der Pflegepraxis beziehen. Eine vierte Ebene der konkrete Phänomen sie sich beziehen. Eine Auswahl
Theoriebildung umfasst die sogenannten Metatheo- der dieser Kategorie zugeordneten Pflegetheorien
rien. Sie nehmen insofern eine Sonderstellung ein, wird in diesem Kapitel vorgestellt. Die einzelnen

92 Pflege und Profession BAND 1


4.2 Theorien und Modelle in der Pflege

globalen Theorien unterscheiden sich teilweise be-


trächtlich hinsichtlich ihres Abstraktionsgrades, ins-
gesamt sind sie aber alle nicht konkret genug, um Metatheorien
liefert
als Theorien mittlerer Reichweite oder als praxis- klärt Material
nahe Theorien eingestuft werden zu können. für
Die überwiegende Zahl der globalen Theorien ist Globale Theorien
klären und
in den USA zu Beginn der Theoriebildung in der leitet vervoll-
Pflege entstanden. Damals herrschte die Überzeu- ständigen
Theorien mittlerer
gung vor, dass es nur eine richtige Theorie für die Reichweite
Pflege geben könne. Das Ergebnis waren Theorien bestimmt überprüft 4
praktisch
mit großer Reichweite, da möglichst alle Aspekte
Praxisnahe
der Pflege in einen logischen Gesamtzusammen- Theorien
hang gebracht werden sollten. Heute wird vermehrt
davon ausgegangen, dass viele verschiedene Theo-
rien, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Pflege Abb. 4.3 Ebenen der Theoriebildung
beleuchten und wegen ihrer geringeren Reichweite
eher durch die Forschung überprüft werden und
Beispiel: „Wie wirkt sich die vorausgehende
Antworten auf konkrete Fragen der Pflegepraxis
Information eines Patienten auf dessen
geben können, für die Pflege besser geeignet sind.
Angst bei der Harnblasenkatheterisierung
Aus diesem Grund sind in neuerer Zeit kaum noch
aus?“ Für die Praxis könnten dann auf der Basis dieser
globale Pflegetheorien entwickelt worden.
theoretischen Erkenntnisse konkrete Handlungsricht-
linien abgeleitet werden, wie ein Patient vor diesem
▌ Theorien mittlerer Reichweite
invasiven Eingriff informiert werden soll.
Definition: Theorien mittlerer Reichweite, die
auch als „middle-range theories“ bezeichnet
werden, gelten im Gegensatz zu den globalen Wissen, das auf dieser Ebene der Theorien entsteht,
Theorien für einen begrenzteren Ausschnitt der Pflege kann auch in Pflegestandards einfließen und damit
und enthalten eine geringere Anzahl von Konzepten. direkt in der Praxis umgesetzt werden. Abb. 4.3 ver-
Dies macht sie in Forschung und Praxis leichter über- deutlicht die Zusammenhänge zwischen den einzel-
prüfbar. nen Ebenen der Theoriebildung.

!
Viele der Theorien mittlerer Reichweite sind aus Merke: Theoriebildung in der Pflege erfolgt
Teilen der globalen Theorien abgeleitet. Die „Selbst- auf vier Ebenen. Dementsprechend werden
pflegedefizit-Theorie“ von Dorothea Orem besteht Metatheorien, globale Theorien, Theorien
beispielsweise aus drei Theorien mittlerer Reichwei- mittlerer Reichweite und praxisnahe Theorien unter-
te: Der Theorie der Selbstpflege, der Theorie des schieden.
Selbstpflegedefizits und der Theorie der Pflegesys-
teme. 4.2.5 Einteilung
Übereinstimmend werden in der Literatur die An-
▌ Praxisnahe Theorien fänge der Auseinandersetzung mit den theoreti-
Definition: Praxisnahe Theorien, auch „nar- schen Grundlagen der Pflege in den Arbeiten von
row-scope theories“ genannt, beschreiben Florence Nightingale gesehen. Sie gilt als die erste
einen kleinen Ausschnitt der Pflege, diesen Theoretikerin der Pflege. Nightingale ging von
aber sehr ausführlich und detailliert. einem neben der Medizin existierenden, eigenstän-
digen Pflegewissen aus, für das eine besondere Qua-
Sie werden wiederum häufig aus Theorien mittlerer lifikation nötig war. Im Zentrum ihrer Theorie stand
Reichweite abgeleitet. Praxisnahe Theorien geben die enge Beziehung zwischen Umgebung und Ge-
Handlungsanweisungen zum Erreichen eines ge- sundheit. Krankenschwestern sollten die Umgebung
wünschten Ziels. Ein Beispiel für eine praxisnahe so verändern, dass der Prozess der Heilung erleich-
Theorie könnte das Ergebnis folgender Arbeit sein. tert würde. Ihre Handlungsanweisungen beschrieb

BAND 1 Pflege und Profession 93


4 Pflegetheorien

sie 1859 ausführlich in ihrem Werk „Notes on Nur- Um die Vielfalt von Theorien zu ordnen, können
sing“. die beschriebenen Kriterien Abstraktionsgrad und
Nach nahezu einhundertjähriger Pause setzte Reichweite herangezogen werden. Auch einige Pfle-
sich die pflegetheoretische Diskussion erst in den getheoretikerinnen haben Ordnungssysteme ent-
50er Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA fort. worfen, in denen die einzelnen Pflegetheorien nach
Seitdem sind eine Vielzahl unterschiedlichster Theo- bestimmten Gruppen geordnet werden. Die ame-
rien in der Pflege entstanden, die meisten davon im rikanische Pflegewissenschaftlerin Ann Marriner-
anglo-amerikanischen Sprachraum (Tab. 4.1). Tomey (1994) ordnet die einzelnen Pflegetheorien
drei Gruppen zu:
4
Tab. 4.1 Chronologische Übersicht über die konzeptuellen Modelle in der Pflege

Jahr der ersten wichtigen Theoretikerin Schwerpunkt


Veröffentlichung

1952 Hildegard E. Peplau Unterstützende Hilfe befriedigt Bedürfnisse durch die Kunst der individuellen
Pflege.

1960 Fay G. Abdellah Irene L. Be- Die Pflege wird durch die Probleme der Patienten bestimmt.
landdes Almeda Martin Rugh
V. Matheney

1961 Ida Jean Orlando Der interpersonelle Prozess lindert Leid.

1964 Ernestine Wiedenbach Der helfende Prozess erfüllt Bedürfnisse durch die Kunst, die Pflege individuell
zu gestalten.

1966 Lydia E. Hall Pflege ist eine auf eine andere Person gerichtete Selbstliebe.

1966 Joyce Travèlbee Die Bedeutung einer Krankheit bestimmt, wie ein Mensch reagiert.

1967 Myra E. Levine Ganzheitlichkeit wird durch Bewahrung der Integrität aufrechterhalten.

1970 Martha E. Rogers Mensch und Umgebung sind Energiefelder, die sich negentropisch entwickeln.

1971 Dorothea E. Orem Selbstpflege bewahrt die Ganzheitlichkeit.

1971 Imogene M. King Transaktionen bilden den Bezugsrahmen für die Festlegung von Zielen.

1974 Schwester Callista Roy Ein adaptives System wird durch Reize gestört.

1976 Josephine G. Paterson Loret- Pflege ist eine existenzielle Erfahrung von Zuwendung.
ta T. Zderad

1978 Madeleine M. Leininger Fürsorge (Care) ist universell und verändert sich in Abhängigkeit von der
Kultur.

1979 Jean Watson Fürsorge (Care) ist ein moralisches Ideal: ein Sich-Einlassen auf Geist, Körper
und Seele des anderen.

1979 Margaret A. Newman Das Krankheitsgeschehen ist ein Hinweis auf vorhandene Lebensmuster.

1980 Dorothy E. Johnson Subsysteme existieren in einer dynamischen Stabilität.

1981 Rosemarie Rizzo Parse Unteilbare Individuen und die Umgebung erschaffen gemeinsam Gesundheit.

1989 Patricia Benner und Judith Fürsorge (Care) macht das Wesen der Pflege aus. Sie zeigt, worauf es an-
Wrubel kommt, und macht so Beziehungen und Anteilnahme möglich. Sie bietet den
Rahmen für gegenseitige Hilfeleistung.

94 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

1. Philosophien, die die Pflege als Kunst und Wis- Theorien bestehen nach Fawcett aus recht spezi-
senschaft sehen. Hierzu rechnet sie u. a. die fischen Konzepten und sind empirisch überprüfbar,
Theorien von Jean Watson und Patricia Benner. da sie sich auf konkrete Phänomene beziehen. Zu
2. Konzeptionelle Modelle bzw. Theorien großer den Theorien zählt sie u. a. die Arbeiten von Made-
Reichweite, die Beschreibungen der Begriffe leine Leininger, Ida Jean Orlando, Hildegard Peplau
„Mensch“, „Umgebung“ und „Gesundheit“ ent- und Jean Watson.
halten. Hier ordnet sie u. a. die Theorien von Konzeptionelle Modelle sind demgegenüber
Betty Neuman und Dorothea Orem ein. ihrer Ansicht nach abstrakter, nicht auf eine Person
3. Theorien mittlerer Reichweite, die präziser als oder Situation beschränkt und entsprechend weder
Theorien großer Reichweite sind und konkrete direkt empirisch beobachtbar noch überprüfbar.
4
Fragen der Pflegepraxis beantworten können. Hierzu zählt sie u. a. die Ansätze von Martha Rogers
Hierzu gehören u. a. die Theorien von Hildegard und Dorothea Orem.
Peplau, Ida Jean Orlando und Madeleine Leinin-
ger.

Die amerikanische Pflegewissenschaftlerin Afaf Me-


4.3 Ausgewählte Theorien und
leis (1999) ordnet die Pflegetheorien nach ihrem konzeptionelle Modelle der
jeweiligen inhaltlichen Schwerpunkt und unterteilt Pflege
in „Bedürfnismodelle“, „Interaktionsmodelle“ und
„Pflegeergebnismodelle“. Im Folgenden werden einige ausgewählte Pflege-
Bedürfnismodelle beschreiben den Menschen als theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege in
ein Wesen, das normalerweise seine Bedürfnisse der Reihenfolge ihrer Entstehung vorgestellt. Sie
selbstständig befriedigen kann, in spezifischen Si- verdeutlichen die Breite der pflegetheoretischen
tuationen jedoch hierbei der Unterstützung bedarf. Ansätze und geben einen Einblick, auf welch vielfäl-
Bedürfnismodelle beantworten in der Regel folgen- tige Weise die Pflege betrachtet werden kann.
de Fragen: Was tun Pflegepersonen, was sind ihre
Funktionen und welche Rollen spielen sie? Zu den 4.3.1 Hildegard Peplau – Interpersonale
Bedürfnismodellen zählt z. B. die Theorie von Beziehungen in der Pflege
Dorthea Orem. Die amerikanische Pflegetheoretikerin Hildegard
Die Interaktionsmodelle versuchen zu beschrei- Peplau hat pflegepraktische Erfahrung überwiegend
ben, wie Pflegekräfte arbeiten, und beschäftigten in Einrichtungen der psychiatrischen Pflege gesam-
sich in erster Linie mit der Interaktion bzw. der Be- melt. Nicht zuletzt deshalb sind viele Erkenntnisse
ziehung zwischen Pflegeperson und Patient. Damit anderer Wissenschaften, vor allem der Psychologie,
leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Klärung in ihre Theorie eingebunden. Obwohl Peplaus Wur-
dessen, was unter dem Beziehungsaspekt des Pfle- zeln in der psychiatrischen Pflege liegen, können die
geprozesses zu verstehen ist (s. a. Kap. 6) und geben in ihrer Theorie beschriebenen Phasen der Interakti-
Antwort auf die Frage, wie Pflegepersonen ihre Ar- on zwischen Pflegeperson und Patient in jeder pfle-
beit leisten. Die Theorien von Hildegard Peplau und gerischen Beziehung stattfinden und von der Pflege-
Ida Jean Orlando ordnet Meleis dieser Kategorie zu. person gezielt eingesetzt werden.
Bei den Pflegeergebnismodellen liegt das Ziel der Im Zentrum von Peplaus Theorie, die sie 1952
Pflege nicht im Prozess der Pflege selbst, sondern im entwickelt hat, steht die Interaktion bzw. Beziehung
Endergebnis der Pflege. Sie versuchen eine Antwort zwischen Pflegeperson und Patient. Sie versucht zu
auf die Frage zu geben, warum Pflege stattfindet, klären, wie die Beziehung zwischen Pflegeperson
und beschreiben insbesondere den Menschen als und Patient aussehen sollte, damit sie den Gesun-
Empfänger der Pflege. Zu dieser Kategorie rechnet dungsprozess bestmöglich unterstützt. Ihre Theorie
Meleis u. a. die Theorie von Martha Rogers. umfasst drei Schwerpunkte:
Die amerikanische Pflegewissenschaftlerin 1. die Beschreibung der psychodynamischen Pflege,
Jacqueline Fawcett (1998, 1999) spricht sich für 2. die Phasen der Interaktion zwischen Pflegeper-
eine wissenschaftstheoretische Einteilung in kon- son und Patient,
zeptionelle Modelle und Theorien aus.

BAND 1 Pflege und Profession 95


4 Pflegetheorien

3. die Beschreibung der Rollen, die die Pflegeperson dabei sowohl sein Problem als auch das Ausmaß sei-
in den jeweiligen Phasen der Beziehung über- ner Hilfsbedürftigkeit erkennen und verstehen.
nimmt. Orientierung heißt für Peplau aber auch, dass der
Patient erkennt, welche Hilfestellungen er von den
▌ Psychodynamische Pflege professionellen Diensten erwarten und wie er die
Psychodynamische Pflege beinhaltet nach Peplau Inanspruchnahme dieser Dienste planen kann.
zwei wesentliche Elemente. Zum einen wird die Spannungen und Ängste, die sich aus der Krank-
Art und Weise, wie ein Patient mit seiner Erkran- heitserfahrung ergeben, sollen in einem positiven
kung zurechtkommt, wesentlich beeinflusst davon, Sinne genutzt werden, um das gegebene Problem
4 wie die Pflegeperson sich in der Beziehung zu die- besser verstehen und lösen zu können.
sem Patienten verhält. Zum anderen liegt die Auf- Damit die Orientierung für den Patienten er-
gabe der Pflege und der Pflegeausbildung darin, den reicht werden kann, wird die Pflegeperson in ver-
Prozess der Entwicklung der Persönlichkeit zu un- schiedenen Funktionen tätig. Neben den erforderli-
terstützen. Peplau geht dabei von einer wechselsei- chen pflegerischen Interventionen unterstützt sie
tigen Beziehung zwischen Pflegeperson und Patient den Patienten beim Verstehen seiner Situation und
aus, die eine Atmosphäre schafft, in der sowohl die übernimmt eine zuhörende und beratende Funk-
Entwicklung des Patienten als auch die Entwicklung tion, wenn der Patient über die mit seiner Krankheit
der Pflegeperson möglich wird. verbundenen Gefühle spricht. Die Orientierungs-
phase ist weitgehend abgeschlossen, wenn Pflege-
▌ Die Phasen der Interaktion zwischen person und Patient das Problem übereinstimmend
Pflegeperson und Patient bewerten und sich gegenseitig über die zukünftige
Im Beziehungsprozess zwischen Pflegeperson und Arbeit verständigt haben.
Patient identifiziert Peplau vier aufeinander folgen- In der Identifikationsphase identifiziert sich der
de Phasen, die eng miteinander verbunden sind und Patient mit der Pflegeperson. Krankheit und die
sich zeitweise auch überlappen können (Abb. 4.4). damit verbundenen Erfahrungen werden von Pa-
Die Orientierungsphase wird eingeleitet, wenn ein tienten oft als Bedrohung ihrer Sicherheit oder
Patient das Bedürfnis nach professioneller Hilfeleis- ihres Selbstwertgefühls erlebt werden und können
tung verspürt. Pflegeperson und Patient versuchen in starke Ängste auslösen. Die Identifikation mit einer
dieser Phase gemeinsam, das Problem des Patienten vorbehaltlos helfenden und für eine umfassende
zu identifizieren und einzuschätzen; der Patient soll und bedingungslose Pflege einstehenden Pflegeper-
son reduziert diese negativen Gefühle.
Peplau beschreibt drei mögliche Arten, wie Pa-
tienten in dieser Phase reagieren:
Bei der 1. sie können sich aktiv an der Pflege beteiligen,
Einweisung
was zu einer wechselseitigen Beziehung zwi-
schen Pflegeperson und Patient führt,
In der Phase 2. sie verweigern ihre Mitarbeit, sodass die Bezie-
intensiver hung überdacht werden muss,
Behandlung 3. wieder andere werden passiv und lassen die
Orientierung

Pflegeperson alles für sie tun.

Das gewählte Verhalten des Patienten ist abhängig


Identifikation

Konvalenz von früheren Pflegeerfahrungen, dem gegenwärti-


und Reha-
bilitation gen Zustand und der Qualität der Beziehung zu der
jeweiligen Pflegeperson.
Nutzung

Ablösung

Kennzeichnend für die Nutzungsphase ist, dass


der Patient die angebotenen Dienstleistungen voll
Entlassung ausschöpft. Die Beziehung zwischen Pflegeperson
und Patient wird mit zunehmender Unabhängigkeit
Abb. 4.4 Phasen der Pflegekraft/Patient-Beziehung des Patienten zu einer mehr partnerschaftlichen Be-

96 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

ziehung. In der Nutzungsphase treffen sich Identifi- sundheitsproblems betreffen. Zum anderen verlan-
kationsphase und Ablösungsphase; der Blick des Pa- gen Fragen des Patienten, die stark mit seinen Ge-
tienten ist verstärkt auf die Zukunft gerichtet. fühlen zu tun haben, von der Pflegeperson auch be-
Die Ablösungsphase bedeutet für den Patienten ratende Fähigkeiten.
nach Peplau schrittweises Aufheben der Identifika- In der Rolle des Lehrenden sieht Peplau eine Kom-
tion mit der Pflegeperson und zunehmende Fähig- bination der verschiedenen Rollen. Lehren heißt für
keit, für sich selbst zu sorgen. Diese Phase verläuft sie, dem Patienten Lernen durch Erfahrung zu er-
meist parallel mit dem medizinischen Gesundungs- möglichen, und – ausgehend von seinem Wissens-
prozess. Sie kann nur erreicht werden, wenn alle stand - auf einen Kenntnisstand hinzuarbeiten, der
vorhergehenden Phasen erfolgreich abgeschlossen ihm hilft, mit seiner Erkrankung zurechtzukommen.
4
wurden. Die Pflegeperson unterstützt den Patienten Peplau geht davon aus, dass in Pflegesituationen
dabei in seinem Bemühen um Unabhängigkeit. meistens die professionellen Fähigkeiten der Pflege-
personen gebraucht werden, um Patienten auf
▌ Rollen in der Pflege ihrem Weg, mit der Erkrankung zurechtzukommen,
Hildegard Peplau identifiziert in ihrer Theorie sechs zu unterstützen. Dies bringt Pflegepersonen in die
verschiedene Rollen, die von Pflegepersonen in den Rolle der Führenden. Sie müssen sich dieser Verant-
einzelnen Phasen der Interaktion mit dem Patienten wortung stellen und sollten dabei einen demokrati-
eingenommen werden (Abb. 4.5). schen Führungsstil umsetzen, der von gegenseitiger
Die von ihr beschriebenen Rollen versteht sie je- Akzeptanz geprägt ist und eine aktive Beteiligung
doch nicht als abgeschlossene Auflistung, sondern des Patienten an der Gestaltung seines Pflegeplans
hält auch die Übernahme anderer Rollen in der In- erlaubt. Bereits in der Ausbildung sollen Lernende
teraktion mit dem Patienten für möglich. zu einer demokratischen Führung befähigt werden.
Pflegeperson und Patient begegnen sich zu Be- Wenn Patienten in Situationen geraten, die ver-
ginn ihrer Beziehung zunächst als Fremde. Dement- gangene Gefühle wie Abhängigkeit oder Hilflosigkeit
sprechend nimmt die Pflegeperson zunächst die hervorrufen, weisen sie Pflegepersonen oft Ersatz-
Rolle der Fremden ein. Peplau ist der Ansicht, dass rollen zu, beispielsweise die Mutter- oder Geschwis-
Pflegepersonen Patienten respektvoll und mit posi- terrolle.
tivem Interesse begegnen sollen. Hierzu gehört für Für Pflegepersonen ist es wichtig, diese Rollen-
sie, den Patienten so anzunehmen, wie er ist, und zuschreibungen zu erkennen und dem Patienten
ihn als einen zu Gefühlen fähigen Fremden anzuse- durch Gespräche über seine Gefühle persönliches
hen. In diesem Verhalten sieht Peplau eine wesent- Wachstum zu ermöglichen. Nach Peplau bewegt
liche Voraussetzung für den Beginn einer interper- sich die Beziehung zwischen Pflegeperson und Pa-
sonalen Beziehung. tient auf einem Kontinuum, an dessen Ende beide
In der Rolle der unterstützenden Person geben Parteien in der Lage sein sollen, als Erwachsene zu
Pflegepersonen zum einen konkrete Antworten auf handeln und die Bereiche von gegenseitiger Abhän-
Fragen des Patienten, die die Behandlung seines Ge- gigkeit und Unabhängigkeit zu bestimmen (Abb. 4.6).

Berater
Bedingungsloser Unterstützende Person Erwachsene
Pflegekraft Fremder Führungsrolle
Mutter-Ersatz Person
Ersatz: Mutter, Geschwister

Patient Fremder Kleinkind Kind Heranwachsender Erwachsener

Orientierung Identifikation
Phasen in
der Pflege- Ausnutzung
beziehung
Ablösung

Abb. 4.5 Phasen und wechselnde Rollen in der Pflegekraft/Patient-Beziehung

BAND 1 Pflege und Profession 97


4 Pflegetheorien

Patient: Patient
persönliche
Ziele

Gegenseitiges Ver-
Persönliche Vorur- stehen der Pro-
teile über die Be- bleme und Rollen
von Pflegekraft und Gemeinsame
Gänzlich ver- deutung des me- Teils gegenseitiges
Patient sowie An- Anstrengungen
schiedene Ziele dizinischen Pro- und teils persön-
forderungen an mit dem Ziel, das
4 und Interessen. blems und der Rollen liches Verständnis
beide wegen des Problem produk-
Beide sind fürein- eines jeden des medizinischen
Problems. tiv miteinander
ander Fremde. in der problema- Problems.
Gemeinsame, ge- zu lösen.
tischen Situation.
teilte Gesundheits-
ziele.

Pflegekraft:
Pflege-
berufliche
kraft
Ziele

Abb. 4.6 Pflegekraft/Patient-Kontinuum. Darstellung der sich ändernden Aspekte der Beziehung

Die beratende Rolle der Pflegeperson leitet Pe- Die Aufgaben der Pflege umfassen nach Peplau
plau von dem Ziel der Interaktion zwischen Pflege- sowohl erzieherische als auch therapeutische As-
person und Patient ab: die Förderung von Erfahrun- pekte. Ziel der Pflege ist es, Menschen im Erwerb
gen, die zur Gesundheit führen. Beratung heißt für problemlösender und damit spannungsreduzieren-
sie, dem Patienten zu helfen, sich seiner Gefühle, der Fähigkeiten anzuleiten und zu unterstützen,
z. B. hinsichtlich einer anstehenden Operation, voll damit sie aktuelle, aber auch zukünftige, ähnliche
bewusst zu werden. Auf diese Weise kann die aktu- Probleme erkennen und lösen können. Diesen Pro-
elle Lebenserfahrung zu persönlichem Wachstum zess nennt Peplau „interpersonales Lernen“, was
führen. Die beratende Rolle verlangt, wie alle ande- persönliches Wachstum und größere Reife zur
ren beschriebenen Rollen auch, vor allem kommuni- Folge hat.
kative Fähigkeiten, was eine entsprechende Schu-
lung der Pflegepersonen voraussetzt. Zusammenfassung:
Interpersonale Beziehungen (Peplau)
▌ Definition der Pflege ■ Fokus auf Interaktion zwischen Pflegeperson und
Pflege ist nach Peplau „ein signifikanter, therapeuti- Patient,
scher, interpersonaler Prozess. Sie wirkt in Koope- ■ beschreibt die Phasen der Interaktion,
ration mit anderen menschlichen Prozessen, die ■ klassifiziert Rollen der Pflegeperson und des Pa-
dem Einzelnen in der Gesellschaft Gesundheit er- tienten im Lauf des Pflegeprozesses,
möglichen. In spezifischen Situationen, in denen ■ Ziel der Pflege: Fördern der spannungsreduzieren-
ein professionelles Gesundheitsteam gesundheits- den Fähigkeiten des Patienten als interpersonales
bezogene Dienstleistungen erbringt, beteiligen sich Lernen.
die Pflegekräfte an der Organisation von Bedingun-
gen, die die natürlichen fortlaufenden Tendenzen im 4.3.2 Ida Jean Orlando – Die lebendige Beziehung
menschlichen Organismus unterstützen. Die Pflege zwischen Pflegenden und Patienten
ist ein edukatives Instrument, eine die Reife fördern- Ida Jean Orlando hat wie Hildegard Peplau lange
de Kraft, die darauf abzielt, die Vorwärtsbewegung Zeit in der psychiatrischen Pflege gearbeitet. Auch
der Persönlichkeit in Richtung auf ein kreatives, sie legt den Schwerpunkt ihrer Theorie auf die Be-
konstruktives, produktives persönliches und gesell- trachtung der Beziehung zwischen Pflegenden und
schaftliches Leben zu bewirken“ (Peplau 1995, Patienten. Von 1954 – 1959 führte sie in den USA ein
S. 39). Forschungsprojekt durch, welches die Identifikation

98 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

von fördernden und hemmenden Faktoren auf die Unter dem Verhalten des Patienten versteht Orlando
Beziehung zwischen Pflegeperson und hilfsbedürfti- das beobachtbare nonverbale und verbale Verhalten
gem Menschen zum Ziel hatte. eines Patienten, das, egal in welcher Form es sich
Ihre „Theorie der lebendigen Beziehung zwischen äußert, eine Bitte um Hilfe sein kann. Bei der Inter-
Pflegenden und Patienten“ ist auf induktivem Weg pretation des Patientenverhaltens muss versucht
mittels teilnehmender Beobachtung entstanden, werden, die Bedeutung des Verhaltens für den Pa-
d. h. aus einer Vielzahl von Einzelbeobachtungen tienten zu ergründen. Nur wenn die Pflegeperson
wurden allgemeine Schlussfolgerungen gezogen die Bedeutung des Verhaltens eines Patienten in
(s. a. 4.2.4). Orlandos Theorie beschäftigt sich mit einer konkreten Situation begreift, kann sie die Si-
der Frage, wie die Beziehung zwischen Pflegenden tuation des Patienten verstehen, den spezifischen
4
und Patienten beschaffen sein muss, um wirksam Pflegebedarf feststellen und entsprechende, hilfrei-
den Gesundungsprozess zu unterstützen. Hierzu un- che Maßnahmen einleiten.
tersucht sie drei Bereiche der Interaktion zwischen Vorschnelle Interpretationen können am eigent-
Pflegenden und Patienten: lichen Bedürfnis des Patienten vorbeilaufen und
1. die Belastung des Patienten und die Funktion der eine ineffektive Hilfeleistung zur Folge haben.
Pflegenden, Die Reaktion der Pflegenden besteht wiederum
2. die Pflegesituation in der Praxis und aus drei Aspekten: der Wahrnehmung des Patien-
3. Probleme in Pflegesituationen. tenverhaltens, den hierdurch ausgelösten Gedanken
sowie den Empfindungen und Gefühlen, die als Re-
▌ Die Belastung des Patienten und die Funktion der aktion auf die Wahrnehmung und die Gedanken
Pflegenden entstehen. Orlando formuliert ein Prinzip, das die
Orlando geht davon aus, dass Menschen für ge- Pflegenden in ihrer Reaktion leiten soll: Pflegende
wöhnlich ihre Bedürfnisse selbstständig erfüllen dürfen erst annehmen, dass irgend ein Aspekt ihrer
können. Körperliche Grenzen (z. B. durch eine vorü- Reaktion dem Patienten gegenüber (Wahrnehmung,
bergehende oder dauerhafte Behinderung), Belas- Gedanken und Gefühle) korrekt, hilfreich oder an-
tungen durch die Umgebung (z. B. durch Missver- gebracht ist, wenn sie die Angemessenheit dieser
ständnisse bezüglich der Maßnahmen zur Präventi- Reaktion mit dem Patienten untersucht haben. Dies
on, Diagnostik oder Therapie) oder die Unmöglich- bedeutet, dass sich beide, Pflegende und hilfs-
keit, eigene Bedürfnisse mitzuteilen, können jedoch bedürftige Menschen, gemeinsam über die Situation
zu einer vorübergehenden oder dauerhaften Hilfs- auseinandersetzen und in einen offenen Austausch
bedürftigkeit von Menschen führen. miteinander treten müssen.
In dieser Situation sieht Orlando die direkte Ver- Zu den Handlungen der Pflegenden rechnet Or-
antwortung der Pflegenden: Sie sollen dafür sorgen, lando nur solche, die mit dem Patienten oder zu sei-
dass der Patient die nötige Hilfe erhält und seine nem Nutzen vollzogen werden. Grundsätzlich kön-
Hilfsbedürftigkeit verringert wird. Dies geschieht nen die pflegerischen Handlungen mit oder ohne
erstens, indem der Patient ermutigt wird, seine Be- Beteiligung des Patienten erfolgen. Sie identifiziert
dürfnisse mitzuteilen, und zweitens, indem der Pa- zwei mögliche Arten von pflegerischen Handlungen:
tient unterstützt wird, seine eigentlichen Bedürfnis- 1. unwillkürliche, automatische Handlungen, die
se zu ergründen. Beides ermöglicht nach Orlando ohne Absprache mit dem Patienten erfolgen und
eine offene, effektive Beziehung zwischen Pflegen- wirkungslos bleiben, da sie nicht mit seinen un-
den und Patienten. mittelbaren Bedürfnissen zusammenhängen, und
2. professionelle, gezielte, nützliche Handlungen,
▌ Die Pflegesituation in der Praxis die nach Absprache mit dem Patienten beschlos-
Nach Orlando umfasst die Pflegesituation drei we- sen werden und dessen unmittelbare Bedürfnisse
sentliche Elemente: befriedigen.
1. das Verhalten des Patienten,
2. die Reaktion der Pflegenden, Automatische Pflegehandlungen sind ihrer Meinung
3. die pflegerischen Handlungen zum Nutzen des nach ineffektiv, weil
Patienten. ■ sie aus anderen Gründen als dem Bedürfnis des
Patienten vollzogen werden,

BAND 1 Pflege und Profession 99


4 Pflegetheorien

■ der Patient nicht in die Handlung einbezogen Um die Effektivität von Pflegehandlungen ein-
werden kann, schätzen zu können, schlägt Orlando einen Prozess
■ sie sich nicht auf das unmittelbare Bedürfnis des der Reflexion vor, bei dem die Pflegenden die Be-
Patienten beziehen, deutung des jeweiligen Patientenverhaltens gemein-
■ die Pflegenden sich ihre Reaktion auf das Patien- sam mit dem Patienten ergründen, um so sein spe-
tenverhalten nicht bewusst machen, zifisches Bedürfnis erkennen und gezielte, hilfreiche
■ die Pflegenden sich die Wirkung ihrer Handlung pflegerische Maßnahmen durchführen zu können.
auf den Patienten nicht bewusst machen. Diesen Prozess der Reflexion nennt Orlando „Pfle-
geprozess“. Ihre Überlegungen hierzu sind in Zu-
4 Als Beispiele hierfür können alle pflegerischen sammenarbeit mit den Pflegetheoretikerinnen Er-
Handlungen gelten, die nicht konkret anlässlich nestine Wiedenbach und Dorothy Johnson Ende
von Bedürfnissen eines Menschen durchgeführt der 50er Jahre als ein Drei-Phasen-Modell des Pfle-
werden, wie z. B. das routinemäßig durchgeführte geprozesses veröffenflicht worden (s. auch Kap. 6.1).
Ermitteln der Körpertemperatur. Im Verlauf dieses Prozesses sollen drei Erfordernisse
Auch wenn Pflegepersonen auffälliges Verhalten berücksichtigt werden. Die verbalen Äußerungen
eines Patienten bemerken und den Grund für dieses der Pflegenden müssen mit ihrer unmittelbaren Re-
Verhalten nicht erfragen, vollziehen sie ineffektive, aktion auf ein beobachtetes Patientenverhalten
automatische Handlungen. übereinstimmen. Das bedeutet, dass die jeweilige
Gezielte Pflegehandlungen sind demgegenüber Pflegeperson ihre tatsächlichen Wahrnehmungen,
effektiv, weil sie: Gedanken und Gefühle, die sie bei der Beobachtung
■ als Reaktion auf die Bedeutung des Patientenver- eines Patientenverhaltens erlebt, in Worte fassen
haltens und sein spezifisches Bedürfnis nach soll. Diese sollen außerdem klar in Form einer
Hilfe vollzogen werden, „Ich-Botschaft“ gekennzeichnet sein, beispielsweise
■ sie dem Patienten ermöglichen, die Pflegenden „Ich habe den Eindruck, dass...“. Hierdurch wird dem
über die Wirkung der Handlung zu informieren, Patienten deutlich, dass es sich um den subjektiven
■ sie die Bedürfnisse des Patienten erfüllen und die Eindruck der jeweiligen Pflegeperson selbst handelt.
Pflegenden ihrer Verantwortung zur Hilfeleis- Weiter soll der Patient in der Kommunikation auf-
tung nachkommen, gefordert werden, den subjektiven Eindruck der
■ die Pflegenden das Bedürfnis des Patienten nach Pflegeperson zu bestätigen oder zu korrigieren, bei-
Hilfe beantworten und spielsweise „Ich habe den Eindruck, dass... Habe ich
■ die Pflegenden die Wirkung ihrer Handlungen Recht?“.
auf den Patienten kennen. Nach Orlando führt die Anwendung dieses Pro-
zesses zum besseren Verständnis der eigenen und
Beispiel: Eine gezielte Pflegehandlung der unmittelbaren Erfahrung des anderen. Er schafft
könnte z. B. die Beobachtung eines Patienten die Ausgangsbasis für die korrekte Interpretation
sein, der gekrümmt im Bett liegt. Um in Or- des Patientenverhaltens und die Voraussetzungen
landos Sinn professionell und gezielt zu handeln, ver- für effektive, professionelle und an den eigentlichen
langt das beobachtete Verhalten des Patienten eine Bedürfnissen des Patienten ausgerichtete Pflege-
Nachfrage der Pflegeperson, in etwa: „Ich habe den handlungen.
Eindruck, dass Sie gekrümmt im Bett liegen, weil Sie Diese Vorgehensweise setzt für Orlando den Ein-
Schmerzen haben. Stimmt das?“ Gemeinsam kann bezug des Patienten im gesamten Verlauf des Pfle-
dann überlegt werden, warum die Schmerzen beste- geprozesses voraus. Wenn der Pflegeprozess die Er-
hen und mit welchen Mitteln, z. B. einer Lageverände- fordernisse
rung oder der Verabreichung von Analgetika, dem Pa- ■ Übereinstimmung der verbalen Äußerungen der
tienten geholfen werden kann. Pflegenden mit ihrer tatsächlichen Wahrneh-
mung, ihren dabei empfundenen Gefühlen und
Diese Handlung setzt direkt am Bedürfnis des be- Gedanken,
troffenen Menschen an, bezieht ihn in die Über- ■ Verwendung von Ich-Botschaften und
legungen ein und beantwortet seine Bitte um Hilfe. ■ Nachfrage beim Patienten, ob sein Verhalten kor-
rekt interpretiert wurde,

100 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

erfüllt, wird er von Orlando als „offener pflegeri- ▌ Probleme in Pflegesituationen


scher Prozess“ bezeichnet. Sie hält es für wichtig, Nach Orlando entstehen Probleme in Pflegesituatio-
diese „Regeln des Pflegeprozesses“ bereits in der nen zum einen dadurch, dass Handlungen auto-
Pflegeausbildung zu erlernen, da sie die Wahrneh- matisch durchgeführt werden und so am eigentli-
mungsfähigkeit der Auszubildenden, die Fähigkeit chen Bedürfnis des Patienten vorbeigehen. Zum an-
zur Unterscheidung zwischen Wahrnehmung, Ge- deren kann auch sogenanntes „unwirksames Verhal-
danken und Gefühlen und vor allem das Bewusst- ten“ von Patienten die Beziehung zwischen Pflegen-
sein für die Unterscheidung zwischen automati- den und Patienten erschweren. Solches Verhalten
schen, ineffektiven und gezielten, effektiven Hand- wird häufig mit abwertenden Worten wie „unko-
lungen erhöhen. Hierzu schlägt Orlando die Anwen- operativ“ oder „befehlend“ bezeichnet. Orlando be-
4
dung eines sogenannten „Pflegeprozessberichts- tont jedoch, dass es grundsätzlich als mögliches Zei-
bogens“ vor (Abb. 4.7), der dazu beiträgt, das Ver- chen von Belastung oder als Ausdruck eines uner-
halten der Pflegenden in der Begegnung mit dem füllten Bedürfnisses bewertet werden muss. Sie ist
Patienten zu analysieren. Ebenfalls empfiehlt sie weiter der Überzeugung, dass unter Anwendung des
die Verwendung eines Pflegeprozessberichtsbogens oben beschriebenen Prozesses (Abb. 4.9) nahezu
mit offenem und verdecktem pflegerischen Prozess jedes auftretende Problem gelöst werden kann.
(Abb. 4.8).

Abb. 4.7 Pflegeprozessberichtsbogen


Pflegeprozessbericht

Wahrnehmung des Gedanken und/oder Zum Patienten gesagt


bzw. über Gefühle bzgl. der und/oder mit ihm oder
den Patienten Wahrnehmung für ihn gehandelt

Abb. 4.8 Ein Pflegeprozessbericht. Prozess


A beschreibt den verborgenen pflegeri-
Pflegeprozessbericht
schen Prozess, Prozess B den offenen pfle-
gerischen Prozess.
Wahrnehmung des Gedanken und/oder Zum Patienten gesagt
bzw. über Gefühle bzgl. der und/oder mit ihm oder
den Patienten Wahrnehmung für ihn gehandelt

Prozess A
Herr G. geht auf und Wirkt zornig; „Guten Morgen,
ab, gerötetes Gesicht. irgendetwas muss Herr G.”
geschehen sein; ich
habe Angst, ihn zu
fragen, weil er mich
schlagen könnte.

Prozess B
Herr G. geht auf und Wirkt zornig; „Ich habe Angst, dass
ab, gerötetes Gesicht. irgendetwas muss Sie mich schlagen
geschehen sein; ich könnten, wenn ich
habe Angst, ihn zu Ihnen eine Frage stelle.
fragen, weil er mich Muss ich Angst haben?”
schlagen könnte.

BAND 1 Pflege und Profession 101


4 Pflegetheorien

Körperliche Grenzen
Belastung durch die Umgebung
Unmöglichkeit, Bedürfnisse mitzuteilen

Hilfsbedürftigkeit des Patienten

4 Beobachtetes verbales und non-


verbales Verhalten des Patienten Verhalten des Patienten
kann Bitte um Hilfe sein

Wahrnehmung des Patientenverhaltens


Gedanken Reaktion der Pflegenden
Gefühle
Handlung der Handlung der
Pflegenden a b Pflegenden

Ermittlung der Bedeutung des Bedeutung des Patienten-


Patientenverhaltens verhaltens wird nicht ermittelt

offener verdeckter
Professionelle, gezielte, nütz- Unwillkürliche, automatische
pflegerischer pflegerischer
liche pflegerische Handlung pflegerische Handlung
Prozess Prozess

Effektiv, da am unmittelbaren Ineffektiv, da nicht am


Bedürfnis des Patienten unmittelbaren Bedürfnis des
orientiert Patienten orientiert

Abb. 4.9 Die Theorie der lebendigen Beziehung zwischen Pflegenden und Patienten von Orlando im Überblick

▌ Definition der Pflege ■ jede Pflegehandlung muss hinterfragt werden, au-


Orlando beschreibt als Ziel der Pflege, dem Patien- tomatische Pflegehandlungen sind abzulehnen.
ten die Hilfe zukommen zu lassen, die er benötigt.
Die berufliche Aufgabe der Pflegenden besteht im 4.3.3 Martha Rogers – Theoretische Grundlagen
Erkennen ihn belastender Faktoren und seiner Hilfs- der Pflege
bedürftigkeit. Die direkte Verantwortung der Pflege Martha Rogers hat ihr konzeptionelles Modell 1970
liegt in der Unterstützung des hilfsbedürftigen Men- veröffentlicht. Sie selbst sieht darin keine Theorie,
schen bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse. sondern einen konzeptuellen Rahmen für die Pflege,
aus dem sich Theorien ableiten lassen (s. a. 4.2.4
Zusammenfassung: Globale Theorien). Dementsprechend sind ihre Aus-
Lebendige Beziehung (Orlando) führungen sehr abstrakt.
■ Die Pflegeperson soll die Belastung des Patienten Rogers Modell verdeutlicht auf besondere Weise,
verringern, die aus der Hilfsbedürftigkeit entsteht, dass von Theorien großer Reichweite bzw. konzep-
■ Pflegehandlungen müssen darauf zielen, die Be- tionellen Modellen keine unmittelbaren Anleitun-
dürfnisse des Patienten zu befriedigen, gen für konkrete Handlungen erwartet werden dür-
■ entscheidend: Kommunikation zwischen Pflege- fen. Rogers hat vielmehr versucht, einen allgemein
person und Patient über dessen Bedürfnisse, gültigen Rahmen als Grundlage für die Pflegewis-

102 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

senschaft zu formulieren. Deshalb wendet sie sich „Energiefeld“, wobei in ihrem Verständnis der
dem ihrer Meinung nach spezifischen Gegenstand Mensch nicht ein Energiefeld hat, sondern ein
der Pflege zu: dem einheitlichen Menschen. Ihr kon- Energiefeld ist. Gemeinsamkeiten bzw. Überein-
zeptionelles Modell beschreibt sie deshalb in späte- stimmungen zwischen der Annahme, dass Men-
ren Veröffentlichungen auch als „die Wissenschaft schen Energiefelder sind, und der realen, beob-
vom unitären (einheitlichen) Menschen“. achtbaren Welt kommen laut Rogers in einigen
In Rogers Modell, das sie auf deduktivem Weg umgangssprachlichen Redewendungen zum Aus-
entwickelt hat, sind Erkenntnisse vieler anderer druck. Beispiele hierfür sind Formulierungen wie
Wissenschaften eingeflossen, u. a. Erkenntnisse der „Der Mensch ist kraftvoll, magnetisch, besitzt
Biologie, der Psychologie und der Physik, vor allem Anziehungskraft“ etc.
4
die Relativitätstheorie von Albert Einstein. ■ Der Lebensprozess entwickelt sich unidirektio-
nal, d. h. nur in eine Richtung, und ist eingebun-
▌ Grundlagen der Pflegewissenschaft den in die drei Dimensionen des Raumes und in
Rogers beginnt ihre Ausführungen mit einer um- die Dimension der Zeit. Er ist unumkehrbar.
fangreichen Darstellung der Geschichte der Mensch- ■ Der Mensch besitzt bewusste und unbewusste
heit, um den Hintergrund für ihr Modell der Pflege Fähigkeiten zur Gestaltung seiner Umwelt. Kenn-
zu beschreiben. Darin nimmt sie vor allem Bezug auf zeichnend hierfür sind Muster und Organisation,
die Entwicklung der Sichtweise des Menschen in der die die Ganzheit des Menschen widerspiegeln.
Wissenschaft und schafft so eine Basis für ihre Sicht- Die individuellen Muster und die Organisation
weise des Menschen. des Energiefelds „Mensch“ entwickeln sich aus
Sie sieht das menschliche Wesen als ein spezi- den o. a. Interaktionsprozessen. Da diese indivi-
fisches System, dessen charakteristische Eigenschaft duell sind, besitzt auch jeder Lebensprozess sein
die einer Ganzheit ist. Um diese Sichtweise zu ver- eigenes dynamisches Muster und seine eigene
anschaulichen, formuliert Rogers fünf Grundannah- dynamische Organisation. Darüber hinaus besitzt
men über den Menschen. Da der Mensch in seiner der Mensch die Fähigkeit, sich trotz dieser kon-
Ganzheit das zentrale Anliegen der Pflege ist, muss tinuierlichen Veränderungen selbst zu erhalten,
die Pflegewissenschaft ihrer Meinung nach auf die- was Rogers als „Fähigkeit zur Selbstregulation“
sen Grundannahmen über das menschliche Wesen bezeichnet. Diese Fähigkeit ermöglicht dem
basieren: Menschen die Entfaltung seiner Lebenspotenzia-
■ Der Mensch ist ein einheitliches Ganzes. Er lässt le. Sie ist Ausdruck der Einheit und Ganzheit und
sich nicht auf einzelne Funktionen oder Bestand- lässt sich nach Rogers nicht durch die Funktion
teile reduzieren bzw. in Körper, Geist und Seele ihrer Teile beschreiben.
„zerlegen“, sondern bildet eine untrennbare Ein- ■ Der Mensch besitzt die Fähigkeit, sich selbst und
heit, die nur als solche verstanden und beschrie- seine Welt über Denken und Fühlen zu erleben.
ben werden kann. Der Mensch in seiner Ganzheit Während die vier erstgenannten Grundannah-
kann erst dann erkannt werden, wenn seine Ein- men prinzipiell auf alle Lebensformen zutreffen,
zelteile nicht mehr sichtbar sind. Rogers prägt in bringt diese Annahme den Unterschied zwischen
diesem Zusammenhang den Begriff „einheitli- Menschen und anderen Lebewesen zum Aus-
cher Mensch“, der mehr und anders ist als die druck und stellt nach Rogers Auffassung das
Summe seiner Teile. Hiermit erklärt sie der tra- Kennzeichen des Menschseins dar.
ditionellen wissenschaftlichen Sichtweise vom
Menschen, der aus mehreren, miteinander in Rogers sieht in diesen Annahmen über das mensch-
Verbindung stehenden „Einzelteilen“ besteht, liche Wesen die theoretischen Grundlagen der Pfle-
eine klare Absage. gewissenschaft.
■ Der Mensch ist ein offenes System, das in einer
ständigen Wechselbeziehung mit seiner Umwelt ▌ Konzeptionelles Modell der Pflege
steht, mit der er Energie und Materie austauscht. Für Rogers ist das Phänomen „Mensch“ das zentrale
Diese Interaktion bzw. dieser Austausch von Anliegen der Pflegewissenschaft. Der Lebensprozess
Energie und Materie ist charakteristisch für offe- im Menschen stellt das zentrale Phänomen des kon-
ne Systeme. Rogers verwendet hier den Begriff zeptionellen Systems der Pflege dar. Die Begriffe

BAND 1 Pflege und Profession 103


4 Pflegetheorien

Mensch, Lebensprozess und Lebensprozess im Men-


schen verwendet Rogers in ihren Ausführungen
gleichbedeutend.
Der Mensch wird von ihr auf der Basis der fünf
Grundannahmen als Ganzheit und untrennbarer Be-
standteil des Universums verstanden. Das Energie-
feld „Mensch“ ist in die vier Dimensionen des Rau-
mes und der Zeit eingebunden. Es ragt sowohl in die
Zukunft als auch in die Vergangenheit. Im Verlauf
4 des Lebensprozesses wird das menschliche Feld
immer komplexer, d. h. es kommt im Rahmen der
Austauschprozesse mit dem Umweltfeld zu einer
ständigen gegenseitigen Beeinflussung.
Ebenso wie den Menschen beschreibt Rogers
auch die Umwelt als offenes System bzw. Energie-
feld, als einheitliches Ganzes, das nicht durch seine
Teile beschrieben werden kann. Jedem mensch-
lichen Feld entspricht ein ihm zugehöriges Umwelt-
feld, zu dem auch alle anderen Menschen gehören. Abb. 4.10 Vierdimensionalität des Lebens
Aus der Interaktion der Energiefelder „Mensch“ und
„Umwelt“ erwachsen kontinuierliche Veränderun-
gen in beiden Energiefeldern, d. h. es kommt zu Ver- 2. Mit dem Prinzip der Spiralität beschreibt Rogers
änderungen der Muster und der Organisation der den Lebensprozess als spiralförmig in eine Rich-
Felder. Diese Muster sind laut Rogers beobachtbare tung verlaufend und dabei immer komplexer
Ereignisse. werdend. Die verschiedenen Stadien können sich
dabei zwar ähneln, sind aber nie identisch, d. h.
Beispiel: Exemplarisch kann hier der Situationen im Leben eines Menschen können Pa-
Schlaf-Wach-Rhythmus eines Menschen auf- rallelen zu vorherigen Situationen aufweisen,
geführt werden. Er verändert sich im Le- sind aber nie genau gleich. Der Lebensprozess be-
bensprozess von langen zu immer kürzeren Schlaf- wegt sich rhythmisch entlang der Kurven der Spi-
phasen; dabei werden die Wachphasen immer länger. rale. Das Leben, dargestellt als Spirale, wird durch
Jeder Mensch besitzt einen individuellen Rhythmus, die drei Dimensionen des Raumes beeinflusst
ein ihm eigenes Muster. und ist eingebunden in die Dimension der Zeit
(Abb. 4.10) – Vierdimensionalität des Lebens.
Die Austauschprozesse mit der Umwelt ermöglichen 3. Das Prinzip der Resonanz bezieht sich darauf, dass
die Entfaltung der Lebenspotenziale. Veränderungen im menschlichen Feld und im
Das Wesen und die Richtung der Veränderungen Umweltfeld sich in rhythmischen Wellenmustern
in den Energiefeldern wird durch drei Prinzipien fortpflanzen. Rogers geht davon aus, dass sich die
geleitet, die von Rogers auch als die „Prinzipien der Veränderung dabei von langsamen zu höherfre-
Homöodynamik“ (einheitliche Dynamik) bezeichnet quenten Wellenmustern vollzieht. Die beschleu-
werden: nigte Veränderung, die sie auch als „Theorie der
1. Mit dem Prinzip der Integralität sind die konti- beschleunigten Evolution“ bezeichnet, schlägt
nuierlichen wechselseitigen Austauschprozesse sich ihrer Meinung nach u. a. in länger geworde-
zwischen den Energiefeldern „Mensch“ und nen Wachheitsphasen des Menschen, erhöhten
„Umwelt“ gemeint. Veränderungen im Lebens- „Normalwerten“, z. B. des Blutdrucks, oder auch
prozess ergeben sich aus der Interaktion zwi- in bestimmten menschlichen Verhaltensmustern,
schen Mensch und Umwelt. Sie sind sind abhän- z. B. der Hyperaktivität, nieder.
gig vom Zustand des menschlichen Feldes und
des Umweltfeldes zu einem gegebenen Zeitpunkt Diese allgemeinen Ausführungen zum Wesen des
im Raum-Zeit-Kontinuum. Menschen und seinem Lebensprozess sieht Rogers

104 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

als theoretische Grundlagen der Pflegewissenschaft. Zusammenfassung:


Sie trennt zwischen der Pflegewissenschaft, die für Theoretische Grundlagen der Pflege (Rogers)
die Ausarbeitung eines theoretischen Bezugsrah- ■ Rogers entwickelt keine Theorie sondern einen
mens zuständig ist, und der Pflegepraxis, die dieses konzeptuellen Rahmen,
theoretische Wissen in die Praxis umsetzen soll. Mit ■ sie entwickelt ein Konzept des Menschen:
ihrem Modell hat Rogers nicht die Ausformulierung – Ganzheitliche Einheit,
konkreter Handlungsanweisungen, sondern die Ent- – offenes System,
wicklung eines möglichst weiten theoretischen Be- – Mensch ist Lebensprozess,
zugsrahmens beabsichtigt, der der Komplexität der – Mensch ist Energiefeld,
Pflege Rechnung tragen soll. Dementsprechend gibt ■ Ziel der Pflege: Einklang und Integrität des
4
sie nur wenige allgemeine Hinweise für die Übertra- menschlichen Feldes stärken.
gung ihres Modells in die Praxis, empfiehlt aber aus-
drücklich die Ableitung von überprüfbaren Theorien. 4.3.4 Dorothea Orem – Strukturkonzepte der
Pflegepraxis
▌ Definition der Pflege Die amerikanische Pflegeprofessorin Dorothea Orem
Rogers sieht Pflege als Wissenschaft und Kunst. Auf- hat mit dem Entwurf ihrer Theorie des Selbstpfle-
gabe der Wissenschaft „Pflege“ ist es, durch wissen- gedefizits 1958 begonnen und sie 1971 in ihrem
schaftliche Forschung und logische Analyse eine Werk „Strukturkonzepte der Pflegepraxis“ ver-
theoretische Grundlage für die Pflege zu entwickeln. öffentlicht. Orem selbst sagt, dass sie bei ihrem Ent-
Die Kunst der Pflege besteht für Rogers darin, dieses wurf von drei Leitfragen ausgegangen ist:
Wissen im Dienst am Menschen in die Praxis um- 1. Was tun Pflegekräfte und was sollten sie als die
zusetzen. Ziel und Aufgabe der Pflege bestehen da- Ausübenden der Pflege tun?
rin, Menschen beim Erreichen ihres maximalen Ge- 2. Warum tun Pflegekräfte, was sie tun?
sundheitspotenzials zu unterstützen. Rogers formu- 3. Was ist das Ergebnis dieses Tuns?
liert das wie folgt:
Die professionelle Pflegepraxis versucht „die Orems Theorie hat entscheidend dazu beigetragen,
symphonischen“ Interaktionen zwischen den Men- den Blick der Pflegenden von der Orientierung auf
schen und seiner Umwelt zu unterstützen sowie den die Krankheit eines Menschen hin zu dessen Pflege-
Einklang und die Integrität des menschlichen Feldes bedürftigkeit zu richten. In ihrer Theorie entwickelt
zu stärken. Um den bestmöglichen Gesundheits- Orem eine sehr spezifische Sprache. Orems Theorie
zustand des Menschen herbeizuführen, ist sie be- ist sehr komplex und beschreibt viele Aspekte der
strebt, auf die ständige Neubildung von Mustern Pflege. Ausdruck findet dies auch in der Tatsache,
des menschlichen Feldes und des Umweltfeldes ent- dass ihre Theorie von den Metatheoretikern sowohl
sprechend einzuwirken“ (Rogers 1995, S. 152). als Entwicklungs- bzw. Interaktionsmodell sowie
Weiter schreibt sie: auch als Bedürfnismodell bezeichnet wird.
„Die Aktivitäten des täglichen Lebens sollten mit Orem unterteilt ihre globale Theorie in drei
den Rhythmen des Mensch-Umwelt-Austausches in Theorien mittlerer Reichweite:
Einklang stehen und mit ihnen vereinbar sein. Ein 1. Theorie der Selbstpflege,
solcher Austausch stimuliert die Neubildung von 2. Theorie des Selbstpflegedefizits und
Mustern und entspricht damit der Offenheit der 3. Theorie des Pflegesystems.
Natur.“ (Rogers 1995, S. 153)
Dabei sollen nach Rogers die individuell unter- Jede dieser Theorien wird von Orem mit ihren ein-
schiedlichen Bedürfnisse von Menschen bei allen zelnen Elementen beschrieben und anschließend in
gesundheitsfördernden Maßnahmen berücksichtigt ihren jeweiligen Auswirkungen auf die anderen
werden. Aufgabe der Pflege allgemein ist der Dienst Theorien zusammengefasst.
am Menschen in unmittelbarer Verantwortung der
Gesellschaft gegenüber. ▌ Die Theorie der Selbstpflege
Innerhalb der Theorie der Selbstpflege werden von
Orem drei zentrale Konzepte erläutert:

BAND 1 Pflege und Profession 105


4 Pflegetheorien

1. Selbstpflege, Der Selbstpflegebedarf eines Menschen ergibt


2. Selbstpflegebedarf und sich aus den allgemeinen, entwicklungsbedingten
3. situativer Selbstpflegebedarf. und gesundheitsbedingten Selbstpflegeerfordernis-
sen (Tab. 4.2).
Als Selbstpflege bezeichnet Orem alle Handlungen Allgemeine Selbstpflegeerfordernisse sind allen
eines Menschen, die er „für sich selbst“ und „durch Menschen gemeinsam, jeweils in Abhängigkeit
sich selbst“ in die Wege leitet oder ausführt, um sein vom jeweiligen Lebensalter, Geschlecht, Entwick-
Leben, sein Wohlbefinden oder seine Gesundheit zu lungsstadium, Gesundheitszustand, soziokultureller
erhalten. Orientierung und Ressourcen. Entwicklungsbeding-
4 Erwachsene Menschen sorgen normalerweise für te Selbstpflegeerfordernisse ergeben sich aus der
sich selbst, während Säuglinge, Kinder, ältere Men- Tatsache, dass Menschen im Lauf ihres Lebens
schen, Kranke und Behinderte eine teilweise oder einen Entwicklungsprozess durchlaufen, der in den
vollständige Unterstützung bei ihren selbstpflegeri- jeweiligen Phasen spezifische Erfordernisse notwen-
schen Handlungen benötigen. Wird diese Unterstüt- dig macht. Gesundheitsbedingte Selbstpflegeerfor-
zung von verantwortlichen Erwachsenen für abhän- dernisse bestehen bei Menschen, die krank, verletzt
gige Personen (z. B. von einer Mutter für ihr Kind) oder behindert sind bzw. sich in medizinischer Be-
durchgeführt, spricht Orem von der sogenannten handlung befinden.
Dependenzpflege (Abhängigenpflege). Als situativen Selbstpflegebedarf bezeichnet
Orem sieht die Selbstpflege als eine erlernte, ziel- Orem alle Maßnahmen der Selbstpflege, die erfor-
gerichtete und bewusst durchgeführte Handlung derlich sind, um die individuellen Selbstpflegeerfor-
eines Menschen, um seinem Selbstpflegebedarf zu dernisse (allgemeine, entwicklungsbedingte und ge-
entsprechen. sundheitsbedingte) eines Menschen zu erfüllen. Er

Tab. 4.2 Allgemeine, entwicklungsbedingte und gesundheitsbedingte Selbstpflegeerfordernisse

Allgemeine Selbstpflegeerfordernisse Entwicklungsbedingte Gesundheitsbedingte


Selbstpflegeerfordernisse Selbstpflegeerfordernisse

1. Aufrechterhaltung einer ausreichenden Ergeben sich aus 6 Stadien des Lebens- 1. Inanspruchnahme und Sichern einer ge-
Sauerstoffzufuhr zyklus: eigneten medizinischen Unterstützung
2. Aufrechterhaltung einer ausreichenden 1. Intrauterine Stadien des Lebens und der bei Gefahr oder bestehender Erkrankung
Flüssigkeitszufuhr Prozess der Geburt 2. Bewusstsein über die Auswirkungen von
3. Aufrechterhaltung einer ausreichenden 2. Neonatales Stadium des Lebens pathologischen Bedingungen einschließ-
Zufuhr an Nahrungsmitteln a) termingerechte oder verfrühte Ge- lich der Folgen für die eigene Entwick-
4. Gewährleistung einer Versorgung in burt lung
Verbindung mit Ausscheidungsprozessen b) normales oder niedriges Geburts- 3. Effektive Ausführung der verordneten
und Exkrementen gewicht diagnostischen, therapeutischen und re-
5. Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts 3. Frühes Kindesalter habilitativen Maßnahmen
zwischen Aktivität und Ruhe 4. Entwicklungsstadien der Kindheit, Ju- 4. Bewusstsein über mögliche negative
6. Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts gend und des Eintritts in das Erwachse- Folgen der medizinischen Maßnahmen
zwischen Alleinsein und sozialer Inter- nenalter 5. Veränderung des Selbstbildes: Akzeptanz
aktion 5. Entwicklungsstadien des Erwachsenen- des Gesundheitszustandes und dem
7. Vorbeugung von Risiken für das Leben, alters damit verbundenen Bedarf an spezi-
das menschliche Funktionieren und das 6. Schwangerschaft als Jugendliche oder als fischer Gesundheitspflege
menschliche Wohlbefinden Erwachsene 6. Lernen, mit den Auswirkungen der pa-
8. Förderungen der menschlichen Funktio- thologischen Bedingungen und der me-
nen und Entwicklungen innerhalb sozia- Unterschieden werden drei Formen ent- dizinischen Diagnostik und Therapie zu
ler Gruppen in Übereinstimmung mit wicklungsbedingter Selbstpflegeerforder- leben, und zwar in einem Lebensstil, der
den menschlichen Potenzialen, bekann- nisse: die persönliche Entwicklung fördert
ten menschlichen Grenzen und dem 1. Gewährleistung von Bedingungen, die
Wunsch der Menschen, normal zu sein. die Entwicklung fördern
Normalität bezieht sich darauf, was 2. Engagement in der Selbstentwicklung
menschlich ist, sowie darauf, was in 3. Vorbeugung oder Überwindung der
Übereinstimmung mit den genetischen Auswirkungen von Bedingungen und Le-
und konstitutionellen Eigenschaften und benssituationen, die die menschliche
Talenten von Individuen steht. Entwicklung negativ beeinflussen kön-
nen

106 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

wird beeinflusst von folgenden zehn grundlegenden nicht bei jedem Menschen zu jeder Zeit seines Le-
Bedingungsfaktoren, die z. B. die Art und den Um- bens gleich stark ausgeprägt ist.
fang sowie Methoden und Techniken zur Erfüllung Nach Orem beinhaltet die Selbstpflegekompetenz
der Selbstpflegeerfordernisse bestimmen. zwei wesentliche Bereiche: Der erste Bereich um-
Bedingungsfaktoren: fasst alle bewussten Handlungen in der Selbstpflege
1. Alter, (Selbsterkenntnis, rationale Überlegungen, bewusste
2. Geschlecht, Zielsetzung, Vorgehensplanung und Entschlossen-
3. Entwicklungsstand, heit, einen entworfenen Plan auszuführen), der
4. Gesundheitszustand, zweite Bereich schließt das Wissen über gültige
5. soziokulturelle Orientierung, und verlässliche Methoden ein.
4
6. Faktoren des Gesundheitspflegesystems, z. B. Entsprechend dem Konzept der Selbstpflegekom-
medizinische Diagnostik- und Behandlungs- petenz formuliert Orem das Konzept der Depen-
modalitäten, denzpflegekompetenz. Sie wird beschrieben als die
7. familiäre Systemfaktoren, komplexe, erlernte Fähigkeit von Menschen, einige
8. Lebensstrukturen einschließlich der regelmäßi- oder alle Selbstpflegeerfordernisse von anderen
gen Aktivitäten, Menschen zu erkennen und zu erfüllen.
9. Umweltfaktoren, Die Entwicklung der Dependenzpflegekompetenz
10. Verfügbarkeit und Angemessenheit von Res- sieht Orem als Reaktion auf die Hilfsbedürftigkeit
sourcen. beispielsweise von Familienmitgliedern oder Freun-
den. Die Selbstpflegekompetenz kann durch ver-
Die Einschätzung des situativen Selbstpflegebedarfs schiedene Faktoren begrenzt werden. Diese Aspekte
erfolgt unter Berücksichtigung folgender Aspekte: bezeichnet Orem als Selbstpflegeeinschränkungen.
■ Bestimmen und Beschreiben des Selbstpfle- Orem ordnet die Selbstpflegeeinschränkungen
geerfordernisses unter Beachtung seiner Bezie- drei Gruppen zu:
hung zu anderen menschlichen Funktionen, 1. Wissenseinschränkungen (z. B. durch mangeln-
■ Bestimmung förderlicher und hindernder Bedin- des, für die Ausführung der Maßnahmen aber
gungen für die Erfüllung des Selbstpflegeerfor- erforderliches Wissen),
dernisses, 2. Einschränkungen der Urteils- und Entscheidungs-
■ Auswahl geeigneter Methoden und Techniken fähigkeit (z. B. durch die begrenzte Fähigkeit oder
zur Erfüllung des Selbstpflegeerfordernisses, Unfähigkeit, sich alternative Handlungsverläufe
■ Festlegen einer Handlungsabfolge zur Erfüllung und ihre möglichen Konsequenzen vorzustellen),
des Selbstpflegeerfordernisses. 3. Einschränkungen bei der Durchführung zielge-
richteter Handlungsabläufe (z. B. durch körper-
Übersteigt der situative Selbstpflegebedarf die liche Bewegungseinschränkungen, die die kon-
Selbstpflegekompetenz, so liegt ein Selbstpflegede- trollierte Durchführung von Handlungen verhin-
fizit vor. dern).

▌ Die Theorie des Selbstpflegedefizits Selbstpflegeeinschränkungen begrenzen die Selbst-


Innerhalb der Theorie des Selbstpflegedefizits be- pflegekompetenz eines Menschen und können zu
schreibt Orem wiederum drei wichtige Konzepte: einem Selbstpflegedefizit führen. Ein Selbstpflege-
1. Selbstpflegekompetenz, defizit besteht nach Orem dann, wenn der situative
2. Selbstpflegeeinschränkungen und Selbstpflegebedarf die Selbstpflegekompetenz über-
3. Selbstpflegedefizit. steigt, d. h. wenn die Fähigkeiten und das Wissen
eines Menschen in einer bestimmten Situation
Unter Selbstpflegekompetenz versteht Orem die nicht zur Deckung seines situativen Selbstpflegebe-
komplexe, erworbene Fähigkeit eines Menschen, darfs ausreichen. Selbstpflegedefizite können auf
seine Selbstpflegeerfordernisse zu erfüllen. Wie der einen oder mehrere Aspekte der Selbstpflege be-
situative Selbstpflegebedarf wird auch die Selbst- schränkt sein (teilweises Selbstpflegedefizit) oder
pflegekompetenz von den zehn grundlegenden Be- alle Aspekte der Selbstpflege betreffen (vollständi-
dingungsfaktoren beeinflusst. Das bedeutet, dass sie ges Selbstpflegedefizit).

BAND 1 Pflege und Profession 107


4 Pflegetheorien

▌ Die Theorie des Pflegesystems In allen drei beschriebenen Pflegesystemen


Die Theorie des Pflegesystems umfasst die Konzepte (Abb. 4.11) kommen fünf sogenannte helfende Me-
Pflegekompetenz, Pflegesysteme und helfende Me- thoden zum Einsatz. Unter einer Methode des Hel-
thoden. fens versteht Orem Handlungen, die die gesund-
Die Pflegekompetenz bezeichnet Orem als das heitsbedingten Einschränkungen von Menschen
wesentliche Element dieser Theorie. Unter Pflege- kompensieren oder überwinden, damit sie die erfor-
kompetenz werden die Fähigkeiten verstanden, die derlichen Maßnahmen der Selbstpflege wieder ei-
Menschen durch eine spezialisierte Aus- und Wei- genständig durchführen können. Die fünf von
terbildung entwickeln, um bewusst mit pflegebe- Orem unterschiedenen Methoden des Helfens sind:
4 dürftigen Menschen zu interagieren und gemeinsam 1. Für andere Menschen handeln und agieren,
mit ihnen die Pflege durchzuführen. Orem führt 2. Andere Menschen führen und anleiten,
eine umfassende Liste wünschenswerter Eigenschaf- 3. Anderen Menschen physische oder psychologi-
ten von Pflegenden an, die soziale (z. B. Höflichkeit, sche Unterstützung geben,
Rücksichtnahme, Verantwortungsgefühl), interper- 4. Für andere Menschen ein Umfeld errichten und
sonale (z. B. Interesse an der Wahrnehmung und Lö- erhalten, das die persönliche Entwicklung fördert,
sung menschlicher Probleme) und technologische 5. Andere Menschen unterrichten.
Charakteristika (z. B. Fähigkeit zur Durchführung ef-
fektiver Handlungen) umfasst. Je nach Notwendigkeit bzw. nach gewähltem Pflege-
Das Konzept Pflegesysteme umfasst drei grund- system kommen die helfenden Methoden unter-
legende Varianten: schiedlich stark zum Tragen. Im vollständig kom-
1. Vollständig kompensatorische Pflegesysteme, pensatorischen System werden vor allem die ersten
2. Teilweise kompensatorische Pflegesysteme und drei Methoden eingesetzt. Im teilweise kompensa-
3. Unterstützend-erzieherische (entwicklungsori- torischen System werden alle fünf Methoden ver-
entierte) Pflegesysteme. wendet, während im unterstützend-erzieherischen
Pflegesystem der Schwerpunkt eher auf den drei
Vollständig kompensatorische Pflegesysteme wer- letztgenannten Methoden liegt.
den dann eingesetzt, wenn Patienten in ihrer Fähig-
keit, ihren Selbstpflegeerfordernissen nachzukom- ▌ Definition der Pflege
men, erheblich eingeschränkt oder gänzlich unfähig 1956 hat Orem für den Begriff „Pflege“ folgende
sind. Hierzu gehören beispielsweise komatöse Pa- Definition formuliert:
tienten. „Pflege ist eine Kunst, durch die der Pflegende,
Das teilweise kompensatorische Pflegesystem also derjenige, der Pflege praktiziert, Personen mit
bezieht sich auf Situationen, in denen sowohl Pfle- Einschränkungen spezielle Unterstützung gewähr-
gepersonen als auch Patienten Teile der Selbstpfle- leistet, sofern mehr als eine gewöhnliche Unterstüt-
gemaßnahmen durchführen. zung notwendig ist, um den täglichen Erfordernis-
Dieses Pflegesystem wird z. B. dann angewendet, sen zur Selbstpflege zu entsprechen und um auf
wenn ein Patient in der Lage ist, die Körperpflege intelligente Weise an der medizinischen Versorgung
selbstständig durchzuführen, aber Unterstützung bei teilzunehmen, die sie durch Ärzte erhalten. Die
der Mobilisation benötigt. Kunst der Pflege wird praktiziert, indem für die Per-
Unterstützend-erzieherische Pflegesysteme wer- son mit der Einschränkung etwas getan wird, indem
den von Pflegepersonen gewählt, wenn Patienten man ihr hilft, selbst etwas für sich zu tun, und/oder
die erforderlichen Maßnahmen der Selbstpflege indem man ihr hilft zu erlernen, wie sie selbst etwas
zwar durchführen und erlernen können, aber hier- für sich tun kann. Pflege wird auch praktiziert,
bei Unterstützung benötigen. indem man einer kompetenten Person aus der Fa-
Denkbar ist hier beispielsweise die spezielle An- milie des Patienten oder einem Freund des Patien-
leitung und Unterrichtung eines Patienten zur fach- ten hilft zu lernen, wie man etwas für den Patienten
gerechten Versorgung einer Urostomie. tun kann. Einen Patienten zu pflegen ist somit eine
Das unterstützend-erzieherische System verlangt praktische und didaktische Kunstfertigkeit“ (Orem
von Pflegepersonen vor allem Anleitungs- und Be- 1996, S. 7) (Abb. 4.12).
ratungskompetenzen.

108 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

Vollständig kompensatorisches System

Verwirklichung der situativen


Selbstpflege des Patienten

Handlung Kompensieren der Unfähigkeit des


der Patienten, Selbstpflege auszuführen
Pflegekraft
Unterstützen und Schützen
des Patienten 4

Teilweise kompensatorisches System

Durchführen einiger Pflegemaßnahmen


für den Patienten

Handlung Kompensieren der Selbstpflege-


der einschränkungen des Patienten
Pflegekraft
Unterstützen des Patienten
bei Bedarf

Durchführen einiger
Selbstpflegemaßnahmen

Regulieren der Handlung


Selbstpflegekompetenz des
Patienten
Akzeptieren der Pflege und Unter-
stützung der Pflegekraft

Unterstützend-erzieherisches System

Verwirklichungen der
Selbstpflege Handlung
Handlung des
der Regulieren der Ausübung und Entwicklung Patienten
Pflegekraft der Selbstpflegekompetenz

Abb. 4.11 Grundlegende Pflegesysteme im Überblick

4.3.5 Betty Neuman – Das System-Modell Weiter überträgt sie Elemente der Systemtheorie
Die amerikanische Pflegewissenschaftlerin Betty auf die Pflege.
Neuman veröffentlichte ihr System-Modell für die
Pflege erstmals 1972. Nach ihrer Krankenpflegeaus- Definition: Unter „Systemen“ werden viel-
bildung absolvierte sie ein Studium mit den Schwer- schichtige, zielgerichtete und anpassungsfähige
punkten öffentliches Gesundheitswesen und Psy- Einheiten verstanden, die mit ihrer Umgebung
chologie. Elemente hieraus finden sich in ihrem Mo- in einer engen Wechselbeziehung stehen.
dell z. B. in Form der pflegerischen Interventionen,
die sie in primäre, sekundäre und tertiäre Präventi- Dabei können sog. „offene Systeme“, die durch einen
on einteilt. Austausch von Materie, Energie und Bedeutungen

BAND 1 Pflege und Profession 109


4 Pflegetheorien

Abb. 4.12 Zentrale Konzepte der Pflege-


theorie von Dorothea Orem
Theorie der Selbstpflege
• Selbstpflege
• Selbstpflegebedarf
• situativer Selbstpflegebedarf

Orem - Theorie des Selbstpflegedefizits


Strukturkonzepte • Selbstpflegekompetenz
der Pflegepraxis • Selbstpflegeeinschränkung
• Selbstpflegedefizit
4
Theorie des Pflegesystems
• Pflegekompetenz
• Pflegesysteme
• helfende Methoden

Aufgabe der Pflege:


Für Personen mit Einschränkungen
a) etwas tun
b) ihnen helfen, selbst etwas für sich zu tun
c) ihnen helfen zu erlernen, wie sie etwas für sich tun können

mit der Umgebung gekennzeichnet sind, von den kann. Zentrale Elemente ihres Modells sind das
sog. „geschlossenen Systemen“, bei denen kein Aus- Klientensystem, Stress und Reaktion auf Stress. Sie
tausch mit der Umgebung stattfindet, unterschieden werden durch drei Formen pflegerischer Interven-
werden. Systeme werden als Einheiten gesehen, die tionen ergänzt.
sich nicht, bzw. nur unzureichend, durch die Summe
ihrer Teile beschreiben lassen. Ein System ist nicht ▌ Das Klientensystem
nur mehr, sondern auch anders als die Summe sei- Den Klienten sieht Neuman als ein offenes System,
ner Teile. Bei veränderten Umweltbedingungen be- das mit seiner Umwelt in einer ständigen Wechsel-
sitzen Systeme die Fähigkeit, ihre Struktur zu ver- beziehung steht. Obwohl sie die Bezeichnung
ändern, um Gesundheit und/oder Leben zu erhalten. „Klientensystem“ auf eine Einzelperson bezieht,
Neuman selbst sagt, dass sie ihr auf deduktivem kann sie auch für eine oder mehrere Gruppen von
Weg erstelltes konzeptionelles Modell zwar für den Klienten verwendet werden. Die Grundstruktur des
Pflegebereich entwickelt hat, es jedoch auch auf an- Klientensystems besteht aus „überlebenssichernden
dere Bereiche und Berufe des Gesundheitswesens Grundmerkmalen“ der menschlichen Spezies. Hier-
übertragen werden kann. Sie bezeichnet ihr Sys- zu rechnet Neuman u. a. die angeborenen Eigen-
tem-Modell als Gesundheitsmodell, das bei seiner schaften eines Menschen, wie beispielsweise die
Anwendung dazu beiträgt, für den jeweiligen Klien- Mechanismen zur Regulierung der Köpertempera-
ten Gesundheit zu erhalten sowie ein optimales tur, sowie die Stärken und Schwächen der einzelnen
Wohlbefinden zu erreichen und aufrechtzuerhalten. Systembestandteile, z. B. einzelner Organe. Umgeben
Im Gegensatz zu anderen Pflegetheoretikern be- wird die Grundstruktur von mehreren konzentri-
nutzt Neuman in ihren Ausführungen durchweg schen Kreisen, die sie und das ganze System vor
den Begriff „Klient“ anstelle von „Patient“. dem Verlust seiner Intaktheit schützen sollen.
Nach Neuman (1998) soll ihr System-Modell er- Die flexible Abwehr-Linie verhindert normaler-
klären, wie die Stabilität eines Systems, das unter weise das Eindringen von Stressoren bzw. das Auf-
dem Einfluss von sogenannten „Stressoren“ (Stress treten von Stressreaktionen, wie z. B. Krankheiten.
auslösenden Faktoren) steht, erhalten werden kann. Eine Reihe von Situationen, u. a. Schlafmangel oder
Unter Stabilität versteht sie einen Zustand des Unterernährung, können jedoch dazu führen, dass
Gleichgewichts oder der Harmonie, bei der ein sie ihrer Funktion nicht nachkommen kann und
Klient Stressoren so bewältigt, dass er ein optimales Stressoren die normale Abwehr-Linie eines Klien-
Gesundheitsniveau bewahren oder wiederherstellen tensystems, die den Zustand des Wohlbefindens

110 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

bzw. das übliche Gesundheitsniveau eines Klienten den, um die Stabilität bzw. den Gesundheitszustand
darstellt, durchbrechen. In diesem Fall kommt es zu wiederherzustellen. Wird hierbei mehr Energie ver-
Symptomen der System-Instabilität und Krankhei- braucht als gespeichert ist, werden die Energieres-
ten. sourcen erschöpft, was bis zum Untergang des Sys-
Die Widerstand-Linien unterstützen die normale tems bzw. zum Tod des Klienten führen kann
Abwehr-Linie eines Klientensystems, z. B. durch die (Abb. 4.13).
Immunreaktionen des Körpers, und können einen Sowohl die beschriebenen Linien als auch die
Rückgang der Stressorreaktion bewirken. Durch- Grundstruktur eines Klientensystems werden in
dringen die Stressoren jedoch auch die Wider- ihrer Position und Stabilität gleichzeitig durch fünf
stand-Linien, muss viel Energie aufgewendet wer- Variablen bestimmt:
4

Stressoren: Grundstruktur:
¥ erkennen ¥ gemeinsame Grundausstattung aller
¥ unterscheiden in bereits bekannte und Organismen
potenzielle, z.B. ¥ normales Variationsspektrum der
Ð Verlust Kšrpertemperatur
Ð Schmerz ¥ genetische Struktur
Ð Reizarmut/Reizdeprivation ¥ Reaktionsmuster
Ð Kulturwechsel ¥ StŠrken und SchwŠchen der Organe
¥ Ich-Struktur
intra- Stressor ¥ weitere bekannte Grš§en
inter- personale Faktoren
extra-

tand-Lini
ders en
Wi

Grund-
struktur
Stressor Energie-
ressourcen

No ie
rmal
e Abwehr-Lin
F le x ie
i b le A b w e h r- L i n

Stressoren:
¥ mehrere Stressoren kšnnen gleichzeitig
auftreten
¥ gleiche Stressoren kšnnen quantitativ
und qualitativ unterschiedliche Reak-
tionen auslšsen
¥ die normale Abwehr-Linie verŠndert sich
mit dem Lebensalter und Entwicklungs-
stand

Abb. 4.13 Das Klientensystem

BAND 1 Pflege und Profession 111


4 Pflegetheorien

1. Physische Variablen, die sich auf körperliche cher Art und in welchem Ausmaß das Klientensys-
Strukturen und Funktionen beziehen, tem auf einen Stressor reagiert, ist abhängig vom
2. psychische Variablen, die sich auf geistige Prozes- Zusammenspiel der oben erwähnten Variablen und
se und Beziehungen beziehen, dem Zeitpunkt, der Art und Intensität des Stressors.
3. soziokulturelle Variablen, die sich auf die Verbin- Auch der frühere und gegenwärtige Gesundheits-
dungen sozialer und kultureller Funktionen be- zustand des Klienten sowie das zur Anpassung be-
ziehen, nötigte Ausmaß an Energie spielen hierbei eine
4. entwicklungsbezogene Variablen, die sich auf die wichtige Rolle.
Entwicklungsprozesse des Lebens beziehen und
4 5. spirituelle Variablen, die sich auf den Einfluss ▌ Formen pflegerischer Interventionen
spiritueller Überzeugungen beziehen. Das Ziel pflegerischen Handelns, der sogenannten
pflegerischen Interventionen, sieht Neuman in der
Diese Variablen sind von Klient zu Klient verschie- Stabilisierung des Klientensystems: Die optimale Ge-
den kombiniert und unterschiedlich stark bzw. sundheit des Klienten soll bewahrt, wiederher-
schwach ausgeprägt. Auch innerhalb eines Klienten- gestellt oder aufrechterhalten werden. Unter „opti-
systems kann sich die Ausprägung der Variablen maler Gesundheit“ versteht sie den höchstmöglichen
verändern, was sowohl positive als auch negative Grad des Wohlbefindens, der zu einem gegebenen
Auswirkungen auf die Abwehr- und Widerstand- Zeitpunkt erreichbar ist. Neuman unterscheidet drei
Linien hat. Formen pflegerischer Interventionen (Abb. 4.14).
Interventionen der Primären Prävention werden
▌ Stress und Reaktion auf Stress eingesetzt, um die Gesundheit eines Klienten zu er-
Das Klientensystem und seine Umwelt stehen in halten. In diesem Fall soll die normale Abwehr-Linie
einer ständigen und engen Wechselbeziehung mit- bzw. der übliche Gesundheitszustand eines Klien-
einander, in der sowohl das Klientensystem die Um- tensystems durch Stärkung der flexiblen Abwehr-
welt als auch die Umwelt das Klientensystem beein- Linie geschützt werden. Es liegt noch keine Verlet-
flusst. Folge der wechselseitigen Einflussnahme ist zung der normalen Abwehr-Linie bzw. Reaktion des
entweder eine Anpassung des Klientensystems an Klientensystems vor. Zu dieser Form rechnet Neu-
die Umwelt oder die Anpassung der Umwelt an das man alle Maßnahmen der Gesundheitsförderung,
Klientensystem. Umwelteinflüsse können in Form mit denen entweder verhindert wird, dass ein
von Stressoren die Stabilität des Klientensystems Klient mit einem Stressor in Kontakt kommt, oder
bzw. die Gesundheit des Klienten stören. Neuman aber die flexible Abwehr-Linie gestärkt wird.
unterscheidet drei Arten von Stressoren, die sowohl Interventionen der Sekundären Prävention wer-
von innen als auch von außen, einzeln oder in Kom- den erforderlich, wenn ein Stressor die normale Ab-
bination auf das Klientensystem einwirken können: wehr-Linie eines Klientensystems durchbrochen hat.
1. Intrapersonale Stressoren, die in der Person selbst Sie haben den Schutz der Grundstruktur durch Stär-
begründet liegen (z. B. Autoimmunreaktionen), kung der Widerstand-Linien zum Ziel. Hierzu wer-
2. interpersonale Stressoren, die sich aus der Bezie- den die Interventionen nach ihrer Dringlichkeit ge-
hung zu anderen Menschen ergeben (z. B. durch ordnet und Behandlungen vorgenommen, die die
unterschiedliche Rollenerwartungen) und schädlichen Auswirkungen des Stressors auf das
3. extrapersonale Stressoren, die von außen auf den Klientensystem mindern. Die Stabilität des Klienten-
Klienten einwirken (z. B. finanzielle Probleme). systems bzw. die Gesundheit des Klienten soll wie-
derhergestellt werden. Den Prozess der Wiederher-
Neuman beschreibt die einzelnen Stressoren als stellung nennt Neumann „Rekonstitution“. Er kann
neutral. Erst im Zusammentreffen mit dem Klienten zu einem höheren, gleich hohen oder niedrigeren
zeigt sich, ob sie positive oder negative Auswirkun- Gesundheitsniveau als vor der Krankheit führen.
gen auf das System haben. Normalerweise sorgt die Interventionen der Tertiären Prävention sollen
oben erwähnte flexible Abwehr-Linie für einen aus- nach einer Behandlung die Wiederherstellung des
reichenden Schutz vor einwirkenden Stressoren. Sie Klientensystems sichern bzw. das optimale Gesund-
verhindert, dass ein Stressor die normale Abwehr- heitsniveau des Klienten aufrechterhalten. Hierzu
Linie eines Klientensystems durchdringt. Ob, in wel- werden die Ressourcen des Klienten unterstützt

112 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

Abb. 4.14 Formen pflegerischer Inter-


vention
Prävention Intervention

Primäre Prävention intra- personale


• Reduktion der Wahrschein- inter- Umwelt-
lichkeit, dass ein Klient extra- faktoren
Stressoren ausgesetzt ist
• Stärkung der flexiblen Interventionen
Abwehr-Linie • können beginnen, bevor
oder nachdem die Wider- 4
Sekundäre Prävention stand-Linien durchbrochen
• Früherkennung von „Fällen“ wurden
• Behandlung von Symp- • richten sich in der Reaktions-
tomen oder in der Wiederherstel-
lungsphase nach
Tertiäre Prävention – der Stärke der Reaktion
• Wiederanpassung – den Ressourcen
• Schulung zur Rückfall- – den Pflegezielen
prophylaxe – dem erwarteten Krank-
• Aufrechterhaltung der heitsverlauf
Stabilität

und die Energie des Klientensystems konserviert. Überblick über die Pflegehandlungen der einzelnen
Interventionen der Tertiären Prävention gehen so- Präventionsformen gibt Tab. 4.3.
zusagen in Interventionen der Primären Prävention
über, wenn beispielsweise nach einer erfolgreichen ▌ Definition der Pflege
Behandlung gefährliche Stressoren vermieden wer- Als Pflege bezeichnet Neuman „die Profession, die
den. Je nach Bedarf des Klienten können und sollen mit allen denjenigen Variablen befasst ist, die einen
Maßnahmen der primären, sekundären und tertiä- Klienten in seiner Umwelt beeinflussen“ (Neuman
ren Prävention gleichzeitig eingesetzt werden. Einen 1998, S. 71).

Tab. 4.3 Prävention als Intervention (Pflegehandlung)

primäre Prävention sekundäre Prävention tertiäre Prävention

● Klassifiziere die Stressoren, die die Stabi- ● Schütze die Grundstruktur, falls ein ● Trage nach der Behandlung dazu bei, im
lität des Klienten(-systems) bedrohen. Stressor in das System eingedrungen ist. Rahmen der Rekonstitution ein optimales
Beuge einer Konfrontation mit den ● Mobilisiere und optimiere die internalen Wohlbefinden herzustellen oder auf-
Stressoren vor. und externalen Ressourcen, um die Sta- rechtzuerhalten.
● Gib dem Klienten(-system) geeignete In- bilität wiederzugewinnen und die Energie ● Biete Maßnahmen der Gesundheitsför-
formationen, um seine vorhandenen zu konservieren. derung (zur Verhaltensänderung) und
Stärken zu bewahren oder zu vergrößern. ● Fördere die gezielte Beeinflussung von Hilfen zur Neuorientierung an.
● Fördere positive Bewältigung und positi- Stressoren und der Reaktionen darauf. ● Unterstütze das Klientensystem beim Er-
ves Funktionieren. ● Motiviere, informiere und beteilige den/ reichen realistischer Ziele.
● Mache den Klienten gegenüber beste- das Klienten(-system) an der Verwirk- ● Koordiniere und integriere die Theorien
henden oder potenziell auftretenden lichung der Pflegeziele. verschiedener Disziplinen mit den be-
Stressoren unempfindlicher. ● Trage zu angemessenen Behandlungen kannten epidemiologischen Daten.
● Motiviere den Klienten zur Gesundheit. und Interventionsmaßnahmen bei. ● Leiste bei Bedarf primärpräventive Inter-
● Koordiniere und integriere die Ressour- ● Stärke die positiven Kräfte zugunsten des ventionen.
cen der Gesundheitsdienste. Wohlbefindens.
● Biete Maßnahmen der Gesundheitsför- ● Mache dich zum Anwalt des Klienten,
derung (zur Verhaltensänderung) an. sorge für die Koordination und Integra-
● Setze Stress als positive Interventions- tion der Behandlungsmaßnahmen.
strategie ein. ● Leiste bei Bedarf primär und/oder
sekundär präventive Intervention.

BAND 1 Pflege und Profession 113


4 Pflegetheorien

Ziel der Pflege ist der Schutz der Stabilität von senschaftlichen Disziplinen und ermöglicht gleich-
Klientensystemen. Hier kommen drei Formen pfle- zeitig die Beschreibung, Erklärung und Vorhersage
gerischer Interventionen zum Tragen. Zur Planung der Pflege, weil sie der eigentliche Gegenstand der
der Interventionen müssen Pflegepersonen alle Va- Pflege ist. Ausdruck findet die Fürsorge laut Leinin-
riablen miteinbeziehen, die an der möglichen oder ger in helfenden, unterstützenden oder fördernden
tatsächlichen Reaktion eines Klienten auf einen Verhaltensweisen zum Wohle anderer Menschen.
Stressor beteiligt sind. „Fürsorgen“ hat zum Ziel, die Bedürfnisse ande-
rer Menschen nach Verbesserung und Weiterent-
Zusammenfassung: wicklung der menschlichen Lebensbedingungen
4 System-Modell (Neumann) oder Lebensweisen bzw. nach einem besseren Um-
■ bedient sich der Elemente der Systemtheorie, gang mit den Tod zu befriedigen. Fürsorge ist für
■ Gesundheitsmodell: Klient anstelle von Patient, Leininger die Voraussetzung für Wohlbefinden, Ge-
■ Abwehrlinien und Widerstandslinien bilden Schutz sundheit, Heilung, Wachstum, Überleben und den
vor Stressoren, Umgang mit Behinderungen und Tod. Ohne Fürsorge
■ Aufgabe der Pflege: Intervention, um das Klienten- kann ihrer Meinung nach keine Heilung und Gene-
system zu stabilisieren. sung stattfinden.
In den Forschungen im Rahmen ihrer Theorie hat
4.3.6 Madeleine Leininger – Kulturelle Leininger festgestellt, dass die Fürsorge und die
Dimensionen menschlicher Pflege damit verbundenen Verhaltensweisen stark von
Die amerikanische Pflegeprofessorin Madeleine Lei- der jeweiligen Kultur beeinflusst werden. Zwischen
ninger verbindet in ihrer Theorie der kulturspezi- den einzelnen Kulturen gibt es diesbezüglich mehr
fischen Fürsorge die Konzepte „Pflege“ und „Kultur“. Unterschiede als Gemeinsamkeiten.
Anlass zu den Überlegungen, dass bei der Pflege Die Gemeinsamkeiten bezüglich der Fürsor-
von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen kul- gehandlungen bezeichnet Leininger als „kulturspezi-
turelle Belange berücksichtigt werden müssen, war fische Fürsorgeuniversalität“; Unterschiede nennt
ihre Arbeit als Krankenschwester Mitte der 50er sie „kulturspezifische Fürsorgediversität“. Diese Un-
Jahre in einer psychiatrischen Einrichtung für Kin- terschiede beziehen sich sowohl auf die Tätigkeiten
der. Dort stellte sie fest, dass die Pflege von Kindern derjenigen, die die Fürsorge erbringen, als auch auf
aus anderen Kulturen ohne Berücksichtigung ihrer die Empfänger der Fürsorge.
kulturellen Lebensweise und ihres kulturellen Hin- Hieraus folgert Leininger, dass Pflege nur dann ef-
tergrundes ineffizient blieb. fektiv und erfolgreich erbracht werden kann, wenn sie
Leininger entschloss sich zum Studium der An- im Einklang mit dem jeweiligen kulturellen Hinter-
thropologie (Wissenschaft vom Menschen) und grund des Patienten stattfindet, d. h. kulturelle Beson-
schrieb ihre Doktorarbeit über Untersuchungen in derheiten berücksichtigt.
zwei Dörfern des Gadsup-Volkes in Papua/Neu Gui- Voraussetzung für diese, von ihr als „kulturkon-
nea. Als Ergebnis dieser Untersuchungen stellte sie gruent“ bezeichnete Pflege ist entsprechendes Wis-
u. a. deutliche Unterschiede bezüglich Pflege und Ge- sen über kulturspezifische Werte und Ausdrucks-
sundheitspraktiken zwischen westlichen und nicht- weisen der Fürsorge. Dieses Wissen kann nur mit-
westlichen Kulturen fest und entwickelte hieraus tels Forschung gewonnen werden.
1978 ihre Theorie der kulturspezifischen Fürsorge. Leininger legt bei der Erforschung kulturspezi-
Da auch deutsche Pflegende in den letzten Jahren fischer Fürsorge Wert auf eine induktive und quali-
vermehrt Menschen aus anderen Kulturen pflegen, tative, d. h. das Erleben des einzelnen Menschen be-
findet Leiningers Theorie auch in Deutschland ver- trachtende Herangehensweise. Bis heute hat Leinin-
stärkt Beachtung. ger mit ihren Mitarbeitern 54 westliche und nicht-
westliche Kulturen mit der Forschungsmethode der
▌ Schwerpunkte der Theorie Pflegeethnografie (s. a. Kap. 5.5.7) untersucht und
Im Zentrum von Leiningers Pflegetheorie steht das dabei 166 Fürsorgekonstrukte identifiziert.
Konzept „Fürsorge“ (engl.: „care“). Fürsorge ist der
Kern, das Spezifische professioneller Pflege. Sie un-
terscheidet die Pflege von anderen Berufen und wis-

114 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

▌ Das Sunrise-Modell suchung kulturspezifischer Fürsorge erleichtern. Es


Leininger hat ihre Theorie in dem sogenannten Sun- soll im Folgenden in seinen wesentlichen Aspekten
rise-Modell („Sonnenaufgangsmodell“) dargestellt von oben nach unten beschrieben werden.
(Abb. 4.15). Das Welt- und Wirklichkeitsverständnis, d. h. die
Das Modell soll sowohl der Veranschaulichung Sicht, die Menschen von ihrer Welt haben, wird be-
ihrer Theorie dienen als auch Forschern die Unter- einflusst durch eine Reihe von Faktoren, zu denen

4
irklichkeitsverstän
- und W dnis
Welt
Kulturelle, soziostrukturelle
Dimensionen

Kulturelle
Werte
Verwandt- und Lebens- Politische,
schaftliche weisen gesetzliche
und soziale Einfluss-
Einfluss- faktoren
faktoren
Umweltkontext, Sprache,
ethnographische Entwicklung
Religiöse, Wirtschaftliche
philosophische Einflussfaktoren
Einflussfaktoren
Einflüsse,
Ausdrucksweisen,
Muster und Methoden
der Fürsorge
Technologische Bildungsbedingte
Einflussfaktoren Umfassende Gesundheit Einflussfaktoren
(Wohlbefinden)

Kode Einflüsse Einzelne, Familien, Gruppen, Gemeinden, Institutionen


in den verschiedenen Gesundheitssystemen

generische profes- professionelle


(informelle) sionelle (formelle)
Pflegesysteme Pflege Pflegesysteme

Pflegerelevante Entscheidungen und Pflegemaßnahmen

Bewahrungs- und/oder Erhaltungsfunktion kulturspezifischer Fürsorge


Anpassungs- und/oder Verständigungsfunktion kulturspezifischer Fürsorge
Änderungs- oder Umstrukturierungsfunktion kulturspezifischer Fürsorge

Kulturkongruente professionelle Pflege

Abb. 4.15 Sunrise-Modell zur Darstellung der Theorie der kulturspezifischen Fürsorge

BAND 1 Pflege und Profession 115


4 Pflegetheorien

Leininger technologische, religiöse, verwandtschaft- Diese Möglichkeiten müssen laut Leininger bei pfle-
liche und soziale, politische und gesetzliche, wirt- gerelevanten Entscheidungen und Pflegemaßnah-
schaftliche und bildungsbedingte Faktoren rechnet. men berücksichtigt werden. Nur so kann eine kul-
Zusammen mit den kulturellen Werten und Lebens- turkongruente professionelle Pflege für bzw. mit
weisen stehen diese Faktoren in einer engen Wech- dem Patienten erbracht werden.
selbeziehung. In ihrer Gesamtheit werden sie von
Leininger als kulturelle, soziostrukturelle Dimensio- Beispiel: In der arabisch-muslimischen Kul-
nen bezeichnet, die den kulturellen Hintergrund tur besitzen verwandtschaftliche und fami-
eines Menschen bestimmen. Ebenso beeinflussen liäre Bindungen einen hohen Stellenwert.
4 sie die Ausdrucksweisen, Muster und Methoden Innerhalb des generischen Pflegesystems ist es für An-
der Fürsorge einer kulturellen Gruppe und deren gehörige dieser Kultur üblich, dass sich bei Erkran-
Vorstellungen über Gesundheit und Wohlbefinden. kung eines Familienangehörigen die gesamte Familie
Leininger unterscheidet zwischen generischen am Bett des kranken Menschen einfinden kann. Je
und professionellen Pflegesystemen. nach Zustand des kranken Menschen bzw. der Inten-
Unter generischen Pflegesystemen versteht sie sität der pflegerischen Betreuung, z. B. in Intensivpfle-
volkstümliche oder laienhafte Pflegesysteme, die geeinheiten, kann diese kulturspezifische Fürsor-
kulturell erlerntes und übermitteltes, traditionelles gehandlung jedoch Probleme mit sich bringen. Für
Wissen enthalten. Demgegenüber enthalten profes- die jeweilige Pflegeperson kann dies konkret bedeu-
sionelle Pflegesysteme Wissen und praktische Fä- ten, dass sie gemeinsam mit der Familie und dem
higkeiten, die unterrichtet und erlernt wurden und erkrankten Menschen nach Wegen suchen muss, ob
in professionellen Institutionen, wie z. B. Kranken- und wie dieser kulturspezifischen Fürsorgehandlung
häusern, ausgeübt werden. im Krankenhaus entsprochen werden kann. Gemein-
Die professionelle Pflege ist das verbindende sam könnten z. B. Absprachen über den zeitlichen
Glied zwischen diesen beiden Pflegesystemen. Sie Rahmen der Besuche oder die jeweils mögliche Anzahl
muss entscheiden, ob bei der Pflege von einzelnen der Besucher festgelegt werden.
Menschen, Familien, Gruppen, Gemeinden oder In-
stitutionen in den verschiedenen Gesundheitsein- Dies würde der Anpassungs- und/oder Verständi-
richtungen Fürsorgehandlungen des generischen gungsfunktion kulturspezifischer Fürsorge entspre-
Pflegesystems oder/und professionelle Fürsor- chen. In diesem Fall findet eine Anpassung der kul-
gehandlungen eingesetzt werden. Grundsätzlich turspezifischen Fürsorgehandlung (Anwesenheit der
gibt es nach Leininger drei mögliche Entscheidun- Familie), die Teil des generischen Pflegesystems ist,
gen: an das professionelle Pflegesystem statt, wodurch
1. Bewahrungs-/und oder Erhaltungsfunktion kul- eine kulturkongruente Pflege ermöglicht wird.
turspezifischer Fürsorge, d. h. die kulturspezi-
fischen Fürsorgehandlungen können bei der Pfle- ▌ Definition der Pflege
ge in der Gesundheitseinrichtung beibehalten Leininger hat ihre Definition der Pflege wie folgt
werden, formuliert:
2. Anpassungs- und/oder Verständigungsfunktion „Unter „professioneller Pflege“ (nursing) verstehe
kulturspezifischer Fürsorge, d. h. die kulturspezi- ich den erlernten, humanistisch ausgerichteten und
fischen Fürsorgehandlungen können bei der Pfle- wissenschaftlich fundierten Beruf und die entspre-
ge in der Gesundheitseinrichtung nur teilweise chende (wissenschaftliche) Disziplin, die die Phäno-
beibehalten werden, mene menschlicher Fürsorge zum Gegenstand ha-
3. Änderungs- oder Umstrukturierungsfunktion ben, mit denen Menschen Einzelpersonen oder
kulturspezifischer Fürsorge, d. h. die kulturspezi- Gruppen helfen, sie unterstützen, es ihnen erleich-
fischen Fürsorgehandlungen müssen verändert tern oder sie dabei fördern, ihr Wohlbefinden (oder
werden, weil sie z. B. schädlich für den betroffe- ihre Gesundheit) auf kulturell sinnvolle und positive
nen Menschen sind. Weise zu erhalten oder sie wiederzuerlangen oder
mit Behinderungen oder dem Tod besser umzuge-
hen“ (Leininger 1998, S. 73).

116 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

Zusammenfassung: Wenn zwischen Körper, Geist und Seele einer


Kulturelle Dimensionen (Leininger) Person Disharmonie herrscht, stimmen Selbsterfah-
■ Fürsorge nur dann erfolgreich, wenn im Einklang rung und Selbstwahrnehmung einer Person nicht
mit kulturellem Hintergrund, überein. Dies wird als Inkongruenz empfunden, die
■ Sunrise-Modell: beschreibt kulturelle und sozio- für die Person eine mögliche Bedrohung darstellt
strukturelle Dimensionen, und sich in Form von Angst, innerer Unruhe, Ver-
■ Leininger beschreibt 3 Wege, wie Pflege mit kultur- zweiflung und Krankheit äußern kann.
spezifischer Fürsorge umgehen kann, Watson sieht das Grundbestreben jedes Men-
■ Pflege hat Phänomene menschlicher Fürsorge zum schen darin, Harmonie zwischen Körper, Geist und
Gegenstand, fördert so Gesundheit. Seele und zwischen seiner Person und der Welt zu
4
erreichen, um so sein wahres Selbst zu verwirk-
4.3.7 Jean Watson – Pflege: Wissenschaft und lichen. Dieses Grundbestreben wird in den mensch-
menschliche Zuwendung lichen Bedürfnissen deutlich, zu denen Watson u. a.
Die amerikanische Pflegeprofessorin Jean Watson hat den Wunsch nach Liebe, Zuwendung, Akzeptanz,
ihre Theorie der transpersonalen Zuwendung im Verständnis, Wertschätzung und zwischenmensch-
Zeitraum zwischen 1979 und 1985 entwickelt. Wie lichen Bindungen rechnet.
Madeleine Leininger stellt auch sie das Konzept „care“
in den Mittelpunkt ihrer Theorie. In der deutschen ▌ Transpersonale Zuwendung in der Pflege
Übersetzung ihres Werkes ist, anders als bei der Theo- Die Aufgabe der Pflege besteht nach Watson darin,
rie Leiningers, die „care“ mit „Fürsorge“ übersetzt, Menschen in ihrem Bestreben nach Harmonie bzw.
hierfür der Begriff „Zuwendung“ gewählt worden. nach Kongruenz zwischen Selbsterfahrung und
Watson selbst sagt, dass ihre Theorie der trans- Selbstwahrnehmung zu unterstützen. Dies geschieht
personalen Zuwendung von der östlichen Philoso- über den Prozess der transpersonalen Zuwendung.
phie beeinflusst ist und eine phänomenologische, Watson geht davon aus, dass die Interaktion mit
d. h. auf das Erleben des einzelnen Menschen aus- einem Patienten bei der Pflegekraft Gefühle aus-
gerichtete Perspektive einnimmt. Die Pflege sieht lösen kann. Wenn die Pflegekraft das wahrgenom-
Watson als Humanwissenschaft und Kunst. Schwer- mene Gefühl unter Einsatz verbaler und non-ver-
punkt ihrer Theorie ist der Prozess der transper- baler Kommunikation, also mit Worten, Gesten, Be-
sonalen Zuwendung in der Pflege, den sie als das rührungen etc., präzise widerspiegelt, kann der Pa-
moralische Ideal der Pflege beschreibt. tient dieses Gefühl ebenfalls bewusst erleben und zu
größerer Selbsterkenntnis gelangen.
▌ Menschenbild Durch den Vorgang des Widerspiegelns werden
Watson betrachtet den Menschen als Einheit von angestaute Energien und Gefühle der Person frei, die
Körper, Geist und Seele, der als Person in der Welt mit ihrem Selbst stärker harmonieren. Auf diese
existiert. Die Erfahrungen von Körper, Geist und Weise tragen die Pflegepersonen zur Wiederherstel-
Seele laufen am subjektiven Mittelpunkt eines Men- lung von Harmonie zwischen Körper, Geist und
schen, dem sog. „Selbst“ zusammen. Hier werden Seele bzw. zwischen Person und Welt bei und er-
das eigene „Ich“, die Beziehung zu anderen Men- möglichen Wohlbefinden und Gesundung.
schen und die unterschiedlichen Aspekte des Lebens Watson spricht davon, dass sich bei der transper-
mit den dazugehörigen Werten wahrgenommen. sonalen Zuwendung die Seelen der beteiligten Per-
Die Summe der jeweiligen menschlichen Erfah- sonen berühren können, ein sog. „intersubjektiver
rungen bezeichnet Watson als „phänomenales Feld“. Fluss“ zwischen den Personen entsteht und so eine
Jede Person besitzt ein individuelles phänomenales echte Ich-du-Beziehung stattfindet. Die innere Kraft
Feld, d. h. eine subjektive Sicht der Wirklichkeit, die der Person wird aktiviert, sie kann zu neuer Harmo-
sich aus ihren individuellen Erfahrungen ergibt, die nie finden und Selbstheilungskräfte freisetzen.
nur ihr bekannt ist und die eine andere Person nie Dabei muss laut Watson die Würde der Person
vollständig kennen lernen kann. Das phänomenale durch die Pflegekraft gestärkt werden, was heißt,
Feld einer Person hat wesentlichen Einfluss darauf, dass ihr die Freiheit gegeben wird, ihren Erfahrun-
wie eine Person eine Situation wahrnimmt und auf gen und Gefühlen nach eigenen Maßstäben Bedeu-
sie reagiert. tung zuzuerkennen.

BAND 1 Pflege und Profession 117


4 Pflegetheorien

Grundsätzlich haben in Watsons Verständnis die fühle, Gedanken, Intuition, Verhaltensweisen,


jeweiligen Personen selbst alle Möglichkeiten, ihre Worte u. a.
Situation zu verändern. Pflegepersonen unterstüt- 4. Die Fähigkeit der Pflegekraft, eine innere Einheit
zen durch den Prozess der transpersonalen Zuwen- mit der Person zu verspüren. Hierzu wird der
dung lediglich die Fähigkeiten der Person, sich selbst Subjektivität der Patientin bzw. des Patienten die-
zu helfen. Pflegeperson und Patient werden dabei selbe Wertschätzung wie der der Pflegekraft ent-
gleichermaßen von der transpersonalen Zuwendung gegengebracht. Die Gemeinsamkeit ist die mora-
erfasst. Beide bringen ihr phänomenales Feld und lische Grundlage der pflegerischen Beziehung.
ihre einzigartige Lebensgeschichte in den Prozess 5. Das Bewusstsein der Pflegekraft für ihre eigene
4 ein, der selbst zum Teil der jeweiligen Lebens- Lebensgeschichte, ihre Gefühle und Erfahrungen
geschichten werden kann. mit den Gefühlen anderer Personen.
Im Prozess der transpersonalen Zuwendung sieht
Watson nicht bloß eine „Gefühlswallung, ein per- Das Konzept der Zuwendung (Abb. 4.16) liegt ihrer
sönliches Anliegen, eine Geisteshaltung oder ein Meinung nach der gesamten Beziehung zwischen
Streben nach Mildtätigkeit“, sondern das moralische Pflegekraft und Person zugrunde und lässt sich
Ideal der Pflege. nicht auf bestimmte Arten pflegerischen Handelns
Watson formuliert fünf Bedingungsfaktoren für beschränken. Auch können pflegerische Interventio-
die transpersonale Zuwendungsbeziehung: nen nicht mit Zuwendung gleichgesetzt werden. Sie
1. Die moralische Verpflichtung, die Würde des bieten lediglich Gelegenheit zu einem zugewandten
Menschen zu schützen und zu achten, so dass Verhalten der Pflegeperson.
die Person die Bedeutung ihrer Erfahrungen
selbst bestimmen kann. ▌ Pflege als Humanwissenschaft und Kunst
2. Der Wille und die Bereitschaft der Pflegekraft, Watson sieht die Pflege sowohl als Wissenschaft als
die Subjektivität der Person zu bejahen, was auch als Kunst. Als „Kunst der Pflege“ sieht sie die
eine echte Ich-Du-Beziehung ermöglicht. transpersonale Zuwendungsbeziehung. Künstlerisch
3. Die Fähigkeit der Pflegekraft, die Gefühle und die tätig werden heißt für sie allgemein, über Bilder,
innere Verfassung der Person wahrzunehmen Musik oder andere Ausdrucksformen der Kunst, Ge-
und genau zu erfassen. Dies geschieht über Ge- fühle in anderen Menschen hervorzurufen.

Zukunft Zukunft

n
o m e a l e s Fe
än o m enales F o m e n al e s F
än än
ph

ld

el

ph

el
ph

konkreter
d

gegen- Anlass der


wärtiger Zuwen-
Augenblick dungs-
Selbst Selbst Selbst
aktion

kausale kausale kausale


Vergangenheit Vergangenheit Vergangenheit

Transpersonale
Pflegekraft Patientin/Patient Zuwendung

Abb. 4.16 Dynamik des menschlichen Zuwendungsprozesses

118 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

Pflegekräfte haben die Möglichkeit und die mo- als auch im gesamtgesellschaftlichen Bereich zu för-
ralische Verpflichtung, über menschliche Zuwen- dern. Beidem schreibt sie eine wichtige humanitäre
dung bzw. über die transpersonale Zuwendungs- Funktion bei der Wahrung der Menschlichkeit zu.
beziehung Gefühlen anderer Personen Raum zu
geben und so zur Gesundung beizutragen. Watson ▌ Definition der Pflege
selbst drückt das so aus: Watson formuliert ihre Definition der Pflege wie
„Die transpersonale Zuwendung ist insofern eine folgt:
Kunst, als sie es möglich macht, die Seele eines an- „Die Pflege hilft der Person, ein größeres Maß an
deren Menschen zu berühren und zu seinen Emo- Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele zu er-
tionen Zugang zu finden, so dass dieser andere sei- langen, wodurch der Prozess der Selbsterkenntnis,
4
nem eigenen Selbst näherkommt und eine größere Selbstachtung, Selbstheilung und Selbsthilfe geför-
Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele erleben dert und eine größere Offenheit möglich werden.
kann. Sie trägt damit zur Vervollkommnung des Ihr Ziel erreicht die Pflege mit Hilfe des Prozesses
Menschen und zur Bewahrung der Menschlichkeit der zwischenmenschlichen Zuwendung und der mit
bei.“ (Watson 1996, S. 93) diesem Prozess verbundenen Transaktionen. Die
Die Pflege ordnet Watson darüber hinaus den Pflegekraft geht dabei aktiv auf die subjektive innere
sogenannten „Humanwissenschaften“ zu. Die Hu- Welt der Person ein und hilft ihr so, den Sinn der
manwissenschaft unterscheidet sich in Watsons eigenen Existenz sowie die Bedeutung der inneren
Verständnis von der traditionellen Wissenschaft Disharmonie, des Leidens und des Unwohlseins zu
z. B. in Bezug auf das zugrunde liegende Welt- und erkennen, damit in einem zweiten Schritt die Selbst-
Menschenbild, die anzuwendenden Forschungs- kontrolle, die Entscheidungsfreiheit und Selbst-
methoden, das Wissenschaftsverständnis und die bestimmung der Person gestärkt werden kann“
Aufgaben der Wissenschaft. Die traditionelle Wis- (Watson 1996, S. 67).
senschaft sieht laut Watson den Menschen als eine
Summe von Teilen, als ein Wesen mit biologischen, Zusammenfassung:
psychischen, sozialen, kulturellen und spirituellen Transpersonale Zuwendung (Watson)
Aspekten. Die Anwendung dieser Sichtweise führt ■ Einfluss östlicher Philosophien: Disharmonie zwi-
ihrer Meinung nach u. a. zu einer Zerlegung des schen Körper, Seele und Geist führt dazu, dass
Ganzen (Körper-Geist-Seele) in einzelne Teile, was Selbsterfahrung und Selbstwahrnehmung nicht
dem menschlichen Leben nicht gerecht wird. kongruent sind; dieses kann zu Krankheit führen,
Die humanwissenschaftliche Perspektive be- ■ Aufgabe der Pflege: natürliches Streben nach Kon-
trachtet den Menschen demgegenüber als ein aus gruenz und Harmonie unterstützen,
Körper, Geist und Seele bestehendes ganzheitliches ■ Prozess der transpersonalen Zuwendung: Wider-
Wesen, das mit der Natur und Umwelt in einer spiegeln der Gefühle, die der Patient zeigt,
engen Wechselbeziehung steht. Dementsprechend ■ führt zu intensiver Ich-du-Beziehung,
wird auch die Anwendung quantitativer For- ■ so wird Prozess der Selbsthilfe beim Patienten un-
schungsmethoden dem Menschen als ganzheitli- terstützt.
chem Wesen nicht gerecht. Die Erforschung der
Pflege muss laut Watson auch mit qualitativen Me- 4.3.8 Juliet Corbin/Anselm Strauss: Modell der
thoden vorgenommen werden, d. h. aus der subjek- Krankheitsverlaufskurve (Chronic Illness
tiven Sicht des Betroffenen, weil auf diese Weise das Trajectory Model)
individuelle Erleben eines Menschen berücksichtigt Das Chronic Illness Trajectory Model wurde von der
werden kann. Beides, die Anwendung der human- Krankenschwester und Pflegewissenschaftlerin Ju-
wissenschaftlichen Perspektive in der Pflegewissen- liet Corbin und dem Soziologen Anselm Strauss in
schaft und die Kunst der transpersonalen Zuwen- den USA entwickelt und beschrieben. Das Modell
dung in der Beziehung zwischen Pflegepersonen basiert auf unterschiedlichen Forschungen zu der
und Patienten, ermöglicht das Wachsen des Be- Verflechtung chronischer Krankheit und der Bedeu-
wusstseins von der Ganzheit der menschlichen Per- tung für betroffene Menschen. Kerngedanke der Be-
sönlichkeit. Watson sieht es als Pflicht der Pflege, obachtungen von Corbin und Strauss ist, dass wenn-
dieses Bewusstsein sowohl im wissenschaftlichen gleich chronische Erkrankungen und deren Verläufe

BAND 1 Pflege und Profession 119


4 Pflegetheorien

sehr individuell und damit unterschiedlich sind, es Zusätzlich können unterschiedliche Verläufe ein-
dennoch typische Gemeinsamkeiten und Parallelen zelner Aspekte innerhalb jeder Phase der Krank-
im Hinblick auf den Verlauf der Erkrankung und die heitsverlaufskurve auftreten, z. B. wenn Patienten
von den Betroffenen eingesetzten Bewältigungsstra- emotional positiv gestimmt sind, weil sie sich in
tegien gibt. Das Modell soll Pflegepersonen dabei einer stabilen Phase glauben, obwohl die Krankheit
unterstützen, Probleme von chronisch kranken physiologisch fortschreitet. Auch Subphasen können
Menschen besser zu verstehen. Das Modell der die Krankheitsverlaufskurven komplex machen, z. B.
Krankheitsverlaufskurve, auch Trajekt-Modell ge- kann die Art des Normalisierungsverlaufs gekenn-
nannt, wird zu den Theorien mittlerer Reichweite zeichnet sein durch geringe oder stetige Vorwärts-
4 gerechnet. oder aber auch immer wieder auftretende Abwärts-
bewegungen. Grafische Darstellungen möglicher
▌ Krankheitsverlaufskurve Krankheitsverlaufskurven zeigt Abb. 4.17.
Zentrale Grundaussage des Modells ist die Krank-
heitsverlaufskurve, mit dem alle weiteren Begriffe ▌ Biografie und Arbeit
des Modells in Beziehung stehen. Variabilität und Weitere zentrale Begriffe des Modells sind „Biogra-
Phasierung sind zwei wesentliche Merkmale einer fie“ und „Arbeit“. Chronische Krankheiten sind nicht
Krankheitsverlaufskurve. Krankheitsverlaufskurven heilbar und begleiten die betroffenen Menschen ein
sind individuell und von Mensch zu Mensch ver- Leben lang. Eine chronische Krankheit kann den Le-
schieden. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer bensverlauf unterbrechen und stark verändern, Vor-
jeweiligen Form und Dauer sowie in Bezug auf die stellungen und Erwartungen an die Zukunft beein-
im Verlauf erforderliche (Bewältigungs-) Arbeit und trächtigen und erheblichen Einfluss auf die Aktivitä-
ihre Auswirkungen, sind also variabel. Corbin und ten eines Menschen haben. Gleichzeitig macht die
Strauss beschreiben eine Reihe von Bedingungs- chronische Krankheit nur einen Teil des betroffenen
und Einflussfaktoren auf die Krankheitsverlaufskur- Menschen aus. Deshalb sehen Corbin und Strauss es
ve: Die Krankheit selbst und die Reaktionen der be- als wesentlich an, Krankheitsbewältigung umfas-
troffenen Menschen darauf, sowie die Bewältigungs- send zu untersuchen und dabei die Biografie eines
pläne, die von den Betroffenen, deren Familien und Menschen und die biografischen Konsequenzen
professionellen Helfern umgesetzt werden, nehmen einer Krankheit wahrzunehmen.
Einfluss auf die Gestaltung einer Krankheitsverlaufs- Zu den drei Dimensionen bzw. Bestandteilen der
kurve. Sie können einzelne Phasen der Krankheits- Biografie zählen
verlaufskurve stabilisieren, verbessern, verlängern ■ die biografische Zeit,
etc. Die Krankheitsverlaufskurve umfasst also nicht ■ Selbstkonzeptionen und
nur den physiologischen Ablauf einer Erkrankung, ■ der Körper.
sondern auch die Aktivitäten und Belastungen aller
beteiligten Personen. Corbin nennt dies „Arbeit“, die Diese werden über den Begriff „Biografische Körper-
organisiert und im Krankheitsverlauf geleistet wird. konzeptionen (BKK)“ zusammengeführt und stehen
in einer Wechselwirkung zueinander. Struktur und
▌ Phasen Kontinuität der Identität eines Menschen entlang
Das Modell umfasst neun Phasen der Krankheitsver- der biografischen Zeitlinie entstehen durch das Zu-
laufskurve. Diese Phasen können im Idealfall durch sammenwirken dieser Konzepte. Aus diesem Grund
individuelle, geeignete und angepasste Maßnahmen sprechen Corbin und Strauss von einer „BKK-Kette“,
verlangsamt bzw. stabilisiert werden (Tab. 4.4). auf die die chronische Krankheit einwirkt, sie unter-
Akute, stabile, instabile, kritische Phasen und sol- brechen, stören und sogar zerstören kann. Für chro-
che der Abwärtsbewegung und der Rückkehr können nisch kranke Menschen ergibt sich daraus die Not-
sich in der Krankheitsverlaufskurve – auch mehr- wendigkeit der biografischen Arbeit, über die Repa-
mals – abwechseln. Hierdurch und durch die spezi- raturen an der BKK-Kette vorgenommen werden
fischen Zeitpunkte des Auftretens und ihre zeitliche können. Corbin und Strauss stellen hierzu vier
Dauer geben sie jeder Krankheitsverlaufskurve eine grundlegende Prozesse vor, die über die Integration
individuelle Form. der Krankheitsverlaufskurve in die Biografie (kon-
textualisieren) und das Verstehen und Akzeptieren

120 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

Tab. 4.4 Neun Phasen der Krankheitsverlaufskurve

Krankheitsphase Kennzeichen Ziel der Bewältigungsarbeit

Pretrajectory (vor dem Beginn der Genetische Faktoren oder Aspekte des Lebenswandels Prävention.
chronischen Krankheit) bergen das Risiko eine chronische Krankheit zu ent-
wickeln.

Trajectory onset (Beginn des Erste Krankheitssymptome treten auf. Oft warten die Kontuierung der Verlaufskurvenent-
Krankheitsverlaufs) betroffenen Personen in dieser Phase noch auf die Diag- würfe und Behandlungsschemata.
nosestellung und setzen sich erstmals mit der Bedeutung
der möglichen Diagnose auseinander. 4
Stable (stabile Phase) Krankheitsursache und -symptome sind unter Kontrolle. Erhalten und fortführen der Stabilität
Tägliche Aktivitäten und die Biografie werden ausgeübt. hinsichtlich biografischer Aspekte der
Das Krankheitsmanagement findet in der häuslichen täglichen Aktivitäten.
Umgebung statt.

Unstable (unstabile Phase) Krankheitsursachen und -symptome können nicht kon- Rückkehr zur Stabilität.
trolliert werden. Die Krankheit ist reaktiviert: Die Betrof-
fenen können nur mit Schwierigkeiten den biografischen
Aspekten und den täglichen Aktivitäten nachgehen. Je-
doch ist häufig eine Behandlung im häuslichen Umfeld
noch möglich.

Acute (akute Phase) Schwere und belastende Symptome bzw. Komplikationen Wiedererlangen der Kontrolle über die
treten auf: Häufig ist ein Krankenhausaufenthalt not- Krankheit und Wiederaufnahme bio-
wendig und die Phase des Bettlägrigseins beginnt. grafischer und aktivitätsbezogener
Aspekte.

Crisis (kritische Phase) Eine kritische bzw. lebensbedrohliche Situation erfordert Ausschalten der Lebensbedrohung.
eine Notfall- bzw. Intensivbehandlung. Biografische As-
pekte und tägliche Aktivitäten finden nicht mehr statt.

Comeback (Phase der Rückkehr) Es erfolgt eine teilweise Rückkehr zu einem akzeptablen Initiieren und fortführen von Verlaufs-
Leben innerhalb der Begrenzung durch die Krankheit und kurvenentwurf und Behandlungs-
deren Folgen. Es erfolgt eine körperliche Heilung sowie schema.
eine Wiederaufnahme biografischer Aspekte und Aktivi-
täten.

Downward (Phase der Abwärts- Starker körperlicher Abbau und eine zunehmende Unfä- Anpassen an die zunehmenden Ein-
bewegung) higkeit die Symptome zu kontrollieren führen zu biogra- schränkungen.
fischen Anpassungen und Veränderungen mit jeder wei-
teren Abwärtsbewegung.

Dying (Phase des Sterbens) Der Zeitraum vor dem Tod ist gekennzeichnet durch Zuendebringen von Dingen, loslassen
weiteren körperlichen Verfall, biografischen Rückzugs und friedliches Sterben.
und einem Verlust an Aktivitäten.

der biografischen Konsequenzen der chronischen geleistet werden: Neben der oben bereits beschrie-
Krankheit (bewältigen) über eine neue Konzeptuali- benen biografischen Arbeit zählen sie hierzu krank-
sierung von Ganzheit (die Identität wiederherstel- heitsbezogene Arbeit sowie Arbeit, die sich auf das
len) bis hin zur Neuausrichtung der eigenen Biogra- Alltagsleben bezieht. Krankheitsbezogene Arbeit be-
phie (die Biographie neu entwerfen) reichen. zieht sich dabei auf alle Handlungsnotwendigkeiten,
Die Konzepte „Krankheitsverlaufskurve“ und die sich direkt aus der Krankheit ergeben, u. a. die
„Biografie“ sind im Trajekt-Modell über das Konzept Durchführung der erforderlichen Behandlungen,
„Arbeit“ verbunden. Diese muss im Rahmen der Umgang mit Krisen oder das Management von
Auseinandersetzung mit der chronischen Krankheit Symptomen. Die Durchführung kann vielfältige Aus-
von den betroffenen Menschen entlang dreier Linien wirkungen haben, die Notwendigkeit der Anpassung

BAND 1 Pflege und Profession 121


4 Pflegetheorien

Abb. 4.17 Beispiele für Krankheitsver-


Verlaufskurve bei chronischer Sinusitis: laufskurven (nach Corbin, Strauss 2010)
Akute Phasen (durch Allergien oder Erkältung) wechseln mit stabilen
Phasen ab.

stabile Phase

akute Phase
zeitliche
4 Dimension

Verlaufskurve bei Schlaganfall:


Beginn mit einer akuten Episode, gefolgt von einer langsamen Erholung
mit anschließender Stabilisation. Die menschlichen Funktionen sind auf
einer niedrigeren Ebene als vor dem Schlaganfall angesiedelt.

zeitliche
Dimension

Verlaufskurve bei Krebskrankheit:


Auf aktive Krankheitsphasen folgen Remissionen und kurze stabile Phasen.
Weiter körperliche Beeinträchtigungen können folgen und schließlich
zum Tod führen.

Phase 1 Phase 9 zeitliche


Dimension

des Wohnraums nach sich ziehen oder die Anschaf- liche Aspekte, die Sorge für den finanziellen Unter-
fung von Pflegehilfsmitteln erforderlich machen. halt usw. hören mit dem Auftreten einer chro-
Um die Aspekte der krankheitsbezogenen Arbeit nischen Erkrankung nicht auf, sondern müssen
herum muss zudem das Alltagsleben organisiert unter neuen Bedingungen, z. B. über die Neu- und
und strukturiert werden: Haushaltsführung, beruf- Umverteilung von Arbeitsaufgaben im Haushalt, or-

122 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

ganisiert werden. Da der zentrale Ort dieser Aus- Corbin sieht ihr Modell als Rahmen für die An-
einandersetzung das häusliche Umfeld ist, sind von wendung des Pflegeprozesses. Bei der Datensamm-
diesen Auseinandersetzungen alle Familienmitglie- lung ist es die Aufgabe von Pflegepersonen, die Pro-
der betroffen. bleme aus Sicht der beteiligten Personen (Betroffe-
Krankheitsbezogene und biografische Arbeit ne, Bezugspersonen, Pflegepersonen) zu analysieren,
sowie Arbeit, die sich auf das Alltagsleben bezieht, und physische, psychische, ökonomische Faktoren
stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinan- zu erheben, die mit diesen Problemen in Zusam-
der. Veränderungen in einem Arbeitsbereich können menhang stehen. Auch die Identifizierung der
weitreichende Folgen für eine der anderen Arbeits- Phase der Krankheitsverlaufskurve erfolgt in diesem
linien nach sich ziehen. Für chronisch kranke Men- Schritt. Die ermittelten Probleme werden priorisiert
4
schen und ihre Familien bedeutet dies, dass das und Ziele, die im Einklang mit den krankheitsbezo-
Gleichgewicht zwischen den Arbeitstypen jeweils genen, biografischen und alltäglichen Aktivitäten
neu hergestellt werden muss. sowie den Fähigkeiten der beteiligten Personen ste-
Konkret kann dies bedeuten, dass im Rahmen hen, festgelegt. Im Handlungsplan schließlich wer-
der Bewältigungsarbeit in einzelnen Phasen der den konkrete Interventionen und die Verantwort-
Krankheitsverlaufskurve einzelne Arbeitstypen lichkeiten der beteiligten Personen festgelegt. Corbin
mehr Energie und Ressourcen materieller und per- betont, dass Pflegepersonen vor dem Hintergrund
soneller Art beanspruchen und/oder sich Verant- der erforderlichen Anpassungsarbeit chronisch
wortlichkeiten und Belastungen der beteiligten Per- kranker Menschen hierbei häufig eine unterstützen-
sonen vorübergehend oder dauerhaft verschieben. de und beratende Funktion zukommt, um das Leben
Auch unvorhergesehene Ereignisse können das mit der chronischen Erkrankung handhabbar zu ma-
Gleichgewicht bzw. die Bewältigungsroutine stören chen. Ebenso ist der umgesetzte Handlungsplan hin-
und sich negativ auf die Motivation und das Enga- sichtlich seiner Effizienz fortwährend zu evaluieren.
gement des chronisch kranken Menschen und der Corbin sieht Pflegepersonen als die am besten geeig-
an der Bewältigungsarbeit beteiligten Personen aus- nete und qualifizierte Berufsgruppe, um den vielfäl-
wirken. Bewältigungsarbeit muss deshalb immer tigen Aufgaben im Zusammenhang mit chronischer
wieder und immer wieder neu hinsichtlich der Ver- Erkrankung und deren Bewältigung durch Betroffe-
änderungen durch Krankheit, Biografie und Alltag- ne und Bezugspersonen gerecht zu werden.
leben angepasst werden. Corbin und Strauss spre-
chen aus diesem Grund von „Bewältigung als Pro- Zusammenfassung:
zess“. Krankheitsverlaufskurve (Corbin, Strauss)
■ Das Pflegemodell von Corbin und Strauss stellt die
▌ Implikationen für die Pflegepraxis Auswirkungen von chronischen Erkrankungen und
Mit der Beschreibung der Phasierung der Krank- Bewältigungsstrategien Betroffener in den Mittel-
heitsverlaufskurve und der Variabilität zwischen punkt.
einzelnen Krankheitsverlaufskurven trägt das Mo- ■ Im Zentrum steht das Konzept der Krankheitsver-
dell zur Identifizierung und Verdeutlichung der um- laufskurve, in deren Phasen krankheitsbezogene,
fassenden Bewältigungsprozesse, die von chronisch biografische und auf Alltagsaktivitäten bezogene
kranken Menschen und ihren Bezugspersonen in- Arbeit zu leisten ist.
nerhalb der einzelnen Phasen zu leisten sind, bei. ■ Pflegende unterstützen chronisch kranke Men-
Dabei stehen nicht der Krankheitsverlauf, sondern schen unter Nutzung des Pflegeprozesses bei der
die hierdurch erforderlichen und mit dem Krank- Entwicklung und Umsetzung von Bewältigungs-
heitsverlauf in Wechselbeziehung stehenden Aus- strategien.
wirkungen auf die Betroffenen und ihre Bezugsper-
sonen im Mittelpunkt. Die Perspektive auf chronisch 4.3.9 Das Roper-Logan-Tierney-Modell
kranke Menschen wird also erweitert. Zudem wer- Die englischen Pflegewissenschaftlerinnen Nancy
den zurückliegende, gegenwärtige und zukünftige Roper, Winifred Logan und Alison Tierney haben
Entwicklungen analysiert und in die weitere pflege- ihre Pflegetheorie erstmals in dem 1980 erschienen
rische Arbeit einbezogen. Werk „The elements of Nursing“ veröffentlicht, das
unter dem Titel „Die Elemente der Krankenpflege“
auch in die deutsche Sprache übersetzt wurde.

