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DAS ER

DAS KENNTNISPROBLEM,
ERKENNTNISPROBLEM,
in der Philosophie und
der Philosophie und Wissenschaft
Wissenschaft
neueren Zeit
der neueren

VON
VON

Dr. ERNST CASSIRER


Dr. ERNST .
„2
ZWEITER BAND
ZWEITER BAND

VERLAG VON BRUNO


VERLAG VON CASSIRER
BRUNO CASSIRER
BERLIN
BERLIN,1907,
1907,.
Phie 333.5 (2),
Pouı 333.5 (2.),

(In I rin
Inhalts-Verzeichnis.
Inhalts-Verzeichnis.
s B u cchh..
V i ee r t e s
Fortbildung
Fortbildung u
und Vollendung des Rationalismus.
n d Vollendung Rationalismus.
Seite
Erstes Kapitel: Spinoza.
Erstes Kapitel: Spinoza.
I.1. Die Erkenntnislehre des
D i e Erkenntnislehre des „Kurzen
„Kurzen Tr Traktats"
aktats“ . . 3
Erkennen als
Das Erkennen
Das Leiden. ‐ "Der
als Leiden. Der Naturbegriff
Naturbegriff des des „Kurzen
„Kurzen
Traktats“. -‐ Spinozas
Traktats". Spinozas Naturbegriff
Naturbegriff und Renaissance.
und die Renaissance.
1.
II. D e r „Tractatus
Der „Tractatus de de iintellectus
n t e l l e c t u s emendatione®
emendatione" 10
Das
Das ethischeZiel
ethische Ziel von
von Spinozas Erkenntnislehre. -‐ Der
Spinozas Erkenntnislehre. Der Be; riff
Begrift
Wahrheit. ‐ D
der Wahrheit. Die Bedingungen der Definition.
i e Bedingungen Definition. ‐- Die Die
geometrische Methode und ihre metaphysische Bedeutung. ‑
Die f„festen und ewigen
e s t e nund Dinge". ‐ Die
ewigen Dinge". geometrische Methode
D i egeometrische Methode
und die
und Geisteswissenschaften. -- Verhältnis
d i e Geisteswissenschaften. u Hobbes.
v e r h ä l t n i s zzu Hobbes. ‑ -
Geometrie
Geometrie und und Analysis.
Analysis.
In.
III. D er B
Der Begriff
e g r i f f der Substanz. -‐ D
d e r Substanz. ie M
Die e t a p h y s i .k
Metaphysik 26
26
Die Antinomien
Die Antinomien des des Pantheismus.
Pantheismus. -- - - DieSubstanz Substanz als Ordnung
a l sOrdnung
des Geschehens.
des Geschehens. ‐- Verhältnis zum
Verhältnis Aristotelischen Substanz‑
zum Aristotelischen Substanz-
begriff. ‐- Die
begriff. Die Substanz mathematische Ordnung
Substanz als mathematische des Seins.
Ordnung des Seins.
‐ DDie
i e Attributenlehre.
Attributenlebre.... -‐ Die Unendlichkeit der
Die Unendlichkeit Attribute. ‑-
der Attribute.
Der
Der S Spinozismus
p i n o z i s m u s und
u n d ddie
i e eexakte
xakte W i s s e n s c h a f t . ‐-
Wissenschaft. Das Sein
Das Sein
des Gesetzes
des Gesetzes und und dasdas Sein
Sein derder Dinge.
Dinge. - Die Stellung des
•Die Stellung des
Intellekts im
Intellekts System Spinozas.
im System Spinozas.

Zweites Kapitel: Leidniz.