BAND 1 Pflege und Profession 123


4 Pflegetheorien

Roper/Logan und Tierney beschreiben ihr Pflege- 3. Abhängigkeits-/Unabhängigkeits-Kontinuum,


modell als ein Modell, das vom menschlichen Leben 4. Faktoren, welche die LA beeinflussen,
und der Gesundheit ausgeht. Sie beschreiben zu- 5. Individualität im Leben (Abb. 4.18).
nächst das Modell des Lebens, das anschließend
auf ihr Pflegemodell übertragen wird. Roper/Logan ▌ Lebensaktivitäten (LA)
und Tierney legen den Schwerpunkt ihres Modells Als Lebensaktivitäten bezeichnen Roper/Logan und
auf die Individualität menschlicher Bedürfnisse. Ihr Tierney grundlegende Aktivitäten, die von Men-
Modell ist im deutschsprachigen Raum sehr bekannt schen ausgeführt werden und allen Menschen ge-
und wird, wie von den Theoretikerinnen beabsich- meinsam sind. Lebensaktivitäten sind sehr komple-
4 tigt, vielerorts zur Strukturierung der Pflegeausbil- xe Konstrukte, die sich gegenseitig beeinflussen und
dung eingesetzt. in einer engen Wechselbeziehung stehen.
Roper/Logan und Tierney identifizieren zwölf Le-
▌ Das Modell des Lebens bensaktivitäten:
Das Modell des Lebens besteht aus fünf elementaren 1. Für eine sichere Umgebung sorgen,
Konzepten: 2. Kommunizieren,
1. Lebensaktivitäten (LA), 3. Atmen,
2. Lebensspanne, 4. Essen und trinken,

Abb. 4.18 Das Lebensmodell (nach Roper


Lebensspanne u. a. 2009)

Faktoren, welche Lebens- Abhängigkeits-/


die Lebensaktivi- aktivitäten Unabhängigkeits-
täten beeinflussen kontinuum
Für eine sichere Um-
gebung sorgen
Kommunizieren
biologische
Atmen
Essen und Trinken
psychologische
Ausscheiden
Sich sauber halten
soziokulturelle und kleiden

umgebungs- Regulieren der Kör-


abhängige pertemperatur
Sich bewegen
Arbeiten und Spielen
wirtschafts-
politische Seine Geschlechtlich-
keit leben
Schlafen
Sterben

Individualität im Leben
Einschätzen
Planen
Durchführen
Bewerten

124 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

5. Ausscheiden, ▌ Individualität im Leben


6. Sich sauber halten und kleiden, Das Konzept der Individualität im Leben sehen Ro-
7. Regulieren der Körpertemperatur, per/Logan und Tierney als das Ergebnis der Einflüsse
8. Sich bewegen, aller anderen Komponenten des Modells des Lebens
9. Arbeiten und spielen, und deren wechselseitiger Beeinflussung. Die Indivi-
10. Seine Geschlechtlichkeit ausleben, dualität in der Ausführung der LA wird z. T. be-
11. Schlafen, stimmt durch den Stand in der Lebensspanne, den
12. Sterben. Grad der Unabhängigkeit und die Formung durch
die Einflussfaktoren auf die LA. Sie kommt zum Aus-
▌ Lebensspanne druck in den individuellen Besonderheiten, also z. B.
4
Das Konzept der Lebensspanne umfasst das gesamte wann, wie, wie oft, wo, warum etc. ein Mensch die
Leben eines Menschen von der Geburt bis zum Tod. Lebensaktivitäten ausführt.
Im Rahmen dieses Konzepts werden die Lebenspha-
sen „Säuglingsalter“, „Kindheit“, „Adoleszenz“, Er- ▌ Das Pflegemodell
wachsenenalter“ und „Alter“ näher beschrieben. Das Pflegemodell von Roper/Logan und Tierney
gründet auf dem Modell des Lebens. Es umfasst
▌ Abhängigkeits-/Unabhängigkeits-Kontinuum ebenfalls fünf Konzepte:
Das Konzept „Abhängigkeits-/Unabhängigkeits-Kon- 1. Lebensaktivitäten (LA),
tinuum“ ist eng verbunden mit dem Konzept der 2. Lebensspanne,
Lebensaktivitäten und der Lebensspanne. In den 3. Abhängigkeits-/Unabhängigkeits-Kontinuum,
einzelnen Abschnitten der Lebensspanne können 4. Faktoren, welche die LA beeinflussen,
die LA noch nicht (z. B. im Säuglingsalter) oder 5. Individualisierung der Pflege.
nicht mehr unabhängig von der Unterstützung
durch andere Menschen ausgeführt werden. Roper/ Auch im Pflegemodell sind die Lebensaktivitäten das
Logan und Tierney sprechen in diesem Zusammen- zentrale Konzept.
hang von einem Kontinuum, was bedeutet, dass

!
zwischen den Polen „völlige Abhängigkeit“ und „völ- Merke: Bestehen für einen Menschen aktu-
lige Unabhängigkeit“ je nach Situation, Alter etc. ein elle oder potenzielle Probleme im Zusam-
unterschiedlicher Grad an Abhängigkeit bzw. Unab- menhang mit den LA, ist es die Aufgabe der
hängigkeit vorhanden sein kann. Pflege, Hilfe zum Vermeiden, Lösen, Lindern oder Be-
Ebenso muss nicht in jeder LA die Abhängigkeit wältigen dieser Probleme zu geben.
bzw. Unabhängigkeit gleich stark ausgeprägt sein.
Probleme können sich durch Krankheiten oder Be-
▌ Faktoren, welche die LA beeinflussen hinderungen, aber auch bereits durch die Notwen-
Jeder Mensch führt die LA zu jeder beliebigen Zeit digkeit eines Krankenhausaufenthaltes ergeben. Alle
und mit einem unterschiedlichen Grad an Unabhän- diese Umstände führen dazu, dass Gewohnheiten
gigkeit aus, aber jeder Mensch tut dies auf eine in- eines Menschen bei der Ausführung der LA geändert
dividuelle Art und Weise. Diese Individualität ergibt bzw. einzelne LA auf eine andere Art und Weise
sich nach Roper/Logan und Tierney maßgeblich aus ausgeführt werden müssen. Auch Veränderungen
sogenannten Einflussfaktoren, bei denen sie fünf im Abhängigkeits-/Unabhängigkeits-Kontinuum
Hauptgruppen unterscheiden: können zu Problemen führen. Roper/Logan und
1. biologische (z. B. Mobilität, anatomisch-physiolo- Tierney betonen die Tatsache, dass die Bezeichnun-
gische Gegebenheiten etc.), gen für die LA bewusst umfassend und als aktive
2. psychologische (z. B. emotionale Verfassung, in- Form gewählt worden sind. Da die einzelnen Le-
tellektuelle Fähigkeiten etc.), bensaktivitäten eine Zusammenfassung komplexer
3. soziokulturelle (z. B. Religion, gesellschaftliche Tätigkeiten sind, kann es entsprechend zu einer
Normen etc.), Vielzahl von möglichen Patientenproblemen inner-
4. umgebungsabhängige (z. B. geographische Lage, halb einer LA kommen.
Klima etc.), „Atmen“ bezeichnen Roper/Logan und Tierney
5. wirtschafts-politische (z. B. soziale Sicherung etc.). als die wichtigste LA, da sie grundlegend für alle

BAND 1 Pflege und Profession 125


4 Pflegetheorien

anderen Aktivitäten eines Menschen ist. Die übrige Treten für Menschen Probleme im Zusammen-
Reihenfolge ist beliebig und muss im Einzelfall in hang mit den LA auf, ist es Aufgabe der Pflege, die
der konkreten Situation eines Menschen bewertet Betroffenen bei der Lösung, Linderung und Bewälti-
werden. Allgemein gilt: Die LA, die für Überleben gung dieser Probleme zu unterstützen. Roper/Logan
und Sicherheit eines Menschen nötig sind, haben und Tierney betonen, dass auch das Vermeiden von
Vorrang vor den anderen. Problemen mit den einzelnen LA in den pflegeri-
An jeder beliebigen Stelle der Lebensspanne kann schen Aufgabenbereich gehört.
für einen Menschen Pflege nötig sein; das gilt für
den gesamten Zeitraum von der Geburt bis zum ▌ Definition der Pflege
4 Tod. Das Konzept der Lebensspanne berücksichtigt Ihre Definition von Pflege erläutern Roper/Logan/
die Bedeutung des Alters eines Menschen im Zu- Tierney in den Grundannahmen, auf denen ihr Pfle-
sammenhang mit der nötigen Pflege. Da je nach gemodell beruht: „Im Kontext der Gesundheitspfle-
Alter des Patienten Art und Bedeutung der LA ge gehen Pflegende mit den Patienten/Klienten eine
sowie deren Ausführung variieren kann, muss die professionelle Beziehung ein, wobei der Patient/
Pflege den individuellen Bedürfnissen angepasst Klient nach Möglichkeit eine autonome, urteilsfähi-
werden. ge Person bleibt. Pflegende sind Teil des multipro-
Das Konzept Abhängigkeits/Unabhängigkeits- fessionellen Gesundheitsteams, das partnerschaft-
Kontinuum ist direkt mit dem Konzept der LA ver- lich zum Wohle des Klienten/Patienten und zuguns-
bunden. Die Abhängigkeit eines Menschen in einer ten der Gesundheit aller arbeitet. Die spezifische
LA kann sich durch Alter, Krankheit, Behinderung Funktion der Pflege besteht darin, dem einzelnen
etc. ergeben. Menschen dabei zu helfen, (aktuelle oder potenziel-
le) Probleme mit den LAs zu vermeiden, zu lindern

!
Merke: Aufgabe der Pflege ist es, den Grad oder aber positiv damit umzugehen“ (Roper/Logan/
der Unabhängigkeit eines Menschen ein- Tierney 2009, S. 98 f.).
zuschätzen und zu beurteilen, in welcher Pflegende unterstützen pflegebedürftige Men-
Richtung und in welchem Maß er Hilfe benötigt, um schen folglich bei der Ausführung der LAs oder
gesteckte Ziele zu erreichen. übernehmen diese stellvertretend, wenn Menschen
hierzu nicht in der Lage sind. Roper/Logan/Tierney
Beispiel: Abhängigkeit in einer LA kann vo- fordern Pflegende zudem auf, auch ihre eigenen LAs
rübergehend bestehen, z. B. nach einem ope- nicht zu vernachlässigen, wenn sie professionelle
rativen Eingriff, sie kann aber auch länger Pflege ausüben.
andauern. In diesem Fall sollen Pflegepersonen den
betroffenen Menschen Unterstützung geben, mit die- Zusammenfassung:
ser Einschränkung bzw. dauernden Abhängigkeit Elemente der Krankenpflege (Roper, Logan,
leben zu lernen. Tierney)
■ entwickeln ein Pflegemodell, das auf einem Le-
Wie in ihrem Modell des Lebens verwenden Roper/ bensmodell basiert
Logan und Tierney für das Modell der Krankenpfle- ■ im Zentrum steht das Konzept der Lebensaktivitä-
ge die fünf Hauptgruppen von Einflussfaktoren auf ten (LA)
die LA. Sie werden als der Grund für die individuel- ■ die Ausführungsweise der LA ist individuell; Er-
len Unterschiede bei der Ausführung der LA gese- krankungen können aktuelle oder potenzielle
hen. Die im Modell des Lebens beschriebene Indivi- Probleme in den LAs verursachen
dualität im Leben erfordert nach Roper/Logan und ■ Pflegende unterstützen Menschen dabei, aktuelle
Tierney auch eine Individualisierung derflege. Sie oder potenzielle Probleme mit den LAs zu vermei-
wird erreicht durch die systematische Anwendung den, zu lindern oder positiv damit umzugehen
des Pflegeprozesses (s. a. Kap. 6), in dessen Phasen
die individuelle Lebensweise des Patienten berück-
sichtigt werden soll. Weiter fordern Roper/Logan
und Tierney den Einbezug des Patienten in jeder
Phase des Pflegeprozesses (Abb. 4.19).

126 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

Abb. 4.19 Das Pflegemodell von Roper/


Lebensspanne Logan und Tierney (nach Roper u. a. 2009)

Faktoren, welche Lebens- Abhängigkeits-/


die Lebensaktivi- aktivitäten Unabhängigkeits-
täten beeinflussen kontinuum
Für eine sichere Um-
gebung sorgen
Kommunizieren 4
biologische
Atmen
Essen und Trinken
psychologische
Ausscheiden
Sich sauber halten
soziokulturelle und kleiden

umgebungs- Regulieren der Kör-


abhängige pertemperatur
Sich bewegen
Arbeiten und Spielen
wirtschafts-
politische Seine Geschlechtlich-
keit leben
Schlafen
Sterben

Individualisierung der Pflege


Einschätzen
Planen
Durchführen
Bewerten

4.3.10 Marie-Luise Friedemann – Familien- und welt, d. h. anderen Systemen, auf, verarbeiten diese
umweltbezogene Pflege und geben Ergebnisse, z. B. in Form von Ideen, Ver-
Marie-Luise Friedemann ist gebürtige Schweizerin haltenswesen, Gegenständen, an die Umwelt ab.
und hat ihre Pflegeausbildung und mehrere Studien Mittels dieses Energieflusses werden andere Syste-
in den USA absolviert. Vor und nach ihrer Promotion me aktiviert, bei denen der gleiche Mechanismus
lehrte und forschte sie an mehreren amerikanischen abläuft und die wiederum Impulse für andere Sys-
Universitäten, insbesondere in den Schwerpunkten teme, u. a. für das Ausgangssystem, geben. Dieser
psychiatrische Pflege; Familiendynamik, Pflege von Prozess wird als Rückkoppelungsprozess oder Feed-
chronisch Kranken in der Familie und Drogensucht. backmechanismus bezeichnet.
Ihre Theorie basiert – wie auch das System-Mo- Systeme sind hierarchisch in Systeme und Sub-
dell von Betty Neumann – auf den Grundsätzen der systeme mit jeweils spezifischen Eigenschaften ge-
Systemtheorie, die von einer Ordnung aller komple- ordnet. Ein einzelner Mensch kann z. B. als System
xen Dinge in Systeme ausgeht. Systemen ist ein gesehen werden, das aus einzelnen Subsystemen,
strukturelles und dynamisches Muster mit einem z. B. Körperorganen, besteht. Auch Familien oder Ge-
Zentrum oder Schwerpunkt zu eigen, um den sich meinden können als Systeme betrachtet werden, die
Prozesse in einem bestimmten Rhythmus bewegen. aus vielen Subsystemen, z. B. einzelnen Menschen,
Als offene Systeme nehmen sie Impulse aus der Um- Familien etc., bestehen. Die Gesamtwirkung eines

BAND 1 Pflege und Profession 127


4 Pflegetheorien

Systems ist dabei anders als die Summe der Wirkun- Friedemann mit dem Begriff Kongruenz bezeich-
gen der Subsysteme. net. Muster und Rhythmus aller Systeme auf der
Soziale Systeme – zu diesen gehört u. a. das Fa- Erde unterliegen den hier herrschenden Grund-
miliensystem – verfügen über die Besonderheit, bedingungen von Zeit und Raum, Energie und
dass sie Entscheidungen treffen und damit ihr Sys- Materie.
tem gezielt verändern können. Zudem können ihre ■ Konzept Mensch: Auch der Mensch wird als ein
Subsysteme gleichzeitig Subsysteme mehrerer an- System betrachtet. Wenn Muster und Rhythmus
derer Systeme sein. Damit kann ein Subsystem meh- des menschlichen Systems nicht mit denen ande-
rere Systeme beeinflussen. Auf diese Weise entsteht rer Systeme übereinstimmen, kann laut Friede-
4 ein komplexes Zusammenspiel, das eine genaue mann die Energie zwischen den Systemen nicht
Vorhersage über Wirkungen und Folgen erschwert. ungehindert fließen und es entsteht Spannung.
Basierend auf diesen Annahmen formuliert Friede- Diese Spannung nehmen Menschen als Angst
mann ihre Theorie des systemischen Gleichge- wahr. Menschen sind bestrebt, diese Angst zu
wichts, die der oben erwähnten Einteilung folgend bekämpfen und Kongruenz zu erreichen, indem
den Theorien mittlerer Reichweite zugeordnet wird. sie entweder eigene systemische Ziele und Pro-
zesse an die der anderen Systeme anpassen oder
▌ Konzepte der Theorie aber störende Einflüsse rückgängig machen, um
Friedemann selbst beschreibt die familien- und um- die eigenen Prozesse beibehalten zu können. Mit-
weltbezogene Pflege als ein konzeptuell angelegtes tels der Verhaltensweisen Systemerhaltung, Sys-
Pflegemodell und strukturiert die verwendeten temänderung, Kohärenz und Individuation (Pro-
Konzepte anhand des von Fawcett beschriebenen zessdimensionen) strebt der Mensch nach den
Metaparadigmas der Pflege (Fawcett 1998). Sie er- Zielen Stabilität, Wachstum, Regulation/Kontrolle
weitert die hierzu gehörenden Konzepte Umwelt, und Spiritualität (Zieldimensionen). Sie alle die-
Mensch, Gesundheit und Pflege um die Konzepte nen der Erhaltung des Systems und der Bekämp-
Familie und Familiengesundheit, da – basierend auf fung der Angst. Kongruenz wird dann erreicht,
den Annahmen der Systemtheorie – sich die Struk- wenn alle vier Ziele in einem individuell richti-
turen und Prozesse der Familie als Suprasystem we- gen Ausmaß erreicht werden und die Muster und
sentlich von denen des zu ihr gehörenden einzelnen Prozesse des menschlichen Systems mit denen
Menschen als Subsystem unterscheiden. Zudem ist anderer Systeme harmonieren. Die Ziel- und Pro-
sie der Ansicht, dass Gesundheit und Pflege sowohl zessdimensionen des menschlichen Systems und
aus der Perspektive des Individuums als auch aus des Familiensystems veranschaulicht Friedemann
der der Familie betrachtet werden müssen. in einem Diagramm (Abb. 4.20).
Friedemanns Annahmen zu den einzelnen Kon-
zepten werden nachfolgend dargestellt. ▌ Zieldimensionen des menschlichen Systems
■ Konzept Umwelt: Laut Friedemanns Theorie des Insbesondere in unserer westlichen industriellen
systemischen Gleichgewichts umfasst die Um- Kultur sieht Friedemann in Regulation/Kontrolle
welt „alle Systeme, die sich außerhalb des Sys- die zentrale Zieldimension der Angstbekämpfung.
tems des Menschen oder der Familie befinden. Über die Einrichtung von Schutzsystemen, z. B. Ge-
Dies schließt alles mit ein, von Gegenständen setzen, Regelungen u. a., versucht der Mensch, seine
über Gebäude, Städte, politische und soziale Sys- Zivilisation und damit sein eigenes Überleben zu
teme, Biosysteme und Ökonomien zur Natur und sichern. Dennoch können sich Menschen nicht
schließlich zum Universum“ (Friedemann, 2010). gegen alle Risiken des Lebens und damit gegen In-
Das Universum umfasst alle Systeme auf der Erde kongruenz absichern. Hier greift die Spiritualität, die
(Weltsystem). Alle Systeme dieses Gesamtsys- Menschen ermöglicht, sich über ihre unmittelbare
tems sind über einen ständigen Energiefluss mit- Umwelt hinwegzusetzen und über eine Verbindung
einander verbunden und voneinander abhängig, zu Mitmenschen oder Gott Kongruenz zu erreichen.
was ständige Anpassungs- und Wiederanpas- In der Spiritualität kommt eine Verbindung von Sys-
sungsvorgänge nötig macht. Ziel dieser dyna- temen, z. B. zwischen Menschen, zum Tragen, die
mischen Wechselbeziehungen ist das Erreichen Gefühle von Zugehörigkeit, Anerkennung und Ach-
einer aufeinander abgestimmten Ordnung, die tung hervorruft. Beide Ziele beschreibt Friedemann

128 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

Abb. 4.20 Diagramm des individuellen


Systems und zugleich des Familiensystems
nach der Theorie des systemischen Gleich-
gewichts (aus: Friedemann, M.-L., C. Köh-
len: Familien- und umweltbezogene Pflege.
3. Aufl., Verlag Hans Huber, Bern 2010,
Buchbeilage.)

als notwendig im Leben eines Menschen, der diese ▌ Prozessdimensionen des menschlichen Systems
gezielt und aktiv anstrebt. Das Ausmaß des Bedürf- Handlungen, die auf die Ziele Stabilität und Regula-
nisses nach Regulation/Kontrolle und Spiritualität tion/Kontrolle ausgerichtet sind, ordnet Friedemann
ist im Verlauf des Lebens eines Menschen ihrer An- der Systemerhaltungssdimension zu. Hierunter ver-
sicht nach nicht statisch, sondern kann in einzelnen steht sie im Sinne Orems Selbstpflegehandlungen,
Lebens- und Entwicklungsphasen unterschiedlich die dem physischen und psychischen Wohl des
stark ausgeprägt sein. Menschen dienen, z. B. körperliche Bewegung, Er-
Störende Einflüsse auf das System lösen Rück- nährung, Freizeitaktivitäten etc. Handlungen der
koppelungsprozesse aus, die einerseits zu einer Systemänderungsdimension verfolgen die Ziele Re-
Strukturänderung des Systems führen können, d. h. gulation/Kontrolle und Wachstum. Sie werden
das System verändert sich und passt sich im Sinne immer dann erforderlich, wenn Menschen aufgrund
von Wachstum an entwicklungs- und situations- innerer oder äußerer Einflüsse gezwungen sind, ei-
bedingte Änderungen an. Andererseits können gene Werte, Denkmuster etc. zu überprüfen und zu
durch störende Einflüsse auch Bestrebungen des verändern.
Systems ausgelöst werden, diese Einflüsse zu redu- Mittels der Kohärenzdimension wird der Aspekt
zieren bzw. ganz rückgängig zu machen. In diesem des Zusammenhalts der menschlichen Subsysteme
Fall hält das System an Werten und Verhaltenswei- ausgedrückt. Sie umfasst alle menschlichen Hand-
sen fest und versucht auf diese Weise, Stabilität zu lungen, die auf die Ziele Stabilität und Spiritualität
erreichen. gerichtet sind. Kohärenz ermöglicht laut Friede-
mann Gefühle von Ganzheit, Selbstsicherheit und
innerem Frieden und das Erkennen und Akzeptieren
eigener Stärken und Schwächen. Handlungen in der

BAND 1 Pflege und Profession 129


4 Pflegetheorien

Dimension Individuation sind auf die Ziele Wachs- keit und Sicherheit. Wachstum entsteht z. B. über
tum und Spiritualität gerichtet. Sie umfassen nach Erfahrungen, Wissen etc., das Systemmitglieder
Friedemann körperliche und intellektuelle Aktivitä- durch ihre Zugehörigkeit zu anderen Systemen in
ten, die das eigene Verständnis erweitern und über die Familie einbringen. Dies ist sowohl für die Frei-
die Verbindung mit anderen Systemen eigenes heit und Entfaltung der einzelnen Familienmitglie-
Wachstum und Entwicklung sowie das von Mitmen- der wichtig als auch für die Anpassung des Systems
schen fördern. an veränderte innere und äußere Bedingungen. Re-
Gesunde Menschen müssen in allen vier Prozess- gulation/Kontrolle schützt das System nach innen
dimensionen Verhaltensweisen entwickeln, um die und außen vor negativen Einflüssen. Spiritualität
4 Ziele des menschlichen Systems erreichen zu kön- vermittelt bei Schicksalsschlägen ein Gefühl von Zu-
nen. gehörigkeit, Trost und Halt. Für die Spiritualität
■ Konzept Gesundheit: In der Theorie des systemi- einer Familie ist der gemeinsame Austausch über
schen Gleichgewichts wird Gesundheit verstan- und die Bearbeitung von Werten und Auffassungen
den als „Ausdruck der Kongruenz des mensch- wichtig.
lichen Systems in Rhythmus und Muster sowohl Systemerhaltungsstrategien führen über Regula-
nach außen mit seiner Umwelt als auch nach tion/Kontrolle zur Stabilität des Familiensystems.
innen mit seinen Subsystemen“ (Friedemann, Handlungen die in diesem Rahmen ausgeführt wer-
2010). Gesundheit drückt sich aus in einem Ge- den, sind z. B. Maßnahmen der Kindererziehung und
fühl von Wohlbefinden, wirkt als positive Kraft der Gesunderhaltung, Familienrituale und gemein-
Störungen des Systems entgegen und hat eine same Freizeitaktivitäten. Hierzu gehören auch die
angstreduzierende Funktion. Systeminkongruenz Definition der sozialen Rollen und die Erhaltung
kann Gesundheit beeinträchtigen; bei den be- von Traditionen. Kohärenz beschreibt die Beziehun-
troffenen Menschen ist das Symptom Angst be- gen der Mitglieder des Familiensystems zueinander.
obachtbar. Störungen im organischen System Gemeinsame Unternehmungen, z. B. im Rahmen von
können eine körperliche Krankheit auslösen. Freizeitaktivitäten, stärken das Zusammengehörig-
■ Konzept Familie: Die Familie sieht Friedemann keitsgefühl und verleihen dem Familiensystem Sta-
als ein System mit Subsystemen, die bestimmte bilität. Wichtig für die Kohärenz ist laut Friedemann
Aufgaben lösen (z. B. Eltern die Kindererziehung) auch die Kommunikation über Gefühle und Erleb-
und innerhalb des Systems definierte Rollen nisse. Gleichzeitig werden hierdurch auch spirituelle
übernehmen. Familien müssen nicht zwangsläu- Prozesse gefördert, da die einzelnen Mitglieder
fig aus Menschen bestehen, zwischen denen ein ihren Rhythmus und ihre Muster denen der anderen
verwandtschaftliches Verhältnis besteht, sondern Familienmitglieder anpassen. Auch Individuation
können auch aus guten Freunden oder anderen zielt auf Spiritualität, z. B. wenn einzelne Mitglieder
wichtigen Bezugspersonen gebildet werden. Wer Bindungen mit Systemen der Umwelt eingehen und
zu einer Familie gehört, wird aus der Perspektive eine individuelle Entwicklung verfolgen, ggf. Werte
jedes einzelnen Menschen definiert. Damit ver- anpassen und neue Prioritäten setzen. Für das Fami-
tritt Friedemann eine offene und flexible Defini- liensystem kann dies ein Impuls zur Systemände-
tion der Familie. rung sein, insbesondere dann, wenn die neuen
Werte mit den bisherigen Werten des Familiensys-
▌ Ziel- und Prozessdimensionen des tems nicht übereinstimmen. Handlungen der Sys-
Familiensystems temänderung zielen auf Wachstum und Regulation/
Die Ziel- und Prozessdimensionen des Familiensys- Kontrolle.
tems sind vergleichbar mit denen des menschlichen Familien unterscheiden sich u. a. in Bezug auf die
Systems (s. Abb. 4.20). Traditionen, Gewohnheiten Gewichtung der Prozessdimensionen. Kongruenz im
und Werte ermöglichen Stabilität und schützen das Familiensystem verlangt eine ausgewogene Gewich-
System vor der Angst, es könnte zerfallen. Da grund- tung der Ziel- und Prozessdimensionen und lässt
legende Werte und Lebensauffassungen von allen sich am Wohlbefinden der einzelnen Familienmit-
Mitgliedern des Familiensystems anerkannt und glieder messen.
i. d. R. an nachfolgende Generationen weitergegeben ■ Konzept Familiengesundheit: Aus den oben er-
werden, entsteht ein Gefühl der Zusammengehörig- läuterten Grundannahmen zu den Ziel- und Pro-

130 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

zessdimensionen des Familiensystems leitet Frie- 7. Experimentieren mit neuen Handlungen


demann ihre Definition von Familiengesundheit 8. Nützlichkeit und Erfolg der Änderungen prüfen
ab. Sie umfasst nach Friedemann drei Kriterien: 9. Zusprechen, ermuntern, loben.“
„Eine Familie ist gesund: a. wenn in allen vier
Prozessdimensionen gehandelt wird; b. wenn Friedemann geht davon aus, dass die Schritte des
Kongruenz innerhalb der Familie und zwischen Pflegeprozesses in der Abfolge nicht starr eingehal-
der Familie und der Umwelt besteht; c. wenn ten werden müssen, sondern variiert werden kön-
die Familienmitglieder wenig Angst empfinden nen. Ebenso können mehrere Schritte zusammen
und mit der Familie im Großen und Ganzen zu- erfolgen und Schritt 9 parallel zu allen anderen
frieden sind“ (Friedemann 2010). Diese Kriterien Schritten ausgeführt werden. Zu Beginn der Pflege
4
erlauben auch eine Evaluation der Familien- erfolgt eine ausführliche Datensammlung, orientiert
gesundheit. Diese kann nach Ansicht von Friede- an den Prozessdimensionen des Empfängersystems
mann wohl von Außenstehenden, z. B. Pflegeper- (1). Die wichtigsten Konzepte der Theorie des syste-
sonen, unterstützt, letztlich jedoch nur von der mischen Gleichgewichts sollten unter Zuhilfenahme
Familie und ihren Mitgliedern selbst subjektiv des Diagramms erklärt werden. Auf diese Weise
bewertet werden. können weitere wichtige Informationen gesammelt
■ Konzept Pflege: Pflege wird im Rahmen der und eventuelle Unklarheiten offen angesprochen
Theorie des systemischen Gleichgewichts als werden. Für den Pflegeempfänger bzw. die Familie
Dienstleistung auf allen Systemebenen, sowohl wird so auch der theoretische Bezugsrahmen und
von einzelnen Menschen und den mit ihnen ver- der Sinn und Zweck der Fragen deutlich (2). Die
netzten Systemen als auch von Familien oder Ge- erhobenen Daten erlauben erste Vermutungen und
meinden und deren Subsystemen, konzeptuali- Schlussfolgerungen der Pflegeperson über Zusam-
siert. Pflege unterstützt die Empfängersysteme menhänge zwischen Gesundheitsproblemen, Gefüh-
in ihrem Streben nach Kongruenz und Gesund- len und Handlungen. Sie werden gemeinsam mit
heit. Friedemann betont, dass der Pflegeprozess dem Pflegeempfänger bzw. der Familie verifiziert
nur bei Übereinstimmung mit dem Gesundheits- oder korrigiert, wodurch gleichzeitig notwendige
streben des Systems und unter aktiver Betei- Änderungen in den Zieldimensionen deutlich wer-
ligung von Pflegeperson und Pflegeempfänger den (3). Anschließend erfolgt eine nähere Betrach-
wirksam sein kann. Pflege darf keinesfalls „ver- tung der Handlungen innerhalb jeder Prozessdimen-
abreicht“ werden, sondern kann nur über aktive sion. Auf diese Weise wird die individuelle Gewich-
Beteiligung des Empfängersystems zu Wachstum tung der einzelnen Ziele Regulation/Kontrolle,
und damit zu Gesundheit führen. Wachstum, Stabilität und Spiritualität deutlich. Ob-
wohl viele Menschen viel Energie einsetzen, um das
▌ Systemische Pflege des Individuums und von System über systemerhaltende Handlungen zu sta-
Familien bilisieren, können Situationen dennoch eine System-
Sowohl in der systemischen Pflege von Einzelnen als änderung erforderlich machen. Friedemann sieht es
auch in der von Familien beschreibt Friedemann den als eine wichtige Aufgabe von Pflegepersonen an,
Pflegeprozess in 9 Schritten, aus deren Anfangs- die Schwierigkeit dieses Prozesses für den Einzelnen
buchstaben das Wort Kongruenz gebildet werden und für Familien anzuerkennen und hierfür nötige
kann: Unterstützungsprozesse, z. B. von Familienmitglie-
1. „Klassifizieren der systemischen Prozesse inner- dern und anderen Bezugspersonen, zu fördern (4).
halb der vier Prozessdimensionen Bereits ausgeübte, nützliche Handlungen werden im
2. Offen die Theorie erklären und die systemischen Pflegeprozess verstärkt, als unzulänglich identifi-
Prozesse erklären zierte Handlungen erfordern ein Umlernen. Gegebe-
3. Nachforschen, welche Änderungen stattfinden nenfalls ist auch das Erlernen und Testen neuer
sollen Handlungen erforderlich. Pflegepersonen unterstüt-
4. Gutheißen der nützlichen Handlungen zen diese Prozesse, indem sie anleiten und helfen,
5. Repetieren und Verstärken der nützlichen Hand- neue Handlungen einzuüben. Das Spektrum denk-
lungen barer Handlungen ist dabei breit gefächert und
6. Umlernen der mangelhaften Handlungen muss sich an den individuellen Fähigkeiten der be-

BAND 1 Pflege und Profession 131


4 Pflegetheorien

troffenen Person oder der Familie orientieren (5 – 7). ihr Modell primär aus der o. a. Studie entwickelt
Die Evaluation der Pflege erfolgt nach Möglichkeit wurde, lässt es sich auf andere pflegerische Bereiche
bei Einzelpersonen gemeinsam mit der Familie. Die übertragen und findet vor allem in Einrichtungen
Wirksamkeit der Pflege zeigt sich dabei in erster der Altenpflege Anwendung.
Linie in verminderter Angst und einem gesteigerten
Wohlbefinden des Betroffenen. Aus diesem Grund ▌ Zentrale Konzepte fördernder Prozesspflege
kommt seiner subjektiven Bewertung große Bedeu- ▌ Person
tung zu. Beobachtungen und Einschätzungen der Das Konzept „Person“ umfasst einzelne Menschen,
Pflegeperson im Prozess können sich laut Friede- Familien und/oder familienähnliche Bezugssysteme.
4 mann im Sinne einer Reflexion korrigierend und/ Es ist eng verbunden mit den Konzepten Unabhän-
oder positiv verstärkend auf die Strategien des Be- gigkeit und Wohlbefinden.
troffenen auswirken (8).
Die systemische Pflege von Familien ist auf ein ▌ Umgebung
soziales System gerichtet und befasst sich mit Fami- Krohwinkel sieht den Menschen und die Umgebung
lienangehörigen als Subsystemen eines Interakti- als offene Systeme, die in einem Austausch mit-
onssystems. Friedemann geht davon aus, dass sich einander stehen und sich gegenseitig beeinflussen.
Inkongruenzen im Familiensystem negativ auf alle Zur Umgebung gehören sowohl andere Menschen
Familienmitglieder auswirken. Dies kommt vor und Lebewesen als auch Faktoren, die das Leben,
allem dann zum Tragen, wenn die bisherigen Hand- die Lebens- und Entwicklungsprozesse, Gesund-
lungen in den Prozessdimensionen zur Stabilisie- heits- und Krankheitsprozesse sowie Unabhängig-
rung des Familiensystems nicht mehr ausreichen, keit und Wohlbefinden eines Menschen in seinen
z. B. wenn die Pflege von Menschen im häuslichen ABEDLs beeinflussen.
Bereich durch Familienangehörige oder Bezugsper- Zu diesen Einflussfaktoren rechnet sie:
sonen durchgeführt werden soll. Pflegenden kommt ■ ökologische,
im Pflegeprozess hierbei die Aufgabe zu, störende ■ physikalische,
und gesundheitsfördernde Prozesse sowie Ressour- ■ materielle und
cen in gemeinsamen Gesprächen mit der Familie zu ■ gesellschaftliche und kulturelle Ressourcen und
identifizieren, eine systemische Betrachtung der Defizite.
Prozesse anzuregen und die Familie in der Wieder-
herstellung von Kongruenz zu beraten und zu unter- Auch Pflegepersonen werden als Teil der Umgebung
stützen. betrachtet.

4.3.11 Monika Krohwinkel – Fördernde ▌ ABEDL – einbeziehende Konzepte und Kategorien


Prozesspflege mit integrierten ABEDLs Aktivitäten, Beziehungen und existenzielle Erfah-
Die deutsche Pflegeprofessorin Monika Krohwinkel rungen des Lebens (AEBDL) stellen weitere wichtige
hat 1989 im Auftrag des Bundesministeriums für Konzepte dar. Bei der Ausführung von Lebensaktivi-
Gesundheit die Forschungsstudie „Der Pflegeprozess täten, in sozialen Beziehungen und beim Sichern
am Beispiel von Patienten mit der Diagnose „Schlag- ihrer sozialen Bereiche machen Menschen Erfahrun-
anfall“ – Eine Studie zur Erfassung ganzheitlich-re- gen, die fördernd, belastend oder auch gefährdend
habilitierender Prozesspflege in Akutkrankenhäu- sein können. Krohwinkel bezeichnet diese Erfahrun-
sern“ durchgeführt. 1993 hat sie einen konzeptio- gen als existenziell, wenn sie den „Kern eines Men-
nellen Rahmen für die Pflege veröffentlicht, der seit- schen berühren“ (Krohwinkel 2013, S. 39).
dem weiterentwickelt wurde. Krohwinkel selbst Um den benannten Aktivitäten nachkommen zu
sagt, dass ihr Rahmenkonzept wesentlich von den können, benötigen Menschen eine Reihe von Fähig-
Pflegetheorien von Martha Rogers, Dorothea Orem keiten, die als ABEDL-einbeziehende Konzepte (I-IV)
und Nancy Roper u. Mitarb. beeinflusst wurde. So und Kategorien strukturiert sind (Abb. 4.21).
verweist sie z. B. in ihrer Sichtweise des Menschens
auf Rogers und bei den Aufgaben der Pflege auf
Orem. Das Konzept der Lebensaktivitäten von
Roper u. Mitarb. wird von ihr modifiziert. Obwohl

132 Pflege und Profession BAND 1


4.3 Ausgewählte Theorien und konzeptionelle Modelle der Pflege

■ mit existenziellen Erfahrungen des Lebens umge-


Der Mensch benötigt eigene Fähigkeiten und er benötigt Ressourcen
aus der Umgebung, um als Person: hen und sich dabei entwickeln zu können (Kroh-
I. Aktivitäten des Lebens zu realisieren und hierbei mit existenziellen Erfahrungen winkel 2013, S. 39).
umgehen zu können
1. kommunizieren zu können
2. sich bewegen zu können
3. vitale Funktionen aufrecht erhalten zu können ▌ Rahmenmodell Fördernder Prozesspflege
4. sich pflegen zu können
5. sich kleiden zu können Krohwinkel hat ein Rahmenmodell Fördernder Pro-
6. ausscheiden zu können
7. essen und trinken zu können zesspflege entwickelt, das Aussagen zum primären
8. ruhen, schlafen und sich entspannen zu können
9. sich beschäftigen, lernen, sich entwickeln zu können pflegerischen Interesse, zur primären pflegerischen
10. die eigene Sexualität leben zu können
Zielsetzung und zu primären pflegerischen Hand-
11. für eine sichere Umgebung sorgen zu können
lungen macht (Abb. 4.22).
4
II. Soziale Beziehungen sichern und gestalten und dabei
mit existenziellen Erfahrungen umgehen zu können
1. Im Kontakt sein und bleiben zu können mit sich und anderen
Das primäre pflegerische Interesse gilt der pfle-
2. Beziehungen erhalten, erlangen und wieder erlangen zu können gebedürftigen Person und deren mitbetroffenen
III. Mit existenziellen Erfahrungen umgehen und sich hierbei entwickeln zu können persönlichen Bezugsperson (einzelne Personen
1. fördernde Erfahrungen machen zu können
2. mit belastenden und gefährdenden Erfahrungen umgehen zu können oder auch ganze Familien) mit ihren Fähigkeiten,
3. Erfahrungen, welche die Existenz fördern oder gefährden,
unterscheiden zu können Problemen und Bedürfnissen in den ABEDLs. Kroh-
4. Lebensgeschichtliche Erfahrungen einbeziehen können
5. Sinn finden zu können
winkel betont eine gute Differenzierung der Begriff-
IV. Soziale Bereiche sichern und gestalten und dabei mit existenziellen lichkeiten. So sind die Begriffe Fähigkeiten (das, was
Erfahrungen umgehen zu können
1. den eigenen Wohnbereich selbst erhalten zu können
eine Person kann), Bedürfnisse (das, was eine Per-
2. Aufgaben und Verantwortungen im Haushalt wahrnehmen und son möchte) und Probleme (das, was eine Person
bewältigen zu können
3. mit der eigenen finanziellen Situation umgehen zu können möchte oder benötigt, aber nicht realisieren kann)
4. versicherungstechnische und rechtliche Fragen regeln zu können
5. mit Behörden und Amtsträgern umgehen zu können klar der Person zugeordnet. Die Begriffe Ressourcen
6. am sozialen Leben teilnehmen und mitwirken zu können
7. mit der schulischen/ beruflichen Situation verbundene Aufgaben wahr-
und Defizite werden demgegenüber ausschließlich
nehmen und bewältigen können (Krohwinkel 2013, S. 40ff.). im Zusammenhang mit dem Konzept Umgebung ge-
braucht.
Abb. 4.21 ABEDL-einbeziehende Konzepte und Kategorien
Betont wird auch, dass im Rahmen fördernder
Prozesspflege auch die Bezugspersonen pflegebe-
Die Auswirkungen der Fähigkeiten und Bedürf- dürftiger Menschen dem Konzept Person zugeord-
nisse eines Menschen auf seine Unabhängigkeit net werden. Damit geht die fördernde Prozesspflege
und sein Wohlbefinden sind für Krohwinkel der über eine patienten- oder bewohnerorientierte Pfle-
Ausgangspunkt pflegerischen Handelns. Aufgabe ge hinaus. Zu berücksichtigen ist hierbei eine Reihe
der Pflege ist es, Menschen in ihren Selbstpflege- von Einflussfaktoren. Die primäre pflegerische Ziel-
aktivitäten mit einer für sie fördernden Prozesspfle- setzung ist gerichtet auf das Erhalten, Erlangen und/
ge zu unterstützen. oder Wiedererlangen von Unabhängigkeit und
Wohlbefinden in ABEDLs. Primäre pflegerische
▌ Kernaussage fördernder Prozesspflege Handlungen beziehen sich auf Unterstützung, Anlei-
Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen tung und Beaufsichtigung, Information und Bera-
den Konzepten beschreibt folgende Kernaussage: tung sowie Begleitung pflegebedürftiger Menschen.
Lebens- und Entwicklungsprozesse, Krankheits- Pflegerisches Handeln soll dabei geprägt sein von
und Gesundheitsprozesse, unter Umständen das kommunikativ-förderndem Verhalten, das Krohwin-
Leben selbst, hängen von den Fähigkeiten des Men- kel als Schlüsselkompetenz in der Umsetzung för-
schen und von den Ressourcen seiner Umgebung ab, dernder Prozesspflege sieht.
die es ihm ermöglichen, als Person Hierzu gehören sowohl fachlich-inhaltliche als
■ Aktivitäten des Lebens zu realisieren, soziale Be- auch methodische Kompetenzen der verbalen und
ziehungen und Bereiche zu sichern und zu ge- non-verbalen Kommunikation sowie eine von Wert-
stalten und hierbei mit existenziellen Erfahrun- schätzung, Achtung und Respekt für die andere Per-
gen umgehen zu können son geprägte Grundhaltung der Pflegeperson.
Pflegende handeln auf diese Weise im Sinne des
betroffenen Menschen.

BAND 1 Pflege und Profession 133


4 Pflegetheorien

Fördernde Prozesspflege – Rahmenmodell

Primäres Primäre Primäre


pflegerisches pflegerische pflegerische
Interesse Zielsetzung Handlungen

Pflege- persönliche
bedürftige Bezugs-
4 Person person
Die Personen unterstützen Mit den Personen fördernd
und fördern beim… kommunizieren:

Fähigkeiten, Probleme ▶ erhalten ▶ sie unterstützen


und Bedürfnisse in ▶ erlangen ▶ sie anleiten
Aktivitäten, Beziehungen ▶ wiedererlangen ▶ sie beaufsichtigen
und Existenziellen ▶ sie informieren
von Fähigkeiten und Res-
Erfahrungen des Lebens ▶ sie beraten
sourcen zur Realisierung
(®ABEDL) ▶ sie begleiten
von Unabhängigkeit und
Wohlbefinden in ihren und in ihrem Sinne
ABEDL handeln

© Krohwinkel 1993, 1999, 2000, 2004, 2013


Primäre Einflussfaktoren

Umgebung Lebens- und Umgebung


mit Ressourcen Entwicklungs- mit Ressourcen
und Defiziten prozesse und Defiziten

Lebenssituation, Gesundheits-,
Pflegesituation Krankheitssituation
und Entwicklung und Entwicklung

Abb. 4.22 Fördernde Prozesspflege-Rahmenmodell (aus: Krohwinkel, M., Fördernde Prozesspflege mit integrierten ABEDLS,
1. Auflage 2013; Textausschnitt: Konzept I–III S. 40, Konzept IV S. 42)

Die fördernde Prozesspflege ist vor allem im


deutschsprachigen Raum breit aufgenommen wor- 4.4 Ausblick
den: Sie wird insbesondere in Einrichtungen der Al-
tenhilfe und im ambulanten Pflegebereich als Nach jahrelangen Bemühungen in der Überzeugung,
Grundlage für Pflegeassessment und -planung ge- dass es nur eine richtige Theorie für die Pflege
nutzt, kommt aber auch in anderen Handlungsfel- geben könne, zeigen die beschriebenen Theorien,
dern der Pflege, im Intensivbereich, der Onkologie dass ein so komplexer Gegenstand wie die Pflege
oder auch in der Hospizarbeit zum Einsatz. auch eine Vielzahl von Theorien mit unterschiedli-
cher Reichweite und unterschiedlichem Abstrakti-
Zusammenfassung: onsniveau zur Beschreibung, Erklärung, Vorhersage
Fördernde Prozesspflege (Krohwinkel) und Kontrolle der pflegerischen Praxis benötigt. Die
■ Aktivitäten, Beziehungen und existenzielle Erfah- Vielfalt der Theorien zeigt auf anschauliche Weise
rungen des Lebens (ABEDL) die Komplexität der Pflege. Dabei hat jede Theorie
■ Rahmenmodell Fördernder Prozesspflege ihre Berechtigung und lenkt das Augenmerk auf
einen oder mehrere jeweils unterschiedliche Aspek-
te der Pflege. Die Auswahl einer geeigneten Theorie
für das jeweilige Aufgabengebiet einer pflegerischen
Institution ist dabei zu einem großen Teil abhängig

134 Pflege und Profession BAND 1


4.4 Ausblick

von dem jeweiligen Schwerpunkt der pflegerischen der Pflegenden selbst ermöglicht. Sie sind somit
Tätigkeit. auch ein Mittel, um ein gemeinsames Pflegever-
ständnis zu entwickeln.
Beispiel: Psychiatrische Pflegeeinrichtun- Im Rahmen der Professionalisierung der Pflege
gen arbeiten mit einer anderen Patienten- trägt die Theorieentwicklung auch in der deutschen
gruppe als z. B. Rehabilitationskliniken. Ers- Pflege dazu bei, die Pflege als wissenschaftliche Dis-
tere können eine Hilfestellung für ihre praktische Ar- ziplin zu entwickeln. Die Frage ist demzufolge nicht
beit evtl. am ehesten von einer Interaktionstheorie mehr „Werden Theorien in der Pflege gebraucht?“,
ableiten, während im rehabilitativen Bereich mögli- sondern vielmehr „Welche Theorien werden in der
cherweise eher eine Theorie geeignet ist, die sich mit Pflege gebraucht und mit welchen Methoden kön-
4
Defiziten und Fähigkeiten von Menschen beschäftigt. nen diese gewonnen werden?“.
Pflege ist eine praktische Disziplin, aber eben
Grundsätzlich ergeben sich aus der Entscheidung für nicht ausschließlich: Professionelles pflegerisches
eine bestimmte Pflegetheorie auch Anforderungen Handeln bedarf einer theoretischen Fundierung,
an organisatorische und personelle Rahmenbedin- damit es bewusst, begründbar, überprüfbar, sichtbar
gungen: Der Einsatz von Theorien, die die Interakti- und effizient sein kann. Theorien geben eine Orien-
on zwischen Pflegepersonen und Patienten in den tierung für pflegerisches Handeln und können ent-
Mittelpunkt stellen und ausgeprägte kommunikative scheidende Hilfen zur Bewältigung des pflegeri-
Fähigkeiten erfordern, machen eine spezielle Schu- schen Alltags geben.
lung dieser Kompetenzen bei den Mitarbeitern nötig Der Einbezug bzw. die Stärkung der Patienten-
und verlangen eine patientenorientierte Form der perspektive in Forschung und Theoriebildung und
pflegerischen Arbeitsorganisation (s. a. Kap. 8). die Berücksichtigung neuer Aspekte gesundheitli-
Theorien sind die Grundlage für das Erschließen cher Fragestellungen, u. a. die demografische Ent-
pflegerischen Wissens. wicklung, die Zunahme chronischer Erkrankungen
Die Entwicklung von Wissen und Theorien hat sowie Veränderungen der Patientenrolle in Richtung
jedoch nicht automatisch eine verbesserte Pfle- Selbstmanagement und Partizipation, werden ins-
gepraxis zur Folge. Entscheidend hierfür ist, dass besondere für die Theorieentwicklung in Deutsch-
das theoretische Wissen auch in die Praxis umge- land als zentral angesehen (Moers u. a. 2011).
setzt wird. Theorien müssen deshalb mit den Be- Neben dem Erschließen bislang durch Pflegewissen-
dürfnissen der Praxis in Einklang gebracht werden, schaft wenig durchdrungener Praxisfelder in der
damit sie in der Praxis anwendbar sind. Hierdurch Pflege und der Verbindung unterschiedlicher ge-
kann ein intensiver Prozess des Austauschs zwi- sundheits- und pflegewissenschaftlicher Theoriedis-
schen Theoretikern und in der Pflegepraxis tätigen kurse wird für die weitere Etablierung und Kon-
Pflegepersonen entstehen, der die professionelle turierung der Disziplin Pflegewissenschaft zudem
Kommunikation und das Entstehen einer professio- gefordert, vorliegende Erkenntnisse aus Einzelfor-
nellen Identität fördern und die oftmals beklagte schungsvorhaben z. B. im Rahmen von Metaanaly-
Kluft zwischen Theorie und Praxis überbrücken sen zu systematisieren und weiter zu entwickeln,
kann. um so eine induktive Theoriebildung voranzutrei-
Aber nicht nur der Dialog zwischen Theoretikern ben.
und in der Praxis tätigen Pflegepersonen wird über
die Auseinandersetzung mit Theorien gefördert:
Auch innerhalb von Pflegeteams bzw. Institutionen
des Gesundheitswesens können Pflegetheorien
einen Austausch über Zielsetzungen und Methoden
zur Zielerreichung anregen. Hierdurch wird der Ge-
genstand „Pflege“ klar umrissen, was sowohl eine
Klärung und Darstellung der pflegerischen Tätigkeit
nach „außen“, z. B. gegenüber Patienten oder Mit-
arbeitern anderer Berufe im Gesundheitswesen, als
auch nach „innen“, also innerhalb der Berufsgruppe

BAND 1 Pflege und Profession 135


4 Pflegetheorien

Fazit: Die Pflegeberufe in Deutschland be- Apoplexiekranken: Eine Studie zur Erfassung und Ent-
finden sich in einem Professionalisierungs- wicklung ganzheitlich-rehabilitierender Prozesspflege.
Nomos-Verlag, Baden-Baden, 1993
prozess. Der Pflegewissenschaft kommt im
Krohwinkel, M.: Fördernde Prozesspflege mit integrierten
Zusammenhang mit der Professionalisierung der Pfle-
ABEDLs. Hans Huber, Bern 2013
ge die Aufgabe zu, bestehendes Pflegewissen zu syste- Leininger, M. M.: Kulturelle Dimensionen menschlicher Pfle-
matisieren und neues Pflegewissen zu entwickeln. ge. Lambertus, Freiburg im Breisgau 1998
Eine wichtige Rolle spielen hierbei die Pflegeforschung Meleis, A. I.: Pflegetheorie. Gegenstand, Entwicklung und Per-
und die Theorieentwicklung. Die überwiegende Zahl spektiven des theoretischen Denkens in der Pflege. Hans
der vorliegenden Pflegetheorien ist im angloame- Huber, Bern 1999
4 rikanischen Raum entstanden, viele von ihnen auf de-
Moers, M., D. Schaeffer, W. Schnepp: Too busy to think? Essay
über die spärliche Theoriebildung der deutschen Pflege-
duktivem Weg und als globale Theorien. Da diese
wissenschaft. Pflege 6 (2011) 349-360.
nicht unmittelbar in die Praxis umgesetzt und nur Neuman, B.: Das System-Modell. Konzept und Anwendung in
schwer überprüft werden können, gewinnt die Ent- der Pflege. Lambertus, Freiburg im Breisgau 1998
wicklung von Theorien mittlerer Reichweite und Pra- Neuman-Ponesch, S.: Theorien und Modell der Pflege. 3. Aufl.
xistheorien zunehmend an Bedeutung. Facultas, Wien 2013
Pflegetheorien kommt die Aufgabe zu, das pflege- Orem, D. E.: Strukturkonzepte der Pflegepraxis. Dt. Ausg.
hrsg. von Gerd Bekel. Ullstein Mosby, Berlin 1997
rische Handeln auf eine begründbare theoretische
Orlando, I. J.: Die lebendige Beziehung zwischen Pflegenden
Basis zu stellen. Auch in der Pflege ist ein qualifizier- und Patienten. Verlag Hans Huber, Bern 1996
tes Arbeiten ohne theoretische Grundlagen nicht mög- Peplau, H.: Interpersonale Beziehungen in der Pflege. Ein
lich. Mit der Einrichtung pflegewissenschaftlicher Stu- konzeptueller Bezugsrahmen für eine psychodynamische
diengänge und pflegewissenschaftlicher Institute sind Pflege. RECOM-Verlag, Basel 1995
auch im deutschsprachigen Raum die Weichen für die Peplau, H.E.: Zwischenmenschliche Beziehungen in der Pfle-
ge. Ausgewählte Werke. 2. Aufl., Verlag Hans Huber, Bern
Entwicklung von Theorien für die Pflege gestellt.
2009
Rogers, M.: Theoretische Grundlagen der Pflege: Eine Einfüh-
rung. Lambertus, Freiburg im Breisgau 1995
Literatur: Roper, N. et al.: Das Roper-Logan-Tierney-Modell. 2. Aufl.
Hans Huber Verlag, Bern 2009
Brandenburg, H., S. Dorschner (Hrsg.): Pflegewissenschaft 1. Schaeffer, D., M. Moers, H. Steppe, A. Meleis (Hrsg.): Pflege-
Lehr- und Arbeitsbuch zur Einführung in das wissen- theorien.Beispiele aus den USA. 2. Aufl. Verlag Hans
schaftliche Denken in der Pflege. 3. Aufl. Hogrefe, Bern Huber, Bern 2008
2015 Schaeffer, D., K. Wingenfeld (Hrsg.): Handbuch Pflegewissen-
Chinn, P., M. Kramer: Pflegetheorie. Konzepte - Kontext - Kri- schaft. Studienausgabe. Beltz, Juventa, Weinheim und
tik. Ullstein Mosby, Berlin 1996 Basel 2014
Chinn, P., M. Kramer: Pflegewissen und Pflegewissensent- Schmidli-Bless, C., R. Ricka: Pflegetheorien – eine vergessene
wicklung. Huber, Bern 2017 Dimension? Rückblick und Reflexion zum Beitrag „Eine
Corbin, J. M., A. L. Strauss: Ein Pflegemodell zur Bewältigung professionelle Pflege braucht Krankenpflegetheorien“
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Corbin, J. M., A. L. Strauss: Weiterleben lernen. Verlauf und Wagner, F., W. Schnepp (Hrsg.): Familiengesundheitspflege in
Bewältigung chronischer Krankheit. 3. Aufl. Huber, Bern Deutschland. Bestandsaufnahme und Beiträge zur Weiter-
2010 bildung und Praxis. Verlag Hans Huber, Bern 2011
Fawcett, J.: Spezifische Theorien der Pflege im Überblick. Ver- Watson, J.: Pflege: Wissenschaft und menschliche Zuwen-
lag Hans Huber, Bern 1999 dung. Verlag Hans Huber, Bern 1996
Fawcett, J.: Konzeptionelle Modelle der Pflege im Überblick, Weidner, F.: Was bedeutet Professionalisierung für die Pfle-
2. Aufl. Hans Huber, Bern 1998 geberufe? In: Sauter, D., Richter D. (Hrsg.): Experten für
Friedemann, M.-L., C. Köhlen: Familien- und umweltbezogene den Alltag. Psychiatrie-Verlag, Bonn 1999, S. 18 – 38
Pflege, 3. Aufl. Hans Huber, Bern 2010
Krohwinkel, M., Agnes Karll Institut für Pflegeforschung, BM
für Gesundheit (Hrsg.): Der Pflegeprozess am Beispiel von

136 Pflege und Profession BAND 1


5 Pflegewissenschaft und -forschung
Hanna Mayer, Martin Nagl-Cupal*

Übersicht
Einleitung · 137
5.1 Historischer Exkurs · 138
5.2 Wissensquellen beruflicher Pflege · 138
5.3 Pflegewissenschaft: Begriffsbestimmung
und Gegenstandsbereich · 140
5.4 Pflegeforschung: Begriffsbestimmung und
5
Gegenstandsbereich · 141
5.4.1 Forschung auf der Mikro-Ebene · 142
5.4.2 Forschung auf der Meso-Ebene · 142
5.4.3 Forschung auf der Makro-Ebene · 143
5.5 Grundlagen der Empirischen Pflegeforschung:
Quantitativer und qualitativer Forschungs-
ansatz · 144
Einleitung
5.5.1 Quantitativer Forschungsansatz · 144
Gegenwärtige vollziehen sich in Europa bzw. der
5.5.2 Qualitativer Forschungsansatz · 145
gesamten „westlichen“ Welt viele Veränderungen:
5.6 Der Weg zum empirischen Wissen:
Durch einen Wandel der demografische Entwick-
Der Forschungsprozess · 148
lungen, also eine Verschiebung der Alterstruktur zu
5.6.1 Theoretische Phase · 148
Gunsten der alten und hochaltrigen Menschen, be-
5.6.2 Planungsphase · 150
dingt durch einen medizinisch-technischen Fort-
5.6.3 Durchführungsphase · 153
schritt, steigt die allgemeine Lebenserwartung,
5.6.4 Auswertungsphase · 153
aber auch der Anteil chronisch kranker Menschen.
5.6.5 Publikationsphase · 154
Gesellschaftliche Veränderungen wie Migration, der
5.7 Evidence Based Nursing – eine auf Forschung
starke Kostendruck im Gesundheitswesen aber auch
begründete Pflegepraxis · 155
die abnehmende familiäre Pflege zu Hause betrifft
5.8 Pflegeforschung – eine ethische Heraus-
die Pflege als Beruf in hohem Maße.
forderung · 156
Die Aufgaben sind vielfältig und komplex und
5.8.1 Grundsätze ethischen Vorgehens in der
haben sich im Laufe der Zeit gewandelt. Neben den
Pflegeforschung · 156
Anforderungen an die praktischen Pflegetätigkeiten
5.8.2 Ethikkommissionen und die Verantwortung
rücken dabei stärker als bisher Aspekte der Gesund-
des Einzelnen · 157
heitsförderung, Prävention und Rehabilitation auch
Literatur · 158
im Sinne der Beratungs-, Koordinations- und Pla-
nungsaufgaben für Betroffene und deren familiäres
Schlüsselbegriffe
Umfeld in den Vordergrund.
▶ Forschungsansatz Den Pflegenden, die die zahlenmäßig größte Be-
▶ Forschungsanwendung rufsgruppe im Gesundheitswesen darstellen, kommt
▶ Forschungsdesign im Rahmen dieses Wandels eine bedeutende Rolle
▶ Forschungsprozess zu, die sie mit anspruchsvollen Aufgaben und ver-
▶ Pflegeforschung änderten Bedingungen konfrontiert. In dieser neuen
Situation mit ihren noch unbekannten Folgen und
Begleiterscheinungen ist Forschung auf dem Gebiet
der Pflege besonders wichtig, um Maßnahmen zu
entwickeln, die eine wirkungsvolle Gesundheitsver-
sorgung gewährleisten. Denn nur so ist es möglich,

BAND 1 Pflege und Profession 137


5 Pflegewissenschaft und -forschung

Fakten anstelle von Vermutungen zur Grundlage für gekraft in fast allen Ländern ausschließlich (oder
das Pflegehandeln und zum Ausgangspunkt für ge- zumindest zusätzlich) auf tertiärer Ebene, also im
sundheitspolitische Entscheidungen zu machen hochschulischen System stattfindet.
(Görres 1996).

5.2 Wissensquellen beruflicher


5.1 Historischer Exkurs Pflege
Pflegewissenschaft ist keineswegs etwas völlig Neu- Wissenschaft stellt eine besondere Art von Wissen
es: Der Ausgangspunkt für die Entwicklung der Pfle- und Wissenszugang dar und Forschung bedeutet ei-
gewissenschaft als eigene wissenschaftliche Rich- gentlich nichts anderes als eine bestimmte Art von
5 tung kann schon bei Florence Nightingale Wissensproduktion. Es ist aber längst nicht die ein-
(1820 – 1910, siehe auch Kapitel 2) angesetzt wer- zige. Und Wissen ist keine Gabe, die dem Menschen
den. Ihre Mitte des 19. Jahrhunderts verfassten angeboren oder in die Wiege gelegt ist, vielmehr
Schriften legten nicht nur den Grundstein für die muss es erworben werden. Dies gilt für alle Lebens-
Pflege als eigene Profession, sondern können auch bereiche, sowohl für die Bewältigung des normalen
als Anstoß für die Entwicklung der Pflege als Wis- als auch des beruflichen Alltags. Wenn man sich in
senschaft angesehen werden. Nightingale suchte als die eigene schulische Laufbahn und berufliche Pra-
erste nach wissenschaftlichen Beweisen für Phäno- xis versetzt und darüber nachdenkt, woher man
mene, die sie bei der Pflege britischer Soldaten be- sein Wissen über das man verfügt bezogen hat, er-
obachtete. Sie erkannte, dass genaue Aufzeichnun- geben sich bei genaueren Hinterfragen verschiedene
gen und Messungen der Ergebnisse pflegerischer Quellen des Wissens.
und medizinischer Betreuung von ungeheurer
Wichtigkeit für die Entwicklung effizienter Betreu- Tradition: Pflegewissen in Form von Tradition be-
ung und Behandlung kranker Menschen waren zieht sich auf eine Art von Überzeugung, die deshalb
(Nightingale 2005; Evers 2004). angewandt wird „weil es schon immer so war.“ Sol-
Die Akademisierung der Pflege und somit die che Traditionen bestehen häufig schon über viele
Etablierung der Pflege als eigenständige wissen- Jahre, meist werden sie mündlich oder schriftlich
schaftliche Disziplin begann Anfang des 20. Jahrhun- überliefert und unhinterfragt an neue Mitarbeiter
derts in den USA. Den ersten Lehrstuhl für Kranken- weitergegeben. Selbst wenn diese zu wissen glau-
pflege hatte die Krankenschwester Adelaide Nutting ben, dass dieses Wissen veraltet oder überholt ist,
inne. 1907 wurde sie als Professorin für Kranken- ist es im Alltag nur schwer zu durchbrechen.
hauswirtschaft an das Teachers College der Colum-
bia University in New York berufen. Drei Jahre spä- Autorität: Mit Autoritäten sind Personen gemeint,
ter wurde dort eine eigene Abteilung „Krankenpfle- denen man ein hohes Maß an fachlichem Wissen
ge und Gesundheitsfürsorge“ eingerichtet; Nuttings oder aber Macht und Einfluss zugesteht. Die Beein-
Lehrstuhl hieß schließlich „Kranken- und Gesund- flussung von Wissen basierend auf Autorität tritt
heitspflege“ (Steppe 1993). ein, wenn eine Person als Wissensquelle anerkannt
In Europa erfolgte diese Entwicklung erst einige und akzeptiert wird. Pflegelehrer/-professoren sind
Jahrzehnte später. Hier war Großbritannien das z. B. für Studierende in der Regel Autoritäten, weil
erste Land, in dem die Pflege wissenschaftlichen sie in Bezug auf ein spezifisches Phänomen ein spe-
Status erhielt. 1956 wurde an der Universität von zifisches Wissen vorweisen können und durch ihre
Edinburgh der erste Studienlehrgang zur Grundaus- übergeordnete Position legitimiert sind, dieses Wis-
bildung in der Krankenpflege eingerichtet. sen zu vermitteln.
Heute gibt es in allen europäischen Ländern Stu-
diengänge für Pflege, die für unterschiedliche Tätig- Persönliche Erfahrung: Wissen, das auf persönlicher
keiten im Pflege- und Gesundheitswesen qualifizie- Erfahrung beruht, baut auf der eigenen Teilnahme
ren und zu vollen akademischen Abschlüssen füh- oder der Beobachtung an einer spezifischen Situati-
ren. Vor allem ist zu vermerken, dass im Sinne der on auf. Dies führt bei Wiederholungen dazu, dass
Bologna Struktur die Beruflich Ausbildung zur Pfle- Sicherheiten entwickelt werden und aufgrund des

138 Pflege und Profession BAND 1


5.2 Wissensquellen beruflicher Pflege

sich aufbauenden Erfahrungsschatzes selbständige zu lösen. Logik kann als die Lehre des (schlüssigen)
und kompetente Entscheidungen getroffen werden Denkens bezeichnet werden. Mittels logischen Den-
können. So lassen sich manche Tätigkeiten in der kens können eine Vielzahl von praktischen Proble-
Pflege zwar theoretisch vermitteln, ohne „Handanle- men gelöst und Aufschluss über pflegspezifische
gen“ lassen sie sich aber nur schwer erlernen, wie Sachverhalte erzielt werden. Grundsätzlich lassen
beispielsweise das Vorbereiten und Verabreichen sich zwei Denkmechanismen unterscheiden: Induk-
von Injektionen oder das Handeln in einer für den tives Denken - vom Besonderen zum Allgemeinen
Patienten akuten bzw. lebensbedrohlichen Situation. und Deduktives Denken - vom Allgemeinen zum
Je mehr Erfahrung man auf einem speziellen Gebiet Besonderen. Beide Regelwerke, induktives und de-
erwirbt, desto mehr Übereinstimmungen und Regel- duktives Denken spielen in der Wissensgewinnung
mäßigkeiten lassen sich erkennen und desto mehr in der Pflege eine große Rolle, verkörpern sie doch
Verallgemeinerungen für einen persönlich daraus zwei (gegensätzliche) Positionen im Rahmen der 5
ableiten. Erfahrung als Wissensquelle hat aber auch Forschung. Für sich genommen ist das logische Den-
ihre Grenze. Weil Erfahrungen stets nur von einem ken als Wissensquelle nur bedingt nutzbar, weil
selbst, also subjektiv gemacht werden, können sie seine Zuverlässigkeit und Genauigkeit eingeschränkt
fehler- oder vorurteilsbehaftet sein, was letztlich und vom Informationsstand der Person abhängt ist.
die klinische Entscheidungsfindung beeinflussen
kann. Regelgeleitete Forschung: Der Wissenserwerb mit-
tels regelgeleiteter Forschung ist der anspruchvollste
Versuch und Irrtum (trial and error): Dies stellen eine aber auch hinsichtlich der Genauigkeit der Ergebnis-
Form von Wissen dar, bei dem solange nach einer se der zuverlässigste Pfad zu Wissen. Regelgeleitete
Lösung des Problems gesucht wird, bis diese gefun- Forschung baut auf logischem Denken auf und er-
den wird und sich ein gewünschter Effekt einstellt. möglicht es, traditionelles Handeln, persönliche Er-
Unerwünschte oder auch fehlerhafte Durchgänge fahrungen, Aussagen von Autoritäten aber auch lo-
werden häufig in Kauf genommen. Dies ist eine legi- gisches Denken selbst einer genauen Prüfung zu un-
time Methode, wenn sie von kranken oder pflegebe- terziehen, zu beweisen oder zu widerlegen (Mayer
dürftigen Menschen selbst eingesetzt wird. Als Wis- 2014). Regelgeleitete Forschung ist der häufigste
sensquelle für professionelle Pflege ist es nicht zuletzt Weg des Erkenntnisgewinns in der Wissenschaft.
aufgrund der ethischen Implikationen sehr fragwür- Sie bedient sich systematischer Vorgehensweisen,
dig. wodurch deren (Forschungs-) Ergebnisse für andere
Personen überprüfbar und nachvollziehbar sind.
Intuition: Sie begründet sich auf einer Art von tief Wenn man eine Gesamtschau auf die ausgeführ-
verinnerlichtem Wissen, das auf unbewusstem ten Wissensquellen vornimmt, so lassen sich diese
Wege zustande kommt. Dadurch lässt die Intuition im Wesentlichen in zwei Arten unterteilen (Mayer
sich schwer logisch fassen oder erklären. Intuition 2014). Dies sind zum einen die unstrukturierten
lässt sich nicht als Resultat eines vorangegangen Wissensquellen (Intuition, Erfahrung, Versuch und
Denkprozesses oder Lernen definieren sondern Irrtum, Autorität) und zum anderen die strukturier-
eher als etwas „das einem der Bauch sagt.“ Pfleg- ten Wissensquellen (Logisches Denken, Regelgeleite-
kräfte mit langer Berufserfahrung „wissen“ häufig te Forschung). Unstrukturiert und strukturiert stel-
intuitiv voraus, wann ein Patient in eine gesundheit- len keine Hierarchisierung hinsichtlich ihrer Bedeu-
liche Krise zu schlittern droht und wann Handlung tung für den Erwerb von Wissen dar sondern viel-
geboten ist. mehr nur den Erkenntnisweg, auf dem Wissen ge-
Intuition als Wissensquelle hat, so wichtig sie für wonnen wird. Alle Wissensquellen sind Bestandteil
die Ausübung des Pflegeberufs ist, auch ihre Grenze, des menschlichen Wissens. Auch aus dem Bereich
da dieses Wissen nicht beliebig abrufbar oder auch der Pflege sind sie nicht wegzudenken. Sie bedürfen
vermittelbar ist. aber einer gründlichen Reflexion vor allem im Hin-
blick auf ihre Reichweite und Grenzen.
Logisches Denken: Denken beschreibt ein aktives Pflegerisches Handeln baut auf vielfältigen Wis-
mentales Auseinandersetzen mit einem bestimmten sensquellen auf, die den Pflegenden zum Teil be-
Sachverhalt mit dem Ziel, ein bestimmtes Problem wusst sind, zum Teil aber unbewusst das Tun leiten.

BAND 1 Pflege und Profession 139


5 Pflegewissenschaft und -forschung

Strukturierte und unstrukturierte Wissensquellen che Grundlage der als Beruf ausgeübten Praxisdiszip-
bilden die Grundlage des Handelns in der Pflege. lin Pflege beschrieben werden die, ausgehend davon,
Da dieses Kapitel sich in weiterer Folge nur einer womit sich Pflege auseinandersetzt, Erkenntnisse be-
dieser Wissensquellen zuwendet, nämlich dem em- reitstellt, auf deren Grundlagen die Pflegepraxis ver-
pirischen Wissen bzw. der Forschung, ist es wichtig, bessert oder unterstützt werden kann. Oder kurz ge-
zu Beginn darauf hinzuweisen, dass empirisches sagt: Pflegewissenschaft ist die Wissenschaft vom
Wissen einen wichtigen, aber eben nur einen Teil Phänomen Pflege (Dassen und Buist 1994).
der größeren Gesamtheit des pflegerischen Wissens Die Beschreibung des Gegenstandsbereichs Pfle-
bildet, das uns handlungsfähig macht. Peggy Chinn ge basiert also auf dem, was professionelle Pflege
und Maeona Kramer beschreiben in ihrem Buch ausmacht. Ausgehend davon kann man sagen, dass
„Pflegetheorien: Kontext – Konzepte – Kritik“ vier im Mittelpunkt des erkenntnisleitenden Interesses
5 Bereiche, die in ihrem Zusammenspiel das Handeln der Pflegewissenschaft insbesondere
von Pflegenden leiten. Diese sind: ■ der gesunde und der kranke Mensch bzw. der
■ Intuition (die „Kunst der Pflege“) Mensch in besonderen Lebenssituationen in sei-
■ persönliches Wissen (Erfahrung) nem Lebensumfeld,
■ Empirie (der wissenschaftliche, abgesicherte Be- ■ Interaktionen zwischen Pflegeempfängern und
reich) Pflegenden sowie zwischen Pflegenden und
■ Ethik (die moralische Komponente der Pflege) dem Kontext (der Umwelt) und
■ das pflegerische Handeln selbst stehen.
Diese vier Bereiche stehen untereinander in Bezie-
hung. Nur durch ihr Zusammenspiel entsteht jenes Gegenstand der Pflegewissenschaft sind einerseits
Wissen, das die Grundlage des pflegerischen Han- die Auswirkungen von Krankheit, Behinderung und
delns bildet. Denn „jede der Wissensgrundlagen ist Gebrechen auf die Alltagsgestaltung. Andererseits
bedeutsam. Jede ist ein deutlich abgegrenzter As- beschäftigt sich Pflegewissenschaft mit der Wirk-
pekt des Ganzen und leistet ihren Beitrag zur Ge- weise pflegerischer Interventionen und fragt nach
samtheit des Wissens.“ (Chinn/Kramer 1996) den Einflussfaktoren und Kontextbedingungen „gu-
Das Pflegewissen wird auch aus dem Wissen an- ter“ Pflege (Mayer 2014).
derer Disziplinen gespeist, wie z. B. aus der Medizin, Von pflegetheoretischer Seite wird der Gegen-
der Psychologie oder der Pädagogik. standsbereich der Pflege und somit der Pflegewis-
senschaft anhand sogenannter Schlüsselkonzepte
beschrieben. Schlüsselkonzepte sind zentrale, in-
haltlich grundlegende Begriffe der Pflege. Sie sind
5.3 Pflegewissenschaft: Resultat der vom angloamerikanischen Raum in
Begriffsbestimmung und den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ausgehenden
Gegenstandsbereich Theoriedebatte in der Pflege.
Ausgehend von diesen pflegetheoretischen
Das, was jede (Einzel-)Wissenschaft inhaltlich aus- Schlüsselbegriffen und den verschiedenen Berei-
macht, wodurch sie sich inhaltlich definiert und chen, die den Gegenstand der Pflegewissenschaft
von anderen Einzelwissenschaften abgrenzt, das ist ausmachen, fasst Stefan Görres diese Diskussion zu-
ihr Gegenstand oder ihr Interessenbereich, ihre „area sammen indem der den Gegenstand der Pflegewis-
of concern“. Z. B. ist die menschliche Psyche der Ge- senschaft mithilfe von vier Begriffen umschreibt.
genstand der Psychologie, all die Krankheiten und Diese sind den Bereichen von Kim sehr ähnlich –
Beeinträchtigungen, die am menschlichen Körper werden nur etwas anders formuliert und daher
auftreten, sind der Gegenstand der Medizin, und hier als eine Alternative, den Gegenstand der Pfle-
der Gegenstand der Pflegewissenschaft ist die Pflege. gewissenschaft zu beschreiben, dargestellt. Sie lau-
Um Pflegewissenschaft begrifflich fassen zu kön- ten:
nen, ist es notwendig sich anzusehen, was ihr Interes- ■ Person
sensbereich ist, womit sie sich beschäftigt. Dies kann ■ Umwelt
wiederum nur erfolgen, wenn man sich das Hand- ■ Wohlbefinden
lungsfeld der Pflege selbst ansieht. Ganz allgemein ■ pflegerisches Handeln
kann Pflegewissenschaft deshalb als wissenschaftli-

140 Pflege und Profession BAND 1


5.4 Pflegeforschung: Begriffsbestimmung und Gegenstandsbereich

Person
Das zentrale Interesse der Pflege gilt der Person und Schlüsselbegriffe des Gegenstandsbereichs der
Pflegewissenschaft:
ihrer Biografie. In der Regel ist diese Person der
Person – Wohlbefinden – Umwelt – pflegerisches
pflegebedürftige Mensch. Hat man aber die Wech- Handeln
selbeziehung, den Austausch zwischen den Men-
schen (die Interaktion) im Auge, ist auch die pfle-
gende Person mit eingeschlossen. Person Umwelt

Umwelt
Wohlbefinden
Unter Umwelt versteht man hier das physische, psy-
chische, soziale und ökologische Milieu. Die Umwelt Krankheit Gesundheit

hat in der Pflege eine so große Bedeutung, weil sie der 5


wichtigste äußere Bestandteil für Leben, Gesundheit
und Wohlbefinden ist. Umwelt steht in engem Zu-
sammenhang mit dem ersten Begriff, der Person. Pflegerisches Handeln
Beide können nicht getrennt voneinander betrachtet
werden, denn kein Mensch lebt in einem Vakuum. Sie
sind offene Systeme, die miteinander in Beziehung Abb. 5.1 Schlüsselbegriffe der Pflegewissenschaft (Mayer 2015,
S. 36)
stehen („interagierende Systeme“).

Wohlbefinden
5.4 Pflegeforschung:
Wohlbefinden (als erweiterter Begriff für Gesund-
heit) und Krankheit werden als dynamischer Prozess
Begriffsbestimmung und
definiert und nicht als Zustand angesehen. Die wich- Gegenstandsbereich
tigste Aufgabe der Pflegenden ist es, Wohlbefinden
zu erhalten oder ein verändertes Wohlbefinden in Definition: Pflegeforschung ist die systemati-
die Lebensgestaltung der Patientin zu integrieren. sche Untersuchung zur Entwicklung von Wis-
sen über Themen, die für die Ausübung von
Pflegerisches Handeln Pflege von Bedeutung sind.
Das pflegerische Handeln verbindet alle drei Begriffe
miteinander: Es geht von den Bedürfnissen bzw. der Pflegeforschung
veränderten Lebenssituation und von den Kom- ■ ist Forschung auf dem Gebiet des Gesundheits-
petenzen (Fähigkeiten) des pflegebedürftigen Men- wesens auf dem Pflegende den größten Teil der
schen aus. Die Pflegesituation wird als Interaktions- Verantwortung selbst tragen
prozess zwischen Pflegebedürftigem und Pflegeper- ■ bedeutet die Entwicklung von pflegerischem Fach-
son in bestimmten Situationen verstanden. Die zen- wissen
tralen Anliegen dabei sind es, die Fähigkeit des Pa- ■ will das Wissen vermehren, das Pflegende brau-
tienten zu selbstständigem Handeln (Handlungs- chen um effektiv zu wirken (Mayer 2014, S. 34)
kompetenz) wiederherzustellen, ihn bei der Erhal-
tung dieser Fähigkeit zu unterstützen und die Pflegeforschung richtet ihren Fokus also auf einen
Selbstpflege und alltäglichen Fertigkeiten (Alltags- bestimmten Teil des Gesundheitswesens, dort wo
kompetenzen) zu fördern. pflegerisches Handeln zum Tragen kommt. D. h. die
Fragen, die die Pflegeforschung an diesen Gegen-
stand richtet, sind in erster Linie für die Pflege rele-
vant und unterscheiden sich daher grundlegend von
den Fragen anderer Wissenschaften. Z. B. sind Ent-
zündungen im Bereich der Mundschleimhaut als
Nebenwirkung von Chemotherapie ein Problem,
mit dem sich sowohl die Pflegewissenschaft als
auch die Medizin beschäftigen kann. Während die

BAND 1 Pflege und Profession 141


5 Pflegewissenschaft und -forschung

Medizin (bzw. die Pharmakologie) jedoch beispiels- beobachtet werden kann, kann in drei „Domänen“
weise danach fragen würde, wie ein Chemothera- (Bereiche) unterteilt werden:
peutikum zusammengesetzt sein muss, um weniger
Nebenwirkungen hervorzurufen oder welches ande- Praxisdomäne: Wenn man sich das praktische Han-
re Chemotherapeutikum man ebenfalls anwenden deln der Pflege vor Augen hält, so sind dies Fragen,
könnte, fragt die Pflegewissenschaft danach, welche die sich rund um den Pflegeprozess gruppieren las-
prophylaktischen Pflegemaßnahmen der beste sen. Überprüfung von pflegerischen Assessment-
Schutz vor möglichen Nebenwirkungen sind. Es ist instrumenten aber auch Untersuchungen über Effek-
also nicht der Gegenstand an sich, sondern es sind tivität und Indikationen von unmittelbaren Pfle-
die Forschungsfragen, die Forschung zur Pflegefor- gehandlungen oder pflegerischen Methoden, also
schung machen. Pflegewissenschaftlich ausgerichte- auch jener Teil der Forschung der sich mit „Evidence
5 te Forschungsfragen richten sich nach der Verant- Based Nursing“ beschäftigt. Und es ist auch jener
wortlichkeit, den Aufgaben und den Handlungsmög- Bereich, in dem Grenzen pflegerischen Handelns
lichkeiten der Pflegenden. durch ethische Anforderungen beforscht werden.
Ein weiteres zentrales Element ist die Wissens-
vermehrung, die auf ein ganz bestimmtes Hand- Klienten-Pflegende Domäne: Forschung in diesem
lungsfeld, das der Pflege, ausgerichtet ist: Vermehrt Bereich beschäftigt sich mit Beziehungsarbeit im
wird jenes Wissen, mit dem man die Pflege der Pa- Rahmen der Pflege bzw. der Kommunikation und
tienten besser und effektiver gestalten kann. Pflege- Interaktion zwischen Patienten und Pflegenden,
forschung hat also das Ziel, das Pflegewissen zu ver- auch unter starker Bezugnahme auf familiäre Be-
mehren oder, anders ausgedrückt, pflegerisches zugspersonen von pflegebedürftige Menschen (z. B.
Fachwissen zu entwickeln (Käppeli 1994). Interaktion in der häuslichen Pflege)
Pflegeforschung ist das Instrument der Pflege-
wissenschaft, um Klienten Domäne: Dieser Forschungsbereich be-
■ Theorien zu überprüfen; schäftigt sich mit der Perspektive der gepflegten
■ Grundlagen für die Entwicklung neuer Theorien Person. Wie etwa bestimmte Pflegehandlungen
zu liefern und wahrgenommen werden oder was es aus ihrem
■ Fragestellungen aus der Praxis aufzugreifen und Blickwinkel bedeutet, in einer bestimmten Einrich-
zu beantworten (Mayer 2014). tung wie einem Krankenhaus oder Pflegeheim zu
sein, oder was es ganz generell heißt, pflegebedürf-
Da der Gegenstand der Pflegewissenschaft sich auf tig zu sein.
alle Phänomene rund um „Pflege“ bezieht, ist er ein
sehr breiter. Es ist daher sinnvoll, das Forschungs- 5.4.2 Forschung auf der Meso-Ebene
gebiet zu strukturieren, um es überschaubar zu Auf dieser Ebene wird Pflegeforschung betrieben,
machen. Es gibt mehrere Möglichkeiten, Pflegefor- die mit Pflege als Organisationsform bzw. mit Pfle-
schung zu unterteilen. Sabine Bartholomeyczik ge, die von komplexen Strukturen der Arbeitsorga-
(2000) teilt die Pflegeforschung, aufbauend auf ein nisation der Pflege beeinflusst ist, zu tun hat.
Schema, das 1996 von der Robert Bosch Stiftung in
einer Denkschrift über die Pflege vorgelegt wurde, Klientenorientierte Organisationsformen: Hier kön-
in folgende fünf Bereiche ein. nen Fragen des Ablaufs der Arbeitsorganisation in-
nerhalb einer Institution (z. B. Vorteile der Bezugs-
5.4.1 Forschung auf der Mikro-Ebene pflege) oder zwischen verschiedenen Institutionen
Dies ist die Ebene der Pflegepraxis und gleichzeitig (z. B. Überleitungspflege zwischen Krankenhaus
derjenige Bereich, dem die größte Bedeutung zu- und Zuhause) im Vordergrund stehen.
kommt. Dieser Bereich wird auch als klinische Pfle-
geforschung bezeichnet. Klinisch nicht definiert im Qualitätsmanagement: Bezogen auf einen umschrie-
Sinne von Klinik oder Krankenhaus, sondern im benen Bereich (z. B. Abteilung) oder aber auf eine
Sinne von direktem Handeln an dem Patienten gesamte Einrichtung. Die Qualitätsfrage wird beson-
oder auch seinen Bezugspersonen. Die Mikroebene, ders häufig im Blickfeld von organisatorischen oder
also die Ebene wo direktes Handeln von Personen ökonomischen Veränderungen gestellt.

142 Pflege und Profession BAND 1


5.4 Pflegeforschung: Begriffsbestimmung und Gegenstandsbereich

Arbeitsbedingungen in der Pflege: Dieser Aspekt be- Gesellschaftliche Strukturen Pflegerischer Versor-
schäftigt sich mit Arbeitsbedingungen, -zufrieden- gung: Hier geht es beispielsweise um Fragen der
heit oder -belastungen im Rahmen der pflegeri- pflegerischen Berufspolitik aber auch um Fragen
schen Arbeit in einem spezifischen Setting (Kran- der allgemeinen Berufsmotivation, um lokale und
kenhaus, Pflegeheim, ambulante Pflege) länderübergreifend Qualifikationsstruktur von Pfle-
genden oder um Fragen der Versorgungsforschung
5.4.3 Forschung auf der Makro-Ebene im oder an den Schnittstellen des Gesundheitssys-
Die Makro-Ebene ist die „oberste“ oder die abstrak- tems.
teste Forschungsebene, die gleichzeitig am wenigsten
mit direktem Handeln zu tun. Obwohl sie nicht direkt Epidemiologie von Pflegebedürftigkeit: Hier geht es
mit der Pflege selbst zu tun hat, ist sie wichtig, da es um die Erfassung, Häufigkeit und zeitliche Entwick-
um Berufspolitik im weitesten Sinne geht und deren lung bestimmter Pflegephänomene (z. B. Sturz, post- 5
Forschungsthemen- und Ergebnisse auf strategische operative Verwirrtheit, Inkontinenz, Pflegebelastung
Planungen und Entscheidungen in der Pflege und in etc.) und deren Auswirkung auf die pflegerische
der Gesundheitspolitik hinzielen. Versorgung bezogen auf eine bestimmte Region, be-

Tab. 5.1 Systematisierung der Pflegeforschung (nach Bartholomeyczik 2000)

Beispiele für Forschungsthemen

Mikro-Ebene Praxis-Bereich ● Prophylaxe und Therapie des Dekubitus durch Auflagedruckmessungen auf
(Pflegepraxis) verschiedenen Weichlagerungs- und Wechseldrucksystemen
● Die prädiktive Validität der originalen und erweiterten Norton-Skala in der
Altenpflege.

Patienten-Pflegende Bereich ● Interaktion mit dementen Menschen.


● Die Beziehung zwischen Angehörigen und Pflegenden auf Intensivstatio-
nen.

Patienten-Bereich ● Die Situation pflegender Kinder und Jugendlicher


● Die Alltagsbewältigung chronisch kranker Menschen

Meso-Ebene Klientenorientierte Organisations- ● Entlassungsmanagement: Die Sicht der Patienten und deren Angehörige.
(Pflege als Orga- formen ● Die Rolle von Primary Nursing in der Hauskrankenpflege.
nisation und In-
stitution) Qualitätsmanagement ● Verbesserung der Dokumentationsqualität durch standardisierte EDV-Do-
kumentation am Krankenbett.
● Der Einfluss von ethischen Fallbesprechungen auf die Struktur- und Pro-
zessqualität im Pflegeheim.

Arbeitsbedingungen in der Pflege ● Gesundheitsfördernde Faktoren am Arbeitsplatz in der Langzeitpflege


● Fördernde und hindernde institutionelle Faktoren zur Entwicklung
personenzentrierter Pflege

Makro-Ebene Gesellschaftliche Strukturen pflege- ● Auswirkung der Pflegeversicherung auf die Situation pflegender Angehöri-
(Pflegepolitik) rischer Versorgung ger.
● Rahmenbedingung für die Einführung der Family-Health Nurse in der pfle-
gerischen Versorgung.

Epidemiologie der Pflegebedürftig- ● Die Bedeutung von Sturzprävalenz und der Einfluss auf die stationäre
keit Krankhauseinweisung
● Die Auswirkung steigender Zahlen demenzkranker Menschen auf den zu-
künftigen Bedarf an Pflegepersonen in der ambulanten Pflege

Historische Pflegeforschung ● Die historischen Wurzeln der Grundpflege (Mikro).


● Die Entwicklung der Krankenpflegeschulen in Österreich (Meso).
● Die Auswirkung der national-sozialistischen Machtübernahme in Österreich
auf die Ausbildung und Berufsausübung in der österreichischen pflege
(Makro).

Ergänzende und prioritäre Fragestellungen

BAND 1 Pflege und Profession 143


5 Pflegewissenschaft und -forschung

stimmtes Setting oder für eine bestimmte Gruppe überprüft werden, sie sind objektiv. Das heißt, im
von Menschen. quantitativen Forschungsansatz gibt es eine objekti-
ve Wahrheit, die messbar und überprüfbar ist. Ihr
Historische Pflegeforschung: Sie beschäftigt sich mit Ansatz ist deduktiv, was meint sie geht von einer
den Ursprüngen der Pflege und zeichnet deren Ent- Theorie aus, die im Anschluss daran überprüft
wicklung bis zur Neuzeit nach. Sie legt ihr Augen- wird. Von den gewonnen Daten werden Gesetz-
merk auf zeitlich signifikante Epochen der Pflege mäßigkeiten abgeleitet, die dem Anspruch auf Über-
wie beispielsweise der Pflege im Nationalsozialis- tragbarkeit und Allgemeingültigkeit haben.
mus. Historische Pflegeforschung ist mehr eine Quantitative Forschung (Exaktheit der Daten) im
„Querschnittsmaterie“ da sie Fragestellungen auf Sinne der Objektivierbarkeit bedient sich For-
allen Ebenen bereithält. schungsmethoden, die in der Naturwissenschaft ge-
5 bräuchlich sind. Die Daten werden mittels standar-
disierten Verfahren, z. B. biophysische Messungen,
5.5 Grundlagen der Empirischen Fragebögen oder Skalen erhoben. Sie werden mittels
statistischer Methoden ausgewertet und meistens
Pflegeforschung: numerisch, also in Zahlen, dargestellt. Vor einer Un-
Quantitativer und qualitativer tersuchung wird ein genauer Untersuchungsplan er-
Forschungsansatz stellt, in der der Untersuchungsgegenstand eine ge-
naue Abfolge von Handlungen durchläuft. Im Laufe
Forschung schwebt nicht im luftleeren Raum, sie der Forschung werden Daten gesammelt, die einen
geschieht immer in einem bestimmten wissen- empirischen Nachweis über den gewünschten Sach-
schaftlichen Kontext. Die Wissenschaftstheorie ist verhalt ergeben, welche die Wirklichkeit genau wie-
dieser Kontext – also die Frage danach, wie wissen- dergeben.
schaftliche Erkenntnis entsteht. Die Methodologie Folgende Grundprinzipien sind für die quantita-
(umgangssprachlich auch Methode), die hinter tive Forschung charakteristisch:
einer Forschungsarbeit steht ist der Anwendungsfall ■ naturwissenschaftliche Position
verschiedener wissenschaftstheoretischer Positio- ■ deduktiv: vom Allgemeinen zum Besonderen
nen. Quantitative und qualitative Forschung sind ■ erklärend: Ermittlung von Mustern, Gesetz-
nun verschiedene Wege, um zu wissenschaftlichen mäßigkeiten
Erkenntnissen zu kommen, die eine bestimmte wis- ■ theorieprüfend
senschaftstheoretische Position repräsentieren. ■ nomothetisch: Gesetzmäßigkeiten für ein be-
Ihre Unterschiede liegen nicht nur in der Form stimmtes Phänomen
der Datenerhebung und Auswertung sondern sie ■ objektiv
stellen zwei ganz unterschiedliche Denkmuster dar. ■ prädeterminiert: Es wird nur das erhoben, was
In beiden Ansätzen geht es um unterschiedliche vorher theoretisch festgelegt wurde
Vorstellungen davon, auf welchem Wege die Wahr- ■ „harte“ numerisch Daten
heit entsteht, bzw. wie Forschung Wirklichkeit ab- ■ hohe Fallzahlen
bilden kann.

5.5.1 Quantitativer Forschungsansatz Beispiel quantitative Studie


Die Vorstellung von Wahrheit in der quantitativen Die mediane Laparotomie (Mittelschnitt) stellt eine
häufig genutzte Operationsmethode im Abdomen-
Forschung hat ihren Ursprung im kritischen Ratio-
bereich dar. Durch diese Methode werden alle Bauch-
nalismus und im Empirismus. Dies beruht auf fol-
muskeln manipuliert, die maßgeblich an der Rumpf-
gender Idee: Es wird davon ausgegangen, dass jeder
bewegung beteiligt sind. Dadurch kommt es postope-
Menschen über vielerlei unterschiedliche Merkmale
rativ zu bewegungsbedingten Schmerzen und Bewe-
und Eigenschaften verfügt. Die Eigenschaften (z. B.
gungseinschränkungen. Erfahrungen aus dem kli-
physische, psychische, soziale) können einzeln dar-
nischen Alltag haben gezeigt, dass eine frühe (präope-
gestellt und von den anderen Eigenschaften klar ab-
rative) Schulung nach dem auf dem Prinzip der Kin-
gegrenzt werden. Sie sind der Wahrnehmung Drit- ästhetik basierenden Viv-Arte-Lernmodell zu guten Er-
ter konkret zugänglich, sind messbar und können folgen führt. Studien zur Wirkungsweise von postope-

144 Pflege und Profession BAND 1


5.5 Grundlagen der Empirischen Pflegeforschung: Quantitativer und qualitativer Forschungsansatz

rativen Interventionen liegen vor, die Auswirkung kin- 5.5.2 Qualitativer Forschungsansatz
ästhetisch begründeter Bewegungsschulung wurde je- Die qualitative Forschung geht von der Ganzheitlich-
doch bislang nicht empirisch untersucht. Haasenritter keit des Mensche aus. Der Mensch wird als komple-
et al. (2009) wollten dies nun testen. Sie formulierten xes Wesen betrachtet, dessen Einstellungen und
dazu folgende Forschungsfrage: „Welche Auswirkung Handlungen nicht im luftleeren Raum sondern in
hat eine präoperative Bewegungsschulung auf Mobili- einem bestimmten Zusammenhang existieren.
tät, bewegungsabhängige Schmerzen und postoperati- Diese beruhen auf Erfahren und sind von der ihn
ve Verweildauer von Patientinnen nach medianer Lapa-
umgebenden Umwelt geprägt. Jeder Mensch nimmt
rotomie?“ Bei der Untersuchung wurden zwei Gruppen
Dinge deshalb anders wahr und interpretiert sie und
von Patientinnen mit geplanter laparotomischer Zyst-
handelt anders, weil jeder Mensch einen anderen
ektomie miteinander verglichen. Die Patientinnen der
Hintergrund hat. Aufgrund dieser Komplexität, die
Interventionsgruppe erhielten am Tag vor der Operati-
on eine ca. 30-minütige Schulung für das postoperative
dem Menschen inne wohnt, gibt es in der qualitati- 5
ven Forschung keine objektive Wahrheit. Die quali-
Mobilisationsverhalten, unterstützt durch eine schriftli-
tative Forschung will Phänomene aus der subjekti-
che Broschüre, sowie zusätzlich einen weiteren Besuch
einer geschulten Pflegekraft am Abend desselben Ta- ven Perspektive der Betroffenen erfassen und be-
ges, um mögliche Fragen zu klären. Die Kontrollgruppe greifen. Sie will herausfinden, welche Bedeutungen
erhielt wie bisher üblich eine schriftliche Information, die Menschen gewissen Handlungen zuschreiben
die den Patientinnen aktive Bewegungsübungen im und den Mensch als komplexes Wesen möglichst
Rahmen der Thromboseprophylaxe erläuterte. Die Mes- ganzheitlich verstehen. Der qualitative Forschungs-
sung der Mobilität und der Schmerzintensität erfolgte ansatz beruht auf folgenden Prämissen (Burns und
bei beiden Gruppen postoperativ zweimal pro Tag mit- Grove 2005):
tels standardisierter Tests (Mobilitätstest MOPTA und ■ Es gibt nicht nur eine Realität oder Wahrheit
visuelle Analog-Skala [VAS] zur Schmerzerfassung). Die ■ Realität, die auf der Wahrnehmung der einzelnen
Ergebnisse wurden hinsichtlich möglicher Unterschiede Person aufgebaut ist, wird von jeder Person an-
statistisch ausgewertet. Die gestellte Forschungsfrage ders wahrgenommen und unterliegt einer zeitli-
erfordert ein quantitatives Vorgehen. chen Veränderung
Die Arbeit weist alle Kennzeichen einer quantitativen ■ Was wir über ein Phänomen wissen, besitzt nur
Studie auf: in einer bestimmten Situation, in einem be-
■ Sie ist theorieprüfend und deduktiv: Die Grund- stimmten Zusammenhang Gültigkeit.
annahme war, dass Okklussionsverbände aufgrund
ihrer längeren Verweildauer auf der Wunde zu ge-
Beispiel: Qualitative Studien untersuchen
ringeren Kosten der ambulanten Pflege führen
die Tiefe, Reichweite und Komplexität, die
■ Es wird nur das erhoben, was vorher festgelegt
einem Phänomen innewohnt. Sie führen
wird: Wundheilung, Kosten.
dazu, dass ein bestimmtes Phänomen in einer be-
■ Sie untersucht eine spezielle Intervention (Gaze vs.
stimmten Situation besser verstanden wird. Eine Ver-
Okklussionsverband).
allgemeinerung im Sinne einer Übertragung auf eine
■ Es werden standardisierte Messverfahren eingesetzt
(Skalen zur tgl. Beurteilung der Wunde, Kostenrech- Grundgesamtheit kann aber nicht vorgenommen wer-
nung). den.
■ Die Ergebnisse werden statistisch erfasst und in
Zahlen dargestellt. Der qualitative Forschungsansatz ist dem interpreta-
tiven Paradigma zuzuordnen. Das bedeutet, dass
wenn man Handlungen von Personen erklären will,
berücksichtigt werden muss, wie die handelnde Per-
son ihre Handlung interpretiert. Es geht um ein tie-
fes Verstehen und die Suche nach subjektiven Be-
deutungen. Wirklichkeit entsteht daher nicht durch
objektive Beobachtungen, sondern ist durch das
subjektive Erleben bedingt und daher als Konstruk-
tion verstanden.

BAND 1 Pflege und Profession 145


5 Pflegewissenschaft und -forschung

Folgende Grundprinzipien sind für die qualitative kulturelle Faktoren sowie die besondere Rolle Pflege im
Forschung charakteristisch öffentlichen Gesundheitsbereich zur Vermittlung von
■ geisteswissenschaftliche Position Wissen an Betroffenen und deren Angehörigen.
■ induktiv: Vom Besonderen zum Allgemeinen Das Ziel dieser Arbeit lag darin, ein möglichst tiefes
■ verstehend: Soziales Handeln in einem bestimm- Verständnis von einer Situation zu erhalten, von der
ten Zusammenhang vestehen wenig bekannt ist. Nur wenige Forscher hatten sich
■ theoriebildend bisher speziell mit diesem Thema auseinandergesetzt.
Die Forschungsfrage war offen und induktiv formuliert.
■ ideografisch: Beschreibende Untersuchung von
Die Untersuchungsteilnehmer wurden nicht durch Zu-
Individualität
fall sondern konkret anhand spezieller Merkmale aus-
■ subjektiv
gewählt. Vielleicht hätte man nach den Prinzipien der
■ offen und flexibel (in Hinblick auf den Unter-
quantitativen Forschung auch einen Fragebogen mit
5 suchungsgegenstand, die Theoriebildung und
Fragen aus der allgemeinen Gesundheitsvorsorge oder
der verwendeten Forschungsmethode)
im Zusammenhang mit anderen Krebsarten entwickeln
■ „weiche“, kommunikativ erzeugte Daten
können. Aber hätte man dann alle Kriterien, die das
■ niedrigere Fallzahlen spezifische Problem Lungekrebs betreffen, in dem Um-
fang erfassen können?

Beispiel
Ein Beispiel zum Thema Früherkennung von Lungen-
krebs (Tod et al. 2008)
Tab. 5.2 zeigt in einer Gegenüberstellung wesentli-
Lungenkrebs ist eine hochmaligne und aggressive Tu-
che Merkmale und Unterschiede des quantitativen
morart und in der westlichen Welt etwa für 5 % der
und qualitativen Forschungsansatzes
Todesfälle verantwortlich. Für einen großen Teil der Be-
troffenen ist der Tumor inoperabel, weil er zu spät di-
▌ Wahl des richtigen Forschungsansatzes
agnostiziert wird. Dabei spielt Früherkennung eine we-
Die Wahl des richtigen Forschungsansatzes, ob quan-
sentliche Rolle. Die Gesundheitsberufler sagen sich: Es
titativ oder qualitativ hängt nicht nur von methodo-
begeben sich viele Menschen erst sehr spät in Behand-
lung, obwohl viele schon Symptome haben die ihnen
logischen Überlegungen ab. Aufgrund der Nähe zur
sagen, dass irgendetwas nicht mit ihnen nicht stimmt. Medizin mit ihrer naturwissenschaftlich ausgerich-
Was liegt hier vor? teten Forschungstradition wurde in der Pflege häu-
Um das vorliegende Problem möglichst umfangreich zu figer dem quantitativen Ansatz nachgekommen.
erfassen, wurde entschieden, dort zu beginnen, wo das Auch nicht zuletzt dadurch, dass quantitative For-
vermeidliche Problem liegt, bei den Betroffenen. So schung in der Öffentlichkeit eine bessere Reputation
wurden 20 Personen, die an Lungenkrebs leiden, inner- genießt, sind es auch manchmal gewisse Zwänge ge-
halb des Zeitraums eines halben Jahres in ausführlichen genüber Studien-Auftraggebern, warum man Zahlen
Interviews befragt, was die Gründe dafür sind, dass sie aufgrund ihrer Überzeugungskraft sprechen lässt. Es
so lange warteten, bis sie sich trotz ihrer Symptome in ist wie schon erwähnt, häufig die Anhängerschaft
Behandlung begaben? der einen oder der anderen Forschungstradition,
Die Personen wurden interviewt, das Gesagte auf Ton- die einer bestimmten Methode den Vorzug gibt.
band aufgezeichnet und wortwörtlich transkribiert. Das Bei der Entscheidung welcher Forschungsansatz
Gesagte, das nun in schriftlicher Form vorlag, wurde für eine Forschung gewählt wird, ist es wichtig, dass
nach Themen und in Kategorien geordnet, welche Ein- sie dem Wesen des Problems und dem aktuellen
flussfaktoren für diese Verzögerung ausschlaggebend
Kenntnisstand des zu bearbeitenden Themas ge-
sind.
recht wird. Dabei gilt zu berücksichtigen
Aufgrund dieser Befragung konnten verschiedene Kate-
■ welche Art des zu untersuchenden Phänomens
gorien von beeinflussenden Faktoren entwickelt wer-
vorliegt,
den, wie zum Beispiel Angst vor Konsequenzen, die
■ wie viel bereits über den Gegenstand bekannt ist,
die Beobachtung der Symptome nach sich zieht,
■ welche Besonderheit oder Eigenart die Teilneh-
Scham und Stigma weil viele noch rauchten oder ge-
mer und die Situation aufweisen.
raucht haben und sie sich nicht der Zuschreibung
anderen „…ist ja eh klar wenn man raucht“! aussetzen
wollen. Aber auch das stoische Verhalten mancher, das
„…trotz des Leidens tapfer sein“, das mangelnde Wissen,

146 Pflege und Profession BAND 1


5.5 Grundlagen der Empirischen Pflegeforschung: Quantitativer und qualitativer Forschungsansatz

Tab. 5.2 Grundprinzipien quantitativer und qualitativer Forschung (nach Mayer 2010)

Quantitative Forschung Qualitative Forschung

Grundorientierung naturwissenschaftlich geisteswissenschaftlich

Wissenschaftstheoretische kritischer Rationalismus Hermeneutik


Position Positivismus Phänomenologie
Konstruktivismus

Wissenschaftstheoretische Implika- Werturteilsfreiheit wissenschaftlicher Ablehnung der Werturteilsfreiheit


tionen Aussagen Theorie entwickelnd
Theorie prüfend

Wirklichkeitsverständnis Annahme einer objektiv und autonom existie- Annahme einer symbolisch strukturierten, von
renden Realität den Betroffenen interpretierte und damit ge-
5
sellschaftlich konstruierte Wirklichkeit

Methodenverständnis standardisierte Methoden nicht-standardisierte Methoden

Gegenstandsbereich Wirkungs- und Ursachenzusammenhang Deutungs- und Handlungsmuster


Funktionszusammenhänge

Forschungslogik deduktiv induktiv


Analytisch, abstrahierend ganzheitlich, konkretisierend
Streben nach Objektivität Geltung der Subjektivität
Generalisierung Typisierung

Selbstverständnis der Forscherin unabhängiger Beobachter und Diagnostiker tatsächlicher oder virtueller Teilnehmer
sozialer Zusammenhänge

Realitätserfassung Erklären im Vordergrund Verstehen im Vordergrund

Pflegeforschung bedient sich, je nach Fragestellung von an Demenz erkrankten Menschen in einem
unterschiedlicher wissenschaftlicher Ansätze bzw. Pflegeheim).
Designs und Methoden. Quantitative Forschung Gerade für die Pflege ist ein „Entweder/Oder“
kommt zum Einsatz, wenn man Streit unangebracht. Die Komplexität einer Pflege-
■ über den zu untersuchenden Gegenstand exakte situation, in dessen Prozess Menschen als Handeln-
Aussagen machen möchte, de oder Empfänger eingebunden sind, verlangt nach
■ einen Vergleich zwischen Sachverhalten anstellt einem Forschungszugang, der der Komplexität der
oder Situation gerecht werden kann. Dies wiederum ver-
■ etwas misst oder in Zahlen ausdrücken muss. langt eher nach einem „Methodenmix“ im Sinne
einer Triangulation, also der Verwendung von so-
Qualitative Forschung kommt zum Einsatz wenn wohl qualitativen als auch quantitativen Methoden,
wenig über einen Forschungsgegenstand bekannt damit man sich dem Forschungsgegenstand umfas-
ist, wenn man ein Phänomen „von innen heraus“ send annähern kann (Bartholomeyczik 2000).
erforschen will oder wenn der Gegenstand oder
das Forschungsfeld durch seine Besonderheit nur
qualitative Forschung zulässt (z. B. Beobachtung

BAND 1 Pflege und Profession 147


5 Pflegewissenschaft und -forschung

Diese Phasen verlaufen manchmal nicht immer, so


5.6 Der Weg zum empirischen wie hier beschrieben linear. Sie können, abhängig
Wissen: davon, welche Forschungsmethodologie zum Ein-
Der Forschungsprozess satz kommt (qualitative oder quantitative For-
schung) auch abweichen. Der Forschungsprozess im
Jegliche Forschungsarbeit orientiert sich in ihrer Rahmen der qualitativen Forschung ist flexibler und
Durchführung an einer strukturierten Abfolge von weniger standardisiert. So wird in der qualitativen
Entscheidungen und Handlungen, dem Forschungs- Forschung häufig zwischen Erhebung und Auswer-
prozess. Der Forschungsprozess dient dazu, ein For- tung hin und her gewechselt oder es kann sein, dass
schungsproblem überhaupt erst erforschbar zu ma- aufgrund der Ergebnisse eine vom Forschungsplan
chen und den Forschungsablauf zu systematisieren. abweichende Untersuchungspopulation beforscht
5 Der Forschungsprozess ist in gewisser Weise ein Pro- werden muss.
blemlösungsprozess – wie man mit einem For-
schungsproblem umgeht – dem Pflegeprozess, bezo- 5.6.1 Theoretische Phase
gen auf Pflegeprobleme, nicht unähnlich. In den In der ersten der sogenannten „Theoretischen Pha-
Lehrbüchern über Forschung aller wissenschaftli- se“ beginnt man ein Thema, ein Problem überhaupt
chen Disziplinen findet der Forschungsprozess eine erst „erforschbar zu machen“. Forschungen entste-
mehr oder weniger ausführliche Erwähnung. Der hen nicht im luftleeren Raum. So leiten sich For-
Forschungsprozess kann in mehrere Phasen einge- schungen von einem bestimmten Erkenntnisinteres-
teilt werden (Abb. 5.2). se ab das man an einem Thema hat.
1. Theoretische Phase Die Ausgangslage eines Problems das man durch
2. Planungsphase Forschung zu lösen beabsichtigt, kann unterschied-
3. Durchführungsphase lich sein.
4. Auswertungsphase
5. Publikationsphase

Theoretische Phase Soziales Problem – Theorie – Auftrag

Problem – Exploration

Theorie (und Forschungsstand)

Fragen, Hypothesen

Ethik
Planungsphase Design Methode Stichprobe Vorgehensweise
Erlaubnisse

Instrument Pretest

Durchführungsphase Erhebung

Auswertungsphase Auswertung

Interpretation
Beschreibung – Analyse – Erklärung

Schlussfolgerungen

Disseminationsphase Präsentation Publikation

Abb. 5.2 Der Forschungsprozess (nach Mayer 2014)

148 Pflege und Profession BAND 1


5.6 Der Weg zum empirischen Wissen: Der Forschungsprozess

▌ Praktische Erfahrungen ▌ Persönliche Betroffenheit


In der Pflege ist Forschung häufig mit der eigenen Es gibt ein Thema, das dem Forscher aufgrund per-
beruflichen Praxis verbunden. Man stellt sich Fragen sönlicher Betroffenheit oder der eigenen Lebens-
wie: „Warum wird etwas so gemacht und nicht an- geschichte besonders interessiert.
ders? Wie ist die Wirkung von? Welche Ergebnisse Beispiel: Um für das Studium zeitlich maximal
zeigt es auf den Patienten? Warum reagieren die flexibel zu sein arbeitet ein Krankenpfleger, der
Patienten immer so oder so?“ Diese und andere Fra- Pflegewissenschaft studiert, über eine Vermittlungs-
gen sind häufig die Ausganglage, die Praxis kritisch agentur in mehreren kleinen privaten Pflegeheimen.
zu hinterfragen und eine Forschung zu beginnen. Er findet es persönlich unerträglich, dass er im
Beispiele: Nachtdienst häufig die einzige examinierte Pfle-
■ Sie arbeiten in der Hauskrankenpflege und gekraft für mehrere Abteilungen ist und die Haupt-
möchten wissen, welche ihrer Maßnahmen zur verantwortung trägt. Er beschließt, in seiner Ab- 5
Pneumonieprophylaxe evidenzbasiert und state- schlussarbeit die Arbeitsbedingungen von „Pflege-
of-the-art sind. Pool Diensten“ aufzuzeigen.
■ Sie sind aufgrund ihrer Erfahrungen davon über- Forschung geht also theoretisches Wissen, eine
zeugt, dass atemstimulierende Einreibungen bei Idee oder ein erlebtes praktisches Problem voraus
älteren Menschen im Krankenhaus das Einschla- und sie dient dem Gewinn neuer Erkenntnisse. Aus
fen fördert und möchten dies gerne beweisen. der Sicht der Pflege ist das beforschte Thema in ers-
ter Linie pflegerelevant, das heißt, Grundlagen- oder
▌ Literaturstudien Anwendungswissen bereitstellen, um die Pflege
Forschungsideen entstammen oft dem kritischen weiter zu entwickeln und deren Qualität voran-
Lesen von bereits existierenden Forschungsarbeiten. zutreiben.
Durch das Lesen von Literatur zu einen bestimmten Um ein geplantes Forschungsanliegen möglichst
Thema ergeben sich oft Fragen, die nicht ausrei- plausibel zu machen, ist es wichtig, bei der Durch-
chend geklärt oder widersprüchlich sind oder Zwei- führung den pflegerischen oder gesellschaftlichen
fel an Studienergebnissen begründen. So können Nutzen darzustellen. Dies ist besonders bedeutsam,
neue Problembereiche entstehen, die den Leser an- wenn es darum geht, Fördergelder für die Forschung
regen, eine weitere Studie durchzuführen. einzuwerben. Der Nutzen, der durch die Durchfüh-
rung der Forschung erzielt werden kann, bezieht
▌ Auftragsforschung sich beispielsweise auf
Ein Auftraggeber ist mit einem Problem oder mit ■ die Häufigkeit eines Problems: Wie viele Men-
einer Frage konfrontiert und beauftragt eine For- schen leiden, oder versterben an einer bestimm-
schungsgruppe damit, diese Frage für ihn zu bear- ten Krankheit oder Beeinträchtigung (z. B. Morbi-
beiten. Auftraggeber sind meist private oder öffent- dität, Mortalität)?
liche Geldgeber, wie z. B. Ministerien, Länder oder ■ die Kosten: Welche Kosten sind mit einem be-
wohlfahrtsstaatliche Organisationen. Häufig wird stimmten Zustand verbunden (z. B. Therapiekos-
ein Forschungsthema öffentlich ausgeschrieben, für ten, Kosten für Krankenhausaufenthalte oder Wi-
dessen Durchführung sich wiederum verschiedene dereinweisungen)?
Forschungsgemeinschaften bewerben. ■ die Konsequenzen für die Betroffenen: Welche
Beispiel: In einem Bundesland erhält jeder pfle- Konsequenzen hat eine bestimmte Maßnahme
gebedürftige Mensch der Pflegegeld bezieht, einen für die Betroffenen (z. B. vermehrte Pflegeabhän-
„Scheck“, der bei Inanspruchnahme mit ausführ- gigkeit, Schmerzen oder Immobilität)? (Panfil
lichen pflegerischen Beratungsleistungen seitens 2007)
der professionellen Pflege verbunden ist. Erste Er-
fahrungen zeigen, dass nur wenige Personen die Be- ▌ Forschungsfragen entwickeln
ratung in Anspruch nehmen. Der Auftraggeber will Einer der schwierigsten Aufgaben im Rahmen des
die Gründe wissen und beauftragt ein Forschungs- Forschungsprozesse ist die Frage, wie macht man
institut sich der Sache anzunehmen. ein Problem überhaupt erforschbar? Häufig wird
erst nach eingehender Beschäftigung mit einer The-
matik klar, wie komplex das interessierende Thema

BAND 1 Pflege und Profession 149


5 Pflegewissenschaft und -forschung

eigentlich ist. Deshalb muss die Forschungsidee prä- Das Suchen, Lesen und Bearbeiten von Fachlite-
zisiert und auch häufig eingegrenzt werden. Dies ratur kann als die theoretische Vorarbeit der For-
erfolgt dadurch, dass man konkrete Fragen formu- schung verstanden werden. Die Literaturrecherche
liert. Erst, wenn man genau festlegt, wonach man bildet die Grundlage für die Anwendung von For-
fragt, wird ein Thema erforschbar. schungsergebnissen und ist Ausgangslage für die ei-
gene Forschung. Sich mit Literatur zu beschäftigen,
verfolgt mehrere Ziele:
Beispiele für Forschungsfragen ■ Einführen oder Vertiefen in ein bestimmtes
▌ Beispiel für Forschungsfragen in quantitativen
Thema
Forschungsarbeiten ■ Schaffung eines theoretischen Rahmens
Thema: „Prävalenz von Bettlägerigkeit und Ortsfixie- ■ Klärung von Begriffen und Variablen
5 rung“ ■ Aufarbeitung des aktuellen Forschungsstandes zu
■ Wie viele Bewohnerinnen und Bewohner (absolut einem Thema
und relativ) der Teilunternehmung Geriatriezentren ■ Präzisierung der Forschungsfrage
und Pflegewohnhäuser der Stadt Wien mit sozial-
medizinischer Betreuung sind bettlägerig bzw. orts-
Vielfach erfolgen die ersten Schritte der Literaturre-
fixiert?
cherche intuitiv und mehr oder weniger unsystema-
■ Haben die untersuchten Variablen Geschlecht, Kör-
tisch. Um sich mit einem Thema vertraut zu machen
perstatur, Aufenthaltsdauer innerhalb der Einrich-
stöbert man gewöhnlich in leicht zugängliche Quel-
tung und Zahl der Patientinnen und Patienten/Sta-
tionen Einfluss auf Bettlägerigkeit und Ortsfixie- len wie in Büchern einer Bibliothek oder befragt
rung? eine Internet Suchmaschine. Das Wesentliche der
(Schrank et al. 2013, S. 233) Literaturrecherche im Rahmen des Forschungspro-
zesses ist, dass sie gezielt und systematisch erfolgt.
▌ Beispiel von Forschungsfragen in qualitativen Näheres über das „Wo“ und „Wie“ einer Litera-
Forschungsarbeiten turrecherche ist nachzulesen bei Kleibel und Mayer
Thema: „Brustamputation nach malignem Tumor und (2011).
die Auswirkung dieses Eingriffs auf das Selbstkonzept Nachdem nun die für die geplante Forschung re-
der betroffenen Frauen“ levante Literatur gesichtet wurde, die Ergebnisse in
■ Was bedeutet das Erleben einer Brustamputation Hinblick auf die eigene Arbeit herausgearbeitet wur-
für das Selbstkonzept der betroffenen Frauen? den, wird überprüft, ob die vielleicht vorher eher
■ Welche Veränderungen ergeben sich durch den „provisorisch“ formulierte Forschungsfrage so ste-
Brustverlust für das Selbstkonzept? hen gelassen werden kann, oder ob aufgrund der
■ Wie wird das Selbstkonzept dem veränderten Kör- Ergebnisse der Literaturarbeit eine Änderung not-
per angepasst? wendig ist. Häufig erfolgt nach dem Lesen der Fach-
■ Welche Probleme treten dabei auf? literatur eine Präzisierung oder Korrektur der For-
(Trattnig 2010, S. 118) schungsfrage, weil man sich an dieser Stelle endgül-
tig einen Überblick verschafft hat, was der aktuelle
Forschungsstand zum eigenen Forschungsthema ist.
Je klarer und präziser eine Forschungsfrage formu-
liert ist, desto leichter fallen anschließende Ent- 5.6.2 Planungsphase
scheidungen, die im Rahmen eines Forschungspro- Hat man das Literaturstudium beendet, den theo-
zesses getroffen werden müssen: Z. B. die Auswahl retischen Hintergrund seines Themas erarbeitet
der relevanten Untersuchungsteilnehmer oder der und konnte man die Forschungsfrage konkretisieren,
anzuwendenden Forschungsmethoden. Ganz präzi- so steht dem „forschen“, also der Tat – so sollte man
se kann die Forschungsfrage allerdings erst dann meinen – nichts mehr im Weg. Dies ist jedoch nicht
definiert werden, wenn man sich einen Überblick so, denn jede Forschungsarbeit gehört sorgfältig ge-
über die Literatur verschafft hat und darüber, was plant und jeder Schritt überlegt.
über den interessierenden Sachverhalt bereits ge- Spätestens wenn die Forschungsfrage feststeht
schrieben wurde. wird ersichtlich, ob man den qualitativen oder dem
quantitativen Forschungsansatz folgt. Dies ist der

150 Pflege und Profession BAND 1


5.6 Der Weg zum empirischen Wissen: Der Forschungsprozess

werden). Folgt man in der qualitativen Forschung


RCTs immer einem Weg der Deskription (= deskriptives
experimentell Design), so gibt es in der quantitativen Forschung
Quasiexperimente
eine große Variationsbreite von Designs (Abb. 5.3).
Neben dem auch hier vertretenen deskriptiven
Korrelationsstudien
nicht- Designs, stehen die experimentellen Designs (mit
experimentell all ihren Variationen) zur Verfügung. Anders als bei
Deskriptive Studien
der deskriptiven Forschung (wo es um die Beschrei-
bung von Verhaltensweisen oder Einstellungen,
Mixed Method
Designs Meinungen, etc. geht), ist ein Experiment eine Ver-
suchsanordnung mit der es möglich ist, die Wirkung
z. B. einer bestimmten Pflegeintervention zu über- 5
Spezialformen prüfen.
Nachdem geklärt wurde, wie die Studie aufgebaut
Abb. 5.3 Kategorisierung von (quantitativen) Forschungs- sein soll, stellt sich die Frage nach den Methoden bzw.
designs (Mayer 2014, S. 91) Techniken, mit deren Hilfe man an die Daten kommt:
Es gibt eine Vielzahl an Datenerhebungsmethoden.
erste entscheidende Punkt in dieser Phase. Danach In der Pflegewissenschaft bedient man sich, da es in
erfolgt die Wahl des Forschungsdesigns und der Me- vielen Fällen um „soziale“ Daten geht, meist sozial-
thode. wissenschaftlicher Methoden, wie der Befragung,
Unter Untersuchungs- oder Forschungsdesign im der Beobachtung oder der Dokumentenanalyse. Für
engeren Sinne versteht man die Anordnung, also die Messung mancher Variablen (wie Temperatur,
den Aufbau der Untersuchung. Das Design ist den Blutdruck oder ähnliches) werden auch biophysika-
konkreten Erhebungsmethoden übergeordnet (weil lische Methoden eingesetzt.
es bestimmt wie diese angeordnet und verwendet

Beispiele für deskriptive Studien, bei denen Beispiel: qualitatives Interview


unterschiedliche Erhebungsmethoden zum Jud (2013) untersuchte den Entscheidungsprozess zu An-
Einsatz kommen lage einer PEG-Sonde aus der Perspektive der Eltern von
Befragung: Kindern mit neurologischen Beeinträchtigungen. Sie führ-
Die Befragung (mündlich oder schriftlich) setzt man ein, te mit betroffenen Eltern Interviews durch, um beschrei-
wenn die Forschungsfragen auf Meinungen, Wissen, Er- ben zu können, wie sich dieser Entscheidungsprozess im
fahrungen, etc. der Forschungsteilnehmer abzielen. Alltag gestaltet, wo Entscheidungskonflikte entstehen
und welche Rolle dabei Information, Unterstützung und
Beispiel: standardisierte Befragung
verschiedene Entscheidungsträger im Informationspro-
Nagl-Cupal, Daniel, Koller und Mayer (2014) führten eine
zess spielen. Die Interviews wurden mittels des Kodier-
Studie zum Thema „Kinder- und Jugendliche als Pflegen-
paradigmas der Grounded Theory ausgewertet.
de Angehörige durch. Dabei war v.a. die Anzahl der pfle-
genden Kinder und Jugendlichen Österreich (Prävalenz), Beobachtung:
sowie Art und Umfang der kindlichen Hilfen in den Fami- Die Beobachtung als Erhebungsmethode liefert Erkennt-
lien von zentralem Interesse. nisse zum Verhalten und zum Handeln der Menschen.
Dazu wurde eine deskriptive Querschnittstudie anhand
Beispiel standardisierte Beobachtung (quantitativ)
einer repräsentativen Stichprobe in zwei ausgewählten
Christen, Scheidegger, Grossenbacher, Christen & Oeh-
Bundesländern durchgeführt. Einbezogen wurden Kinder
ninger (2005) führten eine kontrollierte quantitative Be-
zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr. Zur Erhebung der
obachtungsstudie im stationären Bereich durch, deren
Daten wurde ein standardisierter Fragebogen (KiPfle) ein-
Ziel es war, konventionelle und kinästhetische Pflege zu
gesetzt.
vergleichen, und zwar hinsichtlich ihrer Wirkung auf die
Bewegung und Körperorientiertheit der Gepflegten sowie
hinsichtlich der Interaktionsfähigkeit mit den Pflegenden.

BAND 1 Pflege und Profession 151


5 Pflegewissenschaft und -forschung

Die Beobachtungen wurden bei drei Pflegeinterventionen Um ein breites Spektrum in Bezug auf die Darstellungs-
(Waschen, Umbetten und Mobilisieren) von einer erfah- weise der Krankheit Demenz abzudecken, wurdenfünf
renen Pflegenden, die nicht zum jeweiligen Pflegeteam problemorientierte Bilderbücher analysiert. Die inhalt-
gehörte, durchgeführt. Sie benutzte dazu eine Checkliste. lichen Beschreibungen wurden anhand von drei Dimen-
Diese bestand aus den operationalisierten Kriterien eines sionen getroffen: Kriterien zum Bilderbuch als Medium,
Kinästhetikkonzeptes. Darstellung der Protagonisten, Vermittlung der Krank-
heit.
Dokumentenanalyse
Mittels einer Dokumentenanalyse ist es möglich, Fragen
▌ Biophysikalische Messmethoden
nachzugehen, zu deren Beantwortung man aus beste-
Biophysikalische Messmethoden erfolgen mithilfe physi-
henden Quellen (Dokumenten) Informationen gewinnen
kalischer Messgeräte. Diese werden oft mit deskriptiven
5 kann.
Methoden kombiniert, weil die Messung der Körperreak-
Beispiel: quantitative Dokumentenanalyse tion für eine pflegerische Entscheidung nicht immer aus-
Fleischer-Schlechtiger, Möbius-Winkler & Klewer (2013) reicht
untersuchten die Ursachen von Sturzereignissen einer Al-
tenpflegeeinrichtung sowie die Qualität der Bearbeitung Beispiel:
der Sturzereignisprotokolle. Zu diesem Zweck analysier- Kugler (2004) untersuchte, ob es einen Zusammenhang
ten sie in einer Vollerhebung alle Protokolle von Sturz- zwischen der Non-Compliance bezüglich Diät und Flüs-
ereignissen aus einem Jahr, sowie die Ergebnisse der sigkeitsbeschränkung und dem funktionalen Gesund-
Sturzrisikoassessments der jeweiligen Patienten. heitsverhalten erwachsener Dialysepatienten gibt. „Non-
Compliance“ wurde unter anderem anhand von drei bio-
Beispiel: qualitative Dokumentenanalyse
chemischen Reaktionen gemessen (Kalium, Phosphat
Bugstaller-Brendt (2011) befasste sich in ihrer wissen-
und Eiweiß im Serum), die als stabile Parameter zur Mes-
schaftlichen Arbeit mit der Vermittlung des Krankheits-
sung der Compliance bei Dialysepatientinnen gelten. Da
bildes Demenz für Kinder im Vorschulalter. Ihr Interesse
Non-Compliance jedoch ein komplexes Konstrukt ist, das
galt der Frage, welchen Beitrag Bilderbücher zum kind-
sich nicht nur durch diese drei Parameter abbilden lässt,
gerechten Verständnis dieser Krankheit leisten, damit sie
wurden zusätzlich Fragebögen zur Messung der Non-
als Unterstützungs- und Hilfsangebot im familiären Be-
Compliance sowie der Einhaltung von Diät und Flüssig-
wältigungsprozess eingesetzt werden können. Als Metho-
keitsbeschränkung eingesetzt.
de wurde die qualitative Dokumentenanalyse gewählt.

!
Merke: Die Wahl des Untersuchungsdesigns
und der Methode der Datenerhebung sind in Befragung

erster Linie von der Forschungsfrage abhän- Deskriptive quantitative


Methoden und
gig. Beobachtung
der Daten- qualitative
erhebung Forschung
Die nächste Überlegung ist, wen man beforschen Dokumenten-
analyse
muss/kann, um die Forschungsfrage zu beantwor-
ten. Man nennt dies auch die Bestimmung der Stich-
probe. Biophysikalische
nur quantitative Forschung
Es gibt verschiedene Verfahren zur Gewinnung Messverfahren
von Stichproben:
In der quantitativen Forschung unterscheidet Abb. 5.4 Methoden der Datenerhebung (Mayer 2014, S. 111)
man Wahrscheinlichkeitserhebungen (Zufallserhe-
bungen) und gesteuerte Erhebungen. Wahrschein-
lichkeitserhebungen funktionieren nach dem Zu- auch nicht so leicht Rückschlüsse auf eine größere
fallsprinzip. Gesteuerte Erhebungen (Nicht-Zufalls- Personengruppe (eine Population) ziehen. Nicht-Zu-
erhebung) werden nach weniger strengen Regeln fallsstichproben sind jedoch leichter durchzuführen
gebildet (z. B. erhält an einem bestimmten Tag und bilden das in der Praxis am häufigsten ange-
jeder Patient einen Fragebogen). Daher kann man wandte Verfahren.

152 Pflege und Profession BAND 1


5.6 Der Weg zum empirischen Wissen: Der Forschungsprozess

Die Stichprobenbildung in der qualitativen For- habbarkeit prüfen. Ist der Vortest abgeschlossen,
schung ist zweckgebunden, d. h. die Auswahl der werden die Daten erhoben. Im Fachjargon sagt
Teilnehmer ist von bestimmten Kriterien abhängig: man dazu „Feldarbeit“ oder „Feldphase“ oder „man
etwa Personen, die ein ähnliches Erlebnis hatten geht ins Forschungsfeld“. Die Datenerhebung kann
(z. B. Frauen nach einer Brustoperation), Personen unterschiedlich viel Zeit in Anspruch nehmen – Wo-
aus einem bestimmten Umfeld (z. B. Pflegende chen bis Jahre. Auch das ist etwas, das man beim
einer onkologischen Station) oder aus einer gemein- Lesen eines Forschungsartikels nicht erfährt – man
samen Kultur (z. B. bolivianische Migrantinnen). Da sollte diesen interessanten aber auch oft sehr müh-
es in der qualitativen Forschung um die Entwicklung samen Teil der Forschung nicht unterschätzen.
von Theorien geht und nicht um die Verallgemeine-
rung der Ergebnisse, spielen Repräsentativität und 5.6.4 Auswertungsphase
Größe der Stichprobe – anders als bei der quantita- Einer der letzten Schritte des Forschungsprozesses 5
tiven Forschung – keine Rolle. ist die Analyse der Ergebnisse. Hat man die Daten
Weiß man nun, wie man die Untersuchung ge- erhoben, so werden diese - im Fall der quantitativen
stalten möchte und wen man untersuchen will, so Forschung - aufbereitet (z. B. die Antworten der Fra-
kann man die konkrete Vorgehensweise planen. gebögen werden in Zahlencodes umgesetzt) und
Spätestens an diesem Punkt des Forschungspro- mithilfe spezieller Statistikprogramme Berechnun-
zesses wird es auch notwendig, sich mit den ethi- gen unterzogen, um Ergebnisse zu erhalten. Die
schen Fragestellungen der geplanten Untersuchung Möglichkeiten statistischer Berechnungen sind sehr
auseinander zu setzen. Bei Forschungsvorhaben, vielfältig und erfordern Spezialwissen. Das Daten-
die mit und am Menschen ablaufen, ist ein ethisch material der qualitativen Forschung muss ebenfalls
gut durchdachtes und möglichst risikoarmes Vor- aufbereitet werden. Tonbandaufnahmen von Inter-
gehen Grundbedingung. Da dies ein ganz zentrales views werden z. B. wörtlich niedergeschrieben
Thema der Pflegeforschung darstellt, ist ihm am (transkribiert). Danach werden die Texte ebenfalls
Ende des Kapitels ein eigener Abschnitt gewidmet. eigenen qualitativen Auswertungsverfahren unter-
Bevor man nun endgültig mit der Datenerhebung zogen. Das Produkt dieses Schrittes ist die soge-
beginnt, müssen noch einige formale Belange Be- nannte Ergebnisdarstellung.
rücksichtigung finden. Ein Kosten- und Zeitplan ist
zu erstellen, und schließlich muss man, bevor das ▌ Ergebnisdarstellung
Forschungsprojekt in der Praxis starten darf, bei Die Ergebnisdarstellung beschäftigt sich also mit den
den zuständigen Stellen bei der jeweiligen Instituti- konkreten Ergebnissen der Studie. Man versucht die
on eine Erlaubnis zur Durchführung einholen. Daten so darzustellen, wie sie sich auf Grund der
Die gesamt Planungsphase wird im sogenannten Auswertung präsentieren. Eine gute Ergebnisdar-
Untersuchungsplan dargestellt. Dieser ist zentraler stellung ist systematisch, logisch, nicht länger als
Teil eines Forschungsantrags, den jeder Wissen- nötig und geht auf alle analysierten Daten ein. Der
schafter erstellen muss, wenn er um finanzielle Res- Fokus ist auf die Beantwortung der Forschungsfrage
sourcen, ein Einverständnis oder einen ethischen gerichtet.
Befund beantragt. Die Möglichkeiten und Formen der Darstellung
von Forschungsergebnissen sind vielfältig und un-
5.6.3 Durchführungsphase terscheiden sich je nachdem, ob man eine quantita-
Das Ausarbeiten der Instrumente zur Datenerhe- tive oder eine qualitative Forschungsarbeit durch-
bung (Fragebögen, Interviewleitfäden, Beobach- geführt hat.
tungsleitfäden, Mess-Skalen etc.) ist der nächste
Schritt im Forschungsprozess. Die Inhalte des Instru- ▌ Quantitative Ergebnisse
ments werden wiederum von der Forschungsfrage Quantitative Ergebnisse werden in Form von Zahlen
bestimmt. dargestellt, die mithilfe deskriptiver oder analyti-
Wurde das jeweilige Instrument erarbeitet, wird scher Statistik gewonnen wurden. Häufig wird zu-
ein Vortest durchgeführt. Er dient zur inhaltlichen erst die Grundauszählung (Häufigkeitsverteilungen,
und formalen Überprüfung des Forschungsinstru- Mittelwerte, Streuungsmaße) dargestellt. Daran an-
ments. Darüber hinaus kann sich der Forscher im schließend werden Zusammenhänge oder Unter-
Umgang mit dem Instrument üben und seine Hand- schiede zwischen verschiedenen Variablen oder

BAND 1 Pflege und Profession 153


5 Pflegewissenschaft und -forschung

Gruppen (z. B. zwischen Männern und Frauen oder ■ Warum unterscheiden sich Männer von Frauen
verschiedenen Altersgruppen) beschrieben. Es gibt in diesem und jenem Punkt?
dafür keine einheitliche Regel. Wichtig ist, dass die ■ Warum gibt es keine Unterschiede zwischen den
Darstellung logisch, nachvollziehbar und für den Altersgruppen?
Leser verständlich ist. Quantitative Daten können
verbal oder in Tabellen und Diagrammen dargestellt Zur Diskussion der Ergebnisse greift man auf die
werden. Zu den wichtigsten Diagrammarten zählen Problemstellung, die Forschungsfrage und den theo-
das Säulen- oder Balkendiagramm, das Kreisdia- retischen Rahmen zurück. Dadurch schafft man Ver-
gramm und das Kurvendiagramm. Sie dienen dazu, bindungen zu allen anderen Teilen der Studie und
große Datenmengen komprimiert darzustellen und bindet die neuen Erkenntnisse in das bestehende
eine bessere Übersicht zu gewährleisten. Verbale Be- Wissen ein.
5 schreibungen dienen der Vertiefung und genaueren Am Ende des Forschungsprozesses steht die
Erklärung der Zahlen. Überlegung im Mittelpunkt, was die Ergebnisse für
die Praxis bedeuten, welche Empfehlungen für die
▌ Qualitative Ergebnisse Pflegepraxis gegeben werden können und wie die-
Die Darstellung qualitativer Daten unterscheidet sich ses Wissen am besten in die Praxis zu integrieren
erheblich von quantitativen Daten. Qualitative Daten ist. Diese Schlussfolgerungen sind ein wichtiger Brü-
liegen in einer gänzlich anderen Form vor. Das heißt, ckenschlag zur Pflegepraxis. Sie bilden den ersten
man hat in der Regel völlig anderes Material: Keine Schritt zur Umsetzung der Ergebnisse und zur Er-
Zahlen, sondern verbale Daten, wie Kategorien, Be- weiterung des praktischen Pflegewissens. In man-
schreibungen, Falldarstellungen und Zitaten. chen Studien werden auch Empfehlungen zur
Ergebnisse qualitativer Studien werden grund- Durchführung weiterer Forschungsarbeiten gege-
sätzlich verbal beschrieben. Die Gliederung des Tex- ben, denn eine Studie wirft erfahrungsgemäß mehr
tes orientiert sich an der Logik, die durch die For- Fragen auf, als sie beantwortet. Hier schließt sich
schungsfrage(n), das Datenmaterial und die Art der auch der „Kreis“ des Forschungsprozesses: Mit
Auswertung vorgegeben ist. Meistens wird der Text jeder neuen Frage, die aus einer Erkenntnis entsteht,
anhand eines zuvor entwickelten Kategoriensystems kann der Forschungsprozess wieder von vorne be-
gegliedert. Oft gibt es jedoch zur Beginn einen Über- ginnen.
blick in Form einer tabellarischen Auflistung oder
einem aus den Daten entwickelten Modell, das Be- 5.6.5 Publikationsphase
ziehungen zwischen den Kategorien oder Abläufe Der Forschungsprozess an sich ist zwar mit der In-
darstellt. Danach werden die einzelnen Kategorien terpretation der Ergebnisse theoretisch zu Ende,. Je-
oder Themen beschrieben. Zur Verdeutlichung doch ohne Publikation, also dem Veröffentlichen der
einer Aussage, zur Veranschaulichung einer Katego- Ergebnisse, hat Forschung wenig Sinn. In der letzten
rie oder einfach nur zur Auflockerung werden oft Phase geht es daher noch um die Datenverbreitung.
Originalzitate aus Interviews in den Text eingebaut. Forschung und Forschungsergebnisse haben auch
eine Wirkung nach außen, d. h. Anwendung in der
▌ Ergebnisse interpretieren Praxis finden und zur Lösung eines Problems beitra-
Bei der Interpretation der Ergebnisse beschäftigt man gen. Dazu muss die Forschungsarbeit veröffentlicht,
sich mit der Bedeutung der Resultate. Im Falle von d. h. Personen zugänglich gemacht werden, die die
quantitativen Studien wird daher den Zahlen, bei Erkenntnisse nutzen können. Die Veröffentlichung
qualitativen Studien den Konzepten oder Kategorien kann mündlich in Form einer Präsentation und/
Bedeutung zugeordnet. oder schriftlich stattfinden. Durch die schriftliche
Wenn man die Resultate interpretiert, fragt man: Veröffentlichung wird das Wissen jedoch großflä-
„Was heißt das?“ Man setzt sich also mit den ge- chiger verbreitet und als bestehendes Gut ständig
wonnenen Daten auseinander, indem man sie wie- abrufbar gehalten. Die meisten Forschungsarbeiten
der in Zusammenhang mit der Fragestellung bringt. werden in wissenschaftlichen Fachzeitschriften pu-
Man kann sich z. B. fragen: bliziert. Wissenschaftliche Zeitschriften (sogenannte
■ Warum sind gerade diese und jene Belastungs- Referee Journals) verfügen über ein Gremium wis-
faktoren so deutlich aufgetreten? senschaftlicher Expertinnen (Board of Consultants).
Jeder Artikel, der zur Veröffentlichung in einem sol-

154 Pflege und Profession BAND 1


5.7 Evidence Based Nursing – eine auf Forschung begründete Pflegepraxis

chen Journal eingereicht wurde, wird von ein bis


zwei Expertinnen nach festgelegten Richtlinien auf Phase I
Identifikation des
seinen wissenschaftlichen Anspruch geprüft und Problems
nur dann publiziert, wenn er dieser Prüfung stand- Fragenformulierung
hält. Für jeden Wissenschafter ist es daher wichtig,
in erster Linie in diesen Zeitschriften zu publizieren
Phase V Phase II
(wenn Sie nach den aktuellen Forschungsergebnis- Einführung in die Praxis Literaturrecherche
sen suchen, greifen sie daher zu diesen wissen- Strategien zur Erhaltung Kritik
schaftlichen Journalen). in der Praxis Synthese der Ergebnisse
Beispiele für wissenschaftliche Fachzeitschriften
in der Pflege sind:
■ Pflege und Gesellschaft. Zeitschrift für Pflegewis- Phase IV Phase III 5
senschaft, Juventa Erprobung in der Planung der
Praxis Neuerung
■ Pflege. Die wissenschaftliche Zeitschrift Pflege- Evaluation
berufe, Huber
■ Pflegewissenschaft, hpsmedia Abb. 5.5 Der Prozess der Forschungsanwendung
■ Journal of Advanced Nursing; Blackwell
■ Western Journal of Nursing Research, Sage Publi-
cations werden und Ergebnisse vorliegen, würden diese in
■ QuPuG – Journal für Qualitative Forschung in die Praxis integriert und dort umgesetzt. Es ist im
Pflege- und Gesundheitswissenschaft; pflegenetz Gegenteil relativ schwierig, dies zu erreichen. Ob
Forschungsergebnisse in die Praxis Eingang finden,
kann jedoch nicht dem Zufall oder dem Engagement
von Einzelpersonen überlassen werden. Um die Be-
5.7 Evidence Based Nursing – eine rücksichtigung von Forschungsergebnissen voran-
auf Forschung begründete zutreiben, braucht man daher eine systematische
Pflegepraxis Planung sowie Strategien.
Burns und Grove bezeichnen Forschungsanwen-
Wenn Pflegeforschung dazu beitragen soll, die Pra- dung als Prozess der Verbreitung und des Gebrauchs
xis weiterzuentwickeln und die Qualität des pflege- von Wissen, das durch Forschung gewonnen wurde,
rischen Handelns zu verbessern, kann dies nur ge- um eine Neuerung oder Veränderung in der Praxis
schehen, wenn die Ergebnisse von Forschungsarbei- zu bewirken (Burns und Grove 2005). Dieser Prozess
ten Einzug in die Praxis halten. Dies ist aber der beinhaltet, vereinfacht gesehen, drei Schwerpunkte,
Punkt, an dem nicht mehr in erster Linie die „Pro- nämlich das Lesen, das kritische Bewerten des Gele-
duzenten“ der Forschungsergebnisse, nämlich die senen und das Umsetzen des neuen Wissens in die
Forscher, sondern auch die Praktiker aktiv werden Pflegepraxis.
müssen. Seitens der Forscher besteht die Verpflich- In der Praxis gestaltet sich dieser Prozess aber
tung, den Praktikern die Forschungsergebnisse zu- weitaus komplizierter. Der Prozess der Forschungs-
gänglich zu machen, d. h. sie zu publizieren – und anwendung kann in fünf Phasen dargestellt werden
zwar in einer Art und Weise, die es auch Nicht-Wis- (Abb. 5.5).
senschaftlern ermöglicht, die Ergebnisse zu verste- Evidence Bassend Nursing, oder Evidence based
hen. Die Praktiker haben nun die Aufgabe, dieses Practice ist ein sehr gebräuchlicher Begriff im Zusam-
Wissen in ihre tägliche Arbeit zu integrieren. Man menhang mit der Anwendung von Forschungsergeb-
kann in diesem Zusammenhang sogar von einer nissen in der Praxis. Es ist jedoch nicht das Selbe. In
Verpflichtung gegenüber den Konsumenten (das der Pflege, die das Konzept der EBM (Evidence Based
sind in diesem Fall die Patienten) sprechen, pflege- Medicin) übernommen hat, wird EBN (Evidence-
rischen Entscheidungen auf wissenschaftliche Er- Based Nursing) oder EBP (Evidence-Based Practice;
kenntnisse aufzubauen. beweisbasierte Praxis) als Problemlösungsprozess
Es ist aber durchaus eine Fehlannahme, zu glau- beschrieben. Darin liegt bereits einer der Unterschie-
ben, allein weil Forschungsarbeiten durchgeführt de zum Forschungsanwendungsprozess. Weiters

BAND 1 Pflege und Profession 155


5 Pflegewissenschaft und -forschung

5.8 Pflegeforschung – eine


Kontext
ethische Herausforderung
Patient/Pflegende/Beziehung/Interaktion
Wissenschaftliche Forschung, die sich auf Menschen
Lokale Klinische bezieht, wirft immer auch ethische Fragen auf.
Daten Expertise Wenn geforscht wird, so bedeutet das nicht immer,
Klinische dass alle beteiligten Personen daraus Nutzen ziehen
Entscheidungsfindung können. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall: For-
schung (vor allem experimentelle Forschung) kann
Patienten-
Forschung durchaus belastende Nebenwirkungen haben.
präferenzen
5 Für die Pflegeforschung dürfen grundsätzlich
keine anderen ethischen Grundsätze gelten als für
Patient/Pflegende/Beziehung/Interaktion die praktische Pflege. Auch in der Forschung haben
Pflegende die Pflicht, die Menschenwürde und die
Rechte der Patientinnen zu schützen und zu wah-
Abb. 5.6 EBN, was bedeutet das? (Smoliner 2008) ren. Die Interessen der Forschung dürfen nicht
höher stehen als die Interessen des Menschen, und
unter keinen Umständen darf Pflegeforschung Leid
steht anders als beim Prozess der Forschungsanwen- oder Schmerz verursachen.
dung nicht mehr nur die Forschungsevidenz im Mit-
telpunkt, sondern es kommen zur klinische Entschei- 5.8.1 Grundsätze ethischen Vorgehens in der
dungsfindung drei weitere Faktoren gleichberechtig Pflegeforschung
zur Anwendung. Die vier Quellen einer evidenzba- Ausgehend von den Grundprinzipien der biomedizi-
sierten Praxis nach Rycroft-Malone sind demnach: nischen Ethik leiten sich drei Grundprinzipien des
■ Forschung (research evidence; wissenschaftliche Persönlichkeitsschutzes ab, die bei ethischen Fragen
Beweise) in der Forschung Beachtung finden:
■ professionelles Wissen und klinische Erfahrung ■ Umfassende Information und freiwillige Zustim-
■ die Erfahrung der Patientin und ihre Präferenzen mung aller Teilnehmer (= freiwillige Teilnahme)
■ Kontext und Umgebung (Rycroft-Malone 2004) ■ Anonymität
(Abb. 5.6) ■ Schutz des Einzelnen vor eventuellen psy-
chischen und physischen Schäden
Dies berücksichtigend definieren Behrens und Lan-

!
ger EBN folgendermaßen: Merke: Diese drei Grundprinzipien sind der
„Evidence-based Nursing and Caring (EBN) ist Ausgangspunkt der Diskussionen um ethi-
eine Pflegepraxis, die pflegerische Entscheidungen sche Fragen in der Forschung. Mit ihnen
auf wissenschaftlich geprüfte Erfahrungen Dritter kann jede Forschungsarbeit und jeder Forschungs-
(„externe Evidence“) und die individuellen Bedürf- antrag diskutiert und geprüft werden.
nisse und Erfahrungen der Pflegebedürftigen und
Pflegenden („interne Evidence“) stützt. Sie tut dies ▌ Freiwillige Teilnahme
aus Respekt vor der Einzigartigkeit des Pflegebe- Eine freiwillige Teilnahme bedeutet, dass die Teil-
dürftigen und schließt die Unterstützung, Förderung nehmer zunächst umfassend informiert werden
und Sorge für pflegebedürftige Menschen (Caring) müssen:
mit ein“ (Behrens und Langer 2006). ■ über Ziel und Zweck der Studie,
■ über das geplante Vorgehen,
■ über ihre Rolle dabei und
■ über mögliche Risiken.

Dies soll mündlich und/oder schriftlich geschehen,


und zwar in einer Sprache, die die Teilnehmer ver-

156 Pflege und Profession BAND 1


5.8 Pflegeforschung – eine ethische Herausforderung

stehen und in einer Art und Weise, die niemanden 5.8.2 Ethikkommissionen und die
unter Druck setzt, sondern Raum gibt, eine freiwil- Verantwortung des Einzelnen
lige Entscheidung zu treffen. Die Teilnehmerinnen In den meisten Ländern gibt es spezielle Ethik-Kom-
müssen darüber hinaus über ihr Recht, die Teilnah- missionen, deren Aufgabe es ist festzustellen, ob und
me zu verweigern bzw. jederzeit aus der Unter- inwieweit die eingereichten Forschungsprojekte die
suchung auszusteigen, Bescheid wissen, und sie Teilnehmer eventuell gefährden und Empfehlungen
müssen die Sicherheit haben, dass ihnen keine abzugeben, ob eine Studie durchgeführt wird oder
Nachteile daraus erwachsen. Weiters müssen die nicht. Dadurch wird sichergestellt, dass ethische
TeilnehmerInnen auch kognitiv in der Lage sein In- Standards eingehalten werden und der Schutz der
formationen zu erfassen und für sich beurteilen zu Probanden gegeben ist. Die Zustimmung einer
können Ethikkommission zu einem Forschungsvorhaben
Sind all diese Bedingungen erfüllt, spricht man wird dann besonders wichtig, wenn die Versuchs- 5
von einer „aufgeklärten Einwilligung“ (auch als „in- personen über Verlauf und Zweck der Untersuchung
formed consent“ bezeichnet). Eine Einwilligung zu nicht (oder nicht vollständig) aufgeklärt werden
einer Untersuchung wird immer schriftlich gegeben. können und dadurch nicht in der Lage sind, eine
aufgeklärte Einwilligung zu geben.
▌ Anonymität Auch wenn Ethikkommissionen eine wichtige In-
Anonymität muss denjenigen Personen, die an For- stanz, die dazu beiträgt, die Rechte der Probanden
schungsprojekten teilnehmen, unbedingt zugestan- zu schützen und sie vor Schaden durch Forschung
den werden. Es heißt, den Teilnehmern zu ver- zu bewahren, darstellt, entbinden sie die Forschen-
sichern, dass ihre Identität geheim bleibt. Darauf den nicht von ihrer persönlichen Verantwortung
muss v. a. bei der Aufbewahrung der Daten, beim dem Menschen gegenüber. „Das Votum eines Kli-
Umgang mit ihnen und bei ihrer Präsentation ge- nischen Ethikkomitees nimmt den Verantwortlichen
achtet werden. ihre persönliche Entscheidung nicht ab, sondern ist
als Argumentationshilfe für die Entscheidungsträger
▌ Schutz des Einzelnen vor eventuellen physischen und -trägerinnen gedacht. Wie weit sie sich dieses
und psychischen Schäden Votum zu Eigen machen oder mit ethischen Begrün-
Dies ist dasjenige Grundprinzip, welches die meis- dungen ablehnen, bleibt ihrer Verantwortung über-
ten Probleme verursacht, vor allem bei experimen- lassen.“ (Körtner 2004, S. 137) Alle Personen, die
teller Forschung. Jedes Experiment birgt ein Risiko – Pflegeforschung betreiben, tragen somit prinzipiell
denn wenn die positive Wirkung der Intervention, eine große ethische und rechtliche Verantwortung.
die man testen möchte, sicher wäre, müsste man ja Dieser Verantwortung müssen sie sich bei ihrer wis-
kein Experiment durchführen. Daher stellt sich hier senschaftlichen Tätigkeit immer bewusst sein.
immer die Frage, wie die Studienteilnehmer vor Pflegende können prinzipiell in unterschiedli-
möglichen Nebenwirkungen, Unannehmlichkeiten chen Rollen an Forschung beteiligt sein:
oder Schäden geschützt werden können. sie sind selbst Proband,
Diese „Schäden“ können entweder körperlicher sie betreuen Patienten, die an Forschungsprojek-
Art sein, d. h. sie können von körperlichem Unbe- ten teilnehmen,
hagen bis hin zu sichtbaren Schäden (z. B. Dekubi- sie arbeiten an Forschungsprojekten mit, die von
tus) reichen, oder psychischer Natur sein (z. B. emo- anderen initiiert und geleitet werden,
tionale Belastung durch das Thema, das in einem sie führen selbst Forschungsprojekte durch oder
Interview angesprochen wird). sie entscheiden (z. B. in ihrer Funktion als Leiter
Der beste Schutz vor Schäden ist, sie vorauszuse- des Pflegedienstes oder als Mitglied einer Ethikkom-
hen und die Untersuchung so zu planen, dass die mission), ob ein Forschungsprojekt in ihrer Institu-
Risiken möglichst gering sind. Diese müssen gegen tion durchgeführt wird.
den Nutzen der Studie sorgfältig abgewogen wer- Jede dieser Rollen bedeutet, ethisch-moralisch
den. Das Interesse an den Forschungsresultaten Verantwortung zu übernehmen. Daher ist es nicht
darf gegenüber den Risiken, denen die Versuchsper- nur für Pflegewissenschaftler wichtig, sich mit dem
sonen ausgesetzt sind, in keinem Fall vorrangig sein. Thema Ethik auseinander zu setzen. So muss sich
jeder beispielsweise auch gut überlegen, welches
Forschungsprojekt er unterstützt bzw. die Mitarbeit

BAND 1 Pflege und Profession 157


5 Pflegewissenschaft und -forschung

verantworten kann. Auch wenn man Forschungs- scher Pflege auf einer randio-onkologischen Abteilung.
ergebnisse liest um sie in der Praxis anzuwenden Pflege 18 (2005) S. 25 – 37
Evers, G.: Die Entwicklung der Pflegewissenschaft in Europa.
ist die Diskussion um die Ethik des Forschungsvor-
Pflege 17 (2004) S. 9 – 14.
habens, in dem diese zustande gekommen sind,
Fleischer-Schlechtiger N., J. Möbius Winkler, J. Klewer: Ana-
nicht unerheblich. lyse von Sturzereignisprotokollen in einer vollstationären
Naivität und Unkenntnis können niemals eine Altenpflegeeinrichtung. Pflegewissenschaft 2013, S. 15,
Entschuldigung für die Verletzung oder Missachtung 650 – 654.
des Wohls der Forschungsteilnehmer sein. Gerade Görres, S.: Pflegewissenschaft: Herausforderung für die For-
die Pflege, die – mit dem Prinzip der Fürsorge als schung – Innovation für die Praxis. In Görrres, S. (Hrsg.):
Pflegewissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland.
Mittelpunkt – in ihrem professionellen Denken und
Altera, Bremen 1996, S. 62 – 76
Handeln ein Stück weit andere Ziele verfolgt als die
Jud E.M. Der Entscheidungsprozess zum anlegen einer PEG
5 Medizin, kann viel dazu beitragen, dass Forschung Sonde aus der Perspektive von Eltern von Kindern mit
im Gesundheitswesen an strengen ethischen neurologischen Beeinträchtigungen. In: Nagl-Cupal M,
Maßstäben gemessen wird. Marianne Arndt Metzing S. (Hrsg.). Familienorientierte Pflegeforschung.
schreibt: „Es gehört zur Begabung des Menschen, Kinder und Jugendliche im Brennpunkt. Wien: Facultas;
sich selbst und den anderen Rechenschaft über Den- 2013
Käppeli, S.: Pflegeforschung zwischen Anspruch und Wirk-
ken und Handeln zu geben und damit einer Verant-
lichkeit. Österreichische Krankenpflegezeitschrift 3
wortung zu entsprechen, die das Menschsein erst (1994) S. 14 – 18
auszeichnet.“ (Arndt 2003, S. 14). Auch in der For- Kleibel, V., H. Mayer: Literaturrecherche für Gesundheitsbe-
schung muss man sich in erster Linie durch das ei- rufe. Facultas, Wien 2011
gene Menschsein auszeichnen, die Konsequenzen Körtner, U.: Grundkurs Pflegeethik. Facultas, Stuttgart 2004
tragen, die daraus erwachsen, und Verantwortung Krause, T.: Sturzfolgen bei geriatrischen Krankenhauspatien-
ten. Pflege 18 (2005) S. 39 – 42
übernehmen. Daher ist Pflegeforschung ist immer
Kugler, C.: Non-Compliance erwachsener Hämodialysepatien-
eine ethische Herausforderung – für jeden Einzel-
ten bezüglich Diät und Flüssigkeitsbeschränkungen. In
nen. Panfil, E.M.: Focus: Klinische Pflegeforschung. Beispiele
quantitativer Studien. Schlütersche, Hannover 2004,
S. 74 – 89
Literatur: Mayer, H.: Pflegeforschung anwenden. 4. vollständig überar-
beitete Auflage. Facultas, Wien 2015
Arndt, M.: Theoretische Argumentationslinien in der Ethik. Mayer, H.: Pflegeforschung kennenlernen. Facultas, Wien 6.
Eine Einführung. In Dibelius, O., M. Arndt (Hrsg.): Pflege- aktualisierte und überarbeitete Auflage 2014
management zwischen Ethik und Ökonomie. Eine euro- Mayer H, H. Zellhofer (Hrsg): Krebs- (ER)LEBEN. Eine pflege-
päische Perspektive. Schlütersche, Hannover 2003, wissenschaftliche Perspektive. Facultas, Wien 2011
S 13 – 22 Morse, J.M.; P.A. Field: Qualitative Pflegeforschung. Anwen-
Bartholomeyczik, S.: Gegenstand, Entwicklung und Fragesel- dung qualitativer Ansätze in der Pflege. Ullstein Medical,
lungen pflegewissenschaftlicher Forschung. In: Rennen- Wiesbaden 1998
Allhoff, B., D. Schaeffer (Hrsg.): Handbuch Pflegewissen- Nagl-Cupal M., M. Daniel, M. Koller, H. Mayer: Prevalence and
schaft. Juventa, Weinheim und München 2000, S. 67-106 effects of caregiving on children and its differences to non
Behrens, J., G. Langer: Evidence-based Nursing and Caring. caregiving children. Journal of Advanced Nursing 2014;
2. Aufl. Hans Huber Verlag, Bern 2006 DOIi: 10.1111/jan.12388
Brandenburg, H., S. Dorschner: Pflegewissenschaft 1. Lehr- Nagl Cupal M., S. Metzing (Hrsg.): Familienorientierte Pflege-
und Arbeitsbuch zur Einführung in die Pflegewissen- forschung. Kinder und Jugendliche im Brennpunkt. Wien:
schaft. Hans Huber Verlag, Bern 2003 Facultas; 2014
Burns, N., S.K. Grove: Pflegeforschung verstehen und anwen- Nightingale, F.: Bemerkungen zur Krankenpflege. Mabuse,
den. Verlag Elsevier, Urban und Fischer, München 2005 Frankfurt 2005
Burstaller-Brendt E.: „Herbst im Kopf.“ Wenn Großeltern an Panfil, E.M.: Focus: Klinische Pflegeforschung. Beispiele quan-
Krebs erkranken. Das Bilderbuch als unterstützendes Me- titativer Studien. Schlütersche, Hannover 2004
dium für Kinder in der Auseinandersetzung mit dieser Panfil, E.M.: Forschung und Forschungsprozess. In Branden-
Krankheit. Diplomarbeit. Universität Wien; 2011 burg, H., E.M. Panfil, H. Mayer (Hrsg.): Pflegewissenschaft
Chinn P.L., M. Kramer: Pflegetheorie. Konzepte – Kontext – 2. Lehr und Arbeitsbuch zur Einführung in die Pflegefor-
Kritik. Ullstein Mosby Verlag, Wiesbaden 1997 schung. Hans Huber Verlag, Bern 2007
Christen, L. et al.: Erfahrungen und Resultate von standardi- Polit, D.F., C.T. Beck, B.P. Hungler: Lehrbuch Pflegeforschung.
sierten Beobachtungen konventioneller und kinästheti- Methodik, Beurteilung und Anwendungen. Hans Huber
Verlag, Bern 2004

158 Pflege und Profession BAND 1


Literatur

Rycroft-Malone, J. u. a.: What counts as evidence in evidence- wissenschaft. Beiträge zum Selbstverständnis einer neuen
based practice? Journal of Advanced Nursing 47 (2004) Wissenschaftsdisziplin. Maudrich, Wien 1993
S. 81 – 90 Smoliner, A.: Voraussetzung für die Implementierung in eine
Schrank S., A. Zegelin, H. Mayer: Prävalenzerhebung zur Bett- Organisation und erste Praxiserfahrungen. In Schneider,
lägerigkeit und Ortsfixierung – eine Pilotstudie. Pflege- H. (Hrsg.): EBN – Evidence Based Nursing. Facultas, Wien
wissenschaft 2013, S. 230 – 238 2008, S. 33 – 45
Schrems, B.: Perspektiven der Pflegeforschung in Österreich. Tod, A.M., J. Craven, P. Allmark: Diagnostic delay in lung can-
Zwischen Grenzziehung und Grenzüberschreitung. In cer: a qualitative study. Journal of Advanced Nursing 61/3,
Seidl, E.; I. Walter (Hrsg.): Pflegeforschung aktuell. Studi- 2008, S. 336 – 343
en - Kommentare - Berichte. Zum 10jährigen Bestand der Trattnig T.: Brustamputation nach malignem Tumor. Auswir-
Abteilung Pflegeforschung. Wilhelm Maudrich Verlag, kungen auf das Selbstkonzept betroffener Frauen. In:
Wien, München, Bern 2007, S. 151-175 Mayer H, Zellhofer H. Krebs (Er)-leben. Eine pflegwissen-
Steppe, H.: Pflege als Wissenschaft – Am Beispiel der Ent- schaftliche Perspektive 2010, S. 117 – 154
wicklung in den USA. In Seidl, E. (Hrsg.): Betrifft: Pflege-

BAND 1 Pflege und Profession 159


6 Pflegeprozess und Pflegequalität
Astrid Hammer*, Elke Kobbert, Brigitte Maurer

Übersicht
Einleitung · 161
6.1 Entwicklung des Pflegeprozesses · 161
6.2 Ansätze zur Problemlösung · 164
6.2.1 Nicht-rationale Ansätze zur Problem-
lösung · 164
6.2.2 Rationale Ansätze zur Problemlösung · 166
6.3 Modelle des Pflegeprozesses · 168
6 6.3.1 Vier-Phasen-Modell · 169
6.3.2 Fünf-Phasen-Modell · 169
6.3.3 Sechs-Phasen-Modell · 170
6.4 Pflegeprozess als Problemlösungs- und
Beziehungsprozess · 172 6.10 Pflegequalität · 207
6.5 Schritte des Pflegeprozesses · 174 6.10.1 Grundlagen zum Qualitätsbegriff · 207
6.5.1 Informationssammlung · 174 6.10.2 Gesetzliche Grundlagen zur Qualitätssiche-
6.5.2 Erkennen von Pflegeproblemen und rung in der Pflege · 209
Ressourcen des pflegebedürftigen 6.10.3 Qualitätsmanagement · 211
Menschen · 180 6.10.4 Qualitätsmangementsysteme im Gesund-
6.5.3 Festlegung der Pflegeziele · 185 heitswesen · 213
6.5.4 Planung der Pflegemaßnahmen · 187 6.10.5 Maßnahmen und Instrumente zur Förderung
6.5.5 Durchführung der Pflege · 191 des Verbesserungsprozesses · 214
6.5.6 Beurteilung der Wirkung der Pflege 6.10.6 Maßnahmen und Instrumente zur Förderung
auf den pflegebedürftigen Menschen · 192 der Pflegequalität · 217
6.6 Entlassungsmanagement und Literatur · 219
Pflegeüberleitung · 193
6.6.1 Pflegeüberleitung/Überleitungspflege · 194
6.6.2 Expertenstandard Entlassungsmanagement Schlüsselbegriffe
in der Pflege · 194
▶ Problemlösungsprozess
6.6.3 Funktion und Rolle des Pflegeprozesses im
▶ Beziehungsprozess
Entlassungsmanagement · 195
▶ Informationssammlung
6.7 Einflussfaktoren auf die Durchführung der
▶ Pflegeprobleme
Pflege nach dem Pflegeprozess · 197
▶ Ressourcen
6.8 Pflegeprozess und Pflegetheorie · 198
▶ Pflegeziele
6.8.1 Roper/Logan und Tierney: Die Elemente der
▶ Pflegemaßnahmen
Krankenpflege · 199
▶ Pflegeplan
6.8.2 Hildegard Peplau: Interpersonale Beziehungen
▶ Evaluation
in der Pflege · 200
▶ Pflegestandard
6.9 Pflegeprozess und Pflegestandards · 202
▶ Standardpflegeplan
6.9.1 Strukturorientierte Standards · 202
▶ Qualität
6.9.2 Prozessorientierte Standards · 203
▶ Qualitätszirkel
6.9.3 Ergebnisorientierte Standards · 205
▶ Ideenmanagement
6.9.4 Vorteile und kritische Aspekte beim Arbeiten
▶ Beschwerdemanagement
mit Pflegestandards · 206

160 Pflege und Profession BAND 1


6.1 Entwicklung des Pflegeprozesses

den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts begannen


Einleitung amerikanische Pflegewissenschaftlerinnen, sich ver-
Astrid Hammer*, Brigitte Maurer stärkt mit den Inhalten der Pflege auseinander-
zusetzen. Die ersten Theorien über die Pflege ent-
Methodisches Arbeiten spielt im Alltag eine große standen.
Rolle. Wann immer Menschen auf Probleme treffen, Wenig später begann die Auseinandersetzung
wird ein Prozess in Gang gesetzt, der das Problem mit der Methodik der Pflege, d. h. es wurde nach
identifiziert, nach Handlungsalternativen sucht und Möglichkeiten gesucht, die theoretischen Über-
die durchgeführte Handlung hinsichtlich ihrer Effek- legungen systematisch und strukturiert in das kon-
tivität bewertet. krete pflegerische Handeln umzusetzen.
In der beruflich ausgeübten Pflege wird die be- Aus diesen Überlegungen heraus, entstand der
wusste, systematische, zielgerichtete und prozess- Pflegeprozess, der als Begriff erstmals 1955 von
hafte Methode als Pflegeprozess bezeichnet. Er ge- Hall geprägt wurde. Ende der 50er Jahre stellten
staltet sich sowohl als Problemlösungsprozess als die amerikanischen Pflegetheoretikerinnen D. John-
6
auch als Beziehungsprozess zwischen Pflegeperson son, I. J. Orlando und E. Wiedenbach ein „Drei-Pha-
und pflegebedürftigem Menschen. sen-Modell“ vor. Knowles veröffentlichte 1967 das
Berufliche Pflege wird in der Regel in einem sogenannte „5-D-Modell“, in dem die Schritte „Dis-
Team ausgeübt. Kontinuität in der Pflege kann nur cover“ (entdecke), „Delve“ (untersuche), „Decide“
dann sichergestellt werden, wenn alle erforderli- (entscheide), „Do“ (handle) und „Discriminate“ (un-
chen Informationen über einen Menschen jederzeit terscheide) unterschieden wurden. Im gleichen Jahr
abrufbar und für andere Pflegepersonen nachvoll- gaben auch die Western Interstate Commision of
ziehbar sind. Deshalb kommt der schriftlichen Do- Higher Education, kurz WICHE genannt, und die ka-
kumentation im Rahmen des Pflegeprozesses große tholische Universität von Amerika ihre Ergebnisse
Bedeutung zu. Das Instrument des Pflegeprozesses zum Pflegeprozess bekannt. Die WICHE beschrieb
trägt so zu einem professionellen, aus der persönli- die Schritte des Pflegeprozesses als:
chen Beliebigkeit des Einzelnen genommenen pfle- 1. Wahrnehmung und Kommunikation,
gerischen Alltag bei. Die Anwendung des Pflegepro- 2. Interpretation,
zesses ist darüber hinaus eine Möglichkeit, die In- 3. Durchführung/Intervention und
halte der Pflege und die erbrachte Pflegeleistung im 4. Bewertung/Evaluation.
interdisziplinären Team sichtbar zu machen sowie
qualitätssichernd zu arbeiten. Die katholische Universität von Amerika unterteilte
Das folgende Kapitel beschreibt die geschicht- die Schritte des Pflegeprozesses in:
liche Entwicklung des Pflegeprozesses als Methode 1. Einschätzung (engl.: Assessment),
der Pflege, stellt die Phasen des Pflegeprozesses vor 2. Planung (engl.: Planning),
und geht auf die Anwendung des Pflegeprozesses in 3. Durchführung (engl.: Intervention),
Verbindung mit Pflegetheorien und Pflegestandards 4. Bewertung (engl.: Evaluation).
ein.
Weiter wird der Frage nachgegangen, was Pfle- Dieses Vier-Phasen-Modell entspricht dem von der
gequalität ist und wie diese sichergestellt wird. Weltgesundheitsorganisation (WHO) favorisierten
Modell des Pflegeprozesses.
Das erste Buch über den Pflegeprozess wurde
6.1 Entwicklung des 1967 von Yura und Walsh veröffentlicht. Sie stellten
Pflegeprozesses die von ihnen als „Krankenpflegeprozess“ bezeich-
nete Methode der Pflege erstmalig als einen Pro-
Lange Zeit gab es in der Geschichte der Kranken- blemlösungsprozess vor und unterschieden zwi-
pflege kein systematisches Vorgehen aus einer pfle- schen den vier Phasen Erhebung, Planung, Durch-
gerischen Perspektive heraus. Pflege beschränkte führung und Auswertung. 1973 wurden die Pflege-
sich auf eine „gute Krankenbeobachtung“, das Ver- diagnosen als eine gesonderte Phase zwischen der
richten einzelner Pflegetätigkeiten und die Reinhal- Einschätzung und Planung in das Modell aufgenom-
tung der Umgebung des Kranken (s. a. Kap. 2). Die men.
Anfänge des Pflegeprozesses liegen in den USA. In

BAND 1 Pflege und Profession 161


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

Im deutschsprachigen Raum wird der Pflegepro- ▌ Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege
zess seit Anfang der 80er Jahre diskutiert; seit 1985 (Krankenpflegegesetz KrPflG)
ist er im Krankenpflegegesetz, seit 2001 im bundes- In dem Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege
einheitlichen Altenpflegegesetz fest verankert. vom 16. 07. 2003 heißt es in Abschnitt 2 Ausbildung
Ende der achtziger Jahre war der Begriff des § 3: „(1) Die Ausbildung [...] soll entsprechend dem
„Pflegenotstandes“ täglich in den Medien präsent. allgemein anerkannten Stand pflegewissenschaftli-
Die Politik versuchte, dem Personalmangel in der cher Erkenntnisse fachliche, personale, soziale und
Pflege über eine gesellschaftliche Aufwertung der methodische Kompetenzen zur verantwortlichen
Pflegeberufe zu begegnen. Dies geschah u. a. durch Mitwirkung insbesondere bei der Heilung, Erken-
die Förderung der Pflegeforschung. In diesem Rah- nung und Verhütung von Krankheiten vermitteln.
men führte z. B. Krohwinkel ihre Forschungsstudie Die Pflege im Sinne von Satz 1 ist dabei unter Ein-
„Der Pflegeprozess am Beispiel von Apoplexiekran- beziehung präventiver, rehabilitativer und palliati-
ken“, gefördert vom Bundesministerium für Jugend, ver Maßnahmen auf die Wiedererlangung, Verbes-
Frauen, Familie und Gesundheit, durch. Durch diese serung, Erhaltung und Förderung der physischen
6
politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten und psychischen Gesundheit zu pflegenden Men-
konnte die Entwicklung der professionellen Pflege schen auszurichten. Dabei sind die unterschiedli-
in Deutschland positiv unterstützt und vorangetrie- chen Pflege- und Lebenssituationen sowie Lebens-
ben werden. phasen und die Selbstständigkeit und Selbstbestim-
Mittlerweile ist der Pflegeprozess fester Bestand- mung der Menschen zu berücksichtigen (Ausbil-
teil der Ausbildung in den Pflegeberufen. Trotzdem dungsziel)“.
ist die Umsetzung bzw. Anwendung des Pflegepro- „Die Ausbildung [...] soll insbesondere dazu befä-
zesses in der Praxis weiterhin aufgrund organisato- higen:
rischer Rahmenbedingungen und einer gering aus- ■ die folgenden Aufgaben eigenständig auszufüh-
geprägten diagnostischen Kompetnez von Pflegen- ren:
den eine Herausforderung (Huber 2003). – Erhebung und Feststellung des Pflegebedarfs,
Im Folgenden soll zunächst auf die verschiede- Planung und Organisation, Durchführung und
nen Ansätze des Pflegeprozesses zur Lösung von Dokumentation der Pflege,
Problemen eingegangen werden. – Evaluation der Pflege, Sicherung und Entwick-
lung der Qualität der Pflege [...]“ (Gesetz über
Zusammenfassung: die Berufe in der Krankenpflege, Krankenpfle-
Ziel der Entwicklung des Pflegeprozesses gegesetz – KrPflG, BGBl. I 2003, Nr. 36).
■ Pflege als strukturiertes, systematisches Handeln,
■ in den 50er-Jahren in den USA entwickelt, Auch in der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung
■ in Deutschland seit den 80er-Jahren diskutiert, für die Berufe in der Krankenpflege (KrPflAPrV) vom
■ seit 1985 im Krankenpflegegesetz und 10. November 2003 (BGBl I 2003, Nr. 55) ist die Ori-
■ seit 2003 im Altenpflegegesetz verankert. entierung der Pflege am Pflegeprozess zugrunde ge-
legt: „Der theoretische und praktische Unterricht
Seit 1985 ist die Durchführung der Pflege nach dem umfasst folgende Themenbereiche:
Pflegeprozess im Krankenpflegegesetz, seit 2001 im ■ Pflegesituationen bei Menschen aller Altergrup-
Altenpflegegesetz verankert. Damit unterliegt der pen erkennen, erfassen und bewerten. Die Aus-
Einsatz des Pflegeprozesses nicht länger der persön- zubildenden sind zu befähigen,
lichen Beliebigkeit, sondern wird zum gesetzlich ge- – auf der Grundlage pflegewissenschaftlicher
forderten Vorgehen bei der Durchführung der Pfle- Erkenntnisse und pflegerelevanter Kenntnisse
ge. Auch im Sozialgesetzbuch V und XI gibt es Rege- der Bezugswissenschaften wie Naturwissen-
lungen, die die Verpflichtung zur prozesshaften schaften, Anatomie, Physiologie, Gerontologie,
Pflege beinhalten und zur Dokumentation der Pfle- allgemeine und spezielle Krankheitslehre,
ge auffordern. Arzneimittellehre, Hygiene und medizinische
Auch in den jeweiligen Neufassungen der ge- Mikrobiologie, Ernährungslehre, Sozialmedi-
nannten Gesetze wird die Durchführung der Pflege zin sowie der Geistes- und Sozialwissenschaf-
nach dem Pflegeprozess verlangt. ten, Pflegesituationen wahrzunehmen und zu

162 Pflege und Profession BAND 1


6.1 Entwicklung des Pflegeprozesses

reflektieren sowie Veränderungen der Pflege- Betreuung alter Menschen erforderlich sind. Dies
situationen zu erkennen und adäquat zu rea- umfasst „die sach- und fachkundige, den allgemein
gieren, anerkannten pflegewissenschaftlichen, insbesonde-
– unter Berücksichtigung der Entstehungsursa- re den medizinisch-pflegerischen Erkenntnissen
chen aus Krankheit, Unfall, Behinderung oder entsprechende, umfassende und geplante Pflege,
im Zusammenhang mit Lebens- und Entwick- [...] sowie die Mitwirkung an qualitätssichernden
lungsphasen den daraus resultierenden Pfle- Maßnahmen in der Pflege, der Betreuung und der
gebedarf, den Bedarf an Gesundheitsvorsorge Behandlung.“ (Gesetz über die Berufe der Altenpfle-
und Beratung festzustellen, ge, AltPflG BGBl. I 2003, Nr. 44).
– den Pflegebedarf unter Berücksichtigung Auch das Heimgesetz vom 05. November 2001
sachlicher, personenbezogener und situativer sieht unter § 11 (Anforderungen an den Betrieb
Erfordernisse zu ermitteln und zu begründen, eines Heimes) vor, dass ein Heim nur betrieben wer-
– ihr Pflegehandeln nach dem Pflegeprozess zu den darf, wenn der Träger und die Leitung sicher-
gestalten. stellen, dass für die Bewohner eine Pflegeplanung
6
■ Pflegemaßnahmen auswählen, durchführen und erstellt und deren Ausführung dokumentiert wird
auswerten. Die Auszubildenden sind zu befähi- (Heimgesetz, BGBl. 2001, Nr. 57).
gen,
– pflegerische Interventionen in ihrer Zielset- ▌ Sozialgesetzbuch V (SGB V) – Gesetzliche
zung, Art und Dauer am Pflegebedarf aus- Krankenversicherung
zurichten, Eine zweite gesetzliche Vorgabe beinhaltet das Sozi-
– die unmittelbare vitale Gefährdung, den aku- algesetzbuch V, das vom 20. Dezember 1988 stammt
ten oder chronischen Zustand bei einzelnen und in § 135 a auf die „Verpflichtung zur Qualitäts-
oder mehreren Erkrankungen, bei Behin- sicherung“ eingeht:
derungen, Schädigungen sowie physischen „Die Leistungserbringer sind zur Sicherung und
und psychischen Einschränkungen und in Weiterentwicklung der Qualität der von ihnen er-
der Endphase des Lebens bei pflegerischen brachten Leistungen verpflichtet. Die Leistungen
Interventionen entsprechend zu berücksichti- müssen dem jeweiligen Stand der wissenschaftli-
gen, chen Erkenntnisse entsprechen und in der fachlich
– die Pflegemaßnahmen im Rahmen der pfle- gebotenen Qualität erbracht werden“.
gerischen Beziehung mit einer entsprechen- Demnach sind alle Krankenhäuser, Vorsorge- und
den Interaktion und Kommunikation alters- Rehabilitationseinrichtungen verpflichtet, Maßnah-
und entwicklungsgerecht durchzuführen, men der Qualitätssicherung durchzuführen.
– bei der Planung, Auswahl und Durchführung
der pflegerischen Maßnahmen den jeweiligen Definition: Qualitätssicherung beinhaltet das
Hintergrund des stationären, teilstationären, Beschreiben von Zielen, die in der Pflege ver-
ambulanten oder weiteren Versorgungs- wirklicht werden sollen, das Messen der tat-
bereichs mit einzubeziehen, sächlich vorhandenen Pflegequalität und letztlich das
– den Erfolg pflegerischer Interventionen zu Erarbeiten und Festlegen von Maßnahmen, um die
evaluieren und zielgerichtetes Handeln kon- Pflegepraxis zu verbessern. Die Qualitätssicherung
tinuierlich an den sich verändernden Pflege- fordert strukturierte Prozesse, welche die Qualität
bedarf anzupassen. pflegerischer Arbeit messen sowie Schwachstellen
aufzeigen und beheben können.
▌ Gesetz über die Berufe in der Altenpflege
(Altenpflegegesetz AltPflG) Zu den Systemen, in deren Rahmen qualitativ hoch-
Im Gesetz über die Berufe in der Altenpflege, wel- wertige Pflege geplant, durchgeführt und bewertet
ches am 1. August 2003 in Kraft getreten ist, heißt es werden können, gehört unter anderem der Pfle-
in § 3 „Die Ausbildung in der Altenpflege soll die geprozess. Durch ihn findet eine lückenlose pro-
Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln, blem- und bedürfnisorientierte Dokumentation
die zur selbstständigen und eigenverantwortlichen und damit ein Nachweis der erbrachten Pflegeleis-
Pflege einschließlich der Beratung, Begleitung und tung statt. Es entsteht ein übersichtlicher Verlauf,

BAND 1 Pflege und Profession 163


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

der auch die Möglichkeit der Selbstkontrolle bietet. SGB XI erfordert indirekt den Einsatz des Pflegepro-
Die gesetzlich geforderten „vergleichenden Prüfun- zesses bei der Pflege von Menschen.
gen“ werden durchführbar.

▌ Sozialgesetzbuch XI (SGB XI) – Soziale 6.2 Ansätze zur Problemlösung


Pflegeversicherung
Eine dritte gesetzliche Grundlage zum Arbeiten mit Wie in anderen Disziplinen kommen auch in der Pfle-
dem Pflegeprozess ist das Pflege-Versicherungs- ge unterschiedliche problemlösende Ansätze zur An-
gesetz nach Sozialgesetzbuch XI vom 26. Mai 1994. wendung. Unterschieden werden hierbei nicht-ratio-
Mit Einführung der Pflegeversicherung werden nale und rationale Problemlösungsansätze.
die Institutionen in § 113 „Maßstäbe und Grundsät- Bei den nicht-rationalen Ansätzen werden Lö-
ze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pfle- sungen für Probleme nach Gefühl und Intuition ge-
gequalität“ zur Qualitätssicherung verpflichtet: funden. Eine zweite Person kann die Problemlösung
„(1) Der Spitzenverband Bund der Pflegekassen, nicht oder nur schwer nachvollziehen. Bei den ratio-
6
die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen nalen Ansätzen werden Problemlösungen unter
Träger der Sozialhilfe, die kommunalen Spitzenver- Bezug auf Kenntnisse und Wissen nach vernünftigen
bände auf Bundesebene und die Vereinigungen der und verstandesbetonten Überlegungen gesucht. Die
Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene betreffende Person kann ihre Vorgehensweise genau
vereinbaren unter Beteiligung des medizinischen beschreiben und begründen. Für eine zweite Person
Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Kranken- wird der Lösungsweg transparent und nachvollzieh-
kassen sowie unabhängiger Sachverständiger bar.
Grundsätze, des Verbandes der privaten Kranken- Eine problemlösende Methode ist eine Hand-
versicherung e. V., der Verbände der Pflegeberufe lungsabfolge, mit deren Hilfe ein bestehendes Pro-
auf Bundesebene, der maßgeblichen Organisationen blem erkannt, bewertet und einer Lösung zugeführt
für die Wahrnehmung der Interessen und der werden soll.
Selbsthilfe der pflegebedürftigen und behinderten
Menschen nach Maßgabe von § 118 und Maßstäbe 6.2.1 Nicht-rationale Ansätze zur Problemlösung
für die Qualität, Qualitätssicherung und Qualitäts- Zu den nicht-rationalen Problemlösungsansätzen
darstellung in der ambulanten und stationären Pfle- gehören das Handeln aus Tradition, Intuition und
ge sowie für die Entwicklung eines einrichtungs- unter Berufung auf eine Autorität sowie die Metho-
internen Qualitätsmanagements, das auf eine stetige de „Versuch und Irrtum“ (s. a. Kap. 5).
Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequali-
tät ausgerichtet ist.“ ▌ Tradition
Aus den gesetzlichen Vorgaben des SGB V und Wird nach einer Begründung für die traditionelle
SGB XI lässt sich die Verpflichtung zur Durchfüh- Vorgehensweise gefragt, ist die Antwort oft: „Das
rung der Pflege nach dem Pflegeprozess nur indirekt war schon immer so und es ist gut so.“ Die traditio-
ableiten. Sie verpflichten die Institutionen über die nelle Problemlösung basiert auf gewachsenen Wer-
Qualitätssicherung in erster Linie zur schriftlichen ten und Normen. Auch im Pflegeberuf werden von
Dokumentation, d. h. zum Nachweis der erbrachten einer Generation von Pflegenden zur nächsten Tra-
Pflegeleistung. ditionen weitergegeben. Dabei kann das Resultat so-
Dennoch ist eine sinnvolle Dokumentation der wohl positiv als auch negativ ausfallen. Die Tradition
Pflege nur dann möglich, wenn hieraus auch die ist als Orientierungshilfe sehr von Nutzen, da nicht
Begründung für die Notwendigkeit erbrachter Pfle- jede Person jedes Problem selbst durchlebt und er-
geleistungen hervorgeht. fahren haben muss.
Die Verpflichtung zur Durchführung der Pflege
nach dem Pflegeprozess ergibt sich aus § 3 des Kran- Definition: Tradition ist die Übernahme bezie-
kenpflegegesetzes und § 3 des Altenpflegegesetzes hungsweise die Weitergabe von Brauchtum,
(beide von 2003). Auch die Verpflichtung der Insti- Sitten, Lebenserfahrungen und Wissen von
tutionen des Gesundheitswesens zum Ergreifen von einer auf die nächste Generation.
Maßnahmen zur Qualitätssicherung im SGB V und

164 Pflege und Profession BAND 1


6.2 Ansätze zur Problemlösung

Beispiel: Das Durchführen bestimmter Definition: Unter Intuition wird das sofortige,
Handlungen aus Tradition kommt auch unmittelbare Erfassen und Reagieren auf eine
heute noch oft vor. So werden in vielen Kli- Situation verstanden, ohne dass dieses Verhal-
niken z. B. jeden Morgen, nach Beginn des Frühdiens- ten durch Erklärungen oder Beweise begründet wird.
tes sämtliche Betten der Station gemacht. Dies ge-
schieht unabhängig davon, ob einige Patienten das Bei der Intuition wird die Lösung eines Problems
Bedürfnis haben, morgens länger als 6:30 Uhr zu ohne rationale Begründung, im Sinne einer Ahnung,
schlafen, oder ob sie vielleicht so selbstständig sind, gefunden. Auch die Intuition kann sowohl zum rich-
dass sie ihr Bett selbst machen können, oder es even- tigen als auch zum falschen Resultat führen. Im Rah-
tuell gar nicht nötig ist, das Bett zu machen. men einer professionellen Pflege muss eine Pflege-
person nach jedem Einsatz von Intuition ihr Han-
deln durch fach- und sachgerechte Aussagen und
Hier kann auch vom sogenannten ritualisierten Han- Argumente begründen können. Sie muss ihr intuiti-
deln gesprochen werden. Dies sollte jedoch hinter- ves Handeln reflektieren. Dadurch können Ahnun-
6
fragt und eventuell sinnvoll verändert werden. gen überprüft und gegebenenfalls das pflegerische
Handeln angepasst beziehungsweise verbessert
Beispiel: Als Abschlussarbeit der Weiterbil- werden.
dung Pflege an der DBfK-Bildungsstätte in

!
Gauting untersuchten Seitz und Schäfer Merke: In diesem Sinne kann von einer
(1999) den Nutzen des Stecklakens, das auch Durch- pflegekundigen Intuition gesprochen wer-
zug beziehungsweise Querlaken genannt wird. Sie be- den. Die Pflegeexpertin kann auf Grund
stätigten ihre aufgestellte Hypothese, dass das Steck- ihres fundierten Wissensstandes, ihrer komplexen Fä-
laken ein „Relikt aus frühen Tagen der Krankenpflege“ higkeiten und ihrer langjährigen Erfahrungen im
sei, „zu dem es heute gute Alternativen gibt“. Sie setz- Beruf intuitiv schneller reagieren als eine Berufs-
ten einen Kriterienkatalog ein, nach welchem nur ein- anfängerin, was die amerikanische Pflegewissen-
zelne Betten mit einem Stecklaken bestückt wurden. schaftlerin Patricia Benner in einer Studie 1984 be-
Erhöht pflegebedürftige Patienten wurden mit einer stätigte (s. a. Kap. 4).
waschbaren Inkontinenzhilfe versorgt und nur bei
mehrmals am Tage auftretender starker Verschmut- Sie kann einen Transfer von bekannten Situationen
zung des Bettes wurde ein Stecklaken verwendet. Das auf neue Gegebenheiten leisten und pflegerische
Ergebnis waren enorme Einsparungen im Wäschever- Komplikationen eher vorhersehen und ihnen pro-
brauch und im Personalaufwand. Zudem konnten phylaktisch entgegenwirken. Intuition kann den
Forscher durch eine Messung die Ergebnisse der Studie Vorgang der Problemlösung unterstützen, als allei-
von Neander und Flohr (1995) unterstützen, in der niges Mittel zur Problemlösung ist sie jedoch aus
herausgefunden wurde, dass sich der Auflagedruck professioneller Sicht nicht ausreichend bzw. kritisch
mit jeder hinzukommenden Lage zwischen liegender zu sehen.
Person und Matratze erhöht und damit das Dekubi-
tusrisiko steigt. ▌ Handeln nach einer Autorität
Auch das Handeln nach einer Autorität gehört zu
Pflegepersonen, die Traditionen oder ritualisierte den nicht rationalen Problemlösungsansätzen.
Handlungen brechen oder verändern wollen, stoßen Handeln unter Berufung auf eine Autorität setzt
oft auf Widerstand von Kollegen. Mithilfe der Pfle- voraus, dass die Macht oder Überlegenheit einzelner
geforschung können Vorschläge zur Veränderung Personen, Gruppen oder einer Institution von einer
evidenzbasiert begründet werden, wodurch eine oder mehreren Personen anerkannt ist und nach
professionelle Haltung aus pflegerischer Perspektive ihren Vorgaben gehandelt wird.
gefördert wird. Werden Pflegemaßnahmen nach der Vorgabe
einer Autorität ohne eigene Reflexion durchgeführt,
▌ Intuition können sie zum richtigen oder auch zum falschen
Ein weiterer nicht rationaler Problemlösungsansatz Resultat führen. Wichtig ist, dass auch Autoritäten
ist das Vorgehen nach Intuition. falsche, ineffektive Vorgehensweisen vorschlagen

BAND 1 Pflege und Profession 165


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

können, weshalb auch Meinungen bzw. Vorschläge oder nur zum Teil korrekt erkannt wird und sie da-
solcher Personen immer kritisch reflektiert werden durch gefährdet wird.
müssen.
Zusammenfassung:
▌ Versuch und Irrtum Nicht rationale Ansätze zur Problemlösung
Das Verfahren nach Versuch und Irrtum, welches ■ Handeln aus Tradition,
auch als „Trial-and-Error-Methode“ bezeichnet ■ Handeln nach Intuition,
wird, gehört ebenfalls zu den nicht-rationalen Pro- ■ Handeln nach einer Autorität,
blemlösungsansätzen. Ein Versuch ist eigentlich ein ■ Handeln nach Versuch und Irrtum
anderes Wort für ein Experiment. Ein Irrtum ist das sind nicht begründbar, nicht transparent, nicht nach-
fälschliche „Für-Wahr-Halten“ eines Sachverhalts. vollziehbar.

Definition: Die Person, welche die Versuch- 6.2.2 Rationale Ansätze zur Problemlösung
und-Irrtum-Methode anwendet, denkt sich Rationale Problemlösungsansätze sind im Gegensatz
6
einen in ihren Augen richtigen Lösungsweg für zu den nicht-rationalen Ansätzen zielgerichtet und
ein Problem aus, kennt jedoch nicht die Wirkung ihres folgen einer bestimmten Systematik. Sie sind ge-
Handelns. kennzeichnet durch eine Abfolge von einzelnen
Schritten, die das Ergebnis, die Problemlösung,
Auch beim Anwenden der Versuch-und-Irrtum-Me- nachvollziehbar und begründbar machen.
thode kann das Resultat sowohl positiv als auch ne- Außerdem besteht:
gativ ausfallen. Warum das Ergebnis jedoch so aus- ■ eine Verbindung oder Beziehung zwischen der
fällt, kann nicht nachvollzogen werden. Die Basis gewählten Lösung und dem vorhandenen Pro-
dieses Vorgehens bilden das Glück und der Zufall. blem,
■ eine große Zahl von Angaben und Daten zum
Beispiel: Nach dem Prinzip „Versuch und Klären des Problems,
Irrtum“ wurden jahrelang zur Dekubitusbe- ■ eine Beurteilung der eventuellen Folgen und Aus-
handlung die betroffenen Körperstellen ge- wirkungen des Tuns,
eist und anschließend geföhnt. Dadurch sollte die ■ eine Reihe von weiteren Handlungsmöglichkeiten.
Durchblutung und somit der Heilungsprozess der
Haut beschleunigt werden. Neander konnte 1997 Zu den rationalen Problemlösungsansätzen gehören
durch systematische wissenschaftliche Untersuchun- die wissenschaftliche und die allgemein problemlö-
gen feststellen, dass die Annahme, einen Dekubitus sende Methode (Abb. 6.1).
durch Eisen und Föhnen zu therapieren, eine Fehl-
annahme ist. Es wurden häufig Erfrierungen und Ver- ▌ Wissenschaftliche Methode
brennungen der entsprechenden Körperpartien fest- Die wissenschaftliche Methode wird im Rahmen von
gestellt. Zudem konnte nachgewiesen werden, dass Forschungsstudien eingesetzt. Sie wird auch als For-
bei dieser Vorgehensweise vermehrt Infektionen auf- schungsprozess bezeichnet.
traten, da durch das Föhnen Krankheitserreger ver- Die Schritte des Forschungsprozesses umfassen:
wirbelt und vermehrt in die Wunde aufgenommen 1. Identifikation des Forschungsproblems,
wurden. 2. Überprüfung der Literatur,
3. Auswahl eines theoretischen Rahmens,
Das Vorgehen nach dem Prinzip „Versuch und Irr- 4. Aufstellung einer Hypothese,
tum“ wird in der Pflege auf Grund der wachsenden 5. Erstellen eines Forschungsdesigns,
Erkenntnisse aus der Pflegewissenschaft nicht mehr 6. Auswahl einer geeigneten Forschungsmethode,
angewandt. 7. Sammlung und Analyse der Daten,
Nicht rationale Problemlösungsansätze sind 8. Interpretation der erhobenen Daten,
weder zielgerichtet noch systematisch und für ande- 9. Formulierung und Verbreitung der Ergebnisse
re Personen nicht immer nachvollziehbar. Sie sollten (s. a. Kap. 5).
daher nie isoliert angewendet werden, da eventuell
die Situation einer zu betreuenden Person nicht

166 Pflege und Profession BAND 1


6.2 Ansätze zur Problemlösung

Abb. 6.1 Rationale Ansätze zur Problem-


Rationale Ansätze zur Problemlösung lösung

wissenschaftliche Methode allgemein-problemlösende Methode


= Forschungsprozess = Problemlösungsprozess
Elemente aus der
– Systemtheorie
– Kybernetik
– Entscheidungstheorie

Mit der expandierenden Pflegewissenschaft nimmt Subsysteme genannt, diese stehen strukturell oder
auch der Anteil an wissenschaftlichen Untersuchun- funktional in einer Wechselbeziehung. Die Ände-
6
gen in der Pflege zu. rung eines Subsystems führt zur Veränderung der
Derzeit besteht eine Reihe von Fragen zu Proble- restlichen Subsyteme im gesamten System. Das Be-
men, in denen Pflegepersonen lediglich nach ihren zeichnende dieser Theorie sind folgende Schritte:
Erfahrungen handeln, sich jedoch noch nicht immer Informationen werden aus der Umgebung auf-
auf wissenschaftliche Ergebnisse berufen können. genommen, der sogenannte „Input“. Im System
Der Bereich der Pflegeforschung nimmt auf Grund wird mit diesen Informationen gearbeitet, das soge-
der vielen Anregungen aus der Praxis jedoch an Be- nannte „Throughput“. Nach dem Durchlauf des Pro-
deutung zu (s. a. Kap. 5). zesses werden die Informationen wieder an die Um-
gebung abgegeben, was als „Output“ bezeichnet

!
Merke: Die wissenschaftliche Methode geht wird. Durch eine Rückkoppelung, oder „Feedback“
systematisch und zielgerichtet vor. Dabei wird das erreichte Ergebnis mit dem zuvor gesteck-
werden die Schritte des Forschungsprozesses ten Ziel verglichen und gegebenenfalls zur Korrektur
eingehalten. wieder ins System eingebracht. So gleicht sich das
neu eingegebene Input immer mehr an das eigent-
▌ Allgemein problemlösende Methode lich beabsichtigte Ziel an. Es entsteht ein dyna-
Die allgemein problemlösende Methode wird auch mischer Prozess, bei dem sich das System kontinu-
als Problemlösungsprozess bezeichnet. Diese Tech- ierlich an die Einflussfaktoren der Umgebung anglei-
nik findet bereits in vielen Fachbereichen Anwen- chen kann.
dung. Soziologen, Pädagogen, Physiotherapeuten, Ein Beispiel für ein System aus der Pflege ist das
Psychologen, Ärzte, Naturwissenschaftler und viele Krankenhaus, das aus einzelnen Subsystemen, den
andere Berufsgruppen arbeiten danach. Die Metho- speziellen Fachgebieten und Abteilungen, besteht.
de des Problemlösungsprozesses enthält Elemente Veränderungen in einem dieser Subsysteme, z. B. in
der Systemtheorie, der Kybernetik und der Entschei- Bezug auf die personelle Besetzung, haben Auswir-
dungstheorie. kungen auf alle anderen Subsysteme sowie auf das
System „Krankenhaus“ als solchem.
▌ Systemtheorie Auch das Organsystem des Menschen ist ein Sys-
Definition: Die Systemtheorie ist eine inter- tem, welches aus den einzelnen Organen Leber,
disziplinäre Wissenschaft, deren Gegenstand Herz, Lunge etc. als untergeordneten Subsystemen
die formale Beschreibung und Erklärung der besteht.
strukturellen und funktionalen Eigenschaften von na-
türlichen, sozialen oder technischen Systemen ist. ▌ Kybernetik
Die zweite Theorie, auf der der Problemlösungspro-
Durch sie sollen nicht nur die statischen, feststehen- zess beruht, ist die Kybernetik. Der Begriff Kyberne-
den, sondern auch die sich verändernden, dyna- tik stammt von dem griechischen Wort „kyberntike“
mischen Aspekte eines Systems dargestellt werden. und wird mit „Steuermannskunst“ übersetzt.
Ein System besteht aus mehreren Einzelteilen, auch

BAND 1 Pflege und Profession 167


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

Die Kybernetik arbeitet genau wie die System- Pflege“. Die Pflegeperson erhält in der Informations-
theorie interdisziplinär und fächerübergreifend. sammlung das für ihren Beruf notwendige Input
Ihr Inhalt ist die Zielanalyse und Zielerreichung. durch den hilfsbedürftigen Menschen und seine Be-
Dabei wird ein Regelkreissystem angewendet, bei zugspersonen. Gemeinsam können sie Probleme
dem ein sogenannter „Ist-Wert“ nicht mit dem und vorhandene Ressourcen erkennen. Das Durch-
„Soll-Wert“ identisch ist und mittels gezielter Steue- laufen des Systems, das Throughput, entspricht der
rung so lange beeinflusst wird, bis er dem „Soll- Planung der Pflege mit Zielsetzung und Maßnah-
Wert“ entspricht. menformulierung sowie der durchgeführten Pflege
an sich. Das Output entspricht dem Ergebnis der
▌ Entscheidungstheorie Pflege, welches durch die durchgeführten Pflege-
Die dritte Theorie, die in den Problemlösungspro- maßnahmen erreicht wurde.
zess einfließt, ist die Entscheidungstheorie. Im Sinne der Kybernetik ist der Pflegeprozess ein
Regelkreissystem. Das erzielte Ergebnis wird ana-
Definition: Die Entscheidungstheorie ist die lysiert und erneut in den dynamischen Prozess ge-
6
interdisziplinäre Lehre von Entscheidungsinhal- bracht. Diese Feedbackfunktion wird so lange
ten, Entscheidungsprozessen und Entschei- durchgeführt, bis das geplante Pflegeziel erreicht ist.
dungsverhalten des Einzelnen und von Gruppen. Im Sinne der Entscheidungstheorie geht es um
Unter mehreren Möglichkeiten soll der optimale Weg die Lösung von Pflegeproblemen. Indem die Phasen
zur Zielerreichung ausgewählt werden. der Entscheidungstheorie eingehalten werden, ist
eine Optimierung des Handelns gewährleistet.
Der Entscheidungsprozess besteht aus der: Dabei entspricht die Informationsphase in der Ent-
1. Informationsphase, scheidungstheorie dem ersten Schritt des Pflegepro-
2. Problemphase, zesses nach Fiechter und Meier (s. a. 6.3.3), der In-
3. Alternativphase, formationssammlung, und die Problemphase dem
4. Entscheidungsphase und zweiten Schritt, dem Erkennen von Problemen und
5. Beurteilungsphase. Ressourcen des Patienten.
Die Alternativphase in der Entscheidungstheorie
Nach Durchlaufen der aufeinanderfolgenden Phasen tritt im Pflegeprozess erst auf, wenn die geplanten
wird der neue Stand der Dinge mit der Ausgangslage Pflegemaßnahmen nicht zum erwünschten Ziel ge-
verglichen. Es werden verschiedene Lösungsmöglich- führt haben. Die Entscheidungsphase entspricht
keiten durchprobiert, bis das Ergebnis zufriedenstel- dem dritten, vierten und fünften Schritt des Pfle-
lend ist. Treten mehrere gleiche Probleme auf, kann geprozesses mit Festlegung der Pflegeziele, Planung
der bereits erfolgreich durchlaufene Lösungsweg auf der Pflegemaßnahmen und Durchführung dersel-
die jeweils anderen Probleme übertragen werden. ben. Die Beurteilungsphase entspricht dem sechsten
In der deutschen Pflege wird die allgemein pro- und letzten Schritt des Pflegeprozesses, der Beurtei-
blemlösende Methode in Form des Pflegeprozesses lung der Wirkung der Pflege auf den pflegebedürf-
seit Ende der 70er Jahre diskutiert und angewandt. tigen Menschen.

!
Merke: Die allgemein problemlösende Me-
thode wird in der Pflege in Form des Pfle- 6.3 Modelle des Pflegeprozesses
geprozesses eingesetzt und angewandt.
Es finden sich in der Literatur mehrere Modelle des
Im Pflegeprozess finden sich dementsprechend Ele- Pflegeprozesses, die sich hauptsächlich in der Anzahl
mente der drei vorgestellten Theorien wieder. der aufeinanderfolgenden Phasen beziehungsweise
Im Sinne der Systemtheorie beschreibt der Pfle- der Gliederung der Schritte unterscheiden. Im Folgen-
geprozess die formalen Gegebenheiten in der Pflege. den werden drei Pflegeprozessmodelle vorgestellt:
Diese entsprechen der äußeren Form der Pflege, den 1. „Vier-Phasen-Modell“ von Yura und Walsh,
Vorschriften, welche die einzelne Pflegeperson ein- 2. „Fünf-Phasen-Modell“ nach Brobst,
halten muss. Dazu gehört die im § 4 des Kranken- 3. „Sechs-Phasen-Modell“ von Fiechter und Meier.
pflegegesetzes geforderte „umfassende und geplante

168 Pflege und Profession BAND 1


6.3 Modelle des Pflegeprozesses

„Der Pflegeprozess in der Praxis“ (2007) den Pfle-


geprozess anhand von fünf Phasen (Abb. 6.3).
1. EinschŠtzung des Diese fünf Phasen lauten:
Pflegebedarfs
1. Einschätzung (engl.: assessing),
2. Diagnose (engl.: diagnosis),
4. Bewerten 2. Planen 3. Planung (engl.: planning),
der Pflege der Pflege 4. Umsetzung (engl.: implementing) und,
5. Auswertung (engl.: evaluating).
3. DurchfŸhren
der Pflege Das „Vier-Phasen-Modell“ von Yura und Walsh wird
von Brobst und ihren Mitarbeiterinnen um die
Phase der Diagnose erweitert. Dies entspricht der
Abb. 6.2 Vier-Phasen-Modell des Pflegeprozesses nach Yura klinischen Praxis in der USA, in der die Pflegediag-
und Walsh
nosen enorm an Bedeutung gewonnen haben.
6
In der Einschätzungsphase liegt der Schwerpunkt
6.3.1 Vier-Phasen-Modell pflegerischen Handelns auf der Beobachtung des
Die beiden amerikanischen Pflegewissenschaftlerin- pflegebedürftigen Menschen, der Aufnahme der
nen Yura und Walsh unterscheiden in ihrem Modell Krankengeschichte und der körperlichen Unter-
vier Phasen des Pflegeprozesses (vgl. Abb. 6.2). suchung. In der Diagnosephase werden die Aufnah-
Diese sind: meinformationen analysiert. Es wird eine Tabelle
1. Einschätzen des Pflegebedarfs/Pflegeanamnese erstellt, in der aktuelle und potenzielle Gesundheits-
(engl.: Assessing), probleme des pflegebedürftigen Menschen unter-
2. Planen der Pflege (engl.: Planning), schieden werden.
3. Durchführen der Pflege (engl.: Implementing), Die einzelnen Gesundheitsprobleme werden je-
4. Evaluieren/Bewerten der Pflege (engl.: Evalua- weils einer Pflegediagnose zugeordnet (s. a. Kap. 7).
ting). In der Planungsphase werden gemeinsam mit dem
pflegebedürftigen Menschen die Pflegediagnosen
Dabei gehen Yura und Walsh davon aus, dass die nach ihrer Wichtigkeit geordnet. Es werden Ziele
einzelnen Phasen in ihrer Bezeichnung, ihrer Dauer, und Erwartungen des pflegebedürftigen Menschen
ihrem Ausmaß und ihrer Abfolge modifiziert wer- formuliert und die geeigneten Pflegemaßnahmen
den können. Die im Pflegeprozess Tätigen sollen ausgewählt. Dabei wird ein Zeitraum festgelegt, in
sich darüber hinaus die Faktoren bewusst machen, welchem die erwarteten Ziele erreicht werden sol-
die ihr Handeln beeinflussen. Zu diesen Einflussfak- len, d. h. es wird ein Pflegeplan gemeinsam mit dem
toren rechnen Yura und Walsh: pflegebedürftigen Menschen und dessen Angehöri-
■ Rollenzuschreibung und Rollenerwartungen der gen erarbeitet.
an der Pflege Beteiligten, In der Umsetzungsphase werden die geplanten
■ Qualifikation bzw. Bildungsstand der Interakti- Pflegemaßnahmen durchgeführt. Dabei können die
onspartner, Pflegemaßnahmen an andere Personen, wie zum
■ Ort der Interaktion, Beispiel Berufskollegen oder Angehörige, delegiert
■ Wertvorstellungen, bzw. übertragen werden.
■ vorherrschende Traditionen und Rituale, Um einen Nachweis für die erbrachte Pflege zu
■ historische Entwicklung des Gesundheitswesens, erhalten, werden die einzelnen Maßnahmen in
■ Trends in der Gesundheitsversorgung und -politik, einem Maßnahmenkatalog oder einem Verlaufs-
■ ökonomische Faktoren und bericht von den durchführenden Pflegepersonen
■ Infrastruktur und Verfügbarkeit der Gesund- dokumentiert.
heitsdienste. In der Auswertungsphase werden die festgestell-
ten Ergebnisse mit den zuvor festgelegten Pflegezie-
6.3.2 Fünf-Phasen-Modell len verglichen und der Pflegeplan wird ggf. ange-
Die amerikanische Pflegedozentin Ruth Brobst und passt.
ihre Mitarbeiterinnen beschreiben in ihrem Buch

BAND 1 Pflege und Profession 169


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

Pflegeassessment/Einschätzung

Erstgespräch Krankengeschichte körperliche Unter- Assessmentdaten


führen erheben suchung durchführen dokumentieren

Pflegediagnosen

Daten der Ein- Pflegediagnosen er-


schätzung analysieren kennen und benennen

Pflegeplanung

Pflegediagnosen nach Ziele formulieren/ Interventionen/ Pflegeplan


Prioritäten ordnen Ergebniskriterien Maßnahmen planen dokumentieren
festlegen
6
Pflegeimplementation/Umsetzung

Maßnahmen Maßnahmen
durchführen dokumentieren

Pflegeevaluation/Bewertung

Zielerreichung/ Ergeb- den Zustand des Auswertungsbericht wenn nötig den Pfle-
nisse bewerten Patienten neu ein- niederschreiben geplan überarbeiten
schätzen

Abb. 6.3 Fünf-Phasen-Modell des Pflegeprozesses (Brobst et al. 2007)

6.3.3 Sechs-Phasen-Modell Fiechter und Meier veranschaulichen die Schritte


Die schweizerischen Pflegelehrerinnen Verena des Pflegeprozesses mit einem Problem aus dem
Fiechter und Martha Meier beschreiben ein „Sechs- Alltag, da auch diese systematisch und strukturiert
Phasen-Modell“ des Pflegeprozesses (Abb. 6.4). Sie angegangen werden.
bezeichnen die systematische, patientenorientierte Besteht ein Problem, fragt sich die betroffene
Pflegeplanung als Krankenpflegeprozess. Person, was sie an der momentanen Situation stört,
Die einzelnen Phasen sind: wie sie in diese ungünstige Lage gekommen ist, wel-
1. Informationssammlung, che Gründe es dafür gibt und was an dem Zustand
2. Erkennen von Pflegeproblemen und Ressourcen positiv beziehungsweise negativ ist. Sie versucht,
des pflegebedürftigen Menschen, das Problem zu erkennen, und macht sich Gedanken
3. Festlegung der Pflegeziele, darüber, welche Situation sie als besser empfinden
4. Planung der Pflegemaßnahmen, würde. Es werden Möglichkeiten zur Lösung des
5. Durchführung der Pflege und Problems gesammelt und eine geeignete Möglich-
6. Beurteilung der Wirkung der Pflege auf den pfle- keit angewendet. Im Anschluss hieran wird das Er-
gebedürftigen Menschen. gebnis mit der ursprünglich geforderten Situation
verglichen. Entspricht das Resultat dem gesetzten
Im Vergleich zu dem „Vier-Phasen-Modell“ von Yura Ziel, gibt es keinen erneuten Handlungsbedarf. Wer-
und Walsh wird die erste Phase, das Einschätzen des den jedoch Abweichungen zwischen gestecktem Ziel
Pflegebedarfs, unterteilt in Informationssammlung und dem momentanen Ergebnis festgestellt, muss
und das Erkennen von Pflegeproblemen und Res- der Prozess erneut durchlaufen werden.
sourcen des pflegebedürftigen Menschen. Die zwei- Ein Beispiel aus dem Alltagsleben soll das Vor-
te Phase, das Planen der Pflege, wird bei Fiechter gehen nach den sechs Phasen des Pflegeprozess-
und Meier in die Festlegung der Pflegeziele und Modells von Fiechter und Meier verdeutlichen.
die Planung der Pflegemaßnahmen untergliedert.

170 Pflege und Profession BAND 1


6.3 Modelle des Pflegeprozesses

Abb. 6.4 Sechs-Phasen-Modell des


2. Pflegeprozesses nach Fiechter und Meier
Erkennen von (1998)
1.
Problemen und
Informations-
sammlung Ressourcen des
pflegebedürftigen
Menschen

6.
Beurteilung der 3.
Wirkung der Pfle- Festlegung
ge auf den pfle- der
gebedürftigen Pflegeziele
Menschen

6
4.
5.
Planung
Durchführung
der Pflege-
der Pflege
maßnahmen

Beispiel:
6. Maßnahmenbeurteilung = (Vergleich zwischen
1. Informationssammlung = (Erfassen der Soll- und Ist-Zustand)
Ist-Situation) Die Birne sitzt korrekt in der Fassung, das Licht
Eine Person betritt das Wohnzimmer, um ein Buch brennt, das Lesen im Raum ist wieder möglich.
zu lesen. Der Raum ist dunkel, das Licht im Raum Das Ziel bzw. der Soll-Zustand ist erreicht.
kann nicht angeschaltet werden, es funktioniert Der Problemlösungsprozess ist erfolgreich abge-
nicht. schlossen.
2. Problemformulierung und Erkennen von Ressour-
cen = (Definition des Problems) In Tab. 6.1 werden die einzelnen Schritte der Vier-,
Das Lesen im Zimmer ist unmöglich, da das Licht Fünf- und Sechs-Phasen-Pflegeprozess-Modelle zur
nicht anzuschalten ist. Die Glühbirne ist defekt. Es Veranschaulichung gegenübergestellt.
ist eine Glühbirne als Reserve im Haus (Erkennen Alle vorgestellten Modelle gehen übereinstim-
der Ressourcen). mend davon aus, dass es sich bei dem Pflegeprozess
3. Zielfestlegung = (Formulierung des Soll-Zustan- um einen dynamischen, zyklischen Vorgang handelt.
des) Die einzelnen Schritte bzw. Phasen bauen jeweils
Der Raum ist beleuchtet. Das Lesen im Raum ist aufeinander auf. Die pflegerische Versorgung passt
wieder möglich. sich beim Arbeiten nach dem Pflegeprozess kontinu-
4. Maßnahmenplanung = (Suche nach Entschei- ierlich den Bedürfnissen des zu pflegenden Men-
dungs- und Lösungsmöglichkeiten) schen und seiner Umwelt an, bis dieser die Pflege
Die Glühbirne mit der entsprechenden Wattzahl nicht mehr benötigt.
auswählen. Kann ich die Birne selbstständig aus- Alle drei Modelle enthalten folgende fünf Haupt-
tauschen oder brauche ich eine Hilfsperson? Wer- komponenten:
den Hilfsmittel, z. B. eine Leiter, benötigt? 1. Erfassen der Situation des betroffenen Menschen,
5. Durchführung der geplanten Maßnahmen 2. Planen der Pflege,
Das Warten auf eine Hilfsperson ist nicht notwen- 3. Durchführung der geplanten Pflege und die
dig. Die Glühlampe wird unter Zuhilfenahme einer 4. Auswertung der durchgeführten Pflege, sowie
Leiter ausgetauscht. 5. Anpassung an den aktuellen Pflegebedarf.

BAND 1 Pflege und Profession 171


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

Tab. 6.1 Gegenüberstellung der Pflegeprozess-Modelle

Vier-Phasen-Modell Fünf-Phasen-Modell Sechs-Phasen-Modell

1. Einschätzen des Pflegebedarfs 1. Einschätzung 1. Informationssammlung


2. Diagnose 2. Erkennen von Pflegeproblemen und Ressourcen

2. Planen der Pflege 3. Planung 3. Festlegen der Pflegeziele


4. Planung der Pflegemaßnahmen

3. Durchführung der Pflege 4. Umsetzung 5. Durchführung der Pflege

4. Evaluieren der Pflege 5. Auswertung 6. Beurteilung der Wirkung der Pflege

!
Merke: Der Pflegeprozess ist eine wissen- und Neuanpassung enthalten“ (Fiechter und Meier
6 schaftliche, systematische, zielgerichtete, 1998).
kontinuierliche und dynamische Methode Pflege ist für sie darüber hinaus „ein zwischen-
der Pflege zur Problemlösung. Er beginnt mit dem ers- menschlicher Beziehungsprozess, bei dem zwei Per-
ten Kontakt der Pflegeperson mit der zu betreuenden sonen (Pflegender und Gepflegter) zueinander in
Person und endet mit dem letzten Kontakt zu diesem Kontakt treten, um ein gemeinsames Ziel, das Pfle-
Menschen. Die einzelnen Schritte bzw. Phasen des Pfle- geziel, zu erreichen. Schwester und Patient stehen
geprozesses bauen logisch aufeinander auf und stehen zueinander in einer Wechselwirkung und beeinflus-
in einer Wechselbeziehung zueinander. sen ihr Verhalten gegenseitig. Beide sind in ihren
Wahrnehmungen von verschiedenen Faktoren, die
Zusammenfassung: in der gegenwärtigen Situation liegen oder aus der
Modelle des Pflegeprozesses persönlichen Lebensgeschichte stammen, beein-
■ unterscheiden sich weniger im Inhalt als in ihrer flusst“ (Fiechter und Meier 1998).
Gliederung, Diese Definition enthält die beiden zentralen
■ zeichnen sich durch Wechselbeziehungen zwischen Aussagen:
den einzelnen Phasen (dynamischer Prozess) aus ■ Der Pflegeprozess ist eine systematische, zielge-
und richtete Methode zur Problemlösung. Bei der
■ werden zyklisch durchlaufen, bis kein weiterer Pflege von Menschen muss ein rationaler Pro-
Handlungsbedarf besteht. blemlösungsansatz eingesetzt werden.
■ Der Pflegeprozess ist ein zwischenmenschlicher
Beziehungsprozess, bei dem eine Pflegeperson
6.4 Pflegeprozess als und ein hilfsbedürftiger Mensch in Beziehung zu-
Problemlösungs- und einander treten. Er ist auf alle Altersgruppen von
Beziehungsprozess Menschen, Neugeborene, Kleinkinder, Jugend-
liche, Erwachsene oder alte Menschen, anwend-
Verena Fiechter und Martha Meier beschreiben den bar. Nicht nur die betroffene hilfsbedürftige Per-
Pflegeprozess nicht nur als Problemlösungs-, son- son, sondern auch deren soziales Umfeld, wie
dern auch als Beziehungsprozess. Für sie verfolgt Angehörige, Lebenspartner, Freunde, Nachbarn
der Pflegeprozess das Ziel, auf systematische Art oder sonstige Personen, welche in die Pflege in-
und Weise dem Bedürfnis des Patienten nach pfle- tegriert sind, sollen in den Prozess mit einbezo-
gerischer Betreuung zu entsprechen. gen werden, damit auch sie sich – wenn nötig –
Der Pflegeprozess besteht „aus einer Reihe von zu bestehenden Problemen, Gewohnheiten und
logischen, voneinander abhängigen Überlegungs-, vorhandenen Fähigkeiten äußern können.
Entscheidungs- und Handlungsschritten, die auf
eine Problemlösung, also auf ein Ziel hin, ausgerichtet Als Methode zur Problemlösung (Problemlösungs-
sind und im Sinne eines Regelkreises einen Rückkop- prozess) beinhaltet der Pflegeprozess die Vorausset-
pelungseffekt (Feedback) in Form von Beurteilung zung für wissenschaftliches, methodisches Vor-
gehen. Die Arbeitsweise muss organisiert und struk-

172 Pflege und Profession BAND 1


6.4 Pflegeprozess als Problemlösungs- und Beziehungsprozess

turiert sein (s. a. 6.2.2). Außerdem wird durch syste- Sie muss geprägt sein von gegenseitiger Akzep-
matisches Pflegen eine gleichbleibende Pflegequali- tanz auch bei unterschiedlichen Werten und Nor-
tät gewährleistet, der Pflegebedarf der einzelnen men, von Aufmerksamkeit, Engagement, von der Be-
Person wird genau dargelegt und begründet. reitschaft zur Unterstützung, von Zuwendung und
Der Pflegeprozess gibt somit ein System vor, das Anteilnahme. Hierdurch entsteht eine Atmosphäre,
sich jede Pflegeperson zu Eigen machen sollte, um in der Vertrauen und Wohlbefinden der hilfsbedürf-
ein systematisches, organisiertes, strukturiertes, ko- tigen Person wachsen kann; die Lebenskräfte, Reser-
ordiniertes und kontinuierliches Pflegen zu ermög- ven und Energien werden für den Genesungsprozess
lichen. aktiviert. Diese Atmosphäre gibt Raum für eine of-
Der Pflegeprozess verläuft darüber hinaus zielge- fene Begegnung, in der der betreute Mensch Fragen
richtet. Menschen, die auf Grund einer Erkrankung stellen und seine Wünsche, Bedürfnisse und Be-
in eine Abhängigkeit geraten sind, wird durch be- fürchtungen mitteilen und somit aktiv in den Pfle-
wusstes pflegerisches Handeln im Rahmen des Pfle- geprozess einbezogen werden kann. Auf diese Weise
geprozesses geholfen, ihren persönlichen Bedürfnis- können nicht nur die physischen, sondern auch die
6
sen des alltäglichen Lebens gerecht zu werden. psychischen Belange eines Menschen Berücksichti-
Die wissenschaftliche Methode der Problemlö- gung finden und Fehleinschätzungen von Seiten der
sung dient als Hilfsmittel für die Beschreibung und Pflegenden reduziert werden (Sieger et al. 2010).
Bewertung der Pflege. Mit Hilfe des Pflegeprozesses In allen Phasen des Pflegeprozesses wird die zwi-
können die Aufgaben und Tätigkeiten der Pflege schenmenschliche Beziehung zwischen Pflegeper-
transparent dargestellt und der Erfolg überprüft son und zu Pflegenden – in unterschiedlicher Inten-
werden. Die Pflege als Berufsgruppe kann ihren ei- sität – entwickelt. Die Aufnahme und Entwicklung
genen Aufgabenbereich verdeutlichen, sich gegen- einer erfolgreichen pflegerischen Beziehung ist an
über anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen verschiedene Bedingungen geknüpft.
abgrenzen und vor allem die Zusammenarbeit mit So muss die Pflegeperson sich ihrer eigenen Per-
den Personen, die ihre Dienstleistung in Anspruch sönlichkeit bewusst sein. Dazu gehört auch die Fä-
nehmen, verbessern. higkeit, Faktoren zu kennen, die menschliches Ver-
Der Pflegeprozess gestaltet sich auch als ein dy- halten beeinflussen. Pflegepersonen sind darüber
namischer Beziehungsprozess. Durch ihn werden hinaus gefordert, ihr eigenes Erleben und ihre Ge-
die intersubjektiven (zwischenmenschlichen) und fühle ehrlich wahrzunehmen, sie sich bewusst zu
intrasubjektiven (innermenschlichen) Dimensionen machen und kontinuierlich zu reflektieren.
deutlich, die bei jedem Aufeinandertreffen von Men- Auch Meinungen, Überzeugungen und Einstel-
schen stattfinden. lungen zu Themen wie Krankheit, Gesundheit, Alter,
Der Pflegeprozess wird nur dann optimal und Tod, Geburt, Drogenkonsum, etc. müssen bewusst
somit effektiv durchlaufen, wenn auch eine erfolg- reflektiert werden, da sie die Haltung gegenüber
reiche zwischenmenschliche Beziehung zwischen einem anderen Menschen beeinflussen. Diese Refle-
der Pflegeperson und der zu betreuenden Person xion ermöglicht einen beruflichen wie auch persön-
besteht.

Abb. 6.5 Pflegeprozess als Problem-


Pflegeprozess als Problemlšsungs- und Beziehungsprozess lösungs- und Beziehungsprozess

Problemlšsungsprozess Beziehungsprozess
Ð zielgerichtet Ð offene Begegnung
Ð systematisch Ð aktiviert Ressourcen
Ð logisch Ð BedŸrfnisse und WŸnsche kšnnen
Ð transparent artikuliert werden

QualitŠt der Pflege steigt Reflexion der eigenen Haltung


Aufgabenbereiche der Pflege Persšnlicher Reifungsprozess
werden transparent Professionelle Haltung
Pflegeforschung wird mšglich

BAND 1 Pflege und Profession 173


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

lichen Reifungsprozess und die Entwicklung einer tenerhebung im Rahmen der Informationssamm-
professionellen Haltung gegenüber pflegebedürfti- lung unterschieden.
gen Menschen. Letztlich können Pflegepersonen Die gesammelten Informationen sind die Basis
nur so auf die sich immer wieder verändernden Le- für alle weiteren Schritte im Pflegeprozess. Nur
benssituationen der einzelnen Menschen eingehen. wenn alle pflegerelevanten Informationen bekannt
Der Pflegeprozess ist nicht nur eine systemati- sind, können Pflegeprobleme, Ressourcen und Pfle-
sche, logische Methode der Pflege, sondern auch geziele richtig erkannt und benannt, sowie die ge-
ein Beziehungsprozess zwischen zu Pflegenden und eigneten Pflegemaßnahmen ausgewählt werden.
professionell Pflegenden. Er lebt von der Interaktion Nur dann besteht Aussicht auf Erfolg der Pflege.
beider Partner und dient als Strukturierungshilfe,
die mit den konkreten Inhalten der jeweiligen Pflege ▌ Objektive und subjektive Daten
gefüllt werden muss (Abb. 6.5). Im Rahmen der Informationssammlung wird zwi-
schen objektiven und subjektiven Daten unterschie-
den.
6 6.5 Schritte des Pflegeprozesses Unter objektiven Daten werden Daten bezie-
hungsweise Informationen verstanden, die unvor-
Im Folgenden werden die Schritte des Pflegeprozes- eingenommen und unparteiisch, ohne persönliche
ses näher beschrieben. Dabei wird das Modell des Wertung und nicht von persönlichen Gefühlen und
Pflegeprozesses nach Fiechter und Meier zugrunde Vorurteilen bestimmt sind. Sie sind unabhängig von
gelegt, da ihr Modell im deutschsprachigen Raum einer subjektiven Sichtweise. Zu den objektiven
häufig angewandt wird. Daten gehören alle messbaren Werte. Würde eine
zweite Person bei übereinstimmenden Bedingungen
6.5.1 Informationssammlung die Daten bei der gleichen Person ermitteln, käme
Der erste Schritt im Pflegeprozess nach Fiechter und sie zu identischen Ergebnissen.
Meier ist die Informationssammlung.
Beispiel: Objektive Daten sind die Körper-
Definition: Das Wort Information stammt von größe, das Körpergewicht, die Körpertem-
dem lateinischen „informatio“, was so viel wie peratur, die Blutdruckwerte, die Pulsfre-
„Bildung“ oder „Belehrung“ bedeutet. Im Be- quenz, die Menge der Flüssigkeitsein- und -ausfuhr,
reich der Kommunikation ist die Information eine alle Laborwerte, Pupillenreaktion, etc.
Mitteilung, Nachricht oder Auskunft.
Subjektive Daten hingegen sind immer auf ein Sub-
Informationen über den pflegebedürftigen Men- jekt bezogen, sie sind vom Subjekt ausgehend und
schen können durch die Erhebung von Daten, zum von diesem abhängig. Subjektive Daten sind von Ge-
Beispiel im Rahmen von Messungen, Beobachtungen fühlen, Stimmungen und Urteilen bestimmt, also
oder Befragungen gewonnen werden (s. a. Band 2, bewertet und parteiisch. So kann ein und derselbe
Kap. 3). Ziel und Zweck einer umfassenden Informa- ausgelöste Schmerzreiz (gleiche Dauer, dieselbe In-
tionssammlung in der Pflege ist es, den zu pflegen- tensität, gleiche Lokalisation) von mehreren Per-
den Menschen kennenzulernen und seine Gesund- sonen unterschiedlich stark empfunden werden.
heits- bzw. Krankheitssituation so vollständig wie Subjektive Daten sind Äußerungen über ein Empfin-
möglich zu erfassen. den.
Die Informationssammlung ist ein kontinuierli-
cher Prozess. Sie findet bei der ersten und bei jeder Beispiel: Subjektive Daten können Äuße-
weiteren Interaktion mit dem zu betreuenden Men- rungen über Schmerzen, Ängste, Einsamkeit,
schen statt. Informationen beziehungsweise Daten Müdigkeit, Zukunftssorgen oder Erwartun-
können unterschiedlich klassifiziert werden. Unter- gen und Vorstellungen sein.
schieden werden objektive, subjektive, direkte und
indirekte Daten. Ebenso werden Beobachtungen der
hilfsbedürftigen Menschen und Gespräche mit
ihnen und ihren Angehörigen als Methoden der Da-

174 Pflege und Profession BAND 1


6.5 Schritte des Pflegeprozesses

Subjektive Daten müssen neutral zugeordnet und


als subjektive Informationen gekennzeichnet wer-
P Provokative und palliative Umstände
Was taten Sie gerade, als das Symptom zum
den. Dies kann durch den Zusatz „Laut Aussage des ersten Mal auf trat oder Sie es erstmals
Patienten“ o. ä. geschehen. bemerkten ? Wodurch wird es verstärkt:
durch Stress? eine bestimmte Körperhaltung ?
Um subjektiv geäußerte Informationen besser bestimmte Aktivitäten ? Streit ?
zuordnen zu können, ist genaues Nachfragen erfor- Was verschlimmert das Symptom ?
derlich. Hierdurch werden subjektive Informationen W as schwächt das Symptom ab: eine andere
Ernährung? veränderte Körperhaltung oder
so genau wie möglich beschrieben und damit für Position ? die Einnahme von Medikamenten ?
andere Personen nachvollziehbar. aktiv sein?

Beispiel: Subjektive Äußerungen, wie: „Ich


Q Qualität und Quantität
Wie würden Sie das Symptom beschreiben –
musste mich ständig übergeben“, können wie fühlt es sich an, wie sieht es aus, wie hört
es sich an ?
durch Nachfragen „Wie oft mussten Sie sich Wie stark spüren Sie es im Augenblick ? Ist es
in der letzten Stunde übergeben?“ eingegrenzt und so stark, dass es Sie an jeder Aktivität hindert?
Ist es stärker oder schwächer , als Sie es früher 6
geklärt werden. Dabei kann u. a. herausgefunden
empfanden ?
werden, wann der Patient sich das erste Mal überge-
ben musste, oder ob ein Zusammenhang mit der Auf- R R egion und Radiation
nahme von Nahrungsmitteln, einer Medikamenten- W o tritt das Sym ptom auf ?
Strahlt es aus ? Bewegt sich der Schmerz den
einnahme oder Stresssituationen besteht. Rücken oder den Armen, den Nacken oder den
Beinen entlang?
In diesem Zusammenhang wird auch von der größt-
möglichen Objektivierung subjektiver Informatio-
S Schwereskala
Wo würden Sie die Schmerzen auf einer Skala
nen gesprochen. Die „PQRST-Gedächtnisstütze“ von 1 bis 10 einordnen, wenn die 10 den stärk -
sten Schmerz bezeichnet ? Zwingt Sie der
kann als Hilfsmittel zur Klärung von subjektiven In-
Schmerz, sich hinzulegen, sich zu setzen oder
formationen eingesetzt werden (Abb. 6.6). langsamer zu werden ?
Subjektive Aussagen können durch den Einsatz Scheint sich das Symptom zu bessern, zu ver-
schlechtern, oder bleibt es ziemlich gleich ?
von Hilfsmitteln objektiviert werden. Die subjektiv
empfundene Schmerzintensität lässt sich beispiels- T Timing
weise von dem betroffenen Menschen auf einer An welchem Tag trat das Symptom zum ersten
Mal auf ? Um wieviel Uhr hat es angefangen ?
Skala von 1 – 10 einschätzen. Auf diese Weise kann Wie fing das Symptom an: plötzlich? allmählich?
bei erneutem Auftreten von Schmerzen leichter eine Wie oft spüren Sie das Symptom: stündlich ?
Vergleichsbeurteilung erreicht werden. täglic h ? wöchentlich ? monatlich ?
Wann tritt es meist auf: untertags ? abends? am
Ein weiterer Aspekt im Zusammenhang mit sub- frühen Morgen ? Weckt es Sie auf ? Tritt es vor,
jektiven Daten bzw. Informationen ist der subjektive während oder nach dem Essen auf ? Tritt es
Eindruck von Pflegepersonen bezüglich bestimmter periodisch auf ?
Wie lange hält das Symptom an ?
Sachverhalte oder anderer Personen. Auch Empfin-
dungen, Wertungen und Eindrücke von Pflegeper- Abb. 6.6 Von der subjektiven zur objektiven Information – Die
sonen bezüglich der Situation eines Menschen müs- PQRST-Gedächtnisstütze
sen in der mündlichen und schriftlichen Dokumen-
tation und Informationsweitergabe als subjektive
▌ Direkte und indirekte Daten
Eindrücke gekennzeichnet werden, z. B. „Frau Z.
wirkt heute auf mich sehr niedergeschlagen“. Die Unterscheidung zwischen direkten oder indirek-
ten Daten gibt Auskunft darüber, aus welcher Daten-

!
Merke: Zu den objektiven Daten gehören quelle die Informationen stammen. Direkte Daten
alle messbaren Werte. Zu den subjektiven stammen direkt von dem entsprechenden pflegebe-
Daten werden alle Informationen, die dürftigen Menschen, deshalb werden sie auch als
durch die Aussagen von der zu betreuenden Person Daten „aus erster Hand“ bzw. primäre Daten be-
über ihr jeweiliges Empfinden erhoben werden, ge- zeichnet. Grundsätzlich können direkte Daten so-
rechnet. Sie sind nicht messbar.

BAND 1 Pflege und Profession 175


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

wohl objektiv als auch subjektiv sein. Da sie direkt ▌ Methoden der Datenerhebung
vom betroffenen Menschen stammen, haben sie na- Zu den Methoden der Datenerhebung im Rahmen
turgemäß eine hohe Aussagekraft. Dabei spielen der Informationssammlung gehören die Beobach-
neben verbalen auch nonverbale Äußerungen, zum tung des Menschen sowie Gespräche, insbesondere
Beispiel mittels der Mimik, Gestik, Körperhaltung, das Aufnahmegespräch.
etc. eine Rolle. Sie müssen gemeinsam mit dem be-
troffenen Menschen auf ihre Bedeutung hin einge- ▌ Beobachtung
ordnet werden. Als Beobachtung wird das aufmerksame und be-
Indirekte Daten werden aus sogenannten Sekun- wusste, zielgerichtete und systematische Wahrneh-
därquellen gewonnen. Die Information kann nur in- men eines Zustandes, Verhaltens oder einer Situati-
direkt, das heißt „aus zweiter Hand“ erhoben wer- on bezeichnet. Beobachtung geschieht über die
den. Auch sie können objektiver oder subjektiver Sinne und kann durch Hilfsmittel und technische
Natur sein. Indirekte Daten werden von Drittper- Geräte unterstützt werden. Zu den Sinnen werden
sonen, zum Beispiel Verwandten, Lebenspartnern, gerechnet:
6
Freunden, Nachbarn, Pflegepersonal, Ärzten etc. ge- ■ Sehen (optischer Sinn),
wonnen. Auch Patientendokumente wie Kurven, ■ Hören (akustischer Sinn),
Überweisungsbögen, Anamnesebögen, Kranken- ■ Tasten (haptischer, taktiler Sinn),
geschichte, Befunde jeglicher Art etc. können Quel- ■ Riechen (olfaktorischer Sinn),
len für indirekte Daten sein. ■ Schmecken (gustatorischer Sinn).
Ein vollständiges Bild der Situation des betroffe-
nen Menschen kann nur entstehen, wenn so viele Je mehr Sinne aktiviert und eingesetzt werden,
Datenquellen wie möglich genutzt werden. desto differenzierter und umfassender ist die Beob-
achtung.

!
Merke: Direkte Daten beziehungsweise In- Die Beobachtung unterliegt wie die Wahrneh-
formationen werden direkt vom betroffenen mung verschiedenen Einflussfaktoren. Hierzu gehö-
Menschen erhoben. Dieser stellt hierbei die ren physische Faktoren, wie z. B. Müdigkeit, psy-
primäre Quelle der Information dar. Indirekte Daten chische Faktoren, z. B. Liebeskummer oder äußere
werden aus Sekundärquellen, also von anderen Per- Rahmenbedingungen, die sich auf die Qualität der
sonen oder aus schriftlichen Aufzeichnungen gewon- Beobachtung auswirken (s. a. Band 2, Kap. 1 u. 2).
nen. Auch sollten sich beobachtende Pflegepersonen
darüber im Klaren sein, dass es sich in einer Pflege-
▌ Assessment-Instrumente situation meist um eine teilnehmende Beobachtung
Derzeit haben sich einige Assessment-Instrumente handelt. Bei der teilnehmenden Beobachtung nimmt
beim Feststellen des tatsächlichen Pflegebedarfs in der Beobachter durch seine Anwesenheit auf die be-
der Praxis bewährt. Der Begriff „Assessment“ obachtete Situation Einfluss. Es ist wichtig, seine ei-
stammt aus der englischen Sprache und bedeutet genen Gefühle und das eigene Verhalten als Ein-
(Ein-)Schätzung. Im deutschsprachigen Raum wer- flussfaktoren auf die Qualität der Beobachtung zu
den Assessment-Instrumente zur systematischen kennen. Es hängt zu einem großen Teil von dem
Erhebung des speziellen Pflegebedarfs von Patien- Beobachter ab, was er sieht und was er sehen möch-
tengruppen, z. B. in der Pädiatrie, Onkologie oder te.
Gerontologie und in Form von Skalen zur Einschät- Im Zusammenhang mit der Beobachtung ist auch
zung bestimmter Risiken eines pflegebedürftigen die körperliche Untersuchung, das Messen und Er-
Menschen, z. B. des Thromboserisikos (s. Bd. 4; mitteln von pflegerelevanten physischen Daten bei
Kap. 13) eingesetzt. Einschätzungsinstrumente hel- der Informationssammlung von Bedeutung.
fen, die Aufmerksamkeit für pflegerelevante Daten Durch den Einsatz von Hilfsmitteln werden ob-
zu erhöhen. Beachtet werden muss jedoch, dass jektive Parameter, wie zum Beispiel der Blutdruck-
nicht alle Instrumente ausreichend wissenschaftlich wert, die Pulsfrequenz, das Körpergewicht, die Kör-
fundiert sind und sie damit in Bezug auf ihre Vali- pergröße, die Körpertemperatur, die Atemfrequenz
dität jeweils kritisch überprüft werden müssen. etc. festgestellt. Das Erfassen dieser körperlichen Pa-
rameter kann in ein Aufnahmegespräch zwischen

176 Pflege und Profession BAND 1


6.5 Schritte des Pflegeprozesses

Pflegeperson und pflegebedürftigen Menschen inte- Teambesprechungen, bei der Verrichtung einer Pfle-
griert werden. getätigkeit oder dem Besuch eines Angehörigen etc.
Eine Reihe von Hilfsmitteln können in der Pflege Dabei spielt das Erstgespräch zwischen pflegebe-
zur Messung eingesetzt werden, z. B. Blutdruck- dürftigem Menschen und betreuender Pflegeperson
messgerät, Stethoskop, Pulsuhr, Waage, Messlatte, eine besondere Rolle, da dabei die pflegerische Be-
Thermometer etc. ziehung beginnt.
Die so ermittelten Informationen gehören zu den Für das Gespräch zur Informationssammlung
objektiven Daten. Auch Wunden, Bewegungsein- zwischen Pflegeperson und pflegebedürftigem
schränkungen des pflegebedürftigen Menschen Menschen gibt es verschiedene sprachliche Begriffe.
o. Ä. müssen im Rahmen der Informationssammlung Dementsprechend sind die entsprechenden Formu-
(Abb. 6.7) so präzise wie möglich beschrieben wer- lare für die Dokumentation der Informationen, wel-
den (s. a. Band 2). che aus diesem Gespräch entnommen werden, un-
terschiedlich überschrieben.

!
Merke: Beobachten ist das aufmerksame
6
!
und bewusste, zielgerichtete und systemati- Merke: Die Begriffe Aufnahmegespräch und
sche Wahrnehmen eines Zustandes, Verhal- Pflegeanamnese werden oft synonym ver-
tens oder einer Situation. Beim Beobachten werden wendet.
alle Sinnesorgane aktiviert. Ziel der Beobachtung in
der Pflege ist es, Informationen zu erhalten, um die Sobald ein pflegebedürftiger Mensch im Kranken-
Situation und den Zustand eines Menschen genau er- haus oder Pflegeheim aufgenommen ist oder der
fassen zu können. erste Besuch in der häuslichen Pflege stattgefunden
hat, sollte das Anamnesegespräch geplant werden.
▌ Aufnahmegespräch Dabei sind auch Angehörige in das Gespräch ein-
Es gibt viele Gesprächssituationen, in denen Infor- zubeziehen. Der Inhalt, Ablauf und zeitliche Umfang
mationen ausgetauscht werden, zum Beispiel zwi- des Gespräches ist in starker Weise von dem Befin-
schen pflegebedürftigem Menschen und Pflegeper- den und den Bedürfnissen des zu Pflegenden und
son, Angehörigen und anderen an der Pflege Betei- seiner Angehörigen abhängig.
ligten oder zwischen der Pflegeperson und den An- In der Regel findet das Aufnahmegespräch im
gehörigen. Diese Gesprächssituationen ergeben sich Krankenhaus nach einer kurzen Ruhepause, im An-
bei der Pflegevisite, bei der Dienstübergabe, den schluss an die ärztliche Aufnahme, statt. Lässt der
Zustand des pflegebedürftigen Menschen kein Ge-
spräch zu, kann es auf einen späteren Termin ver-
schoben werden. Dieser sollte auf Normalstationen
Informationen im Pflegeprozess
Ziel: genaues Erfassen der Situation und des Zustan- jedoch innerhalb der ersten 24 Stunden nach der
des eines Menschen Aufnahme liegen.
Um auf das Gespräch gut vorbereitet zu sein,
Daten sollten zuvor die Einweisungspapiere mit der Ein-
weisungsdiagnose und evtl. durchgeführten Unter-
objektive Daten subjektive Daten
suchungen und deren Ergebnisse von der Pflegeper-
son gesichtet werden. Für das gegenseitige Kennen-
Daten lernen ist ein angenehmes Klima während der Ge-
sprächssituation sehr fördernd.
direkte Daten indirekte Daten Zum Gespräch gehört, dass sich die Pflegeperson
mit Namen vorstellt und ihre berufliche Qualifikation
Methoden der Datenerhebung: nennt. Sie weist den pflegebedürftigen Menschen auf
Ð Beobachtung (inkl. Messung, kšrperliche Unter-
seinen privaten Bereich für die Zeit des Krankenhaus-
suchung)
Ð GesprŠch aufenthaltes hin, nennt die zuständigen Pflegeper-
sonen und Stationsärzte, bespricht den Stationsablauf
Abb. 6.7 Datenerhebung in der Informationssammlung und das weitere Vorgehen bei der Diagnose oder The-
rapie und zeigt die Räumlichkeiten der Station.

BAND 1 Pflege und Profession 177


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

Um eine entspannte Atmosphäre zu schaffen, ist den. Die Ergebnisse des Gesprächs werden auf
es nützlich, eine Sitzgruppe oder einen anderen einem entsprechenden Formular schriftlich doku-
Raum aufzusuchen. Ist dies nicht möglich, sollten mentiert (Abb. 6.8).
mobile Mitpatienten aus dem Zimmer gebeten wer-

!
den. Der gemeinsame Austausch sollte nicht unter- Merke: Dem Aufnahmegespräch kommt bei
brochen werden. Um Ablenkungen von außen zu der Datenerhebung eine wichtige Rolle zu, da
vermeiden, kann ein Schild „Bitte nicht stören“ an es meist die erste längere Begegnung zwi-
der Zimmertür angebracht werden. schen Pflegeperson und pflegebedürftigem Menschen
Während der Besprechung sollten auf keinen Fall ist.
gleichzeitig Pflegeinterventionen durchgeführt wer-
den. Die Pflegeperson informiert die am Gespräch ▌ Dokumentation der erhobenen Daten
teilnehmenden Personen über Sinn, Inhalt und Die Dokumentation der erhobenen Daten sollte di-
Dauer des Gesprächs. Das Gespräch sollte ruhig, ent- rekt im Anschluss an die Informationssammlung er-
spannt, aber mit Aufmerksamkeit und voller Kon- folgen. Dabei muss die Vollständigkeit der erhobe-
6
zentration durchgeführt werden. Nur so können nen Daten gewährleistet sein. Es sind bestimmte
sich die Gesprächspartner ganz auf den Dialog mit Kriterien zu berücksichtigen, um ein einheitliches
ihrem Gegenüber einlassen. Vorgehen aller an der Dokumentation beteiligten
Die Pflegeperson leitet das Gespräch und achtet Personen zu gewährleisten.
dabei gleichzeitig auf verbale und nonverbale Äuße- Es wird kurz, knapp, klar und präzise formuliert.
rungen ihres Gesprächspartners. Der pflegebedürf- Dabei müssen die Daten, wenn sie Eigeneinschätzun-
tige Mensch soll die Möglichkeit haben, ihn beschäf- gen, Wertungen oder Interpretationen enthalten,
tigende Fragen zu stellen. entsprechend als subjektive Daten gekennzeichnet
Die Pflegeperson macht sich während des Ge- werden. Dies gilt gleichermaßen für Aussagen der
spräches ein Bild von der aktuellen Situation, den pflegebedürftigen Menschen oder der Angehörigen
Fähigkeiten, Problemen und den momentanen Le- wie für subjektive Eindrücke des Pflegepersonals.
bensgewohnheiten des pflegebedürftigen Men- Die Schrift muss für alle am Pflegeprozess Betei-
schen. Gute Fachkenntnisse und eine geschulte Be- ligten lesbar sein. Jeder Eintrag wird mit Datum,
obachtungsgabe sind hierfür Voraussetzungen. Uhrzeit und einer Unterschrift bzw. einem Handzei-
Ziel des Gespräches ist es, ein Vertrauensverhält- chen versehen. Sobald von der Norm abweichende
nis aufzubauen, auf dessen Basis die aufgenommene Daten erhoben werden, sind diese sofort dem Arzt
Person sich auf detaillierte Aussagen einlassen kann. und den weiteren betreuenden Personen des profes-
Dabei sollten überwiegend offene Fragen gestellt sionellen Teams zu melden.
werden, die dem Gesprächspartner Gelegenheit ge- Bei der fortlaufenden Informationserhebung
ben, seine Belange mit seinen Worten zu äußern. werden die Reaktionen auf die Behandlung im Kur-
Durch aktives Zuhören und eine offene Körperhal- venblatt und dem Pflegebericht dokumentiert. Jede
tung signalisiert die Pflegeperson ihr Interesse an Zustandsveränderung wird eingetragen und mit der
ihrem Gesprächspartner (s. a. Kap. 10). Wichtig ist Situation am Aufnahmetag oder den gesetzten pfle-
hierbei eine vorurteilsfreie und empathische Hal- gerischen Zielen verglichen. Gegebenenfalls erfor-
tung der Pflegeperson, damit der zu Pflegende dert die fortlaufende Informationssammlung eine
seine Wünsche und Probleme offen ansprechen Änderung im Pflegeplan (s. a. 6.5.4).
kann.
Auf keinen Fall sollte ein „Frage- und Antwort- Zusammenfassung:
spiel“ entstehen, weshalb in diesem Zusammenhang Informationssammlung
auf einen kritischen Umgang mit standardisierten ■ Für die Informationssammlung ist eine gute Vor-
Fragebögen hingewiesen wird. Checklisten über die bereitung und geplante Durchführung ebenso
einzelnen Problem- und Lebensbereiche können als wichtig wie die Pflegeanamnese.
Strukturierungshilfe unterstützend bei den ersten ■ Die im Gespräch gewonnenen Informationen wer-
Gesprächen hinzugenommen werden. Sie dienen je- den anschließend im Pflege-Aufnahme-Protokoll
doch lediglich als Merkhilfe und dürfen nicht wie festgehalten:
beim Fragebogen Punkt für Punkt „abgehakt“ wer-

178 Pflege und Profession BAND 1


6.5 Schritte des Pflegeprozesses

Fallsituation:
Frau Perlinger ist 72 Jahre alt und lebt seit 10 Jahren mit ihrem vier Jahre jüngeren Lebenspartner Herrn Moser in einer 4-Zimmer-Wohnung im
Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses am Stadtrand. Frau Perlinger hat einen Sohn, der ca. 20 km entfernt mit seiner Familie in einem kleinen
Dorf wohnt, ihre Tochter lebt in den USA. Ihre Tochter sieht sie aufgrund der Entfernung nur sehr selten, pflegt aber über Skype eine enge Ver-
bindung mit ihr und ihren Enkelkindern. Ihr Sohn besucht sie und ihren Lebenspartner mindestens einmal in der Woche, um sie bei den Einkäufen
und bei der Pflege des kleinen Schrebergartens zu unterstützen.
Vor drei Jahren stürzte Frau Perlinger beim nächtlichen Toilettengang und zog sich eine Oberschenkelhalsfraktur rechts zu. Frau Perlinger bekam
damals aufgrund ihres Alters eine zementierte Hüft-TEP implantiert. Sie war anschließend in der Rehabilitationsklinik und kann ihr Bein normal
belasten. Frau Perlinger hat eine bekannte globale Herzinsuffizienz, die medikamentös gut eingestellt ist.
Herr Moser berichtet, dass seine Lebenspartnerin nach dem damaligen Klinikaufenthalt jedoch körperlich sehr abgebaut hat. Sie hat Angst zu
stürzen und geht deshalb auch nicht mehr oft aus dem Haus. Frau Perlinger wurde vor zwei Tagen wegen Exsikkose und allgemeiner Schwäche in
die Klinik eingewiesen. Sie hat zu Hause kaum noch etwas getrunken und auch nur wenig gegessen. Als ihr Sohn zu Besuch kam, fand er sie im
Sessel sitzend vor und seine Mutter wirkte leicht desorientiert.
Frau Perlinger berichtet im Erstgespräch auf die Nachfrage, warum sie so wenig getrunken habe, dass sie Schmerzen beim Wasserlassen hatte und
sie diese durch das wenige Trinken vermeiden wollte. In ungewohnter Umgebung klagt Frau Perlinger immer wieder über Ein- und Durchschlafstö-
rungen. Seit zwei Jahren besitzt sie einen Rollator, an dem sie kurze Strecken sicher und ohne Belastungsdyspnoe gehen kann.

6
trägt Hörgerät, hat
Lydia Perlinger, 72 Jahre dieses aber oft nicht
weiblich eingeschaltet
Exsikkose, reduzierter
Allgemeinzustand

fühlt sich derzeit


schwach und kraftlos
„möchte in Ruhe gelassen
werden“ Frau Perlinger wirkt z.T.
desorientiert,
manche Fragen müssen
mehrmals gestellt
werden

zu Hause bislang selbst-


trinkt gern Fencheltee ständig, aktuell
verspürt kein Hungerge- Übernahme bzw. Hilfe-
fühl, mag keinen Fisch stellung durch eine Pfle-
geperson nötig
Lippen spröde, Mund-
winkel sind eingerissen
sehr trockene Haut,
160 cm 65 kg kein Dekubitus

Zustand nach Hüft TEP


Rollator vorhanden
jedoch starke Bewe-
gungseinschränkung
durch „Angst vor einem
neuerlichen Sturz“ Dysurische Beschwerden
(Schmerzen und Brennen
schläft in fremder Umge- bei der Miktion)
bung schlecht ein, wacht Frau Perlinger verspürt
immer wieder mal auf Harndrang, jedoch muss
macht gerne einen Mit- es dann sehr schnell
tagsschlaf gehen
Stuhlgang alle zwei Tage
morgens

Abb. 6.8 a, b (Fortsetzung ▶)

BAND 1 Pflege und Profession 179


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

160/90 mm Hg möchte einen Internetanschluss am Bett haben


(damit sie mit ihrer Tochter in den USA in Kontakt
bleiben kann)
37,3°C ax.
84/min 09.02.2017
Annegret Hassel 16oo Uhr
in Ruhe
bei Belastung leichte
Dyspnoe

bei Miktion brennende wohnt mit ihrem Lebensge-


Schmerzen fährten in einer Mietswoh-
nung am Stadtrand (EG)
6 Sohn wohnt in der Nähe
(besucht sie regelmäßig
einmal die Woche); Tochter
u. Schwiegersohn wohnen in
den USA

Abb. 6.8 a Fallstudie Frau Perlinger, b Beispiel für ein Pflege-Aufnahme-Protokoll anhand der Fallstudie von Frau Perlinger

– Vollständigkeit der Daten, Im Rahmen des Pflegeprozesses lassen sich fünf


– jeder Eintrag beinhaltet Datum, Uhrzeit und Arten von Pflegeproblemen unterscheiden:
Unterschrift der durchführenden Personen. 1. aktuelle Pflegeprobleme,
2. potenzielle Pflegeprobleme,

!
Merke: Der erste Schritt im Pflegeprozess 3. verdeckte Pflegeprobleme,
nach Fiechter und Meier ist die Informati- 4. generelle Pflegeprobleme und
onssammlung. Die durch Beobachtung, kör- 5. individuelle Pflegeprobleme.
perliche Untersuchung und Gespräche ermittelten ob-
jektiven, subjektiven, direkten und indirekten Daten Ein aktuelles Problem ist real, es ist momentan vor-
sind die Basis für alle weiteren Schritte im Pflegepro- handen und kann durch die Pflegeperson beobachtet
zess. oder durch eine körperliche Untersuchung fest-
gestellt werden. Der pflegebedürftige Mensch ist
6.5.2 Erkennen von Pflegeproblemen und meist in der Lage das aktuelle Problem zu benennen.
Ressourcen des pflegebedürftigen
Menschen Beispiel: Ein aktuelles Problem kann sein:
Der zweite Schritt im Pflegeprozess nach Fiechter Herr M. leidet aufgrund einer Stomatitis
und Meier umfasst das Erkennen von Pflegeproble- unter Schmerzen.
men und Ressourcen des pflegebedürftigen Men- Potenzielle Pflegeprobleme sind mögliche Probleme,
schen. die bei einem pflegebedürftigen Menschen aufgrund
einer spezifischen Situation eintreten können, aber
▌ Pflegeprobleme nicht zwangsläufig eintreten müssen. Sie können
Fiechter und Meier definieren ein Problem als eine durch eine qualifizierte Pflegeperson vorhergesehen
„Beeinträchtigung des Patienten in irgendeinem Le- werden.
bensbereich, die seine Unabhängigkeit einschränkt
und ihn belastet. Wenn er dieses Defizit nicht selber Potenzielle Pflegeprobleme sind momentan nicht
kompensieren kann, braucht er Pflege. Wenn er sel- akut, können aber in Zukunft auftreten. Durch pro-
ber damit fertig wird, ist es weder für ihn noch für phylaktische Maßnahmen kann verhindert werden,
die Schwester ein Problem“ (Fiechter und Meier dass ein potenzielles Problem zu einem aktuellen
1990, S. 49). Problem wird.

180 Pflege und Profession BAND 1


6.5 Schritte des Pflegeprozesses

Beispiel: Ein potenzielles Problem kann lich durch eine vorliegende Bewegungseinschrän-
sein: Herr M. ist aufgrund einer Nahrungs- kung wie eine Hemiplegie beeinträchtigt ist.
und Flüssigkeitskarenz soor- und parotitis- Individuelle Pflegeprobleme dagegen sind cha-
gefährdet. rakteristisch für einen bestimmten Menschen. Sie
sind für ihn typisch und betreffen seine persönliche
Verdeckte Pflegeprobleme sind nicht offenkundig. Lebenssituation und sein persönliches Erleben.
Entweder kennt der betroffene Mensch sie und Individuelle Pflegeprobleme lassen sich nicht ge-
möchte nicht darüber reden oder er ist sich ihrer neralisieren. Sie treten zu generellen Pflegeproble-
nicht bewusst. Die Pflegeperson kann verdeckte men hinzu.
Pflegeprobleme anhand des Verhaltens und der
Stimmungslage eines Menschen lediglich vermuten. Beispiel: Ein individuelles Problem kann
Ein Vertrauensverhältnis zwischen Pflegeperson sein: Herr M. kann sich aufgrund seiner
und der zu betreuenden Person ist sehr wichtig, Sehbehinderung nicht selbstständig in der
damit verdeckte Pflegeprobleme offen angespro- für ihn ungewohnten Umgebung des Krankenhauses
6
chen werden können. bewegen.

Beispiel: Eine Pflegeperson könnte beobach- ▌ Pflegediagnostischer Prozess


ten, dass Herr M. nach dem Besuch seiner Als pflegediagnostischer Prozess wird der Weg von
Tochter sehr deprimiert ist. Sie vermutet die der Informationssammlung bis zur Formulierung
Ursache hierfür in einer problematischen Beziehung eines oder mehrerer Pflegeprobleme oder Pflege-
von Herrn M. zu seiner einzigen Tochter. diagnosen bezeichnet, d. h., das Pflegeproblem bzw.
die Pflegediagnose ist das Produkt des pflegediag-
Die Qualität der Beziehung zwischen Herrn M. und nostischen Prozesses. Eine Pflegediagnose be-
der verantwortlichen Pflegeperson wird maßgeblich schreibt ein Pflegeproblem nach Problemart, der Ur-
darüber entscheiden, ob Herr M. bereit ist, über die sache des Problems und den entsprechenden Zei-
Schwierigkeiten mit seiner Tochter zu sprechen. chen und Auswirkungen (Müller-Staub 2007). Dies
Als generelle Pflegeprobleme werden typische entspricht den Kriterien von der Nordamerikani-
voraussehbare Probleme bezeichnet, die den meis- schen Pflegediagnosenvereinigung (NANDA) formu-
ten Patienten unter gleichen Bedingungen und mit lierten Pflegediagnosen. Das Ergebnis der Informati-
den gleichen Risikofaktoren gemeinsam sind. onssammlung und die erstellten Pflegeprobleme
bzw. -diagnosen werden schriftlich in der Pflegedo-
Beispiel: Alle Patienten sind nach einer ab- kumentation festgehalten. Wie aus den gewonne-
dominalen Operation aufgrund von Schmer- nen Informationen eine oder mehrere Diagnosen er-
zen und unterschiedlichen Zu- und Ablei- stellt werden, wird meist nicht schriftlich festgehal-
tungssystemen in ihrer Mobilität eingeschränkt. ten. Diese Zwischenschritte spielen sich im Kopf der
Pflegeperson ab (Leoni-Schreiber, 2004).
Generelle Pflegeprobleme betreffen häufig die Phy- Beim pflegediagnostischen Prozess handelt es
siologie des Menschen, es sind Mechanismen, die sich um einen dauerhaften Prozess, der mit der fest-
bei allen Menschen ähnlich ablaufen und zudem gestellten Diagnose erst einmal beendet zu sein
wissenschaftlich erforscht werden können. Bei ge- scheint, doch schon mit einer erneuten Information
nerellen Pflegeproblemen kommt außerdem ein ge- über die zu betreuende Person wieder von Neuem
wisser Erfahrungswert hinzu. Für generelle Pfle- beginnen kann. Er läuft sowohl bewusst und ratio-
geprobleme werden häufig standardisierte Pfle- nal gesteuert als auch intuitiv und unter Einbezug
gepläne ausgearbeitet (s. a. 6.8.2). von Erfahrung ab.
Ein generelles Problem kann immer auch zu In der Literatur werden die Kompetenzen, die
einem individuellen Problem werden, sobald eine eine Pflegeperson für diagnostisches Handeln benö-
besondere Disposition des pflegebedürftigen Men- tigt, in verschiedenen Modellen des diagnostischen
schen vorliegt oder Abweichungen vom typischen Prozesses abgebildet. Unabhängig vom zugrunde ge-
Verlauf zu erkennen sind legten Modell lassen sich folgende diagnostischen
Ein solcher Fall liegt vor, wenn die Mobilität Schritte ausmachen: Zunächst werden im Rahmen
eines Menschen in der postoperativen Phase zusätz- der Informationssammlung subjektive, objektive, di-

BAND 1 Pflege und Profession 181


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

!
rekte und indirekte Daten durch Beobachtung, kör- Merke: Die Problemformulierung umfasst
perliche Untersuchungen und im Gespräch ermittelt die Art und Weise des Defizits, den Bereich
(Pflegeanamnese). Die erhobenen Daten werden der Beeinträchtigung, den Umfang des Prob-
analysiert, d. h. systematisch untersucht und im lems sowie dessen Ursachen und Auswirkungen auf
Hinblick auf ihre Bedeutung für den pflegebedürfti- den betroffenen Menschen.
gen Menschen interpretiert. Hieraus ergeben sich
eine oder mehrere Annahmen bezüglich des Pflege- Die Angabe von Ursachen für die bestehenden Pfle-
bedarfs, sog. Hypothesen. Diese Annahmen werden geprobleme ist deshalb notwendig, weil nur so in
durch gezielte weitere Informationssammlung be- einer späteren Phase des Pflegeprozesses das Pro-
stätigt, konkretisiert oder widerlegt und in Pfle- blem richtig gelöst werden kann. Wenn die Ursache
geproblemen bzw. -diagnosen ausgedrückt. des Problems nicht bekannt ist, ist eine Vielzahl von
Maßnahmen zur Problemlösung denkbar.
▌ Dokumentation der Pflegeprobleme
Im Pflegeplan werden die Pflegeprobleme nach Beispiel: Leidet ein Mensch unter einer Im-
6
ihrer Priorität, d. h. entsprechend ihrer Dringlichkeit mobilität aufgrund einer Hemiplegie nach
und Wichtigkeit aufgelistet. einem apoplektischen Insult, werden die
Das Pflegeproblem, dem der pflegebedürftige Maßnahmen zur Mobilisation anders aussehen als
Mensch am meisten Bedeutung zumisst, steht an bei einem Menschen, der immobil ist, weil er im Um-
oberster Stelle. Dem gegenüber muss die Pflegeper- gang mit seiner neuen Unterarmgehstütze noch unge-
son die Pflegeprobleme abwägen, die sie aus ihrer übt ist.
fundierten Pflegebedarfserhebung ermittelt hat und
aus ihrer Fachexpertise heraus weiß, dass diese vor- Hiermit wird deutlich, dass eine effektive Maßnah-
rangig bearbeitet werden müssen. Hierzu gehören menplanung bzw. Problemlösung nur dann möglich
z. B. Probleme, die eine vitale Bedrohung darstellen, ist, wenn die Ursache des Pflegeproblems bekannt ist.
oder auch Schmerzen, gegen die vorrangig Maßnah- Wird nach einer speziellen Pflegetheorie gearbei-
men ergriffen werden müssen, da sie sich auf alle tet, dann wird bei der Dokumentation der Pfle-
anderen Belange des betroffenen Menschen auswir- geprobleme z. B. nach Orem festgehalten, in wel-
ken. In der Regel handelt es sich hierbei um aktuelle chem Lebensbereich das Selbstfürsorgedefizit be-
Probleme. Durch diese Priorisierung kann gewähr- steht, beziehungsweise bei Bezug auf die Lebens-
leistet werden, dass die individuellen Bedürfnisse aktivitäten von Roper, Logan und Tierney wird no-
des pflegebedürftigen Menschen berücksichtigt tiert, welcher Bereich der Lebensaktivitäten auf wel-
und bearbeitet werden. che Weise betroffen ist (s. a. Kap. 4).
Die Pflegeprobleme müssen vollständig erhoben Die gemachten Beobachtungen werden ohne Be-
und dokumentiert sein. Erst wenn alle pflegerele- wertungen und Interpretationen in der Spalte „Pfle-
vanten Probleme erfasst sind, können entsprechen- geprobleme“ im Pflegeplan festgehalten. Tab. 6.2
de Ziele formuliert und die entsprechenden Maß- zeigt ein mögliches Formular für einen Pflegeplan.
nahmen eingeleitet werden. Nur dann kann bei der Von links nach rechts werden folgende Punkte do-
Auswertung der Pflege auch ein gutes Ergebnis er- kumentiert:
zielt werden. ■ Datum,
Das Problem wird kurz, prägnant und knapp be- ■ Pflegeprobleme des pflegebedürftigen Men-
schrieben. Dabei ist auf eine lesbare Schrift und schen,
Übersichtlichkeit zu achten.