Zweites Kapitel: Leibniz.
Verhältnis
Verhältnis zu SPIROIG. ‐
zu Spinoza Die Analyse der Begzille
Die Analyse Begriffe und
und
Wahrheiten.
Wabrheiten . . . = % 47
47
I Der
.I. Begriff der Wahrheit.
Der Begriff Wahrheit. -- - DDie rationalen Grundla;
i e rationalen Grundlagen en der
der
Induktion.
I n d n k t i o n . ~‐ Die Sinne
D i e S i n n e und d e r Intellekt.
u n d der I n t e l l e k t . ‐_ Die
D i e Stufenfolge
Stufenfolge
der Erkenntnis
der Erkenntnis ‐ n a n . n 0: 52
I.
II. Das Alphabet der
Das Alphabet Gedanken. -‐- Logik
der Gedanken. Logik und und Algebra.
Algebra. ‐ - Die Die
e o m e t r i s c h e Charakteristik.
ggeometrische Charakteristik. ‐ Anschauung uund
Anschauung Begriff. ‑
n dBegriff.
Das
Das Problem
Problem der Stetigkeit. - Die
der Stetigkeit. Die Analysis
Analysisdes des Unendlichen.
Unendlichen.
vI
VI Inhalts - Verzeichnis.
Inhalts- Verzeichnis.

‐ Der Infinitesimalbegriff. -‐ Das


Der Infinitesimalbegriff. Das Prinzip der Kontinuität.
Prinzipder Kontinuitat. ‑
Die Analyse
Die Werdens. ‐ Der
Analyse des Werdens. Der Begriff Kraft. ‐.- Die
Begriff der Kraft. Die
Erhaltung
Erhaltung der lebendigen Kraft
der lebendigen Kraft . . . .60
I. Der Symbolbegriff. ‐ Die
I l . Der Symbolbegriff. - D i esymbolische symbolische Erkenntnis
Erkenntnis in in der
der
Mathematik. ‐ -Symbolbegriff
Mathematik, Symbolbegriff und Massbegriff. ‐- Der
u n d Massbegriff. Der Begriff
Begriff
der Erscheinung. ‐ Die Erscheinung und die
der Erscheinung. - Die Erscheinung und die „ewigen Wahr- „ewigen Wahr‑
heiten". ‐- Der Begriff
heiten“. der Tatsachenwahrheit
Begriff der Tatsachenwahrheit 81
IIV
V.. Das Postulat des
Das Postulat „absoluten Verstandes*.
des „absoluten Verstandes". -‐ DieDie Monadologie.
Monadologie.
‐- Die Harmonie
Die H als ideelle
a r m o n i eals Einheit. ‐ Funktionsbegriff
ideelle Einheit. Funktionsbegriff und u
und
Harmoniebegriff
Harmoniebegriff . n e n . : 94

Drittes
Drittes Kapitel: 7schirnhaus
Kapitel: Tschirnhaus 102
102

Die Grundlegung
Die Grundlegung der der Methodenlehre.
Methodenlehre. ‐ Die Die "begriffliche 1
begriffliche E
Er-r‑
zeugung
z e u g u n g der Einzeldinge.
der E i n z e l d i n g e . ‐- Die d r e i Klassen
D i e drei d e s Denkbaren.
K l a s s e n des Denkbaren.
-‐ Erlabrung
Erfahrung und Denken, Logik
und Denken, und Physik.
Logik und Physik.

Fünftes
F ü n f t e s B u cc hh::

Das Erkenntnisproblem
Das Erkenntnisproblem im System des Empirismus.
System des Empirismus.
Erstes Kapitel: Bacon.
Erstes Kapitel: Bacon.
I.1. Die
Die KKritik des Verstandes
r i t i k des Verstandes . . a u : 115
11 5
Natur Begriff. -‐ D
und Begriff.
Natur und Die
i eKritik der Erfahrung.‐
Kritik der Erfahrung. Die
Die
methodische
methodische Bedeutung des Experimenis.
Bedeutung des Experiments,
I.
II. D iiee F
Formenlehre
ormenlebre nn 121
121
Bacon und Descartes,‚Beziehungebegrifteund absolute Qualitäten.
‐ Die Form der Wärme. ‐ Formbegrift und Gesetzesbegriff.
‐ Dere r Charakter Induktion. ‐ Die Er‑
Charakter der Baconischen Induktion.
mittlung
mittlung der Grundbegriffe. -‐ Die
d e r Grundbegriffe. „Philosophia prima".
Die „Philosophia prima' ‑
Physikund
Physik Astronomie.
und Astronomie.