Tab. 6.2 Formular für den Pflegeplan

Datum Pflegeprobleme Ressourcen Pflegeziele Pflegemaßnahmen Handzeichen Stopp

182 Pflege und Profession BAND 1


6.5 Schritte des Pflegeprozesses

■ Ressourcen des pflegebedürftigen Menschen, lichkeiten und Fähigkeiten zu fördern, sowie seine
■ Pflegeziele, Selbstheilungskräfte in der Pflege zu nutzen.
■ Pflegemaßnahmen, Häufig werden die Ressourcen in der Praxis nicht
■ Handzeichen der betreffenden Pflegeperson, oder nur unzureichend formuliert. Auch das andere
■ Spalte für das Absetzen gelöster Probleme Extrem kann beobachtet werden: Jedem Pflegepro-
(„Stopp“). blem wird eine Ressource zugeordnet. Dies ist je-
doch nicht immer möglich.
Mittlerweile gibt es von unterschiedlichen Firmen Insgesamt ergibt sich ein großer Umfang an mög-
eine Reihe von Dokumentationssystemen, die im lichen Ressourcen. Um einen sinnvollen Überblick
Wesentlichen die oben genannten Elemente enthal- der Gesamtheit aller möglichen Ressourcen zu er-
ten. halten, werden diese in unterschiedliche Kategorien
eingeteilt.
Zusammenfassung: Zu den körperlichen Ressourcen zählen alle kör-
Pflegeprobleme perlichen Leistungen wie zum Beispiel die Sehfähig-
6
■ Es werden 5 Arten von Pflegeproblemen unter- keit, das Hörvermögen, die Bewegungsmöglichkei-
schieden, ten, die wieder unterteilt werden in Fein- und Grob-
■ diese werden nach ihrer Priorität im Pflegeplan motorik, in passive und aktive Bewegungsvorgänge.
aufgelistet, Des Weiteren gehören dazu die Aufnahme von Flüs-
■ Pflegeziele und Maßnahmen werden ihnen zuge- sigkeit und Nahrungsmitteln, das Atmen etc.
ordnet, Zu den inneren, intellektuellen, persönlichen
■ sie enthalten keine Bewertung und keine Interpre- oder geistigen Ressourcen werden z. B. gerechnet:
tation. ■ Entwicklung von eigenen Problemlösungsstrate-
gien,
▌ Ressourcen ■ Vertrauen in die eigene Person,
Der Begriff der Ressourcen wird in vielen Fachrich- ■ Verstand, Vernunft, Verstehen,
tungen benutzt. ■ logisches und rationales Denkvermögen,
■ Sprachgefühl, Wahrnehmungsfähigkeit, Lern-
Definition: In der Psychologie wird unter einer fähigkeit,
Ressource die Art verstanden, wie ein Mensch ■ die Möglichkeit, das eigene Leben zu gestalten,
eine an ihn gestellte Anforderung verarbeitet; ■ die Fähigkeit, das eigene Tun zu reflektieren und
der persönliche, individuelle Verarbeitungsstil des Ein- verantwortliche Entscheidungen zu treffen,
zelnen zur Bewältigung von auftretenden Lebensauf- ■ Lebensmut und Lebenslust,
gaben, die sogenannte Handlungskompetenz. ■ Kreativität, Fantasie und Flexibilität sowie
■ Humor und Freude etc.
Nur wenn die Handlungskompetenz größer ist als
die an den Menschen gestellte Anforderung, kann Aus dieser Kategorie ist die größte Aktivierung von
diese bewältigt werden. Lebenskräften und Energie möglich, da sie sämtliche
Existenzebenen des Menschen berührt und damit

!
Merke: Das Ziel in der Pflege ist es, die Res- beeinflusst.
sourcen des einzelnen Menschen optimal zu Unter der dritten Kategorie, den räumlichen Res-
nutzen und in die Pflege einzubeziehen, sourcen, wird die Umgebung des Menschen verstan-
damit dieser seinen Gesundungsprozess selbst aktiv den. Lebt er z. B. in einer Millionenstadt mit guter
unterstützen kann. Infrastruktur, aber schlechter Luft oder in einem
ländlichen Gebiet mit weniger ausgeprägter Infra-
Schwester Liliane Juchli hat den Begriff der Ressour- struktur, dafür aber in einer „natürlicheren“ Umge-
cen bereits in den 70er Jahren verstärkt angewandt. bung?
Der Begriff stellt auch heute noch einen Gegenpol zu Die vierte Kategorie umfasst die sozialen Res-
der stark defizit- und krankheitsbezogenen Pflege sourcen. Hierunter werden die soziale Umwelt des
dar. Ziel ist es, sich stärker am Gesunden des Men- Einzelnen, sein soziales Netz, wie z. B. Freunde und
schen zu orientieren, seine noch vorhandenen Mög- Verwandte, und seine sozialen Aktivitäten verstan-

BAND 1 Pflege und Profession 183


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

den. Dazu gehört unter anderem die Frage, welche Tab. 6.3 Praxisbeispiele zu den Kategorien der Ressourcen
seiner Verwandten und Freunde in die Pflege ein-
Kategorie der Praxisbeispiel
bezogen werden können. Ressourcen
Bei Kindern ist z. B. das Wissen und Können der
Eltern eine wichtige Ressource. Um sich ein mög- Körperliche Res- Fr. K. kann sich selbstständig im Bett um-
sourcen drehen.
lichst vollständiges Bild des Menschen machen zu
können, ist es auch wichtig, seinen persönlichen Le- Innere, persönli- Hr. L. weiß über die Auswirkungen des Dia-
bensstil zu kennen. Welche sozialen Erwartungen che, geistige Res- betes mellitus Bescheid.
und Werte besitzt er, was ist ihm wichtig? Wie ge- sourcen

staltet er, wenn er noch beruflich tätig ist, sein Be- Räumliche Res- Fr. F. wohnt im Erdgeschoss und hat einen
rufsleben, wie seine Freizeit? Welche Hobbys pflegt sourcen ebenerdigen Zugang zu ihrer Wohnung.
er?
Soziale Ressourcen Fr. I. hat eine Tochter, die sie regelmäßig
Zu den ökonomischen Ressourcen eines Men- besuchen kommt.
schen gehören materielle Güter und finanzielle
6 Ökonomische Res- Hr. M. verfügt über die finanziellen Mittel,
Möglichkeiten, die z. B. die Gestaltung des Lebens-
sourcen für die Pflege zu Hause soziale Dienste in
raums ermöglichen. Anspruch zu nehmen.
Unter spirituellen Ressourcen werden die Werte
Spirituelle Ressour- Hr. S. ist Christ, nimmt jeden Sonntag am
verstanden, welche die betreffende Person verinner-
cen Gottesdienst teil und findet in seinem
licht hat. So ist es von Bedeutung, ob die zu betreu- Glauben Unterstützung für die Krankheits-
ende Person einer Glaubensrichtung angehört oder bewältigung.
ob sie nicht gläubig ist, ob sie Vorbilder für ihr Leben
hat, Sinn in ihrem Leben sieht und voller Hoffnung
ist oder eher mutlos und die Hoffnung in das Leben ▌ Dokumentation der Ressourcen des
aufgegeben hat.
pflegebedürftigen Menschen
Tab. 6.3 gibt einen Überblick über die Einteilung
der Ressourcen in sechs mögliche Kategorien und Die ermittelten Ressourcen des Menschen werden
nennt jeweils ein Beispiel aus der Praxis. sinnvoll den jeweiligen Pflegeproblemen zugeord-
Das Erkennen von Ressourcen erfordert Übung. net.
Viele Pflegepersonen handeln problemorientiert,
d. h. sie erkennen sofort die Pflegeprobleme und Beispiel: Eine mögliche Ressource bei einer
möchten diese möglichst schnell beseitigen. Dabei alleinerziehenden Mutter, die stationär auf-
werden die Fertigkeiten und Fähigkeiten der zu be- genommen werden muss und sich um die
treuenden Person oft übersehen. Betreuung ihres Kindes sorgt, könnte darin bestehen,
Werden die Ressourcen im Pflegeplan berück- dass ihre Eltern das Kind während ihres Kranken-
sichtigt, erlangt der hilfsbedürftige Mensch schnel- hausaufenthaltes zu sich nehmen.
ler seine Selbstständigkeit zurück.
Im Pflegeplan werden die ermittelten Ressourcen

!
Merke: Ressourcen sind Fähigkeiten und des betroffenen Menschen in der dafür vorgesehe-
Fertigkeiten, die dem einzelnen Menschen nen Spalte schriftlich festgehalten (vgl. Tab. 6.2). Sie
zur Verfügung stehen und durch eine akti- werden dabei den Pflegeproblemen zugeordnet, zu
vierende Pflege gefördert werden können. Sie helfen, deren Bewältigung sie beitragen.
den Genesungsprozess positiv zu beeinflussen oder
eine kritische Lebenssituation beziehungsweise -auf- Zusammenfassung:
gabe sinnvoll zu bewältigen. Ressourcen
■ Ressourcen in der Pflege sind Fähigkeiten, Möglich-
keiten eines Menschen,
■ bisher war die Pflege eher Krankheits- und defizit-
orientiert,

184 Pflege und Profession BAND 1


6.5 Schritte des Pflegeprozesses

■ heute werden die Fähigkeiten zur Selbsthilfe und Pflegeziele beziehen sich nicht nur auf den körper-
die Selbstheilungskräfte des pflegebedürftigen lichen, sondern auch auf den psychischen Lebens-
Menschen in den Pflegeprozess integriert. bereich. Die Zielsetzung kann auf folgende Kriterien
Bezug nehmen:
6.5.3 Festlegung der Pflegeziele ■ Leistung und Können eines Menschen,
Jeder Mensch setzt sich Ziele in seinem Leben, sei es ■ Wissen des Menschen,
im privaten oder beruflichen Bereich. Gäbe es keine ■ Verhalten und Erleben des Menschen,
Ziele in unserem Dasein, würden wir die Richtung ■ Messbare Befunde und Ergebnisse,
unseres Lebens nicht kennen. Unter diesen Umstän- ■ Körperlicher Zustand,
den wäre es für den Einzelnen schwer, den Sinn ■ Gefahren und Risiken.
seines Lebens zu definieren. Realistische Ziele
regen zum Handeln an und motivieren, an einer Praxisbeispiele zu den einzelnen Bezugskriterien
Aufgabe so lange zu arbeiten, bis sie mit Erfolg abge- sind in Tab. 6.4 aufgeführt.
schlossen ist; dann kann mit Stolz darauf zurück- Jedes Pflegeziel muss der Lebenssituation des
6
geschaut werden. Menschen angepasst sein.
Auch im Rahmen des Pflegeprozesses werden
Ziele festgesetzt. Zu jedem formulierten Pflegepro-
blem gehört ein Pflegeziel, an dem die zu planenden Tab. 6.4 Beispiele einzelner Pflegezielsetzungen mit den
Pflegemaßnahmen ausgerichtet werden. dazugehörigen Bezugskriterien
Pflegeziele müssen realistisch, erreichbar und
Bezug des Praxisbeispiel
überprüfbar sein, um sowohl den hilfsbedürftigen Pflegeziels
Menschen als auch die an der Pflege beteiligten Per-
sonen zu motivieren, dieses Ziel zu erlangen. Wenn Leistung/Kön- Fr. A. läuft innerhalb von 6 Tagen mit den
nen des Men- Unterarmgehstützen selbstständig.
ein Mensch die angestrebten Ziele kennt und um die schen Hr. B. wechselt innerhalb von 5 Tagen unter
Maßnahmen weiß, die ihn zu diesem Ziel führen, Anleitung seinen Stomabeutel.
kann er aktiv mitarbeiten. Aus diesem Grund sollten
Wissen des Fr. C. kennt die Risiken bei Einnahme gerin-
die Pflegeziele im Rahmen der Pflegeplanung auch
Menschen nungshemmender Medikamente und hält sich
immer gemeinsam mit dem betroffenen Menschen an die Verhaltensvorschriften.
und ggf. dessen Angehörigen erarbeitet und fest- Hr. D. kennt die Wirkungsweise seiner Medi-
gelegt werden. kamente und nimmt diese jeden Morgen um
die gleiche Zeit (8.00 Uhr) ein.
Pflegeziele müssen überprüfbar sein, da sie Kri-
terien und Maßstäbe für die Effektivität der Pflege Verhalten und Hr. E. kann über seine Trauer um seine ver-
sind. Als Kriterium wird z. B. ein bestimmter Zeit- Erleben des storbene Tochter reden.
Menschen Peter geht jeden Tag mindestens eine Stunde
raum angegeben, in dem ein Ziel erreicht werden lang ins Spielzimmer, um mit anderen Kindern
soll. Aber auch die Formulierung konkreter Mess- zu spielen.
werte bzw. Mengenangaben, z. B. „Hr. X. trinkt 3
Messbare Be- Fr. G. nimmt täglich eine reduzierte Trink-
Liter Flüssigkeit am Tag“ macht ein Ziel überprüfbar. funde und Er- menge von 1200 ml zu sich.
Nur durch die Überprüfung kann festgestellt wer- gebnisse Hr. H. reduziert innerhalb von einer Woche
den, ob ein geplantes Ziel teilweise oder komplett sein Körpergewicht um 1 kg.
erreicht ist: Die aktuelle Situation des pflegebedürf- Körperlicher Fr. Is. Zunge ist belagfrei und ihre Mund-
tigen Menschen (Ist-Zustand) wird mit dem zu er- Zustand schleimhaut ist feucht.
reichenden Ziel (Soll-Zustand) verglichen. Hr. Ks. Nasenschleimhaut ist bei liegender
Nasensonde intakt.

!
Merke: Die Festlegung von Pflegezielen Gefahren und Fr. L. kennt die gesundheitlichen Risiken des
macht die durchgeführten Pflegemaßnah- Risiken Nikotinabusus und reduziert die tägl. Menge
der Zigaretten schrittweise.
men bewertbar, d. h. es kann bewertet wer-
Hr. M. kennt die Gefahr der Thrombose und
den, ob die ausgewählten Maßnahmen zum Erreichen führt prophylaktische Maßnahmen selbststän-
des festgelegten Ziels geführt haben. dig durch.

BAND 1 Pflege und Profession 185


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

Nicht immer kann von einer vollständigen Ge- ▌ Dokumentation von Pflegezielen

!
sundung als Ziel ausgegangen werden. Manchmal
Merke: Das Formulieren von Pflegezielen
muss die betreffende Person lernen, mit Behin-
begünstigt das reflektierte und systemati-
derungen zu leben. Ein Ziel kann auch sein, einen
sche Handeln. Die Begründung für die
würdigen, schmerzfreien Tod zu erleben.
durchgeführte Pflege wird somit nachvollziehbar.
Pflegeziele werden in Nah- und Fernziele, bezie-
hungsweise Kurzzeit- oder Teilziele und Langzeit- Deshalb müssen Pflegeziele formuliert und doku-
ziele unterschieden. Fiechter und Meier beschreiben mentiert werden.
Fernziele als den Zustand, der nach Ablauf des ge- Die Formulierung der Pflegeziele erfolgt aus Sicht
samten Pflegeprozesses erreicht sein soll. Sie sind des pflegebedürftigen Menschen, auf positive Art
auf einen längeren Zeitraum bezogen, der bis zur und Weise und so präzise wie möglich. Das bedeu-
Entlassung eines Menschen aus dem Krankenhaus tet, dass die Kriterien zur Überprüfung der Ziele,
oder darüber hinaus reichen kann. z. B. Zeiträume oder Mengenangaben, so genau wie
Demgegenüber sind Nahziele kleine Etappen auf möglich angegeben sein müssen.
6
dem Weg zu einem End- oder Fernziel. Jedes er- Dabei ist darauf zu achten, dass Ziele eindeutig,
reichte Nahziel vermittelt dem pflegebedürftigen kurz, knapp und präzise formuliert sind. Sie werden
Menschen, dessen Angehörigen und der Pflegeper- in der Gegenwartsform, im Präsens, verfasst.
son, dem Fernziel ein Stück näher gekommen zu Die Dokumentation der Pflegeziele (Abb. 6.9) er-
sein. In einem Gesundungsprozess können Nahziele folgt in der dafür vorgesehenen Spalte im Pflegeplan
die Motivation des Kranken sehr unterstützen. Zu (vgl. Tab. 6.2).
hoch gesteckte, nicht erreichbare Pflegeziele, sei es

!
Fern- oder Nahziele, können sich auf den pflegebe- Merke: Pflegeziele beschreiben den Zustand
dürftigen Menschen und die Pflegeperson demoti- und legen Ergebnisse fest, die durch eine ge-
vierend und entmutigend auswirken. plante Pflege gemeinsam mit dem betroffe-
Eine mögliche Teilung eines Fernziels in mehrere nen Menschen angestrebt werden. Sie sind als Soll-
Nahziele zeigt das folgende Beispiel: Zustand definiert und leiten sich von dem Ist-Zustand
ab. Sie sind richtungsweisend für die vorgenommenen

!
Merke: Fernziele sind übergeordnete Ziele, Pflegemaßnahmen.
welche den Zustand des Menschen nach
Durchlaufen des Pflegeprozesses beschrei-
ben. Nahziele sind einzelne Teilziele, die zum Errei-
chen der Fernziele eingesetzt werden. Pflegeziele
• müssen realistisch, erreichbar und überprüfbar sein
• werden gemeinsam mit dem pflegebedürftigen
Fernziel Menschen und dessen Angehörigen erarbeitet und
Frau K. kann nach dem Einsetzen der TEP (Total- festgelegt
Endo-Prothese) am 25.07. selbstständig auf dem
Stationsflur mit Unterarmgehstützen laufen. Pflegeziele

Nahziele körperliche Pflege psychische Pflege


■ Fr. K. kann ab dem 21.07. mit Unterstützung vor
dem Bett stehen. Pflegeziele
■ Fr. K. kann ab den 22.07. mit Hilfe einer Pflege-
person und Unterarmgehstützen einige Schritte
Nahziele Fernziele
im Zimmer machen.
■ Fr. K. geht ab dem 23.07. selbstständig mit Unter- • Dokumentation im Pflegeplan erfolgt positiv, kurz,
armgehstützen ins Bad. präzise für eine bessere Überprüfbarkeit
■ Fr. K. geht ab dem 24.07. mit Hilfe einer Begleit-
person und Unterarmgehstützen den Stationsflur Abb. 6.9 Erhebung der Pflegeziele

einmal auf und ab.

186 Pflege und Profession BAND 1


6.5 Schritte des Pflegeprozesses

6.5.4 Planung der Pflegemaßnahmen werden sie in eine systematische und logische Rei-
Nach der Formulierung von Pflegeproblemen, Res- henfolge gebracht und in der dafür vorgesehenen
sourcen und Pflegezielen erfolgt im vierten Schritt Spalte des Pflegeplans dokumentiert (vgl. Tab. 6.2).
des Pflegeprozesses nach Fiechter und Meier die Dabei wird festgelegt:
Planung der Pflegemaßnahmen. Hier bringt die Pfle- ■ Personen, welche die Pflegemaßnahmen ausfüh-
geperson ihr Fachwissen und ihre praktischen Er- ren. Das können Pflegepersonen, Angehörige
fahrungen in den Pflegeprozess ein. Die Pflegemaß- oder spezielle Fachleute aus anderen Fachgebie-
nahmen orientieren sich an den bekannten Pfle- ten wie zum Beispiel Logopäden oder Physiothe-
geproblemen und Ressourcen des pflegebedürftigen rapeuten sein,
Menschen sowie an den gesetzten Pflegezielen. ■ Art und Anwendung der verwandten Materia-
lien,

!
Merke: Pflegemaßnahmen sind die aus- ■ Lokalisation der Anwendung (betroffenes Kör-
gewählten Mittel, mit denen die im vorheri- perteil),
gen Schritt des Pflegeprozesses formulierten ■ Häufigkeit, Zeitpunkt und Zeitraum der Maßnah-
6
Pflegeziele erreicht werden sollen. Sie werden gemein- me,
sam mit dem Betroffenen unter Berücksichtigung sei- ■ ggf. der einzuplanende Zeitaufwand der Anwen-
ner Wünsche und ggf. der seiner Angehörigen formu- dung.
liert.
Die Zusammenstellung von Pflegeproblemen, vor-
Dabei wird nicht nur die Art der Pflegemaßnahmen handenen Ressourcen, Pflegezielen und geplanten
bestimmt, sondern auch, wer, wie, wann, womit und Pflegemaßnahmen wird Pflegeplan genannt. Der
wie häufig diese Pflegemaßnahme durchführt. Die Pflegeplan ist von großer Bedeutung, da er als ver-
einzelnen Maßnahmen werden so konkret beschrie- bindliche Pflegeverordnung für alle an der Pflege
ben, dass jede Pflegeperson sie auf die gleiche Art beteiligten Personen gilt.
und Weise durchführen kann. Hierdurch wird die

!
Kontinuität der Pflege gesichert und eine Bewertung Merke: Pflegeprobleme, Ressourcen des
oder Beurteilung der Pflege möglich. pflegebedürftigen Menschen, Pflegeziele
und ausgewählte Pflegemaßnahmen werden
Beispiel: Ist bei einem dekubitusgefähr- im sogenannten Pflegeplan dokumentiert. Er ist ver-
deten Menschen zum Erreichen des Pflege- bindliche Grundlage für alle an der Pflege beteiligten
ziels „intakte Haut“ ein zweistündlicher La- Personen.
gewechsel durch Mikrolagerung als Maßnahme zur
Dekubitusprophylaxe festgelegt, so lässt sich nur bei Der Pflegeplan umfasst:
kontinuierlicher Durchführung der festgelegten Maß- ■ Pflegeprobleme des pflegebedürftigen Men-
nahme die Effektivität dieser Maßnahme ermitteln. schen,
■ Ressourcen des pflegebedürftigen Menschen,
Im Gegensatz dazu ist die ungeplante Pflege ohne ■ Pflegeziele beziehungsweise die zu erreichenden
Erstellung eines Pflegeplanes ein intuitives Handeln Ergebnisse und
jedes Einzelnen aus der Situation heraus, wobei ■ Pflegemaßnahmen in systematischer und logi-
nicht ermittelt werden kann, ob die bzw. welche scher Reihenfolge als verbindliche Pflegeverord-
Maßnahme effizient ist. Die Pflegemaßnahmen er- nung.
geben sich hierbei aus der zufälligen Entscheidung
einzelner Personen, in Abhängigkeit von ihrem Wis- Je intensiver der pflegebedürftige Mensch und seine
sen und Können. Dadurch variieren die Pflegemaß- Angehörigen in den Pflegeprozess einbezogen wer-
nahmen, so dass die Ergebnisse der Pflegehandlun- den, desto mehr können sie an der Behebung der
gen nicht ausgewertet werden können. Pflegeprobleme mitwirken. Tab. 6.5 zeigt den mög-
lichen Pflegeplan mit den aktuellen Hauptpfle-
▌ Dokumentation der Pflegemaßnahmen geproblemen von Frau Perlinger.
Die erforderlichen Pflegemaßnahmen werden kurz, Wurde ein Pflegeziel erreicht, wird die dazuge-
knapp und verständlich formuliert. Darüber hinaus hörige Maßnahme mit einem Absetzungszeichen

BAND 1 Pflege und Profession 187


6
Tab. 6.5 Pflegeplan für Frau Perlinger

188
Datum Pflegediagnose/Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen Handzeichen Stopp

20.07. Frau Perlinger hat aufgrund einer zu geringen ● Frau Perlinger trinkt täglich mindestens 1 ● Frau Perlinger zu jeder Mahlzeit 1-2 Gläser Wasser bzw. A.H.
Trinkmenge Anzeichen dafür, dass sie ein bis max. 1,5 Liter Flüssigkeit. Wunschgetränke anbieten und zum Trinken auffordern.
Flüssigkeitsdefizit hat. Dies zeigt sich darin, ● Frau Perlingers Haut und Lippen sind bis ● Frau Perlinger cremt jeden Morgen ihre Haut mit einer
● dass Frau Perlingers Haut trocken und zum (Datum) intakt und geschmeidig. W/Ö Körpercreme und zweimal täglich ihre Lippen mit
schuppig ist, ihre Lippen spröde und in den ● Frau Perlinger weiß bis zum (Datum), dass einem Lippenbalsam ein.
Mundwinkeln eingerissen sind, die Schmerzen beim Wasserlassen gerin- ● Mit Frau Perlinger und ihrem Lebenspartner am (Datum)

Pflege und Profession


● dass sie über Schmerzen beim Wasserlassen ger werden, wenn sie die empfohlene Ta- ein Beratungsgespräch zu der empfohlenen Trinkmenge
klagt und gesdosis trinkt. pro Tag führen, um ihr die Notwendigkeit und die Zu-
● dass sie zeitweise im Denken verlangsamt ● Frau Perlinger weiß bis zum (Datum), dass sammenhänge zwischen einer ausgewogenen Flüssig-
6 Pflegeprozess und Pflegequalität

und desorientiert wirkt. sie aufgrund der geringen Trinkmenge keitszufuhr und einer intakten Haut, dem schmerzfreien

BAND 1
Ressource: zeitweise verwirrt war. Wasserlassen und einer klaren Orientierung aufzuzeigen.
Frau Perlinger trinkt die ihr angebotenen Ge-
tränke nach Aufforderung selbstständig.

20.07. Frau Perlinger ist aufgrund ihrer körperlichen ● Frau Perlinger kennt bis zum (Datum) ihre ● Mit Frau Perlinger und Herrn Moser am (Datum) ein A.H.
Schwäche und der bestehenden Dranginkon- intrinsischen und extrinsischen Sturzrisi- Beratungsgespräch zu den bestehenden Sturzrisikofak-
tinenz stark sturzgefährdet. Dies zeigt sich kofaktoren und Strategien, um ihr Sturz- toren führen und gemeinsam mit dem Paar Strategien
● an ihrem unsicheren Gangbild und risiko zu minimieren. zur Vermeidung der extrinsischen Risikofaktoren ent-
● dem hektischen Handeln, wenn sie Harn- ● Frau Perlinger weiß, dass sie nur in Be- wickeln.
drang verspürt. gleitung einer Pflegeperson zum Bad oder ● Frau Perlinger auf Wunsch mit dem Rollator ins Bad bzw.
Ressource: auf den Flur gehen darf. zum Frühstückstisch begleiten.
Frau Perlinger steht in Begleitung einer Pfle- ● Frau Perlinger benutzt ab dem (Datum) ● Frau Perlinger am (Datum) die Benutzung des Toilet-
gekraft auf und geht sicher am Rollator den Toilettenstuhl neben ihrem Bett tenstuhls erklären und sie bei der Mobilisation auf den
selbstständig und sicher. Toilettenstuhl anleiten.

Fortsetzung ▶
Tab. 6.5 (Fortsetzung)

Datum Pflegediagnose/Ressource Pflegeziele Pflegemaßnahmen Handzeichen Stopp

20.07. Frau Perlinger ist aufgrund ihrer körper- Frau Perlinger führt ab sofort ihre Körper- ● Frau Perlinger nach dem Frühstück mit dem Rollator A.H.
lichen Schwäche und der bekannten Herz- pflege ohne Anzeichen einer Dyspnoe ins Bad begleiten.
insuffizienz in ihrer Belastbarkeit einge- durch. ● Frau Perlinger im Bad eine Sitzgelegenheit anbieten.
schränkt. Dies zeigt sich darin, dass Frau ● Frau Perlinger selbstständig die Pflege des Oberkör-
Perlinger ihre Körperpflege nicht selbst- pers incl. Haare kämmen und Zähne putzen durch-
ständig durchführen kann. führen lassen.
Ressource: ● Den Rücken und die Beine von Frau Perlinger wa-
Frau Perlinger kann sich ihr Gesicht und schen.
ihren Oberkörper selbstständig waschen. ● Frau Perlinger bei der Intimpflege unterstützen.
● Während der Körperpflege auf Anzeichen der Belas-
tungsgrenzen achten und evtl. Pausen einlegen.
● Frau Perlinger beim An- und Auskleiden unterstützen.
● Frau Perlinger mit dem Rollator zurück ins Zimmer
zum Mobilisationsstuhl begleiten.

20.07. Frau Perlinger hat aufgrund der ungewohn- Frau Perlinger kann ab dem (Datum) zu ● Am (Datum) ein Gespräch mit Frau Perlinger bzgl. A.H.
ten Umgebung Ein- und Durchschlafproble- ihrer gewohnten Zeit ein- und danach ihrer Schlafgewohnheiten/-rituale führen.
me. Dies zeigt sich darin, dass Frau Perlinger durchschlafen. ● Frau Perlinger bei der Umsetzung ihrer persönlichen
tagsüber müde ist und teilweise einnickt. Gewohnheiten vor dem Schlafengehen unterstützen.
(Beispielsweise Herrn Moser bitten, das Kopfkissen
seiner Lebenspartnerin mitzubringen, damit diese
besser einschlafen kann.)

20.07. Die häusliche Versorgung ist aufgrund der Die Selbstpflege von Frau Perlinger nach ● Am (Datum) ein Beratungsgespräch mit Frau Perlin- A.H.
nachlassenden Selbst- und Dependenzpfle- ihrer Entlassung ist in ihrem häuslichen ger, ihrem Sohn und Herrn Moser bzgl. der Entlas-
gekompetenz von Frau Perlinger und Herrn Umfeld gesichert. sung und der häuslichen Versorgung führen.
Moser nicht gesichert. Dies zeigt sich darin, ● Am (Datum) ein Gesprächstermin mit dem Sozial-

BAND 1
dass Frau Perlinger ihre Selbstpflege nicht dienst und Familie Perlinger bzgl. einer Pflegeeinstu-
mehr alleine bewältigen kann und ein Kli- fung vereinbaren.
nikaufenthalt erforderlich war. ● Am Tag vor der Entlassung den aktuellen poststatio-
nären Pflegebedarf von Frau Perlinger erheben.

Pflege und Profession


189
6.5 Schritte des Pflegeprozesses

6
6 Pflegeprozess und Pflegequalität

(zum Beispiel: >) im Pflegeplan abgesetzt, evtl. neu weis der Dienstleistung Pflege, nicht vergessen wer-
auftretende Pflegeprobleme werden im Pflegeplan den.
ergänzt. Tab. 6.6 zeigt die Definitionen, Arten und Krite-
Wird auf die geschilderte Art und Weise mit dem rien für die Formulierung von Pflegeproblemen,
Pflegeplan gearbeitet, ist er ein nützliches und wert- Ressourcen, Pflegezielen und Pflegemaßnahmen in
volles Hilfsmittel in der Pflege. Mit ihm kann die der Übersicht.
Pflege individuell auf den Empfänger der Pflege ab- Die Auswahl und das Zusammenstellen der erfor-
gestimmt werden. derlichen Pflegemaßnahmen erfordert den optima-
Auch die interdisziplinäre Kommunikation und len Einsatz von fachlichem Wissen und praktischen
Kooperation wird gefördert. Pflegerische, medizi- Erfahrungen. Der pflegebedürftige Mensch und
nische und andere Verordnungen können besser ko- seine Angehörigen müssen aktiv einbezogen wer-
ordiniert werden, die Pflege selbst wird transparent den.
und der Nachweis der Pflege wird möglich. Gerade
deshalb ist der Pflegeplan in der Aus- und Fortbil- Zusammenfassung:
6
dung von besonderer Bedeutung. Er erleichtert die Pflegemaßnahmen
Entwicklung von Fachwissen. Da die Ergebnisse der ■ beschreiben konkret jede Maßnahme,
Pflege sichtbar gemacht werden, steigt die berufli- ■ dokumentieren auf systematische und logische Art
che Zufriedenheit der Pflegeperson. Zuletzt darf der und Weise:
rechtliche Aspekt, der juristisch geforderte Nach-

Tab. 6.6 Definitionen, Arten und Kriterien für die Formulierung von Pflegeproblemen, Ressourcen, Pflegezielen und Pfle-
gemaßnahmen

Pflegeproblem Ressource Pflegeziel Pflegemaßnahme

Definition Beeinträchtigung des Fertigkeiten und Fähigkeiten, Zustand, der durch die ge- pflegerische Tätigkeiten, die
pflegebedürftigen Men- die dem einzelnen Menschen plante Pflege gemeinsam zum Erreichen der Pflege-
schen in einem Lebens- zur Verfügung stehen, um sei- mit dem Betroffenen an- ziele ergriffen werden
bereich, die seine Unab- nen Genesungsprozess positiv gestrebt wird
hängigkeit einschränkt zu beeinflussen oder seine kri-
und ihn belastet tische Lebenssituation bzw.
-aufgabe sinnvoll zu bewältigen

Arten ● aktuelle ● körperliche Nah- und Fernziele neh- orientiert an Pflegeproble-


● potenzielle ● innere, persönliche, geistige men Bezug auf: men und formulierten Pfle-
● verdeckte ● räumliche ● Leistung und Können gezielen
● generelle ● soziale eines Menschen
● individuelle ● ökonomische ● Wissen
● spirituelle ● Verhalten und Erleben
● messbare Befunde und
Ergebnisse
● körperlichen Zustand
● Gefahren und Risiken

Kriterien zur unter Angabe von: sinnvolle Zuordnung der Res- ● aus Sicht des betroffe- so präzise, dass jede Pfle-
Formulierung ● Name des betroffenen sourcen zu Pflegeproblemen nen Menschen geperson sie auf die gleiche
Menschen ● realistisch und erreich- Art und Weise durchführen
● Art und Umfang der bar kann, d. h. unter Berück-
Beeinträchtigung ● präzise, d. h. unter An- sichtigung der W-Fragen:
● Ursachen und Auswir- gabe von Kriterien zur ● Wer?
kungen des Pfle- Überprüfung (z. B. ● Was?
geproblems Mengenangaben, Zeit- ● Wie?
● kurz, präzise und frei räumen) ● Wann?
von Interpretationen ● Wie oft?
● Womit?
● Wo?

190 Pflege und Profession BAND 1


6.5 Schritte des Pflegeprozesses

– so werden sie von allen Pflegepersonen auf die- im dafür vorgesehenen Formular. Tab. 6.7 zeigt einen
selbe Weise durchgeführt und die Auszug aus dem Pflegebericht für Frau Perlinger.
– Kontinuität in der Pflege ist gesichert. Der Bericht ist sinnvoll gegliedert, dabei sind die
Aussagen objektiv, wertfrei und für jeden gut lesbar.
6.5.5 Durchführung der Pflege Sie enthalten Datum, Uhrzeit und das Handzeichen
In der fünften Phase des Pflegeprozesses wird die der jeweiligen Pflegeperson. Die Eintragungen sind
Pflege nach dem bestehenden Pflegeplan durch- auf die Pflegeprobleme und Pflegeziele bezogen und
geführt. Dabei muss der Pflegeplan von allen betei- werden direkt nach der durchgeführten Pflege do-
ligten Personen immer wieder kritisch reflektiert kumentiert.
und hinterfragt werden. Um einen Nachweis für

!
die durchgeführten Pflegemaßnahmen und damit Merke: Der Pflegebericht ist ein Teil der
für die erbrachten Leistungen zu haben, werden Pflegedokumentation. Er gibt über den ak-
diese im Durchführungsnachweis der Pflegedoku- tuellen Zustand des pflegebedürftigen Men-
mentation festgehalten. schen Auskunft, dabei finden dessen Reaktionen auf
6
die Pflege, aber auch z. B. auf Besuche von Angehöri-

!
Merke: Die Pflegedokumentation dient u. a. gen, diagnostische Maßnahmen o. Ä. besondere Be-
im Fall eines Schadensersatzanspruches der rücksichtigung.
rechtlichen Absicherung.
Die elektronische Datenverarbeitung (EDV) wird all-
Die durchgeführten Maßnahmen werden mit einem gemein in Arbeitsbereichen eingesetzt, die:
Handzeichen unter dem jeweiligen Datum und der ■ sich häufig wiederholen,
entsprechenden Uhrzeit abgezeichnet. ■ standardisierbar sind,
Werden Veränderungen im Zustand des pflegebe- ■ einen hohen Speicheraufwand aufweisen und
dürftigen Menschen festgestellt, müssen diese im ■ einen hohen mathematischen und logischen Auf-
Pflegebericht notiert werden. Der Pflegebericht gibt wand erfordern.
Auskunft über die Veränderungen, die durch die
Pflegemaßnahmen eintreten. Vom Pflegeplan ab- Auch in den Institutionen des Gesundheitswesens
weichende Pflegemaßnahmen werden hier begrün- kommen verstärkt Computer zum Einsatz. So wer-
det und kurz beschrieben. Treten solche Handlungen den viele administrative Aufgaben wie Dienstplan-
in einem kurzen Zeitraum gehäuft auf, ist dies ein erstellung, Belegungsstatistiken, Datenerfassung von
Signal dafür, dass ein neues Pflegeproblem aktuell Labor, Röntgen, Physiotherapie, Küche etc. compu-
wurde, welches in den Pflegeplan aufgenommen tergestützt erledigt.
werden muss. Die Eintragungen im Pflegebericht er- Auch im Zusammenhang mit dem Pflegeprozess
folgen stichwortartig, präzise, klar, kurz und knapp bzw. der Pflegeplanung kann entsprechende Hard-

Tab. 6.7 Auszug aus dem Pflegebericht von Frau Perlinger

Datum Zeit Pflegebericht Handzeichen

21.07. 8:00 Uhr Frau Perlinger zum selbstständigen Benutzen des Toilettenstuhls angeleitet. Im Anschluss A.H.
daran Frau Perlinger mit dem Rollator zum Tisch begleitet. Beim Richten des Frühstücks und
der Einnahme der Medikamente unterstützt.

21.07. 9:30 Uhr Frau Perlinger mit dem Rollator zum Waschbecken begleitet. Frau Perlinger wäscht ihren A.H.
Oberkörper selbstständig. Sie benötigt immer wieder kleine Erholungspausen. Ihre Haut ist
intakt, aber weiterhin noch leicht schuppig.

21.07. 16:00 Uhr Mit Frau Perlinger und Herrn Moser das Beratungsgespräch zur kontinuierlichen Flüssig- P.W.
keitsaufnahme geführt. Beide verstehen den Zusammenhang zwischen den Symptomen von
Frau Perlinger und der zu geringen Trinkmenge. Sie kennen die Risiken einer zu geringen und
einer zu hohen Flüssigkeitsaufnahme. Herr Moser wirkt sehr interessiert und zeigt selbst-
ständig Beispiele auf, wann und wie er seine Lebenspartnerin unterstützen kann. Ein Trinkplan
für zu Hause wurde gemeinsam erarbeitet.

BAND 1 Pflege und Profession 191


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

ware und Software eingesetzt werden, um die ge- Ziel ist es, den Datenaustausch innerhalb der Insti-
samte Dokumentation zu vereinfachen und zu be- tutionen oder institutsübergreifend zu beschleuni-
schleunigen. gen, um eine optimale Behandlung zu ermöglichen.
Für jeden pflegebedürftigen Menschen wird eine Einige Institutionen wenden bereits ein Note-
elektronische Akte angelegt, in die alle Daten ge- book zur Abspeicherung der einzelnen elektro-
speichert und bei Bedarf auf dem Bildschirm abge- nischen Patientenakten an (z. B. bei jeder Pflegein-
rufen oder als Formulare ausgedruckt werden. Es tervention mit der zu betreuenden Person oder
existiert Software, die Standardpflegepläne enthält, während der Visite im interdisziplinären Team).
die durch individuelle Pflegeprobleme und dazuge- Der Vorteil der EPA liegt darin, dass Diagnosen
hörige Pflegeziele und Pflegemaßnahmen ergänzt schneller erstellt, therapeutische Maßnahmen zeit-
werden. In Zukunft sollen spezielle Software-Pro- gleich eingeleitet, damit Therapieerfolge erhöht und
gramme die Entscheidungsfindung in der Phase die durchschnittliche Klinikaufenthaltsdauer redu-
der Problemfindung und Planung der geeigneten ziert werden. Behandlungsfehler und Doppelunter-
Pflegemaßnahmen unterstützen. suchungen werden vermieden, was insgesamt zur
6
Durch den Einsatz von EDV kann darüber hinaus Kosteneffizienz beiträgt. Jedoch bestehen noch
die statistische Auswertung von Information für das viele Unklarheiten im einheitlichen Vorgehen. Aus
Pflegemanagement und die Pflegeforschung erleich- diesem Grund existieren internationale Standardi-
tert werden. Dazu ist eine einheitlich definierte sierungsgremien, die Festlegung weltweiter Stan-
Fachsprache ebenso wichtig wie die Definition und dards z. B. für die medizinische Terminologie, den
Klassifizierung von Pflegeproblemen, Pflegezielen Umgang mit Datenaustausch, Zugangsberechtigung,
und Pflegemaßnahmen. Verschiedene europäische Datensicherheit usw. bearbeiten.
Komitees, wie zum Beispiel die Association For Com-
mon European Nursing Diagnosis, Interventions and 6.5.6 Beurteilung der Wirkung der Pflege auf
Outcomes, kurz ACENDIO, arbeiten an der Klassifi- den pflegebedürftigen Menschen
kation von gemeinsamen europäischen Pflegediag- Im sechsten Schritt des Pflegeprozesses wird die
nosen, Maßnahmen und Ergebnissen (s. a. Kap. 7). nach dem Pflegeplan durchgeführte Pflege hinsicht-
Für den Einsatz der EDV müssen einige Rahmen- lich ihrer Effizienz bewertet und beurteilt. Die Be-
bedingungen und Grundvoraussetzungen geschaffen wertung wird auch als Evaluation bezeichnet. Der
sein. Aufgrund des Datenschutzes muss genau fest- Begriff „Evaluation“ wird von dem lateinischen
gelegt sein, wer Zugriff zu den erhobenen Daten hat, Wort „valere“ abgeleitet, was „stark sein“ oder
diese ändern oder Daten hinzufügen darf. Für die „wert sein“ bedeutet. Evaluation bedeutet die sach-
Einführung einer EDV-gestützten Pflegeplanung und fachgerechte Bewertung, also das Einschätzen
müssen die Mitarbeiter mit der Methode des Pfle- eines Objektes oder eines Sachverhaltes nach sei-
geprozesses vertraut und entsprechende Pflegestan- nem Wert und seiner Bedeutung. In den Sozialwis-
dards erarbeitet sein. Darüber hinaus müssen auch senschaften und der Technik wird damit die Analyse
Schulungen der Mitarbeiter zum Umgang mit Com- und Bewertung eines Sachverhalts beziehungsweise
putern durchgeführt werden. die Effizienz- und Erfolgskontrolle bezeichnet.

!
▌ Elektronische Patientenakte Merke: Zur Beurteilung der Wirkung der
Die elektronische Patientenakte wird derzeit in vie- Pflege auf den pflegebedürftigen Menschen
len Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwe- werden die festgelegten Pflegeziele (Soll-Zu-
sens diskutiert und erprobt. stand) mit der aktuellen Situation des pflegebedürfti-
gen Menschen (Ist-Zustand) verglichen. Dabei werden
Definition: Bei der elektronischen Patienten- die Auswirkungen der Pflege offen dargelegt und
akte (EPA) handelt es sich um eine Zusammen- somit die Pflegeplanung auf ihre Sinnhaftigkeit hin
fassung aller gesundheitsbezogenen Daten überprüft.
einer Person (z. B. frühere Krankheitsbehandlungen,
Laborparameter, Röntgenbilder usw.) in elektro- Sind die formulierten Pflegeziele erreicht, können
nischer Form. die entsprechenden Pflegeprobleme und Pflege-
maßnahmen abgesetzt werden, da der gewünschte

192 Pflege und Profession BAND 1


6.6 Entlassungsmanagement und Pflegeüberleitung

Soll-Zustand mit dem Ist-Zustand identisch ist.


1
Wurden die formulierten Ziele nicht erreicht, wird 2 1 2 1 2
3 3 3
gegebenenfalls die Situation des pflegebedürftigen
Menschen neu eingeschätzt, d. h. es werden neue
Informationen gesammelt. In der Folge müssen ent- 6 4 6 4 6 4
weder neue Pflegeziele formuliert oder andere Pfle-
5 5 5
gemaßnahmen ausgewählt bzw. die Intensität oder
die Häufigkeit der bereits durchgeführten Pflege- 1 = Informationssammlung
maßnahmen variiert werden. 2 = Erkennen von Problemen und Ressourcen des
Als Hilfsmittel für die Bewertungsphase im Pfle- pflegebedüftigen Menschen
3 = Festlegung der Pflegeziele
geprozess gilt der Pflegebericht. Er wird als Rechen-
4 = Planung der Pflegemaßnahmen
schaftsbericht über die Wirkung der Pflege sowie 5 = Durchführung der Pflege
über den sich ändernden Zustand des pflegebedürf- 6 = Beurteilung der Wirkung der Pflege auf den
tigen Menschen gesehen. Er fungiert als Feedback- pflegebedürftigen Menschen
6
system, das die Entwicklung des Gesundheits-
zustandes nachvollziehbar macht. Abb. 6.10 Der Pflegeprozess als Spirale

In der Praxis ergeben sich einige Einschnitte, an


denen es sinnvoll ist, die Pflege zu evaluieren und Zusammenfassung:
ggf. anzupassen. Durchführung und Evaluation
Auf einer chirurgischen Station bietet sich der ■ Zur Durchführung und Evaluation gehört die Do-
Zeitpunkt nach Abschluss der präoperativen Phase, kumentation der durchgeführten Maßnahmen im
nach der Operation oder zu Beginn der Rehabilitati- Pflegeplan,
onsphase zur Evaluation an. ■ durch den Vergleich des Ist-Zustandes mit dem
Soll-Zustand wird die Auswirkung der Pflege deut-
lich,
Fragen zur Evaluation ■ der Pflegebericht ist ein Feedbacksystem zur Eva-
■ Gibt es neue Informationen? luation, da er die Veränderungen des Gesundheits-
■ Sind neue Pflegeprobleme entstanden? zustandes enthält.
■ Welche Pflegeprobleme sind gelöst?
■ Wurden neue Ressourcen geweckt oder entdeckt?
■ Welche Ziele wurden erreicht, teilweise erreicht 6.6 Entlassungsmanagement und
oder nicht erreicht? Pflegeüberleitung
■ Müssen neue Ziele formuliert werden?
■ Sind andere Ziele nicht mehr erstrebenswert? Der Pflegeprozess bezieht sich nicht nur auf die Er-
■ Welche Pflegemaßnahmen sind wirkungsvoll, weni- hebung und Deckung des stationären sondern auch
ger wirkungsvoll oder wirkungslos? auf den poststationären Pflegebedarf und beinhaltet
■ Müssen neue Pflegemaßnahmen ergriffen werden? somit das Entlassungsmanagement bzw. die Pflege-
■ Können Pflegemaßnahmen abgesetzt werden? überleitung.
■ Inwieweit muss der Pflegeplan geändert werden? Das Entlassungsmanagement und die Pflege-
überleitung nehmen in den letzten Jahren an Bedeu-
tung zu. Grund dafür sind unter anderem die Ein-
Treten bei der Evaluation neue Pflegeprobleme auf, führung der DRGs und die damit verbundene Erhö-
beginnt der Pflegeprozess von vorne. hung der Fallzahlen sowie die Verringerung der Ver-
Fiechter und Meier tragen dieser Möglichkeit weildauer im Krankenhaus. Pflegebedürftige Men-
Rechnung, indem sie den Verlauf des Pflegeprozes- schen, die aus dem stationären in den ambulanten
ses als Spirale darstellen (Abb. 6.10). Bereich entlassen werden, benötigen aufgrund der
genannten Aspekte häufig eine intensivere pflegeri-
sche Betreuung. Ist diese nicht gewährleistet, wird
oft unmittelbar nach der Entlassung in eine Situati-
on mit unzureichender pflegerischer Betreuung ein
erneuter Klinikaufenthalt erforderlich. Dieser „Dreh-

BAND 1 Pflege und Profession 193


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

türeffekt“ soll durch ein strukturiertes Entlassungs- gewählten Einrichtungen implementiert und evalu-
management verhindert und der Schnittstellenpro- iert werden. Sie dienen der Förderung der Pflege-
blematik zwischen den Institutionen vorgebeugt qualität in der Pflege in allen Handlungsfeldern.
werden. Die Entwicklung eines Expertenstandards dauert
ca. 12 Monate. Da pflegerisches Wissen eine be-
6.6.1 Pflegeüberleitung/Überleitungspflege grenzte Halbwertszeit hat und neue wissenschaftli-
Definition: Pflegeüberleitung alle Gedanken, che Ergebnisse hinzukommen, werden Experten-
Gefühle und Haltungen, die nötig sind, um standards in regelmäßigen Abständen überarbeitet.
eine weitere kontinuierliche Qualität in der Für die Entwicklung der Expertenstandards ist
Pflege zu gewährleisten, und zwar beim Übergang das DNQP verantwortlich. Das DNQP kooperiert
vom Krankenhaus zur ambulanten Pflege oder Pfle- mit dem Deutschen Pflegerat (DPR), der berufspoli-
geheimversorgung und umgekehrt “ (Joosten 1992 in tischen Dachorganisation der Pflegeverbände und
Sieger, 2003). Sie wird als Prozess verstanden, begin- wird vom Bundesministerium für Gesundheit und
nend am Tag der Aufnahme und endend am Tag der soziale Sicherung gefördert. Die aktuellen Experten-
6
Übernahme durch eine weiterbetreuende Institution standards können Sie unter dem folgenden Link ein-
(Sieger, 2003, S. 23). sehen: www.dnqp.de/de/expertenstandards- und
Überleitungspflege ist „die am Patienten erbrachte -auditinstrumente.
Dienstleistung, d. h., die unmittelbare Betreuung des Laut Moers und Schiemann (2004) sind Exper-
Patienten durch Pflegekräfte, die ihn beim Übergang tenstandards nicht mit Handlungsrichtlinien gleich-
von der einen Betreuungsform in die andere zumin- zusetzen, die sich beispielsweise auf knappe Ar-
dest zeitweise begleiten“ (Domscheit, Wingenfeld beitsablaufsbeschreibungen oder technische Anwei-
1996 in Sieger, 2003). Im Krankenhaus wird sie oft sungen beschränken. Vielmehr geben sie die Zielset-
durch eine oder mehrere Pflegepersonen, die dafür zung komplexer pflegerischer Aufgaben, das profes-
geschult sind, durchgeführt. sionelle Niveau sowie fachliche Handlungsalternati-
ven und Handlungsspielräume an. So werden The-
Die Pflegeüberleitung bezieht sich auf das prozess- men bearbeitet, die einen hohen kommunikativen
hafte Planen der Entlassung der Pflegeperson begin- Einsatz sowie empathische Zuwendung erfordern
nend bei der Aufnahme der zu betreuenden Person und bei denen die Förderung der Patientenautono-
bis zu ihrer Entlassung. Überleitungspflege bezeich- mie, Selbstpflegekompetenzen oder die Anpassung
net alle Maßnahmen, welche von einer oder mehre- an veränderte Lebensumstände eine Rolle spielen.
ren speziellen Pflegepersonen zur Überleitung in Demnach werden im Rahmen der Entwicklung von
eine andere Institution ergriffen werden. Dabei be- nationalen Expertenstandards Pflegethemen bear-
treut die „Überleitungs-Pflegeperson“ die entspre- beitet,
chende Person nur im Zusammenhang mit der Ent- ■ die innovative und komplexe Inhalte transportie-
lassung aus der Institution. Der nationale Experten- ren
standard Entlassungsmanagement in der Pflege gibt ■ die sich auf Pflegeprobleme beziehen, die einen
konkrete Richtlinien, wie die kontinuierliche Be- erheblichen Einschätzungsbedarf mit hohem In-
handlungs- und Betreuungsleistungen bei der Ent- teraktionsanteilen aufweisen
lassung aus dem Krankenhaus qualitativ gesichert ■ die eine orientierungsgebende Funktion für die
werden können. Pflegepraxis haben und
■ die den Transfer pflegewissenschaftlicher Er-
6.6.2 Expertenstandard Entlassungsmanagement kenntnisse fördern (ebd.).
in der Pflege
Ein Expertenstandard ist ein Instrument der Quali- Die Expertenstandards sind in Aussagen zu Struktur,
tätsentwicklung auf nationaler Ebene. Im Vergleich Prozess und Ergebnis unterteilt. Die Struktur bezieht
zu Pflegestandards aus der Praxis werden sie durch sich in der Regel auf die Kompetenzen und Fähig-
ein Expertenteam auf der Basis wissenschaftlicher keiten der Pflegeperson sowie auf die Rahmenbe-
Grundlagen entwickelt, in dem umfassende Litera- dingungen der Einrichtung, die beispielsweise geeig-
turrecherchen und -analysen der nationalen und in- nete Hilfsmittel zur Verfügung stellen oder bauliche
ternationalen Fachliteratur betrieben und die Stan- Bedingungen vorhalten müssen. Das Prozesskriteri-
dards vor ihrer Veröffentlichung modellhaft in aus- um richtet sich auf die Durchführung der Maßnah-

194 Pflege und Profession BAND 1


6.6 Entlassungsmanagement und Pflegeüberleitung

men. Die Pflegekraft wählt beispielsweise geeignete gemeinsam mit dem zu entlassenden Menschen
Assessmentinstrumente aus, um die Patientensitua- und seinen Angehörigen die Ziele. Dabei steht die
tion kriteriengeleitet einzuschätzen. Mit dem Ergeb- Selbstständigkeit im Vordergrund. Im vierten Schritt
nis wird formuliert, was erreicht werden soll, wenn werden ggf. Hilfsmittel organisiert und die entspre-
die Vorgaben der Struktur- und Prozesskriterien chenden finanziellen Unterstützungen beantragt. Im
eingehalten wurden. fünften Schritt wird die Entlassung nach den ge-
Das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung planten Maßnahmen durchgeführt. Der sechste
in der Pflege (DNQP) hat im November 2002 den und letzte Schritt beinhaltet die Evaluation der Pfle-
Expertenstandard zum Thema Entlassungsmanage- geüberleitung. Dies geschieht, indem die Pflegeper-
ment veröffentlicht, die 1. Aktualisierung erfolgte son 48 Stunden nach der Entlassung mit der zu be-
im Juli 2009. treuenden Person, deren Angehörigen und der
Der Expertenstandard „Entlassungsmanage- nachfolgenden Institution (Rehaklinik, häusliche
ment“ ist ein verbindliches, auf wissenschaftlichen Pflegeeinrichtung, Heim, etc.) Kontakt aufnimmt
Untersuchungen beruhendes Instrument, welches und die getroffenen Maßnahmen zur Entlassung
6
die Richtung für das Vorgehen bei der Entlassung auf ihre Zielerreichung hin kontrolliert. Abb. 6.11
aus dem Krankenhaus in andere Versorgungsinsti- zeigt einen möglichen Kurz-Bericht zur Pflegeüber-
tutionen oder umgekehrt vorgibt. leitung und seine Inhalte.
Er bezieht sich auf das Krankenhaus und muss
beim Einsatz in anderen Institutionen wie ambulan- Fazit: Der Pflegeprozess wird seit Mitte der
ten Rehabilitationseinrichtungen, Pflegeheimen, zu 70er Jahre des 20. Jahrhunderts in der deut-
Hause usw. modifiziert werden. schen Pflege diskutiert. Seit seiner gesetzli-
chen Verankerung im Krankenpflegegesetz von 1985
6.6.3 Funktion und Rolle des Pflegeprozesses im und im Altenpflegegesetz von 2001 ist er zur Pflicht
Entlassungsmanagement in der professionellen Pflegepraxis geworden.
Das Entlassungsmanagement wird als Prozess ver- Der Pflegeprozess ist eine systematische, zielge-
standen, der bereits mit der Aufnahme des pflegebe- richtete und dynamische Methode der Pflege zur Lö-
dürftigen Menschen in eine Institution beginnt. Be- sung von Problemen. Es sind verschiedene Modelle des
reits bei der Aufnahme wird folglich die Entlassung Pflegeprozesses bekannt, die sich in erster Linie durch
bzw. Überleitung des pflegebedürftigen Menschen in die Anzahl der aufeinander folgenden Schritte unter-
eine andere pflegerische Versorgungseinrichtung in scheiden. Alle Modelle ermöglichen ein geplantes, sys-
den Blick genommen und systematisch geplant. Auf tematisches und strukturiertes Arbeiten in der Pflege.
diese Weise können zeitliche Reibungsverluste an In den deutschsprachigen Ländern ist das „Sechs-
der Schnittstelle zwischen den Institutionen verrin- Phasen-Modell“ des Pflegeprozesses nach Fiechter und
gert und die Kontinuität der pflegerischen Dienst- Meier am weitesten verbreitet. Sie sehen den Pfle-
leistung für den pflegebedürftigen Menschen auch geprozess sowohl als einen Problemlösungs- als auch
zwischen unterschiedlichen Einrichtungen und Ver- als einen Beziehungsprozess. Dabei unterscheiden sie
sorgungsstrukturen sichergestellt werden. die Phasen der Informationssammlung, des Erkennens
Der Entlassungsprozess kann als Teil des eigent- von Pflegeproblemen und Ressourcen des Patienten,
lichen Pflegeprozesses oder als eigener Prozess ab- der Festlegung der Pflegeziele, der Planung der Pflege-
laufen (Dangel 2004). Im ersten Schritt nimmt die maßnahmen, der Durchführung der Pflege und der
Pflegeperson mithilfe eines Assessment- und Eva- Beurteilung der Wirkung der Pflege auf den betreffen-
luationsinstrumentes die Einschätzung der Pflege- den Menschen.
und Hilfsbedürftigkeit sowie mögliche Probleme In den einzelnen Phasen ist die schriftliche Doku-
bei der Bewältigung des täglichen Lebens spätestens mentation zur Ergebnissicherung und Weitergabe von
24 Stunden nach der Aufnahme vor. Im zweiten Informationen im interdisziplinären Team von spe-
Schritt beurteilt sie diese Fähigkeiten und erkennt zieller Bedeutung. Dabei spielen der Pflegeplan und
mögliche Probleme, welche nach der Entlassung der Pflegebericht eine besondere Rolle.
auftreten könnten. Dementsprechend formuliert sie

BAND 1 Pflege und Profession 195


6

196
Übergeben von Datum Unterschrift
(Stempel)

Name Geburtsname Medizinischer Bereich Allergien / Unverträglichkeiten / krankheitsbedingte Besonderheiten

Vorname Hausarzt Telefon

Anschrift

Pflege und Profession


Konsiliararzt Telefon Herzschrittmacher Heparin Marcumar

Tel. Fam.-Stand Notarzt Telefon Brille / Kontaktlinsen Zahnprothesen oben unten


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

BAND 1
Geb.-Dat. Konfession Diagnosen / pflegebegründete Diagnosen Arm- / Beinprothesen Hörapparat rechts links

Versicherter Gehhilfen
Knapp-
AOK LKK BKK IKK VdAK AEV schaft UV Wundverhältnis ja nein

KV Nr. Pflegestufe Wunde Dekubitus, Stadium:

1. Angehörige Telefon Ort:

Versorgt mit:
mor- mit- abends nachts
2. Angehörige Telefon Medikation siehe Anlage gens tags Kontraktur ja nein

Abb. 6.11 Die Überleitung enthält alle pflegerelevanten Informationen


Ort:

Gesetzliche Betreuung durch: Trombose ja nein

Gesundheitsfürsorge Ort:
selbst- bedingt teilweise unselbst-
Vermögenssorge Sich bewegen können ständig selbstständig selbstständig ständig
Aufenthaltsbestimmung Aufstehen

Telefon Gehen

Mitgeführte Dokumente / Eigentum Treppen gehen

Krankenkassenkarte Patientenverfügung Gebrauch v. Rollstuhl/Gehhilfen

Personalausweis Positionierung bei Bettlägrigkeit

Schwerbehindertenausweis Pflegeinfos
Grund der Überleitung Bedarfsmedikation Inkontinenz Stuhl Urin

letzter Stuhlgang:
zeitlich persönlich
Orientierung beeinträchtigt: örtlich situativ
letzter Eintrag entspricht der Medikation am Tag der Überleitung Kostform:
letzter Krankenhausaufenthalt selbstständig
von bis im Nahrungs- u. Flüssigkeitsaufnahme unselbstständig
6.7 Einflussfaktoren auf die Durchführung der Pflege nach dem Pflegeprozess

Der Pflegeprozess ist als formales Handlungs- Krankenpflegegesetz vom 21. 07. 2003 fordert in
modell eine Methode, die keine Angaben zur inhalt- Abschnitt 2 Ausbildung § 3 Ausbildungsziele die
lichen Gestaltung der einzelnen Phasen macht und der a. Erhebung und Feststellung des Pflegebedarfs,
Einbindung in einen theoretischen Bezugsrahmen be- Planung und Organisation, Durchführung und
darf. Dokumentation der Pflege,
Das Arbeiten mit dem Pflegeprozess kann durch b. Evaluation der Pflege,... (BGBl. 2003 I, Nr. 36).
den Einsatz von EDV und Pflegestandards unterstützt
werden. Bei dem Einsatz dieser Hilfsmittel muss je- Demnach ist jede Pflegeperson für ihr Tun eigenver-
doch immer die individuelle Situation des zu betreu- antwortlich. Um eigenverantwortlich handeln zu
enden Menschen im Auge behalten und berücksichtigt können, sind neben dem Fach- und Sachwissen
werden. auch Qualifikationen aus anderen Bereichen nötig.
Hierzu gehören zum Beispiel Wissen über Arbeits-
organisation, Arbeits- und Lerntechniken, Kommuni-
6.7 Einflussfaktoren auf die kations- und Kooperationsfähigkeit, etc. (s. a. Kap. 2).
Durchführung der Pflege nach 6
Die Durchführung der Pflege nach dem Pfle-
dem Pflegeprozess geprozess hängt maßgeblich von der Qualifikation
der jeweiligen Pflegepersonen ab.
Die Durchführung der Pflege nach dem Pflegepro-
zess ist von vielen Faktoren abhängig. In Anlehnung ▌ Arbeitsorganisation des Pflegedienstes
an Fiechter und Meier können drei Einflussgrößen Der Pflegedienst muss Rahmenbedingungen schaf-
unterschieden werden, die im Folgenden näher be- fen, die eine geplante Pflege nach dem Pflegepro-
schrieben werden. zess ermöglichen. Da die verschiedenen Institutio-
nen des Gesundheitswesens unterschiedliche Ziele
▌ Qualifikation der betreuenden Personen verfolgen, sind entsprechend unterschiedliche Ziel-
Im Arbeitsleben werden unter Qualifikation die vorgaben und Rahmenbedingungen von Bedeutung.
Merkmale eines Menschen hinsichtlich seiner Ar- Je nach den räumlichen, materiellen und personel-
beitsfähigkeit (= Wissen), seiner Arbeitsdisposition len Gegebenheiten ergeben sich dadurch unter-
und Arbeitskondition (= Können) und seiner Ar- schiedliche Möglichkeiten für eine prozessorientier-
beitsbereitschaft (= Wollen) verstanden. Zu den te Pflege. Im Folgenden werden einige Rahmenbe-
Merkmalen der Qualifikation eines Menschen gehö- dingungen beschrieben, die eine geplante Pflege
ren: nach dem Pflegeprozess unterstützen.
■ kognitive Merkmale (Kenntnisse, Verstehen, Fä- Rahmenbedingungen:
higkeit der Problemlösung), ■ Auf jeder Station/jedem Wohnbereich sollte ein
■ affektive Merkmale (Interessen, Empfinden, Handbuch mit Beschreibung der Stationsgege-
Werthaltung), benheiten, angewandten Pflegemethoden und
■ sensomotorische Merkmale (manuelle Geschick- gültigen Pflegestandards zur Orientierung der
lichkeit, Körpergeschicklichkeit, Reaktionsver- Mitarbeiter vorhanden sein.
mögen) und ■ Ein Pflegedokumentationssystem, das die pro-
■ physiologische Merkmale (Belastbarkeit, Ausdau- zessorientierte Pflegedokumentation erlaubt, si-
er, körperliche Kraft, Kondition, Sehen, Hören). chert die Kontinuität der Information über die
Pflege des einzelnen pflegebedürftigen Men-
Die Qualifikationen der betreuenden Personen ver- schen.
langen außerdem die sogenannten Schlüsselqualifi- ■ In regelmäßigen Abständen sollten Dienstüber-
kationen. Hierunter werden berufsübergreifende gaben stattfinden. Sie dienen dem Austausch
Qualifikationen, wie Teamfähigkeit oder Fähigkeit und der Information über die erbrachte Pflege.
zur selbstständigen Problemlösung, verstanden In einer besonderen Form können sie auch als
(s. a. Kap. 3). Diese sind in allen Arbeitsbereichen Übergabe am Patientenbett durchgeführt werden
aufgrund der schnellen Entwicklung der Technik (s. a. Kap. 10).
und Wissenschaft von großer Notwendigkeit. Das ■ Die Durchführung von Pflegevisiten dient einem
regelmäßigen Informationsaustausch zwischen

BAND 1 Pflege und Profession 197


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

der betreuenden Pflegeperson und dem pflege-


bedürftigen Menschen (s. a. Kap. 10). 6.8 Pflegeprozess und
■ Für die Durchführung der Pflege nach dem Pfle- Pflegetheorie
geprozess ist eine ausreichende Anzahl qualifi-
zierter Pflegepersonen in einer Pflegeeinheit er- Der Pflegeprozess ist eine Methode, die das plan-
forderlich. Sie wird im sog. Stellenplan fest- mäßige und systematische Vorgehen bei der Pflege
geschrieben. von Menschen unterstützt.
■ Der Dienstplan sollte so strukturiert sein, dass Als Methode macht der Pflegeprozess keine kon-
eine kontinuierliche Betreuung der pflegebedürf- kreten Angaben darüber, wie Pflegepersonen im
tigen Menschen und damit der Aufbau und die Einzelfall richtig handeln bzw. ihre Pflege ausführen
Fortsetzung einer Pflegebeziehung möglich sind. sollen.
■ Die Durchführung der Pflege nach dem Pfle- Beim praktischen Arbeiten mit dem Pflegepro-
geprozess verlangt darüber hinaus ein sog. pa- zess muss dieser mit „Inhalt“ gefüllt werden. Kon-
tienten- bzw. bewohnerorientiertes Pflegesys- kret heißt das, dass ein theoretischer Bezugsrahmen
6
tem, damit eine Beziehung zwischen pflegebe- benötigt wird, der definiert:
dürftigem Menschen und Pflegeperson entste- ■ Was gilt als Pflegeproblem?
hen kann (s. a. Kap. 8). ■ Wann werden pflegerische Aktivitäten erforder-
lich?
Alle genannten Rahmenbedingungen sind Elemente ■ Welche Ziele verfolgt die Pflege?
der pflegerischen Arbeitsorganisation und beein- ■ Welche Pflegemaßnahmen sind zum Erreichen
flussen die Durchführung der Pflege nach dem Pfle- der Pflegeziele erforderlich?
geprozess.
Vielfach werden diese Fragen mit dem Rückgriff auf
▌ Zusammenarbeit im interdisziplinären Team das persönliche Pflegeverständnis einer Pflegeper-
Die Zusammenarbeit im interdisziplinären Team, son beantwortet.
welches auch als therapeutisches Team bezeichnet Das persönliche Pflegeverständnis kann als eine
wird, beeinflusst die Durchführung der Pflege nach Art „Alltagstheorie“ über Pflege bezeichnet werden.
dem Pflegeprozess. Zum interdisziplinären Team ge- Jede Pflegeperson entwickelt in der Auseinanderset-
hören Mitglieder aller Berufsgruppen, die an der Be- zung mit ihrer beruflichen Tätigkeit eigene Ansich-
treuung der pflegebedürftigen Menschen beteiligt ten oder Vorstellungen darüber, was „gute Pflege“
sind, wie zum Beispiel Pflegepersonal, Ärzte, Psy- ausmacht.
chologen, Sozialarbeiter, Logopäden, Physiothera- Die Konsequenz hieraus ist, dass die Sichtweise
peuten, Seelsorger etc. über Pflege von Pflegeperson zu Pflegeperson un-
Interdiziplinäre Besprechungen geben den ver- terschiedlich sein kann, wie die folgenden Beispiele
schiedenen Berufsgruppen die Möglichkeit, die Ar- verdeutlichen:
beit der anderen kennen und schätzen zu lernen. Sie
fördern die Kooperationsbereitschaft, machen die Beispiel: Pflegeperson A. versteht unter
gemeinsame Zielsetzung transparent und unterstüt- „guter Pflege“, dass sie selbst so viel wie
zen die Abstimmung der Arbeit der jeweiligen Be- möglich für einen pflegebedürftigen Men-
rufsgruppen. schen tut. Konkret bedeutet dies, dass sie meint, ihre
Aufgabe als Pflegeperson sei es, dem pflegebedürftigen
Zusammenfassung: Menschen möglichst viel abzunehmen, damit er
Einflussfaktoren schnell wieder gesund werden kann. Pflegeperson A.
■ Zu den Einflussfaktoren bezogen auf die Durchfüh- übernimmt deshalb alle Tätigkeiten, in denen ein Pfle-
rung der Pflege zählen die Qualifikation und Mo- gebedürftiger Einschränkungen unterliegt. Er wird
tivation der Pflegenden, nur in den Bereichen selbst tätig bzw. gefordert, die
■ unterstützende Rahmenbedingungen bezüglich der er ohne Unterstützung ausführen kann.
Arbeitsorganisation,
■ Zusammenarbeit im Team: Abstimmung der Arbeit
der verschiedenen am Gesundungsprozess beteilig-
ten Berufsgruppen.

198 Pflege und Profession BAND 1


6.8 Pflegeprozess und Pflegetheorie

Pflegeperson B. versteht unter „guter Pflege“, dass sie Im Folgenden wird exemplarisch anhand zweier
die hilfsbedürftigen Menschen so viel wie möglich Pflegetheorien (s. a. Kap. 4) beschrieben, wie diese
selbst tun lässt. Ihre Aufgabe als Pflegeperson sieht sich auf die inhaltliche Gestaltung des Pflegeprozes-
sie darin, sie in den Bereichen, in denen sie Einschrän- ses auswirken.
kungen unterliegen, zu unterstützen. Sie ist der An-
sicht, dass das Ziel „Gesundheit“ schneller erreicht 6.8.1 Roper, Logan und Tierney: Die Elemente
werden kann, wenn hilfsbedürftige Menschen aktiv der Krankenpflege
in die Pflege einbezogen werden, weil auf diese

!
Merke: Die Pflegetheorie der englischen
Weise das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten ge-
Pflegewissenschaftlerinnen Nancy Roper,
stärkt wird und sie schneller lernen, mit Einschrän-
Winifred Logan und Alison Tierney ist im
kungen zurecht zu kommen.
deutschsprachigen Raum bekannt, wird in vielen
Fachbüchern besprochen und liegt einigen Curricula
Die Beispiele zeigen, wenn auch auf idealtypische
der Ausbildung in der Pflege zugrunde.
Weise, dass Unterschiede im Pflegeverständnis
6
bzw. in der persönlichen Sichtweise von Pflege Aus-
wirkungen haben können auf: Roper, Logan und Tierney veröffentlichten ihre
■ Art und Umfang, wie hilfsbedürftige Menschen in Theorie in dem 1980 erschienenen Buch „Die Ele-
die pflegerischen Aktivitäten einbezogen wer- mente der Krankenpflege“. Die drei Pflegetheoreti-
den, kerinnen verbinden dabei Erkenntnisse aus der Psy-
■ Art und Umfang der Handlungen der Pflegeper- chologie, der Physiologie und der Pflege. Ihrer Theo-
son und rie liegt ein Modell des Lebens zugrunde, das we-
■ Zielsetzung der Pflege. sentlich durch die zwölf Lebensaktivitäten charakte-
risiert ist, die allen Menschen gemeinsam sind. Der
Hieraus können eine Reihe von Schwierigkeiten, z. B. einzelne Mensch führt diese Lebensaktivitäten im
für die Kooperation in einer Pflegeeinheit, aber auch Verlauf der Lebensspanne von der Geburt bis zum
für die jeweiligen hilfsbedürftigen Menschen, ent- Tod mit unterschiedlich großer Unabhängigkeit bzw.
stehen, da sie von den in den Beispielen beschriebe- Abhängigkeit von anderen Menschen aus (s. a.
nen Pflegepersonen eine recht unterschiedliche Kap. 4).
Pflege erfahren. Die 12 Lebensaktivitäten nach Roper, Logan und
Pflegetheorien können an dieser Stelle zu einem Tierney sind:
gemeinsamen, einheitlicheren Pflegeverständnis 1. Für eine sichere Umgebung sorgen,
beitragen. Darüber hinaus machen Pflegetheorien 2. Kommunizieren,
Aussagen zu: 3. Atmen,
■ pflegerisch bedeutsamen Konzepten, wie z. B. 4. Essen und trinken,
Gesundheit, Krankheit, Pflege etc., 5. Ausscheiden,
■ Art und Umfang pflegerischer Aktivitäten, 6. Sich sauber halten und kleiden,
■ Rolle der Pflegepersonen im Gesundheitswesen 7. Die Körpertemperatur regulieren,
und 8. Sich bewegen,
■ Zielsetzung der Pflege. 9. Arbeiten und spielen,
10. Sich als Mann und Frau fühlen und verhalten,
Sie wirken sich so auf die inhaltliche Gestaltung aller 11. Schlafen und
Schritte des Pflegeprozesses aus. 12. Sterben.

!
Merke: Der Pflegeprozess ist eine Methode, Roper, Logan und Tierney gehen davon aus, dass die
die das strukturierte und systematische Unterschiede im Verhalten der jeweiligen Menschen
Vorgehen bei der Pflege von Menschen er- sich aus deren biologischen Lebensläufen und den
möglicht. Er muss in den theoretisch-konzeptuellen von ihnen in ihrem kulturellen und sozialen Umfeld
Bezugsrahmen einer Pflegetheorie eingebunden wer- gemachten Erfahrungen ergeben.
den, um inhaltlich sinnvoll gefüllt werden zu können.

BAND 1 Pflege und Profession 199


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

Sobald ein Mensch aus einer relativen Unabhän- Tab. 6.8 Schritte des Pflegeprozesses nach Fiechter und
gigkeit in eine relative Abhängigkeit in einer oder Meier im Rahmen der Pflegetheorie von Roper, Logan und
Tierney
mehreren Lebensaktivitäten gerät, ist das ein
Grund für ein Eingreifen der Pflege. Schritte des Pflegepro- Inhalte nach der Pflegetheorie von Roper,
Dabei ist es die Aufgabe der Pflegeperson, den zesses nach Fiechter und Logan und Tierney
Meier
betroffenen Menschen darin zu unterstützen,
schnell wieder eine größtmögliche Unabhängigkeit 1. Informations- Erheben des relativen Abhängigkeits-
in der betroffenen Lebensaktivität zu erlangen oder sammlung grades in allen 12 Lebensaktivitäten
mit einer bleibenden Abhängigkeit zurecht zu kom-
2. Erkennen von Feststellen der aktuellen und/oder po-
men. Problemen und tentiellen Abhängigkeit in Bezug auf
Die Phasen des Pflegeprozesses können gut auf Ressourcen des die 12 Lebensaktivitäten
die Theorie von Roper, Logan und Tierney angewen- pflegebedürftigen Ermitteln der Gewohnheiten und Res-
Menschen sourcen in Bezug auf die 12 Lebens-
det werden. In der Informationssammlung ermitteln
aktivitäten
Pflegeperson und pflegebedürftiger Mensch ge-
6 3. Festlegung der Welche relative Unabhängigkeit kann/
meinsam Pflegeprobleme und Ressourcen bezogen
Pflegeziele soll in den einzelnen Lebensaktivitäten
auf die Lebensaktivitäten.
erreicht werden?
In der zweiten Phase des Pflegeprozesses wird
ermittelt, in welchen Lebensaktivitäten eine aktuelle 4. Planung der Pflege- Planung der Pflegemaßnahmen in
maßnahmen Bezug auf die Lebensaktivitäten
oder potenzielle Abhängigkeit (Problem) vorliegt
und über welche früheren Gewohnheiten und Be- 5. Durchführung der Durchführung von vorbeugenden, das
wältigungsstrategien der pflegebedürftige Mensch Pflege Leben erleichternden und unterstüt-
verfügt (Ressourcen). zenden Pflegemaßnahmen unter Ein-
bezug der Ressourcen
Auf die gleiche Art und Weise werden die ange-
strebten Ziele bzw. der zu erreichende Grad der Un- 6. Beurteilung der Wir- Beurteilung des erreichten Selbststän-
abhängigkeit in den einzelnen Lebensaktivitäten kung der Pflege auf digkeitsgrades in Bezug auf die Le-
den pflegebedürfti- bensaktivitäten; ggf. Festlegung neuer
festgehalten. gen Menschen Ziele und/oder Anpassung der Pflege-
In Abhängigkeit von den formulierten Zielen maßnahmen
werden in einem vierten Schritt die Pflegemaßnah-
men ausgewählt, die zum Erreichen des Ziels füh-
ren. die Beziehung zwischen Pflegeperson und pflegebe-
Zur Beurteilung bzw. Evaluation der Pflege wer- dürftigem Menschen steht. Peplau bezeichnet Pflege
den die Lebensaktivitäten vor und nach der Durch- als einen psychodynamischen Prozess, in welchem
führung der Pflege beurteilt und mit den geplanten die Beziehung zwischen Pflegeperson und pflegebe-
Zielen verglichen. Dabei gilt der erreichte Grad der dürftigem Menschen unterschiedliche Phasen
Unabhängigkeit des pflegebedürftigen Menschen als durchläuft und die beteiligten Personen wechselnde
Kriterium für die Zielerreichung. Rollen innehaben (s. a. Kap. 4). Peplau beschreibt
Sollte das vereinbarte Ziel in einem oder mehre- vier Phasen der Interaktion zwischen Pflegeperson
ren Bereichen der Lebensaktivitäten nicht erreicht und pflegebedürftigem Menschen:
sein, werden entweder neue Pflegemaßnahmen 1. Orientierung,
ausgewählt, die Intensität der bereits durchgeführ- 2. Identifikation,
ten Maßnahmen gesteigert oder neue Pflegeziele 3. Nutzung und
formuliert. Tab. 6.8 veranschaulicht die Schritte des 4. Ablösung.
Pflegeprozesses in der Pflegetheorie von Roper,
Logan und Tierney. In jeder dieser Phasen sind die Schritte des Pfle-
geprozesses anwendbar.
6.8.2 Hildegard Peplau: Interpersonale Die Orientierungsphase beschreibt Peplau als
Beziehungen in der Pflege den Beginn der pflegerischen Beziehung. Pflegeper-
Hildegard Peplau veröffentlichte ihre Theorie der son und pflegedürftiger Mensch begegnen sich zum
psychodynamischen Pflege 1952. Sie wird den sog. ersten Mal. Gemeinsam soll das Problem des pflege-
Interaktionsmodellen zugerechnet, da im Zentrum bedürftigen Menschen ermittelt werden. In der

200 Pflege und Profession BAND 1


6.8 Pflegeprozess und Pflegetheorie

Identifikationsphase hat sich laut Peplau eine Ver- Probleme auf, beginnt der Pflegeprozess in dieser
trauensbasis zwischen Pflegeperson und pflegebe- Phase von Neuem.
dürftigem Menschen entwickelt, die es dem pflege- Entscheidend ist, dass das Bewusstsein der je-
bedürftigen Menschen ermöglicht, sich der Pflege- weiligen Pflegeperson über die Phase, in der sich
person zu öffnen. Der pflegebedürftige Mensch er- die Beziehung zwischen ihr und dem pflegebedürf-
kennt die Pflegeperson als einen Menschen, der ihm tigen Menschen befindet, dazu beiträgt, den pflege-
bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse bzw. der Be- bedürftigen Menschen effektiver beim Erkennen
arbeitung seiner Probleme helfen kann. Gemeinsam und Bewältigen seiner Probleme zu unterstützen.
kann in dieser Phase ein Pflegeplan für den pflege- Tab. 6.9 zeigt die Phasen der Interaktion zwi-
bedürftigen Menschen erstellt werden. In der Phase schen Pflegeperson und pflegebedürftigen Men-
der Nutzung nimmt der pflegebedürftige Mensch schen (nach Peplau) in Verbindung mit dem Pfle-
die ihm gebotene Unterstützung in Anspruch und geprozess.
zieht bedingungslosen Nutzen aus den Angeboten, Pflege bezeichnet Peplau dann als hilfreich, wenn
die ihm von der Pflege entgegengebracht werden. beide, Pflegeperson und pflegebedürftiger Mensch,
6
Gemeinsam werden die Probleme des pflegebedürf- aus der pflegerischen Beziehung heraus sich persön-
tigen Menschen bearbeitet. Die Ablösungsphase ist lich weiterentwickeln und etwas lernen konnten.
dadurch gekennzeichnet, dass die Bedürfnisse des Wie exemplarisch an den Pflegetheorien von Ro-
pflegebedürftigen Menschen befriedigt sind. In die- per, Logan und Tierney und Peplau gezeigt, können
ser Phase steckt er sich Ziele für die Zukunft. In der auch andere Pflegetheorien als theoretisch-konzep-
Ablösungsphase berät und unterstützt die Pflege- tueller Bezugsrahmen für den Pflegeprozess dienen.
person den pflegebedürftigen Menschen in seinem Wichtig ist, dass der Pflegeprozess in einen theo-
Bemühen, künftig ohne fremde Hilfe handeln zu retischen Bezugsrahmen eingebunden wird, wenn
können. er sinnvoll eingesetzt wird und den Bedürfnissen
Der Verlauf der Phasen in Peplaus Theorie ist von pflegebedürftigen Menschen Rechnung tragen
linear, d. h. die einzelnen Phasen laufen idealtypisch soll.
entlang einer gedachten Achse in einer geraden Diese Ansicht vertreten auch Höhmann u. Mit-
Linie hintereinander ab (Überschneidungen bzw. arb., die in ihrer im Auftrag des Bundesministeriums
„Rückfälle“ in frühere Phasen sind möglich). Der für Arbeit und Sozialforschung durchgeführten For-
Pflegeprozess mit seinen sechs Phasen ist ein zykli- schungsstudie „Die Bedeutung des Pflegeplanes für
sches Geschehen, d. h. er wird im Sinne eines Regel- die Qualitätssicherung in der Pflege“ bereits 1996
kreises innerhalb der einzelnen Phasen so lange eine Schwierigkeit bei der Umsetzung des Pfle-
durchlaufen, bis das jeweilige Problem des pflegebe- geprozesskonzeptes in die Pflegepraxis darin sehen,
dürftigen Menschen in der Phase gelöst ist. Treten dass der Pflegeprozess häufig ohne Einbindung in
nach dem Lösen eines Problems in einer Phase neue theoretische Überlegungen in Pflegeeinrichtungen

Tab. 6.9 Phasen der Interaktion zwischen Pflegeperson und pflegebedürftigem Menschen (nach Peplau) und der Pfle-
geprozess

Pflegeprozess Interaktionsphasen nach Peplau

Assessment (Einschätzung) Sammeln von Informationen; erstellen Orientierungsphase


einer Pflegediagnose
Planung Setzen von Prioritäten, dokumentieren Identifikationsphase
der Pflegeziele
Durchführung Durchführung der Pflege Nutzungsphase
Evaluation (Bewertung) Bewerten der Pflege Ablösungsphase

Der Pflegeprozess ist ein zyklischer Vorgang; es gibt kurzfristige und langfristige Ziele das Modell von Peplau ist linear: es hat
der Pflege: in jeder Phase des Peplauschen Modells kann es mehr als nur einen Pflege- einen Anfang und ein Ende
zyklus geben

BAND 1 Pflege und Profession 201


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

eingeführt und damit zu einem rein mechanisti- Bienstein (1995) unterteilt Standards in Abhän-
schen Handlungsmodell wird. gigkeit von ihrer jeweiligen Größe. Standards der
Makro-Ebene beziehen sich auf den Gesamtstandard
eines Krankenhauses oder anderer Institutionen des
6.9 Pflegeprozess und Gesundheitswesens. Mediale Standards definieren
Pflegestandards übergreifende, größere pflegerelevante Handlungs-
einheiten im Gegensatz zu Mikrostandards, die ein-
Im Allgemeinen wird unter einem Standard eine zelne Pflegesituationen beschreiben.
Richtschnur, ein Maßstab oder eine Norm verstan- Neben dieser Einteilung der Standards nach ihrer
den. Ziel der Einführung eines Standards ist das Er- Größenordnung ist die Zuordnung zu verschiedenen
zeugen und die Sicherstellung einer bestimmten Standardarten gebräuchlich. Hierbei werden Pfle-
Leistung. gestandards in drei Arten unterschieden:
Die berufliche Pflege erbringt ihre Leistung im 1. strukturorientierte Standards,
Dienstleistungsbereich. Auch diese Arbeit muss 2. prozessorientierte Standards und
6
strukturiert erfolgen und Qualität garantieren. Die 3. ergebnisorientierte Standards.
hier eingesetzten Standards werden als Pflege-
standards bezeichnet. Der Einsatz von Pflegestan- 6.9.1 Strukturorientierte Standards
dards im Rahmen des Pflegeprozesses kann die pfle- Strukturorientierte Standards beziehen sich all-
gerische Arbeit u. a. dahingehend unterstützen, gemein auf die Organisationsstruktur eines Kran-
dass: kenhauses oder einer anderen Pflegeinstitution.
■ die Qualität der zu erbringenden Pflege auf Speziell davon abgeleitet beschreiben sie die Orga-
einem festgeschriebenen Niveau sichergestellt, nisationsform in der Pflege. Dabei berücksichtigen
■ die Einheitlichkeit von Arbeitsabläufen und Pfle- strukturorientierte Standards die betriebliche Ziel-
gemaßnahmen unterstützt, setzung, budgetäre Verhältnisse, Personalbedarf
■ ein ökonomisches Zeitmanagement ermöglicht und die Qualifikationen der einzelnen Pflegeper-
und sonen, Materialien und Ausstattung mit medizi-
■ die schriftliche Dokumentation erleichtert wird. nischen Geräten sowie räumliche Erfordernisse etc.

Pflegestandards sind Dienstanweisungen, die all-


gemein anerkannt und verpflichtend für alle Mit- Beispiele für strukturorientierte Standards in
arbeiter sind. Die Kriterien in einem Pflegestandard Pflegeeinrichtungen sind:
sind eindeutig formuliert und sollten wissenschaft-
■ Jeder Leiter einer Station oder eines Wohnbereichs
lich begründet sein. Laut WHO entsprechen Stan- hat die Weiterbildung zur Leitung erfolgreich abge-
schlossen.
dards einem erreichbaren und professionell abge-
■ Auf jeder Station/Wohnbereich gibt es mindestens
stimmten Leistungsniveau und geben ein festgeleg-
einen Mentor zur Einarbeitung neuer Mitarbeiter
tes SOLL der Pflegequalität wieder, an dem die tat-
und zur Begleitung der praktischen Ausbildung
sächliche Leistung gemessen werden kann.
von Lernenden in der Pflege.
■ Patienten dürfen nur unter Begleitung einer exa-

!
Merke: Pflegestandards sind allgemein gül-
minierten Pflegeperson aus dem Aufwachraum ab-
tige und anerkannte Maßstäbe für das Er- geholt werden.
bringen der Pflege. Sie liefern Kriterien, an- ■ Jede Pflegeperson muss mindestens 2mal jährlich
hand derer die Qualität in bestimmten Bereichen der an einer Fortbildung „Korrektes Handeln in Notfall-
Pflege erreicht und überprüft werden kann. situationen“ teilnehmen.
■ Jedes Zimmer eines Wohnbereiches hat maximal
Für die Pflege gibt es eine Reihe unterschiedlicher zwei Betten und eine räumlich abgetrennte Dusche
Standards, die verschiedenen Klassen zugeordnet mit Waschbecken und WC.
werden. Eine Klassifizierung bzw. Einteilung von ■ Mit jedem pflegebedürftigen Menschen wird ein
Pflegestandards kann u. a. hinsichtlich ihrer Größen- Aufnahmegespräch durch die betreuende exa-
ordnung und Art vorgenommen werden. minierte Pflegeperson geführt.

202 Pflege und Profession BAND 1


6.9 Pflegeprozess und Pflegestandards

ausgeführt werden sollen. Sie können z. B. im Rah-


■ Sofern vorhanden, wird das soziale Umfeld des Pa- men von Arbeitsgruppen in den verschiedenen In-
tienten, wie Angehörige, Lebenspartner, Freunde,
stitutionen des Gesundheitswesens entwickelt wer-
Bezugspersonen im früheren Alten- oder Wohnheim
den. Zumeist werden die entwickelten Pflegestan-
etc., in die Pflege mit einbezogen.
dards mit einer Nummer versehen. Im Pflegebericht
■ Bei jedem pflegebedürftigen Menschen wird die
sind bei der Durchführung einer Pflegemaßnahme
Pflege nach dem Pflegeprozess strukturiert und sys-
nach einem Pflegestandard auf diese Weise nur
tematisiert.
noch die entsprechende Nummer des Standards
und evtl. aufgetretene Besonderheiten zu dokumen-
tieren. Hierdurch kann der Zeitaufwand für die Do-
Strukturstandards können besonders in ihren räum- kumentation erheblich gesenkt werden. Einen
lichen Vorgaben je nach Einrichtung erhebliche Ab- Durchführungsstandard für das Vorgehen beim Wa-
weichungen voneinander aufzeigen. Durch die insti- schen der Haare im Bett zeigt folgendes Beispiel:
tutionsinternen Vorgaben, wie zum Beispiel Aufbau,
6
personelle Besetzung, finanzielle Möglichkeiten, Beispiel: Krankenhaus X – Stadt
Ausstattung, etc., werden der Pflege bestimmte Rah- Pflegestandard 3.2: Waschen der Haare im
menbedingungen vorgegeben, mit denen sie sich ar- Bett
rangieren muss. Qualifikation:
Manche Strukturstandards, wie zum Beispiel die 1 Gesundheits- und Krankenpflegeperson
räumliche Gestaltung, lassen sich nur auf lange Sicht
hin verändern. Ziel:
Wohlbefinden des pflegebedürftigen Menschen,

!
Merke: Strukturorientierte Standards be- Reinigung der Haare.
ziehen sich auf die Organisationsstruktur
einer Institution und berücksichtigen deren Häufigkeit:
personelle, lokale, temporale, technische, organisato- nach Wunsch des pflegebedürftigen Menschen,
rische und ökologische Ausstattung. mindestens 1 × pro Woche.

6.9.2 Prozessorientierte Standards Vorbereitung


Die prozessorientierten Standards sagen etwas über Material:
den Ablauf der einzelnen Tätigkeiten in der Pflege ■ 1 Kamm oder Bürste (patienten-/bewohnerbezo-
aus. Dabei ist der Pflegeprozess richtungsgebend. gen), Einmalschürze,
Der prozessorientierte Standard beinhaltet Art und ■ 1 Föhn,
Umfang der pflegerischen Maßnahmen. Die Pflege- ■ 1 Spezialwanne zur Haarwäsche im Bett,
maßnahmen werden durch pflegerische Zielsetzun- ■ 1 Eimer zum Auffangen des Spülwassers,
gen, zum Beispiel durch das Arbeiten nach einer ■ 1 wasserundurchlässiger Bettschutz,
Pflegetheorie geleitet. In dieser Art von Standards ■ 2 Handtücher (nach Möglichkeit patienten-/be-
ist die Prozessqualität, d. h. die Qualität der durch- wohnereigene verwenden),
geführten einzelnen Pflegemaßnahmen in den Be- ■ Shampoo (nach Möglichkeit patienten-/bewohner-
reichen der Diagnostik, Therapie und Behandlung, eigenes),
dokumentiert. Prozessorientierte Standards können ■ 1 Waschschale mit Wasser,
unterschieden werden in: ■ 1 Gefäß zum Spülen.
■ Durchführungsstandards und
■ Standardpflegepläne. Pflegebedürftiger Mensch:
■ Information,
▌ Durchführungsstandards ■ Bett in Arbeitshöhe bringen,
Durchführungsstandards standardisieren, wie die ■ Kopfkissen entfernen,
Bezeichnung bereits ausdrückt, die Durchführung ■ 1 Handtuch unter den Nacken legen.
einzelner pflegerischer Tätigkeiten. Sie enthalten
Angaben dazu, auf welche Weise diese Tätigkeiten

BAND 1 Pflege und Profession 203


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

Pflegeperson: kubitus, Thrombose oder Pneumonie, nach sich ziehen


■ Hygienische Händedesinfektion können.

Raum: Im Standardpflegeplan werden solche generellen


■ Fenster schließen und potenziellen Pflegeprobleme festgehalten, wel-
che bei der Mehrzahl der Patienten einer bestimm-
Durchführung ten Patientengruppe auftreten. Den einzelnen Pfle-
■ Schürze anziehen, geproblemen werden die entsprechenden Pflegezie-
■ Kopfteil des Bettes flach stellen, le und -maßnahmen zugeordnet, die sich durch be-
■ Bettschutz einziehen, rufliche Erfahrung und wissenschaftliche Forschung
■ Haarwaschwanne unter dem Oberkörper des pfle- bestätigt haben. Dabei haben auch die Ziele und
gebedürftigen Menschen positionieren, Maßnahmen einen generellen Charakter.
■ Eimer zum Auffangen des Spülwassers positionie- Standardpflegepläne können für pflegebedürfti-
ren, ge Menschen sowie für typische pflegerische Situa-
6 ■ Haare anfeuchten, tionen erarbeitet werden. Häufig werden sie für
■ Haare shampoonieren, dabei die Kopfhaut mit pflegebedürftige Menschen mit einer bestimmten
kreisenden Bewegungen der Finger massieren, typischen medizinischen Diagnose, beispielsweise
■ Haare so oft ausspülen, bis sich kein Shampoo für Menschen, die an einer Pneumonie, einem Herz-
mehr im Haar befindet, infarkt etc. erkrankt sind, formuliert. Auch für Pfle-
■ 2. Handtuch um den Kopf wickeln, Haare frottie- gediagnosen ist die Entwicklung von Standardpfle-
ren, geplänen möglich. Eine andere Möglichkeit der Zu-
■ Waschwanne entfernen, ordnung sind Pläne für bestimmte pflegerische Si-
■ Pflegebedürftigen Menschen nach Möglichkeit im tuationen, z. B. für die postoperative Pflege nach ab-
Sitzen frisieren, Haare gründlich trocknen, dominalen Operationen oder für beatmungspflichti-
■ Pflegebedürftigen Menschen bei der Einnahme ge Patienten im Bereich der Intensivpflege.
einer angenehmen Position unterstützen. Die Vorgehensweise beim Erstellen eines Stan-
dardpflegeplanes ist jeweils identisch: Generelle
Nachbereitung und potenzielle Pflegeprobleme werden erarbeitet
Material: und mit den entsprechenden Pflegezielen und
■ Waschwanne desinfizieren, -maßnahmen versehen.
■ Einmalutensilien entsorgen. Das Arbeiten mit Standardpflegeplänen erleich-
tert die pflegerische Berufsausübung vor allem da-
Pflegeperson: hingehend, dass das Einarbeiten neuer Mitarbeiter
■ hygienische Händedesinfektion, und Berufsanfänger sowie Lernender in den Pflege-
■ Dokumentation der Maßnahme im Pflegebericht. berufen unterstützt wird. Der Zeitaufwand für die
schriftliche Dokumentation wird minimiert und
▌ Standardpflegepläne eine bestimmte Qualität der zu erbringenden Pfle-
Nach Fiechter und Meier (1998) ist ein Standardpfle- geleistung sichergestellt. Tab. 6.10 zeigt einen Aus-
geplan eine konstante pflegerische Verordnung für zug aus einem Standardpflegeplan für Patienten
ein typisches, unter bestimmten Umständen auftre- nach einem abdominal-chirurgischen Eingriff.
tendes Problem. Dabei ist jedoch unbedingt zu beachten, dass
In bestimmten Pflegebereichen tauchen spezi- jeder Standardpflegeplan auf die individuellen Be-
fische Pflegeprobleme generell bei bestimmten dürfnisse und Ressourcen des pflegebedürftigen
Gruppen von pflegebedürftigen Menschen auf. Menschen abgestimmt und angepasst werden
muss. Auf keinen Fall dürfen Standardpflegepläne
Beispiel: Alle Patienten leiden nach einem in der jeweiligen Situation unreflektiert für einen
abdominal-chirurgischen Eingriff unter pflegebedürftigen Menschen übernommen werden.
einer eingeschränkten Mobilität, die eine Individuelle Pflegeprobleme, die keinem Stan-
Reihe von potenziellen Pflegeproblemen, wie z. B. De- dard entnommen werden können, werden dem
Standard hinzugefügt. Genauso werden Abweichun-

204 Pflege und Profession BAND 1


6.9 Pflegeprozess und Pflegestandards

Tab. 6.10 Auszug aus einem möglichen Standardpflegeplan für pflegebedürftige Menschen nach abdominal-chirurgischen
Eingriffen

Pflegeproblem Pflegeziel Pflegemaßnahme

Schmerzen im Wundgebiet auf- ● Äußert Schmerzen nach NRS > 3 ● Information über Schmerzursache (OP-Reizung/Wun-
grund der intraoperativen Ge- ● Kennt Verhaltensweisen zur de) und Maßnahmen zur Schmerzlinderung (Positio-
websverletzung Schmerzreduktion (Positionierung) nierung/Analgetika nach Arztanordnung) am (Datum)
● Kennt die Möglichkeit der Schmerz- Positionierung:
kontrolle durch Gabe von Analgetika ● Bauchdecke entspannen (Kissen unter die Knie legen)
● Oberkörper leicht erhöht

Kann die Körperpflege nicht ● Hat gepflegtes Äußeres und fühlt ● 2 × täglich Körperpflege im Bett mit eigenen Körper-
selbstständig durchführen auf- sich erfrischt pflegeutensilien ermöglichen
grund postoperativer Immobilität ● Führt Körperpflege ab 3. postope- ● Hilfestellung/Übernahme durch die Pflegeperson je
rativen Tag am Waschbecken über- nach Zustand des Patienten
wiegend selbstständig durch ● 1. und 2. postoperativer Tag Körperpflege im Bett
● 3. postoperativer Tag Körperpflege am Waschbecken
6
Gefahr der Infektion der Einstich- ● Reizlose Einstichstelle und Venen- ● Information über Sinn, Zweck, voraussichtliche Liege-
stelle und von Phlebitis aufgrund verlauf dauer und Umgang mit der Kanüle und dem Infusi-
der Venenverweilkanüle zur Infusi- ● Kennt Anzeichen einer beginnenden onssystem (keine Manipulationen, Bewegungsradius,
onstherapie Infektion und meldet sich bei auf- Abknickungen)
tretenden Anzeichen ● 1 × tägl. aseptischer Verbandwechsel der Einstichstelle
● Kennt Bewegungsradius und Um- mit Inspektion der Einstichstelle und des Venenverlaufs
gang mit Infusionssystem auf Entzündungszeichen

Gefahr der postoperativen Darm- ● Führt am 3. postoperativen Tag ab ● Wenn bis zum 3. postoperativen Tag keine spontane
atonie aufgrund der intraoperati- ● Kennt Notwendigkeit des Abführens Defäkation erfolgt:
ven Manipulation am Bauchfell ● am 3. postoperativen Tag Abführmaßnahmen nach
Arztanordnung
● Information über Sinn und Zweck sowie Wirkung der
Abführmaßnahme

Gefahr des postoperativen Harn- ● Lässt spontan und beschwerdefrei ● Wenn postoperativ nach 6 Stunden keine spontane
verhalts innerhalb von 6 Stunden nach OP Miktion erfolgt:
Urin ● Stimulation der Miktion (Laufenlassen von Wasser/
Hände in lauwarmes Wasser legen)
● Evtl. Einmalkatheterismus nach Arztanordnung

gen vom Standard im Pflegebericht dokumentiert. 6.9.3 Ergebnisorientierte Standards


Um mit Standardpflegeplänen effektiv arbeiten zu Ergebnisorientierte Standards oder „Outcome-Stan-
können, müssen diese in festgelegten Zeitabständen dards“ beschreiben die Wirkung der Pflegetätigkei-
immer wieder überarbeitet und auf den aktuellen ten. Es werden generelle Pflegeziele formuliert, nach
Stand der Wissenschaft gebracht werden. denen beurteilt wird, ob durch die durchgeführten
Pflegetätigkeiten das Endziel erreicht bzw. nicht er-

!
Merke: Ein Standardpflegeplan umfasst reicht und warum es nicht erreicht wurde.
generelle und potenzielle Pflegeprobleme, Der ergebnisorientierte Standard bezieht sich auf
-ziele und -maßnahmen, die bei der Mehr- den im Pflegeprozess letzten Schritt, die „Beurtei-
zahl einer Patientengruppe auftreten. Er kann für lung der Wirkung der Pflege auf den pflegebedürf-
Menschen mit bestimmten Krankheitsbildern, einzel- tigen Menschen“, also auf die Evaluation der Pflege-
ne Pflegediagnosen oder typische pflegerische Situa- maßnahmen und der gesetzten Fernziele.
tionen erarbeitet werden. Ein Beispiel für einen ergebnisorientierten Stan-
dard ist: Patienten, die aus der speziellen Diabetes-
Klinik entlassen werden, können sich bei der Entlas-
sung selbstständig die jeweils erforderliche Menge
Insulin injizieren.

BAND 1 Pflege und Profession 205


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

!
Merke: Der ergebnisorientierte Standard gefördert. Die eigenen Tätigkeiten werden reflek-
beschreibt den Gesundheits- und Zufrieden- tiert, was sowohl die persönliche als auch die beruf-
heitszustand des pflegebedürftigen Men- liche Weiterentwicklung unterstützt.
schen, der Angehörigen und der betreuenden Per- Auch der zeitliche Aufwand für die Dokumenta-
sonen. Er ist das Maß des Erfolges, welcher durch tion kann mit Hilfe von Standards vermindert wer-
das Erreichen, teilweise Erreichen oder Nichterreichen den. So kann z. B. im Pflegebericht vermerkt wer-
der Pflegeziele nachweisbar ist. den, dass der Dauerkatheter nach Standard X gelegt
wurde. Dann müssen nur noch das Datum, die Zeit,
Die unterschiedlichen Standardarten sind unmittel- die Charrière (Durchmesser des Katheterlumens),
bar voneinander abhängig. Der Ergebnisstandard evtl. aufgetretene Komplikationen und das entspre-
kann nur so gut sein, wie der strukturorientierte chende Handzeichen der ausführenden Person do-
und der prozessorientierte Standard dies ermögli- kumentiert werden.
chen. Es müssen immer alle drei Bereiche betrachtet Wurden die Standards gemeinsam von allen im
und bearbeitet werden, um eine gute Pflegequalität Behandlungsteam Tätigen erarbeitet, werden sie in
6
zu erreichen und zu sichern (Abb. 6.12). der Regel akzeptiert und somit eine Kontinuität der
geleisteten Pflege und eine gute Zusammenarbeit
6.9.4 Vorteile und kritische Aspekte beim im Team ermöglicht.
Arbeiten mit Pflegestandards Des Weiteren kann eine Leistungserfassung der
Das Arbeiten mit Pflegestandards bringt eine Reihe Pflegetätigkeiten durch Pflegestandards erfolgen,
von Vorteilen mit sich. Pflegestandards gewährleis- indem durch Vergleichsstudien der benötigte Zeit-
ten eine qualitativ hochwertige und einheitliche aufwand für bestimmte standardisierte pflegerische
Pflege für die betroffenen Menschen, indem sie ein Tätigkeiten ermittelt wird.
bestimmtes Maß an Pflegequalität vorgeben. Sie Wird nun ein Pflegeplan an Hand von Standards
sind ein rationales Arbeitsinstrument, da die zu be- für einen pflegebedürftigen Menschen erstellt, kann
achtenden Punkte bei der Durchführung bestimmter auf Grund des ermittelten Zeitaufwandes einzelner
Pflegemaßnahmen im Standard enthalten sind. standardisierter Pflegetätigkeiten aus dem Doku-
Arbeiten Pflegepersonen nach den Standards, ist mentationssystem die erbrachte Leistung im Sinne
routiniertes Handeln mit einem geringeren Zeitauf- des Zeitaufwandes ermittelt werden.
wand möglich. Dadurch wird wirtschaftliches Pfle-

!
gen unterstützt. In vielen Institutionen des Gesund- Merke: Die Vorteile beim Arbeiten mit Pfle-
heitswesens haben sich Projektgruppen gebildet, die gestandards lassen sich wie folgt zusam-
sich mit der Entwicklung von Pflegestandards be- menfassen:
schäftigen. ■ Pflegestandards machen Pflegeleistungen sichtbar
Hierdurch wird gleichzeitig die Auseinanderset- und messbar,
zung der Pflegepersonen mit beruflichen Themen

Abb. 6.12 Pflegeprozess in der Wechsel-


Pflegeprozess und Pflegetheorie wirkung mit Pflegetheorie und Pflege-
Methode des Pflegeprozesses muss mit den Inhalten einer Pflegetheorie standard
gefŸllt werden
verschiedene Pflegetheorien sind, je nach Institution mšglich
beugt einem von einer bestimmten Pflegeperson abhŠngigen ãPflegestilÒ
vor
Pflegestandards

strukturorientiert prozessorientiert ergebnisorientiert


Organisationsform Ð DurchfŸhrungsstandard Evaluation in der
in der Pflege Ð StandardpflegeplŠne Pflege

wichtig: alle Standards mŸssen mit dem individualen Pflegebedarf abge-


stimmt werden

206 Pflege und Profession BAND 1


6.10 Pflegequalität

■ Pflegestandards dienen als Instrument für die Eva- allen Einrichtungen des Gesundheitswesens in den
luation der Pflegequalität, letzten Jahren eine neue Qualitätskultur entwickelt.
■ Pflegestandards können eingesetzt werden, um
den Bedarf an Pflegepersonal zu eruieren, 6.10.1 Grundlagen zum Qualitätsbegriff
■ Pflegestandards sind Richtlinien für die Inhalte von
Beispiel: Stellen sie sich vor: Sie haben von
Curricula in Aus-, Fort- und Weiterbildung, ihren Großeltern zum Geburtstag Geld für
■ Pflegestandards erleichtern im Zusammenhang ein neues Handy geschenkt bekommen, das
mit dem Pflegeprozess die Pflegedokumentation, sie sich nun kaufen möchten. Sie haben sicherlich be-
■ Pflegestandards unterstützen die Einarbeitung stimmte Ansprüche an das Gerät. Formulieren Sie,
neuer Mitarbeiter, Berufsanfänger und Lernender nach welchen Kriterien Sie das Handy auswählen
in den Pflegeberufen, würden. Was wäre Ihnen besonders wichtig? Fertigen
■ Pflegestandards tragen zur Rationalisierung von Sie ein Mind-Map an und machen Sie sich die ver-
Arbeitsabläufen bei, ohne die individuelle Versor- schiedenen Einflussfaktoren auf ihre Kaufentschei-
gung eines pflegebedürftigen Menschen zu beein-
dung bewusst. 6
trächtigen.

Beim Arbeiten mit Pflegestandards sind allerdings Der Begriff Qualität (lat. qualitas) bedeutet neutral
auch einige kritische Aspekte zu beachten. Pfle- gesehen, so viel wie „Beschaffenheit“, „Merkmal“,
gestandards dürfen nicht unüberlegt angewendet „Eigenschaft“ oder „Zustand“ und kann sich auf ein
werden. Der unreflektierte Einsatz von Standards Objekt, auf einen Prozess oder auf ein System bezie-
führt dazu, dass pflegerische Handlungen auto- hen. Häufig wird mit dem Begriff aber auch ein Gü-
matisch ablaufen und in unvorhergesehenen, plötz- temerkmal eines Produkts beschrieben. Das Produkt
lich eintretenden Situationen u. U. nicht angemessen kann eine Ware oder eine Dienstleistung sein. Am
reagiert wird. Beispiel des Handykaufs könnte sich die Qualität auf
Werden Standardpflegepläne nicht an die indivi- das Produkt „Handy“, auf dessen Eigenschaften be-
duelle Situation eines pflegebedürftigen Menschen ziehen oder auf den Prozess der Produktion und des
angepasst, kann keine auf die tatsächlichen Bedürf- Vertriebes durch den Hersteller oder auf das Ma-
nisse und Ressourcen des Menschen abgestimmte nagement des Gesamtbetriebs. Werden die Quali-
Pflege erfolgen. tätsmerkmale des Handys betrachtet, geht es
darum z. B. die Bedienung und die Vielfalt der Funk-
tionen des Handys zu bewerten. Bezogen auf die
6.10 Pflegequalität Dienstleistung kann z. B. die Servicequalität bei der
Beratung beim Kauf des Handys oder bei einer Re-
Elke Kobbert
klamation unter bestimmten Kriterien beurteilt
In den letzten Jahren hat das Thema „Qualität“ in werden.
allen Handlungsfeldern der Pflege an Bedeutung ge-

!
wonnen. Infolge des demografischen Wandels und Merke: Jedes Produkt oder jede Dienstleis-
dem daraus zu erwartenden Anstieg älterer und tung besitzt bestimmte Eigenschaften und
pflegeabhängiger Menschen, stellt sich zum einen Merkmale anhand derer einzelne Qualitäts-
die Frage, wie die Versorgungs- und Lebensqualität merkmale abgeleitet werden können.
dieser Gruppen auch in Zukunft gewährleistet wer-
den kann. Zum anderen hat der Gesetzgeber das Beispiel: Stellen Sie sich vor: Ihre 89jährige
Thema Qualität zu einem zentralen Thema erhoben, Nachbarin Frau Obermaier, kann sich auf-
indem interne und externe Qualitätssicherungs- grund zunehmender Mobilitätseinschrän-
maßnahmen für alle Einrichtungen verpflichtend kung nicht mehr alleine versorgen. Nun hat sie sich
und verbindlich eingefordert werden. entschlossen, in eine stationäre Altenhilfeeinrichtung
Aufgrund des gesetzlichen Auftrags, den berufs- zu ziehen. Frau Obermaier bittet Sie, ihr bei der Suche
ethischen Ansprüchen der unterschiedlichen Berufs- nach einer für sie geeigneten Einrichtung zu helfen.
gruppen, der wirtschaftlichen Erfordernisse sowie Überlegen Sie, welche Kriterien zur Auswahl der Ein-
des zunehmenden Konkurrenzdrucks hat sich in richtung Sie heranziehen und anhand welcher Fak-

BAND 1 Pflege und Profession 207


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

toren Sie die Qualität der Einrichtung einschätzen Organization for Standardization. Für die Bestim-
würden. Vergleichen Sie Ihre Aufzeichnungen mit mung der Qualität eines Produktes wird also nicht
denen für das Beispiel des Handykaufes. Welche über- nur das Produkt allein analysiert, sondern die Ge-
geordneten Gemeinsamkeiten und Unterschiede wer- samtheit aller Abläufe, d. h. die Entwicklungs-
den für Sie deutlich? geschichte eines Produktes wie z. B. die Funktions-
und Konstruktionsidee, Prototypentwicklung, Ver-
Das Wort „Qualität“ wird im Sprachgebrauch häufig antwortlichkeiten, Erprobungsphasen, Fertigung,
verwendet, jedoch besteht keine Einigkeit darüber, Endkontrolle, Versand und Vertrieb.
was Qualität genau ist oder sein sollte. Wenn etwas Heute wird die Qualität von einer Vielzahl von
von „höchster Qualität“ ist, oder ein Qualitätssiegel Produkten von Zeitschriften oder Testberichten ana-
besitzt, dann wird unter Qualität in der Regel etwas lysiert, um dem interessierten Käufer in dem un-
Positives verstanden. Aber was Qualität genau be- übersichtlichen Markt von Anbietern bei der Pro-
deutet, ist schwer zu bestimmen. So gibt es unter- duktauswahl behilflich zu sein. Der Kunde kann
schiedliche Konzepte, die den Begriff konkretisieren. das Preis-Leistungs-Verhältnis vergleichen und
6
Nach DIN 66 050 wird Qualität definiert als die Ge- seine Kaufentscheidung unter Berücksichtigung der
samtheit der Merkmale, die ein Produkt oder eine ausgewiesenen Qualitätskriterien treffen.
Dienstleistung zur Erfüllung vorgegebener Forde-
rungen auszeichnet. Diese Definition zielt auf die ▌ Pflegequalität
Gebrauchstauglichkeit eines Produktes ab und da- Auch im Begriff der Pflegequalität spiegelt sich die
rauf, dass zuvor gesetzte Erwartungen auch tatsäch- Komplexität des Qualitätsbegriffs wieder. So gibt es
lich erfüllt werden. unterschiedliche Begriffsdefinitionen.
Die Diskussion um den Begriff „Qualität“ hat folg- Donabedian definierte im Jahr 1966 Qualität als
lich einen sehr normgebundenen Charakter, denn es Grad der Übereinstimmung zwischen den Zielen des
soll das Richtige getan werden, um die bestmögliche Gesundheitswesens und der wirklich geleisteten
Qualität zu erreichen (vgl. Görres 1999). Avedis Do- Pflege und der zuvor formulierten Standards und
nabedian gilt als der Begründer der Qualitätssiche- Kriterien.
rung im Gesundheitswesen. Er hat das dem Quali- Schiemann (1990, S. 527) erweiterte diese Defi-
tätsbegriff zugrunde liegende Prinzip herausgestellt: nition: „Pflegequalität [ist] der Vorgang des Be-
Er verdeutlichte, dass „Qualität erst mit der Über- schreibens von Zielen in Form von Pflegestandards
einstimmung zwischen normativer Erwartung und und Kriterien, das Messen des tatsächlichen Pflege-
tatsächlicher Leistung bzw. empirischer Realität re- niveaus und, falls erforderlich, das Festlegen und
sultiert“ (Feigenbaum 1954 in Göres 1999, S. 51). Evaluieren von Maßnahmen zur Modifizierung der
Die Erfüllung der normativen Erwartungen be- Pflegepraxis“. In den Definitionen von Donabedian
schreiben z. B. dass alle internen und externen Kun- und Schiemann zeigt sich, dass sich Pflegequalität
den mit den angebotenen Leistungen zufrieden sind. auszeichnet, indem Ziele und Standards der Pflege
Die empirische Realität definiert, wie diese Qualität beschrieben, Kriterien zur Beurteilung des Pflege-
unter wissenschaftlichen bzw. systematisch ablau- niveaus bestimmt sowie Pflegemaßnahmen und
fenden Untersuchungen beschrieben werden kann. deren Evaluationskriterien festgelegt werden, mit
Demnach spielen subjektive Kriterien, die durch deren Hilfe die Pflege angepasst werden kann. Pfle-
persönliche Bewertungen abgegeben werden und gequalität wird demnach in Verbindung mit der An-
objektive Kriterien, die durch nachprüfbare Be- wendung des Pflegeprozesses und das Arbeiten
schreibungen betrachtet werden können, eine Rolle. nach Pflegestandards betrachtet. Mit diesem Vor-
Damit wird die Mehrdimensionalität des Qualitäts- gehen werden keine überhöhten Erwartungen for-
begriffes deutlich. muliert, sondern die Pflege auf ein „akzeptables“
In der Industrie haben sich im Rahmen der Qua- Niveau gehoben. Bei der Qualitätsbeurteilung wer-
litätsdiskussion sogenannte DIN-ISO-Normen ent- den neben der Prüfung, ob die individuellen Pflege-
wickelt, mit denen die Komplexität und Mehr- ziele erreicht wurden, auch die Arbeitsbedingungen,
dimensionalität bei der Herstellung eines Produktes unter denen die Pflege erfolgte, berücksichtigt. So
transparent gemacht werden. DIN steht für Deut- spielen folgende Aspekte ebenfalls eine bedeutende
sches Institut für Normung und ISO für International Rolle:

208 Pflege und Profession BAND 1


6.10 Pflegequalität

■ die einrichtungsspezifische Ablauforganisation Ergebnisqualität. Sie macht Aussagen über das Errei-
■ die Pflegeorganisation und räumliche, personelle chen der geplanten Pflegeziele. Auch die Zufrieden-
und materielle Rahmenbedingungen, heit der Mitarbeiter spielt bei der Ergebnisqualität
■ Pflegemodelle und deren Umsetzung im Pfle- eine Rolle.
geprozess
■ die Zielsetzung der pflegerischen Behandlung 6.10.2 Gesetzliche Grundlagen zur
und Koordination der unterschiedlichen Berufs- Qualitätssicherung in der Pflege
gruppen. Qualitätssicherung in der Pflege bezieht sich auf die
pflegerische Grundversorgung und Prävention in
Qualitätsmerkmale in der Pflege müssen aus der Krankenhäusern, ambulante Versorgung und Pflege
Zielsetzung abgeleitet werden und sind zum Teil in teilstationären und stationären Altenhilfeeinrich-
aus der Sicht des Betrachters, d. h. zu einem be- tungen. Qualitätssicherung umfasst alle Maßnah-
stimmten Maße von subjektiven Faktoren abhängig. men, die der Optimierung der Pflege, bzw. der Ver-
Je nachdem wie hoch der Übereinstimmungsgrad sorgung der Patienten dient und die Pflegequalität
6
zwischen definierten Pflegezielen und dem erreich- sichert. Der Qualitätsbegriff bezieht sich auf die
ten Ergebnis ist, kann ein Eindruck davon gewonnen zuvor dargestellten Kategorien: Struktur- Prozess-
werden, welche Aspekte gut sind und welche ver- und Ergebnisqualität. Mit den Maßnahmen der Qua-
bessert werden können. litätssicherung soll das pflegerische Handeln reflek-
Zur Differenzierung des Qualitätsbegriffes ent- tiert, verbessert und gefördert werden.
wickelte Donabedian drei Kategorien: Struktur-,

!
Prozess- und Ergebnisqualität. Merke: Es werden externe und interne
Qualitätssicherungsanforderungen unter-
Strukturqualität. Hier geht es um die Rahmenbedin- schieden. Bei den externen Qualitätsanfor-
gungen, in denen die pflegerische Betreuung erfolgt. derungen werden die Qualitätskriterien nicht durch
Unter Qualitätsgesichtspunkten spielen z. B. die An- die Berufsangehörigen selbst, sondern von anderen
zahl der Mitarbeiter, die technische Ausstattung Personen definiert und überprüft. Bei der internen
sowie die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel eine Qualitätssicherung werden Überwachung und Über-
Rolle. Auch die Qualifikation der Beschäftigen in der prüfung in der Einrichtung intern geregelt.
Pflege sowie die Aus-, Fort- und Weiterbildungs-
bedingungen, die Koordination von Arbeitsabläufen ▌ Gesetzliche Grundlagen
und die Form der Kooperation der Pflegenden mit Aufgabe der deutschen Sozialversicherung ist es, den
anderen Berufsgruppen werden hierzu gerechnet. Lebensstandard des Versicherten und seine Stellung
in der Gesellschaft in existenziellen Risikosituatio-
Prozessqualität. Sie bezieht sich auf die direkte Pfle- nen zu erhalten. Zu den Grundpfeilern der sozialen
ge und spiegelt die Art und den Umfang der pflege- Sicherheit gehören Renten-, Kranken-, Arbeitslosen-,
rischen Leistung wider. Hier werden alle Schritte Unfall- und Pflegeversicherung.
des pflegediagnostischen Prozesses unter Qualitäts- Die Sozialgesetze sind im Sozialgesetzbuch (SGB)
gesichtspunkten betrachtet. Somit stehen die Erhe- zusammengefasst. Die wesentlichen Bereiche sind in
bung der Pflegediagnosen, die Erstellung der Pfle- zwölf Büchern gegliedert, die mit fortlaufenden Pa-
geplanung, die Durchführung und Evaluation der ragraphen nummeriert sind und jeweils als eigen-
Pflege sowie die Dokumentation im Vordergrund. ständige Gesetze gelten.
Aber auch die Entwicklung standardisierter und in- Von den 12 Sozialgesetzbüchern regeln SGB V,
dividueller Pflegepläne werden unter dem Fokus der SGB IX und SGB XI die Finanzierung der Versorgung
Prozessqualität betrachtet. in Krankenhäusern, ambulanten Einrichtungen und
der Pflege in teilstationären und stationären Alten-
hilfeeinrichtungen. Die Träger von Gesundheitsein-
richtungen, deren Leistungen über die Kranken-
bzw. Pflegeversicherung finanziert werden, sind an-
hand gesetzlicher Regelungen verpflichtet, Maßnah-

BAND 1 Pflege und Profession 209


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

men zur Qualitätssicherung zu initiieren und kon- und Benachteiligungen entgegenwirken. In § 20


tinuierlich weiterzuentwickeln. (Qualitätssicherung) sind die Träger von Rehabilita-
tionsdiensten und -einrichtungen gefordert, ihre
SGB-V: Durch das Gesundheitsreform-Gesetz (1988) Leistungen unter Qualitätssicherungsgesichtspunk-
wurden erstmals Qualitätssicherungsmaßnahmen in ten durchzuführen. Sie sind aufgefordert, gemein-
der Krankenversorgung für deutsche Leistungs- same Empfehlungen zur Sicherung und Weiterent-
anbieter im Sozialgesetzbuch (SGB) fünftes Buch wicklung der Qualität der Leistungen zu formulieren,
(V) – Gesetzliche Krankenversicherung – gefordert insbesondere für barrierefreie Leistungen Sorge zu
und einheitlich geregelt. § 70 SGB-V trägt die Über- tragen. Gleichzeitig sollen vergleichende Qualitäts-
schrift „Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit“. analysen als Grundlage für ein effektives Qualitäts-
Krankenkassen und Leistungserbringer müssen management der Leistungserbringer dienen.
■ eine bedarfsgerechte und auf den neuesten Er-
kenntnissen basierende Versorgung der Patien- SGB XI: Für ambulante und stationäre Pflegeeinrich-
ten gewährleisten, tungen sind Vorgaben zur Qualitätssicherung durch
6 ■ dafür sorgen, dass die Versorgung ausreichend das Pflegequalitätssicherungsgesetz (PQsG) geregelt.
und zweckmäßig ist, Nach diesem seit dem 1. 1. 2002 geltenden Gesetz
■ regeln, dass das Maß des Notwendigen nicht soll sowohl die Pflegequalität weiterentwickelt als
überschritten wird, auch die „Verbraucher“ (die pflegebedürftigen Men-
■ die fachlich gebotene Qualität sichern und schen) in ihren Rechten gestärkt werden. Das Gesetz
■ wirtschaftlich arbeiten. bezieht sich auf Leistungen, die durch die Pflegever-
sicherung bezahlt werden. Hierzu wurde das Elfte
§ 135 a schreibt die Verpflichtung zur Sicherung und Sozialgesetzbuch (SGB XI) – Soziale Pflegeversiche-
Weiterentwicklung von Qualität vor. §§ 136-139 rung – geändert und ergänzt. Das elfte Kapitel trägt
konkretisieren § 135 für die unterschiedlichen me- die Überschrift „Qualitätssicherung, sonstige Rege-
dizinischen Behandlungsbereiche. Die Maßnahmen lungen zum Schutze des Pflegebedürftigen“ und
beziehen sich auf die stationäre Versorgung, ambu- umfasst die Paragrafen 112-120. Das PQsG sichert
lante Rehabilitationseinrichtungen und ärztliche zum einen eine staatliche Regulierung und Kontrolle
Leistungen. Alle Krankenhäuser und Vorsorge- und der Qualitätssicherung in der Pflege. Zum anderen
Rehabilitationseinrichtungen, die einen Vertrag mit werden Einrichtungen verpflichtet, in der ambulan-
den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherun- ten und stationären Pflege einrichtungsinterne Qua-
gen abgeschlossen haben, sind verpflichtet, sich an litätsmanagementsysteme zur Qualitätssicherung
Maßnahmen der Qualitätssicherung zu beteiligen und –verbesserung einzuführen, die eine stetige Si-
und vergleichende Prüfungen zuzulassen. Zudem cherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität
haben die jeweiligen Krankenhausträger die Qualität gewährleisten.
der Dienstleistungen, die von verschiedenen Berufs- Nach § 112 (SGB XI) liegt die Qualitätsverantwor-
gruppen erbracht wurden, sicherzustellen, zu beob- tung bei den Trägern der Pflegeeinrichtungen. Sie
achten, qualitätssichernde Maßnahmen zu initiieren sind verantwortlich für die Qualität der Leistungen
und zu bewerten. ihrer Einrichtungen einschließlich der Sicherung
und Weiterentwicklung der Pflegequalität. Gleich-

!
Merke: Halten die zugelassenen Leistungs- zeitig sind sie verpflichtet, Maßnahmen der Quali-
erbringer ihre Verpflichtungen zur Quali- tätssicherung sowie ein Qualitätsmanagement
tätssicherung nicht ein, können Vergütungs- durchzuführen, Expertenstandards anzuwenden
abschläge erfolgen (§ 137 SGB V 2. Absatz). sowie bei Qualitätsprüfungen mitzuwirken. Bei sta-
tionärer Pflege erstreckt sich die Qualitätssicherung
SGB IX: Das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) neben den allgemeinen Pflegeleistungen auch auf
enthält Vorschriften für die Rehabilitation und Teil- die medizinische Behandlungspflege, die soziale Be-
habe behinderter Menschen in Deutschland. Dieses treuung, die Leistungen bei Unterkunft und Verpfle-
Gesetz soll die Selbstbestimmung und gleichberech- gung sowie auf die Zusatzleistungen. Der Medizi-
tigte Teilhabe in der Gesellschaft für behinderte nische Dienst der Krankenversicherung (MDK) und
oder von Behinderung bedrohte Menschen fördern der Prüfdienst des Verbandes der privaten Kranken-

210 Pflege und Profession BAND 1


6.10 Pflegequalität

versicherungen (PKV) beraten die Pflegeeinrichtun- Systemorientiertes Management. Sämtliche Prozes-


gen in Fragen der Qualitätssicherung mit dem Ziel, se im Rahmen der Leistungserbringung werden als
Qualitätsmängeln rechtzeitig vorzubeugen und die System betrachtet, die sich aufeinander beziehen
Eigenverantwortung der Pflegeeinrichtungen und und von einander abhängen. Deshalb werden alle
ihrer Träger für die Sicherung und Weiterentwick- Abläufe nicht als Einzeltätigkeit analysiert, sondern
lung der Pflegequalität zu stärken. auch deren Wechselwirkungen zu anderen Auf-
gabenbereichen einbezogen.
Heimgesetz: Im Heimgesetz (HeimG) sind Rahmen-
bedingungen für Einrichtungen der stationären Al- Beispiel: Wird ein Pflegeempfänger in
tenhilfe festgelegt. Die Bedingungen für den Betrieb einem Krankenhaus aufgenommen, kann
eines Heimes werden geregelt, die Sicherung und der Aufnahmeprozess aus verschiedenen
Weiterentwicklung der Betreuungsqualität in den Perspektiven betrachtet werden. So sind z. B. neben
Heimen sichergestellt und die Selbstbestimmung den Verwaltungsabläufen in der Patientenaufnahme,
und Rechtstellung der Bewohner verbessert. Ziel ist die pflegerischen und medizinischen Aufnahmeabläu-
6
es, den Heimbewohnern ein menschenwürdiges fe, die Essenversorgung von Seiten des Küchenper-
Leben zu sichern. Die Heimpersonalverordnung, die sonals, die hauswirtschaftliche Versorgungseinheiten
Heimmindestbauverordnung sowie das SGB XI legen usw. einbezogen. Um einen reibungslosen Ablauf zu
Bestimmungen fest, die die Qualität der Versorgung gewährleisten, muss sichergestellt werden, welcher
gewährleisten. Qualitätssicherungsmaßnahmen Bereich wann welche Informationen benötigt und
müssen von den Einrichtungen dokumentiert und wie die Koordination ablaufen muss, um gemeinsam
bei Prüfungen belegt werden. Die Heimaufsicht das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.
führt jährlich mindestens eine angemeldete bzw.
unangemeldete Qualitätsprüfung durch. Heimauf- Prozessorientierung. Alle in einer Einrichtung ablau-
sicht, der Medizinische Dienst der Krankenversiche- fenden Prozesse können in kleinere Ablaufschritte
rung, Pflegekassen und Sozialhilfe sind zur Zusam- unterteilt und festgelegt werden. Hierbei wird ge-
menarbeit verpflichtet. fragt, welche Ziele und welche Maßnahmen erreicht
Für den Krankenhaussektor spielen die gesetzli- und welche Schnittstellen zu anderen Prozessen be-
chen Vorgaben des SGB V eine große Rolle. Im Rah- rücksichtigt werden müssen. Dies muss für alle an
men des Entlassungsmangement und der Pflege- den Prozessen beteiligten Mitarbeiter transparent
überleitungen sind jedoch auch die Qualitätsent- sein und nach definierten Qualitätskriterien erfol-
wicklungen in den ambulanten, teil- und vollstatio- gen.
nären Pflegeeinrichtungen von Bedeutung.
Verantwortungsübernahme durch die Führungskräf-
6.10.3 Qualitätsmanagement te. Führungskräfte fungieren als Vorbilder und set-
Definition: Qualitätsmanagement (QM) um- zen mit ihrem Qualitätsanspruch einen Maßstab für
fasst alle Maßnahmen innerhalb einer Einrich- ihre Mitarbeiter. Aufgabe der Führungskraft ist es,
tung, die darauf abzielen, die Qualität der die Unternehmensziele transparent zu machen und
Dienstleistungen zu verbessern (Thiemes Pflege). die unterstellten Mitarbeiter bei der Bewältigung
ihrer Aufgaben bestmöglich zu unterstützen.
Mit der Umsetzung des Qualitätsmanagements in
einer Einrichtung werden unterschiedliche Grund- Kundenorientierung. Im Mittelpunkt des Qualitäts-
sätze verfolgt: managements stehen der Pflegeempfänger und des-
sen Erwartungen an die Dienstleistung der Einrich-
Verbesserung und Sicherung der Qualität. Die kom- tung, die in der Regel über Versicherungsbeiträge
plexen Abläufe in Gesundheitseinrichtungen können bezahlt wird. Jeder Mitarbeiter muss seine Arbeit
störanfällig sein. Ziel des effektiven Qualitätsmana- unter Berücksichtigung der Patientenzufriedenheit
gements ist es, einen kontinuierlichen Verbes- durchführen. So ist die Sorgfalt, mit der das Zimmer
serungsprozess einzuleiten. Alle Berufsgruppen und des Pflegeempfängers gereinigt wird, ebenso wich-
alle Ebenen der Berufsgruppen einer Einrichtung tig, wie das Auftreten und die Freundlichkeit der
beteiligen sich an diesem Verbesserungsprozess. Servicekräfte, der Pflegenden und anderer Berufs-

BAND 1 Pflege und Profession 211


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

gruppen. Jeder Mitarbeiter trägt mit seinem persön- Das Total Quality Management ist ein Unterneh-
lichen und fachlichem Verhalten und seiner mehr menskonzept und bedeutet:
oder weniger ausgeprägten Dienstleistungsorientie- T = Total ist mit den Begriffen „allumfassend“
rung zur Reputation, dem guten Ruf bzw. dem oder „ganzheitlich“ zu beschreiben und zeigt auf,
Ansehen der Einrichtung bei. dass alle Bereiche eines Unternehmens, alle Abtei-
lungen, Mitarbeiter, Zulieferer, Produkte und Dienst-
Mitarbeiterorientierung. Die Mitarbeiter gehören zu leistungen in den Qualitätsprozess einbezogen sind.
den wichtigsten Erfolgsfaktoren eines Dienstleis- Q = Quality steht für die Erfüllung von Kunden-
tungsbetriebs. Jeder Mitarbeiter muss so qualifiziert erwartungen hinsichtlich fehlerfreier Produkte bzw.
sein, dass er die an ihn gestellten Aufgaben fachlich Dienstleistungen. Im Mittelpunkt stehen Führung
fundiert und ordnungsgemäß durchführen kann. und Prozesse, deren Leistungen kontinuierlich ver-
Damit trägt er seinen Teil zum Erfolg des Unterneh- bessert werden sollen.
mens bei. M = Management macht deutlich, dass es sich
um Führungsaufgaben handelt und steht für die
6
Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit. Die Rekrutierung strategische Zielsetzung, Planung und Ausführung
von Patienten, Bewohnern, Kunden und Klienten ist anstehender Aufgaben unter Beachtung der Anfor-
abhängig davon, wie die Leistungsfähigkeit einer derungen wie Zeit, Wirtschaftlichkeit und Funktio-
Einrichtung von den Bürgern in der Umgebung ein- nalität.
geschätzt und wie sie in Konkurrenz zu anderen Insgesamt stehen beim TQM drei wesentliche
Einrichtungen wahrgenommen wird. Ein erfolgrei- Prinzipien im Vordergrund:
ches Qualitätsmanagement erhält die Wettbewerbs- ■ Streben nach höchster Qualität. Es werden keine
fähigkeit im Vergleich mit anderen Leistungsanbie- Qualitätsmängel toleriert. Es geht darum das
tern. Richtige schon beim ersten Mal und auch weiter-
Die Umsetzung eines Qualitätsmanagements hin richtig zu tun. Fehler sollen in der Produktion
setzt einen Lernprozess von allen in der Einrichtung (oder im Dienstleistungsbereich) systematisch
beteiligten Mitarbeitern voraus. Qualitätsorientier- eliminiert werden und Verbesserungen kontinu-
tes Handeln kann nicht verordnet oder befohlen ierlich erfolgen. Alle Prozesse müssen nachvoll-
werden. Es müssen Rahmenbedingungen geschaffen ziehbar dokumentiert und Verbesserungen nach-
werden, in denen die Mitarbeiter eine Qualitätskul- gewiesen werden.
tur entwickeln und sich mit den Zielen der Einrich- ■ Kundenorientierung. Es gibt externe und interne
tung identifizieren. Kunden, deren Qualitätserwartungen vollständig
erfüllt werden sollen. Die externen Kunden sind
▌ Total Quality Management bedeutend für die Existenz des Unternehmens,
Wird von Qualitätsmanagement gesprochen, wird deren Wünsche erforscht werden müssen. Inter-
meist auf das Qualitätsmanagement auf der Ebene ne Kunden sind alle Mitarbeiter, deren Arbeits-
des Total Quality Management (TQM) Bezug genom- bedingungen so zu gestalten sind, dass in allen
men. Produktionsstufen die Qualitätsansprüche erfüllt
Ein Qualitätsmanagementsystem umfasst die or- werden können.
ganisatorischen Maßnahmen, die sicherstellen, dass ■ Einbezug aller Mitarbeiter. Vom obersten Ma-
ein Unternehmen Qualität im oben beschriebenen nagement bis zum einzelnen Mitarbeiter besteht
Sinne systematisch und geplant umsetzt. Zum Qua- die Verpflichtung zum qualitätsbewussten Han-
litätsmanagement gehören: deln. Jeder Mitarbeiter eines Betriebes – unab-
■ Qualitätspolitik/Standardisierung hängig von seiner Position – soll in den Prozess
■ nachvollziehbare, dokumentierte Prozesse der Qualitätsplanung und Qualitätserbringung
■ laufende Verbesserungen sowie Korrektur- und einbezogen werden und Verantwortung über-
Vorbeugungsmaßnahmen nehmen. Führungskräfte kontrollieren die Ver-
■ jährliche Audits, die die Konformität des Systems änderungsprozesse und übernehmen Vorbild-
mit der Norm bescheinigen funktion.

212 Pflege und Profession BAND 1


6.10 Pflegequalität

In Anlehnung an die TQM-Philosophie wurden ver- ■ Ergebnisorientierung


schiedene Qualitätsmanagementsysteme weiterent- ■ Kundenorientierung
wickelt. ■ Führung und Zielkonsequenz
Beim TQM ist Qualität kein Ziel, sondern ein Pro- ■ Management mit Prozessen und Fakten
zess, der nie zu Ende ist. Qualität setzt aktives Han- ■ Mitarbeiterentwicklung und -beteiligung
deln voraus und muss kontinuierlich erarbeitet wer- ■ kontinuierliches Lernen, Innovation und Verbes-
den. Es geht weniger um kurzfristige Verbesserun- serung
gen, sondern um betriebliche und organisatorische ■ Aufbau von Partnerschaften
Maßnahmen, mit deren Hilfe ein dauerhaftes Quali- ■ Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit
tätsniveau erreicht werden kann.
Wird eine Selbst- oder Fremdbewertung nach dem
6.10.4 Qualitätsmangementsysteme im EFQM-Modell durchgeführt, basiert die Bewertung
Gesundheitswesen auf dem sogenannten RADAR-Konzept, das nach
Zu den häufigsten im Gesundheitswesen vertrete- den Anfangsbuchstabe der Bewertungsschritte be-
6
nen Qualitätsmanagementsystemen gehören: nannt ist:
DIN EN ISO 9001 – entwickelt von der Interna- ■ R esults (Ergebnisse)
tional Standard Organisation (ISO). Die Bezeichnung ■ A pproach (Vorgehen)
macht deutlich, dass sich diese Normen auf nationa- ■ D eployment (Umsetzung)
le (DIN = Deutsche Institut für Normung), europäi- ■ A ssesment (Bewertung)
sche Ebene (EN = Europäische Norm) und weltweit ■ R eview (Überprüfung)
(ISO = International Standard Organisation) bezie-
hen. Im Rahmen des Qualitätsmanagement sind Durch die permanente Beachtung aller Prozesse mit
acht wesentliche Qualitätskriterien vorgegeben: Hilfe des RADAR-Konzeptes werden Informationen
■ Kundenorientierung über den aktuellen Stand erhoben, die die Basis für
■ Verantwortlichkeit der Führung einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess schaf-
■ Einbeziehung der beteiligten Personen fen.
■ prozessorientierter Ansatz (Sicherstellung von KTQ steht für „Kooperation für Transparenz und
Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität) Qualität im Gesundheitswesen“. Die KTQ GmbH
■ systemorientierter Managementansatz (in Wech- wurde 2001 gegründet und ist ein Zertifizierungs-
selbeziehung stehende Prozesse erfassen und be- verfahren für das interne Qualitätsmanagement, das
rücksichtigen) sich auf Krankenhäuser, Rehabilitations- und Pfle-
■ kontinuierliche Verbesserung geeinrichtungen, alternative Wohnformen, Arztpra-
■ sachbezogener Entscheidungsfindungsansatz xen und Rettungsdienste spezialisiert hat. Sie hat
■ Lieferantenbeziehungen zum gegenseitigen Nut- bundesweit einheitliche Richtlinien zur Überprü-
zen fung und Verbesserung der Qualität von Kranken-
häusern und deren Auszeichnung mit dem Quali-
Die Anwendung des Qualitätsmanagementsystems tätssiegel erstellt. Zu den Gesellschaftern bzw. Ei-
nach DIN ISO 9001 ist in Einrichtungen des Gesund- gentümern der KTQ GmbH gehören die Bundesärz-
heitswesens stark verbreitet. tekammer, die Spitzenverbände der Gesetzlichen
EFQM-Modell für Excellence – entwickelt von der Krankenversicherung, die Deutsche Krankenhausge-
Stiftung European Foundation for Quality Manage- sellschaft, der Deutsche Pflegerat und der Hart-
ment. Der Fokus des Modells liegt auf der Fremd- mannbund. Da KTQ kein klassisches Qualitätsmana-
oder Selbstbewertung eines Unternehmens. Mithilfe gementsystem ist, sollten die sich zertifizierenden
des Modells lassen sich Stärken und Verbesserungs- Einrichtungen bereits über ein Qualitätsmanage-
potentiale ermitteln und die Unternehmensstrategie mentsystem verfügen. Bei einer Zertifizierung wer-
kann darauf ausgerichtet werden. Der Begriff „Excel- den dann die Strukturen und Abläufe anhand des
lence“ wird definiert als überragende Vorgehens- aktuellen KTQ-Kriterienkatalogs überprüft.
weise beim Managen eines Unternehmens. Die Er-
gebnisse sollen auf der Basis folgender Grundkon-
zepte erreicht werden:

BAND 1 Pflege und Profession 213


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

Das KTQ Zertifizierungsverfahren wird häufig Die Fremdbewertung läuft in folgenden Schritten
auch in konfessionellen Einrichtungen angewandt. ab (Thiemes Pflege):
Hierzu hat sich proCum Cert GmbH gegründet, ■ Informationsgespräch
eine Initiative von Caritas und Diakonie, die mit ■ Vorbereitung der Zertifizierung
der KTQ GmbH eng kooperiert. Zu den 69 KTQ-Kri- ■ Prüfung und Bewertung der Qualitätsmanage-
terien wurden weitere 33 Kriterien von proCum Cert mentdokumente
ergänzt, damit christliche Werte und ethische Fra- ■ Zertifikataudit im Unternehmen
gestellungen im Qualitätsmanagement konfessionel- ■ Zertifikaterteilung, Überwachung und Wieder-
ler Organisationen stärker betont werden. holungsaudit

Zertifizierungsprozess nach KTQ. Soll das interne Wird die Mindestpunktzahl bei der Selbst- und
Qualitätsmanagement einer Einrichtung des Ge- Fremdbewertung erreicht, kann das KTQ-Zertifikat
sundheitswesens KTQ-zertifiziert werden, muss für die gesamte Einrichtung erteilt werden. Der
diese zunächst anhand eines Bewertungskatalogs KTQ-Qualitätsbericht wird auf der einrichtungseige-
6
eine Selbstbewertung vornehmen. Grundlage hier- nen Homepage für den Gültigkeitszeitraum ver-
für ist das sogenannte KTQ-Manual (= Qualitäts- öffentlicht. Damit erhalten Kunden die Möglichkeit,
managementhandbuch), in dem alle notwendigen unterschiedliche Leistungsanbieter im Gesundheits-
Schritte erläutert sind, mit allen zu bearbeitenden bereich miteinander zu vergleichen und unter Qua-
Fragen zu den Leistungen, Prozessabläufen und litätsgesichtspunkten auszuwählen.
zum Qualitätsmanagement. Die Selbstbewertung er-
folgt anhand der Struktur des PDCA-Zyklus (S. 215) 6.10.5 Maßnahmen und Instrumente zur
und bezieht sich auf den gesamten Behandlungspro- Förderung des Verbesserungsprozesses
zess der Patientenversorgung. Es werden alle Be- Für die Umsetzung des Qualitätsmanagements müs-
rufsgruppen hierarchieübergreifend einbezogen. sen Rahmenbedingungen geschaffen und Mittel zur
Folgende Schwerpunkte werden im Rahmen der Verfügung gestellt werden, damit sich eine Quali-
KTQ-Kriterien erfasst: tätskultur entwickeln kann. So gibt es verschiedene
■ Patientenorientierung Maßnahmen und Instrumente, mit deren Hilfe kon-
■ Mitarbeiterorientierung tinuierliche Verbesserungsprozesse in einem Unter-
■ Sicherheit der Einrichtung nehmen angeregt und gefördert werden sollen.
■ Informationswesen
■ Führung der Einrichtung ▌ Qualitätszirkel
■ Qualitätsmanagement Definition: Qualitätszirkel sind innerbetrieb-
liche Arbeitskreise. Maximal 10 Mitarbeitern
Diese sechs Kategorien gliedern sich in weitere Teil- treffen sich, um Wissen und Erfahrungen der
kategorien. Im Rahmen der Selbstbewertung wird Mitarbeiter zu nutzen, damit die Qualität der Produk-
somit eine Ist-Analyse der Einrichtung vorgenom- te, der Dienstleistung, Arbeitsabläufe oder Arbeits-
men. Bereits bei der Selbstbewertung wird der kon- bedingungen verbessert werden.
tinuierliche Verbesserungsprozess eingeleitet,
indem identifizierte Probleme gelöst und Prozesse Ziel der Qualitätszirkel ist die Verbesserung der Leis-
optimiert werden. Hat die Einrichtung die erforder- tungsfähigkeit der Einrichtung. Die aktive Betei-
liche Punktzahl bei der Selbstbewertung erreicht, ligung der Mitarbeiter fördert das Problembewusst-
kann ein Antrag für die Fremdbewertung bei der sein für kontinuierliche Verbesserungsprozesse, Mo-
KTQ-GmbH gestellt werden. Im nächsten Schritt er- tivation und Arbeitszufriedenheit der beteiligten
folgt die Fremdbewertung durch ein KTQ-Visitoren- Mitarbeiter.
team. In Stichproben überprüfen sie alle Bereiche Die Arbeitsgruppen können von Mitarbeitern
und Abläufe der Einrichtung und die Übereinstim- einer Berufsgruppe oder interdisziplinär zusam-
mung der Selbstbewertung mit der aktuellen Situa- mengesetzt sein und unterschiedliche Hierarchie-
tion. ebenen einbeziehen. Die Teilnahme erfolgt auf frei-
williger Basis. Die Qualitätszirkelmitglieder treffen
sich in regelmäßigen Abständen und bearbeiten an-

214 Pflege und Profession BAND 1


6.10 Pflegequalität

stehende Probleme aus dem Arbeitsbereich. Die Ar- Ebene eingeführt, festgeschrieben und regelmäßig
beitsthemen werden entweder von der Gruppe auf Einhaltung überprüft.
selbst bestimmt oder von der Führungsebene vor- Es ergibt sich ein ständiger Zyklus von Planung,
gegeben. Mithilfe eines Problemlösungsprozesses Tätigkeit, Kontrolle und Verbesserung. Dadurch wer-
werden Verbesserungsvorschläge systematisch erar- den sämtliche Vorgänge im Unternehmen kontinu-
beitet. Die Ergebnisse werden vor der Leitungsebene ierlich analysiert und verbessert.
und anderen Mitarbeitern präsentiert, diskutiert
und anschließend von der Arbeitsgruppe unter Ein- ▌ Ideenmanagement
haltung des Instanzenwegs umgesetzt und evaluiert. Mit der Einführung eines Ideenmanagements wer-
Es gibt auch Qualitätszirkel zu fachlichen The- den die Mitarbeiter motiviert, Erfahrungen und
men, wie z. B. zur Einführung eines nationalen Ex- kreatives Potenzial in das Unternehmen einzubrin-
pertenstandards in der Einrichtung. gen. Auch kleinste Veränderungen sind erwünscht,
da sie in der Summe zu erheblichen Optimierungen
▌ PDCA-Zyklus führen können. Um Anreize für die Mitarbeiter zu
6
Verbesserungsvorschläge von Mitarbeitern oder von schaffen, werden angenommene Vorschläge prä-
hierzu eingerichteten Arbeitsgruppen (z. B. einem miert und z. B. in der Mitarbeiterzeitung veröffent-
Qualitätszirkel) müssen systematisch geplant und licht. Durch diese Anerkennung kann es zu einer
durchgeführt werden. Hierzu wird häufig ein vier- höheren Identifikation der Mitarbeiter mit dem Un-
phasiger Problemslösungsprozess (PDCA-Zyklus ternehmen kommen. Außerdem kann das Selbst-
oder Deming-Kreis, vgl. Abb. 6.13) angewendet: wertgefühl der Arbeitnehmer gesteigert werden,
P: Plan. In einer Ist-Analyse werden der aktuelle dies wirkt sich wiederum positiv auf die Arbeitsleis-
Stand transparent gemacht, notwendige Ziele für die tung aus.
Verbesserungsaktivitäten definiert und erforderliche Ideen können von Arbeitsgruppen im Rahmen
Maßnahmen festgelegt. eines Qualitätszirkels entwickelt und eingebracht
D: Do. Die geplanten Maßnahmen werden (ggf. oder in Verbindung mit dem Feedbackmanagement
zunächst exemplarisch) umgesetzt und optimiert. auch von Kunden bzw. von Patienten stammen.
C: Check. Die Auswirkungen der umgesetzten Mit dem Ideenmanagement werden folgende
Maßnahmen werden beobachtet, festgehalten und Ziele verfolgt:
überprüft. Es wird gefragt, welche Resultate erzielt ■ stetige Verbesserung von Produkten, Verfahren
wurden und ob die zuvor formulierten Erwartungen und Prozessen durch viele kleine Schritte
tatsächlich eingetroffen sind. ■ Förderung von Rationalisierungsprozessen und
A: Act. Die gesamten Ergebnisse werden ana- Steigerung der Wirtschaftlichkeit
lysiert, neue Verfahrensweisen bei positiver Ge- ■ Verbesserung der Arbeitsbedingungen
samtbeurteilung standardisiert und auf breiter ■ Schonung der Umwelt
■ Steigerung der Arbeitssicherheit

Planungen Ziele
Die Organisation des Ideenmanagements kann über
anpassen planen eine zentrale Stelle erfolgen oder direkt von dem
Act Plan jeweiligen Vorgesetzten in der Abteilung entgegen-
genommen werden. Generell wird eine formale Prü-
fung der Idee vorgenommen und an ausgewählte
Entscheider weitergeleitet, die den Vorschlag fach-
lich beurteilen und eine mögliche Umsetzung in die
Wege leiten.
Check Do
Ergebnisse Planung
prüfen ausarbeiten

Abb. 6.13 PDCA-Zyklus

BAND 1 Pflege und Profession 215


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

Mit der Etablierung eines Ideenmanagements vermieden, aber nicht verhindert werden. Die Pa-
wird das Potenzial der Mitarbeiter genutzt, um die tientenzufriedenheit spielt in allen Gesundheitsein-
Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit eines Unter- richtungen eine zentrale Rolle und bildet die Basis
nehmens zu steigern und damit letztendlich auch für die Bestandssicherung der Einrichtung.
Arbeitsplätze zu sichern.
▌ Befragungen von Patienten, Mitarbeitern und
▌ Beschwerdemanagement Einweisern
Definition: Im Rahmen eines Beschwerde- Im Rahmen des Qualitätsmanagements werden in
managements werden Kunden befragt, wie sie regelmäßigen Abständen umfangreiche Befragungen
die Leistungserfüllung des Unternehmens erlebt von Patienten, Mitarbeitern und ärztlichen Einwei-
haben und ob ihre Erwartungen erfüllt wurden. In sern durchgeführt und aus den Ergebnissen gezielte
Einrichtungen des Gesundheitswesens erhalten die Maßnahmen abgeleitet.
Pflegeempfänger häufig einen Auswertungsbogen, So werden die Patienten z. B. zum Aufnahmepro-
der anonym schriftlich ausgefüllt und in einen zentral zedere, zur Qualität der pflegerischen und ärzt-
6
aufgestellten Briefkasten eingeworfen werden kann. lichen Versorgung, zur Angehörigenintegration,
Um die Zufriedenheit der Kunden kontinuierlich zu zum Essen und zur Sauberkeit befragt.
verbessern, werden die Rückmeldungen zeitnah und Bei der Befragung der Mitarbeiter geht es um die
systematisch bearbeitet und ausgewertet. Ein gut Erfassung der Zufriedenheit aller Beschäftigen in
funktionierendes Beschwerdemangement liefert wich- dem Unternehmen. Hier können z. B. Aspekte zur
tige Hinweise über die Stärken und Schwächen eines Unternehmenskultur, zu den Arbeitsplatzbedingun-
Unternehmens. gen, zur Führungsqualität und zu Maßnahmen der
Personalentwicklung abgefragt werden.
Der Begriff Beschwerdemanagement ist häufig ne- Eine Befragung der einweisenden Ärzte oder der
gativ belegt, weil der Fokus auf die „Beschwerden“ Belegärzte spielt für die Kundengewinnung eine be-
und damit auf die Unzufriedenheit der Kunden ge- deutende Rolle. Hier können Fragen zur Außen-
lenkt wird. Vermehrt wird er durch den Begriff wahrnehmung, also zum Image einer Einrichtung
„Feedbackmanagement“ ersetzt, da positive und ne- oder zu bestimmten Abteilungen, zur Bekanntheit
gative Rückmeldungen gleichermaßen erfasst wer- besonderer Leistungsangebote, zu Anforderungen
den. der Kommunikation und Kooperation sowie zur Zu-
friedenheit mit der Krankenhausinfrastruktur ge-
▌ Das Feedbackmanagement kann helfen... stellt werden.
■ die Einrichtung aus der Sicht der Kunden und
deren Angehörigen zu beleuchten ▌ Risikomangement
■ die Ausgewogenheit positiver und negativer Alle Tätigkeiten sind mit gewissen Risiken verbun-
Rückmeldungen zu erfassen den. In den letzten Jahren wurden im Rahmen von
■ abteilungsspezifische und abteilungsübergreifen- Qualitätsmanagementsystemen in Krankenhäusern
de Probleme zu identifizieren oder Altenheime zunehmend Risikomanagement-
■ unterschwellige Probleme aufzuspüren systeme integriert. Dabei handelt es sich um ein
■ potenzielle Risiken zu minimieren und die Vorsorgeinstrument, das zur Schadenverhütung ein-
Marktchancen des Unternehmens zu erhöhen gesetzt wird. Ziel ist es, mögliche Risiken systema-
■ ein öffentlichkeitswirksames Zeichen der Kun- tisch zu identifizieren und sie hinsichtlich der Ein-
denorientierung zu setzen trittswahrscheinlichkeit und der Auswirkungen zu
■ aktiv und direkt Verbesserungen anzuregen bewerten und auszuschalten.
Im Rahmen der Patientenversorgung werden
Werden Beschwerden vom Pflegeempfänger direkt pflegerische, ärztliche und verwaltungstechnische
geäußert, sind die Mitarbeiter gefordert, diese sen- Tätigkeiten einer Analyse unterzogen, Maßnahmen
sibel wahrzunehmen und ein konstruktives und zur Risikovermeidung oder -begrenzung ermittelt
sachliches Gespräch darüber zu führen. Der Inhalt und Arbeitsabläufe und -prozesse optimiert. Da-
der Beschwerde wird objektiv an die Führungsebene durch sollen zum einen Patienten, Angehörige und
weitergeleitet. Generell gilt: Beschwerden sollen Mitarbeiter vor Schaden bewahrt werden wie z. B.

216 Pflege und Profession BAND 1


6.10 Pflegequalität

der Schutz vor Behandlungsfehlern, Schutz vor In- Rahmen der Pflegeplanung nachvollziehbar abgebil-
fektionen, Schutz vor Stürzen und zum anderen det und der Pflegeverlauf systematisch dokumen-
Schadensersatzansprüche reduziert werden. Des tiert. Durch die schriftlichen Aufzeichnungen findet
Weiteren geht es um den Schutz von Sachwerten, zum einen der Informationstransfer statt, zum an-
wie z. B. der Wertgegenstände von Pflegeempfän- deren wird die Qualität der Pflege abgebildet und
gern oder medizinischer Geräte. kontrollierbar.
Ein Risikomanagement setzt voraus, dass über Damit spielt die Pflegedokumentation im Rah-
Fehler oder gefährdete Situationen in einer Einrich- men der Qualitätsentwicklung in der Pflege eine
tung gesprochen wird. Aus Fehlern soll gelernt und bedeutende Rolle, in der alle Informationen über
eine positive Fehlerkultur entwickelt werden. Viele den jeweiligen Patient oder Bewohner berufsüber-
Einrichtungen haben ein elektronisches Fehlermel- greifend zusammengeführt werden. Die Notwendig-
desystem eingeführt, mit dem jeder Mitarbeiter Feh- keit zur Pflegedokumentation ergibt sich aus unter-
ler oder Gefährdungen melden kann. Die durch das schiedlichen gesetzlichen Forderungen des SGB V,
Risikomanagement optimierten Arbeitsabläufe ver- SGB XI und den Landesheimgesetzen. Die Dokumen-
6
mindern nicht nur Schadenshöhe und -frequenz, tation enthält alle Informationen, die zur Pflege und
sondern wirken sich u. a. auch positiv auf Personal- Behandlung notwendig sind:
und Sachkosten sowie auf Versicherungsprämien ■ die Pflegeanamnese als Grundlage des pflege-
aus. diagnostischen Prozesses
Im Jahr 2005 wurde das Aktionsbündnis Patien- ■ die verwendeten Assessmentinstrumente zur Ri-
tensicherheit (APS) gegründet. Hierbei handelt es sikoeinschätzung (z. B. zur Bestimmung eines De-
sich um eine Initiative von Vertretern der Gesund- kubitus- oder Sturzrisikos)
heitsberufe, ihrer Verbände und der Patientenorga- ■ Pflegeplanung und Berichte über den Pflegever-
nisationen, die sich für die Verbesserung der Patien- lauf
tensicherheit in Deutschland einsetzen. ■ Ergebnisse von Beobachtungen und Messungen
(z. B. Vitalzeichen, Flüssigkeitsbilanzierung)
6.10.6 Maßnahmen und Instrumente zur ■ ärztliche Leistungsnachweise (Verordnungen,
Förderung der Pflegequalität durchgeführte diagnostische Verfahren und the-
Im Rahmen des Qualitätsmanagements gibt es ver- rapeutische Behandlungen)
schiedene Maßnahmen und Instrumente, die die ■ pflegerische Leistungsnachweise (z. B. Dokumen-
Pflegequalität sicherstellen und anhand derer Pfle- tation der erbrachten Pflegeleistungen)
gequalität nachgewiesen werden können:
Die Pflegedokumentation dient damit
▌ Pflegediagnostischer Prozess und ■ der Sicherstellung des Informationstransfers im
Pflegedokumentation Pflege- und Behandlungsverlauf
Im Pflege- und Behandlungsverlauf sind die Pfle- ■ der Begründung der Pflegebedürftigkeit der Pfle-
genden gefordert, die Pflege nach dem Stand pfle- geempfänger gegenüber Kostenträgern (z. B. Er-
gewissenschaftlicher, medizinischer und anderer fassung der Pflegestufe durch den MDK)
bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse auszuüben. ■ der Vermeidung von Haftungsansprüchen und
Die pflegerischen Hilfen werden darauf ausgerichtet, Schadenersatzforderungen durch eine Beweislas-
dass die körperlichen, geistigen und seelischen Kräf- tumkehr bei juristischen Auseinandersetzungen
te der Pflegebedürftigen wieder gewonnen bzw. er- ■ der Darstellung der erbrachten Leistungen ge-
halten werden und dass sich die notwendigen Hilfen genüber Kostenträgern
an den Wünschen der zu pflegenden Person orien- ■ als Grundlage für interne und externe Qualitäts-
tieren. Die Pflegenden arbeiten eng mit anderen Be- prüfungen
rufsgruppen zusammen und entwickeln berufsüber-

!
greifend Lösungen zur Bewältigung von Gesund- Merke: Alles was nicht dokumentiert ist,
heitsproblemen. Sie stellen den Pflegebedarf fest, gilt als nicht durchgeführt!
übernehmen die Planung, Organisation, Durchfüh-
rung und Dokumentation sowie die Evaluation der
Pflege. Alle pflegebezogenen Prozesse werden im

BAND 1 Pflege und Profession 217


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

Alles was praxis- und vergütungsrelevant ist, muss Bedürfnissen der zu pflegenden Person und in Ab-
übersichtlich, vollständig und nachvollziehbar doku- hängigkeit von situativen und pflegerischen Rah-
mentiert werden. Folgende Richtlinien sind bei der menbedingungen individuell angepasst werden.
Dokumentation zu beachten Hierbei kann der Standard eine Orientierungshilfe
■ jeder, der pflegerische Maßnahmen durchführt, sein, von dem eine professionell handelnde Pfle-
dokumentiert (einschl. Hilfskräfte und Prakti- gekraft begründet abweichen kann und muss.
kanten) Die verschiedenen Standardformen werden in
■ die Dokumentation wird mit Handzeichen ge- Kapitel 6.9 ausführlich beschrieben.
kennzeichnet, bei vorliegender Handzeichenle-

!
gende Merke: Pflegestandards sind ein wichtiges
■ es wird zeitnah dokumentiert – spätestens am Element der Qualitätssicherung. Sie definie-
Ende einer Schicht – sonst Verlust der Beweiskraft ren den Handlungsrahmen, in dessen Korri-
■ die Pflegedokumentation gilt als Urkunde im dor die individuelle Pflege stattfindet und anhand
Sinne des § 267 StGB: dessen die Pflegequalität bewertet werden kann.
6
– fehlerhafte Ausführungen dürfen nicht ra- Laut der gesetzlichen Grundlagen des § 112 SGB XI
diert, mit Tipp-ex überzeichnet oder über- sind die Träger von Pflegereinrichtungen verpflichtet,
klebt werden (kann als Urkundenfälschung im Rahmen der Qualitätssicherung Expertenstandards
interpretiert werden) anzuwenden.
– Korrekturen erfolgen, in dem der Eintrag Damit sind alle Leistungsanbieter, die Leistungen der
durchgestrichen und damit noch lesbar bleibt Pflegeversicherung erhalten, verpflichtet, Experten-
– nachträglich erforderliche Änderungen müs- standards bei der Pflege zu berücksichtigen. Damit
sen als solche kenntlich gemacht werden wird die weitreichende Akzeptanz der Expertenstan-
dards deutlich.

!
Merke: Die Pflegedokumentation bildet
eine wichtige Grundlage für interne und ex- ▌ Mitarbeiterqualifizierung
terne Qualitätsprüfungen und wird bei ju- Die Erfüllung der Qualitätsanforderungen in der
ristisch relevanten Haftungsansprüchen zur Beweis- Pflege ist entscheidend von den Fähigkeiten und
führung herangezogen. Kompetenzen der Pflegekräfte abhängig, die in der
Einrichtung angestellt sind.
▌ Pflegestandards
Im Rahmen des Pflegeprozesses wird mit Pfle- Berufliche Weiterentwicklung. Mit der Pflegeausbil-
gestandards gearbeitet. Pflegestandards sind Richt- dung eignen sich Auszubildende die beruflichen
linien bzw. Normen, die das Ziel und die Qualität der Handlungskompetenzen an, um die im Beruf zu be-
Pflegeleistung bei einer definierten Problemstellung wältigenden Aufgaben zu lösen. Wissen und Fähig-
und nachvollziehbare sowie überprüfbare Regeln keiten, die während der Berufsausbildung und den
zur Leistungserstellung beschreiben. Sie legen fest, ersten Berufsjahren gewonnen werden, genügen in
mit welchen Maßnahmen die pflegerische Leistung der Regel nicht, um langfristig die notwendigen
professionell erbracht werden soll. Damit wird die fachlichen Qualifikationen auf einem aktuellen
Durchführung der im Standard beschriebenen Pfle- Stand zu halten. Die Pflegenden sind nach der Aus-
gehandlungen nach aktuellen pflegefachlichen und bildung gefordert, Verantwortung für ihre persönli-
wissenschaftlichen Erkenntnissen sichergestellt und che und berufliche Weiterentwicklung zu überneh-
für alle Pflegekräfte verbindlich festgelegt. Pfle- men, indem sie regelmäßig an Fort- und Weiterbil-
gestandards sind schriftlich fixiert und sind Teil dungsmaßnahmen teilnehmen, um ihre in der Aus-
des Qualitätsmanagementhandbuchs. Zur Verein- bildung erworbenen beruflichen Handlungskom-
fachung und um den Schriftverkehr zu minimieren petenzen kontinuierlich weiter zu entwickeln.
kann bei der Dokumentation auf den Standard ver-
wiesen werden. Gezielter Personaleinsatz. Für jeden Arbeitsplatz
Die Orientierung an einem Pflegestandard be- und Tätigkeitsbereich wird bestimmt, welche Per-
deutet nicht, dass das pflegerische Handeln absolut sonalqualifizierung notwendig ist. Anhand von Stel-
einheitlich ablaufen sollte. Ein Standard muss den lenbeschreibungen wird ausgewiesen, welches An-

218 Pflege und Profession BAND 1


Literatur

forderungsprofil der Stelleninhaber erfüllen bzw.


über welche formalen Qualifikationen, Erfahrungen Literatur:
und Fähigkeiten er verfügen soll. Auch bei der täg-
lichen Aufgabenverteilung ist die jeweilige Füh- Baartmans P.C.M., V. Geng: Qualität nach Maß. Entwicklun-
gen und Einführung von Qualitätsstandards im Gesund-
rungskraft gefordert, festzulegen, welche Pfle-
heitswesen. Verlag Hans Huber, Bern 2000
gekraft, die einzelnen Patientengruppen mit unter-
Bienstein et al.: Dekubitus. Die Herausforderung für Pflegen-
schiedlichem Pflegebedarf übernehmen kann, damit de. Thieme, Stuttgart 1997
die Qualitätsanforderungen in der pflegerischen Dangel, B.: Pflegerische Entlassungsplanung Ansatz und Um-
Versorgung erfüllt werden. Der berufsfachliche Ent- setzung mit dem Expertenstandard. Urban & Fischer,
wicklungsstand der Mitarbeiter wird von der Füh- München 2004
rungskraft eingestuft und im Mitarbeitergespräch Deutsches Netzwerk für Qualitätssicherung in der Pflege
(Hrsg.): Expertenstandard Entlassungsmanagement in
thematisiert.
der Pflege. Entwicklung–Konsentierung–Implementie-
Die gezielte Förderung des Entwicklungspotenzi-
rung. Schriftenreihe des Deutschen Netzwerks für Quali-
als der Mitarbeiter durch Fort- und Weiterbildung tätsentwicklung in der Pflege. 1. Aktualisierung Osna- 6
ist ein wesentlicher Aspekt des Qualitätsmanage- brück 2009
ments. Dielmann, G.: Krankenpflegegesetz und Ausbildungs- und
Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege.
Mitarbeitergespräch/Zielvereinbarungsgespräch. Kommentar für die Praxis. 3. Aufl. Mabuse, Frankfurt a. M.
2013
Das Mitarbeitergespräch ist ein Instrument der Per-
Donabedian, A.: Evaluating the Quality of medical care. Mil-
sonalentwicklung. Es wird zwischen Führungskraft bank Memorial Fund Quarterly , 2/1966: 166-206
und Mitarbeiter in der Regel einmal jährlich geführt. Elzer, M.,C. Sciborski: Kommunikative Kompetenzen in der
Im Fokus des Gespräches stehen die im Jahr zuvor Pflege. Theorie und Praxis verbaler und nonverbaler In-
festgelegten Ziele, die Leistungen des Mitarbeiters teraktion. Verlag Huber, Bern 2007
und der gegenseitige Austausch zwischen der Füh- Endrikat, S.: Temporale Kompetenz als Voraussetzung für das
Prozessdenken in der Pflege. Pflegewissenschaft 09/10,
rungskraft und dem Beschäftigten. Rückblickend
S. 471-481
werden beispielsweise Routineaufgaben, die die
Fiechter, V., M. Meier: Pflegeplanung. Eine Anleitung für die
normalen Funktionsabläufe beschreiben, Arbeitszie- Praxis, 10. Aufl., Recom, Basel 1998
le, die über die gewohnten Arbeitsprozesse hinaus- Georg, J. (Hrsg.): Der Pflegeprozess in der Praxis. 2. Aufl.,
gehen, Entwicklungsarbeiten innerhalb der Abtei- Huber, Bern 2007
lung und die persönliche Entwicklung des Mitarbei- Görres, S.: Qualitätssicherung in Pflege und Medizin. Bestand-
ters thematisiert. Gleichzeitig werden im Gespräch aufnahme, Theorieansätze, Perspektiven am Beispiel des
Krankenhauses. Verlag Hans Huber, Bern 1999
neue Zielvereinbarungen für das kommende Tätig-
Görres, S. u. a.: Strategien der Qualitätsentwicklung in Pflege
keitsjahr und Möglichkeiten zur beruflichen Ent-
und Betreuung. Genesis, Strukturen und künftige Ausrich-
wicklung festgelegt. In Abhängigkeit der Unterneh- tung der Qualitätsentwicklung in der Betreuung von
mensziele und des personellen Qualifikations- Menschen mit Pflege- und Hilfebedarf. Hrsg. Bundeskon-
bedarfs in der Abteilung, bespricht die Führungs- ferenz zur Qualitätssicherung im Gesundheits- und Pfle-
kraft mit dem Mitarbeiter mögliche Fort- und Wei- gewesen e. V. (BUKO-QS). C.F. Müller Verlag, Heidelberg
terbildungsangebote und unterstützt ihn im Interes- 2006
Helberg, D. et al.: Welches Modell eignet sich zur Abbildung
se des Unternehmens bei seiner beruflichen Ent-
von Patientenzuständen in der Pflegepraxis? Pflegewis-
wicklung. senschaft 10/10, S. 548-557
Huber, M.: Die fehlende diagnostische Kompetenz in der Pfle-
ge. Printernet 03/04, S. 153-161
Jaster H-J.: Qualitätssicherung im Gesundheitswesen. Thieme,
Stuttgart 1997
Krohwinkel, M.: Fördernde Prozesspflege mit integrierten
ABEDLs. Forschung, Theorie und Praxis. Hogrefe, Bern
2013
Lange-Weishaupt A., E. Peper: Qualität in der Pflege für Aus-,
Fort- und Weiterbildung. Pflegiothek. Cornelsen Verlag,
Berlin 2009

BAND 1 Pflege und Profession 219


6 Pflegeprozess und Pflegequalität

Leoni-Schreiber, C.: Der angewandte Pflegeprozess. Facultas, Schrems, B.: Der Pflegeprozess im Kontext der Professionali-
Wien 2004 sierung. Reflexionen zum problematischen Verhältnis von
Lunney, M.: Arbeitsbuch Pflegediagnostik. Pflegerische Ent- Pflege und Pflegeprozess. Printernet 01/06, S. 44-52
scheidungsfindung, kritisches Denken und diagnostischer Seitz, E., R. Schäfer: Der Durchzug (das Stecklaken) – gefähr-
Prozess – Fallstudien und -analysen. Verlag Huber, Bern licher Luxus. Die Schwester/Der Pfleger 38/1999
2007 Sieger, M. et al.: Situationswahrnehmung und Deutung in der
Moers M., D. Schiemann: Expertenstandards in der Pflege. Interaktion zwischen Pflegenden und Patienten – Ergeb-
Vorgehensweise des Deutschen Netzwerks für Qualitäts- nisse einer empirischen Studie. Pflege 2010, S. 249-259
entwicklung in der Pflege (DNQP) und Nutzen für die Wierz V., A. Schwarz, S. Gervink S.: Qualität in der Pflege.
Praxis. In: Pflege & Gesellschaft. 9. Jahrgang 3/2004. Beispiele aus der Praxis. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart
Müller-Staub, M. et al.: Pflegediagnosen, -interventionen und 2000
–ergebnisse – Anwendung auf die Pflegepraxis: eine sys- WHO – Weltgesundheitsorganisation: Die Rolle des Beraters
tematische Literaturübersicht. Pflege 2015, S. 352-371 bei der Qualitätssicherung in der Pflegepraxis. Bericht
Neander K-D., H-J Flohr: Antidekubitusmatratzen im Ver- über eine WHO-Tagung. Den Haag 1987
gleich. Thieme, Stuttgart 1995
Peplau, H.: Interpersonale Beziehungen in der Pflege. Ein
6 konzeptueller Bezugsrahmen für eine psychodynamische Im Internet:
Pflege. RECOM-Verlag, Basel 1995 www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de;
Pippig, M.: Risikomanagement im Krankenhaus. Wismarer Stand: 22. 06. 2017
Diskussionspapiere. Hochschule Wismar, Fachbereich
Wirtschaft. Heft 5 2005

220 Pflege und Profession BAND 1


7 Pflegediagnosen
Annette Lauber

Übersicht
Einleitung · 221
7.1 Entwicklung der Pflegediagnosen · 221
7.2 Arten von Pflegediagnosen · 224
7.2.1 Problemfokussierte Pflegediagnosen · 225
7.2.2 Risikopflegediagnosen · 226
7.2.3 Pflegediagnosen der Gesundheitsförderung ·
226
7.3 Klassifikation von Pflegediagnosen · 227
7.3.1 Klassifikation der NANDA · 227
7.3.2 Andere Ordnungssysteme · 229
7.4 Pflegediagnosen im Pflegeprozess · 231
7
Fazit · 233
des Diagnostizierens und das Erstellen von Diagno-
Literatur · 233
sen nicht an die Zugehörigkeit einer Berufsgruppe,
sondern vielmehr an die Expertise eines Menschen
Schlüsselbegriffe
für einen bestimmten Aufgaben- und Handlungs-
▶ Nordamerikanische bereich gebunden.
Pflegediagnosen- Auch in der Pflege gibt es seit Mitte des 20. Jahr-
vereinigung (NANDA) hunderts den Begriff „Pflegediagnose“. Das folgende
▶ Pflegefachsprache Kapitel gibt einen Überblick über die Entstehung
▶ Klassifikation und Entwicklung der Pflegediagnosen, stellt ver-
▶ Taxonomie schiedene Arten von Pflegediagnosen sowie deren
▶ Pflegediagnostischer Anwendung und Nutzen vor.
Prozess

7.1 Entwicklung der


Pflegediagnosen
Einleitung
Der Begriff Diagnose bezeichnet eine aufgrund ge-
Viele Menschen denken bei dem Begriff „Diagnose“ nauerer Beobachtungen oder Untersuchungen abge-
spontan nur an die bei einer Erkrankung von Ärzten gebene Feststellung oder Beurteilung über den Zu-
gestellte, medizinische Diagnose. Es werden jedoch stand und/oder die Beschaffenheit von etwas, bei-
auch von anderen Berufsgruppen häufig Diagnosen spielsweise von einer Krankheit.
gestellt: Ein Automechaniker, der ein defektes Auto Diagnose ist ein gewöhnliches Fremdwort, das in
reparieren soll und nach genauer Untersuchung ein vielen Zusammenhängen gebraucht wird und des-
„verstärktes Fahrgeräusch aufgrund defekten Aus- sen Verwendung nicht auf die Berufsgruppe der Me-
puffs“ feststellt, stellt ebenso eine Diagnose wie der diziner beschränkt ist. Der Begriff Pflegediagnose
Friseur, der einen vermehrten Schuppenbefall der wurde 1953 erstmals von V. Fry in den USA geprägt.
Kopfhaut entdeckt, oder die Psychologin, die nach Die Formulierung einer Pflegediagnose sah sie als
intensiven Gesprächen mit einem Klienten die Diag- einen notwendigen Schritt bei der Festlegung eines
nose „Angststörung“ stellt. Diese Beispiele verdeut- Pflegeplans an. Beides, die Formulierung einer Pfle-
lichen zweierlei: Dem Erstellen einer Diagnose geht gediagnose und die Festlegung eines individualisier-
erstens ein Prozess der Einschätzung und Beurtei- ten Pflegeplans, stellte ihrer Meinung nach die
lung einer Situation voraus. Zweitens ist der Prozess wichtigste Aufgabe für jemanden dar, der kreativer

BAND 1 Pflege und Profession 221


7 Pflegediagnosen

pflegen will. Die Entwicklung von Pflegediagnosen ▌ Pflegediagnosen der NANDA


hängt also auch eng mit der Orientierung und Sys- Die NANDA trifft sich seit 1973 in zweijährigem Ab-
tematisierung pflegerischen Handelns am wissen- stand, um anerkannte Diagnosen zu entwickeln, zu
schaftlichen Ansatz zur Problemlösung, dem Pfle- überprüfen und neue Diagnosen zu klassifizieren.
geprozess, zusammen (s. a. Kap. 6). Pflegepersonen Bis 2016 hat sie mittlerweile eine Liste von 235 an-
konnten mittels der Pflegediagnosen erstmals sicht- erkannten Pflegediagnosen formuliert, die fortlau-
bar machen, dass sie einen eigenständigen und von fend ergänzt und evaluiert werden. Eine große
der medizinischen Diagnostik und Therapie unab- Zahl dieser Pflegediagnosen ist in die deutsche Spra-
hängigen Beitrag in der Betreuung und Versorgung che übersetzt worden. Die Arbeit der NANDA hat
kranker Menschen erbringen. Der Einsatz des Pfle- auch in der deutschen Pflegelandschaft vielfältige
geprozesses und die in diesem Rahmen formulierten Impulse gesetzt.
Pflegediagnosen hatten und haben somit auch eine Vorschläge für neue Pflegediagnosen kommen
wichtige Funktion bei der Entwicklung des pflege- aus der Pflegepraxis, beispielsweise von praktisch
beruflichen Selbstverständnisses und in der Berufs- tätigen Pflegepersonen, Lehrkräften oder Pflegefor-
politik. schern. Diese Vorschläge werden an den Prüfungs-
Aufgrund der starken Nähe zur Medizin setzte ausschuss der NANDA weitergegeben, der sie ent-
7 sich die Verwendung des Begriffs Diagnose in der weder zur erneuten Überarbeitung an die Autoren
Pflege jedoch nur zögerlich durch. Er hielt verstärkt zurückgibt oder an das Expertenkomitee weiterlei-
Einzug in die amerikanische Pflegeliteratur nach tet. Wenn das Komitee die Empfehlung zur Aufnah-
dem ersten Treffen der National Group for the Clas- me der neuen Pflegediagnose ausspricht, erfolgt die
sification of Nursing Diagnosis 1973, bei dem sich letzte Prüfung durch den NANDA-Vorstand und die
Pflegepersonen aus Kanada und den USA zu einer schriftliche Abstimmung der Mitglieder auf den
Konferenz zur Klassifikation von Pflegediagnosen zweijährlich stattfindenden Generalversammlun-
trafen. Diese Gruppe nannte sich ab 1982 Nordame- gen. Bei mehrheitlich positiver Abstimmung wird
rikanische Pflegediagnosenvereinigung (North Ame- die Pflegediagnose zur Überprüfung in der Pfle-
rican Nursing Diagnosis Association = NANDA ), seit gepraxis empfohlen und in die Liste der Pflegediag-
2002 NANDA International, um die weltweite Ver- nosen der NANDA aufgenommen.
breitung der Organisation zu verdeutlichen. Im Folgenden werden zwei von der NANDA an-
erkannten Pflegediagnosen gezeigt „Selbstversor-
gungsdefizit: Körperpflege“ (aktuelle Pflegediagno-
se) und „Sturzgefahr“ (Risiko-Pflegediagnose) (nach
NANDA-I 2016).

Selbstversorgungsdefizit Körperpflege ▌ Bestimmende Merkmale


(nach NANDA-I 2016, S. 237–238) ■ Beeinträchtigte Fähigkeit, das Bad zu erreichen
Domäne 4: Aktivität/Ruhe ■ Beeinträchtigte Fähigkeit, an Wasser zu gelangen
Klasse 5: Selbstversorgung ■ Beeinträchtigte Fähigkeit, den Körper abzutrocknen
Bathing self-care deficit (00 108) (1980, 1998, 2008; LOE ■ Waschutensilien zusammenstellen
2.1) ■ Beeinträchtigte Fähigkeit, das Waschwasser zu regu-
lieren
▌ Definition ■ Beeinträchtigte Fähigkeit, den Körper zu waschen
Beeinträchtigte Fähigkeit, Aktivitäten des Waschens/der
Körperhygiene selbstständig auszuführen oder abzu-
schließen.

222 Pflege und Profession BAND 1


7.1 Entwicklung der Pflegediagnosen

▌ Beeinflussende Faktoren ■ Ohnmachtsgefühl beim Strecken des Kopfes


■ Veränderung der kognitiven Funktion ■ Ohnmachtsgefühl beim Drehen des Kopfes
■ Angst ■ Hörbeeinträchtigung
■ Reduzierte Motivation ■ Beeinträchtigung des Gleichgewichts
■ Umgebungsbezogenes Hindernis ■ beeinträchtigte Mobilität
■ Beeinträchtigte Fähigkeit, Körperteile wahrzunehmen ■ Inkontinenz
■ Beeinträchtigte Fähigkeit, räumliche Verhältnisse ■ Neoplasma
wahrzunehmen ■ Neuropathie
■ Muskuloskeletale Beeinträchtigung ■ orthostatische Hypotonie
■ Neuromuskuläre Beeinträchtigung ■ postoperative Erholungsphase
■ Schmerzen ■ propriozeptive Defizite
■ Wahrnehmungsstörungen ■ Schlaflosigkeit
■ Schwäche ■ Harndrang
■ Gefäßerkrankung
Sturzgefahr ■ Sehstörung
Domäne 11: Sicherheit/Schutz
7
Klasse 2: Physische Verletzung ▌ Kognitiv
Risk for falls (00 155) (2000, 2013) ■ Veränderung der kognitiven Funktion

▌ Definition ▌ Pharmazeutische Wirkstoffe


Risiko der erhöhten Anfälligkeit für Stürze, die zu körper- ■ Alkoholkonsum
lichen Schäden führen und die Gesundheit beeinträchti- ■ Pharmazeutische Wirkstoffe
gen könnten.
▌ Umwelt
▌ Risikofaktoren ■ unordentliche Umgebung
▌ Erwachsene ■ Exposition gegenüber wetterbezogenen Bedingungen
■ Alter über 65 Jahre (z. B. nasse Böden, Eis)
■ Stürze in der Vorgeschichte ■ unzureichende Beleuchtung
■ Alleinlebend ■ unzureichend rutschfeste Materialien im Bad
■ Prothese der unteren Gliedmaßen ■ ungewohnte Umgebung
■ Gebrauch von Hilfsmitteln (z. B. Gehwagen, Gehstock, ■ Anwendung von freiheitseinschränkenden Maßnah-
Rollstuhl) men
■ Verwendung von nicht befestigten Teppichen
▌ Physiologisch
■ akute Krankheit ▌ Kinder
■ Veränderung des Blutglukosespiegels ■ fehlende Treppensicherung
■ Anämie ■ fehlende Fenstersicherung
■ Arthritis ■ Alter ≤ 2 Jahre
■ körperlicher Zustand, der den Fuß beeinflusst ■ unzureichende Beaufsichtigung
■ Abnahme der Muskelkraft der unteren Extremität ■ Unzureichende Sicherung im Auto
■ Diarrhö ■ männliches Geschlecht bei einem Alter < 1 Jahr
■ Gangunsicherheit

BAND 1 Pflege und Profession 223


7 Pflegediagnosen

!
Eine Pflegediagnose ist nach NANDA: Merke: Pflegediagnosen beziehen sich auf
die Reaktionen eines einzelnen oder einer
Definition: „Eine klinische Beurteilung einer Gruppe von Menschen, auf aktuelle oder po-
menschlichen Reaktion auf Gesundheitszustän- tenzielle Gesundheitszustände oder Lebensprozesse.
de/Lebensprozesse oder einer Vulnerabilität für
diese Reaktion eines Individuums, einer Familie,
Gruppe oder Gemeinschaft. Eine Pflegediagnose stellt 7.2 Arten von Pflegediagnosen
die Grundlage für die Auswahl der Pflegeinterventio-
nen zur Erzielung von Outcomes dar, für die die Pfle- Alle von der NANDA anerkannten Pflegediagnosen
gefachpersonen verantwortlich sind“ (angenommen werden mit einem Pflegediagnosetitel und einer zu-
auf der 9. NANDA-Konferenz, verändert in den Jahren gehörigen Definition versehen. Der Pflegediagnose-
2009 und 2013) (NANDA-I 2016, S. 499). titel ist eine Bezeichnung, die kurz und präzise die
Reaktion eines Menschen auf Gesundheitszustände/
Aus dieser Definition lassen sich mehrere Merkmale Lebensprozesse beschreibt.
von Pflegediagnosen ableiten: Der Pflegediagnosetitel „Selbstversorgungsdefizit
7 ■ Pflegediagnosen beschreiben die Reaktionen Körperpflege“ wird z. B. von der NANDA definiert als
eines Menschen oder einer Gruppe von Men- „beeinträchtigte Fähigkeit, Aktivitäten des Wa-
schen (Familien und Gemeinden) auf Gesund- schens/der Körperhygiene selbstständig auszufüh-
heitszustände oder Lebensprozesse. Pflegediag- ren oder abzuschließen“. Der Vorteil dieser Vor-
nosen beziehen sich auf das individuelle Verhal- gehensweise liegt darin, dass alle Pflegepersonen,
ten und Erleben des Patienten und nicht, wie die mit den NANDA-Pflegediagnosen arbeiten, ers-
etwa medizinische Diagnosen, auf die Krankheit tens dieselbe Formulierung, also eine einheitliche
selbst. Terminologie, verwenden und zweitens genau wis-
■ Die Reaktionen auf oder Folgen von Gesundheits- sen, was sich hinter dem Pflegediagnosetitel „Selbst-
problemen oder Lebensprozessen lassen sich an versorgungsdefizit Körperpflege“ verbirgt.
einem oder mehreren Zeichen und Symptomen Der Einsatz von Pflegdiagnosen kann sich in der
beobachten. Pflege in mehrerlei Hinsicht als nützlich und ge-
■ Gesundheitsprobleme oder Lebensprozesse kön- winnbringend erweisen: Zunächst einmal tragen
nen einerseits aktuell bestehen, also zum Zeit- Pflegediagnosen dazu bei, den eigenständigen und
punkt der Diagnosestellung bereits vorhanden spezifischen Handlungs- und Verantwortungs-
sein, andererseits können sie auch potenziell vor- bereich der Pflege zu beschreiben, indem sie Situa-
liegen, d. h. es kann ein Risiko für deren Auftre- tionen und Zustände benennen und beschreiben,
ten bestehen. die von beruflich Pflegenden festgestellt werden
■ Neben Gesundheitsproblemen können auch Le- und in denen beruflich ausgeübte Pflege erforder-
bensprozesse, wie z. B. die Zuschreibung oder lich ist. Damit verdeutlichen sie – sowohl innerhalb
Übernahme neuer Rollen, Reaktionen bei einem der eigenen Berufsgruppe, aber auch gegenüber an-
oder mehreren Menschen hervorrufen, die zur deren Berufsgruppen – wichtige Bestandteile des
Formulierung einer Pflegediagnose führen, z. B. Pflegewissens. Zugleich wird hierdurch die Entwick-
ein Elternrollenkonflikt. lung eines beruflichen Selbstverständnisses von
■ Bei der Planung der Pflege wählt die Pflegeper- Pflegepersonen unterstützt und der pflegerische
son die Pflegemaßnahmen und erreichbaren Verantwortungsbereich von dem anderer Berufe im
Pflegeziele aus, die sich auf die in der Pflegediag- Gesundheitswesen abgegrenzt (Tab. 7.1). In Bezug
nose beschriebenen Reaktionen des Patienten auf die Systematisierung des Pflegewissens leistet
beziehen. Die Pflegediagnose ist Ausgangspunkt hierbei das Klassifikationssystem der NANDA, die
für die Planung, Durchführung und Evaluation sog. Taxonomie II, einen großen Beitrag (s. S. 227).
der Pflege. Damit verkörpern Pflegediagnosen einen Teil der
■ Die Pflegeperson ist verantwortlich für das Errei- Pflegefachsprache, die der Verständigung von Pfle-
chen der aus der Pflegediagnose abgeleiteten gepersonen untereinander dient, indem sie die ge-
Pflegeziele. zielte Informationssammlung und die Identifikation
potenzieller und aktueller Patientenprobleme unter-

224 Pflege und Profession BAND 1


7.2 Arten von Pflegediagnosen

Tab. 7.1 Pflegediagnose und medizinische Diagnose im Vergleich

Pflegediagnosen Medizinische Diagnosen

Definition Bezeichnungen für menschliche Reaktionen auf aktuelle Bezeichnungen für Krankheiten oder Organstörungen
oder potenzielle Gesundheitszustände oder Lebenspro-
zesse

Ordnungssystem z. B. Domänen und Klassen der NANDA-Taxonomie II Organe


Nosologie (Krankheitslehre)
z. B. elf funktionelle Gesundheitsverhaltensmuster
(„functionalhealth patterns“) von Gordon (2013)
kein international anerkanntes, einheitliches Klassifika- International anerkanntes, einheitliches Klassifikati-
tionssystem onssystem (International Classification of Diseases –
ICD der WHO)

Gegenstand Menschliches Verhalten und Erleben Krankheit


Folgen und Reaktionen auf Gesundheitsprobleme und Pathophysiologische Veränderungen im Körper
Lebensprozesse

Merkmale Sind eher flexibel, d. h. sie können sich ändern, wann Sind eher statisch, d. h. sie bleiben unverändert, bis die 7
immer sich die Reaktion des Patienten auf die Gesund- Krankheit oder Organstörung geheilt ist
heitszustände oder Lebensprozesse ändert
Individuell; abhängig von Person und Lebensumständen Relativ unabhängig von Person und Lebensumständen
Spezifische Pflegediagnosen integrieren das soziale Werden im Allgemeinen ohne Berücksichtigung der
Umfeld des Patienten und beschreiben z. B. die Familie sozialen Beziehungen des Patienten formuliert
oder Gemeinde als Funktionseinheit

Verantwortlichkeit Ausgangspunkt für Planung, Durchführung und Evalua- Ausgangspunkt für medizinische Therapie und deren
tion der Pflege Evaluation
Durchführung der Therapie von Ärzten, aber auch von
anderen Berufsgruppen
Verantwortung der Pflegeperson Verantwortung des Arztes

!
stützt und eine präzise und effiziente mündliche Merke: Pflegediagnosen sind feststehende,
und schriftliche Informationsweitergabe ermöglicht. mit einer Definition versehene Begriffe. Im
Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zu Gegensatz zu Pflegeproblemen bieten sie
der in Kapitel 6 beschriebenen Formulierung von den Vorteil einer einheitlichen Terminologie.
Pflegeproblemen: Pflegeprobleme lassen eine indi-
viduelle und damit uneinheitliche Formulierung zu;
die Verwendung des Pflegediagnosetitels ist vor- Hinsichtlich ihrer Struktur werden aktuell drei
gegeben, von einer Definition gestützt und erscheint Arten von Pflegediagnosen unterschieden: problem-
als einheitliche Terminologie, zum Beispiel: fokussierte Pflegediagnosen, Pflegediagnosen der
Gesundheitsförderung und Risikopflegediagnosen.
Beispiel: Pflegeproblem: Herr Franz kann
aufgrund einer rechtsseitigen Hemiparese 7.2.1 Problemfokussierte Pflegediagnosen
nach einem Schlaganfall die Körperpflege Definition: Problemfokussierte Pflegediagno-
nicht selbstständig durchführen. sen sind eine klinische Beurteilung einer uner-
Pflegediagnose: Selbstversorgungsdefizit Körperpflege wünschten menschlichen Reaktion auf einen
beeinflusst durch (b/d) neuromuskuläre Beeinträchti- Gesundheitszustand/Lebensprozesse, die bei
gung und beeinträchtigte Fähigkeit, die rechte Körper- einem Individuum, Familie, Gruppe oder Gemein-
seite wahrzunehmen, angezeigt durch (a/d) beein- schaft auftreten (NANDA-I 2016, S. 499).
trächtigte Fähigkeit, die linke Körperhälfte zu wa-
schen, an Wasser zu gelangen und Waschutensilien Sie bestehen aus drei Elementen: dem Pflegediagno-
zusammenzustellen. setitel, beeinflussenden, ätiologischen (ursächli-
chen) Faktoren sowie bestimmenden Merkmalen.
Die einzelnen Elemente werden mit den Formulie-
BAND 1 Pflege und Profession 225
7 Pflegediagnosen

rungen „beeinflusst durch“ bzw. „angezeigt durch“ Eine Risikopflegediagnose besteht aus zwei Elemen-
verbunden. Die Struktur einer aktuellen Pflegediag- ten: dem Pflegediagnosetitel und einem oder meh-
nose zeigt folgende Übersicht: reren Risikofaktoren. Als Risikofaktoren betrachtet
die NANDA „umweltbezogene Faktoren und physio-
logische, psychologische, genetische oder chemische
Struktur einer aktuellen Pflegediagnose: Elemente, die die Vulnerabilität eines Individuums,
1. Pflegediagnosetitel (PD) einer Familie, Gruppe oder Gemeinschaft steigern,
beeinflusst durch (b/d),
bis zu einem Ereignis mit ungesunden Folgen“
2. Beeinflussende Faktoren
(NANDA-I 2016, S. 504).
angezeigt durch (a/d),
Risikofaktoren werden ausschließlich im Zusam-
3. Bestimmende Merkmale.
menhang mit Risikopflegediagnosen angegeben. Bei
der Formulierung einer Risikopflegediagnose wird
der Pflegediagnosetitel mit dem Wort „Gefahr“ er-
Beeinflussende Faktoren sind „Faktoren, die eine Art gänzt. Die folgende Übersicht zeigt die Struktur
von zugehörigem Muster mit der Pflegediagnose einer Risikopflegediagnose.
aufzuweisen scheinen. Solche Faktoren können als
7 der Diagnose vorangehend, mit ihr verbunden, mit
ihr in Bezug stehend, zu ihr beitragend oder sie un- Struktur einer Risiko-Pflegediagnose:
terstützende“ beschrieben werden (NANDA-I 2016, 1. Gefahr von Pflegediagnosetitel (PD)
beeinflusst durch (b/d)
S. 504). Beeinflussende Faktoren sind unverzicht-
2. Risikofaktoren.
barer Bestandteil problemfokussierter Pflegediagno-
sen.
Bestimmende Merkmale und Symptome können
sowohl objektiver als auch subjektiver Natur sein. „Gefahr eines Flüssigkeitsdefizits“ wird von der
Objektive, d. h. messbare körperliche Zeichen wie NANDA definiert als „Risiko einer Verminderung
beispielsweise „erhöhte Körpertemperatur“ oder des intravaskulären, interstitiellen und/oder intra-
„verminderter Hautturgor“ gehören ebenso dazu zellulären Flüssigkeitsvolumens, welche die Gesund-
wie subjektive Zeichen, beispielsweise beobachtete heit beeinträchtigen könnte“ (NANDA-I 2016,
Verhaltensänderungen oder Aussagen der problem- S. 210).
fokussierten Patienten selbst. In der pflegerischen Praxis könnte diese Diagno-
Die Pflegediagnose „Flüssigkeitsdefizit“ wird von se dann wie folgt aussehen: Gefahr eines Flüssig-
der NANDA definiert als „Verminderung“ des intra- keitsdefizits beeinflusst durch (b/d) übermäßigen
vaskulären, interstitiellen und/oder intrazellulären Flüssigkeitsverlust über die physiologischen Wege
Flüssigkeitsvolumens. Dieser Zustand bezieht sich (z. B. Durchfall).
auf Dehydratation, Wasserverlust ohne Veränderung
des Natriumgehalts (NANDA-I 2016, S. 209). Sie 7.2.3 Pflegediagnosen der Gesundheitsförderung
könnte in der pflegerischen Praxis wie folgt formu- Definition: Pflegediagnosen der Gesundheits-
liert werden: Flüssigkeitsdefizit beeinflusst durch förderung sind „eine klinische Beurteilung der
(b/d) beeinträchtigten Regulationsmechanismus, an- Motivation und des Wunsches, das Wohlbefin-
gezeigt durch (a/d) trockene Haut und Schleimhäu- den zu steigern und das menschliche Gesundheits-
te, reduzierte Urinausscheidung und Durst. potenzial zu verwirklichen. Diese Reaktionen werden
durch die Bereitschaft ausgedrückt, spezielle Gesund-
7.2.2 Risikopflegediagnosen heitsverhaltensweisen zu verbessern und können bei
Definition: Risikopflegediagnosen sind „eine jedem Gesundheitszustand angewendet werden. Ge-
klinische Beurteilung der Vulnerabilität eines sundheitsfördernde Reaktionen können bei einem In-
Individuums, Familie, Gruppe oder Gemein- dividuum, einer Familie Gruppe oder Gemeinschaft
schaft, eine unerwünschte menschliche Reaktion auf vorliegen“ (NANDA-I 2016, S. 499).
Gesundheitszustände/Lebensprozesse zu entwickeln“ Auch bei Pflegediagnosen der Gesundheitsförderung
(NANDA-I 2016, S. 499). können beeinflussende Faktoren angegeben werden,

226 Pflege und Profession BAND 1


7.3 Klassifikation von Pflegediagnosen

vor allem dann, wenn sie zur Eindeutigkeit der Di- Zusammenfassung:
agnose beitragen. Pflegediagnose
■ Aufbau einer Pflegediagnose: Pflegediagnosetitel
Pflegediagnosen der Gesundheitsförderung werden und Definition, je nach Typ der Pflegediagnose An-
dann formuliert, wenn ein Mensch den Wunsch äu- gabe von beeinflussenden Faktoren, bestimmenden
ßert, sein Gesundheitsverhalten zu verbessern und Merkmalen oder Risikofaktoren.
von einem bestehenden Gesundheitsniveau zu ■ 3 Arten von Pflegediagnosen:
einem höheren zu gelangen. Bei dieser Art von Pfle- – problemfokussierte Pflegediagnose,
gediagnosen wird der pflegerische Aufgabenbereich – Risikopflegediagnose,
der Prävention und der Gesundheitsberatung be- – Pflegediagnose der Gesundheitsförderung.
tont.
Pflegediagnosen der Gesundheitsförderung sind
zweiteilige Aussagen. Sie bestehen aus dem Pflege- 7.3 Klassifikation von
diagnosetitel und bestimmenden Merkmalen. Pflegediagnosen
In der Pflegepraxis könnte eine Pflegediagnose
der Gesundheitsförderung wie folgt gestellt werden: Ähnlich wie bei der Ordnung von Pflegetheorien
Bereitschaft für ein verbessertes Coping angezeigt (s. a. Kap. 4.2.5) werden Ordnungssysteme auch im 7
durch (a/d) drückt den Wunsch aus, das Wissen Zusammenhang mit Pflegediagnosen verwendet.
über Stressbewältigungsstrategien zu vermehren Die NANDA hat hierzu ein Klassifikationssystem,
und die Nutzung von problemorientierten Strate- die sog. Taxonomie II, entwickelt, das den Umgang
gien zu verbessern. mit und die Anwendung von Pflegediagnosen er-
Tab. 7.2 zeigt die verschiedenen Arten von Pfle- leichtern soll.
gediagnosen in der Übersicht.
7.3.1 Klassifikation der NANDA
Zu Beginn ihrer Arbeit listete die NANDA die aner-
Bereitschaft für eine verbesserte elterliche Fürsorge kannten Pflegediagnosen alphabetisch auf. Um
Readiness for enhanced parenting (00164) Übersichtlichkeit und Anwendung der Pflegediagno-
(2002, 2013; LOE 2.1) sen zu erleichtern, entwarf eine Gruppe von Pflege-
Domane 7: Rollenbeziehungen
theoretikern ein Klassifikationssystem. Ein Klassifi-
– Klasse 1: Fürsorgerollen kationssystem kann vereinfacht als eine Ordnungs-
hilfe beschrieben werden, die die Zuordnung einzel-
Definition: Ein Muster zur Bereitstellung eines Umfelds ner Elemente zu verschiedenen Klassen und deren
für Kinder oder andere abhängige Personen,
um Wachstum und Entwicklung zu fördern, Hierarchisierung ermöglicht. Das Klassifikationssys-
welches gestärkt werden kann. tem der NANDA geht von 13 Bereichen (Domänen)
und 47 Klassen aus, denen die einzelnen Pflegediag-
Bestimmende Merkmale
nosen zugeordnet werden. Damit umfasst die Taxo-
• Kinder äußern den Wunsch, das häusliche
Umfeld zu verbessern nomie II der NANDA 3 Ebenen: 1. Domänen, 2. Klas-
• äußerst den Wunsch, die elterliche sen und 3. Pflegediagnosen (Tab. 7.3).
Fürsorge zu verbessern Klassifikationssysteme bilden in diesem Ver-
• Elternteil äußert den Wunsch, die emotionale
Unterstützung der Kinder zu verbessern
ständnis eine logische und konsistente Struktur für
• Elternteil äußert den Wunsch, die emotionale die Systematisierung des aktuellen pflegerischen
Unterstützung einer anderen abhängigen Person Wissens. Wichtig ist dabei, dass sich die einzelnen
zu verbessern Domänen, Klassen und Pflegediagnosen nicht über-
schneiden und klar voneinander abgrenzen lassen.
Abb. 7.1 Bereitschaft für eine verbesserte elterliche Fürsorge Auf diese Weise können Pflegediagnosen im diag-
(nach NANDA-I 2016). nostischen Prozess leichter aufgefunden werden.
Neue Pflegediagnosen werden ihrer Definition
entsprechend klassifiziert, d. h. dem jeweils passen-
den Bereich und einer spezifischen Klasse zugeord-
net. Gleichzeitig werden sie innerhalb der einzelnen
Klassen alphabetisch nach dem diagnostischen Be-

BAND 1 Pflege und Profession 227


7 Pflegediagnosen

Tab. 7.2 Arten von Pflegediagnosen

Problemfokussierte Risiko- Pflegediagnosen der Gesundheits-


Pflegediagnosen pflegediagnosen förderung

Situation des Es bestehen ein oder mehrere Es liegen ein oder mehrere Risiko- Zustand der Ausgeglichenheit;
Patienten Gesundheitsprobleme faktoren für ein Gesundheits- Stabiler Gesundheitszustand
problem vor

Struktur Pflegediagnosetitel + beeinflussende Pflegediagnosetitel + Risiko- Pflegediagnosetitel + bestimmte


Faktoren + bestimmende Merkmale faktor (zweiteilig) Merkmale (zweiteilig)
(dreiteilig) Zusatz im Titel: „Gefahr von . . .“ Formulierung: „Bereitschaft für eine
verbesserte . . .“

Beispiel Flüssigkeitsdefizit Gefahr eines Flüssigkeitsdefizits Gesundheitsförderung anstrebende


b/d beeinträchtigenden b/d übermäßigen Flüssigkeitsver- Verhaltensweisen
Regulationsmechanismus lust über die physiologischen Wege Bereitschaft für eine verbesserte
a/d trockene Haut und Schleimhäute, (z. B. Durchfall) Ernährung
reduzierte Urinausscheidung und b/d äußert den Wunsch, die
Durst Ernährung zu verbessern

griff (z. B. Selbstversorgung) geordnet und mit


▌ angenommene Diagnosen
einem fünfstelligen Zifferncode versehen, der die
Nummer der anerkannten Pflegediagnose enthält 00 040 Gefahr eines Immobilitätssyndroms
(z. B. 00 108 für „Selbstversorgungsdefizit: Körper- 00 085 beeinträchtigte körperliche Mobilität
pflege“, da diese Diagnose die 108. von der NANDA 00 091 beeinträchtigte Mobilität im Bett
00 089 beeinträchtigte Mobilität mit dem Rollstuhl
anerkannte Pflegediagnose war). Folgende Übersicht
00 090 beeinträchtigte Transferfähigkeit
zeigt den Ausschnitt aus der NANDA-Taxonomie II
00 088 beeinträchtigte Gehfähigkeit
für den Bereich Aktivität/Ruhe.
00 237 beeinträchtigtes Sitzen
00 238 beeinträchtigtes Stehen

NANDA Taxonomie II: Domäne 4 Aktivität/ ▌ Klasse 3 Energiehaushalt


Ruhe Ein dynamischer Zustand der Harmonie zwischen Auf-
(nach NANDA-I 2016, S. 237 – 238) nahme und Verbrauch von Ressourcen.

Erzeugung, Erhalt, Verbrauch oder Gleichgewicht der ▌ angenommene Diagnosen


Energieressourcen.
00 154 ruheloses Umhergehen
00 093 Fatigue
▌ Klasse 1 Schlaf/Ruhe
Schlummer, Erholung, Behaglichkeit, Entspannung oder ▌ Klasse 4 Kardiovaskuläre/Pulmonale Reaktionen
Inaktivität
Kardiopulmonale Mechanismen, die Aktivität/Ruhe un-
terstützen.
▌ angenommene Diagnosen
00 096 Schlafmangel ▌ angenommene Diagnosen
00 165 Bereitschaft für einen verbesserten Schlaf
00 228 Gefahr einer peripheren Durchblutungsstörung
00 095 Schlafstörung
00 201 Gefahr einer zerebralen Durchblutungsstörung
00 198 gestörtes Schlafmuster
00 239 Gefahr einer beeinträchtigten kardiovaskulären
Funktion
▌ Klasse 2 Aktivität/Bewegung 00 240 Gefahr einer verminderten Herzleistung
Körperteile bewegen (Mobilität), Arbeiten oder Hand- 00 029 verminderte Herzleistung
lungen häufig (aber nicht immer) gegen Widerstand 00 033 beeinträchtigte Spontanatmung
durchführen. 00 032 unwirksamer Atemvorgang

228 Pflege und Profession BAND 1


7.3 Klassifikation von Pflegediagnosen

00 092 Aktivitätsintoleranz ter Pflegediagnosen die Leistungserfassung und Be-


00 094 Gefahr einer Aktivitätsintoleranz rechnung pflegerischer Leistungen nach pflegeri-
00 034 erschwertes Weaning schen (und nicht nach medizinischen) Diagnosen
00 200 Gefahr einer kardialen Durchblutungsstörung ermöglicht.
00 228 Gefahr einer gastrointestinalen Durchblutungs-

!
störung Merke: Die NANDA ordnet die von ihr an-
00 203 Gefahr einer renalen Durchblutungsstörung erkannten Pflegediagnosen in einem Klassi-
00 204 periphere Durchblutungsstörung
fikationssystem, das von 13 Domänen und
47 Klassen ausgeht.
▌ Klasse 5 Selbstversorgung
Fähigkeit, Aktivitäten zur Pflege des eigenen Körpers
7.3.2 Andere Ordnungssysteme
und der Körperfunktionen durchzuführen
Eine andere Art der Zuordnung von Pflegediagnosen
00 098 beeinträchtigte Haushaltsführung
wird von der amerikanischen Professorin für Pflege
00 182 Bereitschaft für eine verbesserte Selbstfürsorge
Marjory Gordon vorgeschlagen. Sie verwendet als
00 193 Selbstvernachlässigung
Diagnosekategorien elf funktionelle Gesundheits-
00 102 Selbstversorgungsdefizit Essen und Trinken
verhaltensmuster („functional health patterns“).
00 108 Selbstversorgungsdefizit Körperpflege
00 109 Selbstversorgungsdefizit Sich kleiden Neben den anerkannten und noch im Anerken- 7
00 110 Selbstversorgungsdefizit Toilettenbenutzung nungsprozess befindlichen Pflegediagnosen der
NANDA finden sich in ihrem auch in deutscher Spra-
che vorliegenden Handbuch weitere Pflegediagno-
sen, die sich in der Praxis als nützlich erwiesen ha-
Diese Art der hierarchischen Ordnung wird auch als ben, aber noch nicht von der NANDA anerkannt
Taxonomie bezeichnet. Auf diese Weise können wurden.
neue Pflegediagnosen in die Taxonomie II eingeord- Die elf von Gordon beschriebenen funktionellen
net werden, ohne dass die Codes der einzelnen Di- Gesundheitsverhaltensmuster zeigt die folgende
agnosen jeweils geändert werden müssen. Sie er- Übersicht:
leichtert auch die computerisierte Erfassung der Verhaltensmuster nach Gordon:
Pflegediagnosen. 1. Wahrnehmung und Umgang mit der eigenen
Gesundheit,
▌ Vorteile von Klassifikationssystemen 2. Ernährung und Stoffwechsel,
Die Klassifikation der Pflegediagnosen bringt eine 3. Ausscheidung,
Reihe von Vorteilen mit sich. Ein Klassifikationssys- 4. Aktivität und Bewegung,
tem ermöglicht die Ordnung und Strukturierung 5. Schlaf und Ruhe,
pflegerischen Wissens und trägt dazu bei, wissen- 6. Kognition und Perzeption,
schaftlich fundiertes Pflegewissen zu beschreiben 7. Selbstwahrnehmung und Selbstkonzept,
und zu entwickeln. Dies trägt auch wesentlich bei 8. Rollen und Beziehungen,
zur Auswahl und Bestimmung von Ausbildungs- 9. Sexualität und Reproduktion,
inhalten in den Pflegeberufen (Abb. 7.2). 10. Bewältigungsverhalten und Stresstoleranz,
Das Klassifikationssystem ermöglicht außerdem 11. Werte und Überzeugungen.
die computergesteuerte Erfassung, Analyse und Syn-
these pflegerischer Daten sowohl für die Pflegepra- Unabhängig davon, ob das Klassifikationssystem der
xis als auch für die Pflegeforschung. Gerade für den NANDA oder Gordons funktionelle Verhaltensmus-
Bereich der Pflegeforschung sind eine einheitliche ter zur Ordnung der Pflegediagnosen herangezogen
Terminologie und ein Klassifikationssystem wichtig, werden, ergeben sich für die Übertragbarkeit der
um Forschungsstudien vergleichbar machen und NANDA-Pflegediagnosen auf die Pflege in Europa
Forschungsergebnisse evaluieren zu können. Die und damit auch in Deutschland zwei große Pro-
Entwicklung neuer Pflegediagnosen kann auch als blembereiche.
ein Beispiel für die induktive Vorgehensweise bei Erstens ist es schwierig, die NANDA-Pflegediag-
der Pflegeforschung gesehen werden (s. a. Kap. 5). nosen in die deutsche Sprache zu übersetzen. Spra-
Außerdem wird durch die Verwendung klassifizier- che und Wortwahl sind immer auch Ausdruck der

BAND 1 Pflege und Profession 229


7 Pflegediagnosen

Tab. 7.3 Domänen und Taxonomie II (nach NANDA 2011)

Domäne Klasse 1 Klasse 2 Klasse 3 Klasse 4 Klasse 5 Klasse 6

Gesundheits- Gesundheits- Gesundheits-


förderung bewusstsein management

Ernährung Nahrungs- Verdauung Absorption Stoffwechsel Flüssigkeits-


aufnahme zufuhr

Ausscheidung/ Harntraktfunktion Magen-Darm- Hautfunktion Respiratorische


Austausch Funktion Funktion

Aktivität/Ruhe Schlaf/Ruhe Aktivität/ Energiehaushalt Kardiovaskuläre/ Selbst-


Bewegung Pulmonale versorgung
Reaktionen

Wahrnehmung/ Aufmerksamkeit Orientierung Empfindung/ Kognition Kommuni-


Kognition Wahrnehmung kation

7 Selbstwahrneh- Selbstkonzept Selbstwertgefühl Körperbild


mung

Rollenbeziehungen Fürsorgerollen Familien- Rollenverhalten


beziehungen

Sexualität Sexuelle Identität Sexualfunktion Fortpflanzung

Bewältigung/ Posttraumatische Bewältigungs- Neurobehavioraler


Stresstoleranz Reaktionen reaktionen Stress

Lebensprinzipien Werte Glauben Übereinstimmung


von Werten/
Glauben/Handlung

Sicherheit/Schutz Infektion Physische Gewalt Umweltgefahren Abwehr- Thermo-


Verletzung prozesse regulation

Wohlbefinden Physisches Wohl- Umfeldbezogenes Soziales Wohl-


befinden Wohlbefinden befinden

Wachstum/ Wachstum Entwicklung


Entwicklung

jeweiligen Kultur, in der sie entstanden sind, des- Verbände zur Schaffung anderer Klassifikationssys-
halb muss bei den einzelnen Übersetzungen geprüft teme.
werden, ob sie für die bislang im deutschsprachigen Allen gemeinsam ist das Bestreben, eine einheit-
Raum verwendete Sprache in der Pflege „passen“. liche Terminologie für die Pflege zu schaffen um so
Zweitens hat die Pflege in Amerika einen ande- die systematische Weiterentwicklung des Pflege-
ren, erheblich mehr medizinorientierten und größe- wissens über Forschung zu unterstützen (Abb. 7.2).
ren psychosozialen Zuständigkeitsbereich als in Der International Council of Nurses (ICN) betont die
Deutschland. Auch diese Tatsache macht die Über- Wichtigkeit der Etablierung einer gemeinsamen in-
nahme der NANDA-Pflegediagnosen problematisch. ternationalen Fachsprache für die Pflege
Deshalb existieren neben der Klassifikation der ■ „(...) um die Pflegepraxis zu beschreiben und um
NANDA verschiedene Projekte unterschiedlicher die Kommunikation zwischen Pflegenden unter-

230 Pflege und Profession BAND 1


7.4 Pflegediagnosen im Pflegeprozess

einander und zwischen Pflegenden und weiteren Evaluation der Pflege und damit auch auf die diag-
Personenkreisen zu verbessern nostischen Fähigkeiten von Pflegepersonen.
■ die Pflege des Menschen (Individuen, Familien,
Gemeinden) in ihrer Vielfalt zu beschreiben
■ Pflegedaten über Versorgungssetting, Zeit und 7.4 Pflegediagnosen im
Raum hinweg vergleichen zu können und damit Pflegeprozess
die Pflegeforschung zu optimieren
■ Versorgungsschwerpunkte und Ziele der pflege- Der Weg von der Informationssammlung im Pfle-
rischen Versorgung zu bestimmen, aber auch geprozess bis zur Formulierung einer oder mehrerer
eine angemessene Ressourcenverteilung auf der Pflegediagnosen wird auch als (pflege-)diagnosti-
Grundlage diagnostizierter Patientenbedürfnisse scher Prozess bezeichnet. Er beschreibt das Vor-
und identifizierter Pflegediagnosen (DBfK gehen einer Pflegeperson bei der Analyse, Synthese
2011).“ und Interpretation der erhobenen subjektiven und
objektiven gesundheits- und krankheitsbezogenen
Seit 1989 besteht ein Projekt ICN, das International Daten eines pflegebedürftigen Menschen im Hin-
Classification of Nursing Practice (ICNP®) genannt blick auf eine diagnostische Aussage. Dieser Prozess
wird und inhaltlich alle bestehenden Klassifikati- kann nach Gordon (2013) in folgenden Schritten be- 7
onssysteme sowie Interventionen und Ergebnisse schrieben werden:
einschließen soll. Die Vereinigung für gemeinsame ■ Sammlung der Informationen: Zunächst werden
europäische Pflegediagnosen, Pflegeinterventionen aus allen verfügbaren Informationsquellen pfle-
und Pflegeergebnisse (Association for Common Eu- gerelevante subjektive und objektive Informatio-
ropean Nursing Diagnosis, Interventions and Out- nen erhoben (s. a. Kap. 6).
comes – ACENDIO) besteht seit 1995 und bietet ■ Interpretation der Informationen: Die erhobenen
eine internationale Diskussions-Plattform für As- Daten werden hinsichtlich ihrer Bedeutung ana-
pekte rund um das Thema Pflegediagnosen. lysiert, interpretiert und beurteilt. Dabei werden
Pflegediagnosen leisten einen wertvollen Beitrag erste Schlussfolgerungen (Hypothesen) gezogen.
zur Bestimmung des pflegerischen Handlungs- und ■ Bündelung der Informationen: Die Informationen
Verantwortungsbereichs. Zudem lenken sie den werden auf der Basis der Schlussfolgerungen zu
Blick auf den Zusammenhang zwischen Pflege- sinnvollen Gruppen, sog. Kennzeichenclustern,
anamnese, pflegerischen Interventionen und der zusammengefügt und mit möglichen Diagnose-
kategorien abgeglichen. Dabei werden mögliche

Klassifikationssystem
(einheitliche Terminologie der Pflege)

Abb. 7.2 Funktionen des Klassifikationssystems

BAND 1 Pflege und Profession 231


7 Pflegediagnosen

Pflegediagnosen aus der Pflegediagnosenliste [...] Schließlich enthält das Gesundheitsverhaltens-


ausgewählt und hinsichtlich der Übereinstim- muster noch Faktoren, die sich störend auf die ge-
mung zwischen Definition und Merkmalen mit wünschten oder erwarteten Aktivitäten der bzw. des
den erhobenen Daten des pflegebedürftigen Betreffenden auswirken, wie neuromuskuläre Defizite
Menschen überprüft. Hierbei empfiehlt es sich, und deren Kompensationen, Dyspnoe, Angina, oder
mit einem der in deutscher Sprache erhältlichen Muskelkrämpfe unter Belastung sowie ggf. eine kar-
Handbücher über Pflegediagnosen zu arbeiten. diologische (kardiale Vitalfunktionen) bzw. pul-
■ Benennung des Kennzeichenclusters: Das Ergeb- monologische (Atmung) Klassifikation und Zuord-
nis des Abgleichs wird als definitives Gesund- nung, soweit angezeigt“ (Gordon 2013, S. 38).
heitsproblem des pflegebedürftigen Menschen,
also als Pflegediagnose dokumentiert. ▌ Richtlinie für das Pflegeassessment im
Gesundheitsverhaltensmuster „Aktivität und
Grundlage für das Formulieren einer Pflegediagnose Bewegung“
bilden folglich das Assessment und die klinische Be- a. Haben Sie genügend Energie für die von Ihnen
urteilung der Gesundheitssituation eines Menschen. gewünschten bzw. geforderten Aktivitäten? Wie
Hierbei werden subjektive und objektive Daten und sind Ihre Bewegungsgewohnheiten? Welcher Art
7 Ressourcen systematisch erhoben. körperlicher Betätigung gehen Sie nach? Tun Sie
Gordon (2013) beschreibt für die systematische In- dies regelmäßig? (sitzende Lebensweise?)
formationssammlung im Rahmen des Pflegeassess- b. Wie verändert sich Ihr körperlicher Zustand,
ments Leitfragen, die sich an den funktionellen Ge- wenn Sie Aktivitäten ausführen bzgl. RR, P, At-
sundheitsverhaltensmustern orientieren und die mung, Gleichgewicht, Haut?
dem Patienten im Rahmen des Anamnesegesprächs c. Können Sie körperliche Belastungen gut tolerie-
gestellt werden. Sie sind jeweils auf die Aspekte ak- ren oder werden Sie kurzatmig? Wie ausdauernd
tuell vorliegender Pflegediagnosen bezogen und er- sind Sie?
möglichen so eine erste Einschätzung möglicher d. Haben Sie genügend Energie, um sich selbst, Ihre
vorliegender Problembereiche. Folgende Leitfragen Wohnumgebung und Ihre Gesundheit zu pfle-
sind beispielsweise für das Gesundheitsverhaltens- gen? Wächst Ihnen mitunter die Sorge um sich
muster „Aktivität und Bewegung“ vorgesehen: selbst, Ihre Wohnung und Ihre Gesundheit über
den Kopf?
e. Welchen Freizeitaktivitäten gehen Sie nach? Bei
Definition: Gesundheitsverhaltensmuster Akti- Kindern: Was und womit spielst Du gern?
vität und Bewegung. f. Welche der folgenden Tätigkeiten können Sie
Mit diesem Gesundheitsverhaltensmuster wer- selbstständig ausführen (Funktionsgrade ent-
den die Bewegungs-, Aktivitäts-, Freizeit- und Erho- sprechend eintragen):
lungsmuster beschrieben. Es umfasst die kraft- und – Essen/Trinken
energieaufwändigen Aktivitäten des täglichen Lebens, – Baden/Körperpflege
wie etwa Körperpflege, Essen/Trinken, Sich-Kleiden, – Toilettengang/-benutzung
Toilettenbenutzung sowie die instrumentellen Aktivi- – Bettmobilität
täten des täglichen Lebens: Arbeiten, Einkaufen, Ko- – Sich-Kleiden
chen und Haushaltsführung. Ebenfalls enthalten sind – Pflege der äußeren Erscheinung
Art, Ausmaß und Form körperlicher Belastungen, die – Allgemeine Mobilität
für die betreffende Person typisch sind, darunter auch – Kochen
Sport. Auch Muster des Freizeitverhaltens sind darin – Hausarbeit
enthalten und beschreiben, welche Aktivitäten der Pa- – Einkaufen
tient in seiner Freizeit entweder in einer Gruppe oder
allein unternimmt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf ▌ Funktionsgrade
den Aktivitäten, die für den Patienten sehr wichtig 0 versorgt sich vollständig selbst
oder bedeutsam sind, sowie auf jeglicher Form von 1 benötigt Hilfsmittel oder -vorrichtungen
Einschränkung. 2 ist auf die Hilfe, Beaufsichtigung oder Anleitung
durch eine andere Person angewiesen

232 Pflege und Profession BAND 1


Literatur

3 benötigt sowohl Unterstützung oder Über- Seit 1973 arbeitet die Nordamerikanische Pflege-
wachung durch eine andere Person als auch Hilfs- diagnosenvereinigung (NANDA) an der Entwicklung
mittel oder –vorrichtungen und Klassifizierung neuer Pflegediagnosen. Das Klas-
4 ist vollständig abhängig und beteiligt sich nicht an sifikationssystem der NANDA geht von 13 Bereichen
der Versorgung (Domänen) und 47 Klassen aus, denen die einzelnen
Weisen die erhobenen Daten auf ein aktuelles Pflegediagnosen zugeordnet werden. Neben der Arbeit
oder potenzielles Pflegeproblem hin, schlägt Gordon der NANDA existieren verschiedene Klassifikations-
die Formulierung diagnostischer Hypothesen vor, projekte auf internationaler Ebene. Pflegediagnosen
die im weiteren Verlauf mit den Definitionen, Kenn- sind nicht unumstritten, können aber beispielsweise
zeichen und Risikofaktoren der Pflegediagnosen im die Identifizierung und nähere Beschreibung des pfle-
jeweiligen Gesundheitsverhaltensmuster abgegli- gerischen Tätigkeitsbereiches und die Systematisie-
chen werden. Ggf. sind differenzierte Assessments rung des Pflegewissens unterstützen und damit
erforderlich, um eine endgültige Pflegediagnose einen wesentlichen Beitrag zur Berufsentwicklung
festzulegen. der Pflege leisten.
Der pflegediagnostische Prozess stellt sich damit
weniger als eine einfache Abfolge der genannten
Komponenten dar. Er verlangt vielmehr ein kontinu- Literatur: 7
ierliches Abgleichen der gezogenen Schlussfolgerun-
gen mit weiteren Beobachtungen und neuen Infor- Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe (Hrsg.): Position
der Berufsverbände DBfK, ÖGKV und SBK zur Internatio-
mationen über den pflegebedürftigen Menschen.
nal Classification for Nursing Practice – ICNP®. DBfK 2011
Dabei spielen die klinische Erfahrung einer Pflege-
Duden Fremdwörterbuch, 11. Aufl. Bibliographisches Institut,
person, ihr Fachwissen und die Fähigkeit zur kriti- Berlin 2015
schen Reflexion eine wichtige Rolle. Ehmann, M., I. Völkel: Pflegediagnosen in der Altenpflege.
Pflegediagnosen stellen eine standardisierte Der Weg zur pflegefachlichen Aussage. 5. Aufl. Elsevier,
sprachliche Form, d. h. eine einheitliche Terminolo- München 2016
gie für die aus der Informationssammlung im diag- Freund, K.C.: Pflegequalitätsentwicklung und -leistungsdar-
stellung durch die Pflgeklassifikationen NANDA – NOC –
nostischen Prozess abgeleiteten Probleme eines
NIC. Pflegewissenschaft 11 (2008) S. 601-613
pflegebedürftigen Menschen zur Verfügung. Sie
Gordon, M.: Handbuch Pflegediagnosen. 5. Aufl. Hans Huber,
sind das Ergebnis des (pflege-)diagnostischen Pro- Hogrefe AG, Bern 2013
zesses. Wie die formulierten Ressourcen und Proble- International Council of Nurses (ICN): ICNP. Internationale
me des pflegebedürftigen Menschen sind sie Aus- Klassifikation für die Pflegepraxis. Hans Huber, Bern 2002
gangspunkt für Planung, Durchführung und Evalua- Müller-Staub, M. u. a.: Geführte klinische Entscheidungsfin-
tion der Pflege. Sie können also anstelle der Pfle- dung zur Einführung von Pflegediagnosen. Eine cluster-
randomisierte Studie. Pflegewissenschaft 4 (2010) S. 233-
geprobleme in den Pflegeprozess integriert werden.
240
Müller-Staub, M. u. a.: Eine Studie zur Einführung von NAN-
Fazit: Pflegediagnosen beschreiben die Re- DA-I Pflegediagnosen, Pflegeinterventionen und pflege-
aktion von Menschen oder Gruppen von sensiblen Patientenergebnissen. Pflegewissenschaft 12
Menschen auf Gesundheitsprobleme oder (2009) S. 688-696
Lebensprozesse und unterscheiden sich damit von Müller-Staub, M., J. Georg, C. Abderhalten (Hrsg.): Pflegediag-
nosen und Pflegemaßnahmen. 5. Aufl. Hogrefe, Bern 2014
den medizinischen Diagnosen. Pflegediagnosen sind
Müller-Staub, M., K. Schalek, P. König (Hrsg.): Pflegeklassifi-
formal definierte Pflegeprobleme und können an
kationen und pflegerische Begriffssysteme. Hogrefe, Bern
deren Stelle in den Pflegeprozess integriert werden. 2016
Sie sind sowohl ein Beispiel für die induktive Begriffs- NANDA International: Pflegediagnosen. Definitionen und
bildung in der Pflege als auch für die Pflegefachspra- Klassifikation 2015 – 2017. Herdman, T.H., Kamitsuru, S.
che. Unterschieden werden problemfokussierte und (Hrsg.). RECOM, Kassel 2016
Risikopflegediagnosen sowie Pflegediagnosen der Ge- Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 266. Aufl. de Gruyter,
Berlin 2014
sundheitsförderung.

BAND 1 Pflege und Profession 233


7 Pflegediagnosen

Schmitt, A.: Studien, Projekte und Implementierungen von Wieteck, P. (Hrsg.): Praxisleitlinien Pflege: Planen und Doku-
Pflegediagnosen im deutschsprachigen Raum. Pflegewis- mentieren auf Basis von Pflegediagnosen der Klassifikati-
senschaft 12 (2008) S. 662-675 on ENP®. 2. Aufl. RECOM, Kassel 2013
Schrems, B.: Verstehende Pflegediagnostik. Grundlagen zum
angemessenen Pflegehandeln. Facultas, Wien 2008
Schrems, B.: Der Prozess des Diagnostizierens in der Pflege. Im Internet:
Facultas , Wien 2003 www.acendio.net; Stand: 22. 06. 2017
www.dbfk.de; Stand: 22. 06. 2017
www.icn.ch; Stand: 22. 06. 2017

234 Pflege und Profession BAND 1


8 Arbeitsorganisation und Pflegesysteme
Astrid Hammer*, Elke Kobbert

Übersicht
Einleitung · 235
8.1 Pflegesysteme · 235
8.1.1 Funktionelle Pflege/Funktionspflege · 236
8.1.2 Patientenorientierte Pflege/Individualisierte
Pflege · 238
8.2 Arbeitsorganisationen · 240
8.2.1 Gruppenpflege/Bereichspflege · 240
8.2.2 Zimmerpflege · 240
8.2.3 Einzelpflege · 240
8.2.4 Primary Nursing · 241
Fazit · 243
Literatur · 244
dinierte und zielgerichtete Durchführung von Ar-
8
beitsaufgaben und die zu verrichtenden Tätigkeiten.
Schlüsselbegriffe
Im Rahmen einer gut funktionierenden Arbeitsorga-
▶ Pflegesystem nisation wird ein patientenorientierter Pflegeansatz
▶ Funktionelle Pflege/Funktionspflege angestrebt.
▶ Patientenorientierte Pflege/Individuali- Das folgende Kapitel gibt einen Überblick über
sierte Pflege die verschiedene Arbeitsorganisationsformen bzw.
▶ Gruppen- bzw. Pflegesysteme, die in der Pflegepraxis zur Anwen-
Bereichspflege dung kommen. Diese Pflegesysteme zielen darauf
▶ Zimmerpflege ab, Arbeitsabläufe patientenorientiert, effektiv und
▶ Einzelpflege systematisch zu gestalten.
▶ Primary Nursing

8.1 Pflegesysteme
Einleitung
Jede Arbeit, ob sie nun zur Befriedigung von Bedürf-
Der Pflegeberuf ist ein Dienstleistungsberuf, in dem nissen oder zur Existenzsicherung erfolgt und bei
die Pflegenden gefordert sind, ihre Arbeit nach dem der schnellstmöglich und effektiv ein bestimmtes
Stand pflegewissenschaftlicher, medizinischer und Ziel erreicht werden soll, bedarf einer Planung. Die
anderer bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse aus- berufliche Arbeitsorganisation ist die Bezeichnung
zuüben. Pflegende unterstützen und begleiten Men- für alle Maßnahmen der Gestaltung von betrieblich
schen bei der Bewältigung von Gesundheitsproble- anfallender und arbeitsteilig verrichteter Arbeit. Mit
men mit dem Ziel, das höchstmögliche Maß an Le- einer gut funktionierenden Arbeitsorganisation wird
bensqualität und Selbstständigkeit wieder zu erlan- zum einen die Wirtschaftlichkeit gesteigert und
gen. zum anderen eine Humanisierung der Arbeit ge-
Sollen Pflegeempfänger eine qualitativ hochwer- währleistet. Zur Humanisierung der Arbeit gehören
tige Pflege erhalten, auch unter Berücksichtigung alle Bemühungen, welche die Arbeitswelt und die
der zunehmenden Leistungsverdichtung und dem Arbeitsbedingungen menschenwürdig gestalten.
erhöhtem Kostendruck in allen Einrichtungen des Dabei sollen unzumutbare Belastungen abgebaut
Gesundheitswesens, müssen alle zur Verfügung ste- und einer Unter- oder Überforderung der arbeiten-
henden Ressourcen effektiv eingesetzt werden. Ar- den Menschen entgegengewirkt werden.
beitsorganisationsformen unterstützen die koor-

BAND 1 Pflege und Profession 235


8 Arbeitsorganisation und Pflegesysteme

Auch die Arbeit in der Pflege innerhalb von In- Im Rahmen der funktionellen Pflege betreuen
stitutionen des Gesundheitswesens muss organi- alle Pflegepersonen einer Pflegeeinheit die Gesamt-
siert und strukturiert werden. Dies wirkt sich nicht zahl der dort anwesenden Patienten oder Bewohner.
nur auf die Pflegepersonen als Erbringer der Arbeit Die Gesamtverantwortung für den entsprechenden
aus, sondern auch direkt auf die Empfänger der Pfle- Pflegebereich liegt bei der Stationsleitung. Sie hält
ge. Pflegesysteme sind Organisationsformen, die die Verbindung zu anderen Dienstleistungsträgern
den Arbeitsablauf in Pflegeeinrichtungen bestim- der Institution und koordiniert die auf der eigenen
men. Station anfallenden Aufgaben. Sie verteilt die anste-
henden Aufgaben und Tätigkeiten auf die Mitarbei-
Definition: Ein Pflegesystem beschreibt die ter, die in der jeweiligen Schicht arbeiten. Die Ar-
planmäßige, systematische und methodische beitszuweisung ist abhängig von der Qualifikation
Strukturierung der Arbeitsabläufe in der Pflege. der Mitarbeiter und ihrer hierarchischen Stellung
im Team. Dabei werden einzelne Aufgaben und Tä-
Grundsätzlich werden hierbei zwei Arten von Pfle- tigkeiten von jeweils einer Person für die gesamte
gesystemen unterschieden: Anzahl von Bewohnern, Klienten oder Patienten er-
▶ Funktionelle Pflege/Funktionspflege und ledigt.
▶ Patientenorientierte Pflege/Individualisierte Bei der funktionellen Pflege gibt es demnach
Pflege eine zuständige Pflegeperson, die z. B. für das Rich-
ten der Medikamente, eine weitere für die Ermitt-
8
8.1.1 Funktionelle Pflege/Funktionspflege lung der Vitalzeichen und wieder eine andere für
Die funktionelle Pflege war gegen Ende der siebziger die Durchführung der Behandlungspflege zuständig
Jahre das in Deutschland am häufigsten verbreitete ist. Entscheidend ist hierbei, dass die jeweilige Pfle-
Pflegesystem. Sie basierte auf den Prinzipien des geperson diese Aufgaben und Tätigkeiten für alle
Taylorismus, mit der Vorstellung, dass durch eine pflegebedürftigen Menschen der Pflegeeinheit aus-
differenzierte Arbeitsaufteilung die Qualität der Ar- führt. Sie trägt die Verantwortung für die Durchfüh-
beitsergebnisse verbessert wird. Die einzelnen Ar- rung, der ihr zugeteilten Arbeitsaufgaben. Pflege-
beitsschritte werden von Spezialisten ausgeführt, maßnahmen werden hierbei in die Begriffe der
die dadurch begrenzte und überschaubare Handgrif- Grund- und Behandlungspflege eingeteilt. Die
fe besser beherrschten als komplexe Aufgabenstel- „grundpflegerischen“ Tätigkeiten werden dann
lungen. meist hierarchisch nach „unten“ und Maßnahmen
der „Behandlungspflege“ nach oben delegiert. Die

!
Merke: Mit Taylorismus wird eine wissen- Versorgung des Pflegeempfängers ergibt sich aus
schaftlich begründete Betriebsführung be- der Summe der Einzelleistungen. Nicht die individu-
zeichnet, die von dem amerikanischen Inge- ellen Bedürfnisse der Pflegeempfänger stehen bei
nieur Winslow Taylor (1856-1915) begründet wurde, der Arbeitsorganisation im Vordergrund, sondern
mit der u. a. durch eine systematische Arbeitsauftei- die Stationsroutine gibt den Arbeitsablauf vor. Aus
lung eine Produktivitätssteigerung erzielt werden soll- diesem Grund wird die funktionelle Pflege auch als
te. stark arbeitsteilige bzw. tätigkeitsorientierte Organi-
sationsform bezeichnet (Abb. 8.1).
Das die Arbeit organisierende Prinzip liegt hierbei in
der Verteilung der Arbeit nach einzelnen Funktio- ▌ Vorteile der funktionellen Pflege
nen bzw. nach Einzeltätigkeiten. Dadurch soll in Die Vorteile der Funktionspflege liegen in der Über-
kurzer Zeit viel Leistung erbracht werden. Proble- sichtlichkeit der Arbeitsorganisation und der Ein-
matisch bei dieser Form der Arbeitsorganisation ist sparung von Personalkosten.
die Tatsache, dass die Arbeitserbringer nur Teilse-
quenzen bzw. einzelne Arbeitsschritte, nie jedoch Ausbildung spezieller Fertigkeiten. Durch die Arbeit
das Gesamtprodukt und Endergebnis ihrer Arbeit in Form von ineinander übergehenden, doch geson-
kennen lernen. Daher werden auch in der Industrie, derten Einzeltätigkeiten erlangen bestimmte Per-
z. B. der Automobilherstellung, neue Formen der Ar- sonen in bestimmten Arbeitsbereichen eine große
beitsorganisation erprobt. Fertigkeit. Die Arbeitenden spezialisieren sich auf

236 Pflege und Profession BAND 1


8.1 Pflegesysteme

Abb. 8.1 Funktionelle Pflege

vorgeschriebene Handlungen und sind in diesen Be- keine intensive Pflegebeziehung zwischen Patient
reichen Experten. und Pflegeperson aufgebaut und keine ganzheitliche
Sichtweise auf den Patienten entwickelt werden.
Flexibler Personaleinsatz. Die Zuteilung der Auf-
gaben erfolgt bei der funktionellen Pflege in Abhän- Begrenzte Verantwortungsübernahme. Die einzel-
gigkeit der formalen Qualifikation der einzelnen nen Aufgaben und Tätigkeiten werden streng hierar-
Pflegeperson: Weniger „anspruchsvolle“ Aufgaben chisch bzw. zentralistisch durch die Stationsleitung
werden geringer qualifiziertem Personal übertragen. delegiert. Die berufliche Verantwortung bezieht sich
Nicht selten werden gering qualifizierte Mitarbeiter sehr auf Einzelaufgaben und Tätigkeiten und steht
für einzelne Pflegetätigkeiten angelernt, während weniger in Zusammenhang mit einer umfassenden
ausgebildetes, qualifiziertes Pflegepersonal die An- Patientenversorgung. Informationen, welche Pflege-
ordnungen und Kontrollfunktionen übernimmt. personen benötigen, um ihre Einzeltätigkeiten
durchzuführen, werden gezielt an diese weiterge-
▌ Nachteile der funktionellen Pflege geben. Arztvisiten und Übergaben zwischen den
Die Organisation im Rahmen der funktionellen Pfle- Schichten werden in der Regel nur von der Stations-
ge führt jedoch zu einer Reihe von Nachteilen so- leitung oder den Schichtleitungen durchgeführt, da
wohl für die arbeitenden Pflegepersonen als auch sie die meisten Informationen über die Patienten
für die Empfänger der Pflege. besitzen. Im Rahmen der funktionellen Pflege ge-
nießt die Stationsleitung absolute Autorität. Das Ar-
Fehlende Bezugspersonen. Inhaltlich zusammen- beiten mit einer begrenzten Verantwortlichkeit
hängende Arbeitsaufgaben werden zerlegt. Der Pa- kann bei den Pflegekräften zu einer sinkende Moti-
tient weiß nicht, welche Pflegeperson als Bezugs- vation und mangelnde Berufszufriedenheit führen
person für ihn zur Verfügung steht. Er hat viele An- und eine hohe Personalfluktuation auslösen.
sprechpartner, die sich jeweils nur für ihren Auf-
gabenbereich zuständig fühlen und nur über Teil-
bereiche der Pflege informiert sind. Daher kann

BAND 1 Pflege und Profession 237


8 Arbeitsorganisation und Pflegesysteme

Einseitige Spezialisierungen. Durch die zunehmende wertet werden, da die Bedürfnisse der Pflegeemp-
Spezialisierung verliert die einzelne Pflegeperson fänger der Stationsroutine untergeordnet werden
die Qualifikation für Arbeitsaufgaben, die sie nur und keine vertrauensvolle Pflegebeziehung auf-
noch selten durchführt. Die Kompetenzen der ein- gebaut werden kann. Die Funktionspflege kommt
zelnen Pflegeperson werden nur in der jeweils aufgrund von knappen wirtschaftlichen bzw. per-
durchzuführenden Pflegetätigkeit deutlich. Ihre sonellen Ressourcen heute wieder zunehmend zum
Stärken und Schwächen bei der Übernahme der Ge- Tragen.
samtverantwortung für den Pflegeempfänger kann
nicht ausgebildet werden. 8.1.2 Patientenorientierte Pflege/
Individualisierte Pflege
Abwertung patientennaher Tätigkeiten. Bei der Auf- Mit der Orientierung an Pflegemodellen in den
teilung der Pflege in grund- und behandlungspfle- 1980er-Jahren und der Etablierung des Pflegepro-
gerische Aufgaben besteht die Gefahr, dass patien- zessmodells in der Praxis, wurden die Bedürfnisse
tennahe Aufgaben wie z. B. die Unterstützung bei des Pflegeempfängers in den Mittelpunkt der Be-
der Körperpflege überwiegend Mitarbeitern mit ge- trachtung gerückt. Damit kam es auch zunehmend
ringerer Qualifikation zugewiesen werden und z. B. zu Veränderungen in der Arbeitsorganisation und
organisatorische Aufgaben den in der Stationshie- zur Einführung patientenorientierter Pflegesysteme.
rarchie höher gestellten Pflegepersonen vorbehalten Die patientenorientierte Pflege wird auch als pa-
sind. Damit werden die patientennahen Tätigkeiten tientenzentrierte, ganzheitliche oder individuelle
8
und originären Pflegeaufgaben oftmals als weniger Pflege bezeichnet.
anspruchsvoll angesehen und mit einem geringeren Bei der patientenorientierten Pflege steht die in-
Sozialprestige belegt. dividuelle Betreuung des Pflegeempfängers im Mit-
telpunkt. Im Rahmen des Behandlungs- und Pflege-
Überschneidungen und Koordinationsprobleme. verlaufes übernimmt die Pflegekraft die Verantwor-
Werden Arbeitsgänge nicht gut zwischen den Mit- tung für die Erhebung des Pflegebedarfs, für die
arbeitern abgesprochen, häufen sich Doppelarbeiten Planung, Durchführung und Bewertung der Pflege-
und Arbeitsüberschneidungen, was einer effektiven leistungen, also für den gesamten Pflegeprozess
Arbeitsweise widerspricht. (Abb. 8.3).
Die Pflegeperson orientiert sich an den Bedürf-
Mangelnde Ausbildungsqualität. Auch die Ausbil- nissen des Patienten und übernimmt alle anfallen-
dung in den Gesundheitsfachberufen wird er- den pflegerischen Aufgaben. Die Arbeitsorganisation
schwert. Die Auszubildenden erhalten kaum die wird flexibel gestaltet.
Möglichkeit, Pflege in ganzheitlichen Zusammen- Die Verantwortung für die Pflege des Pflegeemp-
hängen kennen zu lernen. Sie beobachten lediglich fängers liegt bei der Pflegeperson, die dem Patien-
Teilsequenzen und Einzeltätigkeiten der Pflege. ten zugeteilt wurde. Die Stationsleitung übernimmt
Ein Pflegesystem das dauerhaft auf eine Funk- meist übergeordnete Aufgaben. Jede einzelne Pfle-
tionspflege ausgerichtet ist, muss eher negativ be- geperson ist gleichermaßen über ihren Pflege-
bereich informiert. Ansprechpartner für die ver-
schiedenen Berufsgruppen im Gesundheitswesen
Vor- und Nachteile der funktionellen Pflege
ist jeweils die dem Patienten zugeteilte Pflegekraft.
Vorteile Nachteile Sie ist bei Visiten und anderen Besprechungen betei-
ligt und vertritt die Belange der Pflegeempfänger,
• Spezialisierung • geringe Eigenverant-
• Arbeit kann nach wortung für die sie zuständig ist (Abb. 8.5).
Qualifikation zuge- • Doppelarbeit Die einzelnen Pflegepersonen müssen in der
wiesen werden • Abwertung patienten- Lage sein, sämtliche zu verrichtenden Aufgaben
naher Aufgaben
und Tätigkeiten an einem Patienten durchführen
zu können. Dementsprechend muss genügend und
Kosten- Frustration und ausreichend qualifiziertes Pflegepersonal vorhanden
optimierung Fluktuation
sein.

Abb. 8.2 Funktionelle Pflege: Vor- und Nachteile

238 Pflege und Profession BAND 1


8.1 Pflegesysteme

Abb. 8.3 Patientenorientierte Pflege


Abb. 8.5 Pflegeperson mit Patientin und ihrem Angehörigen im
Gespräch

▌ Vorteile der patientenorientierten Pflege


Sie erleben die ganzheitliche Betreuung der Pfle-
Höhere Patientenzufriedenheit. Der pflegebedürfti- geempfänger in ihrer Einbindung in den Stations-
ge Mensch ist darüber informiert, welche Pfle- ablauf. Durch die kontinuierliche Betreuung der
gekraft in der jeweiligen Schicht seine Ansprech- Menschen können sie ihre beruflichen Handlungs-
8
partnerin bzw. sein Ansprechpartner ist und kann kompetenzen umfassend entwickeln.
seine Bedürfnisse äußern und alle gewünschten In-
formationen erfragen. Ziel ist eine ganzheitliche Be- Höhere Berufszufriedenheit. Die bessere Pflegequali-
treuung zu gewährleisten, bei der körperliche, psy- tät durch die Anwendung des Pflegeprozesses, die
chische, geistige, seelische und soziale Bedürfnisse höhere Verantwortung und der abgegrenzte Arbeits-
des Patienten berücksichtigt werden. bereich im Berufsalltag können sich positiv auf die
Ein ganzheitliches Pflegeverständnis berücksich- Berufszufriedenheit und Arbeitsmotivation der Pfle-
tigt sowohl die Bedürfnisse des Pflegeempfängers gekräfte auswirken.
als auch dessen soziales Umfeld. So kann sich zwi-
schen dem Pflegeempfänger und seinen Angehöri- Zu berücksichtigende Aspekte bei der patientenori-
gen eine vertrauensvolle Pflegebeziehung ent- entierten Pflege. Die Stationsleitung tritt bei der
wickeln und die Patientenzufriedenheit gefördert patientenorientierten Pflege bei der Patientenver-
werden (Abb. 8.4). sorgung in den Hintergrund und widmet sich ihren
Führungsaufgaben. Sie ist dann nicht mehr über alle
Vorbildfunktion für die Auszubildenden. Die Aus- Details informiert, sodass die interdisziplinäre Zu-
zubildenden können eine ganzheitliche Sicht von sammenarbeit und dem Informationstransfer eine
Pflege und pflegebedürftigen Menschen erwerben. erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet werden muss.
Der Informationstransfer wird durch die Pflege-
dokumentation, durch die Übergaben und andere
Besprechungen durch die einzelnen Pflegekräfte
sichergestellt.
In den meisten Einrichtungen des Gesundheits-
wesens haben sich patientenorientierte Pflegesyste-
me durchgesetzt. Festgelegte Abläufe können als Ge-
rüst dienen, die einen stationsspezifischen Arbeits-
ablauf gewährleisten, aber gleichzeitig einen indivi-
duellen Ansatz der Patientenversorgung zulassen. In
Zeiten knapper Personalressourcen entstehen
manchmal vorübergehend Arbeitsorganisationen,
die notgedrungen mehr oder weniger zu Mischfor-
Abb. 8.4 Pflegende und Arzt bei der Visite men der beiden Pflegesysteme führen.

BAND 1 Pflege und Profession 239


8 Arbeitsorganisation und Pflegesysteme

pe besprochen und gemeinsam Ziele festgelegt und


8.2 Arbeitsorganisationen bedarfsgerechte Maßnahmen eingeleitet.
Die Gruppenpflege benötigt einige Mindest-
Die patientenorientierte Pflege lässt sich anhand der voraussetzungen an Rahmenbedingungen. Dazu ge-
Rahmenbedingungen in die Gruppen- bzw. Be- hört, dass die baulichen Gegebenheiten der Institu-
reichspflege und Zimmerpflege unterteilen. Da sich tion eine Einteilung in Bereiche bzw. Gruppen mög-
die Arbeitsorganisation bei diesen beiden Organisa- lich macht. Des Weiteren müssen ausreichend Ma-
tionsformen nur wenig unterscheidet, wird zu- terialien und Hilfsmittel zur Verfügung stehen,
nächst die Gruppen- bzw. Bereichspflege näher er- damit die einzelnen Gruppen optimal ausgestattet
läutert und die Besonderheiten der Zimmerpflege sind. Dazu gehört im stationären Bereich u. a. für
anschließend ergänzt. jede Gruppe ein Visiten- und Bettenwagen, eine
ausreichende Zahl Blutdruckmessgeräte, Spritzen-
8.2.1 Gruppenpflege/Bereichspflege tabletts etc. Auch muss es eine ausreichende Anzahl
In der Gruppenpflege wird eine größere Pflegeein- von examinierten Pflegepersonen geben, damit die
heit (Station) je nach Größe und Anzahl des Per- Leitung der Gruppe durch eine kompetente Pflege-
sonals in mehrere einzelne, kleinere Pflegeeinheiten fachkraft gewährleistet ist.
aufgeteilt. Entscheidend hierbei ist, dass die Pfle-
genden jeder Gruppe die Verantwortung für die 8.2.2 Zimmerpflege
pflegerische Versorgung der Pflegempfänger und Im Vergleich zur Gruppen- bzw.- Bereichspflege
8
die dazugehörigen administrativen Aufgaben über- übernimmt nur eine Pflegeperson die Verantwor-
nehmen. Übergeordnet ist die Stationsleitung den tung für eine bestimmte Anzahl von Patienten in
verschiedenen Gruppen vorgesetzt. Sie stellt die je- einem oder mehreren Zimmern der Pflegeeinheit.
weiligen Teams zusammen und teilt sie den Grup- Die Zahl der zu betreuenden Personen ist abhängig
pen zu. Dabei sollte das Ausmaß der anfallenden vom jeweiligen Pflegebedarf und kann zwischen 4 bis
Arbeit in den einzelnen Gruppen annähernd gleich 12 Pflegeempfänger betragen. Die Arbeitsorganisati-
sein. Zusätzlich übernimmt sie Führungs- und Koor- on erfolgt bei der Zimmerpflege patientenorientiert.
dinationsaufgaben und steht den einzelnen Pfle- Auch bei der Zimmerpflege gehören entspre-
gegruppen als Ansprechpartner zur Verfügung. Je chende bauliche Gegebenheiten und eine ausrei-
nach Pflegebedarf und Komplexität der Versor- chende materielle Ausstattung zu den erforderlichen
gungsanforderungen der Patienten können Pfle- Rahmenbedingungen. Wie bei der Gruppenpflege ist
gekräfte mit unterschiedlichen Qualifikationspro- auch hier die berufliche Qualifikation des Personals
filen in den Gruppen zusammenarbeiten. Diese füh- von entscheidender Bedeutung.
ren alle erforderlichen Pflegeleistungen für eine Die Zimmerpflege ist eine patientenorientierte
Gruppe von Personen oder Bewohnern durch. Form der Arbeitsorganisation, bei der eine Gruppe
Dabei erfolgt die Einteilung nach Zimmern, Gruppen von Patienten in einem oder mehreren Zimmern
von Bewohnern oder Stationsbereichen. Durch die eine Pflegeeinheit bilden. Diese wird von einer Pfle-
Gruppenpflege erhält die einzelne Pflegeperson geperson in ihrer Gesamtheit betreut.
einen überschaubaren Arbeitsbereich.
Für die Arbeit im Pflegeteam ist eine examinierte 8.2.3 Einzelpflege
Gruppenleiterin zuständig. Sie arbeitet selbst in In Rahmen der Einzelpflege betreut eine Pflegekraft
einer Gruppe mit, koordiniert die Zusammenarbeit einen Pflegeempfänger und pflegt diesen rund um
der einzelnen Gruppenmitglieder, wirkt unterstüt- die Uhr. Die hohen Kosten haben dazu geführt, dass
zend bei pflegefachlichen Problemstellungen und dieses Pflegesystem nur selten Anwendung findet,
begleitet die einzelnen Teammitglieder. In der Grup- wie z. B. in der ambulanten oder in der stationären
pe können einzelne Zimmer oder Patienten noch- Intensivpflege bei Patienten mit einem außerge-
mals auf einzelne Teammitglieder aufgeteilt werden. wöhnlichen hohen Pflegebedarf. Eine Sonderform
Die Betreuung der jeweiligen Personen wird als der Einzelpflege ist die Sitzwache, die bei Schwerst-
Gruppenaufgabe gesehen. Auftretende Veränderun- kranken und besonders gefährdeten Patienten, ster-
gen bei den Pflegeempfängern werden in der Grup- benden oder desorientierten Patienten zur Anwen-
dung kommt.

240 Pflege und Profession BAND 1


8.2 Arbeitsorganisationen

Die Einzelpflege ist die älteste Form der Arbeits- sentlichen entweder von ihr selbst ausgeführt oder
organisation in der Pflege. Sie geht auf die Zeit vor sie koordiniert und delegiert die Pflegemaßnahmen
dem Entstehen von Krankenhäusern zurück, als nach Einschätzung des Pflegebedarfs an andere Pfle-
kranke Personen zumeist von einem Familienange- gekräfte. Sie prüft das Erreichen der Pflegeziele und
hörigen versorgt wurden. passt bei Bedarf die Pflegeplanung an. Beratung und
Auch in der häuslichen Pflege findet die Einzel- Anleitung der Patienten oder deren Angehörigen
pflege statt. Pflegepersonen, die in mobilen Pflege- werden in der Regel von ihr vorgenommen. Im Rah-
diensten arbeiten, betreuen für definierte pflegeri- men einer kontinuierlichen Rechenschaftspflicht
sche Aufgaben hilfsbedürftige Menschen in ihrer werden alle Planungsschritte und die Ergebnisse
häuslichen Umgebung. des Pflegeprozesses nachvollziehbar dokumentiert
Zu den erforderlichen Rahmenbedingungen für und Entscheidungen begründet.
die Einzelpflege gehört eine entsprechende per- Während bei der Gruppen- bzw. Bereichspflege
sonelle Besetzung durch qualifiziertes Personal und die Verantwortung am Ende der Schicht aufhört, hat
Kostenträger, die die Finanzierung sicherstellen. die Primary nurse die Hauptverantwortung über die
ihr zugeteilten Patienten für die Dauer ihres Aufent-
8.2.4 Primary Nursing haltes über den gesamten Pflege- und Behandlungs-
Primary Nursing ist ein Pflegesystem, das in den prozess hinweg. Die Verantwortung wird nach
1960er Jahren in den USA von der Krankenschwes- Schichtwechsel nicht übertragen.
ter Marie Manthey am University of Minnesota Hos-

8
pital entwickelt wurde. Dieses System verbindet in Vorteile des Primary Nursing
besonderer Weise die Umsetzung einer patienten- Das Primary Nursing Konzept bietet den Vorteil,
orientierten Pflege mit den notwendigen Arbeits- dass der Patient eine Bezugsperson hat, die ihn wäh-
abläufen. rend des gesamten Behandlungs- und Pflegeprozes-
ses betreut und an die er sich mit seinen Bedürf-
Definition: Der Begriff „Primary Nursing“ nissen und Wünschen wenden kann. Die Primary
wird im Deutschen mit Bezugspflege oder Pri- Nurse kooperiert eng mit Angehörigen und Bezugs-
mär-Pflege übersetzt. Auch in Deutschland personen, sodass sich ein intensiver Kontakt ent-
wird in neuerer Zeit das Konzept der Primary Nursing wickelt und eine effektive Pflegebeziehung geför-
in einzelnen Pflegeeinrichtungen umgesetzt. dert wird, die sich auf die Sicherheit und das Wohl-
befinden des betroffenen Menschen vorteilhaft aus-
Primary Nursing, Primäre Pflege oder Bezugspflege wirken kann. Für die im Rahmen der Gesundheits-
sind unterschiedliche Bezeichnungen für die gleiche gesetzgebung in den letzten Jahren entstandene
Form einer patientenorientierten Pflegeorganisati- Wettbewerbssituation unter den Gesundheitsein-
on, die in verschiedenen Regionen unterschiedlich richtungen kann eine erhöhte Patientenzufrieden-
genutzt werden. heit ein maßgeblicher Faktor für die Kundenbindung
Bei diesem Pflegesystem übernimmt die Primary sein.
Nurse eine Gruppe von Pflegeempfängern. Dabei
liegt das Zahlenverhältnis zwischen Pflegeperson Hohe berufliche Handlungskompetenz der Primary
und Patienten je nach Pflegeaufwand im Durch- Nurse. Die Pflegekräfte, die die Funktion als Primary
schnitt zwischen 1:5 bzw. 1:7. Die Arbeitszeit der Nurse ausüben, verfügen insgesamt über eine hohe
Primary Nurse ist auf die Kernprozesse der Versor- berufliche Handlungskompetenz mit hoher fachli-
gung abgestimmt. Sie steuert den gesamten pflege- cher Expertise in der Einschätzung des Pflegebe-
diagnostischen Prozess, in dem sie die Pflegeanam- darfs, in der Planungs- und Steuerungskompetenz
nese erhebt, den Pflegebedarf feststellt, Pflegepro- sowie in der Durchführung komplexer Pflegesitua-
bleme priorisiert und die Pflegeplanung erstellt, tionen. Gleichzeitig müssen diese Pflegekräfte über
die die Pflegeziele, Pflegemaßnahmen und Evaluati- eine ausgeprägte Delegationskompetenz verfügen,
onsaspekte der Pflege nachvollziehbar abbilden. Sie damit der Pflegeempfänger von den Pflegepersonen
ist ebenfalls zuständig für die Koordinierung des anstatt denjenigen Pflegepersonen betreut wird, die
Entlassungsmanagements. Die bei den Patienten seinem Pflegebedarf angemessen sind. Das heißt,
notwendigen Pflegeerfordernisse werden im We- zugeordnete Pflegefachkräfte, Pflegeassistenten

BAND 1 Pflege und Profession 241


8 Arbeitsorganisation und Pflegesysteme

bzw. Pflegehilfskräfte und Auszubildende haben nauso wie die Primary Nurse bei einem Teil der
genau definierte Aufgaben und Tätigkeiten, die von Patienten als Associated Nurse fungieren kann.
der Primary Nurse koordiniert und kontrolliert wer- Die Associated Nurse vertritt die Primary Nurse
den. Diese Anforderungen an die berufliche Hand- bei deren Abwesenheit. Ihre Verantwortung liegt in
lungskompetenz der Primary Nurse macht die kon- der Ausführung des vorgegebenen Pflegeplans und
tinuierliche Teilnahme an gezielten Fort- und Wei- der Dokumentation der Pflegeergebnisse.
terbildungsmaßnahmen erforderlich.
Veränderte Rollenanforderungen der Stationslei-
Orientierung an einem partizipativen Menschenbild. tung. Die Stationsleitung ordnet die Patienten der
Das Konzept des Primary Nursing erfordert ein Um- Primary Nurse zu, überträgt ihr jedoch die Gesamt-
denken bezüglich der Rolle, Einstellung und Wert- verantwortung für den kompletten Pflegeprozess.
orientierung in der pflegerischen Beziehung zwi- Sie führt regelmäßige Reflexionsgespräche mit der
schen Pflegeperson und Patient. Das zugrunde lie- Primary Nurse, in denen diese ihre Rechenschafts-
gende Menschenbild betrachtet die Person als ent- pflicht zur Sicherstellung der Pflegequalität nach-
scheidungsfähiges und mündiges Individuum, wel- kommt. Bei Problemen, die die Primary Nurse
ches an seinem Genesungsprozess aktiv mitwirkt. nicht selbstständig lösen kann, steht sie dieser zur
Demnach entwickeln die Pflegeperson und der pfle- Verfügung. Ihre Aufgabenschwerpunkte liegen im
gebedürftige Mensch eine partnerschaftliche Bezie- allgemeinen Stationsmanagement und in der Mit-
hung, in der beide gleichberechtigt miteinander in- arbeiterführung.
8
teragieren.
Sicherstellung des Informationstransfers. Die Prima-
Definition: Bei einem partizipativen Mensch- ry Nurse ist die Schlüsselfigur in der Kommunikati-
bild (partizipativ = „mitwirkend“ oder „durch on mit allen am Pflege- und Behandlungsprozess
Beteiligung bestimmt“) wird der Pflegeempfän- beteiligten Personen und mit vor- und weiterbe-
ger als selbstbestimmter und selbstverantwortlich treuenden Einrichtungen. Sie vertritt die Belange
handelnder Mensch wahrgenommen, der bei allen der Pflegeempfänger bei Besprechungen im inter-
Entscheidungsprozessen bezüglich seines Pflegepro- disziplinären Team und gewährleistet so den Infor-
zesses einbezogen wird und diesen maßgeblich selbst mationstransfer zur Sicherstellung der Versorgungs-
bestimmt. kontinuität.
Wurde Anfang der 1990er-Jahre Primary Nursing
Gewährleistung einer kontinuierlichen Versorgung. in Deutschland als absoluter Exot in der Pflegeland-
Da die Primär-/Pflegeperson nicht an 7 Tagen der schaft gehandhabt, besteht seit Mitte/Ende der
Woche über 24 Stunden in der Institution anwesend 1990er-Jahre ein verstärktes Interesse an diesem
sein kann, delegiert sie in ihrer Abwesenheit die Pflegesystem. Zuerst erfolgten Pilotprojekte an ein-
pflegerische Versorgung an eine andere Pflegekraft, zelnen Krankenhäusern und Einrichtungen der Re-
die sogenannte Associated Nurse. Ihre Verantwor- habilitation, heute sind auch vermehrt Einrichtun-
tung liegt in der Ausführung des vorgegebenen Pfle- gen der Altenhilfe und ambulante Dienste mit der
geplans und der Dokumentation des Pflegeergebnis- Implementierung befasst. In einigen Häusern ist Pri-
ses. Nur in Notsituationen oder bei akuten Zustands- mary Nursing fest institutionalisiert (Tewes, 2006).
veränderungen des Patienten handelt die Associated In Umfragen konnte bezüglich des Primary Nur-
Nurse abweichend vom Pflegeplan, die sie im An- sing nachgewiesen werden, dass aus Sicht der be-
schluss dann mit der Primary Nurse reflektiert. fragten Pflegebedürftigen und Pflegepersonen eine
Demnach sind die Associated Nurses keine Pflegen- sehr hohe Zustimmung für die Bezugspflege vorhan-
den zweiter Klasse, sondern werden mit ihren ge- den ist, die individuelle Beratung und Betreuung der
samten fachlichen Fähigkeiten gefordert, indem sie zu betreuenden Personen sowie deren Angehörigen
sich z. B. kritisch mit der Pflegeplanung der Primary intensiviert werden konnte und durch Primary Nur-
Nurse auseinandersetzen. sing eine hohe Patientenzufriedenheit erreicht wird.
Je nach Qualifikationsprofil kann die Associated Die Mitarbeiter schätzen hauptsächlich ihr eigenver-
Nurse selbst bei einer limitierten Zahl von Patienten antwortliches Handeln sowie ihren größeren Hand-
die Funktion der Primary Nurse übernehmen, ge- lungsspielraum, was sich positiv auf die Arbeits-

242 Pflege und Profession BAND 1


8.2 Arbeitsorganisationen

zufriedenheit auswirkt (Böhrenkam, 2006; Krüger Die patientenorientierte Pflege lässt sich anhand
u. a., 2006). der Rahmenbedingungen in die Gruppen- bzw. Be-
Beim Primary Nursing übernimmt eine erfahrene reichspflege und Zimmerpflege unterteilen.
Pflegefachperson die Verantwortung für die Betreu- ■ Gruppen- bzw. Bereichspflege: ein Pflegeteam be-
ung einer begrenzten Anzahl von Patienten vom treut eine Gruppe von Patienten unter ganzheitli-
Zeitpunkt ihrer Aufnahme bis zu ihrer Entlassung chen Gesichtspunkten; dem Pflegeteam steht eine
und dies 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche. Gruppenleiterin vor
Der Vorteil dieser Organisationsform liegt in der ■ Zimmerpflege: eine Pflegeperson betreut fünf bis
Sicherstellung einer effizienten Arbeitsweise und sieben Patienten (ein bis mehrere Zimmer), pflege-
einem gezielten Personaleinsatz. Durch eine kon- risch und administrativ
tinuierliche Betreuung eines Menschen von seiner ■ Einzelpflege: eine Pflegeperson betreut einen Pa-
Aufnahme bis zur Entlassung wird die pflegerische tient 24 Std./Tag
Leistung transparent und trägt sowohl entscheidend
zur gesteigerten Zufriedenheit der Patienten und Im Rahmen der verschiedenen Pflegesysteme hat sich
Angehörigen als auch zur Arbeitszufriedenheit der das Konzept des Primary Nursing etabliert. Es ist eine
Pflegepersonen bei. patientenorientierte Form der Arbeitsorganisation,
bei der eine Pflegeperson die Gesamtverantwortung
Fazit: Unter Berücksichtigung der zuneh- für einen Patienten oder eine Patientengruppe von
menden Leistungsverdichtung und dem er- der Aufnahme bis zur Entlassung über 24 Stunden
8
höhtem Kostendruck müssen in allen Ein- und 7 Tage in der Woche trägt. Während der Abwe-
richtungen des Gesundheitswesens die zur Verfügung senheit der Primary Nurse wird sie von der sogenann-
stehenden Ressourcen effektiv eingesetzt werden. Es ten Associated Nurse vertreten. Das Konzept ermög-
gibt unterschiedliche Pflegesysteme, mit deren Hilfe licht die prozessorientierte, individuelle, ganzheitliche
die Arbeitsabläufe in der Pflege geplant und systema- Betreuung eines Menschen im Problemlösungs- und
tisiert werden. Hierbei haben sich funktional aus- Beziehungsprozess der Pflege.
gerichtete Pflegeorganisationsformen und patienten- Damit das Primary Nursing eine erhoffte Quali-
orientierte Pflegesysteme entwickelt. tätsverbesserung in der pflegerischen Versorgung leis-
Das funktionelle Pflegesystem organisiert die an- tet, sind bei der Umsetzung folgende Anforderungen
fallende Arbeit in der Pflege nach einzelnen Tätigkei- zu erfüllen:
ten. Dabei wird stark arbeitsteilig vorgegangen. Die ■ Hohe berufliche Handlungskompetenz der Primary
Arbeitsaufgaben werden in einzelne Fragmente „zer- Nurse
legt“, welche von unterschiedlichen Personen „be- ■ Orientierung an einem partizipativen Menschen-
dient“ werden. Das die Arbeit organisierende Prinzip bild
liegt hierbei in der Verteilung der Arbeit nach einzel- ■ Gewährleistung einer kontinuierlichen Versorgung
nen Funktionen beziehungsweise nach Einzeltätigkei- ■ Veränderte Rollenanforderungen der Stationslei-
ten. tung
Bei der patientenorientierten Pflege orientieren ■ Sicherstellung des Informationstransfers
sich die Arbeitsabläufe an der momentanen Situation
und den aktuellen Bedürfnissen des zu betreuenden Der Vorteil dieser Organisationsform liegt in der Si-
Menschen. Dabei wird der Patient in seiner Gesamt- cherstellung einer effizienten Arbeitsweise und einem
heit von Körper, Geist und Seele wahrgenommen. In gezielten Personaleinsatz. Durch eine kontinuierliche
den meisten Einrichtungen des Gesundheitswesens Betreuung eines Menschen durch eine fachlich kom-
haben sich patientenorientierte Pflegesysteme durch- petente Pflegekraft wird pflegerische Leistung trans-
gesetzt. Als Grundgerüst dienen festgelegte Arbeits- parent gemacht und trägt zur Zufriedenheit der Pa-
abläufe, die aber gleichzeitig eine individuelle Patien- tienten und Angehörigen und zur Arbeitszufriedenheit
tenbetreuung zulassen sollen. In Zeiten knapper Per- der Pflegepersonen bei.
sonalressourcen entstehen manchmal vorübergehend
Arbeitsorganisationen, die notgedrungen mehr oder
weniger zu Mischformen der beiden Pflegesysteme
führen.

BAND 1 Pflege und Profession 243


8 Arbeitsorganisation und Pflegesysteme

Kellnhauser, E.: – Primary nursing – Ein neues Pflegemodell.


Literatur: Die Schwester/Der Pfleger 9 (1994) 747
Kellnhauser, E.: Primary Nursing – Primär-Pflege. Primary
Beske, F.: Lehrbuch für Krankenpflegeberufe, Band 1, Theore- Nursing und die Interaktionstheorie von Hildegard Pe-
tische Grundlagen. Thieme, Stuttgart 1997 plau. Die Schwester/Der Pfleger 8 (1998), 633
Bleses, H. (Hrsg.): Entwicklung und Erprobung eines ganz- Kellnhauser, E.: Primary Nursing und Feminismus. Die
heitlichen Pflegesystems zum Abbau der arbeitsbelasten- Schwester/Der Pfleger 8 (1998) 639
den und qualitätseinschränkenden Auswirkungen der Kleine-Hörstkamp, S.: Die Bedeutung der Implementierung
Funktionspflege. Pflege Zeitschrift 1 (1997) Beilage von Primary Nursing für das Management. Österrei-
Bleses, H. (Hrsg.): Ganzheitliches Pflegesystem soll die Pflege chische Pflegezeitschrift 8 – 9 (2004) 29 ff
verbessern, Bundespflegemodell. Pflege Zeitschrift, 2 Knüppel, J.: Merkmale von Primary Nursing, Eine Orientie-
(1996), 116 – 118 rung und Handlungshilfe zur Umsetzung der pflegeri-
Bleses, H.: Patientenorientierte Bereichspflege weder erfolg- schen Organisationsform Primary Nursing. Deutsches
los noch folgenlos. Die Schwester/Der Pfleger, 5 (1998), Netzwerk Primary Nursing. Hrsg. Deutscher Berufsver-
372 band für Pflegeberufe (DBfK) e. V. 2008
Bökenkamp, A.: Primary Nursing, Patientenurteil: sinnvoll. Krüger, H. et al.: Implementierung Primary Nursing – lohnt
Die Schwester/Der Pfleger, 2 (2006) 96 ff sich der Aufwand? Die Schwester/Der Pfleger 2 (2006)
Breithaupt, A. (Hrsg.): Arbeitszufriedenheit fördert die Ver- 92 ff
weildauer von Pflegenden im Beruf. Feste Arbeitszeiten Lorenz-Krause, R.: Die Einführung neuer Arbeitsmethoden in
und Zimmerpflege. 2. Teil Pflege Zeitschrift 6 (1996) 398 der Krankenpflege. Erfahrungen im Rahmen von Prozes-
Breithaupt, A. (Hrsg.): Ein neues Modell erleichtert den Pfle- sen der Organisationsgestaltung illustriert am Beispiel
8 genden das Leben. Feste Arbeitszeiten und Zimmerpflege. zweier Modellkrankenhäuser. Verlag LIT, Münster 1993
1. Teil, Pflege Zeitschrift 5 (1996) 315 Matthews, A., J. Whelan: Stationsleitung. Handbuch für das
Brockhaus Enzyklopädie: Band 2. F.A. Brockhaus, Mannheim mittlere Management in der Kranken- und Altenpflege.
1987 Verlag Hans Huber, Bern 2002
Bundesgesetzblatt: Teil 1, Nr. 26, ausgegeben zu Bonn am 11. Schäfer W., P. Jacobs: Praxisleitfaden Stationsleitung. Hand-
Juni 1985 buch für die stationäre und ambulante Pflege. Kohlham-
Elkeles, T.: Arbeitsorganisation in der Krankenpflege – Zur mer, Stuttgart 2011
Kritik der Funktionspflege. Verlag Mabuse GmbH, Frank- Schewior-Popp S., F. Sitzmann, L. Ullrich (Hrsg.): Thiemes
furt/Main 1991 Pflege. Das Lehrbuch für Pflegende in der Ausbildung.
Ersser, S., E. Tutton (Hrsg.): Primary Nursing. Grundlagen und 13. Aufl. Thieme, Stuttgart 2017
Anwendung eines patientenorientierten Pflegesystems. Stratmeyer, P.: Primäre Zuständigkeit in der Pflege – oder
Hans Huber, Bern 2000 auch: Mehr Verantwortung und Hierarchie wagen. Doku-
Görres, S., K. Luckey, J. Stappenbeck (Hrsg.): Qualitätszirkel in mentation 1 (2005)
der Alten- und Krankenpflege. Verlag Hans Huber, Bern Tewes, R.: Primary Nursing, „Das Pflegesystem der Zukunft“.
1997 Die Schwester/Der Pfleger 2 (2006) 88 ff
Hall, D.: Ein Positionspapier zur Krankenpflege. World Health Uhde, C.: Die Aufgaben müssen neu verteilt werden. Die Rolle
Organisation 1980 der Stationsleitung im Krankenhaus der Zukunft. Pflege
Zeitschrift 8 (1997) 475

244 Pflege und Profession BAND 1


III Pflege und Beziehung

Übersicht
9 Ethik und Pflege · 248
10 Kommunikation und Pflege · 283

Kommunikation und Ethik sind Themen, die im täglichen Miteinander eine wichtige Rolle
spielen. Auch in der pflegerischen Berufsausübung sind sie von wesentlicher Bedeutung,
insbesondere für den Aufbau und die Gestaltung einer professionellen Beziehung zwischen
pflegebedürftigem Menschen und Pflegeperson.
Sie muss geprägt sein von Wertschätzung und Akzeptanz dem Menschen mit Pflege- und
Hilfebedarf gegenüber sowie der Bereitschaft der Pflegeperson, die Situation des Gegen-
übers in ihrer subjektiven Bedeutung zu erfassen und hiermit verbundene Chancen und
Herausforderungen aus der jeweils individuellen Perspektive zu betrachten. Beides ist Vo-
raussetzung für die Anbahnung und Gestaltung einer vertrauensvollen Pflegebeziehung.
Kommunikative und ethisch-moralische Kompetenzen der Pflegepersonen sind hierzu un-
erlässlich, denn gerade die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen im professio-
nellen Kontext – also sowohl zwischen pflegebedürftigem Menschen und Pflegeperson, als
auch zwischen Pflegepersonen und Mitarbeitern der eigenen oder anderer Berufsgruppen –
präsentiert sich nicht selten als komplexe und störanfällige Angelegenheit.
Kommunikationswissenschaft und Ethik stellen in Form von Theorien, Modellen und Prin-
zipien Hilfen für eine gelungene Gestaltung von Interaktion und Kommunikation sowie für
die systematische Reflexion und Bearbeitung ethischer Konfliktsituationen im Pflegealltag
bereit.
Die folgenden Kapitel beleuchten sowohl die Ethik als auch die Kommunikation im Hinblick
auf ihre Bedeutung und Ausgestaltung in den Pflegeberufen.

BAND 1 Pflege und Beziehung 247


9 Ethik und Pflege
Annette Lauber

Übersicht
Einleitung · 248
9.1 Zentrale Begriffe der Ethik · 249
9.1.1 Werte · 249
9.1.2 Normen · 251
9.1.3 Gewissen · 253
9.2 Ethik · 254
9.2.1 Formen der Ethik · 255
9.2.2 Normative Ethik · 255
9.3 Pflegeethik · 259
9.3.1 Geschichtlicher Überblick · 259
9.3.2 Berufskodizes · 260
9.3.3 Verantwortung und verantwortliches
dingung für eine gelungene und effektive Berufsaus-
Handeln in der Pflege · 265
übung ist.
9.3.4 Ethische Prinzipien für die Pflegepraxis · 267
Da sich die Ethik als Wissenschaft systematisch
9.4 Ethische Entscheidungsfindung · 275
9 9.4.1 Modell für die ethische Reflexion · 275
mit der Untersuchung menschlichen Handelns hin-
sichtlich seiner moralischen Qualität auseinander-
9.4.2 Stufenpläne · 276
setzt, kann sie wertvolle Hilfen bereitstellen, wenn
9.4.3 Ethische Fallbesprechung · 278
es darum geht, für moralische Aspekte pflegerischen
9.4.4 Nimwegener Methode der ethischen
Handelns sensibel zu werden und in der Pflege mo-
Fallbesprechung · 279
ralisch verantwortlich und begründet zu handeln.
Fazit · 281
Veränderungen im beruflichen Selbstverständnis
Literatur · 281
der Pflegeberufe und die verstärkten Professionali-
sierungsbestrebungen fordern von den Pflegeper-
Schlüsselbegriffe
sonen neben dem Pflegewissen auch ethisch-mora-
▶ Werte lische Kompetenzen und folglich die systematische
▶ Normen Auseinandersetzung mit den Werten und Normen,
▶ Gewissen auf denen pflegerisches Handeln basiert.
▶ Pflegeethik Dabei müssen alle Bereiche der Pflege (z. B. Pfle-
▶ Verantwortliches geforschung, Pflegelehre, Pflegepraxis) der ethi-
Handeln schen Reflexion unterzogen werden, wenn die Pfle-
▶ Ethische Prinzipien geberufe ihrem gesellschaftlichen Auftrag verant-
▶ Berufskodizes wortungsvoll nachkommen wollen.
Das folgende Kapitel beschreibt zunächst Grund-
begriffe und theoretische Ansätze der Ethik sowie
Einleitung deren Bedeutung für das pflegerische Handeln.
Es gibt einen Überblick über die Geschichte der
Überall dort, wo Menschen mit anderen Menschen Pflegeethik und stellt ethische Prinzipien sowie ein
in Kontakt kommen, stellt sich die Frage nach gutem Modell zur ethischen Beschlussfassung vor und
und richtigem Handeln. Sie stellt sich auch und ge- kann so eine Hilfe sein, wenn moralische Entschei-
rade in der beruflich ausgeübten Pflege, da hier das dungen in der Pflege getroffen werden müssen.
In-Beziehung-Treten zwischen Pflegepersonen und
pflegebedürftigen Menschen eine wesentliche Be-

248 Pflege und Beziehung BAND 1


9.1 Zentrale Begriffe der Ethik

Die Entwicklung persönlicher Wertvorstellungen ist


9.1 Zentrale Begriffe der Ethik stark abhängig von dem soziokulturellen Umfeld, in
dem ein Mensch aufwächst. Eltern, Freunde und an-
Wie jede Wissenschaft hat auch die Ethik ihre spezi- dere wichtige Bezugspersonen sind ausschlag-
fischen Vokabeln, d. h. Begriffe, die immer wieder gebend dafür, für welche Werte sich ein Mensch
verwendet werden, um Situationen zu beschreiben entscheidet und welche Werte er für sich als wichtig
und zu analysieren. Zentrale Begriffe, die innerhalb erachtet.
der Ethik eine wichtige Rolle spielen, sollen im Fol- Kulturelle Werte ergeben sich aus der Akzeptanz
genden zunächst erläutert werden, da ihr Verständ- und/oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten
nis die Voraussetzung für die nähere Auseinander- Kultur. Die amerikanische Pflegewissenschaftlerin
setzung mit der Ethik ist. Madeleine Leininger hat hierzu zahlreiche Unter-
suchungen durchgeführt und festgestellt, dass z. B.
9.1.1 Werte die Wertvorstellungen bezüglich der Fürsorge zwi-
Definition: Werte sind bewusste oder unbe- schen den Kulturen Gemeinsamkeiten, aber auch
wusste Orientierungsstandards und Leitvorstel- Unterschiede aufweisen (s. a. Kap. 4.3.6). Auch die
lungen, die menschliches Handeln oder auch Bedeutung familiärer Bindungen kann zwischen
Entscheidungen leiten. den einzelnen Kulturen stark variieren.
Religiöse Werte sind durch die Zugehörigkeit zu
Somit sind Werte ein wesentlicher Bezugspunkt für einer bestimmten Religionsgemeinschaft oder Glau-
menschliches Handeln. Entscheidungen für oder bensrichtung bestimmt. In vielen Religionen gibt es
gegen eine Handlung werden – bewusst oder unbe- z. B. Vorschriften darüber, welche Art von Nahrungs-
wusst – beeinflusst von Dingen, die einem Men- mitteln zu welcher Zeit gegessen werden dürfen 9
schen wichtig bzw. wertvoll erscheinen. oder wie die Beziehung zwischen Ehepartnern ge-
Diese Aussage gilt für alle Menschen und in na- staltet sein sollte.
hezu allen Situationen – unabhängig davon, ob es Daneben können Werte entweder als nicht-
um die Entscheidung für oder gegen den Kauf moralisch oder moralisch bezeichnet werden. Wer-
eines bestimmten Autos, die Auswahl der täglichen te, die beim Kauf eines Autos oder der Wahl der
Kleidung oder die Entscheidung für oder gegen ak- Kleidung beteiligt sind, werden auch nichtmorali-
tive Sterbehilfe geht. sche Werte genannt, da sie auf Vorlieben, persönli-
Für jeden Menschen ergeben sich aus seiner per- chen Ansichten oder Geschmacksfragen basieren.
sönlichen Lebensgeschichte, seiner Erziehung und Moralische Werte sind solche, die menschlichem
seiner Zugehörigkeit zu einer kulturellen und reli- Handeln, Verhalten oder auch Charakterzügen zuge-
giösen Gruppe persönliche Werte, d. h. Aspekte, die schrieben werden. Bei der Entscheidung für oder
ihm als wesentlich für ein gutes und richtiges Leben gegen die Durchführung aktiver Sterbehilfe ist bei-
erscheinen. Im Folgenden zeigt eine Liste mögliche spielsweise solch ein grundlegender moralischer
Werte, die im menschlichen Leben eine Rolle spielen Wert betroffen: das menschliche Leben. In der
können: Ethik geht es zu einem wesentlichen Teil um die
Diskussion dieser moralischen Werte und Normen.
Werte
Freiheit Gehorsam ▌ Persönliches Wertesystem
Solidarität Gleichheit Alle Werte, die ein Mensch für sich und sein Han-
Aufrichtigkeit Menschenwürde deln als wichtig erkennt, werden in einem persönli-
Frieden Freundschaft chen Wertesystem geordnet.
Gemeinschaft Besonnenheit
Barmherzigkeit Klugheit Definition: Das Wertesystem besteht aus mo-
Fleiß Ordnungsliebe ralischen und nichtmoralischen Werten, die
Minderheitenschutz Leben hierarchisch angeordnet sind, d. h. die Werte
Gerechtigkeit Mitmenschlichkeit werden entsprechend ihrer Wichtigkeit und Bedeu-
Bescheidenheit Zuverlässigkeit tung für den jeweiligen Menschen in einer Rangfolge
angeordnet.

BAND 1 Pflege und Beziehung 249


9 Ethik und Pflege

Deshalb wird das Wertesystem auch als Werteskala im Dialog zu einer für alle Beteiligten tragbaren Lö-
bezeichnet. sung zu kommen. Die Ethik unterstützt diesen Pro-
Die Wertesysteme der einzelnen Menschen kön- zess des sorgfältigen Abwägens, indem sie es u. a.
nen sich stark voneinander unterscheiden: Werte, ermöglicht, die an einem Wertekonflikt beteiligten
die ein Mensch für sich selbst als wichtig erkannt Werte systematisch zu diskutieren.
hat, müssen nicht zwangsläufig auch für andere Des Weiteren motivieren Werte menschliches
Menschen von gleichrangiger Bedeutung sein. We- Handeln: Um die als wichtig erkannten persönlichen
sentlich ist auch, dass das Wertesystem bzw. die Werte zu verwirklichen, handeln Menschen ent-
Werteskala eines Menschen nicht unbedingt über sprechend.
den gesamten Lebensprozess hinweg gleich bleiben Wird beispielsweise der Wert „Gesundsein“ als
muss: Da alle Menschen im Verlauf ihres Lebens wichtig für das persönliche Leben erkannt, wird
kontinuierlich neue Erfahrungen machen, neuen Le- der betreffende Mensch motiviert sein, gesundheits-
benssituationen ausgesetzt sind und neues Wissen fördernde Maßnahmen zu ergreifen und sich even-
erlangen, kann sich analog dazu auch die jeweilige tuell sportlich betätigen, das Rauchen aufgeben oder
Werteskala verändern. auch bestimmte Ernährungsvorschriften einhalten.
So spielt z. B. der Wert „Gesundsein“ für jüngere
Menschen oftmals eine weniger entscheidende Rolle ▌ Werthaltung
als für ältere. Dies kann sich ändern, wenn beispiels- Dieser motivierende Aspekt von Werten wird auch
weise eine Krankheit auftritt: Durch die Erfahrun- mit dem Begriff „Werthaltung“ beschrieben. Hierun-
gen, die während der Erkrankung gemacht werden, ter wird eine anhaltende Neigung verstanden, sich
erhält der Wert „Gesundsein“ für den betroffenen so zu verhalten, dass das eigene Wertesystem im
9 Menschen einen höheren Stellenwert als vor der Er- Handeln zum Ausdruck kommt, also Gutes (Werte)
krankung. zu tun und zu fördern bzw. Böses (Nichtwerte) zu
Die Auseinandersetzung mit eigenen Wertvor- unterlassen.
stellungen ist entscheidend für die bewusste Gestal- Wenn Menschen beispielsweise den Wert „Auf-
tung des eigenen Lebens und die Fähigkeit, eigene richtigkeit“ für sich als wichtig erkannt haben, sind
Entscheidungen zu begründen. Dabei hat jeder sie eher geneigt, sich im Fall eines Konflikts für das
Mensch grundsätzlich die Freiheit, aus verschiede- Aussprechen der Wahrheit zu entscheiden.
nen Alternativen die für ihn wichtigen Werte zu In diesem Fall kann von einer ethisch „guten“
wählen. Gesinnung gesprochen werden.
Wichtig für die Ausbildung der Werthaltung sind

!
Merke: Werte sind bewusste und unbe- zum einen die Erfahrungen, die Menschen mit
wusste Orientierungsstandards für mensch- ihrem Handeln in vorherigen Situationen gemacht
liches Handeln. Moralische und nichtmorali- haben, zum anderen auch andere Menschen, z. B.
sche Werte werden in einem persönlichen Wertesys- Eltern, Freunde etc., die als Vorbilder fungieren
tem hierarchisiert, das von Mensch zu Mensch Unter- und eine bestimmte Werthaltung vorleben. Die
schiede aufweist. Werthaltung wird dabei zu einer Art unbewussten
Wissens bzw. zu einer inneren Haltung des Men-
▌ Wertekonflikte schen. Das hat den Vorteil, dass nicht in jeder Situa-
Diese Freiheit bei der Gestaltung eines Wertesys- tion erneut über die beteiligten Werte nachgedacht
tems bringt jedoch auch die Problematik eines mög- werden muss und daher Entscheidungen für oder
lichen Wertekonflikts mit sich: Selbst wenn ein gegen Handlungen schneller getroffen werden kön-
Mensch Klarheit über sein persönliches Wertesys- nen.
tem hat und sich in seinen Handlungen ausdrücklich Mit anderen Worten: Je öfter ein Mensch in Si-
auf bestimmte Werte beruft, muss er damit rechnen, tuationen gerät, in denen er sich für oder gegen
dass andere Menschen in derselben Situation anders Werte entscheiden muss, desto mehr verfestigt
handeln würden, weil sie sich auf andere, ihnen sich die eigene Wertvorstellung. Sie wird verinner-
wichtige Werte berufen. licht und schließlich zu einer überdauernden Wert-
In einer solchen Situation hilft die Klärung und haltung, die sich äußert in der Neigung, diesen Wert
das sorgfältige Abwägen der beteiligten Werte, um bei erneuter Prüfung im Handeln zu praktizieren.

250 Pflege und Beziehung BAND 1


9.1 Zentrale Begriffe der Ethik

Definition: Unter Normen werden verbindli-


soziale che Leitlinien oder Regeln verstanden, die das
Religion Kultur Gruppe moralische Handeln von einzelnen Menschen
oder Gruppen leiten, ohne dass diese in jeder Situati-
individuelle Gesell- on erneut über grundlegende Werte nachdenken
Vorstellungen schaft müssen.

Normen sollen menschliches Handeln koordinieren


Werte
und auf diese Weise eine soziale Ordnung ermögli-
chen. Das geordnete Leben einer Gesellschaft wäre
nicht-
moralische moralische nur schwer möglich, wenn sich die Mitglieder der
Werte Werte Gemeinschaft nicht an vereinbarte Normen wie „Du
sollst nicht töten, stehlen, lügen etc.“ halten würden.
jeder Mensch entwickelt dazu ein persönliches
Das Nichtbefolgen von Normen innerhalb einer Ge-
Wertesystem, dieses kann sich zu einer Werthal-
tung verfestigen sellschaft hat in der Regel nachteilige Konsequen-
zen, indem z. B. ein Tadel oder eine juristische Be-
strafung ausgesprochen wird.
Abb. 9.1 Werte und Werthaltung

▌ Allgemeine und konkrete Normen


Im Fall eines oben erwähnten Wertekonflikts ist Normen können unterschieden werden in allgemei-
es aber wichtig, sich die eigene Haltung bewusst zu ne und konkrete Normen. Allgemeine Normen wer-
machen, damit sie entweder für andere Menschen den auch als handlungsleitende Prinzipien bezeich- 9
nachvollziehbar wird oder aber evtl. auch korrigiert net. Sie werden unabhängig von einer konkreten
werden kann. Situation formuliert und gelten für alle Menschen
gleichermaßen.

!
Merke: Wenn Wertvorstellungen sich ver- Aus diesem Grund machen sie auch keine genau-
festigen und verinnerlicht werden, spricht en Angaben dazu, wie in einer konkreten Situation
man von einer Werthaltung (Abb. 9.1). gehandelt werden sollte. Sie fungieren vielmehr als
eine Art Kompass, der die Richtung des Handelns
9.1.2 Normen vorgibt, damit es gut und richtig ist. Beispiele für
Die Ethik macht Aussagen zu dem, was „gut“ und Prinzipien sind: Gerechtigkeit, Autonomie, Aufrich-
„richtig“ ist, d. h. sie beschäftigt sich u. a. mit Normen tigkeit etc. Die Ethik untersucht u. a., ob diese Prin-
für menschliches Handeln. Der Begriff „Norm“ zipien für menschliches Handeln gerechtfertigt sind
stammt aus der lateinischen Sprache und bedeutet bzw. begründet werden können.
übersetzt so viel wie „Richtschnur“, „Maßstab“ oder Einige dieser Prinzipien, die für das pflegerische
„Regel“. In der Industrie beschreibt dieser Begriff fest Handeln richtungsgebend sind, werden unter 9.3.4
vereinbarte Maße für bestimmte Arbeitsmaterialien näher beschrieben.
oder standardisierte Verfahren für Arbeitsabläufe. Konkrete Normen beziehen sich demgegenüber
Normen haben einen verbindlichen Charakter. auf Handlungen in Abhängigkeit von bestimmten
Der Vorteil beim Umgang mit ihnen liegt darin, Situationen, d. h. sie wenden allgemeine Normen
dass alle Menschen, die damit arbeiten, genau wis- auf eine konkrete Situation an. Bei vielen konkreten
sen, was sich hinter einer bestimmten Norm ver- Normen ist die Einhaltung durch gesetzliche Bestim-
birgt. Sie erleichtern das Alltagsleben, z. B. kann mungen geregelt.
sich jeder Mensch darauf verlassen, dass ein nach Menschliches Leben wird in nahezu jedem Land
DIN genormter A4-Briefbogen auch in einen DIN- dieser Welt als Wert anerkannt. Deshalb gibt es Nor-
A4-Briefumschlag passt. men, die dazu beitragen, menschliches Leben zu
Normen gibt es darüber hinaus aber auch im schützen. Die allgemeine Norm, die sich aus dem
zwischenmenschlichen Bereich. Sie erfüllen die Wert „menschlichen Lebens“ ableitet, ist die Auffor-
wichtige Funktion, die ihnen zugrunde liegenden derung „Du sollst menschliches Leben achten“. Die
Werte zu schützen. konkreten Normen, die sich auf den Wert „mensch-

BAND 1 Pflege und Beziehung 251


9 Ethik und Pflege

liches Leben“ beziehen, werden jedoch von Land zu


Land unterschiedlich formuliert. In vielen Ländern Grundgesetz
wird z. B. die Beteiligung an der aktiven Sterbehilfe Art. 4 [Glaubens- und Bekenntnisfreiheit] (1) Die Frei-
strafrechtlich verfolgt. Die allgemeine Norm „Du heit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des
sollst das Leben achten“ wird hier in der konkreten religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind
Situation zu „Es darf keine aktive Sterbehilfe geleis- unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung
tet werden“, also zu einer konkreten Norm, die sich wird gewährleistet. (3) Niemand darf gegen sein Gewis-
auf eine bestimmte Situation, in diesem Fall auf die sen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen wer-
Beteiligung an und die Durchführung von aktiver den. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.
Sterbehilfe bezieht.
Das Beispiel zeigt, dass selbst wenn über den Art. 38 [Wahl] (1) Die Abgeordneten des Deutschen
Wert und das Prinzip als solches innerhalb einer Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, frei-
Gruppe von Menschen Einigkeit besteht, die Mei- er, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Ver-
nung darüber, mit welchen konkreten Normen die- treter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen
ser Wert umgesetzt werden soll, sehr unterschied- nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
lich sein kann.

Definition: Das geltende Verständnis und das

!
Merke: Allgemeine und konkrete Normen
Befolgen bzw. die tatsächliche Umsetzung von
schützen die ihnen zugrunde liegenden Wer-
Werten und Normen durch den Einzelnen oder
te. Darüber hinaus fungieren sie als ver-
durch eine Gruppe von Menschen in praktisches Han-
bindliche Regeln im menschlichen Zusammenleben
9 deln wird als Moral bezeichnet.
und ermöglichen so eine soziale Ordnung.

▌ Moralprinzip Die Bezeichnung „Moral“ leitet sich ab von dem


Prinzipien und konkreten Normen übergeordnet ist lateinischen Begriff „mores“, was mit „Sitte“ oder
das sogenannte Moralprinzip. Es kann als Grund- „Charakter“ übersetzt werden kann. Entsprechend
norm bezeichnet werden. Das Moralprinzip schließt werden für die Beschreibung bzw. Bewertung kon-
die Tatsache ein, dass menschliches Handeln nicht kreten menschlichen Handelns die Adjektive „sitt-
im luftleeren Raum geschieht, sondern immer auch lich“ bzw. „moralisch“ verwendet (Abb. 9.2).
Auswirkungen auf andere Menschen hat. Deshalb Die Moral beispielsweise innerhalb einer Gesell-
verlangt es vom Einzelnen, den Standpunkt des un- schaft zeigt sich nicht nur in persönlichen Verhal-
parteiischen Beobachters einzunehmen und nicht tensweisen und Überzeugungen, sondern auch in
nur so zu handeln, wie es für einen selbst, sondern der sozialen, politischen und kulturellen Ordnung.
so, wie es für alle Menschen zuträglich wäre. For-
mulierungen des Moralprinzips sind z. B. das Gebot
der Nächstenliebe in der christlichen Religion „Liebe
Normen
Deinen Nächsten wie Dich selbst“ oder der Katego-
rische Imperativ des deutschen Philosophen Imma-
nuel Kant: „Handele nur nach derjenigen Maxime, allgemeine Normen konkrete Normen
= handlungsleitende = Umsetzung des
durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein Prinzipien Prinzips in einer
allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1983, zit. n. Stein- gegebenen Situation
kamp/Gordijn 2005, S. 63). Den Zusammenhang
zwischen Werten, Normen und Prinzipien zeigt fol-
Moral
gender Auszug aus dem Grundgesetz für die Bun-
desrepublik Deutschland.
Abb. 9.2 Arten von Normen

252 Pflege und Beziehung BAND 1


9.1 Zentrale Begriffe der Ethik

!
Merke: Moral ist die gelebte sittliche Über- weise die Verweigerung des Kriegsdienstes aus Ge-
zeugung bzw. die praktizierte Umsetzung wissensgründen.
von Werten und Normen durch einzelne Eine Problematik bei der Auseinandersetzung
Menschen sowie Institutionen oder eine Gesellschaft. mit dem Gewissen besteht darin, dass sich das Ge-
wissen nicht bei jedem Menschen in der gleichen
9.1.3 Gewissen Art und Weise und mit der gleichen Intensität mel-
Die Fähigkeit, die Menschen dabei unterstützt, det. Dies hängt damit zusammen, dass das Gefühl
Gutes von Bösem bzw. Werte von Nichtwerten zu für „gut“ und „richtig“ wie auch die Entscheidung
unterscheiden, wird Gewissen genannt. für oder gegen einzelne Werte stark vom soziokul-
turellen Umfeld eines Menschen beeinflusst ist.
Definition: Das Gewissen fungiert als persön- Dabei besteht einerseits die Gefahr, dass sich bei
liche moralische Instanz, die Menschen dazu einem Menschen die Überzeugung herausbildet, dass
auffordert, sich in konkreten Situationen für nur das, was sein Gewissen als „richtig“ empfindet,
gutes und richtiges Handeln zu entscheiden. auch richtig ist und andere Meinungen für ihn keine
Gültigkeit besitzen. Andererseits können natürlich
Das setzt voraus, dass Menschen eine Vorstellung auch die im soziokulturellen Umfeld eines Menschen
davon oder ein Gefühl dafür haben, was als „gut“ vermittelten Vorstellungen über richtiges und fal-
und „richtig“ gilt. Die Vorstellung davon, was als sches Handeln selbst problematisch sein: Wenn wich-
„gut“ und „richtig“ gilt, bildet sich im Laufe der Ent- tige Bezugspersonen es mit der Ehrlichkeit nicht so
wicklung eines Menschen in der Auseinanderset- genau nehmen, besteht die Gefahr, dass sich diesbe-
zung mit bzw. der Kenntnis von geltenden Werten züglich das Gewissen bei von ihnen abhängigen Per-
und Normen heraus. Wichtig ist hierbei – ähnlich sonen, z. B. Kindern, nur mangelhaft ausbildet. 9
wie bei der Entwicklung persönlicher Werte – der Darüber hinaus besteht für Menschen auch die
Austausch mit anderen Menschen. Möglichkeit, sich gegen das eigene Gewissen zu ent-
Eltern, Lehrer, Freunde und andere wichtige Be- scheiden: Das Gewissen wird so bewusst übergan-
zugspersonen leben ihre Vorstellung von „gut“ und gen und kann sogar regelrecht abstumpfen, so dass
„richtig“ und geben diese an Kinder und andere es seine richtungsweisende Funktion auf das Gute
Menschen weiter. verliert. Der Ethik kommt hierbei die Funktion zu,
Jeder kennt das ungute Gefühl bzw. „schlechte dieses „Verhalten“ kritisch zu beleuchten und zu
Gewissen“, das sich bei einer „verbotenen“ Hand- hinterfragen.
lung einstellt – unabhängig davon, ob andere Men- Die Berufung auf das Gewissen mit der Aussage
schen hiervon Kenntnis erlangen oder nicht. Dem- „Das gebietet mir mein Gewissen“ reicht für die Be-
gegenüber vermitteln Handlungen, die im Einklang gründung einer Handlung in problematischen Situa-
mit dem Gewissen vollzogen werden, ein gutes Ge- tionen oft nicht aus, da sie für andere Menschen
fühl. In diesem Fall fungiert das „gute Gewissen“ manchmal inhaltlich nicht nachvollziehbar ist. In
sprichwörtlich als „sanftes Ruhekissen“. solchen Fällen ist es wichtig, klarzustellen, auf wel-
chen Werten und Normen eine Handlung oder Ent-

!
Merke: Das Gewissen ist eine ganz persön- scheidung basiert und aus welchen Gründen jemand
liche Angelegenheit, eine Art „innere Stim- der Meinung ist, dass sie so und nicht anders aus-
me“, die den einzelnen Menschen in seinem geführt werden sollte.
Handeln verpflichtet, das sittlich Gute zu tun.
Zusammenfassung:
Gewissensinhalte können nicht vorgeschrieben und Gewissen
niemand darf gegen sein Gewissen zu Handlungen ■ Das Gewissen ist die Fähigkeit eines Menschen,
gezwungen werden. Deshalb ist die Gewissensfrei- Gutes und Böses zu unterscheiden,
heit z. B. auch im Grundgesetz der Bundesrepublik ■ für die Entwicklung des Gewissens ist der Aus-
Deutschland verankert (siehe oben). Die Ablehnung tausch mit anderen Menschen notwendig,
bestimmter Handlungen unter Berufung auf das Ge- ■ Gewissensinhalte sind individuell, im Grundgesetz
wissen hat vor dem Gesetz Gültigkeit, so beispiels- ist „Gewissensfreiheit“ verankert,

BAND 1 Pflege und Beziehung 253


9 Ethik und Pflege

■ die Ethik hilft, Gewissensentscheidungen zu be-


gründen. 9.2 Ethik
Hierzu kann die Ethik als Wissenschaft wichtige Hil- Die vorangegangenen Ausführungen machen deut-
fen geben: Sie trägt dazu bei, die hinter dem Gefühl lich, dass Werte, Normen und das Gewissen als mo-
stehenden Werte und Normen zu analysieren, ralische Instanz im Leben jedes Menschen eine
bringt sie in einen Zusammenhang und hilft so, große Rolle spielen. Sie gehören zum Menschsein
ethisch begründbare Handlungsmöglichkeiten und dazu und sind für das geordnete Zusammenleben
Entscheidungen zu entwerfen. Damit wird das Ge- von entscheidender Bedeutung. So gesehen beschäf-
wissen nicht überflüssig, aber die Überzeugungen, tigt sich jeder Mensch mit Ethik, wenn er sich Ge-
Gefühle, Werte und Normen, auf denen es beruht, danken macht über gutes und richtiges Handeln
werden offen dargelegt, für andere Menschen nach- oder nach Begründungen für moralische Entschei-
vollziehbar und damit einer Diskussion und einem dungen sucht. Die „Besonderheit“ der Ethik liegt da-
echten Austausch zugänglich. rin, dass sie sich systematisch und methodisch mit
Einen Überblick über die beschriebenen Begriffe dem moralisch richtigen, an den Kategorien „gut“
zeigt die Tab. 9.1. und „böse“ orientierten Handeln des Menschen aus-
einandersetzt.

!
Merke: Das Gewissen unterstützt in kon- Der Begriff „Ethik“ ist abgeleitet von dem grie-
kreten Situationen das Abwägen zwischen chischen Wort „ethos“, das „gewohnter Ort des Le-
Werten und Nichtwerten und die Entschei- bens, Sitte oder Charakter“ bedeutet. Die Ethik ist
dung für gutes und richtiges Handeln. ein Teilbereich der Philosophie und geht auf den
9 griechischen Philosophen Aristoteles (384 – 322
v. Chr.) zurück. Sie untersucht das sittliche Wollen
Tab. 9.1 Wichtige Begriffe der Ethik und Handeln von Menschen in verschiedenen Le-
benssituationen und versucht, allgemeingültige Aus-
Begriff Definition
sagen über gutes und gerechtes menschliches Han-
Wert Bewusste oder unbewusste Orientierungsstandards deln zu machen.
bzw. Leitvorstellungen für menschliches Handeln Einige wichtige Funktionen der Ethik sind unter
(Beispiel: Freundschaft, Luxus, Pünktlichkeit, Ord- 9.1 bereits erwähnt worden. Allgemein können die
nungsliebe etc.)
Aufgaben der Ethik wie folgt beschrieben werden:
Wert- Neigung, sich aufgrund von Werten so zu verhalten, ■ Ethik beschäftigt sich mit der systematischen Be-
haltung dass diese Werte im Handeln zum Ausdruck kom- trachtung von Werten und Normen,
men ■ Ethik untersucht das menschliche Handeln hin-
Allgemeine Verbindliche Leitlinien oder Regeln, die das mora- sichtlich seiner moralischen Qualität,
Normen lische Handeln von einzelnen oder Gruppen von ■ Ethik beschreibt die in einer Gesellschaft gelten-
(Prinzipien) Menschen leiten. Prinzipien schützen die ihnen zu-
den Werte und Normen und untersucht, ob diese
grunde liegenden Werte (Beispiel: Gerechtigkeit,
Autonomie etc.) zu rechtfertigen sind,
■ Ethik versucht, allgemein gültige Grundsätze zu
Konkrete Konkretisierung allgemeiner Normen in einer be-
formulieren, und löst damit das Handeln des ein-
Normen stimmten Situation (Beispiel: Es darf keine aktive
Sterbehilfe geleistet werden) zelnen Menschen aus der persönlichen Beliebig-
keit.
Moral- Grundnorm, die die Notwendigkeit moralischen
prinzip Handelns begründet (Beispiel: Die „Goldene Regel“:
Handele nur so, wie du selbst behandelt werden Aber: Ethik ist keine exakte Wissenschaft, d. h. es
möchtest) dürfen von ihr keine „fertigen“, konkreten Hand-
lungsanweisungen für jede erdenkliche Situation er-
Moral Gelebte, praktizierte moralische Überzeugung von
einzelnen oder Gruppen von Menschen wartet werden. Sie macht eher allgemeine Aussagen
dazu, welche Richtung menschliches Handeln ein-
Gewissen Persönliche moralische Instanz, inneres Gefühl für schlagen sollte, damit es gut und richtig ist. Die
„richtig“ und „falsch“, unterstützt bei der Unter-
scheidung zwischen Werten und Nichtwerten
Ethik hat also eine mehr begleitende und unterstüt-

254 Pflege und Beziehung BAND 1


9.2 Ethik

zende Funktion vor allem da, wo Menschen nach Begriffen ethische Diskussionen geführt und welche
einer Orientierung für ihr Handeln suchen. Methoden dabei angewandt werden sollten. Der
Sie bietet einen neutralen Rahmen, in dem z. B. Metaethik geht es folglich um die Auseinanderset-
Probleme, die menschliches Wohlbefinden betref- zung über Ethik als Wissenschaft schlechthin.
fen, diskutiert werden können. Für viele dieser pro-

!
blematischen Situationen gibt es nicht die eine rich- Merke: Innerhalb der Ethik werden in
tige Lösung: Hier stellt die Ethik Theorien und Prin- Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Erkennt-
zipien bereit, die im Rahmen eines Gesprächs mit nisinteresse drei Formen unterschieden:
allen beteiligten Personen zu einer Lösung beitragen deskriptive Ethik, normative Ethik und Metaethik.
können (s. a. 9.4).
9.2.2 Normative Ethik

!
Merke: Die Wissenschaft, die sich mit der Definition: Normative Ethik prüft Normen für
systematischen und methodischen Unter- menschliches Handeln hinsichtlich ihrer mora-
suchung und Reflexion von Werten und Nor- lischen Qualität und versucht, diese Normen zu
men beschäftigt, wird Ethik genannt. begründen.

9.2.1 Formen der Ethik Die Aufgabe der normativen Ethik besteht darin, die
Je nach Erkenntnisinteresse, also dem Ziel der Un- moralischen Werte und Normen in einen systema-
tersuchung, lassen sich im Bereich der Ethik drei tischen Zusammenhang zu bringen und durch ein
Formen unterscheiden: deskriptive Ethik, normative oder mehrere Moralprinzipien zu begründen. Der
Ethik und Metaethik. normativen Ethik geht es darum, das vorherrschen-
Die deskriptive Ethik (beschreibende Ethik) stellt de Verständnis von Moral, d. h. von gutem und rich- 9
die in einer Gesellschaft, Institution, Berufsgruppe tigen Handeln, nicht nur – wie in der deskriptiven
oder Kultur geltenden ethischen Grundsätze, Werte Ethik – zu beschreiben, sondern darüber hinaus zu
und Normen dar. Dabei geht es der deskriptiven bewerten. Ergebnis normativer Ethik können auch
Ethik nicht um eine Wertung oder Beurteilung der ethische Prinzipien und Modelle zur Beurteilung
beschriebenen Handlungen. Sie stellt lediglich fest, menschlichen Verhaltens sein.
welche Werte und Normen innerhalb einer Gruppe Im Rahmen der normativen Ethik lassen sich ver-
Geltung haben, versucht diese zu erklären und kann schiedene Denkrichtungen bzw. Arten der mora-
so zu einer Theorie über menschliches Verhalten in lischen Begründung menschlichen Handelns unter-
verschiedenen Situationen führen. scheiden. Eine der bekanntesten Einteilungen der
Die normative Ethik geht hier einen Schritt wei- normativen Ethiktheorien ist die in folgenorientierte
ter: Sie untersucht die in einer Gesellschaft gelten- und nicht-folgenorientierte Theorien.
den ethischen Normen und Werte und bewertet sie
hinsichtlich ihrer moralischen Qualität. Dabei wer- ▌ Folgenorientierte Theorien
den ethische Kriterien bzw. Prinzipien und Modelle Definition: Die folgenorientierten Theorien
zur Bewertung menschlichen Handelns entworfen. betrachten die Folgen bzw. Konsequenzen, die
Aufgabe der normativen Ethik ist es darüber hi- eine menschliche Handlung nach sich zieht,
naus, Begründungen für gutes und richtiges Handeln und bewerten sie nach einem höchsten Ziel.
bereitzustellen. Die normative Ethik kann im Rah-
men ethischer Konflikte und Probleme Orientie- Aus diesem Grund werden sie auch als konsequen-
rungshilfe für Entscheidungen geben. Für das tägli- tialistische Theorien oder teleologische Theorien be-
che Leben hat diese Form der Ethik die größte Rele- zeichnet. Der Begriff „teleologisch“ ist abgeleitet von
vanz. Deshalb werden verschiedene Denkrichtungen griechischen Wort „télos“, was „Ziel“ oder „Zweck“
der normativen Ethik unten näher betrachtet. bedeutet. Das höchste Ziel, das als ethisches Kriteri-
Die Metaethik schließlich beschäftigt sich mit um fungiert, ist dabei innerhalb der verschiedenen
methodischen und sprachlichen Fragen, die die teleologischen Theorien sehr unterschiedlich.
Ethik allgemein betreffen. Ähnlich wie im Bereich Zu den Hauptvertretern dieser Gruppe von Ethik-
der Metatheorie (s. a. Kap. 4.2.4) werden hier u. a. theorien gehört der sogenannte Utilitarismus. Der
Überlegungen angestellt, mit welchen sprachlichen Begriff „Utilitarismus“ ist vom lateinischen Adjektiv

BAND 1 Pflege und Beziehung 255


9 Ethik und Pflege

„utilis“ abgeleitet, was mit „nützlich“ übersetzt wer- Einer der wichtigsten Vertreter dieser Art von
den kann. Eine Handlung gilt im Rahmen dieser Ethiktheorien ist der deutsche Philosoph Immanuel
Ethiktheorie dann als ethisch gerechtfertigt, wenn Kant (1724 – 1804). Das, was eine Handlung zu einer
ihre positiven Folgen die negativen Folgen für alle moralisch bzw. sittlich guten Handlung macht, be-
von dieser Handlung betroffenen Menschen über- misst sich seiner Meinung nach ausschließlich am
wiegen. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, Willen des Handelnden. Entsprechend kommt Kant
was als positive Folge bzw. als negative Folge in zu der Ansicht, dass im strengen Sinne nur das Wol-
einem konkreten Fall anzusehen ist. len sittliche Qualität haben kann, da an der Hand-
Für die ethische Rechtfertigung einer Handlung lung selbst nicht unmittelbar zu erkennen ist, wel-
im Rahmen der utilitaristischen Normbegründung cher Motivation sie entsprungen ist.
ist es streng genommen unwichtig, ob die Handlung Menschen können als autonome Wesen willent-
selbst von moralischen Wert ist. lich denken und handeln. Die dem Menschen inne-
wohnende Fähigkeit zur Vernunft fordert von ihm,
Beispiel: Verdeutlicht werden kann dies an sich bei seinen Handlungen für das sittlich Gute zu
der Notlüge: Die Handlung als solche wider- entscheiden. Diese Forderung erscheint als Pflicht.
spricht dem ethischen Prinzip der Wahrhaf- Handlungen, die aus der Anerkennung dieser Pflicht,
tigkeit, wenn dadurch aber z. B. Menschen vor Scha- der Achtung des moralischen Gesetzes getätigt wer-
den bewahrt werden können, darf gelogen werden. den, sind entsprechend sittlich gute Handlungen.
(9.1)Als oberste sittliche Forderung bzw. als Moral-
Der Utilitarismus ist nicht unumstritten. Problema- prinzip formulierte Kant den „Kategorischen Impe-
tisch ist vor allem, dass niemand alle Folgen, die rativ“ (s. S. 252). Menschliche Handlungen müssen
9 eine Handlung nach sich zieht, voraussehen kann. folglich Maximen (Willensgrundsätzen) entspre-
Darüber hinaus wird gegen den Utilitarismus häufig chen, die in sich gut und für jeden Menschen und
angeführt, dass er in einer konkreten Situation in jeder Situation gültig, also verallgemeinerbar
große Nachteile für Minderheiten mit sich bringen sind.
kann: Wird die Richtigkeit einer Handlung allein
anhand der Menge von Menschen gemessen, für Beispiel: Wenn die Pflicht, die Wahrheit zu
die sie Vorteile bringt, müssen die Interessen einer sagen, als gut erkannt wird, besteht die un-
kleineren Zahl dahinter zurücktreten, was in einer bedingte Verpflichtung, in jeder Situation
konkreten Situation erhebliche Nachteile für einzel- die Wahrheit zu sagen – unabhängig davon, welche
ne Menschen bringen kann. Folgen hieraus entstehen können. Notlügen, die viel-
leicht größeren Schaden abwenden, sind im Rahmen
▌ Nicht-folgenorientierte Theorien dieser Ethiktheorie nicht zu rechtfertigen.
Innerhalb der nicht-folgenorientierten Ethiktheo-
rien werden die Folgen einer Handlung bei ihrer Kant war außerdem der Überzeugung, dass Men-
Bewertung völlig außer Acht gelassen. Sie werden schen aufgrund der Tatsache, dass sie denkende, au-
auch als deontologische Ethiktheorien bezeichnet. tonome Wesen sind, Achtung verdienen. Sie dürfen
Der Begriff „Deontologie“ ist abgeleitet vom grie- nicht als „Mittel zum Zweck“ benutzt werden. Kant
chischen Wort „to déon“, was „das Erforderliche“ formuliert deshalb den zweiten Teil des „Kategori-
oder „die Pflicht“ bedeutet. schen Imperativs“ als: „Handle so, dass du die
Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Per-
Definition: Innerhalb der Deontologie gelten son eines jeden anderen, jederzeit zugleich als
Handlungen dann als sittlich richtig, wenn sie Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Kant
Grundsätzen folgen, die in sich gut sind. 1983, zit. n. Steimkamp und Gordijn 2005, S. 63).

Deontologische Theorien betonen folglich die innere


Qualität einer Handlung – ohne Berücksichtigung
der Folgen, die die jeweilige Handlung nach sich
zieht.

256 Pflege und Beziehung BAND 1


9.2 Ethik

Dem Menschen kommt als autonomem Wesen rende Gesinnung spielen im Rahmen der Verant-
absoluter, innerer Wert zu – auch als Menschenwür- wortungsethik bei der Bewertung des Handelns
de bezeichnet, der von anderen Menschen respek- eine wichtige Rolle.
tiert und geachtet werden muss. Die niederländischen Pflegewissenschaftler und
Auch die Deontologie ist nicht unumstritten. Pro- Ethiker Arie van der Arend und Chris Gastmans
blematisch bei dieser Art von Ethiktheorie ist, dass haben 1996 ein Modell der „personalistischen Ver-
sie der konkreten Situation, in der gehandelt werden antwortungsethik“ als Grundlage für die Pflegeethik
muss, keine Beachtung schenkt. Einige Kritiker mei- beschrieben (Abb. 9.4).
nen auch, dass bei der ethischen Bewertung von Sie betrachten für die ethische Bewertung
menschlichen Handlungen unbedingt die Folgen menschlichen Handelns drei Aspekte als wesentlich:
der Handlung einbezogen werden müssen. Auch 1. die motivierende Gesinnung,
können verschiedene Pflichten miteinander konkur- 2. die wahrnehmbare Handlung und
rieren: Welcher Pflicht soll dann der Vorrang gege- 3. die vorhersehbaren Folgen der Handlung.
ben werden?
Teleologische und deontologische Begründungen Hierdurch werden einseitige Sichtweisen vermie-
bzw. Rechtfertigungen von ethischen Normen unter- den, die sich wie folgt darstellen lassen:
scheiden sich in Bezug auf die Schwerpunkte, die sie ■ Die alleinige Betrachtung der motivierenden Ge-
bei der Begründung setzen. Beide Ansätze der Ethik sinnung läuft Gefahr, in einen Subjektivismus zu
verfolgen jedoch dasselbe Ziel: Sie wollen dazu bei- entgleisten, was bedeutet, dass das Subjekt, der
tragen, Maßstäbe für richtiges menschliches Han- einzelne Mensch, zum absoluten Maßstab für
deln zu entwerfen und zu begründen. Wahrheit und Werte wird und die moralische
Da beide Ansätze für die alltägliche menschliche Qualität der wahrnehmbaren Handlung sowie 9
Praxis aus den oben angeführten Gründen jedoch ihrer Folgen unberücksichtigt bleibt.
häufig als zu einseitig angesehen werden, wenden ■ Die ausschließliche Betrachtung der Konsequen-
sich aktuelle Ansätze häufig der sogenannten Ver- zen einer Handlung (Konsequentialismus) lässt
antwortungsethik zu (Abb. 9.3). die ethische Qualität der motivierenden Gesin-
In diesem Rahmen wird versucht, alle an einer nung und der wahrnehmbaren Handlung außer
Handlung beteiligten Elemente bei der ethischen Be- Acht.
wertung einer Handlung zu berücksichtigen. Dabei ■ Wird allein die moralische Qualität der wahr-
werden vor allem – aber nicht ausschließlich – die nehmbaren Handlung beachtet (Objektivismus),
Folgen, die eine Handlung nach sich zieht, berück- zählen allein objektive Gegebenheiten, nicht
sichtigt. Auch die Handlung selbst und die motivie- aber die Folgen einer Handlung und die motivie-
rende Gesinnung des handelnden Menschen.

Im Rahmen dieses Modells müssen zur ethischen


Formen der Ethik Bewertung menschlichen Handelns alle drei Aspekte
je nach Erkenntnisinteresse
berücksichtigt werden.
Als personalistisch bezeichnen van der Arend/
deskriptive Ethik normative Ethik Metaethik Gastmans ihren Entwurf deshalb, weil sie die
Theorie des BegrŸndung fŸr Begriffe und
menschlichen Ver- Verhalten Methoden menschliche Person als zentralen Wert betrachten.
haltens Gleichzeitig ist sie der Maßstab, der zur Beurteilung
menschlichen Handelns herangezogen wird.

folgenorientierte nicht-folgenorien-

!
Ethik tierte Ethik Merke: Eine Handlung gilt im Rahmen die-
Teleologie Deontologie ses Modells dann als ethisch vertretbar,
wenn sowohl die motivierende Gesinnung
und die wahrnehmbare Handlung als auch die abseh-
Verantwortungsethik
baren Folgen der Handlung dem Kriterium der Men-
schenwürde standhalten bzw. die Menschenwürde
Abb. 9.3 Formen der Ethik fördern.

BAND 1 Pflege und Beziehung 257


9 Ethik und Pflege

Abb. 9.4 Modell der personalistischen


Verantwortlichkeitsethik
Verantwortlichkeits-
ethik

ethischer Maßstab
Menschenwürdigkeit

Handeln
Gefahr: Objektivismus

Gesinnung Folgen
Gefahr: Subjektivismus Gefahr: Konsequentialismus

Werte Normen

ethische Evaluation der menschlichen Aktivität insgesamt durch:

Gewissen
Kanalisieren spontaner ethischer Reaktionen
9 +
Ethik
Prozess rational-ethischer Reflexion

Die von van der Arend/Gastmans betonte Unter- geperson, die erst kürzlich ihr Pflegeexamen abgelegt
scheidung zwischen Gesinnung und Handlung hat und ihren ersten alleinverantwortlichen Nacht-
schlägt sich auch im Sprachgebrauch nieder: Die dienst absolviert, erneuert den Verband und kontrol-
ethische Bewertung der motivierenden Gesinnung liert die Einstichstelle der Nierenfistel, die sich als un-
wird mit „gut“ und „böse“ bezeichnet, die der Hand- auffällig darstellt. Sie gibt sich viel Mühe, den ablei-
lung mit den Begriffen „richtig“ und „falsch“. Selbst tenden Schlauch neu zu befestigen, damit er Frau
wenn eine Handlung aus einer subjektiv guten Ge- Hitzmann nicht stört, weil sie vermutet, dass der
sinnung heraus erfolgt, kann sie objektiv betrachtet alte Verband zu fest verklebt war und die Schmerzen
falsch sein, wie das folgende Beispiel zeigt: ausgelöst hat. Als das Druckgefühl nach einer Stunde
nicht nachgelassen hat, verabreicht sie Frau Hitz-
Beispiel: Frau Hitzmann, 29 Jahre alt, ist mann die vom Arzt für den Bedarfsfall angeordneten
vor vier Tagen an einer angeborenen Fehl- Analgetika. Kurze Zeit darauf fühlt Frau Hitzmann
bildung des Nierenbeckens der linken Niere sich etwas besser. Wenngleich sie nicht ganz be-
operiert worden, die zu immer wiederkehrenden Nie- schwerdefrei ist, beschließen die Pflegeperson und
renbeckenentzündungen geführt hatte. Um die Opera- Frau Hitzmann gemeinsam, den diensthabenden Arzt
tionsnaht im Nierenbecken vor einer Insuffizienz zu nicht zu verständigen, sondern bis zum Morgen zu
schützen, wurde die bei dieser Art von Operation (Nie- warten.
renbeckenplastik) übliche Nierenfistel gelegt, eine Als die Nierenfistel am Morgen durch den zuständigen
Drainage, die den Urin direkt aus dem Nierenbecken Arzt kontrolliert wird, stellt sich heraus, dass sie ver-
in ein Ableitungssystem überführt. stopft ist. Hierdurch konnte der Urin nicht abfließen,
Frau Hitzmann meldet sich in der Nacht mit Schmer- hat sich im Nierenbecken gestaut und das Druck-
zen und einem Druckgefühl in der Nierengegend, die gefühl verursacht. Glücklicherweise ist die Operati-
sie nicht schlafen lassen. Die nachtdiensthabende Pfle- onsnaht nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, so

258 Pflege und Beziehung BAND 1


9.3 Pflegeethik

dass Frau Hitzmann eine erneute Operation erspart rische Berufsausübung angewandt. Aus diesem
werden konnte. Grund wird die Pflegeethik auch zu dem Bereich
Wie würden Sie die motivierende Gesinnung der Pfle- der „angewandten Ethik“ gerechnet.
geperson in diesem Fall beurteilen? War die Handlung Ethische Überlegungen in der Pflege haben zum
der Pflegeperson richtig oder falsch? Hätten Sie sich in Ziel, für moralische Aspekte pflegerischen Handelns
dieser Situation anders verhalten? Wenn ja, warum? zu sensibilisieren und gutes und richtiges Handeln
Welche Rolle spielt pflegerisches Fachwissen bei der in der Pflege zu begründen. Auch in der Pflege
ethischen Bewertung einer Pflegehandlung? kommt der Ethik die wichtige Aufgabe zu, u. a. in
Form von Theorien und Prinzipien moralisches Han-
Wenn der Pflegeethik dieser integrative Ansatz zu- deln in der Pflege zu begründen und Hilfestellung
grunde gelegt wird, kommt dem Begriff „Verantwor- zur Entscheidungsfindung bei moralischen Proble-
tung“ bzw. „verantwortliches Handeln“ eine zentrale men zu geben. Dabei liegt der Schwerpunkt der
Rolle in der pflegerischen Berufsausübung zu. Aus pflegeethischen Diskussion aktuell auf den mora-
diesem Grund wird er unter 9.3.3 näher beschrie- lischen Aspekten der Beziehung zwischen Pflege-
ben. personen und pflegebedürftigen Menschen, Bewoh-
nern von Alten- und Pflegeheimen sowie deren An-

!
Merke: Innerhalb der normativen Ethik gehörigen.
werden folgenorientierte Theorien und Betrachtet man die Geschichte der Pflegeethik, so
nicht-folgenorientierte Theorien unterschie- zeigt sich, dass das moralische Handeln von Pflege-
den. Vertreter der Verantwortungsethik plädieren für personen in der Beziehung zu pflegebedürftigen
eine gleiche Bewertung von Gesinnung, Handlung und Menschen und deren Angehörigen erst seit Mitte
Folgen bei der ethischen Evaluation menschlichen der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts in das Blickfeld 9
Handelns. der pflegeethischen Diskussion gerückt ist.

9.3.1 Geschichtlicher Überblick


9.3 Pflegeethik Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis weit in das
20. Jahrhundert hinein beschäftigten sich ethische
Die Verbindung zwischen Ethik und Pflege hat eine Fragen in der Pflege nahezu ausschließlich mit
lange Tradition. Schon Florence Nightingale be- dem moralischen Charakter der Pflegepersonen.
schrieb in ihrem Gelübde Normen für die pflegeri- Die Voraussetzung für gute Pflege war dann gege-
sche Berufsausübung. Der Schwerpunkt der ethi- ben, wenn die jeweilige Pflegeperson Tugenden wie
schen Reflexion in der Pflege hat sich im Laufe Freundlichkeit, Zurückhaltung, Aufrichtigkeit,
ihrer geschichtlichen Entwicklung jedoch von den Pünktlichkeit, Ordentlichkeit sowie Gehorsam – be-
Eigenschaften der Pflegepersonen auf das konkrete sonders dem Arzt gegenüber – aufwies. Der Grund
pflegerische Handeln mit den pflegebedürftigen hierfür war nicht zuletzt die enge Anbindung der
Menschen verlagert. Pflege an das ärztliche Handeln. Das berufliche
Selbstverständnis der Pflege war in erster Linie
Definition: Pflegeethik ist die „Untersuchung durch das gewissenhafte Ausführen ärztlicher An-
von moralischen Aspekten im Zusammenhang weisungen und die Sorge für einen reibungslosen
mit der Ausübung des Pflegeberufs“ (van der Ablauf der medizinischen Therapie gekennzeichnet
Arend/Gastmans 1996). (s. a. Kap. 2).
Gegenstand ethischer Überlegungen in der Pflege
Zur Untersuchung moralischer Aspekte pflegeri- waren zu dieser Zeit folglich nahezu ausschließlich
schen Handelns kommen die ethischen Methoden Verhaltensregeln und Umgangsformen für Pflegen-
und Prinzipien zur Anwendung, die auch in der all- de, die auch mit dem Begriff „Etikette“ umschrieben
gemeinen Ethik Gültigkeit haben. Bei der Pfle- werden. Entsprechend war auch der Ethik-Unter-
geethik handelt es sich folglich nicht um eine neue richt in der Pflegeausbildung dieser Zeit in erster
Form der Ethik bzw. um eine „Sonderethik“. Viel- Linie auf Verhaltensregeln und Umgangsformen aus-
mehr werden innerhalb der Pflegeethik Prinzipien gerichtet.
und Theorien der allgemeinen Ethik auf die pflege-

BAND 1 Pflege und Beziehung 259


9 Ethik und Pflege

Die Art der Berufsausübung wurde als Spiegel 9.3.2 Berufskodizes


der moralischen Tugend, des persönlichen Charak- Das persönliche Wertesystem und die in einer Ge-
ters und der inneren Stärke einer Pflegeperson an- meinschaft oder Gesellschaft geltenden Normen be-
gesehen. Diese Identifikation kommt im folgenden stimmen zum großen Teil, wie Menschen handeln.
Gelübde von Florence Nightingale besonders stark Neben diesen persönlichen Werten und Normen
zum Ausdruck. spielen im Zusammenhang mit der beruflichen Ar-
beit auch berufliche Werte und Normen eine wich-
tige Rolle.
Gelübde von Florence Nightingale Berufliche Werte und Normen ergeben sich für
Ich gelobe feierlich vor Gott und in Gegenwart dieser den einzelnen Menschen aus der Zugehörigkeit zu
Versammlung, dass ich ein reines Leben führen und einer bestimmten Berufsgruppe.
meinen Beruf in Treue ausüben will. Ich will mich alles
Sie sind diejenigen Leitvorstellungen und Orien-
Verderblichen und Bösen enthalten und will wissentlich
tierungsstandards für berufliches Handeln, die in-
keine schädlichen Arzneien nehmen und verabreichen.
nerhalb einer Berufsgruppe als wichtig erachtet
Ich will alles tun, was in meiner Macht steht, um den
werden.
Stand meines Berufes hochzuhalten und zu fördern,
Der Schutz dieser Werte und Normen wird durch
und will über alle persönlichen Dinge, die mir anver-
einen Berufskodex, der auch als Ethik-Kodex be-
traut werden, Schweigen bewahren; ebenso über alle
Familienangelegenheiten, von denen ich in der Aus- zeichnet wird, für die jeweilige Berufsgruppe fest-
übung meines Berufes Kenntnis erhalte. In Treue will geschrieben.
ich danach streben, dem Arzt in seiner Arbeit zu helfen, Er enthält Prinzipien und Regeln für berufliches
und mich ganz einsetzen für das Wohl derer, die meiner Handeln und macht deutlich, welche Ziele eine Be-
9 Pflege anvertraut sind. Florence Nightingale rufsgruppe mit ihrer Arbeit verfolgt. Hierdurch
geben sie die Richtung beruflichen Handelns an
und verpflichten einerseits die Berufsangehörigen,
Von der Mitte des 19. bis weit in das 20. Jahrhundert sich bei der Berufsausübung an diesen Regeln zu
hinein war die Ethik in der Pflege nahezu aus- orientieren, geben andererseits aber auch eine Ent-
schließlich auf den moralischen Charakter der Pfle- scheidungshilfe für moralische Probleme im beruf-
gepersonen und Regeln der Etikette gerichtet. lichen Handeln.
Mitte des 20. Jahrhunderts erhob die Pflege je-
doch zunehmend Anspruch auf die Anerkennung Definition: Ein Berufskodex ist „ein zusam-
als eigenständiger, von der Medizin weitgehend un- menhängendes Ganzes von ethischen Prinzi-
abhängiger Beruf. pien und Regeln bezüglich der Ziele und Werte
eines Berufes und die Haltung und das Verhalten, die
Zusammenfassung: für das Fördern und Evaluieren des beruflichen Han-
Pflegeethik delns notwendig sind“ (Van der Arend/Gastmans
■ eine Form der angewandten Ethik, 1996, S. 56).
■ beschreibt berufs- und standespolitische Aspekte,
■ bietet Richtlinien für moralisches Handeln von Bezogen auf die Pflege beschäftigen sich Berufskodi-
Pflegepersonen in der Berufsausübung. zes für Pflegepersonen mit denjenigen Werten und
Normen, die für das pflegerische Handeln maßgeb-
Diese Entwicklung wurde von den pflegerischen Be- lich sind.
rufsverbänden maßgeblich durch die Erarbeitung

!
und Verbreitung sogenannter Berufskodizes für Merke: Berufskodizes beschreiben beruf-
Pflegepersonen unterstützt. Sie sollen einerseits liche Werte und Normen und geben Berufs-
einen gewissen moralischen Standard für die pfle- angehörigen eine Orientierungshilfe für be-
gerische Berufsausübung sicherstellen, andererseits rufliches Handeln.
auch anderen Berufsgruppen und vor allem der Ge-
sellschaft verdeutlichen, was sie von den Berufs- ▌ Berufskodizes in der Pflege
angehörigen der Pflegeberufe erwarten können. Das erste Dokument, das sich mit Regeln für gutes
Auf die Entstehung und Bedeutung von Berufskodi- und richtiges pflegerisches Handeln auseinander-
zes wird im Folgenden näher eingegangen. setzt, ist das bereits erwähnte Gelübde von Florence
Nightingale (1893). Hier stehen die Person der Kran-

260 Pflege und Beziehung BAND 1


9.3 Pflegeethik

kenschwester und ihr persönliches Verhalten stark vom ICN (International Council of Nurses – Welt-
im Vordergrund. bund der Krankenschwestern und Krankenpfleger)
Neueren Berufskodizes für Pflegepersonen geht verfasst worden ist. Die letzte Überarbeitung dieses
es verstärkt um die Beziehung der Berufsangehöri- Berufskodex hat im Jahr 2012 stattgefunden.
gen zu pflegebedürftigen Menschen und der Unter- Der ICN-Kodex beschreibt die grundlegenden
stützung der Berufsangehörigen bei moralischen Aufgaben der Pflegepersonen, grundlegende Werte
Konflikten. und Normen der Berufsangehörigen (Achtung vor
Heute gibt es eine Reihe von Berufskodizes für dem Leben, der Würde, den Grundrechten des Men-
Pflegepersonen, die zumeist von den verschiedenen schen etc.) und die Beziehung der Berufsangehöri-
Berufsverbänden herausgegeben werden. Viele der gen zu ihren Mitmenschen, zur Berufsausübung, zur
aktuellen Berufskodizes orientieren sich am bekann- Profession sowie die Kooperation mit Kollegen und
testen Ethik-Kodex für Pflegepersonen, der 1953 anderen Professionen.

Ethische Grundregeln für die Krankenpflege Die Pflegende teilt mit der Gesellschaft die Verantwor-
Pflegende haben vier grundlegende Aufgaben: Gesund- tung, Maßnahmen zugunsten der gesundheitlichen und
heit zu fördern, Krankheit zu verhüten, Gesundheit wie- sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung, besonders der von
derherzustellen und Leiden zu lindern. benachteiligten Gruppen, zu veranlassen und zu unter-
Es besteht ein universeller Bedarf an Pflege. Untrennbar stützen.
von Pflege ist die Achtung der Menschenrechte, ein- Die Pflegende setzt sich für Gleichheit und soziale Ge-
schließlich dem Recht auf Leben und Entscheidungsfrei- rechtigkeit bei der Verteilung von Ressourcen, beim Zu-
heit, kultureller Rechte, auf Würde und auf respektvolle gang zur Gesundheitsversorgung und zu anderen sozia- 9
Behandlung. Pflege wird mit Respekt und ohne Wertung len und ökonomischen Dienstleistungen ein.
des Alters, der Hautfarbe, des Glaubens, der Kultur, einer Die Pflegende zeigt in ihrem Verhalten professionelle
Behinderung oder Krankheit, des Geschlechts, der sexu- Werte wie Respekt, Aufmerksamkeit und Eingehen auf
ellen Orientierung, der Nationalität, der politischen Ein- Ansprüche und Bedürfnisse, sowie Mitgefühl, Vertrauens-
stellung, der ethnischen Zugehörigkeit oder des sozialen würdigkeit und Integrität.
Status ausgeübt.
Die Pflegende übt ihre berufliche Tätigkeit zum Wohle ▌ Pflegende und die Berufsausübung
des Einzelnen, der Familie und der sozialen Gemeinschaft Die Pflegende ist persönlich verantwortlich und rechen-
aus; sie koordiniert ihre Dienstleistungen mit denen an- schaftspflichtig für die Ausübung der Pflege sowie für die
derer beteiligter Gruppen. Wahrung ihrer fachlichen Kompetenz durch kontinuierli-
che Fortbildung.
▌ Elemente des ICN-Ethik-Kodex Die Pflegende achtet auf ihre eigene Gesundheit, um ihre
Der ICN-Ethik-Kodex für Pflegende hat 4 Grundelemente, Fähigkeit zur Berufsausübung nicht zu beeinträchtigen.
die den Standard ethischer Verhaltensweise bestimmen. Die Pflegende beurteilt die individuellen Fachkompeten-
zen, wenn sie Verantwortung übernimmt oder delegiert.
▌ Pflegende und ihre Mitmenschen Die Pflegende achtet in ihrem persönlichem Verhalten
Die grundlegende professionelle Verantwortung der Pfle- jederzeit darauf, ein positives Bild des Pflegeberufs zu
genden gilt dem pflegebedürftigen Menschen. Bei ihrer vermitteln sowie das Ansehen des Berufs hochzuhalten
professionellen Tätigkeit fördert die Pflegende ein Um- und das Vertrauen der Bevölkerung in den Pflegeberuf
feld, in dem die Menschenrechte, die Wertvorstellungen, zu stärken.
die Sitten und Gewohnheiten sowie der Glaube des Ein- Die Pflegende gewährleistet bei der Ausübung ihrer be-
zelnen, der Familie und der sozialen Gemeinschaft res- ruflichen Tätigkeit, dass der Einsatz von Technologie und
pektiert werden. die Anwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse
Die Pflegende gewährleistet, dass die pflegebedürftige vereinbar sind mit der Sicherheit, der Würde und den
Person zeitgerecht die richtige und ausreichende Infor- Rechten der Menschen.
mation auf eine kulturell angemessene Weise erhält, auf Die Pflegende strebt danach, in der beruflichen Praxis
die sie ihre Zustimmung zu ihrer pflegerischen Versor- eine Kultur ethischen Verhaltens und offenen Dialoges
gung und Behandlung gründen kann. Die Pflegende be- zu fördern und zu bewahren.
handelt jede persönliche Information vertraulich und
geht verantwortungsvoll mit der Weitergabe von Infor-
mationen um.

BAND 1 Pflege und Beziehung 261


9 Ethik und Pflege

▌ Pflegende und die Profession lichen Arbeitsumfeld bei und engagiert sich gegen un-
Die Pflegende übernimmt die Hauptrolle bei der Fest- ethisches Handeln und unethische Rahmenbedingungen.
legung und Umsetzung von Standards für die Pflegepra-
xis, das Pflegemanagement, die Pflegeforschung und ▌ Pflegende und ihre Kollegen
Pflegebildung. Die Pflegende sorgt für eine gute Zusammenarbeit mit
Die Pflegende beteiligt sich an der Entwicklung for- ihren Kolleginnen und mit den Mitarbeitenden anderer
schungsbasierter beruflicher Kenntnisse, die eine evi- Bereiche.
denzbasierte Berufsausbildung unterstützt. Die Pflegende greift zum Schutz des Einzelnen, der Fami-
Über ihren Berufsverband setzt sich die Pflegende für die lie und der sozialen Gemeinschaft ein, wenn deren Wohl
Schaffung einer positiven Arbeitsumgebung und für den durch eine Kollegin oder eine andere Person gefährdet
Erhalt von sicheren, sozial gerechten und wirtschaftlichen ist.
Arbeitsbedingungen in der Pflege ein. Die Pflegende han- Die Pflegende ergreift geeignete Schritte, um Mitarbei-
delt zur Bewahrung und zum Schutz der natürlichen Um- tende bei der Förderung ethischen Verhaltens zu unter-
welt und ist sich deren Bedeutung für die Gesundheit be- stützen und zu leiten.
wusst. Die Pflegende trägt zu einem ethisch verantwort- (Quelle: www.dbfk.de)

Die erste Verantwortung der Pflegenden gilt laut Die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürfti-
ICN-Kodex dem pflegebedürftigen Menschen, des- ger Menschen ist im September 2005 vom „Runden
9 sen Glauben, Wertvorstellungen und Gewohnheiten Tisch Pflege“ veröffentlicht worden. Im Auftrag der
sie in der Berufsausübung respektiert. Er beschreibt Bundesministerien für Familie, Senioren, Frauen und
u. a. auch die Verantwortung der Pflegenden, aktiv Jugend sowie Gesundheit erarbeiteten Vertreterin-
an der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen nen und Vertreter aus Verbänden, Ländern und
Grundlagen der Profession mitzuwirken. Kommunen, Praxis und Wissenschaft Handlungs-
Auf den ICN-Kodex nimmt auch ausdrücklich die empfehlungen zur Umsetzung menschlicher, fachli-
Rahmen-Berufsordnung für professionell Pflegende cher und finanzierbarer Pflege und Betreuung. Ein
Bezug, die im Mai 2004 vom Deutschen Pflegerat Ergebnis ist die genannte Charta, die die Rechte von
e. V. (DPR) erstellt und von dessen Mitgliederver- Menschen in Deutschland beschreibt, die der Hilfe
sammlung verabschiedet wurde (s. a. Kap. 1). Sie gilt und Pflege bedürfen.
für Altenpflegerinnen/Altenpfleger, Gesundheits- Ein Dokument, das sich mit den Rechten des Kin-
und Kinderkrankenpflegerinnen/Gesundheits- und des im Krankenhaus auseinandersetzt, ist die „Charta
Kinderkrankenpfleger sowie für Gesundheits- und für Kinder im Krankenhaus“. Obwohl sie nicht als Be-
Krankenpflegerinnen/Gesundheits- und Kranken- rufskodex für Gesundheits- und Kinderkrankenpfle-
pfleger, die in der Bundesrepublik Deutschland ihren gerinnen und -pfleger bezeichnet werden kann, be-
Beruf ausüben. Neben den Aufgaben professionell schreibt sie dennoch wichtige Werte und Normen,
Pflegender umfasst die Rahmen-Berufsordnung auch die bei der beruflich ausgeübten Pflege und Therapie
Angaben über die Berufspflichten (u. a. Schweige-, von Kindern im Krankenhaus von allen hieran betei-
Auskunfts-, Beratungs- und Dokumentationspflicht). ligten Berufsgruppen beachtet werden müssen.

Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger tragen Staat und Gesellschaft eine besondere Verantwor-
Menschen – September 2005 tung für den Schutz der Menschenwürde hilfe- und pfle-
▌ Präambel gebedürftiger Menschen. Ziel dieser Charta ist es, die
Jeder Mensch hat uneingeschränkten Anspruch auf Res- Rolle und die Rechtstellung hilfe- und pflegebedürftiger
pektierung seiner Würde und Einzigartigkeit. Menschen, Menschen zu stärken, indem grundlegende und selbst-
die Hilfe und Pflege benötigen, haben die gleichen Rech- verständliche Rechte von Menschen, die der Unterstüt-
te wie alle anderen Menschen und dürfen in ihrer beson- zung, Betreuung und Pflege bedürfen, zusammengefasst
deren Lebenssituation in keiner Weise benachteiligt wer- werden. Diese Rechte sind Ausdruck der Achtung der
den. Da sie sich häufig nicht selbst vertreten können, Menschenwürde, sie sind daher auch in zahlreichen na-

262 Pflege und Beziehung BAND 1


9.3 Pflegeethik

tionalen und internationalen Rechtstexten verankert. Sie ▌ Artikel der Charta


werden in den Erläuterungen zu den Artikeln im Hinblick Artikel 1: Selbstbestimmung und Hilfe zur Selbsthilfe
auf zentrale Lebensbereiche und Situationen hilfe- und Jeder pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf Hilfe
pflegebedürftiger Menschen kommentiert. Darüber hi- zur Selbsthilfe und auf Unterstützung, um ein möglichst
naus werden in der Charta Qualitätsmerkmale und Ziele selbstbestimmtes und selbstständiges Leben führen zu
formuliert, die im Sinne guter Pflege und Betreuung an- können.
zustreben sind. Menschen können in verschiedenen Le-
bensabschnitten hilfe- und pflegebedürftig sein. Die in Artikel 2: Körperliche und seelische Unversehrtheit,
der Charta beschriebenen Rechte gelten in ihrem Grund- Freiheit und Sicherheit
satz daher für Menschen aller Altersgruppen. Um hilfe- Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht,
und pflegebedürftigen Menschen ihre grundlegenden vor Gefahren für Leib und Seele geschützt zu werden.
Rechte zu verdeutlichen, werden sie in den Erläuterungen
zu den Artikeln unmittelbar angesprochen. Artikel 3: Privatheit
Zugleich soll die Charta Leitlinie für die Menschen und Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht
Institutionen sein, die Verantwortung in Pflege, Betreu- auf Wahrung und Schutz seiner Privat- und Intimsphäre.
ung und Behandlung übernehmen. Sie appelliert an Pfle-
gende, Ärztinnen, Ärzte und alle Personen, die sich von Artikel 4: Pflege, Betreuung und Behandlung
Berufs wegen oder als sozial Engagierte für das Wohl Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht
pflege- und hilfebedürftiger Menschen einsetzen. Dazu auf eine an seinem persönlichen Bedarf ausgerichtete,
gehören auch Betreiber von ambulanten Diensten, sta- gesundheitsfördernde und qualifizierte Pflege, Betreuung
tionären und teilstationären Einrichtungen sowie Verant- und Behandlung.
wortliche in Kommunen, Kranken- und Pflegekassen, pri- 9
vaten Versicherungsunternehmen, Wohlfahrtsverbänden Artikel 5: Information, Beratung und Aufklärung
und anderen Organisationen im Gesundheits- und Sozial- Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht
wesen. Sie alle sollen ihr Handeln an der Charta ausrich- auf umfassende Informationen über Möglichkeiten und
ten. Ebenso sind die politischen Instanzen auf allen Ebe- Angebote der Beratung, der Hilfe, der Pflege sowie der
nen sowie die Leistungsträger aufgerufen, die notwendi- Behandlung.
gen Rahmenbedingungen zur Gewährleistung der hier
beschriebenen Rechte, insbesondere auch die finanziellen Artikel 6: Kommunikation, Wertschätzung und Teilha-
Voraussetzungen, weiter zu entwickeln und sicher zu be an der Gesellschaft
stellen. Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht
Die staatliche und gesellschaftliche Verantwortung ge- auf Wertschätzung, Austausch mit anderen Menschen
genüber hilfe- und pflegebedürftigen Menschen entbin- und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
det den Einzelnen nicht von seiner Verantwortung für
eine gesunde und selbstverantwortliche Lebensführung, Artikel 7: Religion, Kultur und Weltanschauung
die wesentlich dazu beitragen kann, Hilfe- und Pflegebe- Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht,
dürftigkeit hinauszuzögern, zu mindern oder zu überwin- seiner Kultur und Weltanschauung entsprechend zu
den. leben und seine Religion auszuüben.

Artikel 8: Palliative Begleitung, Sterben und Tod


Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht,
in Würde zu sterben.
(www.pflege-charta.de)

BAND 1 Pflege und Beziehung 263


9 Ethik und Pflege

Charta für Kinder im Krankenhaus 6. Kinder sollen gemeinsam mit Kindern betreut wer-
Verabschiedet durch die 1. Europäische „Kind im Kran- den, die von ihrer Entwicklung her ähnliche Bedürf-
kenhaus“-Konferenz, Leiden (NL) Mai 1988 Das Recht auf nisse haben. Kinder sollen nicht in Erwachsenensta-
bestmögliche medizinische Behandlung ist ein fun- tionen aufgenommen werden. Es soll keine Alters-
damentales Recht, besonders für Kinder (European Asso- begrenzung für Besucher von Kindern im Kranken-
ciation for Children in Hospital; EACH). Das bedeutet: haus geben.
1. Kinder sollen nur dann in ein Krankenhaus auf- 7. Kinder haben das Recht auf eine Umgebung, die
genommen werden, wenn die medizinische Betreu- ihrem Alter und ihrem Zustand entspricht und die
ung, die sie benötigen, nicht ebensogut zu Hause ihnen umfangreiche Möglichkeiten zum Spielen, zur
oder in einer Tagesklinik erfolgen kann. Erholung und Schulbildung gibt. Die Umgebung soll
2. Kinder im Krankenhaus haben das Recht, ihre Eltern für Kinder geplant, möbliert und mit Personal aus-
oder eine andere Bezugsperson jederzeit bei sich zu gestattet sein, das den Bedürfnissen von Kindern
haben. entspricht.
3. Bei der Aufnahme eines Kindes im Krankenhaus soll 8. Kinder sollen von Personal betreut werden, das
allen Eltern die Mitaufnahme angeboten werden, durch Ausbildung und Einfühlungsvermögen befä-
und ihnen soll geholfen und sie sollen ermutigt wer- higt ist, auf die körperlichen, seelischen und entwick-
den zu bleiben. Eltern sollen daraus keine zusätzli- lungsbedingten Bedürfnisse von Kindern und ihren
chen Kosten oder Einkommenseinbußen entstehen. Familien einzugehen.
Um an der Pflege ihres Kindes teilnehmen zu kön- 9. Die Kontinuität in der Pflege kranker Kinder soll
nen, sollen Eltern über die Grundpflege und den Sta- durch ein Team sichergestellt sein.
tionsalltag informiert werden. Ihre aktive Teilnahme 10. Kinder sollen mit Takt und Verständnis behandelt
9 daran soll unterstützt werden. werden, und ihre Intimsphäre soll jederzeit respek-
4. Kinder und Eltern haben das Recht, in angemessener tiert werden.
Art ihrem Alter und ihrem Verständnis entsprechend Teilnehmende Länder und ihre Initiativen:
informiert zu werden. Es sollen Maßnahmen ergrif- Belgien – Kind en Ziekenhujs, BR Deutschland – AKIK,
fen werden, um körperlichen und seelischen Stress Dänemark – NOBAB, Finnland – NOBAS, Frankreich –
zu mildern. APACHE, Großbritannien – NAWCH, Island – NOBAB, Ita-
5. Kinder und Eltern haben das Recht, in alle Entschei- lien – ABIO, Niederlande – Kind en Ziekenhuis, Norwegen
dungen, die ihre Gesundheitsfürsorge betreffen, ein- – NOBAB, Schweden – NOBAB, Schweiz – Kind im Kran-
bezogen zu werden. Jedes Kind soll vor unnötigen kenhaus; unterstützt durch die Weltgesundheitsorganisa-
medizinischen Behandlungen und Untersuchungen tion (WHO) während der 2. Europäischen „Kind im Kran-
geschützt werden. kenhaus“-Konferenz, Mutzing (BRD) September 1991.

▌ Aufgaben und Ziele von Berufskodizes ■ der Berufskodex soll Hilfestellung bei der Lösung
Berufskodizes sind das Ergebnis innerberuflicher moralischer Konflikte geben und der Gesellschaft
Diskussionen über die ethischen Aspekte eines Be- verdeutlichen, was sie von den Berufsangehöri-
rufes. Sie erfüllen die wichtige Funktion zu verdeut- gen erwarten kann.
lichen, wie die Berufsgruppe ihren gesellschaftli-
chen Auftrag erfüllen will. Sie können auch ein Mit- Der Berufskodex für Pflegepersonen beschreibt die-
tel zur Selbstregulation der Berufsgruppe sein. jenigen Werte und Normen, die für das berufliche
Die amerikanische Pflegewissenschaftlerin Sara Handeln der Pflegepersonen maßgeblich sind. Er
T. Fry (1995) beschreibt die Funktionen und Ziele verdeutlicht der Gesellschaft, was sie von Pflegeper-
eines Berufskodex wie folgt: sonen erwarten kann, und gibt den Berufsangehöri-
■ Berufsangehörige sollen zu moralischem Verhal- gen Hilfestellung bei der moralischen Entschei-
ten angehalten und für moralische Aspekte ihrer dungsfindung.
Arbeit sensibilisiert werden, Prinzipien der allgemeinen Ethik werden auf das
■ ethische Standards in der Berufspraxis sollen in- Praxisfeld der Pflege bezogen. Auf diese Weise wird
nerhalb der Berufsgruppe durchgesetzt und ge- deutlich, wie berufliches Pflegehandeln aussehen
schützt werden, sollte, wenn es Bedürfnislagen von pflegebedürfti-

264 Pflege und Beziehung BAND 1


9.3 Pflegeethik

gen Menschen und deren Autonomie respektieren ■ nach Maßgabe bestimmter Kriterien (z. B. Fach-
will. wissen der Pflegewissenschaft).
Da Berufskodizes versuchen, möglichst viele ethi-
sche Aspekte pflegerischen Handelns zu erfassen, Um voll verantwortlich für etwas gemacht werden
können sie konsequenterweise keine konkreten zu können, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein.
Handlungsanweisungen für spezifische Situationen Ein Mensch ist ethisch dann verantwortlich für sein
geben. Handeln, wenn er dieses:
Es ist nicht möglich, alle Aspekte und Umstände, 1. selbst ausgeführt hat und
die in einer konkreten Pflegesituation zum Tragen 2. das Ausführen seiner Handlung aus freiem Wil-
kommen, in einem Ethik-Kodex abzubilden. Daher len und aufgrund eigener Einsicht geschehen ist.
können Berufskodizes die eigenständige Auseinan- Wer zu einer Handlung gezwungen wird (z. B.
dersetzung der Pflegepersonen mit ihrem mora- unter Androhung von Strafe), hat keine Wahl,
lischem Handeln im Beruf nicht ersetzen. sich anders zu entscheiden, und muss seine
Für das moralisch kompetente und verantwort- Handlung deshalb auch nur begrenzt verantwor-
liche Handeln im Pflegealltag ist das Wissen über ten. Wer jedoch anders hätte handeln können, ist
Theorien und Prinzipien der Ethik eine wichtige Hil- für sein Handeln voll verantwortlich.
festellung. Was aber ist unter dem Begriff „Verant-
wortung“ bzw. verantwortliches Handeln zu verste- Wenn ein Mensch etwas „verantworten“ soll, be-
hen? Und welche Kriterien muss pflegerisches Han- deutet das, dass er sein Handeln „in Frage stellen
deln erfüllen, um verantwortlich zu sein? lassen“ und „Antwort auf eine Frage geben“ soll. Er
wird gebeten zu erklären und zu begründen, warum
9.3.3 Verantwortung und verantwortliches er so und nicht anders handelt. Er steht für sein 9
Handeln in der Pflege Handeln sich selbst oder anderen Menschen gegen-
Der Begriff „Verantwortung“ wird im alltäglichen über „Rede und Antwort“ und legt „Rechenschaft“
Sprachgebrauch häufig verwendet: Redewendungen darüber ab.
wie „Verantwortlich sein für etwas oder jemand“, Wenn ein Mensch diese Bereitschaft zeigt,
„etwas nicht verantworten können“ oder „die Ver- schließt das gleichzeitig ein, dass er den anderen
antwortung übernehmen“ belegen diese Aussage. Menschen und seine Frage ernst nimmt. Das setzt
Er gehört darüber hinaus auch zu den grund- aber voraus, dass er nicht absolut auf dem eigenen
legenden Begriffen der Ethik. Der Mensch besitzt Standpunkt und seinen Interessen beharrt.
die Freiheit, willentlich zu denken und zu handeln.

!
Diese Fähigkeit wird auch als Autonomie bezeichnet. Merke: Verantwortliches Handeln schließt
Ohne Autonomie, d. h. die Freiheit selbst zu bestim- die Bereitschaft ein, sein eigenes Handeln
men, was man tun möchte, hätte Moral letztlich in Frage stellen zu lassen und es auf Anfrage
keine Bedeutung, denn moralisches Handeln kann zu begründen bzw. zu rechtfertigen.
sich nur dort zeigen, wo ein Mensch in freier Ent-
scheidung und ohne Zwang unter einer Vielzahl von Die Aufforderung zu verantwortlichem Handeln be-
Möglichkeiten das Gute und Richtige wählt bzw. gegnet Menschen in ihrem Alltag auf vielfältige
wählen kann. Weise. Häufig sind es unausgesprochene Fragen,
Aus diesem Grund kann er auch für sein Handeln z. B. durch das eigene Gewissen, die einen Menschen
verantwortlich gemacht werden, d. h. er kann ge- zum verantwortlichen Handeln auffordern. In der
fragt werden, warum er so und nicht anders handelt Pflege gehen diese „unausgesprochenen Fragen“ in
bzw. gehandelt hat. erster Linie vom anderen Menschen, d. h. vom pfle-
Verantwortung besteht immer: gebedürftigen Menschen bzw. der besonderen Si-
■ von jemandem (z. B. von Pflegepersonen), tuation, in der er sich befindet, seinen Bedürfnissen,
■ für etwas (z. B. für Pflegehandlungen), seiner Hilflosigkeit oder auch seinem Leiden aus.
■ vor einer Instanz (z. B. vor dem eigenen Gewis- Die Pflegeperson „antwortet“ auf die „Anfrage“ des
sen, vor pflegebedürftigen Menschen, vor dem pflegebedürftigen Menschen zunächst mit ihrer Be-
Gericht), reitschaft, Verantwortung für ihn zu übernehmen.

BAND 1 Pflege und Beziehung 265


9 Ethik und Pflege

Besonders offensichtlich geschieht dies z. B. bei möglich sein, allen Wünschen und Bitten pflegebe-
der Aufnahme eines Menschen in eine Institution dürftiger Menschen nachzukommen.
des Gesundheitswesens während des Aufnahme- Im oben angeführten Fall kann das beispielswei-
gespräches. Die Pflegeperson erklärt sich als zustän- se aufgrund der Tatsache sein, dass der betreffende
dig, als Ansprechpartnerin bzw. als Bezugsperson Mensch eine noch nicht geschlossene Operations-
für den zu pflegenden Menschen. Sie signalisiert wunde hat. In diesem Fall ist eine Körperpflege
und übernimmt damit Verantwortung für sein unter der Dusche nicht angebracht, da sie die
Wohlergehen. Wundheilung gefährden würde. Die entsprechende
Diese besonderen Situationen und Bedürfnisse, Pflegeperson würde also auch unverantwortlich
aus denen die Fragen an die Pflegeperson gestellt handeln, wenn sie diesem Menschen die Hilfestel-
werden, sind von Mensch zu Mensch verschieden. lung beim Duschen leisten würde. Sie darf dem
Die „Antworten“ auf die „Anfragen“ des pflegebe- Wunsch des zu Pflegenden nicht entsprechen, weil
dürftigen Menschen werden im persönlichen beruf- es gegen das gültige Fachwissen verstößt.
lichen Handeln gegeben und müssen zwangsläufig Die Verantwortlichkeit der Pflegeperson zeigt
so vielfältig und unterschiedlich sein, wie es die Si- sich in diesem Fall darin, dass sie ihr Handeln gegen-
tuationen der pflegebedürftigen Menschen sind. über dem pflegebedürftigen Menschen rechtfertigt,
Verantwortliches Handeln in der Pflege ist die Ant- d. h. ihm gegenüber begründet, warum sie seinem
wort auf die individuelle Situation des zu Pflegen- Wunsch nicht entsprechen kann. Sie kann auch Al-
den. Es muss demzufolge an der individuellen Situa- ternativen aufzeigen, z. B. eine Haarwäsche am
tion und den Bedürfnissen des pflegedürftigen Men- Waschbecken oder ein Fußbad. Das fördert das
schen orientiert sein. Wohlbefinden des anderen, ohne jedoch die Heilung
9 Hieraus lässt sich z. B. ableiten, warum der Pfle- der Wunde zu gefährden.
geprozess als methodisches Handeln in der Pflege An diesem Beispiel wird zweierlei deutlich:
unter Einbezug des zu pflegenden Menschen statt- 1. Verantwortliches Handeln in der Pflege bedeutet
finden muss. Geplante Pflege nach dem Pflegepro- nicht automatisch, jeder Bitte oder jedem Be-
zess kann letztlich nur dann verantwortlich sein, dürfnis eines anderen Menschen zu entsprechen.
wenn sie am pflegebedürftigen Menschen und sei- Handeln kann auch verantwortlich sein, wenn
nen Problemen und Ressourcen orientiert ist. der Bitte des anderen nicht entsprochen wird.
Unverantwortlich ist demgegenüber, wenn unab- Unerläßlich für verantwortliches Handeln ist je-
hängig von der individuellen Situation jedem Men- doch, dass die ausgesprochene oder unaus-
schen dieselbe Pflege verordnet wird. In diesem Fall gesprochene Frage des anderen ernst genommen
wird nicht auf seine individuelle „Frage“ und Situa- wird. Dieses „Ernstnehmen“ verlangt von der
tion „geantwortet“, sondern an ihm und seinen Be- Pflegeperson, das eigene Handeln dem anfragen-
dürfnissen vorbei und damit nicht verantwortlich den Menschen gegenüber zu begründen bzw. zu
gehandelt. rechtfertigen, sich also auf einen Dialog einzulas-
Konkret zeigt sich verantwortliches pflegerisches sen. Verantwortliches Handeln zeigt sich folglich
Handeln z. B., wenn einem pflegebedürftigen Men- in erster Linie in der Haltung der Pflegeperson,
schen auf seinen Wunsch und seine Bitte hin das der grundsätzlichen Einstellung und Bereitschaft,
morgendliche Duschen anstelle einer Körperpflege sich vom pflegebedürftigen Menschen anfragen
am Waschbecken ermöglicht wird. Pflegepersonen zu lassen und seine Fragen ernst zu nehmen.
sind als Berufsgruppe zuständig für diese Dienstleis- 2. Verantwortliches Handeln in der Pflege setzt
tung und Hilfestellung, die von keiner anderen Be- pflegerisches Fachwissen voraus. Verantwort-
rufsgruppe im Krankenhaus angeboten wird. Die liches Handeln ist begründetes Handeln. Um
Hilfestellung bei der Körperpflege fällt in ihren Ver- Gründe für oder gegen pflegerische Handlungen
antwortungsbereich. Unverantwortlich wäre es, die- angeben zu können, müssen Pflegepersonen
sem Wunsch des pflegebedürftigen Menschen nicht Pflegewissen besitzen. Dieses Wissen ist auch
zu entsprechen. die Voraussetzung dafür, in einem konkreten
Ähnliches gilt für viele andere Pflegesituationen. Fall mögliche Handlungsalternativen aufzeigen
Dennoch wird es in einzelnen Fällen nicht immer zu können.

266 Pflege und Beziehung BAND 1


9.3 Pflegeethik

Der Wissensaspekt des verantwortlichen Handelns 9.3.4 Ethische Prinzipien für die Pflegepraxis
zeigt sich konkret auch dort, wo eine Pflegeperson Die voranstehenden Ausführungen haben Verant-
eine Handlung nicht ausführt, weil ihr das nötige wortlichkeit als Grundhaltung für Pflegepersonen
Fachwissen fehlt. beschrieben. Hieraus ergeben sich bereits einige An-
forderungen, denen pflegerisches Handeln als Ant-
Beispiel: Es ist „unverantwortlich“ von wort auf die Situation des pflegebedürftigen Men-
einer Auszubildenden in einem Pflegeberuf, schen entsprechen muss. Verantwortliches Handeln
wenn sie z. B. einen Verbandwechsel ohne ist begründetes und begründbares Handeln. Hierzu
Kenntnis der Verbandtechnik, der Wundarten oder können ethische Prinzipien einen wichtigen Beitrag
der Phasen der Wundheilung durchführt. leisten.
Ethische Prinzipien bzw. allgemeine Normen
Der Anspruch, verantwortlich handeln zu wollen, sind theoretische Werkzeuge der Ethik. Diese Prin-
verlangt in dieser Situation, die eigenen Grenzen zipien sind Richtlinien für menschliches Handeln.
zu erkennen und den Verbandwechsel von anderen Sie können wesentlich dazu beitragen, moralisches
Pflegepersonen durchführen zu lassen bzw. ihn bzw. gutes und richtiges Handeln zu begründen und
unter der Anleitung einer erfahrenen Pflegeperson den Prozess der moralischen Entscheidungsfindung
durchzuführen. unterstützen.
Die Übernahme von Verantwortung in der Pflege Prinzipien geben die Richtung an, die mensch-
bedeutet, sich von der individuellen Situation des liches Handeln nehmen sollte, um gut und richtig
pflegebedürftigen Menschen ansprechen zu lassen zu sein. Sie dienen der Rechtfertigung bzw. Begrün-
und ihn als Mensch mit Wünschen, Bedürfnissen dung von konkreten Normen oder Handlungsregeln.
und Ressourcen zu respektieren. Viele in der pflegerischen Berufsausübung geltende 9
Diese Sichtweise von Verantwortung betont den Regeln bei der Pflege von Menschen lassen sich auf
Aspekt der Wechselseitigkeit. Verantwortliches Han- ethische Prinzipien zurückführen.
deln in der Pflege ist nicht auf ein bestimmtes Han- Darüber hinaus bieten Prinzipien eine Argumen-
deln gerichtet, sondern verlangt die grundlegende tationshilfe beim Austausch über ethische Probleme
Bereitschaft (Haltung), auf den pflegebedürftigen und tragen so dazu bei, einerseits die eigene Ent-
Menschen einzugehen und sich im wechselseitigen scheidung zu begründen, andererseits im gemein-
Dialog über die jeweils beste „Antwort“ in einer Si- samen Austausch mit anderen zu einer ethisch ver-
tuation zu verständigen, d. h. im gegenseitigen Aus- tretbaren Entscheidung zu kommen.
tausch über eine mögliche, für alle Beteiligten nach- Da Prinzipien jedoch sehr allgemein formuliert
vollziehbare, wünschenswerte, gute „Antwort“ bzw. sind, machen sie keine Aussagen darüber, wie eine
Handlung nachzudenken. Handlung in einer konkreten Situation aussehen
sollte, deshalb muss in der konkreten Situation je-
Zusammenfassung: weils geprüft werden, welches Prinzip auf welche
Verantwortung Art und Weise zur Anwendung kommen kann.
■ Ethische Verantwortung besteht für Handlungen, Die konkrete Anwendung von Prinzipien kann
die ein Mensch selbst sowie aus freiem Willen zwischen den einzelnen Kulturen stark variieren.
und aufgrund eigener Einsicht ausgeführt hat. Selbst wenn Einigkeit über ein Prinzip, wie z. B.
■ Verantwortliches Handeln in der Pflege setzt pfle- Wahrhaftigkeit, besteht, kann es innerhalb verschie-
gerisches Fachwissen voraus, dener Kulturen durchaus unterschiedliche Auffas-
■ ist an die Bereitschaft geknüpft, im Dialog mit pfle- sungen darüber geben, was als Lüge gilt und was
gebedürftigen Menschen zu einer Entscheidung für nicht.
eine Handlung zu kommen und Auch sind Situationen denkbar, in denen Prinzi-
■ beschreibt eine grundlegende Haltung von Pflege- pien konkurrieren, in der Pflege sind dies häufig die
personen. Prinzipien Autonomie und Fürsorge. Hier muss dann
entschieden werden, welches Prinzip in dieser Si-
tuation größere Bedeutung hat.

BAND 1 Pflege und Beziehung 267


9 Ethik und Pflege

!
Merke: Ethische Prinzipien fungieren als Der Respekt vor der Autonomie eines Menschen ist
theoretische Werkzeuge, die die Richtung abgeleitet von der Tatsache, dass alle Menschen
menschlichen Handelns aufzeigen, damit es einen bedingungslosen Wert an sich haben, wie es
als gut und richtig gelten kann. Sie tragen dazu bei, auch Immanuel Kant im zweiten Teil seines Katego-
Handeln zu begründen und in problematischen Situa- rischen Imperativs ausdrückt (s. a. 9.2.2 Normative
tionen zu einer guten und richtigen Entscheidung zu Ethik).
kommen. Respekt vor der Autonomie anderer Menschen
heißt, den Willen des anderen bei Entscheidungen
Die amerikanische Pflegewissenschaftlerin Sara T. einzubeziehen und zu respektieren. Grundsätzlich
Fry (1995) erachtet folgende ethische Prinzipien als bedeutet die Achtung des Prinzips der Autonomie
für die pflegerische Berufsausübung wichtig und auch, vor jeder Handlung, die Auswirkungen auf
hilfreich: einen anderen Menschen hat, ihn darüber zu infor-
■ Autonomie, mieren und sein Einverständnis einzuholen.
■ Wohltätigkeit, In der Geschichte der Betreuung kranker und
■ Gerechtigkeit, pflegebedürftiger Menschen ist mit diesem Prinzip
■ Aufrichtigkeit, nicht immer verantwortungsvoll umgegangen wor-
■ Loyalität. den. Häufig kam hier ein Modell zum Tragen, das
dem kranken Menschen die Rolle des Kindes, der
Diese Prinzipien und ihre Bedeutung für pflegeri- Krankenschwester die Mutter- und dem behandeln-
sches Handeln werden im Folgenden näher be- den Arzt die Vaterrolle zuschrieb. „Mutter“ und „Va-
schrieben. ter“ des kranken Menschen wussten am ehesten,
9 was für ihn, das „Kind“, das Beste war. Entsprechend
▌ Autonomie wenig wurden die „Kinder“ in Entscheidungen be-
Das Prinzip der Autonomie bezieht sich auf die Frei- züglich ihrer medizinischen und pflegerischen The-
heit des Menschen, willentlich zu denken und zu rapie einbezogen. Viele Patienten ordneten sich
handeln. Die zwei Aspekte der Autonomie werden ohne Widerspruch dieser Rollenzuschreibung unter.
entsprechend als Willensfreiheit und Handlungs- Heute hat dieses auch als „parentalistisch“ be-
bzw. Entscheidungsfreiheit bezeichnet. zeichnete Modell seine Tragfähigkeit und Gültigkeit
Unter Willensfreiheit wird dabei die innere Fä- eingebüßt, nicht zuletzt deshalb, weil immer mehr
higkeit des Menschen verstanden, überhaupt wäh- kranke und pflegebedürftige Menschen verständli-
len zu können bzw. einen Zustand von selbst anzu- cherweise auf ihr Informations- und Mitsprache-
fangen. recht bei Entscheidungen, die ihr Wohlbefinden be-
Der Mensch hat die Freiheit, sich in einem Pro- treffen, bestehen.
zess der Reflexion mit den Gegebenheiten auseinan- Besondere Relevanz für die Pflege hat das ethi-
derzusetzen und sie entweder gutzuheißen oder sie sche Prinzip der Autonomie deshalb, weil Pflegeper-
zu verwerfen und auf ihre Veränderung hinzuwir- sonen in ihrer pflegerischen Praxis häufig mit Situa-
ken. tionen konfrontiert werden, in denen die Willens-
Die Handlungsfreiheit ist immer dann gegeben, und Entscheidungsfreiheit von pflegebedürftigen
wenn unter mehreren Möglichkeiten eine gewählt Menschen eingeschränkt sein kann. In diesem Fall
werden kann. In diesem Zusammenhang gilt auch erfährt das Prinzip Autonomie Grenzen, z. B. wenn:
Nicht-Handeln als Handeln. ■ ein pflegebedürftiger Mensch über zu wenig In-
formationen verfügt, um eine Entscheidung tref-
Definition: Der Begriff Autonomie leitet sich fen zu können,
ab von den griechischen Worten „autos“ = ■ die Willens- und Entscheidungsfreiheit eines
„selbst“ und „nomos“ = „Gesetz“. Ein autonomer Menschen eingeschränkt ist, z. B. durch eine psy-
Mensch zu sein heißt demzufolge, freie Entscheidun- chische Erkrankung oder die besondere psy-
gen bezüglich des eigenen Lebensweges zu treffen und chische Situation, die sich aus der Auseinander-
dabei Rücksicht auf die autonomen Entscheidungen setzung mit einer schwerwiegenden Erkrankung
anderer Menschen zu nehmen. ergibt,

268 Pflege und Beziehung BAND 1


9.3 Pflegeethik

■ die Willens- und Entscheidungsfreiheit z. B. bei werden, damit er in die Lage versetzt wird, eine
komatösen Patienten ganz fehlt. echte Entscheidung über das weitere pflegerische
Vorgehen zu treffen. Dabei müssen mögliche Sach-
Auch bei der Pflege von Kindern sind dem Prinzip verhalte und Alternativen in einer für ihn verständ-
Autonomie Grenzen gesetzt, da die Willens- und lichen Sprache präsentiert werden.
Entscheidungsfähigkeit eng an die Reife der Persön- Das bedeutet auch, dass hier auf keinen Fall eine
lichkeit und damit an das Alter gekoppelt sind. Je Fachsprache verwendet werden darf (s. a. Kap. 10).
jünger ein Kind ist, desto weniger wird es in der Gegebenenfalls kann man sich rückversichern,
Regel als in der Lage betrachtet, autonome Entschei- indem der betroffene Mensch aufgefordert wird,
dungen zu treffen. In diesen Fällen treten die Eltern den Sachverhalt in seinen eigenen Worten zu wie-
als Entscheidungsträger auf; der volle rechtliche An- derholen. So kann man sichergehen, dass er ihn ver-
spruch auf eigenständige Entscheidungen beginnt standen hat.
erst mit der Vollendung des 18. Lebensjahres. In konkreten Situationen muss auch die jeweilige
Dies schließt jedoch nicht aus, dass auch jüngere psychische Situation eines Menschen berücksichtigt
Kinder dem Reifegrad ihrer Persönlichkeit entspre- werden: Schwierige private Situationen oder auch
chend in Entscheidungen, die ihr Wohlbefinden be- die Mitteilung einer schwerwiegenden medizi-
treffen, einbezogen werden sollten. Wenngleich es nischen Diagnose bedeuten häufig auch eine vorü-
wohl problematisch sein kann, Kindern die eigenstän- bergehende Einschränkung der Entscheidungsfähig-
dige Entscheidung zu überlassen, ob sie sich einer keit.
Chemotherapie unterziehen wollen oder nicht, kön- Hier ist es oftmals angebracht, die Entscheidung
nen auch jüngere Kinder durchaus in der Lage sein, zu vertagen, da sie in diesen Fällen am tatsächlichen
z. B. die Entscheidung zu treffen, ob sie lieber im Kran- Bedürfnis des betroffenen Menschen vorbeigeht, 9
kenhaus oder zu Hause gepflegt werden wollen. wenn er aktuell oder vorübergehend nicht in der
In jedem Fall sollte der Wunsch des Kindes Be- Lage ist, eine autonome Entscheidung zu treffen.
rücksichtigung finden, was auch hier bedeutet, dass Wie eng die Willens- und Entscheidungsfähigkeit
die relevanten Informationen in einer für Kinder eines Menschen mit seiner umfassenden und ver-
verständlichen Sprache vermittelt werden. antwortlichen Information verbunden ist, zeigt fol-
Aus dem Einbeziehen der Willens- und Entschei- gendes Beispiel:
dungsfreiheit haben sich zwei Konzepte in der Me-
dizin und auch in der Pflege entwickelt, die in kon- Beispiel: Herr Gardek ist 70 Jahre alt, ver-
kreten Situationen die Handhabung der Einwil- heiratet und Rentner. Seine Ehe blieb kin-
ligung erleichtern können: die „wirksame Einwil- derlos. Frau Gardek leidet seit mehreren
ligung“ und die „mutmaßliche Einwilligung“. Jahren an einer Depression, die medikamentös gut
eingestellt ist, von Zeit zu Zeit jedoch in eine akute
▌ Wirksame Einwilligung Phase übertritt. Herr Gardek liebt seine Frau sehr
Die wirksame Einwilligung eines Menschen in Maß- und fühlt sich für sie verantwortlich.
nahmen der Pflege und Therapie, die auch als sog. Vor 4 Wochen hat Herr Gardek bei der Miktion zum
„informed consent“ bezeichnet wird, gilt nicht nur ersten Mal Blut im Urin bemerkt. Sein Urologe über-
für die Teilnahme an Forschungsvorhaben, sondern weist ihn ins Krankenhaus, wo bei einer Blasenspie-
auch für die Einwilligung in die pflegerische Betreu- gelung mit Gewebeentnahme ein Blasen-Karzinom
ung und Behandlung. festgestellt wird. Der behandelnde Arzt klärt Herrn
Wer eine Entscheidung treffen soll bzw. seine Gardek über seine Diagnose auf und informiert ihn
Zustimmung zu etwas geben soll, benötigt Informa- gleichzeitig darüber, dass die einzig mögliche kurative
tionen darüber, was zu tun beabsichtigt ist und mit Therapie in der Entfernung der Harnblase mit an-
welchen Konsequenzen gerechnet werden muss. schließender Anlage einer künstlichen Urinableitung
Deshalb ist ein sorgfältiges Informieren über die (Urostomie) mit Beutelversorgung besteht.
möglichen Schritte eine wesentliche Voraussetzung Herr Gardek ist nach dem Gespräch sehr deprimiert.
für eine wirksame Einwilligung. Seine spontane Reaktion ist: „Sie können alles mit mir
Konkret bedeutet dies, dass dem betroffenen machen, aber einen Beutel am Bauch will ich auf kei-
Menschen alle relevanten Informationen gegeben nen Fall“. Er fragt sich auch, wie er seiner Frau die

BAND 1 Pflege und Beziehung 269


9 Ethik und Pflege

Diagnose mitteilen soll, ohne dass sie erneut in eine


depressive Phase hineinrutscht. Wert der Autonomie
Seine Sorgen und Befürchtungen äußert er gegenüber und Recht auf Selbstbestimmung
der für ihn zuständigen Pflegeperson, die nach den
Gründen für seine ablehnende Haltung gegenüber Einwilligung
dem Eingriff fragt und ihm aufmerksam zuhört. Sie
vermutet, dass seine ablehnende Haltung auf man-
gelndes Wissen über die Möglichkeiten der Stomaver-
Wirksame Mutma§liche
sorgung zurückzuführen ist. Einwilligung Einwilligung
Zusammen mit Herrn Gardek beschließt sie, ihm ver- (informed consent) (proxy consent)
schiedene Stomaversorgungssysteme zu zeigen, damit wenn der Patient selbst wenn der Patient nicht
einwilligen kann selbst einwilligen kann
er genauer einschätzen kann, wofür bzw. wogegen er
sich entscheidet. Sie macht ihm auch deutlich, dass
seine Entscheidung, unabhängig davon, wie sie letzt- Abb. 9.5 Aspekte der Einwilligung
endlich ausfällt, in jedem Falle respektiert wird.
Herr Gardek nutzt das Angebot der Pflegeperson und
entschließt sich nach einigen Tagen, die Blasenentfer- stützung, bei der meist von einer stillschweigen-
nung durchführen zu lassen. den Einwilligung ausgegangen wird)
■ das Recht auf eine individuelle und situations-
▌ Mutmaßliche Einwilligung bezogene Information
Die mutmaßliche Einwilligung, der sog. „proxy con- ■ das Recht, selbst festzulegen, was als das eigene
9 sent“, tritt dann in Kraft, wenn keine Einwilligung Wohl angesehen wird (auch gegen die fachlichen
vom betroffenen Menschen eingeholt werden kann. Überzeugungen der Helfer)
Dies ist z. B. der Fall, wenn eine psychische Erkran- ■ das Recht auf Wahl zwischen verschiedenen
kung (Manie, Depression etc.), ein Koma oder ein möglichen Alternativen
apallisches Syndrom vorliegen. Andere Menschen ■ das Recht auf eine möglichst geringe Einschrän-
treffen für den Pflegebedürftigen dann stellvertre- kung des eigenen Handlungsspielraums durch die
tend eine Entscheidung – und zwar so, dass nach Institution (Bobbert 2002; zit. n. Rabe 2009, S. 132)
dem mutmaßlichen Willen des betroffenen Men-
schen entschieden wird. Da ein grundlegendes ethi- Pflegende respektieren die Autonomie pflegebe-
sches Prinzip betroffen ist, werden hier alle an Pfle- dürftiger Menschen, indem sie sie dabei unterstüt-
ge und Therapie beteiligten Personen sowie Ange- zen, den für sie besten Weg bei einer Entscheidung
hörige oder wichtige Bezugspersonen eines Men- zu finden. Sie bringen dabei ihr Wissen und Können
schen für die Entscheidungsfindung herangezogen. sowie ihre Wertungen und Einschätzungen unter-
Auch wenn in einem solchen Fall andere Men- stützend und beratend ein.
schen für den Betroffenen selbst die Entscheidung
treffen müssen, bleibt es eine Entscheidung nach ▌ Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und
dem mutmaßlichen Willen des Betroffenen, die auf Betreuungsverfügung
diese Weise den Respekt vor der Autonomie wahrt. Die Autonomie eines Menschen gilt auch in Situatio-
Den Zusammenhang zwischen Autonomie, Ein- nen, in denen er seinen Willen nicht oder nicht
willigung sowie „Wirksame Einwilligung“ (informed mehr äußern kann. Für diese Situationen kann
consent) und „Mutmaßliche Einwilligung“ (proxy jeder Mensch eine Patientenverfügung, Vorsor-
consent) zeigt Abb. 9.5. gevollmacht und/oder Betreuungsverfügung erstel-
Die Achtung vor der Autonomie eines pflegebe- len.
dürftigen Menschen lässt sich auf fünf Kernaspekte Gesetzlich geregelt sind Patientenverfügungen
zusammenführen: im 3. Betreuungsänderungsgesetz als Teil des BGB,
■ das Recht auf Zustimmung oder Ablehnung auch das im September 2009 in Kraft getreten ist. Danach
von Handlungen, die in der Absicht zu helfen ist die Patientenverfügung „eine schriftliche Fest-
geschehen (insbesondere bei körpernaher Unter- legung eines einwilligungsfähigen Volljährigen für
den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit, ob er in

270 Pflege und Beziehung BAND 1


9.3 Pflegeethik

▌ Wohltätigkeit
bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch
nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen Definition: Das Prinzip „Wohltätigkeit“ ist
seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen „die Verpflichtung Gutes zu tun und Leiden zu
oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt“ verhüten“ (Fry 1995, S. 26).
(§ 1901 a Abs. 1 Satz 1 BGB). Eine Patientenver-
fügung ist folglich die schriftliche Niederlegung des Strenggenommen fallen hierunter die ethischen
erklärten Willens eines Menschen. Sie gibt Auskunft Prinzipien der „Benefizienz“ und der „Non-malefi-
darüber, was ein Mensch in Fragen der Gesundheits- zienz“.
versorgung wollen und wünschen wird, wenn er Der Begriff „Benefizienz“ kommt aus der lateini-
nicht mehr in der Lage ist, seinen Willen aktiv und schen Sprache und bedeutet „Wohltat“. Hierunter
selbstbestimmt zu äußern. Sie ist eine vorsorgliche werden Handlungen verstanden, die auf das Wohl-
Willenserklärung, die dann wirksam wird, wenn der ergehen anderer Menschen abzielen. Das Prinzip der
Betroffene nicht mehr in der Lage ist, seine notwen- Benefizienz beschreibt eine moralische Verpflich-
dige Zustimmung oder Ablehnung zu einer Behand- tung, zum Wohl anderer Menschen zu handeln.
lungsmaßnahme direkt zu äußern. Pflegerisches Handeln zielt auf das Wohlergehen
Vielfach wird zusätzlich zur Anfertigung einer des pflegebedürftigen Menschen. Das bedeutet, dass
Patientenverfügung auch die schriftliche Nieder- alle pflegerischen Maßnahmen zum Wohl des zu
legung einer Vorsorgevollmacht empfohlen. Sie pflegenden Menschen beitragen sollen. Was im Ein-
kann für unterschiedliche Bereiche erstellt werden, zelnen das Wohl des pflegebedürftigen Menschen
z. B. für Rechtsgeschäfte in Vermögensangelegenhei- ausmacht, ist sehr individuell. Der ICN-Kodex kon-
ten, für Aufenthalt- und Wohnungsangelegenheiten, kretisiert dies in den vier grundlegenden Aufgaben
Behörden etc. Der Vollmachtgeber überträgt für den pflegerischen Handelns: 9
Fall, dass er selbst geschäfts- und einwilligungsunfä- ■ Gesundheit fördern,
hig ist, einer Person seines Vertrauens die Voll- ■ Krankheit verhüten,
macht, für ihn gemäß seinem Willen zu handeln. ■ Gesundheit wiederherstellen und
Für die Betreuung und Pflege in Einrichtungen des ■ Leiden lindern.
Gesundheitswesens ist insbesondere eine Vorsor-
gevollmacht in Gesundheits- und Aufenthaltsange- Unter Non-malefizienz wird das Bewahren vor Scha-
legenheiten wesentlich. Hierin werden die Befugnis- den verstanden. Der Begriff leitet sich ab aus dem
se des Bevollmächtigten zur Einwilligung bzw. Ab- Lateinischen und bedeutet „keinen Schaden zufü-
lehnung von ärztlichen Maßnahmen, zur Unterbrin- gen“. Pflegerisches Handeln soll so ausgerichtet
gung mit freiheitsentziehender Wirkung und zu sein, dass es dem pflegebedürftigen Menschen
freiheitsentziehenden Maßnahmen (z. B. durch Bett- nicht schadet.
gitter, Medikamente und Ähnliches) in einem Heim Beide Prinzipien verlangen von Pflegepersonen
oder in einer sonstigen Einrichtung geregelt. u. a., dass sie ihre Fachkenntnisse auf dem aktuellen
Darüber hinaus können in einer sogenannten Be- Stand der Wissenschaft halten, um zum größtmög-
treuungsverfügung Wünsche geäußert werden, wel- lichen Wohl des pflegebedürftigen Menschen bei-
che Person im Falle einer Betreuungsbedürftigkeit tragen zu können und Schaden durch wissenschaft-
als gesetzlicher Vertreter vom Betreuungsgericht lich überholte Pflegehandlungen zu vermeiden.
eingesetzt werden soll.
Zusammenfassung:

!
Merke: Schriftlich verfasste Patientenver- Ethische Prinzipien für die Pflegepraxis
fügungen, Vorsorgevollmachten und Betreu- ■ zeigen die Richtung für ethisches Handeln auf,
ungsverfügungen sind vorsorgliche Willens- ■ sind Entscheidungshilfe und tragen dazu bei, Han-
erklärungen eines Menschen. Sie werden dann wirk- deln zu begründen.
sam, wenn der Betroffene nicht mehr in der Lage ist,
seine notwendige Zustimmung oder Ablehnung zu
einer Behandlungsmaßnahme direkt zu äußern und
sind im konkreten Entscheidungsfall für alle Beteilig-
ten bindend.

BAND 1 Pflege und Beziehung 271


9 Ethik und Pflege

▌ Gerechtigkeit ▌ Aufrichtigkeit
Das Prinzip „Gerechtigkeit“ geht zurück auf Aristo- Das Prinzip „Aufrichtigkeit“ verpflichtet, die Wahr-
teles, der hierzu den Satz prägte: „Gleiches muss heit zu sagen, nicht zu lügen bzw. andere zu hinter-
gleich, Ungleiches ungleich behandelt werden“. gehen. Es bezieht sich wesentlich auf die Kommuni-
Diese Ausführung ist eine formale Bestimmung der kation zwischen Menschen und damit natürlich
Gerechtigkeit, denn sie macht keine genaueren An- auch auf die Gestaltung zwischenmenschlicher Be-
gaben dazu, unter welchen Umständen zwei oder ziehungen.
mehr Menschen als gleich oder ungleich gelten. Auch das Prinzip der Aufrichtigkeit ist nicht nur
Hieraus lässt sich jedoch ableiten, dass Menschen in der Pflege von Bedeutung. Überall da, wo Men-
nicht ungleich behandelt werden sollten, es sei schen miteinander in Beziehung treten – auch im
denn, dass es wichtige Aspekte einer Situation gibt, privaten Alltag, ist Aufrichtigkeit im Reden und Han-
die dies rechtfertigen. Die Frage bleibt: Was ist deln wichtig.
Gleichheit? In der beruflich ausgeübten Pflege treten Men-
Der formale Aspekt dieser Aussage benötigt folg- schen auf einer professionellen Basis miteinander in
lich eine Konkretisierung. Arndt (1996, S. 63) schlägt Beziehung. Der Pflegeprozess als methodisches Han-
hierzu unter Bezug auf Beauchamp und Childress deln ist neben einem Problemlösungs- auch ein Be-
(1989) fünf Möglichkeiten gerechter Verteilung vor: ziehungsprozess (s. a. Kap. 6). Hierbei nimmt die in-
1. jeder Person das Gleiche, terpersonale Kommunikation einen hohen Stellen-
2. jeder Person entsprechend individueller Bedürf- wert ein. Sie ist wesentlich an der Gestaltung eines
nisse, erfolgreichen Pflegeprozesses zwischen Pflegeper-
3. jeder Person entsprechend eigener Bemühungen, sonen und pflegebedürftigen Menschen beteiligt.
9 4. jeder Person im Austausch für eigene Beiträge, Der Aufbau einer tragfähigen und vertrauensvol-
5. jeder Person nach den Gesetzen des freien Mark- len Beziehung ist wiederum untrennbar verbunden
tes. mit der Aufrichtigkeit und Authentizität der Bezie-
hungspartner, denn Vertrauen kann nur dort entste-
Das Prinzip der Gerechtigkeit ist überall dort von hen, wo sich die beteiligten Personen gegenseitig
besonderer Bedeutung, wo knappe Ressourcen ge- auf die Ehrlichkeit des anderen verlassen können.
recht verteilt werden sollen. Ein aktuelles Problem, Ist dies nicht der Fall, wird eine erfolgreiche und
das unter dem Prinzip der Gerechtigkeit diskutiert effiziente pflegerische Betreuung nur schwer bzw.
wird, ist beispielsweise die Verteilung von Organen überhaupt nicht möglich sein.
zur Organtransplantation. Das Prinzip der Aufrichtigkeit ist auch eng mit
Bezogen auf die pflegerische Berufsausübung dem Prinzip der Autonomie verbunden. Pflegebe-
geht es bei der Diskussion über Gerechtigkeit um dürftige Menschen haben ein Recht darauf, umfas-
die gerechte „Verteilung“ pflegerischer Dienstleis- send über die sie betreffenden Dinge informiert zu
tung. Fry hält hierfür die Zuteilung von pflegeri- werden, da das Treffen von Entscheidungen mög-
schen Leistungen entsprechend den individuellen lichst viele und richtige Informationen voraussetzt.
Bedürfnissen eines Menschen für angebracht. Hier können Schwierigkeiten mit dem Prinzip
Sie interpretiert das Prinzip Gerechtigkeit so, der Aufrichtigkeit für Pflegepersonen besonders
dass Menschen, die gleiche Pflegebedürfnisse haben, dann entstehen, wenn es um die Aufklärung eines
auch gleiche Pflegeleistungen erhalten sollten. pflegebedürftigen Menschen hinsichtlich seiner me-
Ebenso sollten diejenigen, die größere Bedürfnisse dizinischen Diagnose geht. Die Aufklärungsverant-
haben, entsprechend mehr Pflegeleistungen erhal- wortung bzw. -pflicht liegt beim Arzt. Häufig
ten. kommt es hier zu der Situation, dass Pflegepersonen
Unter das Prinzip der Gerechtigkeit fällt auch die bereits früher als der pflegebedürftige Mensch über
Tatsache, dass alle Menschen, unabhängig von ihrer seine medizinische Diagnose informiert sind. Sie
Rasse, Kultur, Hautfarbe etc., den gleichen Zugang zu dürfen aber mit dem betroffenen Menschen von
und den prinzipiell gleichen Anspruch auf pflegeri- Rechts wegen nicht darüber sprechen, was zu inne-
sche Leistungen erhalten sollten. Dieser Aspekt ist ren Konflikten führen und die Beziehung zum pfle-
beispielsweise auch im ICN-Kodex beschrieben. gebedürftigen Menschen beeinträchtigen kann.

272 Pflege und Beziehung BAND 1


9.3 Pflegeethik

▌ Loyalität
Das Prinzip „Loyalität“ beschreibt die Verpflichtung,
sich selbst oder anderen Menschen gegenüber treu Autonomie
zu bleiben. Loyalität kann beispielsweise gefordert
sein gegenüber einer Regierung, einem Vorgesetzten
oder auch gegenüber Berufskollegen. Dialog Fürsorge
Sich loyal gegenüber Berufskollegen zu verhalten, Würde
zeigt sich konkret beispielsweise in der Tatsache,
dass vor pflegebedürftigen Menschen, deren Ange-
hörigen oder Mitarbeitern anderer Berufsgruppen Verant-
wortung Gerechtigkeit
nicht schlecht über diese Kollegen gesprochen wird.
In der Pflege geht es aber nicht nur um die Loya-
lität gegenüber Mitarbeitern oder Vorgesetzten, son-
Abb. 9.6 Ethische Prinzipien für die Ethik in der Pflege (nach
dern auch um die Verpflichtung zur Treue gegen- Rabe 2009)
über dem pflegebedürftigen Menschen. Diese Ver-
pflichtung ergibt sich aus der pflegerischen Bezie-
hung und umfasst beispielsweise den vertraulichen Als Person kommt dem Menschen Würde zu – so
Umgang mit Informationen von und über den pfle- hat es auch Kant im zweiten Teil des Kategorischen
gebedürftigen Menschen. Imperativs formuliert (s. a. Kap. 9.2.2). Im Gesund-
heitswesen ist die Würde eine Menschen häufig be-
Definition: Die Pflicht, solche Informationen droht: Körperliche oder psychische Einschränkun-
vertraulich zu behandeln, wird auch als Berufs- gen führen zur Abhängigkeit von Helfern, Experten- 9
geheimnis oder berufliche Schweigepflicht be- wissen und institutionelle Routinen sind häufig nur
zeichnet. schwer zu durchschauen, auch in der Sprache wer-
den pflegebedürftige Menschen durch die Bezeich-
Die Bedeutung, die der Wahrung des Berufsgeheim- nung „Patient“ entpersonalisiert. Bedeutung hat das
nisses und der Schweigepflicht zugemessen wird, ethische Prinzip „Würde“ in der Pflege vor allem,
erkennt man auch daran, dass sie als grundlegende weil Pflegende Körper- und Schamgrenzen über-
Pflicht in vielen pflegerischen Ethik-Kodizes be- schreiten, bei sehr persönlichen Lebensaktivitäten
schrieben und in der Bundesrepublik Deutschland wie Körperpflege, Ausscheidung, Ernährung unter-
in § 203 des Strafgesetzbuches geregelt ist. stützen und nicht zuletzt auch Verständnis, Zuwen-
Auch die deutsche Pflegeethikerin Marianne dung und Begleitung anbieten. Mit Informationen
Rabe (2009) beschreibt ethische Prinzipien für die vertraulich umgehen sowie das Einverständnis vor
pflegerische Berufsausübung. Neben Verantwor- jedweder Handlung mit und an pflegebedürftigen
tung, Autonomie und Gerechtigkeit beschreibt sie Menschen einholen, sind wichtige Aspekte einer
Würde, Fürsorge und Dialog, die sie im Gesundheits- Pflege, die die Würde des Menschen beachtet.
wesen und in der Pflege als besonders verletzlich
und für die Bewahrung einer guten moralischen Fürsorge. Fürsorge wird laut Duden definiert als „tä-
Praxis als sehr wichtig erachtet. tige Bemühung um jemanden, der der Fürsorge be-
darf“ (Duden 2011). Der Begriff wird verwendet z. B.
Würde. Rabe stellt die Würde als übergeordnetes im Zusammenhang mit der Sorge von Eltern für ihre
Prinzip in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen; Kinder (elterliche Fürsorge) oder auch – etwas ver-
alle anderen Prinzipien sind auf sie bezogen und altet – für öffentliche Mittel, die Bedürftigen zukom-
konkretisieren jeweils spezifische Aspekte der men. Als ethisches Prinzip sieht Rabe die Fürsorge
Würde (Abb. 9.6). Alle sechs Prinzipien ergänzen als Antwort oder Reaktion des Menschen auf Ver-
und korrigieren sich; die Überbetonung eines Prin- letzlichkeit oder Leiden eines anderen Menschen –
zips führt häufig zur Verletzung eines anderen, z. B. als „professionalisierte Nachfolgerin des alten Lie-
kann sehr fürsorgliches Handeln Menschen in ihrer besideals“ in der Pflege“. Sie ist die unterstützende
Autonomie einschränken. Handlung für einen Menschen und eng verbunden
mit dem Prinzip „Autonomie“. In vielen Pflegesitua-

BAND 1 Pflege und Beziehung 273


9 Ethik und Pflege

tionen kann es für Pflegende eine große Herausfor- Die beschriebenen Prinzipien bestimmen die grund-
derung sein, das Recht eines Menschen auf Selbst- sätzliche Richtung pflegerischen Handelns. Als
bestimmung im fürsorglichen pflegerischen Han- Grundsätze der Ethik tragen sie dazu bei, mensch-
deln angemessen zu berücksichtigen. lichem Handeln eine gute und richtige Richtung zu
weisen. Nicht immer ist es möglich, alle dieser Prin-
Dialog. Für Rabe umfasst Dialog als ethisches Prinzip zipien in vollem Umfang im pflegerischen Handeln
den „gegenseitigen Respekt, Gleichberechtigung und zu verwirklichen.
Gerechtigkeit, das Bemühen um Verstehen und Kon- In manchen Situationen können auch mehrere
sens, sowie Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit und Un- Prinzipien betroffen sein, die miteinander konkur-
voreingenommenheit“ (Rabe 2009). Insbesondere rieren, so dass die Wahl des guten und richtigen
im Gesundheitswesen beschreibt sie die Kommuni- Handelns schwerfällt. Dennoch können sie eine
kation und Interaktion als geprägt von Ritualen, wichtige Hilfe sein, wenn es darum geht, eigenes
Machtstrukturen und Zeitmangel – alles Aspekte, Handeln verantwortlich zu gestalten und zu begrün-
die einem auf Verständigung und gegenseitigen Res- den, wie in folgendem Beispiel:
pekt ausgerichteten Miteinander entgegenstehen.
Für Pflegende ist es wichtig, eine dialogische Grund- Beispiel: Herr Schmidt, 74 Jahre, ist verwit-
haltung zu entwickeln, die Wünsche und Bedürfnis- wet und seit dem Tod seiner Frau vor 6 Mo-
se pflegebedürftiger Menschen ernst nimmt und naten im Alten- und Pflegeheim. Vor 3 Jah-
versucht, Ursachen und Bedingungen für spezifische ren erlitt er einen linkshirnigen Apoplex, der zu einer
Verhaltensweisen zu ergründen und zu verstehen – Hemiplegie der rechten Körperseite führte.
insbesondere dann, wenn eine empfohlene pflegeri- Bis zu ihrem Tod hatte seine Frau ihn zu Hause ge-
9 sche oder medizinische Therapie abgelehnt wird. pflegt. Herr Schmidt ist seit 15 Jahren an einem insu-
Rabe sieht die dialogische Grundhaltung aber auch linpflichtigen Diabetes mellitus erkrankt und benötigt
als wesentlich für den Umgang innerhalb der eige- 2 × täglich eine Insulininjektion. Die Injektionen wer-
nen Berufsgruppe und im interprofessionellen Kon- den vom Pflegepersonal verabreicht, da Herr Schmidt
text. In einem konfliktfreien Umfeld können sich aufgrund seiner Hemiplegie und einer Sehbehin-
pflegebedürftige Menschen sicher und „in guten derung durch eine diabetische Retinopathie die Ein-
Händen“ fühlen – und ethische Problemstellungen heiten an der Spritze nicht selbst ablesen kann.
gemeinsam diskutiert und angegangen werden. Herr Schmidt kommt mit seiner veränderten sozialen
Situation, dem Verlust und der Trauer um seine Frau
Zusammenfassung: sowie dem Umzug ins Alten- und Pflegeheim schlecht
Ethische Prinzipien (Pflegepraxis) zurecht, was sich in einer aggressiven Grundhaltung
■ Autonomie: Willens- und Handlungs- bzw. Ent- und häufigen Beschwerden über das Essen, sein Zim-
scheidungsfreiheit des pflegebedürftigen Menschen mer und vor allem über die pflegerische Betreuung
respektieren, z. B. über „wirksame“ und „mutmaß- äußert.
liche Einwilligung“, Frau Hartmann hat vor 6 Wochen ihr Altenpflegeexa-
■ Wohltätigkeit: Pflegerisches Handeln auf das men erfolgreich bestanden und ist an diesem Wochen-
Wohlergehen des pflegebedürftigen Menschen aus- ende die verantwortliche Pflegeperson für Herrn
richten und ihn vor Schaden bewahren, Schmidt. 30 Minuten vor dem Abendessen bereitet
■ Gerechtigkeit: Gleiches muss gleich, Ungleiches un- sie das Insulin für Herrn Schmidt vor und injiziert
gleich behandelt werden, z. B. Pflegeleistungen an es. Bei der Dokumentation der Insulin-Injektion stellt
der Pflegebedürftigkeit ausrichten, sie fest, dass sie versehentlich die für morgens vor-
■ Aufrichtigkeit: Nicht lügen, die Wahrheit sagen, gesehene Insulinmenge injiziert hat.
(Grundlage für den Beziehungsprozess zwischen Wie soll sich Frau Hartmann Ihrer Meinung nach ver-
Pflegeperson und pflegebedürftigem Menschen), halten? Welche ethischen Prinzipien sind betroffen?
■ Loyalität: Treu zu jemandem stehen, z. B. Vertrau-
licher Umgang mit Informationen, berufliche
Schweigepflicht wahren.

274 Pflege und Beziehung BAND 1


9.4 Ethische Entscheidungsfindung

Beispiel: Frau Zertel, 44 Jahre, ist verhei-


9.4 Ethische ratet und hat 2 Kinder im Alter von 18 und
Entscheidungsfindung 20 Jahren. Seit einiger Zeit fühlt sie sich
schlapp und antriebslos. Hinzu kommt, dass ihre Mo-
Ethische Prinzipien sind ein wichtiges Hilfsmittel, natsblutung in letzter Zeit sehr unregelmäßig ist und
um menschlichem Handeln eine moralisch richtige sie, obwohl objektiv keine Gewichtszunahme fest-
und gute Richtung zu geben. Die Problematik in zustellen ist, neuerdings Probleme hat, ihre Hosen
konkreten Situationen ist häufig jedoch sehr kom- und Röcke im Bund zu schließen.
plex, d. h. es kommen mehrere Prinzipien zum Tra- Ihr Gynäkologe weist sie zur genaueren Abklärung in
gen oder es sind mehrere gleichrangige Werte be- die örtliche Klinik ein. Dort wird nach einer Ultra-
troffen, die miteinander konkurrieren (s. a. schalluntersuchung eine Geschwulst am Eierstock
Kap. 9.1.1). festgestellt. Die bei der Laparotomie entnommene Ge-
Dennoch müssen auch in diesen moralisch pro- webeprobe ergibt ein Ovarial-Karzinom, das bereits in
blematischen Situationen Entscheidungen für oder das umliegende Gewebe metastasiert hat und als in-
gegen Handlungen getroffen werden. operabel eingestuft wird.
Der betreuende Arzt spricht zuerst mit Herrn Zertel

!
Merke: Die Fähigkeit, moralische Entschei- über die Diagnose seiner Frau und erklärt ihm, dass
dungen zu treffen, wird zu den wesentlichen seine Frau unheilbar erkrankt ist. Herr Zertel bittet
Merkmalen einer professionellen Pflege ge- den Arzt, seiner Frau die infauste Prognose nicht mit-
rechnet. zuteilen, da Frau Zertels Mutter erst vor 2 Jahren nach
langem Leiden an Brustkrebs verstorben ist. Herr Zer-
Bevor einige Hilfsmittel zur moralischen Entschei- tel möchte, dass seine Frau ihre letzten Monate unbe- 9
dungsfindung vorgestellt werden, soll zunächst ge- schwert verbringen kann. Er ist der Meinung, dass es
klärt werden, welche Merkmale ein Problem zu seiner Frau noch schlechter ginge, wenn sie die Wahr-
einem moralischen Problem machen. heit erführe.
In der beruflich ausgeübten Pflege sind es im Der Arzt respektiert den Wunsch von Herrn Zertel.
Wesentlichen vier Problemfelder für moralische Frau Zertel ist zu diesem Zeitpunkt so schwach, dass
Konflikte: sie ihre Körperpflege nicht selbstständig durchführen
1. Konflikte zwischen Pflegepersonen und pflege- kann. Bei der morgendlichen Hilfestellung fragt Frau
bedürftigen Menschen, Zertel ihre Bezugspflegeperson: „Ich fühle mich so
2. Konflikte innerhalb der pflegerischen Berufs- schwach und jetzt kann ich mich nicht einmal mehr
gruppe, selbst waschen. Wenn ich den Arzt frage, warum es
3. Konflikte zwischen Pflegepersonen und Angehö- mir so schlecht geht, habe ich das Gefühl, er weicht
rigen anderer Berufsgruppen, mir aus. Ich glaube, dass ich sterben muss. Das stimmt
4. Konflikte zwischen persönlichen und beruflichen doch, Schwester, oder?“
Werten. Wie soll sich die zuständige Pflegeperson verhalten?

Moralische Konflikte unterscheiden sich von nicht- Um in einer solchen Situation Klarheit zu gewinnen,
moralischen Konflikten dadurch, dass ein oder meh- sollte versucht werden, das moralische Problem und
rere moralische Werte und Normen beteiligt sind, den Kontext, in dem es auftritt, möglichst genau zu
von denen nicht alle gleichzeitig im Handeln ver- beschreiben, die beteiligten Werte und Prinzipien zu
wirklicht werden können. So entsteht Unsicherheit identifizieren und unter Einbezug aller Betroffenen
darüber, wie in dieser Situation richtig entschieden und unter Zuhilfenahme ethischer Theorien und
werden kann. Im Folgenden ein Beispiel für diesen Prinzipien zu einer gemeinsamen und verantwort-
Konflikt: lichen Entscheidung zu kommen.

9.4.1 Modell für die ethische Reflexion


Marianne Rabe (2009) schlägt für die ethische Re-
flexion konkreter Problemstellungen und Entschei-
dungskonflikte in der Berufspraxis ein Modell in

BAND 1 Pflege und Beziehung 275


9 Ethik und Pflege

drei Schritten vor (Abb. 9.7). Nach einer Schilderung sens) wichtig, sondern auch deren jeweilige Begrün-
der Situation sollen zunächst die persönlichen Reak- dungen und Erläuterungen. Insbesondere hierin
tionen der Diskussionsteilnehmerinnen thematisiert drückt sich laut Rabe die ethische Kompetenz der
werden. Die spontane Äußerung von Gefühlen wie Beteiligten aus, die sie als wichtiges Bildungsziel be-
moralischem Unbehagen, Mitgefühl, Empörung etc. schreibt.
trägt dazu bei, diese potenziellen Störfaktoren aus- Im Gegensatz zu den im Folgenden beschriebe-
zuschalten und den Weg frei zu machen für die Be- nen Stufenplänen und Modellen ist das Modell der
trachtung der Situation aus Sicht der jeweiligen be- ethischen Reflexion wesentlich weniger stark durch
teiligten Personen. Auf dieser Basis können mögliche Fragestellungen strukturiert. Rabe sieht hierin die
Handlungsalternativen für die aktuelle Situation er- Chance, die Diskussion stärker geleitet durch die As-
mittelt werden. pekte des aktuellen Problems und durch die Interes-
Für den Schritt der ethischen Reflexion ist die sen, Erkenntnisse und Gedanken der Teilnehmerin-
Bestimmung des ethischen Problems zentral, das nen zu leiten. Dabei ist ihrer Meinung nach die Ge-
vor dem Hintergrund der in der Situation bedeut- fahr geringer, inhaltliche Aspekte zugunsten des Ab-
samen Grundsätze, Prinzipien und Werthaltungen arbeitens der Prozessschritte zu vernachlässigen.
diskutiert wird. Dabei ist auch die Frage nach der
Verantwortung für die Situation und den Ebenen, 9.4.2 Stufenpläne
auf denen die Verantwortung angesiedelt ist (per- Ein wichtiges Hilfsmittel bei der Suche nach einer
sönlich, institutionell, gesellschaftspolitisch), we- verantwortlichen Problemlösung können sogenann-
sentlich. te Stufenpläne sein – auch als Bezugsrahmen für
Schließlich werden im dritten Schritt die Er- ethische Entscheidungsfindungen bezeichnet. Es
9 kenntnisse aus der Diskussion als ethisch begründe- gibt eine ganze Reihe unterschiedlicher Bezugsrah-
te Beurteilung zusammengefasst. Dabei sind nicht men.
nur die Feststellungen als solche (Konsens oder Dis- Allen gemeinsam ist, dass sie einen Rahmen bie-
ten, der die systematische und methodische Heran-
gehensweise an ein bestehendes moralisches Pro-
blem unterstützt. Sie tragen dazu bei, die aktuelle
1. Situationsanalyse
Problemsituation genau zu untersuchen, um mög-
• Persönliche Reaktionen
lichst alle relevanten Informationen und Interessen
• Die Sicht der anderen.
Perspektive aller am Fall beteiligten Personen der beteiligten Personen offenzulegen.
• Alternative Handlungsmöglichkeiten und ihre Einige dieser Bezugsrahmen sind – ähnlich wie
Folgen für die Betroffenen der Pflegeprozess – in Form eines Problemlösungs-
prozesses konzipiert (s. a. Kap. 6). Verena Tschudin
2. Ethische Reflexion
(1988) hat ihr Stufenmodell zur ethischen Entschei-
• Benennung des ethischen Problems
• Formulierung der normativen Orientierungen dungsfindung ausdrücklich an die Schritte des Pfle-
und übergeordneten Prinzipien1, die für diese geprozesses angelehnt. Es wird im Folgenden vor-
Situation von Bedeutung sind gestellt und erläutert.
• Verantwortungsebenen:
– persönlich
▌ Stufenplan für den ethischen
– institutionell
– gesellschaftspolitisch Entscheidungsfindungsprozess
▌ Erster Schritt: Erkennen des Problems
3. Ergebnisse
■ Handelt es sich um ein aktuelles oder um ein
• Ethisch begründete Beurteilung
• Konsens/Dissens
potenzielles Problem?
• Nötige praktische Konsequenzen und ihre Durch- ■ Wie ist das Problem entstanden?
setzung ■ Weshalb ist es ein schwieriges Problem?
1
■ Welche Fakten sind wichtig? Welche Fakten sind
Zu den normativen Orientierungen gehören die
moralischen Normen, Grundsätze und Werthal- irrelevant oder unwichtig?
tungen, die den Diskutanten zu dem Fall einfallen. ■ Welche Werte sind in Frage gestellt?
■ Weist das Problem Aspekte auf, die zur Aufwer-
Abb. 9.7 Modell für die ethische Reflexion (nach Rabe 2009) tung der Person eines Beteiligten beitragen, oder

276 Pflege und Beziehung BAND 1


9.4 Ethische Entscheidungsfindung

solche, die sich mit dem Gewissen von Beteilig- ■ Geht es um die Frage, ob weiter behandelt wer-
ten nicht vereinbaren lassen? den soll oder nicht?
■ Welches sind die Ansichten des Patienten? Was ■ Geht es um Werte, die einander widersprechen?
will er? ■ Welche Werte sind wichtiger? Weshalb?
■ Welche Personen sind direkt betroffen? ■ Ist es eine Frage der beruflichen Beziehungen?
■ Welche Rolle spielen die beteiligten Personen? ■ Wird an eine Klausel der Berufsethik appelliert?
■ Wie sieht jede einzelne Person das Problem? ■ Wird dadurch die Situation beeinflusst oder ver-
■ Welches sind die Erwartungen jeder Person be- ändert?
züglich des Ergebnisses? ■ Ist ein Kompromiss möglich, oder muss das Pro-
■ Welche Personen haben eine Schlüsselposition? blem durch einen entschiedenen Schritt gelöst
■ Wie sieht die allgemeine, pflegerische, medizi- werden?
nische und soziale Situation dieser Schlüsselper-
son(en) aus? ▌ Dritter Schritt: Ausführung
■ Welche Aspekte lassen sich verändern, welche ■ Was soll getan werden?
nicht? ■ Wer tut es? Wann? Wie?
■ Lässt sich dieses Problem mit andern Situationen
oder ähnlichen Fällen vergleichen? ▌ Vierter Schritt: Auswertung
■ Welche weiteren wesentlichen Punkte sind zu ■ Ist das Problem durch die Entscheidung gelöst
berücksichtigen? worden? Wenn nicht, weshalb nicht?
■ Inwiefern hat die Lösung eines spezifischen Pro-
▌ Zweiter Schritt: Planung blems einen Einfluss auf das Verhalten in wei-
■ Welche Vorgehen sind möglich? teren ähnlichen Fällen? 9
■ Welches sind die kurzfristigen oder langfristigen ■ Waren die Erwartungen realistisch? Wenn nicht,
Möglichkeiten? weshalb nicht?
■ Welches sind die möglichen Folgen jedes Vor- ■ Waren nur einzelne Aspekte realistisch? Welche?
gehens? ■ Weshalb waren einzelne Aspekte nicht realis-
■ Wem wird geholfen? tisch?
■ Inwiefern ist es überhaupt möglich, zu einem Er- ■ Wenn wir noch einmal entscheiden müssten,
gebnis zu gelangen? würden wir wieder gleich entscheiden? Wenn
■ Wird jemandem durch ein bestimmtes Ergebnis nicht, weshalb nicht?
Schaden zugefügt? Wenn ja, wie? ■ Können wir sagen, dass die Entscheidung zur
■ Ist das Problem mit einer einzigen Entscheidung Mehrung des Guten beigetragen hat?
größer oder ist anzunehmen, dass weitere Ent- ■ Haben andere Leute von der ursprünglichen Ent-
scheidungen notwendig sein werden? scheidung ebenfalls einen Nutzen gehabt?
■ Besteht ein zeitliches Limit? ■ Waren, dank dieser Entscheidung, weitere ähn-
■ Welches ist die grundsätzliche Frage bei diesem liche Entscheidungen leichter zu fällen?
Problem? ■ Ist irgendein Aspekt dieser ethischen Entschei-
■ Geht es um das Recht der Person oder um die dung zu einem universellen Gesetz geworden?
Handlung (Deontologie)?
■ Geht es darum, die Wünsche des Patienten zu Das Modell systematisiert die ethische Entschei-
respektieren? dungsfindung in den vier Schritten
■ Geht es um berufliche Verantwortung? 1. Analyse,
■ Welche ethischen Prinzipien stehen auf dem 2. Planung,
Spiel? 3. Durchführung und
■ Besteht ein Konflikt zwischen diesen Prinzipien 4. Evaluation.
oder überschneiden sie sich?
■ Welches dieser Prinzipien ist das wichtigste? Innerhalb der einzelnen Phasen des Modells formu-
■ Geht es um die Folgen einer Handlung (Teleolo- liert Tschudin eine Reihe von Fragen, die helfen, das
gie)? moralische Problem, die betroffenen Werte und

BAND 1 Pflege und Beziehung 277


9 Ethik und Pflege

!
Standpunkte der beteiligten Personen und Folgen Merke: Stufenpläne bzw. Bezugsrahmen für
möglicher Entscheidungen genau zu bestimmen. ethische Entscheidungsfindungen sind Hilfs-
In der Phase der Analyse wird die aktuelle pro- mittel, die den Prozess der Entscheidungs-
blematische Situation so genau wie möglich be- findung strukturieren und systematisieren.
schrieben, damit das moralische Problem genau be-
stimmt und besser verstanden werden kann. Hierbei ▌ Einsatz von Stufenplänen
geht es darum, die vom Konflikt betroffenen Per- Stufenpläne zur ethischen Beschlussfassung sind
sonen, deren Interessen, Meinungen und Stand- eine Methode, die dazu beiträgt, eine komplexe Si-
punkte zu identifizieren. Wichtig ist auch, die mora- tuation – in diesem Fall ein moralisches Problem –
lischen Aspekte auf der einen Seite, also z. B. die möglichst genau zu untersuchen. Der große Vorteil
beteiligten Werte, und auf der anderen Seite die liegt darin, dass ein zunächst wenig überschaubares
nicht-moralischen Aspekte, beispielsweise pflegeri- Problem anhand konkreter Fragen exakt beschrie-
sche und medizinische Tatsachen, aufzudecken. ben und der Prozess der Problemlösung auf eine
In der Phase der Planung werden unter Einbezug systematische, strukturierte und für alle beteiligten
ethischer Theorien und Prinzipien mögliche Hand- Personen nachvollziehbare Art und Weise erfolgt.
lungsalternativen und deren Folgen diskutiert. Hier Die Entscheidung wird auf diese Weise nicht
kommen die unterschiedlichen Betrachtungsweisen überflüssig, aber sie wird durch die Beteiligung der
der Ethik zum Tragen, die Diskussion ethischer Prin- Betroffenen im wechselseitigen Austausch auf eine
zipien oder auch die Rolle, die das Gewissen einzel- gemeinsame, breite Basis gestellt und zu einer be-
ner Betroffener in dieser Situation spielt. Am Ende gründeten, ethisch verantwortlichen Entscheidung.
der Planungsphase steht die Entscheidung für eine Berücksichtigt werden muss jedoch, dass die von
9 der möglichen Handlungsalternativen. Tschudin vorgeschlagenen Fragen zur Identifikation
In der Phase der Durchführung wird die aus- des Problems sich nicht als abgeschlossene Liste ver-
gewählte Handlungsalternative nach dem in der Pla- stehen. Sie können und müssen je nach Situation um
nungsphase festgelegten Plan durchgeführt. Tschu- relevante Fragen erweitert werden.
din betont, dass die Entscheidung, die in der Pla- Auch lässt sich der gesamte Prozess der ethi-
nungsphase getroffen wurde, auch wirklich in der schen Reflexion nur schwer vollständig in einem
vereinbarten Art und Weise ausgeführt werden Stufenplan abbilden. Er fungiert – wie auch der Pfle-
muss. Nur so kann eine effektive Bewertung der ver- geprozess – als Methode, die der Einbindung in ethi-
einbarten Handlung erfolgen. sche Theorien und Prinzipien bedarf. Ein Stufenplan
Wie im Rahmen des Pflegeprozesses sieht Tschu- systematisiert lediglich den Rahmen der ethischen
din in ihrem Modell der pflegerisch-ethischen Be- Entscheidung und gibt die Form des Prozesses, nicht
schlussfassung eine Phase der Evaluation vor. Hier jedoch die ethischen Prinzipien selbst vor.
werden sowohl der Prozess der Entscheidungsfin-
dung als auch die Effizienz der ausgewählten Ent- 9.4.3 Ethische Fallbesprechung
scheidung hinsichtlich der Lösung des Problems be- Ähnlich wie Stufenpläne können auch ethische Fall-
urteilt. Erfolgreiche Problemlösungen lassen sich auf besprechungen einen strukturierten und systemati-
zukünftige ähnliche moralische Probleme übertra- schen Rahmen für ethische Entscheidungsfindungen
gen. bieten.
Bei nicht zufriedenstellenden Lösungen muss er-
neut nach einer Lösung gesucht, d. h. der Prozess Definition: „Ethische Fallbesprechung auf
erneut durchlaufen und fehlende bzw. zu wenig be- Station ist der systematische Versuch, im Rah-
rücksichtigte Elemente ergänzt werden. Die sorgfäl- men eines strukturierten, von einem Moderator
tige Evaluation der Entscheidung und des Entschei- geleiteten Gesprächs mit einem multidisziplinären
dungsprozesses erleichtert nicht zwangsläufig die Team innerhalb eines begrenzten Zeitraumes zu der
Lösung eines zukünftigen Problems, aber sie kann ethisch am besten begründbaren Entscheidung zu ge-
neue Entscheidungsprozesse erheblich erleichtern. langen“ (Steinkamp u. Gordijn 2005, S. 220).

278 Pflege und Beziehung BAND 1


9.4 Ethische Entscheidungsfindung

Die Nimwegener Methode der ethischen Fallbespre- 9.4.4 Nimwegener Methode der ethischen
chung ist an der Universität Nimwegen in den Nie- Fallbesprechung (Steinkamp u. Gordijn,
derlanden entwickelt worden und sieht die Ent- 2005)
scheidungsfindung als Ergebnis eines interdiszipli- ▌ 1. Problem

nären Austauschs aller an Pflege und Therapie betei- Wie lautet das ethische Problem?
ligten Personen vor. Auf diese Weise können die
spezifischen Sichtweisen und Expertisen der jewei- ▌ 2. Fakten
ligen Berufsgruppen offen gelegt und für die ethisch Medizinische Gesichtspunkte:
am besten begründbare Entscheidung nutzbar ge- ■ Wie lautet die Diagnose des Patienten und wie ist
macht werden. Die ethische Entscheidung wird so die Prognose?
auf eine breite Basis gestellt, explizit begründet und ■ Welche Behandlung kann vorgeschlagen wer-
für alle Beteiligten nachvollziehbar. Unter Begleitung den?
durch einen Moderator werden im Rahmen der ■ Hat diese Behandlung einen günstigen Effekt auf
ethischen Fallbesprechung Fragestellungen erörtert, die Prognose? In welchem Maße?
die alle Beteiligten dabei unterstützen (Steinkamp u. ■ Wie ist die Prognose, wenn von dieser Behand-
Gordijn, 2005): lung abgesehen wird?
■ das ethische Problem zu erfassen, ■ Welche Erfolgsaussicht hat die Behandlung?
■ medizinische, pflegerische, soziale, weltanschau- ■ Kann die Behandlung dem Patienten gesundheit-
liche und organisatorische Fakten zu analysieren, lich schaden?
■ Argumente aus einer ethischen Perspektive he- ■ Wie verhalten sich die positiven und negativen
raus zu entwickeln und zu bewerten, Auswirkungen zueinander?
■ eine begründete ethische Entscheidung zu tref- 9
fen. Pflegerische Gesichtspunkte:
■ Wie ist die pflegerische Situation des Patienten
Der Prozess der ethischen Entscheidungsfindung zu beschreiben?
wird dabei in den genannten vier Schritten systema- ■ Welcher Pflegeplan wird vorgeschlagen?
tisiert, denen jeweils eine Reihe von Leitfragen zu- ■ Inwieweit kann der Patient sich selbst versor-
geordnet ist (s. u.). gen? (Ist zusätzliche Unterstützung von außen
Steinkamp und Gordijn schlagen parallel zur verfügbar?)
Durchführung ethischer Fallbesprechungen auch ■ Welche Vereinbarungen sind über Aufgabenver-
die Einrichtung klinischer Ethikkomitees vor. Sie teilungen in der Pflege getroffen worden?
sollten die in der Institution vertretenen Berufs-
gruppen repräsentieren (z. B. Ärzte, Pflegepersonen, Weltanschauliche und soziale Dimension:
Sozialarbeiter, psychologischer Dienst, Physiothera- ■ Was ist über die Weltanschauung des Patienten
pie, Seelsorge, Verwaltung, Juristen, Ethiker). Ihre bekannt?
Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, Träger und ■ Gehört der Patient einer Glaubensgemeinschaft
Institutionen des Gesundheits- und Sozialwesens in an?
Bezug auf ethische Fragen zu beraten, ethische Leit- ■ Wie sieht er selbst seine Krankheit?
linien zu entwickeln, für die ethische Aus-, Fort- und ■ Wie prägt die Weltanschauung des Patienten
Weiterbildung von Mitarbeitern Verantwortung zu seine Einstellung gegenüber seiner Krankheit?
tragen und Empfehlungen für wiederkehrende, ■ Hat er ein Bedürfnis nach seelsorgerischer Be-
ethisch problematische Situationen zu entwickeln. gleitung?
Leitlinien und Empfehlungen haben dann wiederum ■ Wie sieht das soziale Umfeld des Patienten aus?
eine unterstützende Funktion für die ethischen Fall- ■ Wie wirken sich Krankheit und Behandlung auf
besprechungen. Auch in Deutschland haben sich be- seine Angehörigen, seinen Lebensstil und seine
reits in einigen Kliniken und Pflegeeinrichtungen soziale Person aus?
Ethikkomitees etabliert. ■ Übersteigen diese Auswirkungen die Kräfte des
Patienten und seiner Umgebung?
■ Wie können persönliche Entfaltung und soziale
Integration des Patienten gefördert werden?

BAND 1 Pflege und Beziehung 279


9 Ethik und Pflege

Organisatorische Dimension: ■ Müssen Interessen Dritter mitberücksichtigt


■ Kann dem Bedarf an Behandlung und Pflege des werden?
Patienten nachgekommen werden? ■ Welches sind die relevanten Leitlinien der Ein-
richtung?
▌ 3. Bewertung
Wohlbefinden des Patienten: ▌ 4. Beschlussfassung
■ Wie wirken sich Krankheit und Behandlung auf ■ Wie lautet nun das ethische Problem?
das Wohlbefinden des Patienten aus (Lebensfreu- ■ Sind wichtige Fakten unbekannt? Kann dennoch
de, Bewegungsfreiheit, körperliches und geistiges ein verantwortlicher Beschluss gefasst werden?
Wohlbefinden, Schmerz, Verkürzung des Lebens, ■ Kann das Problem in Formulierungen miteinan-
Angst usw.)? der im Konflikt stehender Werte übersetzt wer-
den?
Autonomie des Patienten: ■ Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Wel-
■ Wurde der Patient umfassend informiert und hat che Handlungsalternative steht am meisten in
er seine Situation verstanden? Übereinstimmung mit den Werten des Patien-
■ Wie sieht der Patient selbst seine Krankheit? ten?
■ Wurde der Patient bis dato ausreichend an der ■ Welche weiteren Argumente spielen bei der Ent-
Beschlussfassung beteiligt? scheidung eine Rolle?
■ Wie urteilt er über Belastungen und den Nutzen ■ Welche Handlungsweise verdient den Vorzug auf
der Behandlung? der Basis der genannten Argumente (Behand-
■ Welche Werte und Auffassungen des Patienten lung, Änderung der Pflege, Konsultation, Über-
9 sind relevant? weisung, Abwarten usw.)?
■ Welche Haltung vertritt der Patient gegenüber ■ Welche konkreten Verpflichtungen gehen die Be-
lebensverlängernden Maßnahmen und Intensiv- troffenen ein? Welche Fragen bleiben unbeant-
therapie? wortet?
■ Ist es richtig, dem Patienten die Entscheidung zur ■ In welchen Fällen muss die Entscheidung aufs
Behandlung zu überlassen? Neue überdacht werden?
■ Wie kann man die Entscheidung und die Aus-
Verantwortlichkeit von Ärzten, Pflegenden und an- wertung zusammenfassen?
deren Betreuenden:
■ Gibt es zwischen Ärzten, Pflegenden, anderen ▌ Besondere Situationen
Betreuenden, dem Patienten und seinen Angehö- Patienten ohne eigene Willensfähigkeit:
rigen Meinungsverschiedenheiten darüber, was ■ Wie und durch wen wird festgestellt, dass der
getan werden soll? Patient nicht zu einem eigenen Willen fähig ist?
■ Kann dieser Konflikt gelöst werden durch die ■ In welcher Hinsicht ist er nicht willensfähig?
Auswahl einer bestimmten Versorgung? ■ Wird die Willensunfähigkeit als zeitlich begrenzt
■ Gab es genügend gemeinsame Beratung unter oder dauerhaft angesehen?
Ärzten, Pflegenden und anderen Betreuenden? ■ Welche Aussicht besteht auf Wiederherstellung
■ Sind ihre Verantwortlichkeiten deutlich genug der Willensfähigkeit?
abgegrenzt worden? ■ Können die jeweils zu treffenden Entscheidungen
■ Wie wird mit vertraulichen Informationen um- so lange aufgeschoben werden?
gegangen (Vertraulichkeit)? ■ Was weiß man über die Werte des Patienten?
■ Ist der Patient der Wahrheit entsprechend über ■ Gibt es einen guten Vertreter der Interessen des
seine Situation in Kenntnis gesetzt worden (Auf- Patienten?
richtigkeit)?
■ Gibt es im Team Spannungen angesichts des Fal- Kinder:
les (Kollegialität)? ■ Wurde dem Kind ausreichend Gehör geschenkt?
■ Ist das vorgeschlagene Vorgehen im Hinblick auf ■ Kann das Kind in Hinsicht auf die Behandlung
andere Patienten zu verantworten (Gerechtig- selbst entscheiden?
keit)?

280 Pflege und Beziehung BAND 1


Literatur

■ Welche Behandlungsalternative steht am meisten chene Fragen des pflegebedürftigen Menschen an die
in Übereinstimmung mit den Werten der Eltern? Pflegeperson, setzt die Bereitschaft zum Dialog in der
■ Was bedeutet es für das Kind, falls der Auffas- pflegerischen Beziehung sowie pflegerisches Fachwis-
sung der Eltern entsprochen bzw. gerade nicht sen voraus, um mit dem pflegebedürftigen Menschen
entsprochen wird? gemeinsam zu einer tragbaren Entscheidung zu ge-
langen.
Lange andauernde Behandlung: Hilfestellung im Prozess der moralischen Entschei-
■ In welchen Situationen muss das Vorgehen in der dungsfindung können darüber hinaus Stufenpläne
Pflege überdacht und evtl. verändert werden? und Modelle ethischer Fallbesprechungen geben, die
■ Welche Haltung vertritt der Patient gegenüber diesen Prozess strukturieren und systematisieren.
Veränderungen des Vorgehens in der Pflege?

Zusammenfassung: Literatur:
Ethische Entscheidungsfindung
■ Ethische Entscheidungsfindung bei Wertekonflik- Arend, A. van der: Pflegeethik. Ullstein Medical, Wiesbaden
1998
ten,
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gen ermöglichen systematische und strukturierte Pflege. 2. Aufl. Thieme, Stuttgart 2007
Problemlösung, Arndt, M.: Aus Fehlern lernen. Pflege 9 (1996) 12
■ Entscheidungsfindung und deren Begründung Beauchamp, T. L., J. F. Childress: Principles of Biomedical
wird nachvollziehbar. Ethics, 7th ed., Oxford University Press, Oxford 2012 9
Bundesärztekammer (Hrsg.): Empfehlungen der Bundesärzte-
kammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bun-
Fazit: Die Ethik beschäftigt sich mit der sys-
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bung und Begründung von moralischen sches Ärzteblatt 33-34 (2013) A1580-A1585
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dards für menschliches Handeln. Sie werden von Nor- treuungsrechts. BGBl 2009 Teil I Nr. 48, 2286-2287
men geschützt, die als verbindliche Regeln das geord- Dörries, A. et al. (Hrsg.): Klinische Ethikberatung. Ein Praxis-
buch für Krankenhäuser und Einrichtungen der Altenpfle-
nete Zusammenleben von Menschen ermöglichen. Das
ge. 2. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart 2010
Gewissen als persönliche moralische Instanz unter- Elsbernd, A.: Zum Verhältnis von pflegerischem Wissen, pfle-
stützt das Abwägen zwischen Werten und Nichtwer- gerischer Handlungsfreiheit und den Grenzen des Gehor-
ten. sams der individuellen Pflegeperson. Pflege 7 (1994) 105
Theorien und Prinzipien der allgemeinen Ethik fin- Elsbernd, A., A. Glane: Ich bin doch nicht aus Holz. Wie Pa-
den ihren Niederschlag in der Pflegeethik, die sich als tienten verletzende und schädigende Pflege erleben. Ull-
stein Mosby, Berlin 1996
angewandte Ethik mit dem moralischen Handeln von
Fölsch, D.: Ethik in der Pflegepraxis. 2. Aufl. Anwendung mo-
Pflegepersonen beschäftigt. Dabei hat im Zuge der
ralischer Prinzipien auf den Pflegealltag. Facultas, Wien
Professionalisierungsbestrebungen der Pflegeberufe 2012
ein Wandel innerhalb der pflegeethischen Diskussion Fry, S. T.: Ethik in der Pflegepraxis. Anleitung für ethische
von der Betrachtung des moralischen Charakters der Entscheidungsfindungen. Deutscher Berufsverband für
Pflegepersonen hin zum konkreten moralischen Han- Krankenpflege (DBfK), Eschborn 1995
deln in der Beziehung zu pflegebedürftigen Menschen Grundgesetz 47. Aufl., Beck, München 2016
Höffe, O. (Hrsg.): Lesebuch zur Ethik. Philosophische Texte
und deren Angehörigen stattgefunden. Wichtige Prin-
von der Antike bis zur Gegenwart. 6. Aufl. Beck, München
zipien, die sich auch in den pflegerischen Berufskodi-
2015
zes wiederfinden, sind Autonomie, Wohltätigkeit, Ge- Höffe, O. (Hrsg.): Lexikon der Ethik, 7. Aufl., Beck, München
rechtigkeit, Aufrichtigkeit und Loyalität. 2008
Für die pflegerische Berufsausübung kommt dem Körtner, U.: Grundkurs Pflegeethik. 2. Aufl. Facultas, Wien
Begriff „Verantwortung“ bzw. „verantwortliches Han- 2011
deln“ zentrale Bedeutung zu. Pflegerisches Handeln,
als „Antwort“ auf ausgesprochene und unausgespro-

BAND 1 Pflege und Beziehung 281


9 Ethik und Pflege

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2008

282 Pflege und Beziehung BAND 1


10 Kommunikation und Pflege
Anja Heißenberg*, Annette Lauber

Übersicht
Einleitung · 283
10.1 Kommunikation im täglichen
Handeln · 284
10.2 Kommunikation als Regelkreis · 285
10.3 Formen der Kommunikation · 286
10.3.1 Verbale Kommunikation · 286
10.3.2 Nonverbale Kommunikation · 287
10.3.3 Kongruenz und Inkongruenz der
Nachricht · 289
10.3.4 Beziehungen und Kommunikation · 289
10.4 Das Kommunikationsmodell nach
Schulz von Thun · 291 Schlüsselbegriffe
10.4.1 Vier Seiten einer Nachricht · 292
▶ Verbale Kommunikation
10.4.2 Vier Empfangs-Ohren · 294
▶ Nonverbale Kommunikation
10.5 Kommunikationsstörungen
▶ Kongruente Botschaft
vermeiden · 296
▶ Inkongruente Botschaft
10.6 Kommunikation als Beziehungsgrundlage
▶ Beziehung
in der Pflege · 300 10
▶ Kommunikationsstörung
10.7 Spezielle Gesprächssituationen · 301
▶ Aktives Zuhören
10.7.1 Vorüberlegungen · 301
▶ Partnerzentriertes Gespräch
10.7.2 Informationsgespräche · 306
▶ Supervision
10.7.3 Anleitungsgespräche · 310
▶ Themenzentrierte Interaktion
10.7.4 Beratungsgespräche · 311
▶ Feedback
10.7.5 Kollegiale Beratung · 313
10.7.6 Konfliktgespräche · 314
10.8 Partnerzentrierte Gespräche · 315
10.9 Themenzentrierte Interaktion (TZI) · 318
Einleitung
10.9.1 Axiome · 318
Kommunizieren ist eine grundlegende Tätigkeit
10.9.2 Zentrale Elemente · 319
jedes Menschen. Es ermöglicht den Informations-
10.9.3 Postulate · 319
austausch zwischen Menschen bezüglich Sachfra-
10.9.4 Hilfsregeln · 320
gen, aber auch die Mitteilung von Stimmungen,
10.9.5 Themenzentrierte Interaktion
Wünschen, Gefühlen und Bedürfnissen. Menschen
in der Pflege · 321
treten über verbale und nonverbale Kommunikation
10.10 Supervision · 321
zueinander in Beziehung.
10.10.1 Supervision in der Pflege · 322
Das gilt nicht nur im privaten Bereich, sondern
10.10.2 Formen der Supervision (Setting) · 323
auch für das berufliche pflegerische Handeln: Der
10.10.3 Balint-Gruppen · 324
Pflegeprozess ist sowohl ein Problemlösungs- als
Fazit · 325
auch ein Beziehungsprozess, der nur dann erfolg-
Literatur · 325
reich verlaufen kann, wenn sich die beteiligten Per-
sonen einander mitteilen können.

BAND 1 Pflege und Beziehung 283


10 Kommunikation und Pflege

Darüber hinaus erfordert auch die Kooperation Kommunizieren ist eine Tätigkeit, die von jedem
im Team kommunikative Kompetenzen. Kommuni- Menschen in vielfältiger Form ständig ausgeübt
kation ist jedoch ein sehr komplexes Geschehen und wird. Und doch gibt es gleichzeitig kaum etwas im
hierdurch sehr störanfällig. Nicht immer versteht Leben, das so oft für Missverständnisse verantwort-
der Gesprächspartner das Gesagte so, wie es ge- lich ist wie eine missglückte Kommunikation.
meint ist. Die Folge hiervon sind Kommunikations- Im menschlichen Zusammenleben erfüllt die
störungen, die sich nicht nur auf den Informations- Kommunikation vielfältige Aufgaben:
fluss, sondern auch auf die Beziehung zwischen den ■ Kommunikation ermöglicht den Austausch, die
Gesprächspartnern auswirken können. Vermittlung und die Aufnahme von Sachinforma-
Sowohl im persönlichen als auch im beruflichen tionen.
Bereich sind deshalb Kenntnisse über die verschie- ■ Kommunikation ermöglicht den Austausch, die
denen Ausdrucksformen und möglichen Störfak- Vermittlung und die Aufnahme von Gefühlen,
toren der Kommunikation unerlässlich. Mögliche Empfindungen und Bedürfnissen.
Störfaktoren erkennen hilft, Kommunikationsstö- ■ Kommunikation ermöglicht die Einflussnahme
rungen zu vermeiden, und trägt dazu bei, Kom- auf das Verhalten anderer Menschen und trägt
munikationsabläufe und zwischenmenschliche Be- so entscheidend zur Organisation menschlichen
ziehungen effektiv und erfolgreich zu gestalten. Zusammenlebens bei.
Das folgende Kapitel beschreibt die Grundlagen
zwischenmenschlicher Kommunikation, gibt Hilfen Ohne Kommunikation ist ein geregeltes Zusammen-
zum Vermeiden von Kommunikationsstörungen leben nicht denkbar. Sie bietet Menschen die Mög-
und geht auf verschiedene Gesprächsarten und -for- lichkeit, ihre Bedürfnisse zu äußern und mit ande-
men des pflegerischen Alltags ein. ren Menschen in Kontakt zu treten, um z. B. Bezie-
hungen einzugehen und aufrechtzuerhalten.
Dementsprechend kann Kommunikation als die
10 10.1 Kommunikation im Grundlage menschlicher Beziehungen bezeichnet
täglichen Handeln werden. Deshalb ist Kommunikation auch eine
Form der Interaktion zwischen Menschen. Dabei re-
Definition: Als Kommunikation wird der Pro- gelt die Sprache als Kommunikationsmittel zu einem
zess der Informationsübertragung zwischen In- wesentlichen Teil menschliches Zusammenleben.
dividuen mittels sprachlicher (verbaler) und/ Zwischenmenschliche Beziehungen sind auch die
oder nichtsprachlicher (nonverbaler) Ausdrucksmittel Grundlage zwischen Pflegeperson und Patient. Der
bezeichnet. Pflegeprozess ist sowohl ein Problemlösungs- als
auch ein Beziehungsprozess.
In einer hochtechnisierten Zeit findet Informations- Ein wesentliches Mittel zum Aufbau einer profes-
austausch als eine besondere Form auch zwischen sionellen Beziehung zum hilfsbedürftigen Menschen
Mensch und Maschine (als Hilfsmittel) statt. ist die Kommunikation mit ihren verschiedenen For-
Im Zusammenhang mit der Pflege interessiert men. Ohne Kommunikation ist das Pflegeprozess-
vor allem die Kommunikation zwischen Menschen. geschehen nicht denkbar.
Diese Art der Kommunikation wird auch als inter- Aus diesem Grund ist kommunikative Kom-
personale bzw. zwischenmenschliche Kommunikati- petenz eine Voraussetzung für pflegerisches Han-
on bezeichnet. deln und im Weiteren auch die Grundlage des be-
ruflichen Miteinanders.
Definition: Kommunikation ist die Verständi-
gung durch die Verwendung von Zeichen und
Sprache, die der Übertragung und dem Aus-
tausch von Informationen dienen.

284 Pflege und Beziehung BAND 1


10.2 Kommunikation als Regelkreis

Moment nicht nur über den Kommunikationskanal


10.2 Kommunikation als „Hören“ sondern auch über das „Sehen“ an.
Regelkreis Wichtig ist hierbei, dass der Sender für die Über-
mittlung seiner Nachricht ein Kommunikationsmit-
Zwischenmenschliche Kommunikation umfasst tel wählt, das der Empfänger auch verstehen kann.
mehrere Aspekte, die in ihrem Zusammenwirken Der Empfänger kann die Nachricht nur decodieren,
als Regelkreis der Kommunikation dargestellt wer- bzw. entschlüsseln, wenn er in der Lage ist, den
den können (Abb. 10.1). Code des Senders zu verstehen. Wird beispielsweise
Zu diesen Aspekten gehören: der Sender einer von einem Sender eine Nachricht in deutscher Spra-
Nachricht, die Kommunikationsmittel und Kom- che gesendet, muss er sicher sein, dass der Empfän-
munikationskanäle, der Empfänger der Nachricht ger seiner Nachricht die deutsche Sprache versteht.
und das sog. „Feedback“, die Antwort bzw. Reaktion Gleiches gilt für das Senden von Nachrichten mit
des Empfängers auf die gesendete Nachricht. Der vielen „Fremdwörtern“ bzw. spezifischen Fachaus-
Sender vermittelt Informationen in Form einer drücken.
Nachricht. Diese Informationen können auf unter- Hat der Empfänger die Nachricht decodiert und
schiedliche Art und Weise codiert bzw. verschlüsselt aufgenommen, teilt dieser im Idealfall dem Sender
sein, d. h. er bedient sich zur Informationsweiterga- wörtlich mit, wie er die Nachricht verstanden hat.
be verschiedener Kommunikationsmittel. Durch dieses sog. „Feedback“ (Rückmeldung), kann
Hierzu gehören vor allem das gesprochene und/ der Sender erkennen, ob die Botschaft in seinem
oder das geschriebene Wort, z. B. in Form von Zei- Sinne angekommen ist. Aber auch Gestik und Mi-
tungsartikeln, Briefen, Gedichten etc. Zu den Kom- mik, z. B. ein fragender Gesichtsausdruck, kann
munikationsmitteln werden aber auch Gemälde, Bil- dem Sender einer Nachricht mitteilen, ob und wie
der, Morsezeichen oder etwa die Blindenschrift ge- seine Aussage vom Empfänger verstanden worden
rechnet. ist. In dem Moment, in dem der Empfänger das
10
Je nach gewähltem Kommunikationsmittel wird Feedback sendet, wird auch er zum Sender einer
ein entsprechender Kommunikationskanal aktiviert. Nachricht, unabhängig davon, ob diese Reaktion
Das gesprochene Wort wird beispielsweise über den sprachlich oder nichtsprachlich, eindeutig oder un-
Kommunikationskanal „Hören“ aufgenommen. Setzt eindeutig gezeigt wird.
der Sender neben der Sprache in Form von Gestik, Im Regelkreis der Kommunikation erzeugt das
Mimik oder Körperhaltung zusätzliche Kommunika- Verhalten des Senders wiederum Verhalten (Reak-
tionsmittel ein, spricht er den Empfänger in diesem tionen) des Gesprächspartners. Der Philologe und

Störungen
psychologische/semantische

Kommunika- De-
Sender Codieren tionsmittel codie- Empfänger
Kommunika- ren
tionskanal

Nachricht

Feedback

Abb. 10.1 Regelkreis der Kommunikation

BAND 1 Pflege und Beziehung 285


10 Kommunikation und Pflege

Psychologe Watzlawick, der sich u. a. mit mensch- ■ Kommunikation geschieht in einem Regelkreis
licher Kommunikation beschäftigte, formulierte (Feedback-Schleife),
hierzu folgenden Grundsatz: „Jedes Verhalten er- ■ Kommunikation kann bei Störungen zu Missver-
zeugt ein Gegenverhalten!“ ständnissen führen.
Hierdurch schließt sich der Regelkreis und be-
ginnt von neuem. In allen Sequenzen verbergen
sich mögliche Störfaktoren, die den Regelkreis der 10.3 Formen der Kommunikation
Kommunikation behindern können. Insbesondere
im Bereich der Codierung und Decodierung können Der Mensch verfügt durch verbale (sprachliche) und
Missverständnisse auftreten, da diese Bereiche den nonverbale (nicht-sprachliche) Ausdrucksmöglich-
Gesprächspartnern viel Gestaltungsfreiheit erlauben. keiten über zwei Hauptformen der Informations-
Die Ursachen für mögliche Störungen sind vielseitig: übertragung. Auf die verschiedenen Ausdrucksfor-
sie können sowohl im semantischen als auch im psy- men und ihre Bezüge zueinander wird in den fol-
chologischen Bereich, also der Wahrnehmung liegen. genden Teilkapiteln eingegangen.
Semantische Störungen stehen häufig im Zusam-
menhang mit dem gewählten Kommunikationsmit- 10.3.1 Verbale Kommunikation
tel. Wenn Sender und Empfänger einer Nachricht Zur verbalen Kommunikation wird das gesprochene,
nicht dieselbe Sprache sprechen oder ein Vokabular das geschriebene und auch das vertonte Wort ge-
gewählt wird, das dem Empfänger nicht vertraut ist, zählt. Sprache und Stimme eines Menschen als Trä-
kann die gesendete Nachricht nicht entschlüsselt ger der verbalen Kommunikation spielen eine ent-
werden. Gleiches gilt für nonverbale Kommunikati- scheidende Rolle.
onsmittel wie Mimik, Gestik, etc., die z. B. in verschie- Die verbale Kommunikation wird auch als digita-
denen Kulturen unterschiedliche Bedeutung haben. le Kommunikation bezeichnet. Sprache ist die diffe-
Psychologische Störungen des Regelkreises hän- renzierteste Möglichkeit, sich ganzheitlich dar-
10
gen i. d. R. mit der psychischen Verfassung des Sen- zustellen. Kinder erwerben das Sprachverständnis
ders oder Empfängers einer Nachricht zusammen. etwa im zweiten, das Sprachvermögen im dritten
Eine wichtige Rolle spielt hierbei auch die bestehen- Lebensjahr. Ob die Fähigkeit des Spracherwerbs ge-
de Beziehung zwischen den Kommunikationspart- netisch bedingt ist, wird bis heute kontrovers dis-
nern. Kommunikation wird beeinflusst von den ver- kutiert.
schiedenen Beziehungen (Rollen und Erwartungen, Gesichert ist dagegen die Tatsache, dass Men-
berufliche Positionen) von Menschen zueinander, schen ein gewisses sprachliches Umfeld benötigen,
aber Kommunikation beeinflusst auch die Gestal- um sprechen zu lernen. Um herauszufinden, welche
tung von Beziehungen. Nationalsprache isolierte Menschengruppen erler-
nen würden, wurden um das 15. Jahrhundert von

!
Merke: Im Regelkreis der Kommunikation dem schottischen König James IV. recht unmensch-
bedienen sich Sender und Empfänger ver- liche Versuche durchgeführt. Die isolierten Men-
schiedener Kommunikationsmittel und -ka-
näle, um sich zu verständigen. Um eine gesendete
Nachricht verstehen zu können, muss der Code des
Senders vom Empfänger decodiert werden. Gelingt
dieses nicht, kann es zu Kommunikationsstörungen
kommen.

Zusammenfassung:
Interpersonale Kommunikation
■ Aufgaben: Kommunikation von Sachinformationen
und Mitteilungen über Gefühle,
■ wesentliches Mittel zum Aufbau einer professionel-
len Beziehung zum Patienten, Abb. 10.2 Kommunikation ist ein wesentlicher Bestandteil pro-
fessioneller Pflege

286 Pflege und Beziehung BAND 1


10.3 Formen der Kommunikation

schen entwickelten aber wider Erwarten eine ganz ausgegangen werden muss, dass diese die Fachspra-
eigene Laut- und Zeichensprache. Daraus kann zum che nicht beherrschen.
einen geschlossen werden, dass Menschen in Grup-

!
pen eine Art Sprache als Kommunikationsmittel Merke: Die sprachlichen Aspekte Sprach-
entwickeln, dass aber zum Erlernen einer bestimm- code, Dialekt und Fachsprache können zu
te Nationalsprache ein entsprechendes sprachliches Kommunikationsstörungen führen, wenn
Umfeld nötig ist. die Sprache (das Kommunikationsmittel) vom Emp-
Das soziale Umfeld wirkt sich auf Art und Um- fänger nicht decodiert werden kann.
fang des Wortschatzes aus. Dieser wird unterschie-
den in einen aktiven Wortschatz, also Wörter, die Die Fähigkeit, die Stimme einzusetzen, ist abhängig
von einem Menschen in Sprache und Schrift ver- von anatomischen und physiologischen Vorausset-
wendet werden, und einen passiven Wortschatz, zungen und entwickelt sich durch Erziehung, Ge-
d. h. Wörter, die lediglich verstanden werden. Eine wohnheiten und Erfahrungen. Ihr Einsatz kann trai-
erfolgreiche Kommunikation ist allerdings auch ab- niert werden. Sie dient als natürliches Kommunika-
hängig vom Sprachcode, den eine Person aufgrund tionsmittel des gesprochenen Wortes und besitzt
von Erziehung und sozialer Umgebung erfahren hat. eine starke Ausdruckskraft. Sie kann beim Ge-
Wissenschaftler unterscheiden diesbezüglich den sprächspartner gewollte, aber auch ungewollte
restringierten vom elaborierten Sprachcode. Empfindungen auslösen.
Der restringierte Sprachcode ist u. a. gekenn- Der Klang einer Stimme wird als tief, hoch, rau,
zeichnet durch geringe Ausdrucksalternativen und nasal, hell, sanft etc. beschrieben. Ferner vermitteln
eine bildliche Darstellung von Sachverhalten. Der Aspekte wie Geschwindigkeit und Rhythmus dem
elaborierte Sprachcode zeichnet sich demgegenüber Empfänger Informationen über die Befindlichkeit
aus durch einen differenzierten Wortschatz und die des Senders.
Fähigkeit, abstrakte Sachverhalte verbal darstellen
10
zu können. Beispiel: Einen Menschen, dessen Stimme in
Innerhalb einer Landessprache werden zudem den Ohren des Empfängers ungewöhnlich
häufig Dialekte gesprochen, die je nach Situation hoch klingt, durch schnelle Sprechgeschwin-
zum Gelingen, aber auch Misslingen von Kommuni- digkeit gekennzeichnet ist, einen unregelmäßigen
kationsabläufen beitragen können. Sprache und Rhythmus hat, wobei vielleicht sogar Wortsilben ver-
Wortschatz variieren z. B. aber auch zwischen ein- schluckt werden, wird der Empfänger wahrscheinlich
zelnen Berufsgruppen. Hier werden häufig soge- als aufgeregt interpretieren, selbst dann, wenn die
nannte „Fachsprachen“ gesprochen, da die Alltags- verwendeten Worte sehr sachlich sind.
sprache mit ihren regionalen und sprachlichen Va-
rianten und individuellen persönlichen Prägungen Auch die Betonung der einzelnen Worte kann die
einer fachlichen Verständigung nur begrenzt gerecht eigentlichen Gedanken des Senders verraten. Je
werden kann (s. a. Band 2, Kap. 4). nach der Beziehung der beiden Kommunikations-
Eine Fachsprache dient dem effizienten und öko- partner kann die Stimme unterschiedliche Empfin-
nomischen Informationsaustausch innerhalb bzw. dungen auslösen, wie z. B. Verärgerung, Betroffen-
zwischen Berufsgruppen. Ein Ansatz einer einheitli- heit oder auch Besorgnis. Welche Ausdruckskraft al-
chen Fachsprache in der Pflege ist die Anwendung lein die Stimme im Rahmen der verbalen Kommuni-
von Pflegediagnosen (s. a. Kap. 7). kation hat, wird besonders beim Telefonieren deut-
So sehr die Fachsprache in der Kommunikation lich, da hier die optische Wahrnehmung des Ge-
zwischen Berufsangehörigen und im Rahmen der sprächspartners vollständig entfällt.
Professionalisierung der Pflegeberufe von Nutzen
ist, darf sie als Kommunikationsmittel jedoch nur 10.3.2 Nonverbale Kommunikation
in Situationen verwendet werden, in denen beide Definition: Die nonverbale Kommunikation
Kommunikationspartner diesen Sprachcode verste- bezieht sich auf die Körpersprache und wird
hen. In der Kommunikation zwischen Pflegeper- über Körperhaltung, Mimik und Gestik aus-
sonen und hilfsbedürftigen Menschen sollte sie des- gedrückt.
halb nicht eingesetzt werden, da zunächst davon

BAND 1 Pflege und Beziehung 287


10 Kommunikation und Pflege

Aber auch Gegenstände, wie etwa ein Blumenstrauß Unter dem Begriff Gestik werden alle mensch-
als Zeichen der Zuneigung, haben zu entsprechen- lichen Gebärden zusammengefasst. Vor allem die
den Anlässen eine eigene Aussagekraft. Bewegungen der Arme und Hände begleiten die ver-
Etwa 65 % des Kommunikationsablaufes erfolgen bale Kommunikation. Sie werden auch als Aus-
über den Einsatz von Körpersprache, die i. d. R. un- drucksbewegungen bezeichnet und können zur Ver-
bewusst vonstatten geht. Die Körpersprache hat also stärkung des gesprochenen Wortes eingesetzt wer-
einen wesentlichen Anteil an der zwischenmensch- den.
lichen Kommunikation. Wird diese Tatsache im Ge- Als Mimik wird das Mienenspiel des Gesichtsaus-
spräch beachtet und werden die nonverbalen Sig- drucks mittels Gesichtsmuskulatur bezeichnet. Auch
nale in der Kommunikation berücksichtigt, kann der Gesichtsausdruck eines Menschen kann Infor-
Missverständnissen vorgebeugt werden. mationen über seine emotionale Stimmung geben.
Lachen, Weinen, Stirnrunzeln etc. sind beobachtbare

!
Merke: Körpersprache qualifiziert die ver- mimische Ausdrucksmöglichkeiten.
bale Kommunikation zusätzlich und gibt

!
Aufschluss über Gefühle und Beziehung der Merke: Der Kommunikationswissenschaft-
Gesprächspartner zueinander. ler Paul Watzlawick betont die Bedeutung
nonverbaler Aspekte in der Kommunikation,
Die Körperhaltung eines Menschen bestimmt ganz indem er den Grundsatz formuliert: „Man kann nicht
wesentlich den Eindruck, den dieser bei einem an- nicht kommunizieren. Alles Verhalten in einer zwi-
deren hinterlässt. Häufig ist die Körperhaltung Aus- schenmenschlichen Situation hat Mitteilungscharak-
druck der emotionalen Stimmung eines Menschen. ter“.

Beispiel: Eine gekrümmte Körperhaltung Jedes Verhalten und jede Körperhaltung, aber auch
mit hängenden Schultern und eingezogenem Schweigen bzw. Regungslosigkeit, wirkt beim Ge-
10
Kopf lässt z. B. auf ein mangelndes Selbst- sprächspartner und erzeugt immer ein Gegenver-
wertgefühl oder auf eine momentane Niedergeschla- halten.
genheit schließen. Demgegenüber drückt eine gerade

!
Haltung mit erhobenem Kopf und straffen Schultern Merke: Zu den nonverbalen Kommunikati-
eher positives Selbstwertgefühl oder eine momentan onsformen gehören Körperhaltung, Mimik
gehobene Stimmung aus (Abb. 10.3). und Gestik.

Damit wird deutlich, dass die Art der Körperhaltung ▌ Kulturelle Besonderheiten nonverbaler
im Rahmen der Kommunikation ebenfalls Informa- Kommunikation
tionen bzw. Nachrichten übermittelt. Die Kommunikation über nonverbale Ausdrucks-
möglichkeiten ist stark von der Zugehörigkeit zu
einer kulturellen Gruppe geprägt. Körperhaltung,
Mimik und Gestik werden in unterschiedlichen Kul-
turen mit unterschiedlicher Bedeutung belegt. So
stellt das Kopfnicken in unserem Kulturkreis eine
bejahende Geste, das Wiegen des Kopfes eine Hal-
tung der Skepsis dar. In manchen indischen Regio-
nen wird unter dem Wiegen des Kopfes jedoch eine
Geste der Zustimmung verstanden.

▌ Distanz und Nähe


Neben den bisher beschriebenen Kommunikations-
formen gibt auch die Distanz, die Gesprächspartner
einhalten, Aufschluss über ihre Beziehung und über
Abb. 10.3 Selbstwertgefühl die Art der Kommunikation. In der öffentlichen Dis-

288 Pflege und Beziehung BAND 1


10.3 Formen der Kommunikation

tanzzone, die im westlichen Kulturkreis ca. 4 m be-


trägt, nehmen wir andere Menschen wahr.
In unpersönlichen Beziehungen, wie z. B. auf
einem städtischen Amt, wird die sog. soziale Distanz
eingehalten, bei der Körperkontakt ausgeschlossen
wird. Bewegt sich ein Mensch unter Menschen in
gewöhnlichen Alltagssituationen, so versucht er au-
tomatisch, einen Schutzabstand von etwa einem
Meter um sich herum zu erhalten, was als persönli-
che Distanz bezeichnet wird. Die Intimdistanz be-
schreibt die Nähe, die den körperlichen Kontakt
zwischen zwei Liebenden erlaubt.
Die einzelnen Distanzen können als eine Art
Schutzzone des Menschen gesehen werden. Nur Abb. 10.4 Inkongruente Nachricht
ausgewählte Personen wie Freunde oder Lebens-
partner dürfen die persönliche bzw. die Intimdis-
tanz „betreten“. Die besondere Bedeutung der ein- terstützt. Beide passen zueinander; die PfIegeperson
zelnen Distanzen wird immer dann offensichtlich, erhält eine eindeutige Nachricht.
wenn es auf engem Raum zu einem Gedränge mit
Körperkontakt kommt. Hierbei wird die persönliche Stimmt die Körpersprache nicht mit der sprach-
Distanz einzelner Menschen „verletzt“. Die Art der lichen Aussage überein, wird dies als inkongruente
gewählten Distanz während der Kommunikation Botschaft bezeichnet.
lässt dementsprechend Rückschlüsse auf die Bezie- Antwortet z. B. ein hilfsbedürftiger Mensch auf
hung der Kommunikationspartner zu. die Frage nach seinem Befinden „Mir geht es gut“,
10
macht dabei jedoch gleichzeitig eine abwertende

!
Merke: Die räumliche Distanz kennzeichnet Handbewegung mit einem resignierten Gesichtsaus-
die Art einer Kommunikationssituation und druck, passen verbale und nonverbale Kommunika-
zeigt die Beziehung zweier Menschen zuei- tion nicht zueinander (Abb. 10.4). Diese Art der Bot-
nander auf. Es werden die öffentliche, die soziale, die schaft ist für den Gesprächspartner schwierig zu in-
persönliche Distanz und die Intimdistanz unterschie- terpretieren. Der Empfänger der Botschaft ist unsi-
den. cher, ob er der verbalen oder nonverbalen Nachricht
Glauben schenken soll. Inkongruente Botschaften
10.3.3 Kongruenz und Inkongruenz der bedürfen deshalb unbedingt der Klärung (s. a. 10.4).
Nachricht Verschiedene Situationen, emotionale Empfin-
Verbale und nonverbale Kommunikation mit ihren dungen, Hoffnungslosigkeit, Ärger etc. können Ursa-
jeweiligen Aspekten gehören eng zusammen. Sie che für das mehrdeutige Verhalten des betreffenden
können sich gegenseitig ergänzen, aber auch im Wi- Menschen sein. Oftmals hängt es damit zusammen,
derspruch zueinander stehen. Stimmt die Körper- dass der Sender sich selbst über eine Situation un-
sprache mit der verbalen Aussage und dem Tonfall klar ist. Um in dieser Situation eine weitere erfolg-
überein, wird dies als kongruente Botschaft be- reiche Kommunikation zu ermöglichen, liegt es an
zeichnet. dem Gegenüber, in obigem Beispiel an der Pflege-
person, durch gezieltes Nachfragen die eigentliche
Beispiel: Äußert z. B. ein hilfsbedürftiger Botschaft zu ermitteln (Abb. 10.5).
Mensch gegenüber einer Pflegeperson seine
Angst vor einer Operation, neigt dabei sei- 10.3.4 Beziehungen und Kommunikation
nen Kopf und lässt die Schultern fallen, so wird seine Wie kommuniziert wird, ist auch abhängig von der
Aussage von der nonverbalen Ausdrucksform bestä- bereits bestehenden Beziehung, die von Rollen-
tigt und bekräftigt. Die verbale Nachricht „Ich habe erwartungen geprägt wird. Menschen haben auf-
Angst vor der Operation“ wird durch die nonverbale grund ihres Alters, ihrer beruflichen Position, ihrer
Nachricht (gesenkter Kopf, hängende Schultern) un- privaten Umgebung usw. bestimmte Aufgaben zu

BAND 1 Pflege und Beziehung 289


10 Kommunikation und Pflege

Der „rangniedrigeren“ Person kommt dabei die


Kommunikation Rolle des nach Anweisung Reagierenden zu. Inner-
halb asymmetrischer Kommunikationsabläufe kön-
verbal nonverbal nen sich beide Gesprächspartner ergänzen, was
Sprache: unterschiedlich je auch komplementär asymmetrisch genannt wird.
• Spracherwerb nach Kultur:
• Wortschatz • Körperhaltung
• Sprachcode • Gestik Beispiel: Eine Mutter wird mit ihrem Klein-
• Fachsprache • Mimik kind eine eher leitende, anweisende Kom-
Stimme: • Nähe und Distanz munikation führen, um in ihrer Rolle als
• Rhythmus
• Tonlage Mutter dem Kind Anleitung und Sicherheit zu bieten.
• Geschwindigkeit Auch zwischen Lehrern und Schülern finden sich
asymmetrische Beziehungen mit der entsprechenden
Kommunikationsweise.
Kongruent oder inkongruent

Die Gründe für das Ungleichgewicht in den Bezie-


Abb. 10.5 Verbale und nonverbale Kommunikation
hungen können unterschiedlich sein: In der Erzie-
hung ist der Sicherheitsaspekt oft ein Hauptgrund
erfüllen. Im Wissen um die verschiedenen Aufgaben für die asymmetrische Kommunikation, während
erwarten Mitmenschen diesbezüglich ein entspre- z. B. in der Bundeswehr die Amtsautorität und
chendes Verhalten, was sich auch in der Kommuni- somit die Befugnis, Befehle zu erteilen, eine Rolle
kation widerspiegelt. spielen.
Oft sind bei Berufsgruppen innerhalb einer Insti-

!
Merke: Watzlawick formuliert hierzu den tution, wie z. B. dem Krankenhaus, die verschiede-
Grundsatz: „Jede Kommunikation hat einen nen Kompetenzbereiche mit Weisungsbefugnis ein
10
Inhalts- und einen Beziehungsaspekt“. Das Grund für asymmetrische Kommunikation.
„Was“ einer Nachricht deutet dabei auf den Inhalt
hin, das „Wie“ der Nachricht auf die Beziehung der ▌ Symmetrische Kommunikation
Gesprächspartner, und beinhaltet, wie der Sender die Die symmetrische Kommunikation stellt ein Streben
Nachricht vom Empfänger verstanden haben möchte. nach gleichberechtigter Kommunikation und nach
Verminderung von Rollen- und Statusunterschieden
Kommunikation bzw. Interaktion kann in Abhängig- dar. Sie ist gekennzeichnet durch den gemeinsamen
keit von Beziehungen, Rollen und Positionen in vier partnerschaftlichen Informationsaustausch. Die
verschiedene Grundtypen unterschieden werden, Kommunikation verläuft auf einer Ebene, d. h., es
die alle je nach Situation ihre Vor- und Nachteile besteht kein Hierarchiegefälle, also z. B. keine Wei-
sowie ihre Berechtigung haben können: es geht um sungsbefugnis.
die asymmetrische, die symmetrische, die wechsel- Die symmetrische Kommunikation findet unter
seitige Kommunikation sowie die Pseudokommuni- gleichberechtigten Kollegen, Freunden, Ehepartnern
kation. usw. statt. Sie ist die zwischen Pflegepersonen und
hilfsbedürftigem Menschen geeignete Gesprächs-
▌ Asymmetrische Kommunikation form, um eine vertrauensvolle Beziehung zu för-
Die asymmetrische Kommunikation ist durch ein dern.
Hierarchiegefälle, durch Rollenunterschiede der
kommunizierenden Personen gekennzeichnet, wie ▌ Wechselseitige Kommunikation
z. B. eine unterschiedliche Machtverteilung. Dabei Von einer wechselseitigen Kommunikation ist die
verläuft die Kommunikation nach bestimmten Re- Rede, wenn die Gesprächspartner wechselseitig
geln, wobei der „Ranghöhere“ aufgrund seiner Auto- sachlich und zielgerichtet Bezug nehmen auf die In-
rität z. B. Anweisungen, Befehle oder Empfehlungen formationen. Nur wenn sie jeweils genau auf die
von Verhaltensweisen erteilt und somit das Verhal- Inhalte des Gesagten, d. h. auf die Argumentation
ten des Gegenüber dirigieren und kontrollieren des Gesprächspartners eingehen, kann das Ge-
kann. sprächsziel erreicht werden. Daher bildet die wech-

290 Pflege und Beziehung BAND 1


10.4 Das Kommunikationsmodell nach Schulz von Thun

selseitige Kommunikation die Grundlage für die


unter 10.7 dargestellten Gesprächstypen.

▌ Pseudokommunikation
Die Pseudokommunikation hat bestimmte Rituale,
wie es z. B. bei einer Vereidigung oder einem Gottes-
dienst der Fall ist. Es gibt eine feste Rollenverteilung
und religiöse Rituale.
Die Absicht der Kommunikation ist bereits vor Abb. 10.6 Rollenmerkmale und äußere Attribute einer Rolle
der eigentlichen Durchführung bekannt, so dass die nehmen Einfluss auf die Kommunikation
Kommunikationspartner nach einem festgelegten
und ihnen bekannten Schema agieren können.

!
Ebenso ist die Position und Beziehung der Kom- Merke: Kommunikation und die Gestaltung
munizierenden bereits im Vorfeld festgelegt. von Beziehungen wird u. a. beeinflusst von
Erwartungen an Personen aufgrund ihrer
▌ Rollenmerkmale beruflichen Rolle. Diese kann durch äußere Rollen-
Die Beziehungen bei der Kommunikation werden oft merkmale verstärkt werden.
durch Rollenmerkmale verstärkt, wie z. B. äußere
Attribute oder stumme Merkmale, die eine Aus- Zusammenfassung:
sagekraft (Signalkraft) besitzen und dadurch zu Beziehung und Kommunikation
einem automatischen Verhalten führen können. Äu- ■ Asymmetrische Kommunikation ist gekennzeich-
ßere Attribute können sich positiv oder negativ auf net durch Rollenunterschiede und ein Hierarchie-
eine Beziehung auswirken. gefälle.
■ Symmetrische Kommunikation bezeichnet die
10
Beispiel: So geben im Krankenhaus die Klei- Kommunikation zwischen gleichberechtigten Ge-
dung, deren Farbe und das Namensschild sprächspartnern.
einer Person klare Signale über ihre Positi- ■ Wechselseitige Kommunikation meint den wech-
on, Stellung und Aufgabe, wodurch eine Rollen- selseitigen Austausch aufeinander bezogener Äu-
zuschreibung stattfindet, die dann die Form der Kom- ßerungen.
munikation und der Beziehung beeinflusst bzw. regelt ■ Pseudokommunikation erfolgt mittels festgelegter
(Abb. 10.6). Schemata.
■ Rollenmerkmale und äußere Attribute einer Rolle
Ähnlich kann es einem Menschen ergehen, der beeinflussen die Kommunikation und die Bezie-
einem anderen zum ersten Mal begegnet und auf- hungen zwischen Gesprächspartnern.
grund äußerer Merkmale zu einer Bewertung des
anderen kommt.
Auch frühere Erfahrungen spielen eine Rolle. 10.4 Das Kommunikationsmodell
nach Schulz von Thun
Beispiel: Wenn Kinder von einer Person in
weißer Kleidung eine schmerzhafte Spritze Erfolgreiche Kommunikation ist nicht nur von den
erhalten haben, werden die äußeren Attri- bereits beschriebenen Aspekten abhängig. Der deut-
bute, wie z. B. der weiße Kittel, mit erlebten Schmer- sche Professor Friedemann Schulz von Thun, der
zen verbunden und lösen die Erinnerung an eine un- sich an der Universität Hamburg im Fachbereich
beliebte Situation aus. Psychologie intensiv mit Informationsvermittlung
beschäftigt hat, entwarf 1977 ein Modell der Kom-
Damit wird die Kommunikation dann stark beein- munikation, das auch als „Quadrat der Nachricht“
flusst von den Erwartungshaltungen und den Rol- bezeichnet wird (Abb. 10.7).
lenzuschreibungen zwischen den Kommunikations-
partnern.

BAND 1 Pflege und Beziehung 291


10 Kommunikation und Pflege

Das Modell basiert auf Entwicklungen von Bühler onsgeschehen in den Bereichen „Codierung“ und
(1934) und Watzlawick (1969). Schulz von Thun „Decodierung“ der Nachricht, die in der Abb. 10.1
geht in seinem Modell davon aus, dass jede gespro- bereits angesprochen wurden. Im Folgenden werden
chene Nachricht vier Aspekte beinhaltet: einen die vier Aspekte einer Nachricht näher beschrieben
Sachaspekt, einen Selbstoffenbarungsaspekt, einen (Abb. 10.8).
Beziehungsaspekt und einen Appellaspekt. Die As-
pekte werden auch als die „Seiten einer Nachricht“ 10.4.1 Vier Seiten einer Nachricht
bezeichnet. ▌ Sachaspekt

Das Modell beschreibt, dass innerhalb einer ein- Der Sachaspekt einer Nachricht umfasst die reine
zigen Aussage vier verschiedene Informationen sachliche Information. Die Sachlichkeit einer Nach-
i. d. R. unterschiedlicher Bedeutung weitergegeben richt ist dann gegeben, wenn weitere versteckte
werden, obwohl nur der Sachaspekt wörtlich aus- oder auch offene Botschaften, die noch der Decodie-
gesprochen wird. Schulz von Thun unternimmt rung bedürften, den Informationsaustausch nicht
eine differenzierte Beschreibung des Kommunikati- stören und keinen Einfluss nehmen.

Abb. 10.7 Quadrat der Nachricht

Sachinhalt
offenbarung
Selbst-

Appell

Sender Nachricht Empfänger

10 Beziehung

Abb. 10.8 Quadrat der Nachricht mit


Beispiel
„Ich konnte
nachts nicht
durchschlafen.“

Sachinhalt
offenbarung

„Kommen Sie bitte


Selbst-

„Ich bin
Appell

verärgert!“ Nachricht nachts nicht mehr so


oft, bzw. leiser ins
Zimmer!“

Beziehung

„Aufgrund Ihres
Verhaltens konnte
ich nicht schlafen!“

292 Pflege und Beziehung BAND 1


10.4 Das Kommunikationsmodell nach Schulz von Thun

Beispiel: Herr M. morgens zur nachtdienst- Beispiel: Herr M., dessen Nachtruhe durch
habenden Pflegeperson: „Jedesmal, wenn Sie das Hereinkommen der Pflegeperson unter-
ins Zimmer kamen, bin ich aufgewacht und brochen wurde, könnte je nach Gesichtsaus-
habe ewig gebraucht, bis ich wieder einschlafen konn- druck, Tonfall und Betonung der Worte der Selbst-
te.“ Die Sachinformation dieser Aussage beinhaltet, offenbarungsaspekt sein: „Ich bin unausgeschlafen,
dass Herr M. nicht durchschlafen konnte und die was mich sehr ärgert“.
Nachtschwester mehrmals ins Zimmer kam.
Im Selbstoffenbarungsaspekt einer Nachricht ver-

!
Merke: Der Sachaspekt einer Nachricht be- birgt sich auch die Gefahr, einen falschen oder un-
inhaltet reine Informationen zur Sache. gewollten Eindruck zu hinterlassen.

▌ Beziehungsaspekt
▌ Selbstoffenbarungsaspekt Der Beziehungsaspekt einer Nachricht gibt sowohl
Nach Schulz von Thun enthält eine Nachricht neben Aufschluss darüber, wie der Sender den Empfänger
der Sachinformation auch einen Selbstoffenbarungs- sieht („Das halte ich von Dir“), als auch darüber, wie
aspekt. Dieser „offenbart“ Informationen über den er die Beziehung zum Kommunikationspartner ein-
Sender, sog. Ich-Botschaften. Dabei offenbart der schätzt. Der Beziehungsaspekt ist beeinflusst von
Sender etwas von sich und seiner Persönlichkeit. den Rollen, die Menschen einnehmen, und verbun-
Dieses kann freiwillig und bewusst oder unfreiwillig den mit entsprechenden Erwartungshaltungen (s. a.
und unbewusst geschehen. Offenbart der Sender 10.3.4). Bereits die Anrede („Du“ oder „Sie“) lässt
einer Nachricht bewusst etwas von sich und seiner eine bestimmte Beziehung erkennen. Vor allem non-
Persönlichkeit („so bin ich“), um bei seinem Ge- verbale Ausdrucksformen, wie Mimik, Gestik, aber
sprächspartner ein bestimmtes gewünschtes Bild auch der Tonfall, zeigt dem Gegenüber, was der Sen-
von sich zu produzieren, so wird diese Art der der von dem Empfänger hält.
10
Selbstoffenbarung auch als „Selbstdarstellung“ be- Gewollt oder ungewollt werden hierbei auch be-
zeichnet. Die unbewusste Selbstoffenbarung, welche stimmte Gefühle beim Empfänger der Botschaft aus-
auch „Selbstenthüllung“ genannt wird, geschieht gelöst. Strenggenommen beinhaltet der Beziehungs-
häufig über den nonverbalen (Mimik, Gestik etc.) aspekt eine „Du-Botschaft“, in der es um den Emp-
aber auch über den verbalen Ausdruck (Wortwahl, fänger selbst geht („So bist Du“; „So sehe ich Dich“).
Lautstärke). Auch sie kann zur Preisgabe persönli- Deshalb ist der Empfänger für diesen Aspekt der
cher Meinungen, Einstellungen und Emotionen des Nachricht häufig sehr sensibel.
Senders führen, ohne dass dieser sie bewusst beab-
sichtigt. Beispiel: Die Nachricht des Herrn M. könn-
te folgenden Beziehungsaspekt enthalten:

!
Merke: Der Selbstoffenbarungsaspekt lie- „Aufgrund Ihres Verhaltens konnte ich
fert Informationen über den Sender einer nicht schlafen!“ Diese Botschaft beinhaltet die Erwar-
Nachricht. Sie können bewusst oder unbe- tungshaltung, dass eine Pflegeperson in der Funktion
wusst vermittelt werden. als Nachtschwester die Ruhe auf Station gewährleis-
ten muss.
Nach Schulz von Thun ist es nicht möglich, Nach-

!
richten ohne Selbstoffenbarungsaspekt zu senden. Merke: Der Beziehungsaspekt beinhaltet In-
formationen über die Einstellung des Sen-
ders zum Empfänger und darüber, wie er
die Beziehung zwischen den Kommunikationspart-
nern einschätzt.

BAND 1 Pflege und Beziehung 293


10 Kommunikation und Pflege

▌ Appellaspekt fangen. Hierbei geht es um das Verstehen-Können


Nach Schulz von Thun enthält eine Nachricht immer bezüglich Fakten, Daten und Informationen.
auch einen Appellaspekt, mit dem auf das Verhalten
des Empfängers Einfluss genommen werden soll. Beispiel: Herr M., dessen Schlaf durch die
Die Verhaltensänderung kann sowohl im Handeln Pflegekraft der Nachtschicht unterbrochen
wie auch im Denken oder Fühlen erwünscht sein. wurde, könnte die Pflegeperson auf dem
Sie kann sich wiederum offen oder aber versteckt Sach-Ohr die Aussage: „Herr M. konnte nicht ruhig
zeigen und ist u. a. abhängig von Beziehungen, Po- schlafen, da es zu Störungen kam“ hören.
sition, Hierarchiegefüge und Rolle der Gesprächs-

!
partner. Merke: Auf dem Sach-Ohr hört der Empfän-
Wird der Appellaspekt offen ausgesprochen, hat ger den Sachaspekt einer Nachricht.
der Gesprächspartner die Möglichkeit, hierauf eben-
so offen zu reagieren. Verdeckte Appelle haben
einen manipulativen Charakter, d. h., Menschen kön- ▌ Selbstoffenbarungs-Ohr
nen hierdurch ohne ihr Wissen zu der gewünschten Mit dem Ohr, welches die Selbstoffenbarung des
Verhaltensänderung gebracht werden. Senders wahrnimmt, wird der Empfänger zum
einen versuchen herauszufinden, mit wem er es zu
Beispiel: Herrn M.’s Nachricht könnte fol- tun hat. Zum anderen ist er um eine Situationsein-
genden Appellaspekt enthalten: „Kommen schätzung des Senders bemüht: „Wie geht es dem
Sie bitte nachts nicht mehr so oft bzw. leiser Sender?“ Dieser Aspekt kann sich sowohl auf eine
ins Zimmer!“ momentane Situation wie auch auf eine Lebens-
situation beziehen. Dabei kann der Empfänger an-

!
Merke: Der Appellaspekt einer Nachricht hand verbaler oder nonverbaler gesandter Botschaf-
kann offen oder versteckt sein, und umfasst ten Gefühle entdecken. Voraussetzung für den Emp-
10
die Absicht, Verhalten zu verändern. fang solcher Botschaften ist eine gewisse Sensibilität
und Offenheit für das ausgedrückte Empfinden des
10.4.2 Vier Empfangs-Ohren Senders.
Dieselben Aspekte, die beim Senden einer Nachricht
mit ihren vier Botschaften in unterschiedlicher Aus- Beispiel: Die Pflegeperson könnte registrie-
prägung beinhaltet sind, spielen beim Empfänger ren, dass Herr M. verärgert ist. Sicherlich
einer Botschaft eine wichtige Rolle. Sie werden be- gibt es weitere Möglichkeiten, wie die Pfle-
züglich des Empfängers die vier „Empfangs-Ohren“ gekraft die Selbstoffenbarung des Herrn M. wahr-
genannt (Abb. 10.9). nimmt, was wiederum von der Gesamtsituation und
auch von der Befindlichkeit der Pflegeperson abhängig
▌ Sach-Ohr ist.
Der Sachaspekt einer Nachricht wird durch das ko-
gnitive Verständnis für die gesendeten Inhalte emp-

Abb. 10.9 Mit vier Ohren empfangen

Was ist das für Wie ist der


einer? Sachverhalt zu
Was ist mit ihm? verstehen?

Wie redet der Was soll ich tun,


eigentlich mit mir? denken, fühlen
Wen glaubt er vor auf Grund seiner
sich zu haben? Mitteilung?

294 Pflege und Beziehung BAND 1


10.4 Das Kommunikationsmodell nach Schulz von Thun

! !
Merke: Auf dem Selbstoffenbarungs-Ohr Merke: Auf dem Beziehungs-Ohr nimmt der
nimmt der Empfänger die Selbstdarstellung, Empfänger ein bestimmtes Verhältnis wahr,
Selbstenthüllung und damit verbundene Be- das vom Sender signalisiert wird.
findlichkeiten des Senders einer Nachricht wahr.
▌ Appell-Ohr
▌ Beziehungs-Ohr Mit dem Appell-Ohr hört der Empfänger, was von
Durch die Nachricht, die der Empfänger auf dem ihm gefordert wird, welches Verhalten bzw. welche
Beziehungs-Ohr hört, wird er persönlich angespro- Verhaltensveränderungen von ihm gewünscht wer-
chen. Diese Ansprache geschieht aufgrund eines be- den. Bei Übereinstimmung mit dem Sachaspekt
stimmten Verhältnisses der Gesprächspartner zuei- wird der Empfänger überlegen, was er tun kann,
nander, oder aufgrund einer vermuteten Beziehung um die Informationen umzusetzen.
durch Erwartungen an eine bestimmte Berufsgrup-
pe und die dazugehörige Aufgabe bzw. Rolle. „Wa- Beispiel: Die Pflegekraft empfängt im Bei-
rum behandelt der mich gerade so“ oder „wie redet spiel des Herrn M. mit ihrem Appell-Ohr
die Person mit mir“ und „als welche Person in wel- wahrscheinlich die Aufforderung, nachts
cher Rolle sieht mich der Sender der Botschaft“ kön- nicht mehr so oft bzw. leiser ins Zimmer zu kommen,
nen Fragen sein, die sich der Empfänger stellt. damit Herr M. durchschlafen kann.

!
Beispiel: Die nachtdiensthabende Pflege- Merke: Mit dem Appell-Ohr hört der Emp-
person fühlt sich im Beispiel des Herrn M. fänger, welches Handeln und welche Verhal-
vielleicht verantwortlich für die Gewährung tensänderung von ihm gewünscht wird.
einer ausreichenden Nachtruhe. Auf dem Beziehungs-
Ohr könnte sie die Nachricht hören: „Ich bin verant- Das beschriebene Beispiel verdeutlicht, dass das Ge-
wortlich dafür, dass Herr M. nicht schlafen konnte“ lingen von Kommunikation zu einem wesentlichen
10
(Abb. 10.10). Teil bei dem Empfänger einer Botschaft liegt.
Die eigentliche Herausforderung an den Empfän-
ger liegt darin, die Hauptnachricht zu entschlüsseln,
das Zusammenspiel von nonverbalen und verbalen
Kommunikationsaspekten zu verstehen und zu ent-

Abb. 10.10 Mit vier Ohren empfangen


mit Beispiel

„Herr M. „Herr M.‘s


scheint Nachtruhe
verärgert wurde
zu sein.“ gestört.“

„Ich bin verant- „Herr M. möchte,


wortlich dafür, dass dass ich nachts nicht
Herr M. nicht so oft bzw. leiser ins
schlafen konnte.“ Zimmer komme.“

BAND 1 Pflege und Beziehung 295


10 Kommunikation und Pflege

scheiden, welche Seite der Botschaft überwiegend Gefahren für Kommunikationsstörungen vermeiden
angesprochen ist, um dann entsprechend reagieren zu können, gibt Tab. 10.1 einen Überblick über sehr
zu können. Hört die Person „einseitig“, wird die ei- häufig auftretende Störfaktoren in der Kommunika-
gentliche Nachricht dann vielleicht gar nicht emp- tion.
fangen. Die Kenntnisse möglicher Störfaktoren können
helfen, Gesprächssituationen besser zu verstehen
Zusammenfassung: und daraufhin gezielt eine gelingende Kommunika-
Kommunikationsmodell (Schulz von Thun) tion anzustreben, die innerhalb des Pflegeprozesses
■ jede Nachricht hat vier Seiten: die Basis für professionelle Pflege und Teamarbeit
– Selbstoffenbarungsaspekt, darstellt.
– Beziehungsaspekt,

!
– Sachaspekt, Merke: Eine erfolgreiche Kommunikation
– Appellaspekt. ist dann gegeben, wenn das Kommunikati-
■ Der Empfänger hat die Aufgabe, die Hauptnach- onsziel für alle Beteiligten erreicht wird, die
richt zu entschlüsseln. Erwartungen an den Gesprächspartner sich somit er-
füllen und Bedürfnisse befriedigt werden können.

10.5 Kommunikationsstörungen Eine gelungene Kommunikation ist jedoch nicht nur


vermeiden von der Kenntnis um die verschiedenen Aspekte in-
nerhalb von Kommunikationsabläufen abhängig,
In den vorherigen Kapiteln wurden bereits einige sondern auch vom gekonnten „miteinander Reden“.
Bereiche benannt, die Gefahren einer Kommunikati- Für dieses Gelingen können folgende Kommunikati-
onsstörung in sich bergen können. Da die geschil- onsregeln hilfreich sein:
derten Vorgänge innerhalb des Nachrichtenquadra-
10 ▌
tes und der Empfangs-Ohren zu einem wesentlichen Kommunikationsregeln
Teil unbewusst ablaufen, ist es sinnvoll, nochmals Die zu beachtenden Grundsätze in der Gesprächs-
auf die Momente hinzuweisen, die Kommunikation führung gelten gleichermaßen für Sender und Emp-
zum Scheitern bringen können. fänger, da in einem Gespräch jede Person, entspre-
chend des Regelkreises der Kommunikation, beide

!
Merke: Eine Störung der Kommunikation Positionen einnimmt. Deshalb wird an dieser Stelle
liegt dann vor, wenn die an der Kommuni- keine explizite Trennung der Gesprächsregeln be-
kation beteiligten Personen ihr Ziel nicht er- züglich Sender und Empfänger vorgenommen.
reichen und dadurch die gewünschte Wirkung aus-
bleibt. ▌ 1. Eine gute Vorbereitung bestimmt den Erfolg
und das Ergebnis
Das hat zur Folge, dass z. B. Erwartungen an das Die Grundvoraussetzung für einen guten Gesprächs-
Verhalten einer Person nicht erfüllt oder eigene Be- anfang ist eine gute Vorbereitung. Hierfür muss ein
dürfnisse und die des Partners ggf. nicht befriedigt zeitlicher Freiraum geschaffen werden. Dazu sollte
werden. überlegt werden, in welche Situation sich die Ge-
Eine gestörte Kommunikation wirkt sich deshalb sprächspartner begeben, oder in welcher Situation
auch auf die Beziehung der Kommunikationspartner sich beide bereits befinden. Je nach Anlass des
aus. Kommunikationsstörungen können darüber hi- Gespräches ist es sinnvoll, dem Gespräch einen Rah-
naus auch in individuelle Lebensbereiche hineinrei- men zu geben, d. h. die Intention (Absicht) der Kom-
chen. Kontaktprobleme, Schulversagen, Einsamkeit, munikation kurz zu schildern, damit sich die
Depressionen u.v.m. bis hin zu Selbstmordgedanken Gesprächspartner darauf einstellen können. Zum
können Folgen von andauernden Kommunikations- richtigen Anfang gehört auch die Auswahl des Zeit-
störungen und damit verbundenen Konflikten sein. punktes, um dem Gespräch einen entsprechenden
Im Bereich des Pflegehandelns kann es aufgrund zeitlichen Rahmen zu geben (10.7).
von Kommunikationsstörungen zu Hindernissen im
Verlauf des Pflegeprozesses kommen. Um mögliche

296 Pflege und Beziehung BAND 1


10.5 Kommunikationsstörungen vermeiden

Tab. 10.1 Übersicht Kommunikationsstörungen

Semantische bzw. Nonverbale Inkongruente Psychologische Kommunikationsstörungen


verbale Kommunikations- Kommunikationsstörungen Kommunikation Kommunikationsstörungen innerhalb bestehender
störungen Beziehungen

Kommunikationsstörun- Nonverbale Kommunikati- Inkongruente Psychologische Kommunika- Kommunikationsstörun-


gen im semantischen Be- onsstörungen treten be- Kommunikation tionsstörungen treten beson- gen können innerhalb von
reich treten besonders sonders dann auf, wenn tritt besonders ders dann auf, wenn Beziehungen besonders
dann auf, wenn ● die nonverbale Nach- dann auf, wenn ● der Empfänger einer Nach- dann auftreten, wenn
● der Sender seine Nach- richt mehrdeutig ge- ● der verbale und richt besonders „einseitig“ ● Beziehungsprobleme
richt nicht entspre- sendet wird und nicht nonverbale As- auf nur einem der vier über den Sachaspekt
chend codiert eindeutig entschlüsselt pekt der Nach- „Empfangs-Ohren“ hört, einer Nachricht aus-
● der Empfänger den werden kann richt nicht zu- ohne die anderen Aspekte getragen werden
vom Sender verwende- ● bestimmte Zeichen sammenpassen der Nachricht wahrzuneh- ● Sachprobleme über den
ten Code nicht deco- aufgrund unterschiedli- bzw. men Beziehungsaspekt einer
dieren/entschlüsseln cher kultureller Bedeu- sich widerspre- ● der Kommunikationskanal Nachricht ausgetragen
kann tung nicht verstanden chen vom Sender nicht entspre- werden
● ungeeignete Kommuni- werden können chend dem Empfänger ● ein Gesprächspartner
kationsmittel und -ka- ● aufgrund von Rollen- ausgewählt wurde bewusst versucht, den
näle gewählt wurden merkmalen auto- ● Stress und Ärger etc. Beziehungsaspekt
matisch spezifische den eigentlichen Sach- außer Acht zu lassen
Verhaltensweisen er- aspekt einer Nachricht ver- ● ein Gesprächspartner
wartet werden drängen oder die eigene z. B. eine asymmetrisch
● durch das Nichtbeach- Befindlichkeit zum Zeit- angelegte Beziehung
ten von Kommunikati- punkt der Kommunikation mit der ihm obliegen-
onsdistanzen Signale im Vordergrund steht den Rolle und Position
vermittelt werden, die ● Wahrnehmungsstörungen nicht akzeptieren kann
nicht der Beziehung der auftreten, z. B. ● innerhalb einer Bezie-
Kommunikationspart- durch Vorurteile, Stereo- hung Gefühle von Ab-
ner entsprechen typisierungen, Wahrneh- hängigkeit, Unmündig- 10
mungsfehler (s. a. Band 2, keit etc. im Vorder-
Kap. 1) grund stehen
● Unklarheit über die Art
der Beziehung besteht

▌ ▌ 3. Die richtige Wortwahl treffen


2. Den Gesprächspartner ernst nehmen

Ungeachtet der Beziehung der Kommunikations- Worte können eine hemmende Wirkung auf die
partner zueinander lautet eine Hauptregel, die Per- Kommunikation haben, wenn sie z. B. unverständ-
spektive (Sichtweise) des Gegenüber zu berücksich- lich sind oder einen Inhalt bewerten. Auch die Fä-
tigen. Das verlangt von den Gesprächspartnern die higkeit, einen elaborierten Sprachcode anzuwenden,
Fähigkeit, sich in den anderen hineinversetzen zu hemmt die Kommunikation, wenn der Gesprächs-
können, um ggf. für einen Moment seine Sichtweise partner einen restringierten Sprachcode verwendet.
annehmen und so seine Argumente verstehen zu Die Nachricht bleibt dem Gesprächspartner unver-
können. Wird diese Regel berücksichtigt (unter- ständlich. Um solche semantische Kommunikations-
stützt durch gezieltes Nachfragen, s. a. Feedback), störungen zu vermeiden, sollte darauf geachtet wer-
ist der Boden für eine symmetrische Kommunikati- den, dass
on bereitet. ■ beide Gesprächspartner denselben Sprachcode
verwenden, oder bei Anwendung unterschiedli-

!
Merke: Den Gesprächspartner ernst neh- cher Sprachcodes diese gegenseitig verstanden
men zeigt sich in der Wertschätzung und werden,
in dem ihm entgegengebrachten Respekt, ■ die Sprache und Ausdrucksweise des Gesprächs-
nicht in der Übereinstimmung der Meinungen. partners berücksichtigt wird,
■ Fachsprache vermieden wird, sobald diese von
einem Gesprächspartner nicht verstanden wer-
den kann,

BAND 1 Pflege und Beziehung 297


10 Kommunikation und Pflege

■ eine eindeutige, klare Sprache verwendet wird, deutlich, von wem diese Nachricht eigentlich aus-
■ neutrale, nicht wertende Worte benutzt werden, geht. So kann es sich um eine Tatsache oder eine
um eine ungewollte Betroffenheit zu vermeiden. Meinung handeln. Ferner kann eine Nachricht be-
drohlich wirken, wenn durch „Wir“-Sprache die

!
Merke: Kommunikation kann durch die ganze Welt hinter einer Aussage zu stehen scheint.
Auswahl der für die Gesprächssituation an- In der Pflege erhält die „Wir“-Sprache ihre Bri-
gemessenen Worte und Sprachcodes positiv sanz zudem dadurch, dass Tätigkeiten zwar ange-
beeinflusst werden. kündigt, jedoch praktisch nur von einer Person
durchgeführt werden: „Wir waschen uns jetzt“. Bes-
▌ 4. Den geeigneten Kommunikationskanal ser wäre: „ich unterstütze Sie bei der Körperpflege“.
ansprechen Durch die Verwendung einer klaren Ich-Botschaft
Dieser Aspekt beinhaltet, sich zu überlegen, wie der erhält die Kommunikation ihre Deutlichkeit. Des-
Gesprächspartner die Nachricht empfangen kann. So halb sollten folgende Punkte beachtet werden:
ist es wenig sinnvoll, eine Broschüre zur Information ■ Ich-Botschaften senden und für sich selbst spre-
zu geben, wenn die betreffende Person an einer Seh- chen, es sei denn, es wird im Namen einer be-
einschränkung leidet. Um also diesbezüglichen stimmten Gruppe gesprochen. Dazu gehört auch
Missverständnissen vorzubeugen, muss eine dem das Aussprechen von Befürchtungen oder von
Gesprächspartner entsprechende Möglichkeit ge- dem, was einem nicht gefällt.
funden werden, die Nachricht verständlich und an- ■ „Wir“- und „Man“-Redewendungen sollten ver-
sprechend zu übermitteln. mieden werden, um Verallgemeinerungen ein-
zuschränken.

!
Merke: Die Auswahl eines oder mehrerer ■ Die eigene Meinung sollte nicht durch „Man“-Re-
geeigneter Kommunikationskanäle hilft, dewendung als Tatsache verkleidet, sondern als
Missverständnisse zu vermeiden. „Ich meine“, „Ich denke“ formuliert werden, um
10
herauszustellen, dass es um die persönliche Mei-
▌ 5. Die Eindeutigkeit der Körpersprache beachten nung geht.
Dem nonverbalen Verhalten in Kommunikations-

!
situationen kommt eine wesentliche Bedeutung zu. Merke: Das Senden von Ich-Botschaften
Zu beachten ist verdeutlicht den Inhalt einer Nachricht
■ eindeutige Signale gesendet werden, die der Ge- sowie die Beziehung der Gesprächspartner
sprächspartner verstehen kann, zueinander und zeigt eindeutig, von wem die Nach-
■ die verbale Nachricht und die Körpersprache zu- richt ausgeht.
einander stimmig bzw. kongruent sind,
■ die Kommunikationsdistanz dem Gesprächs- ▌ 7. Ein Feedback geben
anlass entspricht, Um zu klären, ob die Nachricht auch im Sinne des
■ Blickkontakt zum Gesprächspartner hergestellt Senders angekommen ist, oder um von Seiten des
werden kann, um Bereitschaft zur Kommunikati- Empfängers Unklarheiten zu beseitigen, ist ein Feed-
on zu signalisieren. back (Rückmeldung) notwendig. Hierdurch kann in
allen störanfälligen Bereichen, sei es nun im ver-

!
Merke: Der Inhalt von Nachrichten kann balen oder nonverbalen Bereich, eine Klärung her-
durch den Einsatz von eindeutiger Körper- beigeführt werden.
sprache unterstützt und verdeutlicht wer- Liegen nicht zu deutende Botschaften im Bereich
den. der Beziehung, ist hierdurch die Möglichkeit gege-
ben, Beziehungsprobleme anzusprechen und auf-
▌ 6. Für sich selbst sprechen zudecken. Nicht vergessen werden darf auch die
Ein wesentlicher Aspekt der kommunikativen Kom- Tatsache, dass ein Feedback beim Gesprächspartner
petenz besteht darin, Verallgemeinerungen im Ge- positive Verhaltensweisen stützen und fördern
spräch, z. B. die verbreitete Anwendung von Rede- kann, weil diese im Feedback anerkannt werden.
wendungen wie „man macht“ und „wir haben uns
überlegt“ zu vermeiden. Hierbei wird nämlich nicht

298 Pflege und Beziehung BAND 1


10.5 Kommunikationsstörungen vermeiden

Ein Feedback sollte immer aus Ich-Botschaften Folgende Aspekte gehören zu den Voraussetzungen,
bestehen. Des Weiteren helfen folgende Aspekte für um aktiv zuhören zu können:
das Gelingen des Feedbacks: ■ Von den Gesprächspartnern gehen Haltungen
■ Nachfragen gezielt stellen, um die nicht verstan- aus, die möglichst frei sind von vorgefassten Mei-
dene Botschaft möglichst genau zu benennen. nungen. Die Gesprächspartner nehmen sich
Das Feedback stellt sozusagen den Beginn eines ernst.
neuen Dialogs zwischen den Gesprächspartnern ■ Den Gesprächspartnern liegt eine wertschätzen-
dar. Der Gesprächspartner, dem das Feedback ge- de Haltung zugrunde, die weder beurteilen, Kri-
geben wurde, bekommt Gelegenheit, darauf zu tik üben, Ratschläge geben will, oder gar Schuld-
reagieren. gefühle wecken möchte. Sie ist von gegenseiti-
■ Auch durch Körpersprache wird ein Feedback ge- gem Respekt geprägt.
geben, so dass der Empfänger einer Nachricht die ■ Die Gesprächspartner haben eine möglichst sym-
Möglichkeit besitzt, eine nonverbale Rückmel- metrische Position zueinander.
dung zu senden. Diese muss jedoch eindeutig
sein. Die Form des aktiven Zuhörens empfiehlt sich, um
■ Das Feedback sollte zu einem Zeitpunkt gegeben Informationen zu gewinnen, um Konflikte zu klären,
werden, an dem der andere es auch annehmen um jemanden zu bestätigen oder zu unterstützen,
kann. oder um in einer emotionsgeladenen Situation für
■ Ein Feedback umfasst sowohl positive als auch Verständnis zu sorgen (s. a. 10.8).
negative Aspekte. Ist die Ausgangsposition der Gesprächspartner
■ Beim Anhören eines Feedbacks muss genau da- erst einmal geklärt, kann zur Problemlösung über-
rauf gehört werden, was der andere Mensch gegangen werden. Lässt sich eine Situation jedoch
sagen möchte. Der Feedbackgeber sollte nicht bereits im Anfang nicht klären, kann ggf. auf die
unterbrochen werden. Anwendung der Metakommunikation zurückgegrif-
10
■ Letztlich bedeutet Feedback-Geben die Weiterga- fen werden.
be von Informationen über die eigene Wahrneh-

!
mung. Es ist nicht dazu da, den anderen zu ver- Merke: Aktives Zuhören fördert die Quali-
ändern. tät der Kommunikation hinsichtlich des Ver-
ständnisses füreinander, der Reflexion von
▌ 8. Aktiv Zuhören Inhalten und Gefühlen sowie der Konzentration auf
Aktiv Zuhören ist mehr als nur die physiologische das Hauptanliegen des Gespräches.
Fähigkeit, mit den Ohren hören zu können und Aus-
sagen durch „mmh“ oder Kopfnicken zu bestätigen. ▌ 9. Die Möglichkeiten der Metakommunikation
Zuhören ist eine Tätigkeit, die auch mit den Augen, nutzen
dem Herzen, mit dem ganzen Körper durchgeführt Kommunikationsforscher halten das Gespräch über
wird. Es ist ein aktives Tun, das in dieser besonderen Kommunikation und Kommunikationsstörungen für
Qualität auch aktives Zuhören genannt wird. Seinen den wichtigsten Aspekt, um Klarheit zu gewinnen
Ursprung hat das aktive Zuhören in der humanisti- und Kommunikationsstörungen zu vermeiden.
schen Psychologie. Diese aktive Form des Zuhörens Metakommunikation ist die Auseinandersetzung
■ fördert die Klärung von Ausgangspositionen, um über die Art, wie Menschen miteinander umgehen.
zu einer Kommunikationsgrundlage zu gelangen, Unter dem aus der Psychologie kommenden Begriff
■ fördert das Verständnis der Gesprächspartner Metakommunikation werden dreierlei Aspekte ver-
füreinander, standen:
■ hilft, gezielte Feedbacks zu geben und darüber ■ Kommunikation über die Kommunikation,
hinaus Inhalte und Gefühle zu reflektieren, ■ Kommunikation über die Beziehung zwischen
■ fördert die Denkprozesse und trägt somit we- den Kommunikationspartnern,
sentlich zum Gelingen des Kommunikations- ■ Verdeutlichen, wie eine Information verstanden
regelkreises in allen Aspekten bei. Kommunikati- werden soll.
on wird dadurch präziser und intensiver.

BAND 1 Pflege und Beziehung 299


10 Kommunikation und Pflege

Metakommunikation als Kommunikation über die Die Chancen, die Metakommunikation bietet, liegen
Kommunikation dient z. B. dazu, Verabredungen z. B. in der Entspannung einer angespannten Situa-
und Regeln für die Art und Weise, wie Personen tion oder in der Möglichkeit, Situationen zu klären,
miteinander kommunizieren möchten, zu benen- um eine gemeinsame kommunikative Basis zu
nen. Es geht also um die Gestaltung einer Kommuni- schaffen und die Zusammenarbeit konstruktiv und
kationssituation, z. B.: „Wie wollen wir unser Ge- professionell zu gestalten.
spräch gestalten? Ich schlage vor, dass zunächst

!
jeder der Anwesenden eine kurze Stellungnahme Merke: Wann immer eine Situation fest-
abgibt, bevor wir die einzelnen Punkte näher dis- gefahren erscheint, ist Metakommunikation
kutieren. Sind Sie alle damit einverstanden?“ So eine Möglichkeit, Kommunikation und
können vor dem eigentlichen Gespräch Verein- menschliche Beziehungen konstruktiv in Bewegung
barungen getroffen werden, um ein Gespräch struk- zu setzen. Metakommunikation hilft durch Auseinan-
turiert und diszipliniert zu führen. Voraussetzung dersetzung über die Kommunikationsvorgänge, Kom-
ist jedoch, dass alle beteiligten Personen die auf- munikation an sich zu verstehen und diese erfolgreich
gestellten Regeln akzeptieren können. zu führen.
Metakommunikation als Kommunikation über
die Beziehung zwischen den Kommunikationspart- Zusammenfassung:
nern dient dazu, Positionen innerhalb von Kom- Neun Regeln für erfolgreiche Kommunikation
munikationssituationen zu klären. Sie hat jedoch 1. Das Gespräch vorbereiten.
auch das Ziel, Kommunikation partnerschaftlich zu 2. Den Gesprächspartner ernst nehmen.
gestalten. Hierbei steht die Frage im Vordergrund 3. Die richtige Wortwahl treffen.
„Wie erlebe ich dich und was spielt sich zwischen 4. Den geeigneten Kommunikationskanal anspre-
uns ab?“ chen.
5. Eindeutigkeit der Körpersprache beachten.
10
Beispiel: Ein Gesprächspartner könnte die 6. Für sich selbst sprechen.
Rückmeldung geben: „Ich erlebe Sie im Mo- 7. Feedback geben.
ment als sehr aufgeregt und habe den Ein- 8. Aktiv zuhören.
druck, dass Sie sehr verärgert sind. Ist das so?“ 9. Metakommunikation nutzen.

Auch der Aspekt, wie Kommunikation in diesem


Moment geschieht, kann ggf. zunächst analysiert
10.6 Kommunikation als
werden, wenn eine konstruktive Gesprächssituation Beziehungsgrundlage
nicht mehr möglich ist. In einer solchen Situation ist in der Pflege
es manchmal sinnvoll, das Gespräch zu unterbre-
chen, über das gemeinsame Verfahren zu beraten, Kommunikation ist die Grundlage des Pflegeprozes-
um dann die Kommunikation weiterhin erfolgreich ses. Die in der Kommunikation erhaltenen Informa-
zu gestalten. tionen dienen dazu, einen Eindruck über die Ge-
Metakommunikation zur Verdeutlichung, wie samtsituation des pflegebedürftigen Menschen zu
eine Information verstanden werden möchte, ist bekommen, d. h. nicht nur über seinen körperlichen
sehr eng mit der Beziehung zwischen den Kom- Zustand, sondern auch über die Bereiche des Lebens,
munikationspartnern verbunden. die durch die körperlichen Veränderungen betroffen
sind. Die Erfassung der Gesamtsituation bezieht sich
Beispiel: „Ich möchte jetzt nicht die Aus- deshalb auf die einzelnen Aktivitäten des täglichen
übung Ihrer Arbeit kritisieren. Gerne möchte Lebens. So kann auch der psychische, emotionale
ich erfahren, nach welchen Kriterien Sie die und soziale Bereich des kranken Menschen in Erfah-
Pflegemaßnahmen für den Patienten ausgewählt ha- rung gebracht werden.
ben.“

300 Pflege und Beziehung BAND 1


10.7 Spezielle Gesprächssituationen

Beispiel: Wichtig kann die Klärung sein, ob lich. Die Vorüberlegungen werden im Folgenden
die Angehörigen für die Zeit des Kranken- näher beschrieben.
hausaufenthaltes versorgt sind etc., damit
der Patient nicht durch die Sorge um die Angehörigen Zusammenfassung:
noch zusätzlich belastet ist. Kommunikation in der Pflege
■ Ziel der Kommunikation in der Pflege ist, eine pro-

!
Merke: Das Ziel der Kommunikation be- fessionelle Beziehung aufzubauen, in der erfolgrei-
steht in der Pflege u. a. darin, eine Beziehung che Pflege möglich ist.
aufzubauen, innerhalb der eine erfolgreiche ■ Mittel:
Pflege möglich wird. – Transparenz, Offenlegung des Ziels der Pflege,
– symmetrische Beziehung,
Die Qualität der Kommunikation kann jedoch sehr – Fragestellung und Feedback, aktives Zuhören.
unterschiedlich sein. Sie ist abhängig von der kom-
munikativen Kompetenz, dem eigenen Selbstver-
ständnis sowie Rollenverständnis als Pflegekraft, 10.7 Spezielle
oder aber auch von der Einstellung der Kommuni- Gesprächssituationen
kationspartner sowie den Erwartungen, die eine
Pflegeperson an den Betroffenen stellt und umge- Spezielle Kommunikationssituationen erfordern
kehrt. speziell strukturierte Vorgehensweisen. Im Pflege-
Eine wesentliche Bedingung für den gelungenen beruf werden täglich sehr spezielle Gespräche, wie
Aufbau einer Beziehung ist Transparenz. Das bedeu- z. B. Informations-, Beratungs-, Anleitungs- sowie
tet, der hilfsbedürftige Mensch erfährt z. B., warum Konfliktgespräche u. v. m., geführt. Unabhängig von
gewisse Informationen für die Pflegeanamnese er- der Art des zu führenden Gespräches sind einige
beten werden. Dadurch wird dem Betroffenen das Vorüberlegungen notwendig, um den unterschiedli-
10
Ziel des Gespräches verdeutlicht. chen kommunikativen Ansprüchen gerecht zu wer-
Notwendig ist außerdem eine gezielte Ge- den.
sprächsführung, um sich einer symmetrischen Be-
ziehung anzunähern. Spürt der zum Krankenhaus- 10.7.1 Vorüberlegungen
aufenthalt gezwungene Mensch echtes Interesse, so Die Vorüberlegungen sollen helfen, sich für eine Art
entwickelt sich ein Gespräch, das die Basis für ge- des Gespräches zu entscheiden, das Ziel zu verdeut-
genseitiges Vertrauen bilden kann. Durch aktives lichen und Besonderheiten z. B. bezüglich des Ge-
Zuhören, aufmerksame Fragestellungen und Feed- sprächspartners zu berücksichtigen.
backs gelingt es dann, eine Beziehung zu gestalten, Je nach Art des Gespräches erhält dieses somit
auf deren Grundlage gemeinsam mit dem hilfs- einen speziellen Schwerpunkt, der dann im Vorder-
bedürftigen Menschen Ziele im Pflegeprozess for- grund steht.
muliert werden können. Auch hierbei sollte die Be- Die Vorüberlegungen zur Planung von Kommuni-
deutung des Fragen-Stellens als gemeinsame Ar- kationssituationen betreffen die Kriterien Intention,
beitsgrundlage erklärt werden, um Verständnis Aufmerksamkeit, Behalten, Teilnehmen und Wahr-
und Einverständnis zu erzielen. nehmung. Die einzelnen Kriterien stehen in enger
Der betroffene Mensch wird durch das Einbezie- Wechselbeziehung zueinander; ihre Übergänge
hen zum aktiv mitgestaltenden Partner und ist nicht sind fließend.
mehr nur passiver Teilnehmer, an dem gehandelt
und der behandelt wird. ▌ Intention eines Gespräches
Um diesen Ansprüchen des Beziehungsaufbaus Zunächst können vier Leitfragen gestellt werden, um
gerecht zu werden und für das Erreichen der Ziele die Intention eines Gespräches, d. h. die Absicht, mit
zu sorgen, sind einige Vorüberlegungen notwendig. der es erfolgt, zu klären:
Diese betreffen z. B. die Bestimmung der Gesprächs- 1. Inhalt des Gespräches?
art mit dem entsprechenden Ziel sowie besonders 2. Wer ist der Gesprächspartner?
zu beachtende Aspekte z. B. bezüglich der Rahmen- 3. Grund des Gespräches?
bedingungen. Auch die Planbarkeit und Spontaneität 4. Geeigneter Moment für das Gespräch?
solcher Gesprächssituationen wird dadurch deut-

BAND 1 Pflege und Beziehung 301


10 Kommunikation und Pflege

Was ist der Inhalt des Gespräches? Diese erste Frage ▌ Aufmerksamkeit
bezieht sich z. B. auf den Sachaspekt eines Gesprä- Das Kriterium Aufmerksamkeit klärt die Frage, wie
ches. Beinhaltet das Gespräch die Klärung eines der Empfänger einer Nachricht die Signale optimal
Konfliktes, kann neben dem Sachaspekt auch der empfangen kann. Konkret geht es um die Wahrneh-
Beziehungsaspekt eine wesentliche Rolle spielen. mung von Nachrichten über die verschiedenen
Nachdem diese Frage geklärt wurde, ist es not- Kommunikationskanäle (s. a. 10.1 und 10.2). Der
wendig, eine persönliche Einschätzung zur eigenen Sender einer Nachricht überlegt sich hierzu, über
Kompetenz bezüglich des zu klärenden Inhaltes vor- welchen Kommunikationskanal er den Gesprächs-
zunehmen. Das ist notwendig für die Entscheidung, partner am besten erreichen kann, um dem Emp-
ein spezielles Gespräch selbstständig durchzuführen fänger seine Nachricht zu verdeutlichen. Dement-
oder ggf. eine Fachperson zur Hilfe hinzuzuziehen. sprechend wird der Sender seine Auswahl an Kom-
Die nächste Leitfrage bezieht sich auf den Emp- munikationskanälen treffen.
fänger. Wer ist der Gesprächspartner? soll klären, Die Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit des
welche Erwartungen der Kommunikationspartner Empfängers zu erregen, besteht darin, dass nur ein
hat und über welche Erfahrungen er verfügt. Hierzu aufmerksamer Mensch Informationen aufnehmen
gehört auch die persönliche Situation des Empfän- kann. Ferner kann ein Mensch durch die Aufmerk-
gers, die z. B. beim kranken Menschen einen starken samkeit eigenverantwortlich und aktiv an Entschei-
Einfluss auf die Erwartungen an die Pflegeperson als dungen beteiligt sein.
Sender einer Nachricht ausübt. Je mehr die Pflege- Nachrichten jeglicher Art können mit den fünf
person über den Empfänger ihrer Nachricht infor- Sinnen bzw. Kommunikationskanälen aufgenom-
miert ist, desto gezielter und erfolgreicher kann die men werden: durch Sehen, Tasten, Riechen, Hören
Kommunikation gestaltet werden. und Schmecken. Ob Informationen, Geschehnisse
Die dritte Leitfrage erfasst den Grund, den ei- etc. Aufmerksamkeit erregen, hängt von zwei Fak-
gentlichen Anlass der Kommunikation. Warum fin- toren ab:
10
det das Gespräch statt? Diese Frage klärt die Art des Objektive Faktoren sind die Einflüsse von außen,
Gespräches, so dass entschieden werden kann, ob es die Aufmerksamkeit auf sich lenken können. Das
sich z. B. um ein Informationsgespräch oder ein Be- kann z. B. eine bestimmte Art der Bewegung eines
ratungsgespräch handelt. von Schmerzen geplagten Menschen sein, ein Ge-
Der vierte Aspekt zur Verdeutlichung der Inten- räusch, Musik, Situationen usw., worauf eine Person
tion von Kommunikation ist die Frage nach dem aufmerksam wird.
Zeitpunkt der Kommunikation. Wann ist der geeig- Objekte wirken z. B. in ihrer Ästhetik, durch ihre
nete Moment für das geplante Gespräch? Die Antwort Größe, Neuheit, Intensität, oder weil sie Betroffen-
darauf richtet sich nach der Art der Gesprächsinhal- heit hervorrufen. Außergewöhnliche Ereignisse er-
te. Bei Informationen, die voraussichtlich belastende regen ein größeres Maß an Aufmerksamkeit als ge-
Nachrichten darstellen, muss unbedingt der aktuelle wohnte Ereignisse, auch wenn diese gewohnten Er-
seelische Zustand des hilfsbedürftigen Menschen eignisse noch so spektakulär in ihrem Ausmaß sein
berücksichtigt werden. Weitere Faktoren, die die sollten.
Auswahl des Zeitpunktes für eine gezielte Kom- Die subjektiven Faktoren beziehen sich auf jene
munikation beeinflussen, wie z. B. der Zeitaufwand, Einflüsse in den Personen selbst. So kann Müdigkeit,
die Dringlichkeit eines Gespräches oder Rahmenbe- Verärgerung etc. die Aufmerksamkeit einer Person
dingungen (Vorbereitung des Raumes etc.), finden beeinflussen. Ferner geht es um die Faktoren, die
zuvor Beachtung. ein Mensch selber erlernt und verinnerlicht hat,
Die Frage nach der Intention eines Gespräches die verstanden werden, oder die ihn interessieren.
klärt die Absicht und den Anlass unter Berücksich- Diese inneren subjektiven Faktoren, die bei jedem
tigung der Individualität des Gesprächspartners und Menschen aufgrund von Erfahrungen und Interes-
des geeigneten Zeitpunktes. sen anders ausgerichtet sind, führen dazu, dass Be-
ziehungen, Situationen etc. auf ebenso unterschied-
liche Weise wahrgenommen werden.
Die objektiven und subjektiven Faktoren haben
folgende Konsequenz für die Planung von Kom-

302 Pflege und Beziehung BAND 1


10.7 Spezielle Gesprächssituationen

munikationssituationen: Es ist grundsätzlich zu Die Überlegungen zur Aufmerksamkeit unter Be-


überlegen, welche Kommunikationskanäle die Auf- rücksichtigung von objektiven und subjektiven Fak-
merksamkeit der Gesprächspartner erregen können. toren sollen klären, wie am besten die Bereitschaft
In Institutionen des Gesundheitswesens bedeutet zur Aufnahme einer Nachricht geschaffen werden
dies, im Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen zu und welchen Nutzen der Empfänger daraus ziehen
überlegen, wie Aufmerksamkeit für Informationen kann.
über bestimmte Maßnahmen geweckt werden
kann. Auch für den pflegerischen Bereich sind sol- ▌ Behalten
che Möglichkeiten denkbar. Um Nachrichten verarbeiten zu können, müssen sie
behalten werden. Eine grundlegende Voraussetzung
Beispiel: Möchte die Pflegefachkraft einen dafür ist die Motivation, die durch die Aufmerksam-
Blasenkatheter legen, so kann sie dem Be- keit gefördert werden kann, indem dem Empfänger
troffenen mit einem „Anschauungskatheter“ der Nutzen verdeutlicht wird. Er soll die Nachricht
zu Demonstrationszwecken und mit verbalen Erklä- speichern, sich erinnern und diese gebrauchen kön-
rungen durchaus verständlich machen, zu welchem nen.
Zweck sie diese Maßnahme durchführt, ohne dem Be- Trotzdem kommt es dann immer wieder zum
troffenen ein außergewöhnliches Vorstellungsver- Vergessen, insbesondere, wenn jemand die Nach-
mögen abzuverlangen. richt nicht über die dem Empfänger entsprechenden
Kommunikationsmittel und -kanäle gesendet hat,
Sie nutzt somit zur Veranschaulichung verbale Reize die Nachricht zu kompliziert war oder gar zu viele
kombiniert mit optischen, damit sich der Betroffene Informationen gleichzeitig gegeben wurden. Behal-
die Maßnahme besser vorstellen kann. In diesem ten und Erinnern sind abhängig von der Qualität der
Fall werden die Kommunikationskanäle und -mittel gesendeten Nachricht.
Sprache (Hören) und Visualisierung (Sehen) genutzt, Durch einige zu berücksichtigende Aspekte kann
10
um Vertrauen durch Verstehen aufzubauen und dem Vergessen entgegengewirkt und das Behalten
damit Einverständnis für die erforderlichen Eingriffe gefördert werden.
zu erreichen. Für das Senden von Nachrichten ist es notwen-
In Fällen, in denen dem betroffenen Menschen dig, möglichst viele Sinne anzusprechen oder auch
bestimmte Sinne nicht mehr zur Verfügung stehen, Ressourcen zu nutzen (z. B. bei Patienten mit Ein-
muss die Pflegeperson geeignete Möglichkeiten fin- schränkungen bezogen auf die Wahrnehmungs-
den, Aufmerksamkeit zu erlangen, um Verständi- fähigkeit, wie Sehen, Hören, Sprechen), um den zu
gung zu ermöglichen. vermittelnden Sachverhalt überhaupt zugänglich zu
Die zweite Konsequenz zielt auf die Transparenz machen. Diesbezüglich wird auch von sog. „Behalt-
der Maßnahme ab, auf die Frage des Nutzens, des werten“ gesprochen, die den unterschiedlichen Er-
Gewinns für den Empfänger der Nachricht. Diese folg verdeutlichen:
Aspekte müssen gleich zu Beginn der Kommunika- ■ lesen: etwa 10 %,
tion verdeutlicht werden. Dazu müssen auch sub- ■ hören: etwa 20 %,
jektive Faktoren, wie z. B. persönliche Erfahrung, be- ■ sehen: etwa 30 %,
rücksichtigt werden. ■ sehen und hören: etwa 50 %,
■ selbst vortragen: etwa 70 %,
Beispiel: Im Beispiel des zu legenden Bla- ■ selbst ausführen: etwa 90 %.
senkatheters könnte aufgrund einer negati-
ven Erfahrung auch eine ablehnende Hal- Hinsichtlich dieser Werte soll auf keinen Fall der
tung gegenüber der Maßnahme auftreten. Eindruck entstehen, dass ausschließlich das eigen-
ständige Handeln zum gewünschten Erinnern, Ver-
Auch dadurch wäre die Aufmerksamkeit erregt, je- halten und Können führt. Es ist durchaus sinnvoll,
doch bedürfte es in einem solchen Fall weiterer sich vielleicht visuell mit einer Maßnahme zu be-
Nachforschungen, um den persönlichen Vorteil und schäftigen, dann sich mit einem geeigneten Text
Nutzen verdeutlichen zu können. auseinanderzusetzen usw., bevor die praktische
Übung durchgeführt wird. Hierbei spielt die indivi-

BAND 1 Pflege und Beziehung 303


10 Kommunikation und Pflege

duelle Einschätzung, wie Sachverhalte am besten Entsprechend sollten am Anfang und Ende eines
behalten werden können, eine bedeutende Rolle. Be- Gespräches eher positive emotionale Informationen/
rücksichtigt werden muss jedoch unbedingt: Je Nachrichten gegeben werden, da diese durch den
komplexer der zu vermittelnde Sachinhalt ist, desto gewählten Zeitpunkt am ehesten im Gedächtnis
gezielter müssen die einzelnen Schritte geplant bleiben. Wird die strukturierte und dosierte Infor-
werden. Ist das Ziel einer Nachricht das Können mationsweitergabe an hilfsbedürftige Menschen be-
einer bestimmten Maßnahme, so sollte das Wissen rücksichtigt, so kann dies das Gefühl der Sicherheit
durch baldiges praktisches Einüben gefestigt wer- in der häufig nur wenig kontrollierbaren Situation
den. Aber auch das Durchdenken und Wiederholen der Erkrankung oder Behinderung unterstützen.
von Informationen und Handlungsabläufen unter-

!
stützt das Behalten von Sachverhalten. Merke: Vorüberlegungen, wie Inhalte einer
Eine andere Ursache des Vergessens ist ein Zuviel Nachricht am besten behalten werden kön-
an neuen Inhalten, die ältere Informationen über- nen, haben zum Ziel, Gesprächssituationen
decken können, besonders dann, wenn kaum Gele- so effektiv wie möglich zu gestalten.
genheit war, die vorherigen Kenntnisse zu vertiefen.
Hier eignet sich das Vermitteln von Informationen in Zusammenfassung:
kleinen Schritten mit Pausen ebenso wie die zuvor Gespräche in der Pflege
genannten Tipps. Bei allen Gesprächstypen gelten die gleichen Vorüber-
Bedeutung hat die Verarbeitung von Nachrichten legungen für erfolgreiche Gespräche:
in kleinen Schritten aber auch für die eigene Aus- ■ Was ist die Absicht und der Anlass für das Ge-
bildung, in diesem Fall das Lernen. Wichtig ist sie spräch?
auch in der Begegnung mit vergesslichen, z. B. älte- ■ Wie bekomme ich die Aufmerksamkeit meines Ge-
ren Menschen. Erhalten diese eine Fülle von anei- sprächspartners?
nandergereihten Informationen, so sind sie schnell ■ Wie behält mein Gesprächspartner die Informatio-
10
überfordert und fühlen sich unter Druck gesetzt. nen?
Informationen wohldosiert in kleinen Schritten zu ■ Wie fördere ich seine aktive Teilnahme am Ge-
vermitteln, hilft auch dem Pflegepersonal, da es spräch?
sich stereotype Wiederholungen („das habe ich ■ Wie nehme ich meinen Partner – und er mich –
Ihnen doch schon mal erklärt“) ersparen kann. Vor wahr?
allem aber bleibt dem hilfsbedürftigen Menschen
hierdurch das Gefühl der Überforderung in der ▌ Teilnahme
neuen Umgebung erspart. Die Planung der Teilnahme zielt darauf ab, die aktive
Beteiligung des Kommunikationspartners zu för-
Beispiel: Eine einfache Übung verdeutlicht, dern. Das Kriterium der Teilnahme zieht sich durch
welche Informationen in einer bestimmten alle Vorüberlegungen zur Gestaltung von Kommuni-
Zeit behalten werden können: kation hindurch.
Lassen Sie sich von einem Gesprächspartner ca. ■ Der Sender einer Nachricht plant hierzu bereits
15 – 20 Gegenstände benennen. Anschließend ver- bei den Überlegungen zur Intention, welchen Nut-
suchen Sie, diese Gegenstände zu wiederholen, wobei zen der Empfänger von der Botschaft hat, wie er
die Reihenfolge der Nennung vernachlässigt werden diese verarbeiten kann, also wie der Kommunika-
kann. tionspartner an dem Gespräch und der ganzen
Situation zu seinem Nutzen teilnehmen kann.
Festzustellen ist, dass üblicherweise die zuerst und ■ Er überlegt sich, wie Aufmerksamkeit erregt wer-
die zuletzt benannten Gegenstände zügig wieder- den kann, also soll auch hier eine aktive Teilnah-
holt werden können, während die anderen nur me erzielt werden.
mühsam genannt bzw. nicht erinnert werden kön- ■ Der Sender überlegt, wie der Empfänger durch
nen. Besonders wichtige Informationen sollten des- Eigenbeteiligung einbezogen werden und so
halb zu Beginn bzw. zum Ende eines Gespräches Sachaspekte besser behalten kann.
gegeben werden.

304 Pflege und Beziehung BAND 1


10.7 Spezielle Gesprächssituationen

Dadurch entsteht ein Dialog mit wechselseitiger Diese Problematik der unterschiedlichen Sicht-
Aufrechterhaltung der Kommunikation. Kann ein weisen kann Kommunikation erheblich erschweren.
Gesprächspartner z. B. aufgrund von Kommunikati- Deshalb muss eine Vorüberlegung bezüglich der
onsstörungen nicht mehr am Gespräch teilnehmen, Wahrnehmung sein, die Nachricht so zu senden,
ist der Dialog beendet. dass der Empfänger den Standpunkt des Senders
Um diese Teilnahme zu erreichen, ist es notwen- versteht. Hilfreich kann diesbezüglich sein, sich in
dig, Feedback einzufordern oder zu ermöglichen. die Position des Gesprächspartners hineinzuverset-
Dadurch erkennt der Sender, ob der Empfänger die zen. Voraussetzung hierfür ist, möglichst viel über
Nachricht verstanden hat, um weiterhin am Ge- den Gesprächspartner und seine besondere Situati-
spräch teilnehmen zu können. on zu erfahren. Im Rahmen des Pflegeprozesses ist
Auch das Zuhören (s. a. 10.5) ist eine aktive Teil- das insbesondere in der Phase der Informations-
nahme an der Kommunikation, auch wenn vom Zu- sammlung und Erhebung der Pflegeanamnese mög-
hörenden in diesem Moment keine verbale Aktivität lich.
erfolgt.

!
Die Vorüberlegung zur aktiven Beteiligung des Merke: Werden Personen von anderen Per-
Gesprächspartners hat den Dialog zum Ziel. Die ak- sonen wahrgenommen, so wird dieser Vor-
tive Beteiligung findet sich in allen Bereichen des gang auch soziale Wahrnehmung genannt.
Kommunikationsregelkreises, jedoch stellt das Feed-
back eines der wichtigsten Möglichkeiten zur Teil- Die Art und Weise, wie eine Person eine andere
nahme dar. wahrnimmt, wirkt sich auf den Umgang miteinan-
der aus. Die Wirkung sozialer Wahrnehmung und
▌ Wahrnehmung des weiteren Kommunikationsverlaufes zwischen
Grundsätzlich sind Aufmerksamkeit und Wahrneh- zwei sich begegnenden Menschen verdeutlicht
mung sehr eng miteinander verbunden. Wahrneh- Abb. 10.11. Wie mag die Kommunikation zwischen
10
mung dient dazu, sich ein Bild von seinem Gegen- diesen beiden Personen wohl verlaufen?
über oder von einer Situation zu machen. Bei der Weiterhin beinhaltet der Begriff soziale Wahr-
Wahrnehmung interpretiert der Empfänger die nehmung auch psychische und soziale Aspekte, wie
Nachricht auf eine bestimmte Art und Weise. Wahr- z. B. Wertvorstellungen und Vorurteile, Gelerntes,
nehmungsvorgänge geschehen zum Teil unbewusst
und auf der Basis verschiedener Einflussfaktoren. Zu
diesen Faktoren gehören
■ Selbstwahrnehmung,
■ äußere Faktoren,
■ soziale Vergleichsprozesse.

Diese Einflussfaktoren sind geprägt durch Erzie-


hung, Bildung und Erfahrungen, die ein Mensch im
Laufe seines Lebens macht. Dabei entwickelt er be-
stimmte geistige Ordnungssysteme, entsprechend
denen er dann wahrnimmt, vergleicht und reagiert.
So gelangt ein Mensch zu verschiedenen Stand-
punkten, Einstellungen und Meinungen (s. a. Band
2, Kap. 1). Zwei Personen können das gleiche Signal
empfangen und dennoch unterschiedlich wahrneh-
men und interpretieren.
Beispiele dafür finden sich oft in Diskussionen
um wirtschaftliche Belange einer Institution: Wäh-
rend die eine Position von Umsatzwachstum durch
gezielte Maßnahmen spricht, fürchtet die andere
Position um Arbeitsplätze. Abb. 10.11 Soziale Wahrnehmung

BAND 1 Pflege und Beziehung 305


10 Kommunikation und Pflege

Erwartungen, die eigene momentane emotionale genschaften ihm zugeschrieben werden und wel-
Stimmung, aber auch die berufliche Position, Rollen- cher Eindruck von ihm gewonnen wurde. Mögli-
beziehungen (beruflich und privat), Bedürfnisse cherweise können mithilfe der oben genannten Leit-
sowie das persönliche Selbstverständnis. Auch die fragen Vorurteile oder Situationen aufgedeckt wer-
soziale Schichtzugehörigkeit sowie kulturelle Aspek- den, die für einen verfälschten Eindruck verant-
te haben maßgeblichen Einfluss auf die Art und wortlich sind, so dass dieser korrigiert werden kann.
Weise, wie wir unsere Mitmenschen wahrnehmen. Ein Beruf wie die Pflege verlangt eine professio-
Da Pflegepersonen immer mit Menschen zu tun nelle Einstellung: Die Haltung anderen Menschen
haben, spielt die soziale Wahrnehmung, z. B. bei der gegenüber muss von Offenheit und bewusster
Erstellung einer Pflegeanamnese, eine große Rolle. Wahrnehmung geprägt sein. Überlegungen zu den
Zur Verdeutlichung können drei Leitfragen zur so- formulierten Leitfragen können die Entwicklung
zialen Wahrnehmung hilfreich sein: einer solchen Haltung unterstützen.
1. Welche Kriterien sind wichtig, wenn sich Pflege- Durch Vorüberlegungen zur Wahrnehmung kön-
personen einen Eindruck von einem Menschen nen Wahrnehmungsverzerrungen und verfälschte
verschaffen möchten? Eindrücke von anderen Menschen vermieden wer-
2. Wie beeinflusst die äußere Erscheinung eines den.
Menschen den Eindruck, der von ihm gewonnen Tab. 10.2 gibt einen Überblick über die wichtigs-
wird? ten Aspekte der Gesprächsvorbereitung.
3. Wie bilden sich Urteile über andere Menschen? Die zuvor beschriebenen Vorüberlegungen sind
die Voraussetzungen für die im Folgenden dar-
Diese drei Leitfragen sollen die Gefahr der Wahr- gestellten speziellen Gesprächssituationen. Diese
nehmungsfehler verhindern (s. a. Band 2, Kap. 1). kommen in Institutionen des Gesundheitswesens
Wahrnehmungsfehler führen zu einem verfälsch- täglich vor.
ten Eindruck von Personen. Gelangt eine Pflegeper- Vorüberlegungen wirken sich positiv auf Ge-
10
son im Umgang mit einem hilfsbedürftigen Men- sprächsgestaltung, Erfolg, Verständlichkeit und
schen zu einem falschen Eindruck, kann das u. U. auch auf die eigene Sicherheit in besonders schwie-
eine falsche Pflegemaßnahme zur Folge haben, ggf. rigen Situationen aus. Dabei spielt Routine eine
mit weitreichenden Konsequenzen. wichtige Rolle.
Ursachen für Wahrnehmungsfehler sind zum
einen die zuvor beim Thema Aufmerksamkeit er- 10.7.2 Informationsgespräche
wähnten subjektiven Einflüsse (Emotionen, Motiva- Ein Informationsgespräch verfolgt immer ein oder
tion, Interesse, soziale Situation). Auch die physische mehrere Ziele, es ist somit zweckgebunden. Im Vor-
Konstitution einer Pflegeperson kann sich auf die dergrund steht das Erreichen von Transparenz zu
Wahrnehmung auswirken. In der täglichen Stations- einem bestimmten Thema. Auch die Aufnahme-
arbeit sind das Unruhe, Rückenschmerzen etc., die bereitschaft zur Umsetzung von Neuerungen sowie
zu Wahrnehmungsfehlern führen können. das Gewinnen von Sicherheit im Handeln sind Ziel-
Diese individuellen Befindlichkeiten können ihre setzungen eines Informationsgespräches.
Auslöser in den zuvor beschriebenen objektiven Bezogen auf die Information eines pflegebedürf-
Faktoren haben, wie z. B. in knappen personellen tigen Menschen ist auch das Erreichen von Koope-
bzw. zeitlichen Ressourcen. Hier gilt es, sich solche ration ein häufiges Ziel dieser Gespräche, da Infor-
Besonderheiten und Einflüsse auf die Wahrneh- mationen die Basis für Handeln darstellen. Unter
mung bewusst zu machen, da sie zu einem falschen Berücksichtigung des Beziehungsaspektes stellen
Eindruck von dem anderen Menschen führen kön- sie auch ein Forum für Fragen dar, um durch Trans-
nen. parenz der Informationen zu dem beabsichtigten
Da die Wahrnehmung einer der störanfälligsten Ziel zu gelangen.
Bereiche von Kommunikation ist, erscheint es not- In der Pflege haben Informationen drei Haupt-
wendig, sich in manchen Situationen klarzumachen, aspekte:
wie der Gesprächspartner gesehen wird, welche Ei-

306 Pflege und Beziehung BAND 1


10.7 Spezielle Gesprächssituationen

Tab. 10.2 Vorüberlegungen zur Gestaltung spezieller Gesprächssituationen

Intention Aufmerksamkeit Behalten Teilnahme Wahrnehmung

Die Vorüberlegungen Die Aufmerksamkeit in Die Vorüberlegungen dazu, Durch Vorüberlegungen Die Vorüberlegungen
zur Intention klären fol- einer Gesprächssitua- wie sich der Gesprächspart- bezüglich der Teilnahme zur Wahrnehmung wol-
gende Aspekte: tion wird beeinflusst ner die Gesprächsinhalte am wird geplant, wie und len, um einen falschen
● Was ist der Inhalt durch: besten merken kann, berück- wann: Eindruck zu vermeiden,
des Gespräches? ● Äußere Einflüsse, sichtigen: ● Der Empfänger einer grundsätzlich klären:
● Wer ist der Ge- wie z. B. Intensität, ● Die Motivation des Ge- Nachricht aktiv an der ● Wie eine Person zu
sprächspartner? Größe, Bedeutung, sprächspartners Kommunikation teilneh- einem bestimmten
● Welches ist der An- Neuheit ● Die Ansprache der geeig- men kann Eindruck kommt
lass, der Grund des ● Innere Einflüsse, neten Sinne, der Kom- ● Ein Feedback eingeplant ● Welchen Einfluss die
Gespräches? z. B. munikationskanäle oder eingefordert wer- äußere Erscheinung
● Wann ist der geeig- Müdigkeit, voraus- ● Die Möglichkeit zur prakti- den kann. Es ermöglicht dabei spielt
nete Zeitpunkt zur gegangene Erfah- schen Übung darüber hinaus den akti- ● Wie daraufhin die
Durchführung eines rungen etc. ● Die Notwendigkeit zum ven Dialog zwischen persönliche Urteils-
Gespräches? Wiederholen und Durch- beiden Gesprächspart- bildung erfolgt
denken eines Sachverhal- nern
tes
● Das Vermitteln von Sach-
verhalten in kleinen Schrit-
ten

1. Informationen sind Basis für den Pflegeprozess, Beziehung zwischen den Kommunizierenden aus-
2. Informationen sind notwendig, um die Zusam- wirkt.
menarbeit mit anderen Berufsgruppen zum Nut-
10

!
zen des hilfsbedürftigen Menschen zu gestalten, Merke: Das Informationsgespräch ist ziel-
3. Informationen an den hilfsbedürftigen Menschen gerichtet, wobei der Sachaspekt im Vorder-
bilden die Grundlage für ein gemeinsames zielge- grund steht. Das Ziel ist, Transparenz zu
richtetes Miteinander. schaffen, um Sicherheit im Handeln zu erreichen und
Möglichkeiten zur Mitentscheidung zu schaffen.
Die Inhalte des Informationsgespräches beziehen
sich hauptsächlich auf die Vermittlung von Fakten, ▌ Informationsgespräche mit dem Patienten
wie z. B. die Vorgehensweise bei bestimmten Pflege- Im Rahmen von Informationsgesprächen mit dem
maßnahmen, Inhalte von Dienstanweisungen, Um- hilfsbedürftigen Menschen müssen Informationen
gang mit neuen Medikamenten oder die Vorstellung dem Betroffenen so angeboten werden, dass er
von Jahresstatistiken. diese verstehen und verarbeiten kann. Zur Gestal-
Der Empfänger soll aufgrund der erhaltenen In- tung eines effektiven Informationsgespräches mit
formation Nutzen daraus ziehen können und das dem pflegebedürftigen Menschen sind im Folgen-
neue Wissen auch anwenden. Dieses Wissen bildet den einige Überlegungen aufgeführt, die als Leitfa-
die Grundlage, auf der dann weitere Informationen den genutzt werden können.
aufgebaut werden können.

!
Fehler, die im Zusammenhang mit Informations- Merke: Ein maßgeblicher Aspekt für ein er-
gesprächen gemacht werden, sind die Verwendung folgreiches Informationsgespräch ist die
von Fachsprache, die nicht von allen Empfängern Auswahl von Inhalt und Zielsetzung der In-
verstanden wird, oder die Vermittlung von mehr formation. Hierauf basiert jedes weitere Vorgehen.
Informationen als verarbeitet werden können. Bei-
des kann dazu führen, dass das Ziel der Information Der Inhalt einer Information kann sehr kurz und
nicht erreicht wird. Dies sollte deshalb bereits in der wenig erläuterungsbedürftig sein, wie z. B. die Infor-
Vorbereitung ausgeschlossen werden. Es kann sonst mation über den Zeitpunkt einer angeordneten Un-
anstelle eines Gefühls von Sicherheit das der Unsi- tersuchung (sofern der Betroffene bereits durch die
cherheit entstehen, welches sich wiederum auf die zuständige Person zur Notwendigkeit aufgeklärt

BAND 1 Pflege und Beziehung 307


10 Kommunikation und Pflege

wurde). Pflegerische Informationen können aber je ▌ Pflegevisite


nach Art auch sehr umfassend bzw. komplex sein. Die Kommunikation mit einem pflegebedürftigen
Auch sollte man sich vorher über die Zielsetzung Menschen über seinen Pflegeprozess wird auch als
des Gespräches im Klaren sein, z. B. welche Informa- Pflegevisite bezeichnet.
tionen muss ich unbedingt vermitteln? Als Pflegevisite wird ein „regelmäßiger Besuch
Grundsätzlich ist es für das Verständnis hilfreich, und ein Gespräch mit dem Patienten über seinen
die Informationen zu veranschaulichen, sei es durch Pflegeprozess“ bezeichnet. Die Pflegevisite dient
entsprechende Geräte, Zeichnungen oder vorgefer- der gemeinsamen
tigte Abbildungen. ■ „Benennung der Pflegeprobleme und Ressourcen
Der Inhalt einer Information an den Betroffenen bzw. der Pflegediagnosen,
ist weiterhin entscheidend für die Auswahl von Zeit- ■ Vereinbarung der Pflegeziele,
punkt und Tempo einer Information. Handelt es sich ■ Vereinbarung der Pflegeinterventionen sowie
um eine recht komplexe Information, wie z. B. die ■ der Evaluation der Pflege“ (Heering 2012).
Informationen über den Ablauf und das Vorgehen
bei einer präoperativen Vorbereitung, so ist es sinn- Die Pflegevisite ermöglicht einen Austausch von In-
voll, einen Zeitpunkt zu wählen, bei dem Ruhe und formationen zwischen dem pflegebedürftigen Men-
ausreichend Zeit garantiert werden kann. Das schen und der für ihn zuständigen Pflegeperson.
Tempo der Informationsweitergabe muss individuell Alle wichtigen Aspekte im Zusammenhang mit
angepasst werden. dem Pflegeprozess werden hier besprochen. Der
Der Inhalt einer Information kann auch so umfas- pflegebedürftige Mensch wird so aktiv in die Pflege
send sein, dass es sinnvoll ist, nicht alle Informatio- einbezogen (Abb. 10.12).
nen auf einmal zu vermitteln, sondern diese in Tei-
linformationen zu zerlegen. Bei einer großen Fülle ▌ Informationsgespräche im Team und mit
von Informationen geschieht es leicht, dass ein Teil anderen Berufsgruppen
10
der Informationen in Vergessenheit gerät (s. a. Informationsgespräche finden nicht nur mit pflege-
10.7.1). Oftmals geschieht eine solche typische Über- bedürftigen Menschen und deren Angehörigen statt,
häufung mit Informationen am Tage der Aufnahme sondern auch im Pflegeteam bzw. im therapeuti-
(Informationen zu Untersuchungen, Tagesablauf, Vi- schen Team. Diese Art von Informationsgesprächen
siten etc.), so dass sich die informierende Person ist oft institutionalisiert, d. h. sie finden in einem
überlegen sollte, welche Informationen zu diesem vorher festgelegten zeitlichen Rahmen, an bestimm-
Zeitpunkt absolut notwendig sind, damit sich die Per- ten Orten und in regelmäßig wiederkehrenden Ab-
son zurechtfindet, und welche auch noch zu einem ständen statt. Zu dieser Art von Informationsgesprä-
späteren Zeitpunkt vermittelt werden können. chen gehören:
Der Inhalt einer Information wirkt sich auch auf ■ Dienstübergabe,
die Auswahl der Räumlichkeiten aus. Die Auswahl ■ Besprechungen im Pflegeteam,
der geeigneten Räumlichkeiten oder aber das Schaf- ■ Arztvisite.
fen einer entsprechenden Umgebung hat den Sinn,
Ablenkungen und vor allem Störungen während des
Informationsgespräches zu vermeiden. Insbesondere
das Aufnahmegespräch erfordert eine ruhige und
freundliche Atmosphäre, da die Basis des gemein-
samen Miteinanders oft bei der ersten Begegnung
gelegt wird (s. a. Kap. 6.5.1).
Bei der Durchführung eines Informationsgesprä-
ches, spätestens aber nachdem die ausgewählten In-
formationen im geeigneten Rahmen vermittelt wur-
den, sollte Gelegenheit zu Rückfragen bzw. Feedback
gegeben werden. Hierdurch kann sich die Pflegeper-
son versichern, ob die übermittelten Informationen
verstanden wurden. Abb. 10.12 Pflegevisite

308 Pflege und Beziehung BAND 1


10.7 Spezielle Gesprächssituationen

▌ ▌ Besprechungen im Pflegeteam
Dienstübergabe
Ziel ist der Austausch über die aktuelle Situation Bei der Teambesprechung stehen alle Themen im
pflegebedürftiger Menschen bzw. die Gewährleis- Vordergrund, die wichtig für die Stations- bzw.
tung des Informationsflusses zwischen allen Mit- Wohnbereichsorganisation sind.
arbeitern, um so die Kontinuität der Pflege sicher- Das können z. B. Überlegungen zur Gestaltung
zustellen. Grundsätzlich kann die Dienstübergabe der Ablauforganisation sein oder Veränderungen
intradisziplinär (auf die Berufsgruppe der Pflegen- der Bestellung von Materialien oder Medikamenten,
den beschränkt) oder interdisziplinär (unter Betei- die Bekanntgabe von Dienstanweisungen, Klärung
ligung verschiedener Berufsgruppen) ablaufen. organisatorischer Probleme, Einführung neuer Pfle-
Dienstübergaben finden i. d. R. dreimal täglich statt geprodukte und -hilfsmittel etc. Sinnvoll ist es, ein
bzw. immer bei einem Wechsel der Pflegepersonen. Protokoll anzufertigen, damit jede Pflegekraft und
Da es sehr unterschiedlich organisierte Pflege- neue Kolleginnen sich über die Neuerungen infor-
systeme mit stark variierenden Zuständigkeiten der mieren können.
einzelnen Pflegepersonen gibt, wird die Übergabe
dementsprechend unterschiedlich gestaltet. Allen ▌ Arztvisite
gemeinsam ist i. d. R. jedoch die Übergabe mittels Inhaltlich dient die gängige Arztvisite dem Informa-
der dokumentierten Pflegeplanung und des Pflege- tionsaustausch zwischen:
berichts, sowie der Austausch über Beobachtungen ■ dem kranken Menschen und dem behandelnden
zur aktuellen Befindlichkeit der zu Pflegenden. Hier- Arzt,
bei werden vor allem Veränderungen und Reaktio- ■ Pflegekräften und Arzt sowie
nen eines pflegebedürftigen Menschen auf Pflege- ■ Ärzten untereinander (z. B. Chefvisiten).
maßnahmen besprochen. Dabei sollte die Bezugs-
person des pflegebedürftigen Menschen die Über- Dabei handelt es sich um Informationen bezüglich
gabe an die Mitarbeiter durchführen, da sie den je- der weiteren medizinischen Behandlung, wie z. B.
10
weiligen Menschen am besten kennt. Weitere Inhal- Festlegung der Medikamentengabe, Planung von
te der Dienstübergabe sind die Weiterleitung medi- Untersuchungen oder operativen Eingriffen, Entlas-
zinischer Informationen (Organisation, Ergebnisse sungsvorgehen etc.
von Untersuchungen, etc.). Weitere Informationsgespräche (Abb. 10.13) fin-
Um die Zeit der Dienstübergabe effektiv zu nut- den im Rahmen von Besprechungen, z. B. Stations-
zen, empfiehlt es sich, nach einer im Team bespro- leitungs-, Mentoren-, und interdisziplinären Team-
chenen Struktur vorzugehen. Diese Struktur unter- besprechungen, statt. Sie geben neben dem Informa-
stützt ein zeitökonomisches Vorgehen und verhin- tionsaustausch einen Rahmen ab für die Diskussion
dert das Vergessen wichtiger Aspekte und ausufern- von Sichtweisen und Meinungen sowie für die ge-
de Abschweifungen vom Thema. meinsame Suche nach Lösungen bei Problemen.
Die Dienstübergabe findet in einigen Institutio-
nen auch als sog. „Übergabe mit dem Patienten“
statt. Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt vor InformationsgesprŠche
allem darin, dass der jeweilige pflegebedürftige
Mensch in die Übergabe einbezogen wird und so
die aus seiner Sicht wichtigen Dinge ansprechen mit Patienten im Team und mit
¥ Pflegevisite anderen Berufsgruppen
kann. ¥ †bergabe mit dem ¥ DienstŸbergabe
Patienten ¥ Besprechung im
Pflegeteam

!
Merke: Dienstübergaben dienen der Über-
¥ Arztvisiten
mittlung pflegebezogener Informationen auf
der Basis der dokumentierten Pflegeplanung
Ziel
eines pflegebedürftigen Menschen. ¥ Transparenz
Sie kann intra- oder interdisziplinär oder als Über- ¥ Sicherheit im Handeln
¥ Mšglichkeit zur Mitentscheidung
gabe mit dem Patienten organisiert sein.

Abb. 10.13 Informationsgespräche in der Pflege

BAND 1 Pflege und Beziehung 309


10 Kommunikation und Pflege

10.7.3 Anleitungsgespräche Der nächste Aspekt der Vorbereitung bezieht sich


Anleitungsgespräche dienen der Wissensvermitt- auf die individuelle Situation des Betroffenen.
lung mit dem Ziel, dieses Wissen später praktisch
anwenden und umsetzen zu können. Dabei werden Beispiel: Dazu muss überlegt werden, wie
unterschiedliche Methoden eingesetzt, wie z. B. ver- Herr Sauber den notwendigen Sachverhalt
bale Informationsweitergabe, Zeigen, Vormachen aufnehmen kann und über welche Kom-
und Üben usw. Zielgruppen sind Menschen, die munikationskanäle seine Aufmerksamkeit geweckt
z. B. aufgrund einer Krankheit bestimmte Fähigkei- werden kann.
ten und Wissen benötigen, um eine neue Lebens-
situation bewältigen zu können. Ferner muss eine Vertrauensbasis zwischen beiden
Andere Adressaten von Anleitungsgesprächen Personen bestehen:
sind Auszubildende und neue Kollegen. Aber auch
in der Fort- und Weiterbildung ist die Anleitung Beispiel: Herr Sauber muss sich sicher sein,
gerade in speziellen Fachbereichen eine gängige dass er eine sinnvolle und korrekte Hilfestel-
Form des praktischen Lehrens und Lernens. Anlei- lung erhält, die für ihn von Nutzen ist.
tungsgespräche unterscheiden sich von Informati-
onsgesprächen dahingehend, dass sie das Wissen in Inhaltlich ist zu entscheiden, welchen Umfang und
praktisches Tun umzusetzen helfen. Komplexität der Sachverhalt (hier: „Anziehen von
An einem Beispiel soll die Vorgehensweise einer Kompressionsstrümpfen“) aufweist. Abhängig
Anleitungssituation verdeutlicht werden. Das Prin- davon kann eine Anleitung in mehreren Teilschrit-
zip der Anleitung ist grundsätzlich auf unterschied- ten geplant werden. Hier muss die Pflegeperson
liche Anleitungssituationen übertragbar. Die einzel- überlegen, ob eine einmalige Anleitung oder ggf.
nen Schritte erhalten ihre unterschiedliche Gewich- Staffelung sinnvoll ist, wobei das Ziel evtl. innerhalb
tung in der praktischen Situation, die sich dann je- einer Woche erreicht wird. Sie überlegt auch, wel-
10
weils individuell nach der anzuleitenden Person che Rolle sie in der Anleitung einnimmt.
richten muss.
Beispiel: Gegebenenfalls ist es zunächst
Beispiel: Nach einer Thrombektomie (ope- sinnvoll, eine führende und erklärende Posi-
ratives Entfernen eines Blutgerinnsels) in tion einzunehmen, wenn Herrn Sauber die
den Beinen soll Herr Sauber zu Hause wei- Information noch neu ist.
terhin Kompressionsstrümpfe tragen. Die Aufgabe der
Pflegeperson besteht darin, Herrn Sauber in der Tech- Im weiteren Verlauf kann sich die Rolle der Pflege-
nik des Anziehens der Kompressionsstrümpfe anzulei- person zu einer mehr unterstützenden Funktion
ten. verändern.

Eine entscheidende Voraussetzung für Anleitungs- Beispiel: Sie gibt dann nur noch Hilfestel-
gespräche ist, die eigene Fachkompetenz bezüglich lung zu einzelnen Schritten, die Herrn Sau-
des Anleitungsthemas zu ermitteln, um Sicherheit ber noch schwerfallen.
im zu vermittelnden Sachverhalt zu erhalten.
Auch hierbei gilt, dass die Staffelung und Rollenver-
Beispiel: In obigem Beispiel muss sich die teilung nach Möglichkeit mit dem betroffenen Men-
Pflegeperson über das Thema „Kompressi- schen abgesprochen werden sollte.
onsstrümpfe“ (z. B. Notwendigkeit, Gefahren
und Probleme, Technik und Tipps bezüglich des Anzie-
hens, Pflege der Strümpfe etc.) informieren.

310 Pflege und Beziehung BAND 1


10.7 Spezielle Gesprächssituationen

Beispiel: Bei Herrn Sauber könnte eine ge- Viele Menschen scheuen sich aus unterschiedlichen
plante Staffelung und die jeweilige Rolle der Gründen nachzufragen. Daher ist es sinnvoll, den
Pflegeperson wie folgt aussehen: Anzuleitenden dazu zu ermuntern auszusprechen
■ 1. Tag: Pflegeperson demonstriert und erklärt das oder nachzufragen, was ihm noch schwer fällt oder
Anziehen der Kompressionsstrümpfe; Herr Sauber unklar ist. Somit erhält der Anleiter auch gleichzei-
hört und sieht zu. tig eine Rückmeldung hinsichtlich der Verständlich-
■ 2. Tag: Herr Sauber zieht die Kompressionsstrümp- keit seiner Anleitung.
fe selbstständig unter Anleitung durch die Pflege- Beide erhalten hierdurch die Gelegenheit, eine
person an. kurze Auswertung durchzuführen, zu überlegen, ob
■ 3. Tag: Herr Sauber zieht die Kompressionsstrümp- das Vorhaben gelungen ist, die Ziele erreicht wur-
fe selbstständig an ohne begleitenden Kommentar den, oder ob ggf. zu einem anderen Zeitpunkt eine
der Pflegeperson; sie sieht zu und korrigiert, falls nochmalige Anleitungssituation notwendig ist.
nötig. Anleitungsgespräche dienen der Weitergabe von
Wissen mit dem Ziel, dieses Wissen im Folgenden
Wichtig ist, dass die anzuleitenden Menschen weder praktisch anwenden zu können. Die Zielgruppe für
über- noch unterfordert werden. Das Tempo der An- Anleitungen sind neben pflegebedürftigen Men-
leitung ist immer an die individuelle Situation und schen häufig Lernende in den Pflegeberufen oder
Aufnahmefähigkeit des Menschen anzupassen. Berufsanfänger sowie neue Mitarbeiter.
Überlegungen zu den Rahmenbedingungen be-
ziehen sich auf die zur Verfügung stehende Zeit, im Zusammenfassung:
Krankenhaus auch auf Besuchszeiten, aber auch auf Anleitung
die räumlichen Gegebenheiten. Je nach dem zu ver- Anleitungsgespräche dienen der Wissensvermittlung
mittelnden Sachverhalt und unter Berücksichtigung und praktischen Umsetzung des Wissens
der Intimsphäre empfiehlt es sich, einen ruhigen, 1. Eigene Fachkompetenz überprüfen,
10
externen Raum aufzusuchen. Zum einen gewährleis- 2. Situation des Betroffenen berücksichtigen:
tet das eine konzentrierte Anleitung, ohne Ablen- – Material zur Veranschaulichung,
kung bzw. Störungen, zum anderen bietet diese Um- – Umfang und Komplexität des Sachverhalts,
gebung einen geschützten Raum für Nachfragen des 3. Vorgehen in Teilschnitten,
Betroffenen. 4. Rahmenbedingungen der Anleitung (Raum, Zeit),
Nach den einzelnen Teilschritten oder nach der 5. Rückmeldung/Feedback; Wiederholung/Einübung.
gesamten Anleitung muss bei dem angeleiteten
Menschen unbedingt eine Rückmeldung über die 10.7.4 Beratungsgespräche
vermittelten Inhalte eingeholt werden. Hierdurch Beratungsgespräche beziehen sich inhaltlich meist
bekommt dieser einerseits die Gelegenheit, noch auf bestimmte Probleme in einzelnen Lebensberei-
nicht verstandene Aspekte der Anleitung zu erfra- chen oder -situationen, in denen der Betroffene
gen, andererseits kann eine Überprüfung erfolgen, nicht alleine zurechtkommt und Hilfe benötigt.
ob das Ziel der Anleitung erreicht worden ist. Grund-

!
sätzlich kann das Feedback bei Anleitungsgesprä- Merke: Ziel eines Beratungsgespräches ist
chen verbal durch eine kurze Wiederholung des Ge- es, den betroffenen Menschen in der Suche
lernten durch den Patienten erfolgen, in vielen Fällen nach Lösungsmöglichkeiten zu unterstützen
bietet sich jedoch eine Demonstration bzw. das prak- und/oder eine Entscheidungshilfe bei der Bewältigung
tische Wiederholen der Situation an. Gegebenenfalls neuer bzw. schwieriger Lebenssituationen zu geben.
wird daraufhin eine Korrektur vorgenommen.
Wenn pflegebedürftige Menschen mit einschnei-
Beispiel: Herr Sauber könnte entweder den denden Veränderungen ihrer Lebenssituation, z. B.
Inhalt des Anleitungsgespräches noch ein- durch die Diagnose einer chronischen Erkrankung
mal mit eigenen Worten wiedergeben oder oder auch mit der Tatsache, dass sie in ihrem häus-
einzelne Schritte der Technik des „Anziehens von lichen Umfeld nicht mehr ohne pflegerische Unter-
Kompressionsstrümpfen“ wiederholen. stützung zurechtkommen, stellt dies in der Regel

BAND 1 Pflege und Beziehung 311


10 Kommunikation und Pflege

eine Situation dar, in der Beratung durch eine Pfle- Grundsätzlich findet Beratung auch institutiona-
geperson hilfreich sein kann. lisiert statt. Dabei handelt es sich oft um präventive
Grundsätzlich soll mit einem Beratungsgespräch Beratung außerhalb des Krankenhauses, wie z. B. die
der Ratsuchende in die Lage versetzt werden, selbst- Empfehlung diverser Impfungen oder die breit an-
ständig nach geeigneten Lösungsvorschlägen zu su- gelegte AIDS-Prävention.
chen und dadurch für sein weiteres Handeln auch Auch kommunale Einrichtungen bieten gesund-
Verantwortung übernehmen. Dabei muss dem Rat- heitliche Beratungsmöglichkeiten – teilweise in Se-
suchenden die Möglichkeit der Entscheidungsfrei- minaren – an. Hierzu gehören auch Angebote für
heit gegeben sein, damit die Lösung auch als eine pflegende Angehörige. Ferner haben sich Pflegeper-
für ihn akzeptable angesehen werden kann. sonen durch Weiterqualifizierungen spezialisiert,
Die Kunst der Beratung besteht darin, dem Men- um spezielle Beratungsangebote für die betroffenen
schen keine vorgefertigten Lösungen anzubieten, Menschen geben zu können wie z. B. in der Ernäh-
sondern entsprechend seiner individuellen Situation rungsberatung oder Stomaberatung.
Möglichkeiten aufzuzeigen und ihn aktiv einzube- Um beratend tätig werden zu können, sind kom-
ziehen, da die Betroffenen sich und ihre Ressourcen munikative Kompetenzen unabdingbar. Außerdem
am besten kennen. verlangen Beratungsgespräche Fähigkeiten wie:
Dabei übernimmt die Pflegeperson als Beraterin ■ fachliche Kompetenzen bezüglich des Beratungs-
die Rolle einer Impulsgeberin, die Hilfe zur Selbst- themas,
hilfe bietet, in einer lenkenden, jedoch nicht bevor- ■ soziale Kompetenzen, die dazu beitragen, die Si-
mundenden Weise (s. a. Band 4, Kap. 2). tuation und die Fähigkeiten bzw. Ressourcen des
Diese Aspekte sind die wesentlichen Unterschie- betroffenen Menschen einzuschätzen,
de zur puren Information, in der es darum geht, ■ Fähigkeit, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen
Fakten zu vermitteln, die bereits feststehen. Bei Nähe und Distanz zum ratsuchenden Menschen
einem reinen Informationsaustausch gibt es kaum einzuhalten.
10
Entscheidungsspielraum für die beteiligten Per-
sonen. Die Beratung setzt demgegenüber an den Die Planung und Vorgehensweise des Beratungs-
Fakten, den gegebenen Tatsachen an, um nach Lö- gespräches ist vergleichbar mit dem prozesshaften
sungen im Umgang mit den Gegebenheiten zu su- Geschehen der Anleitung. Die Gruppe der Rat-
chen. Der Rahmen der Entscheidungsfreiheit kann suchenden in Institutionen des Gesundheitswesens
dabei variieren und ist auch abhängig von der besteht in erster Linie aus pflegebedürftigen Men-
Dringlichkeit der Lösungssuche bzw. der notwendi- schen und deren Bezugspersonen. Beratungsgesprä-
gen Verhaltensveränderung. che finden aber auch innerhalb der pflegerischen
Berufsgruppe, z. B. zwischen Lernenden in der Pfle-
Beispiel: So wird ein junger Mensch, der ge und Pflegepersonen, oder aber auch zwischen
plötzlich mit der Situation eines insulin- neuen Kollegen und Pflegepersonen statt.
pflichtigen Diabetes mellitus konfrontiert Entsprechend beinhalten die von Pflegekräften
ist, nicht frei entscheiden können, ob er Insulin sprit- durchgeführten Beratungsgespräche mit betroffenen
zen möchte oder nicht, da die Verabreichung lebens- Menschen und deren Angehörigen fachliche Infor-
notwendig für ihn ist. Jedoch gibt es wichtige Aspekte mationen im pflegerischen Rahmen, Hilfe zur Ent-
der weiteren Lebensgestaltung, wo er selbst Entschei- scheidungsfindung, Hilfestellungen zur Bewältigung
dungen treffen kann und für die er fachliche Beratung und Auseinandersetzung mit neuen Lebenssituatio-
benötigt. An dieser Stelle können Pflegepersonen Hil- nen. Beratungsgespräche mit Lernenden in der Pfle-
festellungen (z. B. bezüglich Besonderheiten der Kör- ge betreffen meist gezielte Lernsituationen.
perpflege, sportlicher Aktivitäten u.v.m.) geben.

!
Merke: Das Beratungsgespräch dient der
Je nach Intensität der notwendigen Beratung ist zu Bewältigung veränderter Lebenssituationen
entscheiden, ob die Pflegekraft als alleinige Fach- unter der Aktivierung der Eigenverantwort-
kraft beratend tätig sein kann oder ob das Hinzuzie- lichkeit und Kompetenz des betroffenen Menschen.
hen von anderen Fachkräften notwendig ist.

312 Pflege und Beziehung BAND 1


10.7 Spezielle Gesprächssituationen

Zusammenfassung: Die Gruppenmitglieder übernehmen während


Beratung der kollegialen Beratung unterschiedliche Rollen,
■ Ziel eines Beratungsgesprächs: Unterstützung bei die entsprechend der genannten Grundsätze in
der Suche nach Lösungs- und Bewältigungsmög- jedem Beratungsdurchlauf wechseln können. Der
lichkeiten Fallerzähler bringt einen Fall in die Gruppe ein,
■ Mittel: indem er das berufliche Problem, für das er eine
– impulsgebende Gesprächsführung Lösung sucht, in wesentlichen Zügen schildert und
– „Hilfe zur Selbsthilfe“ mit der für ihn wichtigen Schlüsselfrage darstellt.
■ verlangt kommunikative, soziale und fachliche Der Moderator leitet den Gruppenprozess durch
Kompetenz des Beraters. die unterschiedlichen Phasen, präzisiert wesentliche
Aspekte und achtet auf die Einhaltung vereinbarter
10.7.5 Kollegiale Beratung Regeln. Alle anderen Gruppenmitglieder sind in der
Im Zusammenhang mit Herausforderungen und Rolle der Beratenden und bringen eigene Ideen,
Problemen im beruflichen Kontext wird häufig Wissen, Perspektiven, Gedanken und Erfahrungen
auch die Methode der kollegialen Beratung einge- ein, um Lösungsmöglichkeiten und Handlungsoptio-
setzt, bei der sich Menschen aus ähnlichen Arbeits- nen für den Fallerzähler zu entwickeln. Darüber hi-
feldern gegenseitig beraten. Sie stellt einen systema- naus können auch ein Protokollant, der wesentliche
tischen Rahmen für die professionelle Bewältigung Schritte des Ablaufs der kollegialen Beratung schrift-
beruflicher Probleme auf kollegialer Basis bereit. lich festhält, sowie ein Prozessbeobachter, der der
Kollegiale Beratung findet üblicherweise in Gruppen Gesamtgruppe zum Abschluss der kollegialen Bera-
von 5 – 10 Personen und ohne eine professionelle tung eine Rückmeldung gibt, gewählt werden.
externe Begleitung statt. Es werden also das in der Der Ablauf der kollegialen Beratung folgt einer
Gruppe vorhandene Wissen und die Fähigkeiten der rahmenden Struktur in 6 Schritten, die zusammen
Gruppenmitglieder für die Erarbeitung einer Lö- bis max. 45 Min. dauern können: Casting, Sponta-
10
sungsstrategie genutzt. nerzählung, Schlüsselfrage, Methodenwahl, Bera-
tung, Abschluss und Ausblick.
Definition: „Kollegiale Beratung ist ein struk- In der Phase des Casting werden die Rollen in der
turiertes Beratungsgespräch in einer Gruppe, in Gruppe festgelegt. Hieran schließt sich die Spontan-
dem ein Teilnehmer von den übrigen Teilneh- erzählung des Fallgebers an, die in seiner Schlüssel-
mern nach einem feststehenden Ablauf mit verteilten frage mit dem Klärungswunsch mündet. Im An-
Rollen beraten wird mit dem Ziel, Lösungen für eine schluss werden die einzusetzenden Methoden aus-
konkrete berufliche Schlüsselfrage zu entwickeln“ gewählt (s. Abb. 10.14), nach denen in der folgenden
(Tietze 2008, S. 11). Phase beraten wird. Zum Abschluss schätzt der Fall-
erzähler die Beiträge der Berater und zieht ein Re-
Als „kollegial“ wird diese Form der Beratung aus sümee. Zusätzlich kann in dieser Phase auch der
mehreren Gründen bezeichnet: Die Gruppenmit- Prozessbeobachter seine Rückmeldung an die Grup-
glieder helfen sich erstens gegenseitig bei der Ent- pe geben. Auch ein Feedback der Gruppe an den
wicklung von Lösungen für ein berufliches Problem Moderator ist möglich.
(wechselseitige Hilfsbereitschaft der Teilnehmer). Die kollegiale Beratung wird aus vielen Gründen
Zweitens stammen die Gruppenmitglieder aus ähn- gerade für den Einsatz im pflegeberuflichen Kontext
lichen beruflichen Handlungs- und Betätigungsfel- als geeignet erachtet, weil sie vorhandenes Wissen
dern, müssen aber nicht direkte Kollegen sein (Zu- und Fähigkeiten im Pflegeteam anerkennt und nutzt
sammensetzung der Gruppe). Es kann drittens jedes und auf diese Weise dazu beiträgt, Kollegialität und
Gruppenmitglied in der Rolle des zu Beratenden Teamarbeit in der konkreten Auseinandersetzung
oder des Ratgebers sein (Umkehrbarkeit der Bera- über Fachfragen und Aufgaben zu entwickeln.
tungsbeziehung) und viertens werden die Erfahrun-
gen und Beiträge aller Gruppenmitglieder prinzipiell
als gleichwertig gewichtet (Gleichberechtigung der
Gruppenmitglieder).

BAND 1 Pflege und Beziehung 313


10 Kommunikation und Pflege

Methode Ziel Leitfrage


Brainstorming Lösungsideen für den Fallerzähler sammeln Was könnte man in einer solchen Situation alles tun?
Kopfstand- Ideen in die Gegenrichtung der Wie könnte der Fallerzähler die Situation
Brainstorming Schlüsselfrage produzieren verschlimmern?
Ein erster kleiner Schritt Den Anfang für einen Lösungsweg finden Was könnte der nächste kleine Schritt für den
Fallerzähler sein?
Gute Ratschläge Empfehlungen für den weiteren Welche Ratschläge habe ich für den Fallerzähler?
Lösungsweg zusammentragen
Resonanzrunde Feedback in Bezug auf die Was löst die Fallerzählung bei mir an inneren
Spontanerzählung Reaktionen aus?
Sharing Bezug zu eigenen ähnlichen Erlebnissen An welche eigene Erfahrung erinnert mich die
herstellen Fallerzählung?
Schlüsselfrage Schlüsselfrage für den Fallerzähler finden Was könnte die Schlüsselfrage des Fallerzählers
(er-)finden (noch) sein?
Zwei wichtige Die Informationen der Fallschilderung Was sind für mich die beiden wichtigsten
Informationen neu gewichten Informationen?
Kurze Kommentare Stellungnahmen zum Geschehen abgeben Was ist mir an dem Inhalt oder der Art der
Fallerzählung aufgefallen?
Erfolgsmeldung Faktoren beschreiben, die zum Erfolg Wie hat der Fallerzähler seinen Erfolg wohl erreicht?
geführt haben

Abb. 10.14 Basis-Methoden, Ziele und Leitfragen in der kollegialen Beratung (nach Tietze 2003)

10
Zusammenfassung: Die Folgen sind häufig Belastungen durch die
Kollegiale Beratung entstehende unangenehme Arbeitssituation, Un-
■ zielt auf die Lösungssuche für Probleme und He- stimmigkeiten zwischen Mitarbeitern, die das Ar-
rausforderungen im beruflichen Kontext beiten im Team erschweren, wenn das Arbeitsklima
■ wird in Gruppen nach einem festen Ablauf und mit für die betreffenden Personen unerträglich wird.
definierten Methoden durchgeführt Unabhängig von der Art der beteiligten Personen
■ Gruppenmitglieder sind gleichberechtigt in wech- können alltägliche Konflikte durch die Berücksichti-
selnden Rollen als Beratende und Ratsuchende be- gung einiger wichtiger Regeln angegangen und be-
teiligt wältigt werden.
Das Ziel eines Konfliktgespräches ist, eine Klä-
10.7.6 Konfliktgespräche rung des auslösenden Sachverhaltes durch eine kon-
Konflikte können immer dann auftreten, wenn struktive Auseinandersetzung herbeizuführen, so
Menschen miteinander in Beziehung treten. dass alle Beteiligten mit der gemeinsam erarbeiteten
Die Auslöser von Konflikten im beruflichen Be- Lösung einverstanden sein können.
reich sind oft sehr unterschiedlich: Kommunikati- Diese Klärung bzw. Konfliktlösung kann in der
onsstörungen. Meinungsverschiedenheiten, Streitig- Beseitigung der Ursache liegen, z. B. in der Klärung
keiten bezüglich der Arbeitsorganisation und An- von Missverständnissen, Kompromisse beinhalten
wendung bestimmter Pflegemaßnahmen oder be- und ggf. zu einer Verhaltensänderung führen. Not-
züglich der Verteilung von Kompetenzen u. v. m. wendig ist hierbei eine von Respekt und gegenseiti-
können Anlass zu Konflikten geben. Dabei ergeben ger Achtung geprägte Grundeinstellung, mit der
sich Konfliktsituationen auch zwischen den ver- nach einer Lösung gesucht wird, die für alle Betei-
schiedenen Berufsgruppen. Auch Konflikte zwischen ligten zufriedenstellend ist.
Pflegepersonen und pflegebedürftigen Menschen Neben dieser Grundeinstellung müssen weitere
sowie deren Angehörigen können auftreten. Aspekte bedacht werden, wenn ein Problem gelöst
werden soll. Diese Aspekte können anhand der ver-

314 Pflege und Beziehung BAND 1


10.8 Partnerzentrierte Gespräche

schiedenen Phasen eines Konfliktgespräches ver- fen um so Verbindlichkeit herzustellen und die
deutlicht werden soll: Effektivität und Sinnhaftigkeit der gemeinsamen Lö-
Günstig ist es, sich auf das kommende Konflikt- sung ermitteln zu können.
gespräch vorzubereiten, dieses zu planen, einen Ter- Sollten Konfliktlösungen durch solche Strategien
min in ruhiger Atmosphäre zu vereinbaren und den nicht zu bewältigen sein oder beziehen sich Konflik-
Grund des Treffens zu benennen. Rahmen und Um- te auf das gesamte Team und erreichen ein Ausmaß,
fang des Gespräches sollte von dem zu besprechen- in dem fremde Hilfe notwendig wird, da jede Person
den Sachverhalt abhängig gemacht werden. zu betroffen ist, um zur Lösung beizutragen, kann
Die gesprächsführende Person sollte sich über hier der Einsatz von Supervision als Hilfe sinnvoll
das Problem im Klaren sein, damit sie es konkret sein (10.10).
benennen kann.
Das Konfliktgespräch sollte in einem möglichst Zusammenfassung:
freundlichen und spannungsfreien Klima stattfinden, Regeln für ein Konfliktgespräch
denn diese Voraussetzungen sind als Ressource für ■ Respekt und gegenseitige Achtung der Konflikt-
das Gespräch an sich und auch für die weitere Zu- partner: Bei der Konfliktlösung sollte es nur „Ge-
sammenarbeit unerlässlich. winner“ geben,
Zunächst sollte der Gesprächsanlass sachlich und ■ Vorplanung von Raum und Zeit: gutes Klima schaf-
ohne Verallgemeinerungen („immer“, „nie“) geschil- fen,
dert werden. ■ Einleitung: sachliche Formulierung des kritischen
Ziel des Einstieges in ein Konfliktgespräch ist es, Sachverhalts, ohne persönlichen Angriff,
die Inhalte des Konfliktes durch Sachlichkeit als Tat- ■ Aufzeigen der möglichen Auswirkungen des pro-
sache offen und ehrlich zu formulieren, Geschehnis- blematischen Verhaltens,
se konkret zu beschreiben, um so eine Basis für das ■ zur Stellungnahme auffordern: „Hinter jedem Ver-
weitere Gespräch zu bereiten. halten stecken gute Gründe“,
10
Anhand der Fakten wird dann herausgestellt, wel- ■ Lösungsansatz für zukünftiges Verhalten suchen,
che Auswirkungen das zum Konflikt führende Ver- ■ gemeinsam überprüfbare Verhaltensweisen fest-
halten auf die Arbeitsorganisation und die Kollegen legen.
hat, um die eigentliche Problematik zu verdeutlichen.
Eine Schilderung der Perspektive der betroffenen
Person ist hierzu absolut notwendig, denn in den 10.8 Partnerzentrierte Gespräche
meisten Fällen gibt es Gründe und Ursachen für
ein bestimmtes Verhalten. Viele Konflikte lassen Das Partnerzentrierte Gespräch wird auch als „Hel-
sich bereits zu diesem Zeitpunkt klären. Ideen und fendes Gespräch“ bzw. als klienten- oder personen-
Wünsche werden hierbei deutlich, Alternativen zei- zentriertes Gespräch bezeichnet. Es basiert auf den
gen sich auf, der eigentliche Konfliktinhalt beginnt Arbeiten des amerikanischen Psychologen Carl Ro-
sich zu lösen und vielleicht sind sogar schon erste gers, eine der führenden Persönlichkeiten der Hu-
Lösungen erkennbar. manistischen Psychologie. Die Humanistische Psy-
Ziel des weiteren Gesprächsverlaufes ist es, ge- chologie vertritt eine Sichtweise des Menschen, bei
meinsam nach Lösungsansätzen für zukünftiges der dem Menschen grundsätzliche Fähigkeiten zur
Handeln zu suchen. Hierzu muss die betroffene Per- Selbstheilung zugesprochen werden, und eine
son unbedingt aktiv mit einbezogen werden, damit Grundhaltung der Therapeuten, die u. a. geprägt ist
sie die Lösungen akzeptieren kann. von zentralen Begriffen wie „menschliche Begeg-
In dieser Phase wird eine Lösung zur Verände- nung“, „Wachstum der Persönlichkeit“ und „persön-
rung des kritisierten Verhaltens erarbeitet. Ideal- liche Freiheit“.
typisch wird die Lösung von der betroffenen Person Rogers entwickelte ab den 40er Jahren des
formuliert, sie kann aber auch gemeinsam überlegt 20. Jahrhunderts das Konzept der „Klientenzentrier-
werden. ten Psychotherapie“, die heute auch unter dem Be-
In der Abschlussphase werden in beiderseitigem griff „Personenzentrierte Gesprächsführung“ be-
Einvernehmen Vereinbarungen zur Erprobung und kannt ist. Er ging davon aus, dass Menschen ein
Evaluation der gewünschten Veränderungen getrof- Grundstreben nach Selbstverwirklichung haben,

BAND 1 Pflege und Beziehung 315


10 Kommunikation und Pflege

durch Erlebnisse in ihrer Kindheit aber den Zugang die Dinge, die sie bewegen, frei sprechen können.
zu eigenen Gefühlen teilweise verlieren bzw. unter Dabei steht die Gefühls- und Erlebniswelt des Ge-
Wahrnehmungsverzerrungen vor allem im Bereich sprächspartners im Zentrum, nicht die des „Helfers“.
der sozialen Wahrnehmung leiden können.
Ziel der Personenzentrierten Gesprächsführung ▌ 3. Einfühlsames Verstehen
ist es, im Gespräch ein Klima des Vertrauens und Das einfühlsame Verstehen wird auch als „Empathie“
der Offenheit herzustellen und so dem betroffenen oder „Aktives Zuhören“ bezeichnet (s. a. 10.5). Hier-
Menschen einen neuen Zugang zu seinem Erleben bei geht es darum, sich in die Situation des anderen
und seinen Gefühlen zu geben. Rogers spricht hier Menschen hineinzuversetzen und zu verstehen, wel-
auch von einem „wachstumsfördernden Klima“ zwi- che Gefühle er in der aktuellen Situation hat bzw.
schen Klient und Therapeut. Er beschreibt in seinen welche Gefühle er mit der aktuellen Situation ver-
Ausführungen eine Grundhaltung des Therapeuten, bindet. Anders ausgedrückt: Einfühlsames Verstehen
die ein solches Klima entstehen lassen kann und ist die Strategie zur Umsetzung von Echtheit und
deren Elemente auch in helfenden Gesprächen eine Akzeptanz. Hierzu gehören Aspekte wie z. B. das An-
zentrale Rolle spielen: sprechen des beim anderen Menschen wahrgenom-
menen Gefühls oder die Wiederholung der Äußerun-
▌ 1. Echtheit gen in eigenen Worten, um sicherzustellen, dass das
Das Element „Echtheit“ bedeutet, dass der „Helfer“ Gesagte auch richtig verstanden wurde. Dabei
in der Beziehung zu seinem Gesprächspartner ehr- kommt es vor allem darauf an, die wahrgenom-
lich und vor allem er selbst ist. Es soll kein „profes- menen Gefühle des Gegenübers richtig zu verstehen.
sionelles Gehabe“ an den Tag gelegt werden, son- Menschen, denen mit dieser Grundhaltung be-
dern eine echte Beziehung im Gespräch mit dem gegnet wird, können nach Rogers ihre Selbsthei-
anderen Menschen entstehen. Das geht letztlich lungskräfte aktivieren, sich selbst mehr Achtung
nur dann, wenn eine Bereitschaft besteht, sich und Akzeptanz entgegenbringen und aktiv nach Lö-
10
auch mit dem eigenen Gefühlsleben auseinander- sungen für aktuelle Situationen oder Probleme su-
zusetzen. chen.
In der Pflege ergeben sich häufig Situationen, in
▌ 2. Akzeptanz denen helfende Gespräche den betroffenen Men-
Bei der Akzeptanz geht es darum, dem Gesprächs- schen unterstützen können. Das gilt sowohl für pfle-
partner das Gefühl zu vermitteln, dass ihm wertfrei gebedürftige Menschen, die schwerwiegende medi-
begegnet wird. Dies geschieht zum einen durch eine zinische Diagnosen verarbeiten müssen, als auch für
bedingungslose positive Zuwendung und zum ande- Bezugspersonen, die ebenfalls von schwierigen, pro-
ren durch emotionale Wärme. Zentraler Gedanke blematischen Situationen betroffen sein können.
hierbei ist, dass Menschen in der Lage sind, ihre Si- Einfühlsames Verstehen bzw. aktives Zuhören kann
tuation für sich selbst positiv zu lösen, wenn sie über und muss geübt werden.

316 Pflege und Beziehung BAND 1


10.8 Partnerzentrierte Gespräche

Regeln zur Umsetzung aktiven Zuhörens 10. Ich vermeide ein zeitweises Abschalten sowie ein in-
1. Ehe ich ein Gespräch führe, versuche ich, mir die nerliches Abschweifen zu anderen Themen.
äußeren und inneren Einflüsse und Gefühle, unter 11. Ich lasse den Partner ausreden und falle ihm nicht ins
denen ich momentan und grundsätzlich stehe, weit- Wort mit Meinungsäußerungen, voreiligen Interpre-
möglichst bewusst zu machen. (...) Das kann u. a. tationen und Zwischenfragen. Ich habe Zeit und Ge-
dadurch geschehen, dass ich vor einem Gespräch duld.
wahllos auf ein Papier aufschreibe, was mir gerade 12. Legt der Partner eine Pause ein, so wird sie „durch-
einfällt. gestanden“. Ich suche nicht krampfhaft nach über-
2. Ich sorge vor und während des Gesprächs für ein brückenden Worten und fülle nicht die Pause kurz-
Höchstmaß an äußerer und innerer Ruhe. entschlossen mit dem, „was ich schon lange sagen
3. Ich verhalte mich klientenzentriert (und nicht ego- oder fragen wollte“.
zentrisch): Ich zentriere und konzentriere mich auf 13. Ich stelle nur notwendige weiterführende Fragen.
den Gesprächspartner, auf seine Aussagen und Er- Die Fragen müssen aus dem Gespräch herauswach-
fahrungen, auf sein Vermögen und Unvermögen. sen und dürfen nicht hineingetragen werden.
4. Aufmerksames und ernsthaftes Zuhören kann sich 14. Wenn der Gesprächspartner Fragen stellt, höre ich
halbverbal (ja, hm) oder averbal äußern (Kopfnicken, zunächst darauf, welche Antworten er selber finden
Kopfhaltung, Sitzhaltung, Mimik, Handbewegung kann. Ich kann zu ihm sagen: Sie haben sich sicher-
usw.). lich schon selber Gedanken gemacht.
5. Ich höre nicht nur auf den Wortlaut, sondern auch 15. Ich achte sorgsam auf Verlockungen zu eigenem,
auf Wortwahl, Tonfall, Stimmlage, Sprechtempo, langatmigen Reden (Erzählungen aus meinem
Sprechpausen, Bruchstellen im Gesprächsverlauf Leben und Erfahrungsbereich, Schilderungen eines
usw. Nicht was die Worte sagen, ist von Bedeutung, „ähnlichen Falles“, Überredungsversuche, Dogmati-
sondern wie sie gesagt werden. Der Ton wird wich- sieren, Interpretieren usw.).
tiger als der Inhalt. 16. Sofern ich rede, wächst es aus dem Zuhören heraus 10
6. Ich stütze mich nicht nur auf das Hören, sondern (ist also reaktiv) und soll in neues Zuhören einmün-
auch auf das Sehen, und beachte also Mimik (vor den, also dem Partner ein neues Reden ermöglichen.
allem die Sprache der Augen), Gestik, Körperbau 17. Mittels Selbstwahrnehmung und Selbsterfahrung er-
usw. des Partners. Gleichzeitig beachte ich meine kenne ich, wo ich wenig oder gar nicht zuhören
eigene Körpersprache und Stimme: Kommt darin kann: Bei welchen Personen kann ich schwer zuhö-
eher echtes Zuhören oder eher Überhören und Weg- ren (Alter? Geschlecht? Beruf? Aussehen? Stimme?),
hören (also Ablehnung) zum Ausdruck? bei welchen Gesprächsthemen fällt mir das Zuhören
7. Ich achte nicht nur auf die logischen Aussagen des schwer (z. B. Sexualität, Religion, Gewalt, Suizid,
Gesprächspartners, sondern versuche zu erfassen, Zwanghaftigkeit)? Häufig liegt das an meinen
was der andere (noch) nicht verbalisieren kann, z. B. Schutz- und Abwehrmechanismen: Diese möchte
starke Gefühle, negative Emotionen (Vorsicht vor ich erkennen und vorsichtig damit umgehen.
subjektiven Unterschiebungen!). 18. Während ich zuhöre, habe ich die Grundhaltung des
8. Ich beachte Stichwörter, Reizwörter, Schlüsselsätze, Akzeptierens und der Wertschätzung gegenüber
Hauptfragen, aber auch Bruchstellen und Pausen. dem Partner und allem, was er sagt.
Gibt es einen „roten Faden“, ein bestimmtes Gefälle
oder Wiederholungen? (nach Weber 1996)
9. Wenn irgend möglich, notiere ich wichtige Ge-
sprächsprodukte. Der Partner muss damit einver-
standen sein und darf nicht durch auffälliges Mit-
schreiben irritiert werden.

BAND 1 Pflege und Beziehung 317


10 Kommunikation und Pflege

Für partnerzentrierte bzw. helfende Gespräche ist ▌ 1. Das existenziell-anthropologische Axiom


eine Gesprächsgrundhaltung und Gesprächsatmo- „Der Mensch ist eine psycho-biologische Einheit. Er
sphäre erforderlich, die geprägt ist von Echtheit, Ak- ist auch Teil des Universums. Er ist darum autonom
zeptanz und einfühlsamem Verstehen. und interdependent. Autonomie (Eigenständigkeit)
wächst mit dem Bewusstsein der Interdependenz
(Allverbundenheit)“ (Cohn 1988, S. 120).
Der Mensch besteht für Ruth Cohn sowohl aus
10.9 Themenzentrierte psychischen als auch biologischen Anteilen, die
Interaktion (TZI) immer als Ganzes, bzw. als Einheit betrachtet wer-
den müssen. Änderungen in einem Bereich haben
Das Konzept der Themenzentrierten Interaktion Auswirkungen auf den gesamten Menschen. Darü-
(TZI) wurde von Ruth Cohn entwickelt, einer deut- ber hinaus existiert der Mensch aber nicht nur für
schen Jüdin und Psychotherapeutin, die 1941 in die sich allein, sondern steht in einer Wechselbeziehung
USA emigrierte. Sie selbst suchte nach einem Kon- zu anderen Menschen. In der Interaktion mit ande-
zept, das in der Lage sein sollte, großen Menschen- ren kann man erkennen, welche Werte einem selbst
gruppen zu helfen, und in möglichst allen Bereichen wichtig sind.
und zu jeder Zeit anwendbar sein sollte.
▌ 2. Das ethisch-soziale Axiom

!
Merke: Die TZI ist eine Form der Gesprächs- „Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen und seinem
führung, bei der die beteiligten Personen ge- Wachstum. Respekt vor dem Wachstum bedingt be-
meinsam an einem Thema oder einer Auf- wertende Entscheidungen. Das Humane ist wert-
gabe arbeiten (Interaktion), wobei das Thema im Zen- voll; Inhumanes ist wertbedrohend“ (Cohn 1988,
trum der Begegnung steht (Themenzentrierung). Sie S. 120).
wird vor allem bei der Kommunikation in Gruppen Der Fortbestand humaner (menschlicher) Werte
10
angewandt, ist aber auch im Einzelgespräch oder bei ist nach Cohn sowohl eine politische als auch die
der Partnerberatung einsetzbar. Aufgabe jedes Einzelnen.

Heute bedienen sich neben Therapeuten, Lehrern ▌ 3. Das pragmatisch-politische Axiom


und Geistlichen auch Firmen und Organisationen „Freie Entscheidung geschieht innerhalb bedingen-
der TZI, um im Miteinander Themen zu bearbeiten der innerer und äußerer Grenzen. Erweiterung die-
und z. B. Lösungen für bestehende Problem zu ent- ser Grenzen ist möglich“ (Cohn 1988, S. 120).
wickeln. In speziellen Fortbildungsseminaren wer- Menschen können letztlich nie ganz frei sein in
den Experten für Themenzentrierte Interaktion aus- ihren Entscheidungen bzw. werden diese Entschei-
gebildet. dungen innerhalb bestimmter, von Mensch zu
Mensch verschiedener Grenzen getroffen. Zu den
10.9.1 Axiome äußeren Grenzen gehören z. B. die finanziellen Mög-
Die TZI basiert auf sog. „wertbetonenden Vorausset- lichkeiten, innere Grenzen können mangelnde Reife
zungen“, d. h. sie geht von einem bestimmten Men- oder auch Krankheiten sein. Je nach Struktur der
schenbild und grundlegenden Werten aus. Hierzu Grenzen ergibt sich für den jeweiligen Menschen
gehört, dass sie jedem Menschen die Fähigkeit zu- ein größerer oder kleinerer Entscheidungsspiel-
schreibt, aus eigener Kraft sein Leben zu gestalten raum. Aber: Jeder Mensch kann die Grenzen seiner
und auftretende Probleme bearbeiten zu können. Entscheidungsfreiheit potenziell verändern.
Dies ist einer der wichtigsten Grundsätze der sog. Mit den formulierten Axiomen bindet Ruth Cohn
Humanistischen Psychologie, die die Fähigkeit des die TZI an grundlegende Werte, die handlungslei-
Menschen zu Wachstum und Reifung in seinem tend für das gemeinsame Miteinander sind. Ohne
Leben betont. diese wertgebundene Ausrichtung besteht die Ge-
Ruth Cohn formuliert für die Themenzentrierte fahr, die TZI als eine bloße Methode anzusehen.
Interaktion drei sog. Axiome, d. h. Aussagen, die kei-
nes weiteren Beweises bedürfen, um die der TZI zu-
grunde liegenden Werte zu verdeutlichen:

318 Pflege und Beziehung BAND 1


10.9 Themenzentrierte Interaktion (TZI)

10.9.2 Zentrale Elemente den „Globe“, das Umfeld, in welchem „Ich“, „Wir“
Ruth Cohn geht davon aus, dass bei der Kommuni- und Thema in Beziehung zueinander stehen, sym-
kation in Gruppen vier Elemente eine entscheiden- bolisiert.
de Rolle spielen:

!
■ Das „Ich“ (jedes einzelne Gruppenmitglied). Auf Merke: Zentrale Elemente der Themenzen-
die Pflege bezogen können das Pflegepersonen in trierten Interaktion sind das einzelne Grup-
Institutionen des Gesundheitswesens, Mitglieder penmitglied („Ich“), die Gruppe als Ganzes
des Therapeutischen Teams oder Angehörige an- („Wir“), die gemeinsame Arbeitsaufgabe („Thema“)
derer Berufsgruppen sein. und die Rahmenbedingungen, in denen die Gruppe
■ Das „Wir“ (die gemeinsame Interaktion unter- arbeitet („Globe“).
einander).
■ Das Thema (das zu bearbeitende Thema bzw. der Ruth Cohn geht davon aus, dass ein gewinnbringen-
Lernstoff oder die gemeinsame Aufgabe). In der des, konstruktives und persönlich bereicherndes Ar-
Pflege könnten dies Themen wie Pflegeverständ- beiten in Gruppen nur dann erfolgen kann, wenn
nis, eine auszuwählende Theorie für eine Pfle- alle vier Elemente die gleiche Gewichtung erhalten.
geeinheit, der Umgang mit verwirrten Men- Hilfe und Unterstützung hierbei können die von ihr
schen, Optimierung der Arbeitsabläufe etc. sein. formulierten zwei Postulate (Grundannahmen) und
■ Der sog. „Globe“ (alles, was den Einzelnen und neun Hilfsregeln sein.
die Gruppe umgibt). Hierunter sind u. a. zeitliche,
finanzielle und/oder personelle Rahmenbedin- 10.9.3 Postulate
gungen, die Erwartungen von pflegebedürftigen Ruth Cohn formuliert zwei Postulate, die sich aus
Menschen und Angehörigen an Pflegepersonen, den Axiomen ableiten lassen und diese in „handfes-
aber auch Ereignisse, die das einzelne Gruppen- te“, praktikable Handlungsrichtlinien fassen:
mitglied oder die gesamte Gruppe betreffen, zu 1. „Sei dein eigener Chairman, der Chairman deiner
10
verstehen. selbst. Das bedeutet:
a. Sei dir deiner inneren Gegebenheiten und
„Ich“, „Wir“ und „Thema“ sind dabei grundsätzlich deiner Umwelt bewusst.
gleich wichtig. Es muss ein ausgewogenes Verhältnis b. Nimm jede Situation als Angebot für deine
zwischen diesen Elementen herrschen, damit ein Entscheidungen. Nimm und gib wie du es ver-
konstruktives Arbeiten der Gruppe am Thema mög- antwortlich für dich selbst und andere willst“
lich ist. Ruth Cohn hat hierzu ein Modell entwickelt (Cohn 1988, S. 120f).
(Abb. 10.15). Das „Ich“, das „Wir“ und das Thema
werden durch die Ecken des Dreiecks repräsentiert. Menschen können und sollen eigenverantwortliche
Das Dreieck selbst ist von einem Kreis umgeben, der Entscheidungen treffen. Wichtig ist hierfür, dass so-
wohl das eigene Erleben als auch das der anderen
Gruppenmitglieder in die bewusste Entscheidung
einfließen soll. Jeder Mensch ist gefordert, das zu
Thema vertreten, was ihm wichtig ist, und dabei die beiden
Extreme Autonomie und Interdependenz zu berück-
sichtigen. Das Postulat fordert darüber hinaus aber
auch, die eigenen Spannungen zwischen physischen,
emotionalen, kognitiven und praktischen Fähigkei-
ten und Bedürfnissen bei der jeweiligen Entschei-
dung zu berücksichtigen.

2. „Beachte Hindernisse auf deinem Weg, deine ei-


Ich Wir genen und die von anderen. Störungen haben
Vorrang (ohne ihre Lösung wird Wachstum er-
schwert oder verhindert)“ (Cohn, R. 1988,
Abb. 10.15 TZI-Dreieck S. 120f).

BAND 1 Pflege und Beziehung 319


10 Kommunikation und Pflege

Der Begriff der Störung steht in der Themenzen- Sicherheit darüber haben, dass der Sprecher auch
trierten Interaktion für alles, was den einzelnen ganz hinter seiner Aussage steht.
Menschen daran hindern kann, am Thema in der
Gruppe mitzuarbeiten. Dabei können die Störungen 2. Wenn du eine Frage stellst, sage, warum du fragst
sowohl durch positive Gedanken, Erlebnisse etc. als und was deine Frage für dich bedeutet. Sage dich
auch durch negative Erfahrungen, Ereignisse oder selbst aus, und vermeide das Interview.
auch durch körperliche Beeinträchtigungen, wie Fragen, die ohne Angabe von Gründen gestellt wer-
z. B. Schmerzen, hervorgerufen werden. Beiden ge- den, haben häufig den Charakter des „Ausfragens“.
meinsam ist, dass sie verhindern, aufmerksam und Ruth Cohn bezeichnet sie als „unecht“, weil sie kein
„ganz bei der Sache“ zu sein. echtes Interesse an der Antwort vermitteln können.
Wichtig ist hierbei, dass diese Störungen offen Bei unechten Fragen besteht die Gefahr, dass unech-
angesprochen werden, entweder von der betroffe- te Antworten gegeben werden und kein echter Dia-
nen Person selbst oder von den anderen Gruppen- log zwischen den Gesprächspartnern entsteht.
mitgliedern. Konstruktives Arbeiten ist nur mit der
uneingeschränkten Aufmerksamkeit aller möglich. 3. Sei authentisch (echt) und selektiv (auswählend)
Die zwei Postulate der Themenzentrierten Inter- in deinen Situationen. Mache dir bewusst, was
aktion betonen die Verantwortlichkeit des einzelnen Du denkst und fühlst, und wähle, was du sagst
Gruppenmitglieds sowohl für sich selbst als auch für und tust.
das gemeinsame Miteinander. Diese Regel fordert, nur dann zu sprechen, wenn ein
Bedürfnis nach verbalen Äußerungen besteht. Die
10.9.4 Hilfsregeln Äußerungen sollen im Einklang mit dem stehen,
Die von Ruth Cohn aufgestellten neun Hilfsregeln was dem jeweils sprechenden Menschen wichtig
für die Themenzentrierte Interaktion sollen die ist, und ehrlich sein. Lügen oder manipulative Äuße-
Gruppenmitglieder bei der Arbeit im TZI-Dreieck rungen zerstören das Vertrauen und Verständnis
10
unterstützen. Die Regeln selbst sind nach Cohn prin- zwischen den Gesprächspartnern.
zipiell in jeder TZI-Gruppe anwendbar, dürfen aber
nicht verabsolutiert oder „verordnet“ werden. 4. Halte dich mit Interpretationen von anderen so
Eine Möglichkeit kann sein, mit der Gruppe zu lange wie möglich zurück. Sprich statt dessen
Beginn der Arbeit die Regeln zu diskutieren und deine persönlichen Erfahrungen aus.
sich dann für einige oder auch alle der Regeln zu Es unterstützt die Interaktion zwischen den Ge-
entscheiden. Die Regeln sind so angelegt, dass sie sprächspartnern, wenn sie ihre eigenen Empfindun-
sowohl den eigenen Selbstverwirklichungsprozess gen und Bedürfnisse aussprechen, anstatt vorschnell
unterstützen als auch dazu beitragen, die anderen das Verhalten anderer zu interpretieren ( „Bitte rede
Gruppenmitglieder ernst zu nehmen. Im Folgenden jetzt nicht“ im Gegensatz zu: „Du redest immer, weil
werden die Hilfsregeln (zitiert nach Cohn 1988, Du im Mittelpunkt stehen willst“).
S. 124ff) mit einer kurzen Erläuterung vorgestellt.
5. Sei zurückhaltend mit Verallgemeinerungen.
1. Vertritt dich selbst in deinen Aussagen; sprich Verallgemeinerungen haben eine ähnlich störende
per „Ich“ und nicht per „Wir“ oder per „Man“. Wirkung auf den Gruppenprozess wie das Sprechen
Redewendungen wie „Wir sind der Meinung, dass“ per „Wir“ oder per „Man“.
oder „Man sollte aber berücksichtigen, dass“ führen
dazu, dass anderen Menschen nicht klar ist, wessen 6. Wenn du etwas über das Benehmen oder die
Aussage oder Meinung gerade angeführt wird. Ruth Charakteristik eines anderen Teilnehmers aus-
Cohn geht noch weiter, indem sie sagt, dass der sagst, sage auch, was es dir bedeutet, dass er so
Sprechende in diesem Fall nicht die Verantwortung ist, wie er ist (d. h. wie du ihn siehst).
für das übernimmt, was er sagt, sondern sich hinter Jede Meinung von bzw. über einen anderen Men-
einer „öffentlichen Meinung“ versteckt. In diesem schen ist eine persönliche, subjektive Meinung. Sie
Fall ist keine offene Kommunikation möglich. Die muss nicht zwangsläufig für alle anderen Gruppen-
Gesprächspartner haben aber nur dann eine Chance, teilnehmer gelten, d. h. sie ist nicht allgemeingültig.
zu einer Aussage Stellung zu nehmen, wenn sie

320 Pflege und Beziehung BAND 1


10.10 Supervision

7. Seitengespräche haben Vorrang.


Wann immer Seitengespräche in einer Gruppen- Kommunikation in der Humanistischen Psychologie
situation auftreten, macht dies deutlich, dass ein Selbstheilungskräfte im Menschen aktivieren
Gesprächsbedürfnis existiert. Dem betreffenden
Teilnehmer sollte dann auf jeden Fall die Gelegen-
Carl Rogers Ruth Cohn
heit gegeben werden, sein Anliegen in die Gruppe • personenzentrierte • themenzentrierte
einzubringen. Gesprächsführung Interaktion

Einzelmensch Menschengruppe
8. Nur einer zur gleichen Zeit bitte.
Die Gruppe kann nur dann konstruktiv arbeiten,
wenn die Gruppenteilnehmer einander konzentrier- Abb. 10.16 Kommunikation in der Humanistischen Psychologie
tes Interesse entgegenbringen. Die Konzentration
auf mehrere verbale Beiträge gleichzeitig ist jedoch
nicht möglich. ■ der Auswahl eines bestimmten Pflegesystems,
■ Teambesprechungen (Dienstübergabe etc.),
9. Wenn mehr als einer sprechen will, verständigt ■ Teambesprechungen, die die Arbeit mit Patienten
euch in Stichworten, über was ihr zu sprechen zum Gegenstand haben,
beabsichtigt. ■ interdisziplinären Konferenzen,
Die kurze Verständigung darüber, welche Gesprächs- ■ Kleingruppenarbeit in Pflegeschulen etc.
beiträge anstehen, verhindert, dass sich jemand
übergangen fühlt. Die Reihenfolge der anstehenden Da die Effektivität und Kontinuität der Pflege zu
Beiträge kann in der Gruppe abgesprochen werden. einem großen Teil auf die Zusammenarbeit mehre-
Die genannten Hilfsregeln der Themenzentrier- rer Menschen angewiesen ist, kann auch hier das
ten Interaktion sind in vielen Bereichen anwendbar, konstruktive Miteinander zu einer wesentlichen
10
in denen es um Kommunikation in Gruppen geht. Verbesserung des „Klimas“ zwischen den Mitarbei-
Das gilt sowohl für das Therapeutische Team tern beitragen. Von diesem verbesserten Miteinan-
einer Pflegeeinheit als auch für die Arbeit in Klein- der profitiert letztlich das zentrale Anliegen der
gruppen während des Pflegeunterrichts. Sie können Pflege, der hilfsbedürftige Mensch (Abb. 10.16).
auch helfen in der Kommunikation zwischen zwei Die Themenzentrierte Interaktion ist eine Form
Menschen, z. B. zwischen Pflegeperson und pflege- der Gesprächsführung, die häufig im Rahmen der
bedürftigem Menschen. Supervision angewandt wird. Auf die Supervision
wird im nächsten Kapitel ausführlich eingegangen.
10.9.5 Themenzentrierte Interaktion in der
Pflege
Die Themenzentrierte Interaktion integriert alle Be- 10.10 Supervision
reiche des Menschseins. Durch die Anwendung die-
ser Art von Gesprächsführung werden über die Ar- Definition: Wörtlich übersetzt bedeutet das
beit an einem Thema gleichzeitig auch alle sozialen angloamerikanische Wort Supervision soviel
Kompetenzen des einzelnen Teilnehmers gefördert. wie „Aufsicht, Kontrolle, Leitung, Über-
So wird sowohl ein persönlicher Reifungsprozess als wachung“.
auch ein Reifungsprozess der Gruppe ermöglicht. Da
die Themenzentrierte Interaktion besonders geeig- Der Supervisor ist demnach eine Person, die über
net ist, die Kommunikation von Gruppen zu unter- das Geschehen wacht, die darübersteht, von oben
stützen, die an einem Thema bzw. einem Arbeits- bzw. außen schaut, kontrolliert. In einigen Berei-
auftrag arbeiten, ist ihr Einsatz auch in vielen Berei- chen und Ländern entspricht die o. a. Übersetzung
chen pflegerischen Handelns denkbar. Sie kann z. B. des Begriffes auch der Funktion, der Aufgabe von
eingesetzt werden beim Arbeiten eines Teams einer Supervision.
Pflegeeinheit an Projekten wie: In den meisten Bereichen der Supervision hat sie
■ dem Erarbeiten von Pflegestandards, sich im Laufe ihrer Geschichte jedoch immer mehr
■ der Arbeit an einem gemeinsamen Pflegever- differenziert und von der reinen Kontrolle zu einer
ständnis unter Berufung auf eine Pflegetheorie, Form der Praxisbegleitung, Beratung und Unterstüt-

BAND 1 Pflege und Beziehung 321


10 Kommunikation und Pflege

zung entwickelt. Einzelne Aspekte wie beispielswei- Vorreiter waren zumeist die psychiatrischen Abtei-
se: lungen. Die Gründe, die für eine Supervision von
■ Supervision erfolgt immer im Zusammenhang Pflegekräften sprechen, sind vielfältig. So wird bei-
mit einer beruflichen Tätigkeit, spielsweise von einer Pflegekraft neben einem fach-
■ Ziel der Supervision ist, die persönlichen und be- lichen Wissen, manuellen Fähigkeiten und Fertigkei-
ruflichen Kompetenzen zu fördern und zu stär- ten vor allem auch ein hohes Maß an empathischen
ken, Fähigkeiten gefordert.
■ Supervision ermöglicht ein problemorientiertes Gerade in einer patientenorientierten Pflege ist
Lernen, diese soziale Kompetenz mehr gefordert als die
reine Ausübung von Pflegetätigkeiten, um eine trag-
gelten auch heute noch für alle Formen der Super- fähige, konstruktive Beziehung zwischen Pflegekraft
vision, unabhängig davon, in welchem Kontext sie und Patient aufzubauen. Themen wie „Nähe und
erfolgt. Distanz“, „Macht und Ohnmacht“, „Abhängigkeit
Die Entwicklung der Supervision ist gekenn- und Unabhängigkeit“ und der Umgang mit Leid
zeichnet durch die verschiedenen Absichten, die und Tod bestimmen häufig den Alltag von Pflegen-
mit der Supervision verfolgt wurden. Supervision, den. Durch die knapper werdenden finanziellen
die bereits Ende des letzten Jahrhunderts in England Mittel und die fortschreitende Technisierung wird
und den USA als eine Art Vorreiterposition entstan- die Belastung der Pflegekräfte ständig erhöht.
den ist, hatte zunächst die Tätigkeit der Sozialarbei- Häufig tritt ein Gefühl der Unzulänglichkeit und
ter im Blick, mit dem Ziel, deren Arbeitsleistung zu der Frustration auf, da dem eigenen Anspruch an
erhöhen und zu verbessern. Pflege nicht entsprochen, die Diskrepanz zwischen
Später, etwa in den 30er-Jahren, wurde die Su- Anspruch und Wirklichkeit nicht überbrückt wer-
pervisionstätigkeit mit dem Ziel der Selbstreflexion den kann. Eine der bekanntesten Folgen ist neben
über die eigene Berufstätigkeit in einen institutionel- einer hohen Fluktuation das Burnout-Syndrom.
10
len Rahmen gestellt. Hiermit wurde der Grundstein Durch Änderungen der Organisation innerhalb
für die berufliche Supervisionstätigkeit gelegt. In den einer Institution und/oder einer Abteilung treten
50er Jahren orientierte sich die Supervision immer daneben vermehrt auch Konflikte innerhalb und
mehr an der Psychologie und Psychotherapie. zwischen verschiedenen Berufsgruppen auf.
Seit den 70er Jahren gewinnt auch in Deutschland Die Supervision ist eine Möglichkeit der Unter-
die Supervision für Mitarbeiter in sozialen und me- stützung z. B. beim Umgang mit den verschiedens-
dizinischen Berufen immer mehr an Bedeutung, wo- ten Belastungen sowie intra- und interpersonellen
durch sie gleichzeitig einen praxisbezogenen Konflikten. Sie hat u. a. zum Ziel:
Schwerpunkt erhält. Sie wird in unterschiedlichen ■ die Förderung der Fähigkeit zur differenzierten
Gruppen, Institutionen und Projekten eingesetzt, Wahrnehmung (Fremd- und Eigenwahrneh-
wodurch sich die verschiedenen Formen der Grup- mung),
pen- und Teamsupervision entwickeln. Neben der ■ die Förderung der sozialen Kompetenzen,
Einbeziehung der verschiedenen Berufsfelder ändern ■ die Klärung der beruflichen Identität,
sich auch die Ziele und Schwerpunkte der Supervisi- ■ Raum zu geben, Situationen aus dem beruflichen
on. Sie will nun nicht mehr kontrollierende Instanz Alltag zu reflektieren.
sein, sondern Unterstützung und Beratung bieten.
Supervision kann als eine präventive Maßnahme ge-

!
Merke: Supervision ist eine Form der Pra- genüber berufsbedingtem Stress und dem Burnout-
xisbegleitung und Beratung bei der Aus- Syndrom angesehen werden. Zudem stellt sie auch
einandersetzung bzw. Reflexion der berufli- ein Instrument der Pflegequalitätsverbesserung und
chen Tätigkeit. Sie ermöglicht ein problemorientiertes -sicherung sowie der Professionalisierung dar. Wün-
Lernen und hat zum Ziel, persönliche und berufliche schenswert ist eine Einbindung der Supervision in
Kompetenzen zu fördern. die Ausbildung von Pflegepersonen, um gerade Be-
rufsanfängern zu helfen, sich mit ihrer Persönlich-
10.10.1 Supervision in der Pflege keit in den institutionellen Strukturen zu orientie-
Seit einigen Jahren findet die Supervision in ren und soziale Kompetenzen im Umgang mit Pa-
Deutschland auch zunehmend Eingang in die Pflege. tienten, Kollegen und Vorgesetzten zu entwicklen.

322 Pflege und Beziehung BAND 1


10.10 Supervision

Eine Supervision kann aus persönlichem Interes- ▌ Gruppensupervision


se, aus persönlicher Motivation („weil ich Unterstüt- Bei der Gruppensupervision stehen mehrere Teil-
zung haben möchte“) in Anspruch genommen wer- nehmer einem Supervisor gegenüber. Hierbei kön-
den, aber auch durch institutionelle Interessen (z. B. nen heterogene und homogene Supervisionsgrup-
Verbesserung der Arbeitszufriedenheit, gut „funk- pen unterschieden werden. Bei den heterogenen
tionierende“ Arbeitskraft) angeregt werden. Gruppen treffen sich Teilnehmer aus unterschiedli-
Um einen kleinen Einblick in die Supervision zu chen beruflichen Feldern nur zum Zweck der Super-
geben, werden im Folgenden kurz die verschiedenen vision.
Formen der Supervision dargestellt. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei den ho-
mogenen Gruppen um Teilnehmer aus einem Be-
10.10.2 Formen der Supervision (Setting) rufsfeld und zumeist aus einer Institution. Bei den
Als Setting wird in der Supervision die Arbeitsform, homogenen Gruppen kann es sich um Arbeits- und
der institutionalisierte Rahmen bezeichnet, in wel- Projektgruppen handeln, die begleitend eine Super-
chem die Supervision stattfindet. Grundsätzlich vision für die Zeit der gemeinsamen Arbeit in An-
können zwei Formen, die Einzel- und Gruppen- spruch nehmen. Aber auch Personen mit ähnlichen
supervision, unterschieden werden. Die Auswahl Aufgaben- und Tätigkeitsfeldern wie z. B. Pflegekräf-
und Entscheidung für eine bestimmte Form der Su- te, Ärzte, Mentoren, Lehrkräfte, Stationsleitungen
pervision richtet sich nach der Zielsetzung, wird u. a. können sich zu einer gemeinsamen Supervision
aber auch beeinflusst von der aktuellen Situation zusammenschließen.
des Einzelnen sowie von den organisatorischen Die Vielfalt der Anregungen und Assoziationen,
und institutionellen Rahmenbedingungen. die durch die verschiedenen Teilnehmer erfolgen,
und die Möglichkeit, einzelne Aspekte von unter-
▌ Einzelsupervision schiedlichen Positionen aus zu beleuchten sowie un-
Die Einzelsupervision ist dadurch gekennzeichnet, terschiedliche Sicht- und Handlungsweisen kennen-
10
dass einem Supervisanden mit seiner beruflichen zulernen, stellen einen Vorteil der Gruppensuper-
Situation ein Supervisor gegenübersteht. Der Super- vision gegenüber der Einzelsupervision dar.
visand hat bei der Einzelsupervision die Möglich- Im Gegensatz zur Teamsupervision (s. u.) findet
keit, Thema und Tempo der Sitzung weitestgehend die Gruppensupervision nicht in dem engen sozia-
selbst zu gestalten. Da der Supervisand immer im len Verband des eigenen Arbeitsplatzes statt. Die
Zentrum der Sitzung steht, ist diese Form der Super- Reflexion der beruflichen Situation mit Personen,
vision sehr intensiv. Es fehlen allerdings Anregungen die nicht in einem unmittelbaren kollegialen Bezug
durch andere Personen, insbesondere bei der Bear- zur eigenen Person stehen, werden vielfach als „ein-
beitung von Situationen, an denen mehrere Per- facher“ angesehen.
sonen beteiligt sind. Beispiele für mögliche Gründe, Gründe für eine Teilnahme an einer Gruppen-
eine Einzelsupervision zu nehmen, sind: supervision können, neben den Gründen für eine
■ Entwicklung der eigenen Pflegepersönlichkeit, Einzelsupervision z. B. sein:
■ Findung der eigenen Rolle, Position, ■ Das Kennenlernen der eigenen Wirkung auf an-
■ Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, dere,
■ Änderungen im Tätigkeits-/Arbeitsfeld, ■ Anregungen und Unterstützung durch andere zu
■ Berufliche Umorientierung, erfahren,
■ Erfahrung von Defiziten. ■ die eigene Wahrnehmung zu schärfen,
■ Verbesserung der sozialen Kompetenzen, ins-
▌ Coaching besondere der kommunikativen Fähigkeiten.
Eine besondere Form der Einzelsupervision stellt
das Coaching als Lösungs- und Zielorientierte Be- ▌ Teamsupervision
gleitung dar. Es wendet sich vor allem an Personen Eine besondere Form der Gruppensupervision stellt
in Führungspositionen und wird deshalb auch als die Teamsupervision dar, da die Mitglieder der
„Führungs- oder Leitungssupervision“ bezeichnet. Gruppe nach den Sitzungen nicht auseinander-
Im Mittelpunkt der gemeinsamen Reflektion steht gehen, sondern weiter miteinander arbeiten. Neben
hierbei das konkrete Handeln der Person als Füh- den Problemen der beruflichen Arbeit sind häufige
rungskraft. Themen einer Teamsupervision die Beziehungen der

BAND 1 Pflege und Beziehung 323


10 Kommunikation und Pflege

Teammitglieder untereinander. Gründe, die ein Leiter einer solchen Balintgruppe darf nur ein
Team veranlassen, Supervision für sich in Anspruch Psychoanalytiker mit entsprechender Ausbildung
zu nehmen, sind u. a.: sein.
■ Verbesserung der Kommunikation und Koope- Das Vorgehen einer Fallbesprechung innerhalb
ration innerhalb des Teams, Teamentwicklung, einer Balintgruppensitzung kann folgendermaßen
■ Sicherung und Verbesserung der Qualität der Ar- aussehen:
beit, ■ Vorstellung der Fälle, die die einzelnen Mitglie-
■ Verbesserung der Arbeitseffizienz, der mitbringen, und Entscheidung der Gruppe
■ Hilfe, Unterstützung bei der Bearbeitung von für einen Fall.
Konflikten innerhalb des Teams oder zwischen ■ Vorstellung des Falles durch den Einbringer in
Team und Träger, Form eines spontanen mündlichen Berichtes.
■ Erkennen und Verlassen eingefahrener Arbeits- ■ Rückfragen der Gruppe und des Leiters zur Sa-
routine, che.
■ Fehlende Transparenz von Entscheidungsstruk- ■ Nach dieser Materialsammlung wird der Fallein-
turen, bringer für die folgende Bearbeitung des Falles in
■ Fallbesprechungen. der Gruppe ausgeschlossen. Er nimmt nun die
Rolle eines Beobachters ein.

!
Merke: Supervision erfolgt in verschiede- ■ Die Teilnehmer beschreiben jetzt ihre Gefühle
nen Settings. Grundsätzliche Formen sind bezüglich des Falles sowie spontan auftauchende
die Einzel- und die Gruppensupervision. Bilder, Phantasien und Assoziationen.
■ Als nächstes folgt die Analyse und Diagnose des
10.10.3 Balint-Gruppen Falles (z. B.: „Der Fall beinhaltet...“, „Das Problem
Die Methoden und Konzepte, die in der Supervision ist, dass...“).
Anwendung finden, sind sehr vielfältig. Sie entstam- ■ Die nachfolgende Diskussion dient der Suche
10
men unterschiedlichen Richtungen und Schulen nach Lösungswegen.
(z. B. der Verhaltens-, Gesprächs-, Gestalttherapie ■ Im Anschluss daran wird der Falleinbringer wie-
oder der Psychoanalyse). Welche Methode Anwen- der in die Gruppe zurückgeholt und erhält von
dung findet, ist auch abhängig vom Inhalt und dem jedem Teilnehmer einen Vorschlag.
Ziel der Supervision. Eine der bekanntesten Metho- ■ Der Falleinbringer hat zum Abschluss das Wort
den ist die Balintarbeit im Rahmen von Fallbespre- und kann der Gruppe mitteilen, welche Aspekte
chungen. Sie soll deshalb als eine Möglichkeit kurz er mitnehmen kann, welche er für wichtig hielt
vorgestellt werden. und ob er hieraus Empfehlungen für das nächste
Nach dem Begründer Michael Balint wurde diese Mal verwenden kann.
spezielle Form der Fallbesprechung benannt, bei der
einzelnen „Fälle“ aus dem beruflichen Alltag, z. B. Die Balintgruppen haben für eine Reihe nachfolgen-
die Konfrontation mit tumorkranken Menschen, der Formen von Fallbesprechungen Modell gestan-
die den Einzelnen stark beschäftigen, in der Gruppe den, die auch im pflegerischen Bereich von Bedeu-
bearbeitet werden. Bei der Balintarbeit treffen sich tung sind, da sie zu einem besseren Verständnis der
die Teilnehmer regelmäßig in ca. 14-tägigen Abstän- Beziehung zum Patienten führen und eine Beglei-
den zu 11/2 – 2-stündigen Sitzungen. tung, insbesondere auch von unheilbar Kranken
Bei den Teilnehmern handelt es sich um Per- oder sterbenden Patienten, unterstützen.
sonen mit gleicher Berufstätigkeit (in der Regel Ärz-

!
te). Ziel der Balint-Gruppe ist, die Beziehung zwi- Merke: Die Arbeit in Balintgruppen ist eine
schen Helfer (z. B. Arzt) und Hilfesuchendem (z. B. Methode, die im Rahmen von Supervision
Patient) zu analysieren und dabei unbewusste Über- angewandt werden kann. Hier werden ein-
tragungs- und Gegenübertragungsphänomene zelne „Fälle“ in der Gruppe bearbeitet, um mögliche
sichtbar zu machen, um die Beziehung so besser zu Lösungswege für diese und ähnliche Situationen zu
verstehen. Da die Fallbesprechungen in dieser oder entwickeln.
auch ähnlicher Form nicht gruppendynamisch aus-
gerichtet sind, bereiten sie in der Regel wenig Unbe-
hagen und Angst.

324 Pflege und Beziehung BAND 1


Literatur

Zusammenfassung: Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP) e. V./ Sek-


Supervision tion BIS (Beraten – Informieren – Schulen) (Hrsg.): Kolle-
giale Beratung in der Pflege. Ein praktischer Leitfaden zur
■ Supervision dient der Förderung der persönlichen
Einführung und Implementierung. Duisburg 2012
und beruflichen Kompetenzen.
Elzer, M., C. Sciborski: Kommunikative Kompetenzen in der
■ Es gibt sowohl Einzelsupervision, z. B. Coaching als Pflege. Theorie und Praxis der verbalen und non-verbalen
auch Gruppensupervison: Interaktion. Huber Verlag, Bern 2007
– homogene Gruppe: Personen mit ähnlichen Frey, K.: Die Projektmethode. 12. Aufl., Beltz-Verlag, Wein-
Aufgaben, z. B. Balintgruppe, heim 2012
– heterogene Gruppe: z. B. Teamsupervision. Heering, C.: Das Pflegevisiten-Buch. 3. Aufl. Huber Verlag,
Bern 2012
Hornung, R., J. Lächler: Psychologisches und soziologisches
Fazit: Kommunikation ist die Verständigung
Grundwissen für Gesundheits- und Krankenpflegeberufe:
zwischen Menschen mittels Zeichen und Lehrbuch und Nachschlagewerk. 10. Aufl. Beltz-Verlag,
Sprache. Sie kann unterschieden werden in Weinheim 2011
verbale und nonverbale Kommunikation. Neben der Klug-Redmann, B.: Patientenedukation. Kurzlehrbuch für
Verständigung ermöglicht die Kommunikation auch Pflege- und Gesundheitsberufe. 2. Aufl., Huber Verlag,
den Aufbau von zwischenmenschlichen Beziehungen. Bern 2009
Loffing, C., D. Loffing (Hrsg.): Konfliktgespräche in der Pflege.
Kommunizieren wird als Tätigkeit von jedem Men-
So meistern Sie schwierige Situationen in der Praxis.
schen täglich ausgeführt. Eine Reihe von Störfaktoren Schlütersche, Hannover 2014
kann den Erfolg einer Kommunikation beeinträchti- Matolycz, E.: Kommunikation in der Pflege. Springer Vienna
gen. Verlag, 2009
Auch in der beruflichen Ausübung der Pflege spielt Rappe-Giesecke, K.: Supervision für Gruppen und Teams.
die Kommunikation eine bedeutende Rolle. Der Aus- 4. Aufl. Springer, Berlin 2009
Rogall-Adam, R. u. a.: Professionelle Kommunikation in Pflege
tausch von Informationen, die Anleitung von pflege-
und Management. Ein praxisnaher Leitfaden. 2. aktuali-
bedürftigen Menschen und anderen Pflegepersonen,
sierte Aufl., Schlütersche, Hannover 2011 10
Beratungsgespräche und die gemeinsame Lösung von Schulz von Thun, F.: Miteinander reden 1-4. Störungen und
Konflikten sind Bestandteile pflegerischen Handelns, Klärungen. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung.
die vielseitige kommunikative Kompetenzen erfor- Das „innere Team“ und situationsgerechte Kommunikati-
dern. on. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2014
Die Themenzentrierte Interaktion ist eine Form der Schwarz, R.: Supervision in der Pflege. Leitfaden für Pflege-
manager und –praktiker. Huber Verlag, Bern 2007
Kommunikation, die sehr häufig in Gruppen einge-
Schwarz, R.: Supervision und professionelles Handeln Pfle-
setzt wird, die sich intensiv mit einem Thema beschäf-
gender. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
tigen, um die Gruppe zu einem konstruktiven Mit- 2009
einander zu führen. Sie gewinnt auch in der Arbeit Tewes, R.: „Wie bitte?“ Kommunikation in Gesundheitsberu-
im Pflegeteam einen immer größeren Stellenwert. fen. 2. Aufl. Springer, Berlin 2015
Spezielle Situationen im menschlichen und im be- Tietze, K.-O.: Kollegiale Beratung. Problemlösungen gemein-
ruflichen Miteinander bzw. in der Beziehung zu pfle- sam entwickeln. 3. Aufl. Rowohlt, Reinbek 2008
Watzlawick, P., J. H. Beavin, D. D. Jackson: Menschliche Kom-
gebedürftigen Menschen können bestimmte Arten
munikation: Formen, Störungen, Paradoxien, 13. Aufl.,
kommunikativer Interventionen erforderlich machen. Huber Verlag, Bern 2016
Die Supervision bietet hierbei einen Rahmen, sich das Weber, W.: Wege zum helfenden Gespräch, 14. Aufl., Ernst
eigene berufliche Handeln bewusst zu machen und zu Reinhard Verlag, München 2012
reflektieren. Weinberger, S.: Klientenzentrierte Gesprächsführung. Lern-
und Praxisbegleitung für psychosoziale Berufe. 14. Aufl.,
Beltz Juventa, Weinheim 2013
Wingchen, J.: Kommunikation und Gesprächsführung für
Literatur:
Pflegeberufe. 3. Aufl. Schlütersche, Hannover 2014
Zegelin, A., W. Schnepp: Sprache und Pflege. 2. Aufl. Huber
Belardi, N.: Supervision für helfende Berufe 3. Auflage, Lam-
Verlag, Bern 2005
bertus Verlag, Freiburg 2015
Cohn, R. C.: Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten
Interaktion. Von der Behandlung einzelner zu einer Päda-
gogik für alle, 15. Aufl., Klett-Cotta, Stuttgart 2016

BAND 1 Pflege und Beziehung 325


Glossar Band 1

Glossar Band 1

Abhängige Variable. Wird in der (Pflege-) Forschung Association for Common European Nursing Diagno-
beobachtet, um die Auswirkung der unabhängigen sis, Interventions and Outcomes (ACENDIO). Vereini-
Variable zu messen. gung für gemeinsame europäische Pflegediagnosen,
Pflegeinterventionen und Pflegeergebnisse, die eine
Abstraktionsgrad. Beschreibt den Grad der Überein- Klassifikation für europäische Pflegediagnosen er-
stimmung zwischen der beobachtbaren Wirklichkeit stellt
und der Beschreibung und Erklärung dieser Wirk-
lichkeit. Je höher der Abstraktionsgrad, desto größer Aufnahmegespräch. Gespräch zwischen Pflegeper-
der Unterschied zwischen beiden und umgekehrt son und pflegebedürftigem Menschen im Rahmen
der Informationssammlung, dem ersten Schritt des
Akkommodation. Bezeichnet nach dem schweizer Pflegeprozesses
Psychologen Jean Piaget einen Vorgang, bei dem
die kognitive Struktur eines Menschen erweitert Aufrichtigkeit. Für die pflegerische Berufsausübung
werden muss, um ein neues Element einordnen zu wichtiges ethisches Prinzip, das sich u. a. auf Ehrlich-
können keit und Wahrhaftigkeit in menschlichen Beziehun-
gen bezieht
Angewandte Forschung. Dient der Überprüfung und
Bewertung von Theorien im Hinblick auf ihre Autonomie. Für die pflegerische Berufsausübung
Brauchbarkeit und zur Lösung von Problemen in wichtiges ethisches Prinzip, das sich auf die Freiheit
der Pflegepraxis des Menschen, willentlich zu denken und zu han-
deln bezieht; umfasst die Willensfreiheit und Hand-
Anleitungsgespräch. Gespräch mit dem Ziel, Wissen lungs- bzw. Entscheidungsfreiheit eines Menschen
so zu vermitteln, dass es in praktisches Tun umge-
setzt werden kann, in der Pflege z. B. als Anleitung Balintgruppe. Form der Fallbesprechung, bei der
von pflegebedürftigen Menschen und/oder deren einzelne „Fälle“ aus dem beruflichen Alltag in der
Angehörigen zur selbständigen Durchführung von Gruppe bearbeitet werden, um mögliche Lösungs-
Pflegemaßnahmen oder zur Einarbeitung neuer wege für diese und ähnliche Situationen zu ent-
Mitarbeiter wickeln. Findet u. a. Anwendung bei der Auseinan-
dersetzung mit problematischen Situationen in der
Äquilibration. Bezeichnet nach dem schweizer Psy- Pflege, z. B. bei der Begleitung schwerstkranker
chologen Jean Piaget das Bestreben eines Menschen Menschen oder Sterbender
über die Mechanismen Akkommodation und Assi-
milation ein Gleichgewicht zwischen bislang unbe- Bedürfnismodell. Klasse von Pflegetheorien, bei
kannten Elementen und der eigenen kognitiven denen die Bedürfnisse der zu pflegenden Menschen
Struktur herzustellen im Mittelpunkt der Theorie stehen

Arbeitsorganisationsform. Beschreibt, welche Arbeit Benedikt von Nursia (480 – 547). Begründer des Be-
anfällt und wie sie auf das zur Verfügung stehende nediktinerordens, dessen Hauptanliegen die Aus-
(Pflege-) Personal verteilt wird; in der Pflege wer- übung der christlichen Caritas war
den Einzel-, Zimmer-, Gruppenpflege und Primary
Nursing unterschieden Benefizienz. Für die pflegerische Berufsausübung
wichtiges ethisches Prinzip, das sich darauf bezieht,
Assimilation. Bezeichnet nach dem schweizer Psy- anderen Menschen Gutes zu tun bzw. tun zu wollen
chologen Jean Piaget einen Vorgang, bei dem neue
Elemente in die bestehende kognitive Struktur eines Beratungsgespräch. Bezieht sich inhaltlich auf be-
Menschen eingeordnet werden stimmte Probleme in einzelnen Lebensbereichen

326
Abbildungsverzeichnis

Herausgeberfoto Annette Lauber: Robert-Bosch-


Krankenhaus Stuttgart
1 Einstieg: A. Fischer, Thieme
2.1 creative commons: Museo Chiaramonti.
Marie-Lan Nguyen (2006) https://commons.
wikimedia.org/wiki/File:Asklepios_Leutari_
Chiaramonti_ Inv2023.jpg
2.3 C. Schiller, Fotolia.com
2.8 creative commons: Artist: Simon François de
Tours (1606 – 1671). Current location: Mis-
sion des Lazaristes, Paris, France. Photogra-
pher: Allposters https://commons.wikime-
dia.org/wiki/File:Simon_ Fran%C3%A7ois_de_
Tours_-_Portrait_Vincent_de_ Paul.jpeg
2.13 Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe
(DBfK), Berlin
3 Einstieg: A. Fischer, Thieme
4 Einstieg: A. Fischer, Thieme
5 Einstieg: P. Blåfield, Thieme
6 Einstieg: P. Blåfield, Thieme
7 Einstieg: K. Oborny, Thieme
8 Einstieg: A. Fischer, Thieme
8.1 K. Oborny, Thieme
8.3 A. Fischer, Thieme
8.4 A. Fischer, Thieme
8.5 A. Fischer, Thieme
9 Einstieg: W. Krüper, Thieme
10 Einstieg: A. Fischer, Thieme
10.2 A. Fischer, Thieme
10.3 Comic: R. Hartmann, Witten
10.4 Comic: R. Hartmann, Witten
10.6 A. Fischer, Thieme
10.11 Comic: R. Hartmann, Witten
10.12 A. Fischer, Thieme
10.14 Tietze, Kim-Oliver. Kollegiale Beratung.
Problemlösungen gemeinsam entwickeln.
Miteinander reden: Praxis. Herausgegeben
von Friedemann Schulz von Thun. Copyright
© 2003 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
Part 1: K. Oborny, Thieme
Part 2: P. Blåfield, Thieme
Part 3: A. Fischer, Thieme

335
Sachverzeichnis

Sachverzeichnis

A und Pflegeorganisationen Bedürfnismodell 95,105 Bevölkerungswandel 61


Abhängigenpflege 106 (ADS) 65 Befragung 151, 216 Bewältigungsmöglichkeit,
Abhängig/Unabhängigkeits- Arbeitsorganisation Beginen 37 individuelle 17
Kontinuum 125 – Pflegedienst 198 Begriffsbildung 89 Beziehung
Ablösungsphase des Patien- Arbeitszufriedenheit, Behalten 303 – und Kommunikation 293
ten 97 Primary Nursing 243 Behaltwerte 303 – lebendige, Pflegender und
Absolutheit 14 van der Arend, Arie 257 Behandlung, Durchführen Patient 96 ff,102
Abwehr-Linie 110 Aristoteles 254 und Überwachen, Kom- – Ida Jean Orlando 98 ff
– Stressoren 112 Arztvisite 309 petenz 80 – pflegerische erfolgreiche
ACENDIO, Klassifikation 192, Asklepiades von Bithymien Belastung 173
231 30 – Patient 99 Beziehungsaufbau, Trans-
ABEDL 132 Asklepios 28 – Umgang, Supervision 322 parenz 301
Agnes-Karll-Verband 49, 60 Assessment-Instrumente 176 Belastungs-Bewältigungs- Beziehungs-Ohr 295
Akkommodation 73 Assimilation 73 Modell 17 Beziehungsprozess 172 f
Akzeptanz, partnerzentrier- Associated Nurse 243 Benedikt von Nursia 32 – dynamischer 172
tes Gespräch 318 Association For Common- Benediktinerorden 32 – Phasen 96
Alltagsbewältigung, Hilfestel- European Nursing Diagno- Beneffizienz 273 Bezugspflege 241
lung 71 sis, Interventions and Out- Benner, Patricia 77 f Bischoff, Claudia 13 f
Alltagsleben, Pflegeprozess– comes (ACENDIO) 192 Beobachtung, teilnehmende BKK s. Körperkonzeption,
Modell 171 Atmen 125 176 biografische
Alltagssprache 287 Aufgabenfelder, veränderte Beobachtungsfähigkeit 75 Blaue Schwestern 56
Alltagstheorie 198 72 Beraten, Kompetenz 80 Blickkontakt 298
Altenhilfe, berufliche Pflege 9 Aufgabenzuteilung 237 Beratungsgespräch 311 f Borromäerinnen 45
Altenpflege 7 Aufklärungsverantwortung Beratungsmöglichkeit, Botschaft
– Entwicklung der Ausbil- 272 gesundheitliche 312 – inkongruente 289
dung 60 Aufmerksamkeit 303 f, 305 Bereichspflege 241 – kongruente 289
– Gesetze über die Berufe – Erregen 304 Beruf Braune Schwestern 56
62 f – Förderung 305 – Definition 87 Brephotropheion 31
– praktische Ausbildung 63 Aufnahmegespräch 177 – Konflikt, Auslöser 314 Burnout-Syndrom 322
– Ziele 7 Aufrichtigkeit 272 f Berufsbild 5 ff
Altenpflegegesetz (AltPflG) Auftragsforschung 149 – grundlegende Annahmen 4
70 Augustinerinnen 36 – WHO 18 f C
Altenpflegerin/Altenpfleger Ausbildung 208 Berufsbildbeschreibung 5 f Caritas 31
– Aufgaben 7 – patientenorientiertes Berufsentwicklung 24 ff Charta
– Berufsbild 7 f Pflegesystem 238 – Zeittafel 25 ff – für Kinder im Krankenhaus
Altersfürsorge, Mittelalter 38 Ausbildungs- und Prüfungs- Berufsgeheimnis 273 264
Ambulatorien 43 verordnung für die Berufe Berufskodex 262 – der Rechte hilfe- und pfle-
Anforderungsprofil 70 in der Krankenpflege – Aufgaben und Ziele 264 gebedürftiger Menschen
Angehörige, pflegende, (KrPflAPrV) 208 – Definition 260 262 f
Seminar 312 Ausbildungsverordnung, – ICN 18 f Choleriker 29
Angleichung 73 neue 61 – in der Pflege 261 Christentum 31
Angstbekämpfung 128 Ausdruckmöglichkeiten Berufsorganisation der Kran- Chronic Illness Trajectory
Anleitung, individuelle – nonverbale 287 kenpflegerinnen Deutsch- Model 119 ff
Situation 311 – verbale 286 lands (B.O.K.D.) 49 Clemensschwestern 45
Anleitungsgespräch 311 ff Ausdrucksbewegungen 288 Berufsprofil, Veränderungen Coaching 323
Anspruch, ganzheitlicher, Authentizität 320 87 Codierung 286
Totalität 14 Autonomie 87, 268, 270 Berufsverband Copingressourcen 19
Antike 28 ff Autorität 164 f – Aufgaben 65 Coping-Strategie 17
Antonovsky, Aaron 19 Axiom 318 – Kinderkrankenpflege Corbin, Juliet 119
Appell, verdeckter 294 – ethisch-soziales 318 Deutschland (BeKD) 65
Appell-Ohr 295 – existenziell-anthropologi- Beschlussfassung, ethische,
Äquilibration 73 sches 318 Stufenplan 280 D
Arbeit – pragmatisch-politisches Beschwerdemanagement 216 Dachverband 66
– Humanisierung 235 318 Besprechung im Pflegeteam Daten
– Strukturierung 236 309 – direkte 175 f
Arbeiten Betreuung – Häufigkeitsverteilung 153
– in kleinen Schritten 304 B – Kompetenz 80 – indirekte 175 f
– theoriegeleitetes 86 Bachelorabschluss 64 – Versorgungskontinuität – Kreisdiagramm 154
Arbeitsfelder 64 Badischer Frauenverein 53 242 – objektive 174 f
Arbeitsgemeinschaft Deut- Balint-Gruppen 324 Betreuungsverfügung 271 – primäre 175
scher Schwesternverbände Balkendiagramm 154 Bettelorden 36 – subjektive 174
Barmherzige Brüder 39 Bevölkerung, Altersaufbau 71 Datenerhebung 151

336
Sachverzeichnis

– Dokumentation 178 f – Berufsgeheimnis 273 Forschungsdesign 151


– Methoden 176 E Ethikkomitee, klinisches 279 Forschungsfragen 149 f
– Pflegeprozess 174 f EACH 264 Ethikkommission 157 Forschungsprozess 148 ff
de Dios, Juan 39 Echtheit 316 Ethiktheorie, deontologische – Ergebnisdarstellung 153
Decodierung 286 – partnerzentriertes Ge- 256 Fortbildung, Anleitung 310 f
Deduktion 91 spräch 316 Etikette 259 Fragebogen
Defizitorientierung, Pflege- Edikt von Clermont 35 f European Foundation for – standardisierter 144
diagnose 236 EFQM-Modell für Excellence Quality Management 213 – – Umgang 178
Dekubitus, Versuch und 213 Euthanasie 55 ff Frank–Schultz, Ehrengard 58
Irrtum 166 Eid, hippokratischer 30 – Aussagen von Kranken- Franz von Assisi 36
Deming-Kreis 215 Eigenverantwortlichkeit 197 schwestern 57 f Franziskaner 36
Denken, logisches 139 Eigenverantwortung 319 – Widerstand 58 Frauenvereine, vaterländische
Deontologie 256 f – geringe 238 Evaluation 192 47
Dependenzpflege 106 Einwilligung – Fragen 193 Friedemann, Marie-Luise
Dependenzpflegekompetenz – mutmaßliche 270 Evidence-Based-Nursing 142, 127 ff
107 – wirksame 269 f 155 f Führungsstil, demokratischer
Deutscher Einzelpflege 240 Evidence-Based Practice 155 97
– Berufsverband für Alten- Einzelsupervision 323 Experten 77 Fünf-Phasen-Modell 169
pflege (DBVA) 65 Eklektiker 30 Expertenstandard 194 f Funktionspflege 238
– – für Krankenpflege(DBfK) Elemente der Krankenpflege, – Entlassungsmanagement – Nachteile 238 f
49 Roper/Logan und Tierney 194 – Vorteile 236 f
– – für Pflegeberufe 65 199 f Fürsorge 114, 273
– Bildungsrat, Bildungskon- Elementenlehre 15, 29 – kulturspezifische 114
zept für Pflegeberufe 66 Elisabeth von Thüringen 36 f F – – Sunrise–Modell 115
– Pflegerat e. V., Berufsbild Empathie 316 Fachausschuss für Schwes-
66 Empedokles von Agrigent 29 ternwesen 56
Deutsches Netzwerk für Qua- Empirie 88 Fachkompetenz 75 G
litätsentwicklung in der Energiefeld 103 Fachsprache 307 Galen 30
Pflege (DNQP) 195 Entlassungsmanagement – Kommunikation 287 Ganzheitlichkeit 12 f
Deutschritter 36 193 ff – Vermeidung 297 Ganzkörperpflege 14 f
Diagnostik, Kompetenz 79 – Expertenstandard 194 ff – wirksame Einwilligung 269 Gastmans, Chris 258
Diagnostischer Prozess 231 Entscheidung, eigenverant- Fachweiterbildung 87 Gebärden 288
Diakonie, evangelische 46 wortliche 319 Fähigkeit zur Selbstregulation Gemeindeschwestern 60
Diakonissen 46 Entscheidungsfindung 103 Genfer Konvention 52 f
Dialekt 287 – ethische 275 ff Fallbesprechung, ethische Gerechtigkeit 272
Dialog, wechselseitige Auf- – – Fallbesprechung 278 f 278 f Gerokomeion 31
rechterhaltung 305 f – – Schritte 276 Familie, systemische Pflege Gesinnung
Diätetik 30 Entscheidungsfindungspro- 131 – ethisch-gute 250
Dieffenbach, Johann Friedrich zess, ethischer, Stufenplan Familiensystem 128 – und Handlung 257
42, 44 276 f – Ziel- und Prozessdimensio- Gespräch
Dienstanweisung 202 Entscheidungsfreiheit 268 nen 129 f – helfendes 316
Dienstleistung, Bedarf 87 Entscheidungsprozess 168 f Fawcett, Jacqueline 95 – partnerzentriertes 316 ff
Dienstübergabe 309 Entscheidungstheorie 168 Feedback 167 – Vorüberlegungen 301
– mit dem Patienten 309 Entwicklung, kognitive 73 f – Gelingen 299 Gesprächsanfang, guter 296 f
– Zeitpunkt 311 EPA s. Patientenakte, elektro- – Kommunikation 285 Gesprächsführung, personen-
Distanz nische – Nachricht 299 f zentrierte 315
– öffentliche 288 Ergebnis Feedbackmechanismus 127 Gesprächsinhalt 302
– persönliche 289 – Darstellungen 153 Feld, phänomenales 117 Gesprächsintention 302 f
– soziale 289 – Interpretation 154 Fernziel, Pflegeprozess 186 Gesprächssituation, spezielle
Dokumentation, Standards – Qualität 219 Fliedner 301 ff
206 Erhebungsmethode, deskrip- – Friederike 47 Gesprächspartner 302 f
Dominikanerorden 36 f tive 153 f – Theodor 46 f Gestik 288
Dominikus aus Calaroga 37 Erkennen von Pflegeproble- Fluss, intersubjektiver 117 Gesundheit 15 ff, 70
Domus hospitium 33 men 280 Forschung 88 – Definition der WHO 18
Drei-Phasen-Modell des Ersatzrollen 97 – qualitative, quantitative – Krohwinkel 132 f
Pflegeprozesses 100, 161 Ethik 248 ff, 254 ff 152 – moderne Sicht 21
Dreyfus/Dreyfus-Modell 78 – angewandte 261 – regelgeleitete 141 f Gesundheitsbegriff, Entwick-
Dritter Orden 36 – Aufgaben 256 – Stichprobe 152 lung 17
Dualismus, kartesianischer 11 – deskriptive 255 Forschungsansatz 144 ff Gesundheitsberatung 227
Du-Botschaft 293 – Formen 255, 257 – qualitativer 145 f Gesundheitsdiagnose 230
Dunant, Jean Henri 52 f – Kodex 260 – – Grundprinzipien 147 Gesundheitseinrichtung,
Durchführungsstandard 203 – normative 255 – quantitativer 144 Wettbewerbssituation 241
Dynamik, einheitliche 104 – und Pflege 259 – – Grundprinzipien 147 Gesundheitsfachberuf, Aus-
– wichtige Begriffe 254 – Wahl 146 bildung 238
– zentrale Begriffe 249 f – Wissensquellen 138 f Gesundheitsförderliches Ver-
Ethik–Kodex 272 Forschungsanwendung 155 halten 226

337
Sachverzeichnis

Gesundheitsförderung 71 – Kloster 32 Informationsübertragung 286 Kohärenz 128


– Ausbildung 61 Heimgesetz 211 Informationsweitergabe, Kohärenzgefühl 20
Gesundheits-Krankheits-Kon- Helfen, Kompetenz 79 Tempo 308 Kommunikation 89, 283 ff
tinuum 20 Henderson, Virginia 10 Informed Consent 270 – asymmetrische 290
Gesundheitssicherung 71 Hexenhammer 38 Inhalt, neuer 304 – Beziehungsaspekt 293
Gesundheitstheorie nach Hexenverfolgung 37 f Inkongruenz der Nachricht – als Beziehungsgrundlage in
Antonovsky 19 Hildegard von Bingen 34 289 der Pflege 300 ff
Gesundheitszustand, stabiler Hilfe zur Selbsthilfe 312 Input 167 – Codierung 286
233 Hilfsbedürftigkeit, Verant- Interaktion 290 – Decodierung 286
Gewissen 253 wortung der Pflegenden 99 – Phasen 96 – Definition 284
Gewissensfreiheit 253 Hippokrates 30 – themenzentrierte 318 ff – Deutlichkeit 298
Gewissensinhalte 253 Holismus 12 f Interaktionsmodell 95, 200 – erfolgreiche 296
Graue Schwestern 36 f Hospital Interdependenz 318 – Feedback 285
Gregor der Große 32 – Langhausform 34 International Council of – festgefahrene 300
Griechenland, Antike 28 – Neugestaltung 42 Nurses 18, 49, 65 – Formen 286 ff
Grundgesetz 252 – Neuzeit 42 – Berufskodex 18 – über Gegenstände 288
Grundlagen, theoretische der – Wandel zum Krankenhaus – Klassifikationssysteme 233 – Inhaltsaspekt 292
Pflege 102 ff 41 Interpersonale Beziehung in – Körperhaltung 288
Grundnorm 252 Hospitale pauperum 34 der Pflege, Hildegard – missglückte, Aufgaben 284
Gruppenpflege 240 Hospitalfieber 42 Peplau 95 ff, 201 f – nonverbale 287 f
Gruppensupervision 323 Hospitaliterorden 35 f Interventionen – – kulturelle Besonder-
Hospitalium 32 – der primären Prävention heiten 288
Hôtel Dieu 34, 36 112 – als Regelkreis 285 f
H Humanistische Psychologie, – der sekundären Prävention – Rollenmerkmal 291
Haltung, wertschätzende 299 Kommunikation 321 112 – symmetrische 290
Handeln Humanwissenschaft 118 – der tertiären Prävention – verbale 286 f
– begründetes 266 Humoralpathologie 30 112 f – Wahrnehmung 305
– berufliches, Orientierungs- Intimdistanz 289 – wechselseitige 291
hilfe 260 Intuition 165 – – Aufrechterhaltung 305 f
– bewusstes, aktives 80 I – pflegekundige 165 – Zeitpunkt 302
– und Denken 72 Ich-Botschaft, klare 298 – zentrale Elemente 319
– eigenes 80 ICN s. International Council of – zwischenmenschliche 285
– nach einer Autorität 164 f Nurses J Kommunikationsdistanz 298
– menschliches ICN-Ethik-Kodex 261 Johanniterorden 36 Kommunikationsfähigkeit 75
– – Normen 251 ICN-Kodex, Gerechtigkeit 272 Kommunikationskanal 285
– – Werte 249 Ideenmanagement 216 – geeigneter 298
– moralische Qualität 248 Identifikationsphase des K Kommunikationsmittel 285
– – Regeln 251 Patienten 96 f Kant, Immanuel 256 Kommunikationsmodellnach
– ritualisiertes 165 lmmobilitätssyndrom 228 f Karll, Agnes 48 f Schulz von Thun 291 ff
– tägliches, Kommunikation Imperativ, kategorischer 256 Katharina von Siena 37 Kommunikationspartner
284 ff Individuum, systemische Katholischer Pflegeorden von – Beteiligung 306
– verantwortliches Pflege 131 Vincenz von Paul 40 – Beziehung 296, 297 f
– – Pflege 266 Induktion 91 Kausalitätsprinzip 12 – Gegenüber 297
– – pflegerisches 266 Industrialisierung 44 Kennzeichencluster, Kommunikationsregeln 296
– – Rechenschaft 265 Infirmarium 33 Benennung 232 Kommunikationssituation
– – Wissensaspekt 267 Information 174 Kinder, Autonomie 269 298
Handlung – Datenquelle 175 Kinderheilkunde, Mittelalter – Gesprächssituationen,
– der Pflegenden 99 – in der Pflege, Hauptaspekte 38 spezielle 301 ff
– pflegerische 306 f Kinderkrankenpflege, Ent- Kommunikationsstörung
– – Arten 99 – pflegerische 308 wicklung der Ausbildung 296 ff
– – Beschreibung 15 – subjektive 174 60 – Lebensbereiche 296
Handlungsfreiheit 269 – – Objektivierung 175 Klassifikation der NANDA – semantische 297
Handlungskompetenz 72 – Überhäufung 308 227 f – Übersicht 299
– berufliche 69 ff, 75 Informationsaustausch 284 Klassifikationssystem 229 – Vermeidung 284 ff
– Entwicklung 73 Informationsgespräch 306 f – Erfassung 229 Kompetenz 69
– Primary Nursing 243 – andere Berufsgruppen – Funktionen 231 – Definition 69
– Teilkompetenzen 76 308 f – Verhaltensmuster nach – pflegerische, Aspekte 72
Handlungsorientierung 87 – mit dem Patienten 307 f Gordon 231 – Zusammenspiel der Fak-
Harvey, William 38 – in der Pflege 309 – Vorteile 229 f toren 74
Haus der beruflichen Hand- – Team 309 f Klientensystem 110 f Kompetenzbegriff 69 ff
lungskompetenz 76 Informationsinhalt 308 f – Stabilisierung 110 Kompetenzbereiche 79
Heilberufe 62 Informationssammlung 168, Kloster 32 Kompetenzentwicklung 74
Heilig-Geist-Hospital, 174 – von Cluny 34 Kompetenzerwerb 77 ff
Lübeck 34 – Aufnahmegespräch 176 – St. Gallen 33 – Lernort Schule 81
Heilkunde – Datenerhebung 176 Klostermedizin 34 – Patricia Benner 77 ff
– griechische 28 – Prozess 88 Know-how 78 – Pflegeausbildung 80

338
Sachverzeichnis

Kompetenzstufen 78 – moderne Sicht 21 Medizin, hippokratische 30 NANDA-Taxonomie II 230 f


Konflikt Krankheitsbegriff, Entwick- Medizinische Errungen- Narrow-Scope-Theories 93
– Auslöser 314 lung 17 schaften Nationalsozialismus 54 ff
– kognitiver 73 Krankheitsmodell, biomedizi- – 19. Jahrhundert 44 – Aufgabenfelder der Kran-
– moralischer 275 nisches 16 f – 20. Jahrhundert 54 kenpflege 57
– – Berufskodex 264 – – Erweiterung 17 f – Neuzeit 39 – Ausbildungsordnung 56 f
– Supervision 322 – – Kritikpunkt 16 f Melancholie 29 Naturphilosophie 29 f
Konfliktgespräch 314 f Krankheitsverlaufskurve Melancholiker 29 Neumann, Betty 109 ff
– Einstieg 315 119 ff Meleis, Afaf 95 Neuzeit 38 ff
– Klima 315 Kreisdiagramm 155 Mensch – 19. Jahrhundert 44 ff
– Regeln 315 Kriegskrankenpflege 52, 55 – einheitlicher 103 – 20. Jahrhundert 54 ff
– Stellungnahme 315 Krohwinkel, Monika 132 ff – Grundbedürfnisse 10 – 21. Jahrhundert 61 ff
– Vorbereitung 315 KTQ s. Kooperation für – Qualifikation 200 – Organisationsformen der
– Ziel 314 Transparenz und Qualität – unitärer 12 Pflege 44 f
Konfliktlösung 315 im Gesundheitswesen Menschenbild 11 ff Nightingale, Florence 51 f
Kongruenz der Nachricht 289 Kulturelle Dimensionen – ganzheitliches 12 f – Gelübde 260
Konsequentialismus 257 menschlicher Pflege, – kartesianisches 11 f – Pflegetheorie 93 f
Konstrukt 88 Madeleine Leininger 114 ff – pflegerelevante 3 Nightingale-Fonds 52
Konzentrationslager 56 Kunst – Psychosomatik 12 Nightingale-System 52
– Widerstand 58 – der Beratung 314 – nach Watson 117 Nimwegener Methode der
Konzept 88 – der Pflege 118 f Menschenversuche 57 ethischen Fallbesprechung
– Abhängig/Unabhängig- Kybernetik 167 f Menschenwürde 257 f 279 ff
keits-Kontinuum 124 Messmethoden, biophysika- Non-Malefizienz 271
– Definition 88 lische 152 Nordamerikanische Pflege-
– Familie 130 L Metaethik 255 diagnosenvereinigung
– – und Familiengesundheit LA s. Lebensaktivitäten Metakommunikation 299 f siehe NANDA
128 Laienpflege 5 Metatheorie 92 Normbegründung, utilitaris-
– Familiengesundheit 130 f Lazariter 36 Methode tische 256
– Fürsorge 114 Leben, Individualität 125 – helfende 108 Normen 253
– Gesundheit 130 Lebensaktivitäten 124 f, 132 – induktive 91 Notfall, wirkungsvolles Han-
– der Lebensspanne 125 – beeinflussende Faktoren Methodenkompetenz 76 deln 79
– Mensch 128 125 Middle-Range-Theories 93 NS-Schwesternschaft 56
– Person 132 – nach Roper/Logan und Migranten 71 Nutzungsphase des Patienten
– Pflege 131 Tierney 200 Mittelalter 32 96 f
– Umwelt 128 Lebensspanne 125 Modelle 88
– der Zuwendung 118 Lehren 97 5-D-ModeIl 161
Konzeptionelles Modell der Leininger, Madeleine 114 ff – des Kompetenzerwerbs 77 O
Pflege nach Rogers 103 ff Leitlinien, verbindliche 251 – – Kompetenzstufen 77 Orden
Kooperation 306 Leprosorium 33 – konzeptionelles 90, 92 f – der Barmherzigen Schwes-
– für Transparenz und Quali- Lernen 304 – des Lebens 124 f tern 40
tät im Gesundheitswesen – Definition 73 – der Salutogenese 19 – geistliche 36
213 f – lebenslanges 74 Modellversuchsklausel 62 – weltliche 36 f
– Kompetenz 74 – problemorientiertes 322 Mönchsmedizin 32 Ordenspflege 36
Körperhaltung 288 – – Kompetenzerwerb 81 Moral 252 – katholische 45
Körperkonzeption, biogra- Lernort Moralprinzip 252, 256 Ordnungssysteme 94
fische 120 f – Praxis 80 Motivation, Förderung 303 Orem, Dorothea 105 ff
Körpersprache 288, 298 – Schule 81 Mutterhaussystem 41 Organisation, Kompetenz 79 f
Korrelationsstudie 153 Literaturrecherche 150 Mutterhausverband, welt- Orientierungsphase des
Krankenpflege Logan, Winifred 123 ff licher 47 Patienten 96
– ethische Grundregeln 261 Lohnwartesystem 39 Orientierungsstandard,
– freiberufliche, Neuzeit 48 Loyalität 273 Werte 250
Krankenpflegegesetz 18 f, 61 N Orlando, Ida Jean 91, 98 ff
– Ausbildungs- und Prü- Nachricht Outcome-Standard 205 f
fungsordnungen 62 M – behalten 303 f Output 167
– novelliertes 59 Madame le Gras 40 – decodieren 285
Krankenpflegeprozess 170 Mai, Franz Anton 42 – Feedback 289 f
Krankenpflegeschule, erste Malpighi, Marcello 38 – Inkongruenz 289 P
42 Malteser 36 – Kongruenz 289 Paracelsus 35
Krankenschwester, Berufs- Management, Weiterbildung – verarbeiten 306 Paradigma 92 f
kodex 18 64 – verbale 289 Partnerzentriertes Gespräch
Krankenversicherung, gesetz- Man-Redewendung 300 Nähe 288 f 315
liche 213 Manthey, Marie 241 Nahziel, Pflegeprozess 186 Patientenakte, elektronische
Krankenwärterschule, erste Marriner-Tomey, Ann 94 NANDA 192
42 Martin Luther 38 – Klassifikationen 224, 227 ff Patientenorientierung 14
Krankenwartung, Anleitung, Mastalier 43 – Pflegediagnosen 222 Patientenüberwachung,
19. Jahrhundert 44 Masterabschluss 64 – – sprachliche Besonder- Kompetenz 79
Krankheit 15 ff Maxime 256 heiten 236 Patientenverfügung 270

339
Sachverzeichnis

Patientenzufriedenheit, Pflegeausbildung, Neuord- Pflegekraft/Patient-Konti- – – Gegenüberstellung 170


erhöhte 242 f nung nach 1945 58 f nuum 98 – und Pflegestandards 204 ff
PDCA-Zyklus 215 Pflegebedarf, Assessment- Pflegemaßnahmen – Problemlösungs- und Be-
Peplau, Hildegard 95 ff Instrumente 176 – Definition, Arten und Kri- ziehungsprozess 173
Performanz 72 Pflegebegriffe, Abgrenzung 9 terien für die Formulierung – Regeln 101
Person, betreuende, Qualifi- Pflegebericht 190 – Schritte, nach Fiechter/
kation 197 – Beispiel 191 – Dokumentation 187 Meier 174 ff
Personalfluktuation 237 – Eintragungen 191 f – Durchführung 187 f – und Pflegetheorie 201 f
Pflege Pflegebeziehung, intensive – Evaluation 208 Pflegeprozessbericht 101
– Begriffsbestimmung 4 f 231 – Planung 187 ff Pflegeprozessberichtsbogen
– berufliche Pflegebildung 66 Pflegemodelle 90 101
– – Ausdrucksform 15 Pflegediagnose 161, 169, Pflegender Pflegeprozess-Modell, sechs
– – Ausübung 9 221 ff – erfahrener 78 Phasen 170 f
– – Wissensquellen 138 f – aktuelle 225 f – Funktion 99 Pflegequalität 208 ff
– Berufsbildbeschreibung 6 – Arten 224 ff, 228 – kompetenter 78 – Ergebnisqualität 209
– Berufsentwicklung 24 ff – Definition nach NANDA Pflegenotstand 162 f – Prozessqualität 209
– – Zeittafel 25 ff 226 Pflegeorden, katholischer, – Strukturqualität 209
– Beurteilung der Wirkung – defizitorientierte 236 Vinzenz von Paul 40 Pflegeritual 165
192 f – Entwicklung 221 ff Pflegeorganisationen 65 f Pflegesituation
– Beweis-basierte s. – Fachsprache 289 Pflegeperson – Elemente 99
Evidence-Based-Nursing – Klassifikation 227 f – akademisch qualifizierte – Probleme 101
– Definition 10 f – Konzept, Kritik 235 f 64 f Pflegestandard
– – nach Leininger 116 – und medizinische Diagno- – kompetente 70 – kritische Aspekte 209 f
– – nach Naumann 113 se, Vergleich 225 – und Patient, Phasen der – Vorteile 209 f
– – nach Orem 108 – Merkmale 227 Interaktion 201 Pflegestandards 202 ff, 218
– – nach Orlando 102 – neue, Entwicklung 233 Pflegepersonal, Funktionen 6 Pflegesysteme 235 ff
– – nach Peplau 98 – im Pflegeprozess 233 f Pflegeplan 181 – generisches 116
– – nach Rogers 105 – Standardpflegeplan 207 – Beispiel 188 ff – grundlegende, Überblick
– – nach Roper/Logan und – strukturelle Definition 236 – Dokumentation 181 f, 186 109
Tierney 126 Pflegedienst, Arbeitsorgani- – Durchführung 191 – patientenorientiertes, Aus-
– – nach Watson 119 sation 198 – Inhalte 188 bildung 242
– Durchführung 191 Pflegedokumentation 181, – Pflegeziele 185 – professionelles 116
– funktionelle 236 218 – Ressourcen 183 – unterstützend-erzieheri-
– Nachteile 237 f – ganzheitliches Pflegesys- – Standards 202 f sches 108
– – und patientenorientier- tem 242 Pflegeplanung, dokumentier- – Varianten 108
te, Vergleich 238 – Pflegebericht 191 te, Übergabe 309 Pflegeteam, Gruppenpflege
– – Vorteile 236 f Pflegeergebnismodell 95 Pflegepraxis, ethische Prinzi- 240
– ganzheitliche 238 Pflegeethik 259 ff pien 267 Pflegetheorie (s. auch
– – Definition 13 – Aspekte, moralische 259 Pflegeproblem 180 f Theorie) 88
– – Kritikpunkte 13 f – Definition 259 – Definition, Arten und Kri- – Ausbildung 88
– häusliche, Zunahme 71 – Geschichte 259 f terien für die Formulierung – Begriffe 88
– holistische 12 – Verantwortung 259 190 – Einteilung 93 f
– individuelle 14 f, 238 Pflegeethnografie 114 – Dokumentation 182 – Entwicklung 87
– konzeptuelle Modelle, Pflegeexperten 77 – Rangfolge 182 – Konzepte 88
Übersicht 94 Pflegefachkraft, Berufsord- – Ursache 183 Pflegetheoriemodelle 88 ff
– kulturkongruente 114 nung 7 Pflegeprozess 100, 161 ff Pflegeüberleitung 194
– patientenorientierte 14, Pflegefachsprache 224 – Altenpflegegesetz 163 Pflegeversicherung, soziale
239, 240 ff, 322 Pflegeforschung 87, 139 ff, – am Beispiel von Schlag- 210 f
– – Rahmenbedingungen 141 ff anfallpatienten 132 ff Pflegeversicherungsgesetz 71
240 – Aufgaben 143 f – Krohwinkel 132 ff Pflegeverständnis
– – Supervision 321 – Begriffsbestimmung 141 ff – Bezugsrahmen 202 – einheitliches 199
– professionelle 87 f – empirische 144 ff – Durchführung, Einflussfak- – persönliches 198
– psychodynamische 95, 200 – Exkurs, historischer 138 toren 198 ff Pflegevisite 308
– systemische 131 f – klinische 142 – Entwicklung 162 Pflegewissen
– theoretische Grundlagen, – Makro-Ebene 143 – Geschichte 161 f – Autorität 138
Martha Rogers 102 ff – Meso-Ebene 143 – gesetzliche Grundlagen – Denken, logisches 139
– transkulturelle 72 – Mikro-Ebene 143 209 ff – Erfahrung, persönliche 138
– umfassende 14 f – Systematisierung 143 – Inhalt 201 f – Forschung, regelgeleitete
– Wissenschaft und mensch- – Vorgehen, ethisches 156 f – Kommunikation 300 ff 139
liche Zuwendung 117 ff Pflegehandlung – Kommunikationsstörung – Intuition 139
Pflegeanamnese 177 – automatische 99 f 296 – Tradition 138
– Transparenz 301 – gezielte 100 – Krankenpflegegesetz 162, – Versuch und Irrtum 139
– Wahrnehmung, Leitfragen Pflegekompetenz 77 213 Pflegewissenschaft 137 ff
306 Pflegekraft/Patient-Bezie- – Krankenversicherung, ge- – Begriffsbestimmung 140 f
Pflege-Aufnahme-Protokoll, hung, Phasen und Rollen setzliche 163 – Exkurs, historischer 138
Beispiel 179 f 97 – Modelle 168 ff – Grundlagen 103

340
Sachverzeichnis

– Problemlösung 164 f Projektunterricht, Kom- Risikodiagnose 229 – IX 210


Pflegeziel petenzerwerb 81 Risikomanagement 216 f – V 163, 210
– Anpassung 185 Propositionen 89 Risiko-Pflegediagnose 222, – XI 164, 210
– Definition, Arten und Kri- Proxy Consent 270 226 Sozialkompetenz 75
terien für die Formulierung Prozess Ritterorden 36 Sozialprestige 238
190 – der ethischen Entschei- Rogers, Martha 12, 102 ff Sozialversicherung 44
– Dokumentation 186 dungsfindung 279 Rollen in der Pflege 97 Spannungszustand 20
– Festlegung 185 ff – offener pflegerischer 101 Rollenmerkmal 293 Spätmittelalter 35
– formuliertes 192 – pflegediagnostischer 181 Rollenspiele, Kompetenz- Spezialisierungslehrgang 63 f
– Kriterien 185 f – der Reflexion 100 erwerb 81 Spiegel der Seele 290
– Nah– und Fernziele 186 Prozesspflege, fördernde, Rollenzuschreibungen 97 Spiritualität 128
Pflegezielsetzung, Bezugs- Rahmenmodell 133 – parentalistische 268 – Familie 130 f
kriterien 185 Prozessqualität 209 Römisches Reich, Antike 30 Sprachcode 287
Phänomene 88 Prüfungsverordnung, neue 61 Roper, Nancy 123 ff – elaborierter 287
Phlegmatiker 29 Pseudokommunikation 291 Rotes Kreuz 53 – restringierter 287, 297
Piaget, Jean 73 Psychologie, humanistische, Rot-Kreuz-Krankenschwes- Sprache 286
Pneumatiker 30 Kommunikation 321 tern 53 Sprachvermögen 286
Postulate 319 Psychosomatik, Menschen- Rousseau 43 Sprachverständnis 286
PQRST-Gedächtnisstütze 175 bild 12 Rückkoppelungsprozess 127 Standard
Prämissen 91 – ergebnisorientierter 205 f
Prävention – Klassifizierung 202
– als Intervention 113 Q S – prozessorientierter 203
– primäre, Interventionen Quadrat der Nachricht 292 f Sach-Ohr 294 – strukturorientierter 202 f
112 Qualifikation 197 Säftelehre 29, 31 – Ziel der Einführung 202
Praxisbegleitung 321 Qualität 207 f Salutogenese 19 Standardpflegeplan 204
Praxisdomäne 142 – der Kommunikation 299 Schadensersatzanspruch, – Beispiel 205
Praxistheorie 90 – moralische 248 Pflegedokumentation 191 – Vorgehensweise 204
Primäre Prävention, Inter- – Überwachung und Sicher- Schlaf-Wach-Rhythmus 104 Stationsleitung 237
ventionen 112 stellung, Kompetenz 80 Schlüsselqualifikation 197 – Gruppenpflege 240
Primary Nursing 241 ff Qualitätsmanagement 211 ff Schulz von Thun, Friedemann – Primary Nursing 241
– Arbeitszufriedenheit 243 Qualitätsmanagementsyste- 291 ff Stecklaken 165
– Handlungskompetenz 243 me im Gesundheitswesen Schweigepflicht, berufliche Stichprobe 152
– Patientenzufriedenheit 243 213 ff 273 Stimme 287
– Pflegeaufwand 241 f Qualitätssicherung, gesetzli- Schweizerische Gemeinnützi- – Empfindungen 287
Prinzip(ien) che Grundlagen 210 ge Gesellschaft 53 Strauss, Anselm 119
– der Aufrichtigkeit 274 Qualitätszirkel 214 f Sechs-Phasen-Modell 171 Stress 112
– der Autonomie 268 f Seiten einer Nachricht 294 ff – berufsbedingter, Super-
– – Grenzen 268 Seitengespräch 322 vision 322
– der Gerechtigkeit 272 R Selbst 117 Stress-Coping-ModeIl 17 f
– der Homöodynamik 104 RADAR-Konzept 213 Selbstdarstellung 295 Stressoren 20, 110
– der Integralität 104 Referat, Kompetenzerwerb 81 Selbstenthüllung 295 – Arten 112
– der Resonanz 104 Reflexion 80 Selbstkompetenz 76 f Strukturkonzepte der Pfle-
– der Spiralität 104 – ethische 275 Selbstoffenbarungs-Ohr 294 gepraxis, Dorothea Orem
Prinzipien Reformation 39 Selbstpflegebedarf, situativer 105 ff
– ethische 267 ff Regelkreis der Kommunika- 106 f Strukturmodell ABEDl 132
– handlungsleitende 251 tion 285 f Selbstpflegedefizit 107 Strukturqualität 209
Problem, moralisches, Merk- – Störfaktoren 286 Selbstpflegedefizit-Theorie Stufenplan 276 f
male 275 Regeln des Pflegeprozesses 93 – Einsatz 278
Problemformulierung 182 101 – Dorothea Orem 93 Sturzgefahr, Pflegediagnose
Problemlösung 164 f Rehabilitation 71 Selbstpflegeeinschränkung 222
– nicht-rationaler Ansatz 164 Rekonstitution 112 107 Sunrise-Modell 115 f
– rationaler Ansatz 166 ff Ressourcen 14, 20 SeIbstpflegeerfordernisse, Supervision 321 ff
– – Methode, wissenschaft- – Definition, Arten und Kri- entwicklungs- und ge- – Burnout-Syndrom 322
liche 166 terien für die Formulierung sundheitsbedingte 106 – Formen 323
– traditionelle 164 f 190 Selbstpflegekompetenz 107 – in der Pflege 323
Problemlösungsprozess 167, – geistige 183 – Bereiche 107 Supervisionstätigkeit, berufli-
172 f, 215 – Kategorien, Praxisbeispiele Selbstregulation 103 che 322
– Entscheidungstheorie 169 184 Selbstversorgungsdefizit, Syndrom, Pflegediagnose
– Phasen 162 – körperliche 183 Körperpflege 222 f 229 f
Professionalisierungsprozess – ökonomische 184 Seminar, gesundheitliche Be- System
87 f – des Patienten 180, 183 ratung 312 – Definition 109
Professionalität, Kriterien 87 – – Dokumentation 184 Setting 323 – individuelles 128
Professionell Pflegende – persönliche 183 Sieveking, Amalie 46 – menschliches, Prozess-
– – Aufgaben 7 – räumliche 183 Sitte 252 dimensionen 129
– – Berufsbild 7 – soziale 183 Situation, festgefahrene 300 – offene 127
– spirituelle 184 Sozialgesetzbuch – soziales 128

341
Sachverzeichnis

Systemerhaltungsdimension – Zielsetzung 90 Versuch und Irrtum 139 f, Werthaltung 250


129 Theoriebildung 88, 91 166 Wertvorstellung, persönliche
Systemerhaltungsstrategie – Ebenen 92 f Verteilung, gerechte 274 249 f
130 – – Abstraktionsgrad 92 Vier Seiten einer Nachricht WICHE, Pflegeprozess 161
System-Instabilität 111 – Modelle 90 292 ff Widerstands-Linien 111
System–Modell 109 ff Thesen 89 – – Appellaspekt 294 f – Stärkung 112
– Betty Neumann 92, 109 ff Throughput 167 – Beziehungsaspekt 293 Widerstandsressourcen,
Systemtheorie 12, 167 Tierney, Alsion 123 ff – – Sachaspekt 292 f generalisierte 20 f
– Subsystem 167 Tollhäuser 43 – Selbstoffenbarungsaspekt Wiederaufbau, Kriegsende
Total Quality Management 293 58 ff
TQM 212 Vierdimensionalität des Wilde Schwestern 48
T Tradition 164 Lebens 104 Willensfreiheit 268
Taxonomie 229 Transparenz der Maßnahme Vier-Empfangs-Ohren 294 f Wir–Sprache 298
– II 224, 228 303 Vier-Phasen-Modell 161, 169 Wissen
Taylorismus 236 Trial-and-Error-Methode 166 Vincenz von Paul 40 – Quellen beruflicher Pflege
Team, interdisziplinäres 198 TZI 318 ff Vinzentinerinnen 40, 45 f 138 ff
Teamarbeit, Kompetenz 74 TZI–Dreieck 319 Volkswohlfahrt 56 – praktisches 78
Teambesprechung 309 Vorgehen nach Intuition 165 – Streben nach 86
Teamfähigkeit, Kompetenz 75 Vorsorgevollmacht 271 – theoretisches 78
Teamsupervision 323 U Vortrag, Kompetenzerwerb Wissenserwerb 139
Teilnahme 304 f Überforderung 304 81 Wissensquellen
Tempelmedizin 28 Übergabe mit dem Patienten – strukturierte 141
Terminologie, einheitliche 309 – unstrukturierte 141
224 f Überlastung, berufsbedingte, W Wissenschaft und mensch-
Themenzentrierte Interaktion Supervision 322 Wahrnehmung 305 f liche Zuwendung 117 ff
(TZI) 318 ff Überleitungsbogen 196 – von Nachrichten 302 Wohltätigkeit 271
– – Hilfsregeln 320 Überleitungspflege 194 – soziale 305 Wortschatz 287
– – Störung 319 f Umfeld, soziales, Wortschatz – – Leitfragen 306 Wortwahl, richtige 297 f
Theorie 287 Wahrnehmungsfehler 306 Würde 273
– der beschleunigten Evolu- Umgebung 132 Watson, Jean 117 ff
tion 104 Umweltfeld 104 Weimarer Republik 55
– Definition 89 Utilitarismus 255 Weiterbildung, Anleitung X
– deskriptive 90 310 f Xenodochion 32
– erklärende 90 Weiterbildungsmöglichkeiten
– folgenorientierte 256 f V 63 f
– globale 90, 92 f Verallgemeinerung 320 Wellness-Pflegediagnose 230 Z
– kontrollierende 90 Verantwortlichkeitsethik, Weltbund der Kranken- Zeitalter der Aufklärung 41
– Merkmale 89 f personalistische 258 pflegerinnen 49 Zentralwertbezogenheit 87
– mittlerer Reichweite 93 Verantwortung in der Pflege Weltkrieg, erster und zweiter Zimmerpflege 240
– nicht folgenorientierte 258 265 ff 55 f Zuhören 305
– des Pflegesystems 108 Verantwortungsethik, per- Wert, Gesundheit 250 – aktives 299, 316
– prädiktive 90 sonalistische 257 Werte – – Regeln zur Umsetzung
– praxisnahe 93 Verdachts-Pflegediagnose – Definition 249 317
– der Selbstpflege 105 f 230, 235 – kulturelle 249 – – Voraussetzungen 299
– des Selbstpflegedefizits Vergessen 303 – moralische 249 Zusammenarbeit, Kompetenz
105, 107 Vergewaltigungssyndrom – motivierender Aspekt 250 79 f
– des systemischen Gleich- 229 f – nichtmoralische 249 Zuständigkeitsbereich 70
gewichts in der Pflege 128 Verhalten, Patient 99 – religiöse 249 – Wandel 70 f
– – nach Friedemann 127 ff Verstehen, einfühlsames, Wertekonflikte 250 Zuwendung, transpersonale
– teleologische 255 partnerzentriertes Ge- Werteskala 250 in der Pflege 117 f
– der transpersonalen Zu- spräch 316 Wertesystem, persönliche Zuwendungsbeziehung,
wendung 117 249 f transpersonale 118

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