Zweites
Zweites Kapitel: und Fobbes.
Gassendi und
Kapitel: Gassendi Hobbes.
I.
I. Gassendi.
Gassendi.
Verstand
Verstand und Sinnlichkeit. ‐- Die
und Sinnlichkeit. Idolenlehre. -‐ Das
Die Idolenlehre. Das Problem
Problem
ddes
e s Selbstbewusstseins.
S e l b s t b e w n s s t s e i n s . ‐_ Das
Das Ich
Ich und und der der Gegenstand
Gegenstand 135
135
II. Hobbes.
Il. Hobbes.
Verhältnis zu
Verhältnis Bacon und
zu Bacon Galilei. ‐- Hobbes’
und Galilei. Hobbes' Methodenlehre:
Methodenlehre:
ddie
ie g e fi n i t i o n . ‐- Das
Definition.
r eenneettii sscchhee D E r k e n n t n i s i d e a l der
D a s Erkenntnisideal d e r Deduktion.
Deduktion.
-‐ Verhältnis
Verhältnis zur zur Mathematik
Mathematik . 143
143
1.
IlI. Begriff und und Wort. Wort. ‐ Die allgemeingültiger Er‑
Möglichkeit allgemeingaliger
Die Möglichkeit E r.
kenntnis
Kenntnis . 151
151
IIVV. Naturphilosophie. ‐ Raum
Die Naturphilosophie.
. Die Raum und Zeit. Zeit. _ - Die Die Substantilit
Substantialital
des Körpers. ‐- 'Die
des Körpers. Die Theorie
Theorie der Wahrnehmung
Wahrnehmung . . 155
165
Inhalts - Verzeichnis.
Inhalts- Verzeichnis. VII
VI

Kapitel: Locke.
Drittes Kapitel:
Drittes Locke.
Die
Die Grenzbe
Grenzbestimmungstimmun g des des Verstandes.
Verstand es. ‐ Verhältnis
Verhältnis zu
zu
D e s c a r t e s . -‐
Descartes. Der Kampf
Der Kampf gegen gegen dasdas uAnEehörene?
„Angeborene" 163
163
1.. S
Seennssaat tiioonn u nndd R eeflfl eexx ii oo nn . 168
168
Der empirische Ursprung
D e rempirische Ursprung der Erkenntnis.. -_ Die
der Erkenntnis. Die Vieldeutigkeit
Vieldeutigkeit
Reflexionsbegriffs. -‐ DDie
des Reflexionsbegriffs.
des i e Kritik
Kritik des Unendlichkeitsbegriffs.
Unendlichkeitsbegriffs.
‐ Ps jebolnglsche und
Psychologische und logische
logische Analyse der Unendlichkeits‑
Analyse der Unendlichkeits-
vorstellung. ‐ - Das
vorstellung. Das R a u m p r o b l e m . ‐ Verhä’tnis von Raum
Verhä'tnis von Raum
Körper. -‐ Der
und Körper.
und Der Begriff der Zeit. ‐ Der
derZeit. Begriff der Zahl.
Der Begriff Zahl.
‐- Empfindung
Empfindung und und Wirklichkeit.
Wirklichkeit.
III.I . D
Derer B egriff d
Begriff e r Wahrheit.
der Wahrheit • 185
185
Die Intuition als
Die Intuition als Grundmittel Erkenntnis. _- "Intuition
Grundmittel der Erkenntnis. Intuition und
und
Erfahrung. ‐ Der logische Charakter von Zockes „Empirismus“.

IIII.I .
r Dei Dinformung Bsi psychologischen Kriedschenassmus",
E
‐ Die Umformung des psychologischen Grundschemas.
D er B e g r i f f des
des S eins R 198
198
Der Begriff Seins
Die Kritik
Die Kritik des Substanzbegriffs. ‐ Die
des Substanzbegriffs. Die positive
positive Bedeutung
Bedeutung
der Substanzfunktion. -‐ Der
der Substanzfunktion. Der Begriff des „Einfachen“,
Begriff des „Einfachen".
Kapitel: Berkeley.
Viertes Kapitel:
Viertes Berkeley.
Die
I.I. D i e Theorie
T h e o r i e ddere r Wahrnehmung
Wa h r n e h m u n g . . 200
Die
Die Objektivierung
Objektivierung der Sinneseindrücke. ‐- Die
der Sinneseindrücke. Die ın eue "Theorie
neue Theorie
des Sehens.
des Psychologische und
Sehens. ‐- Psychologische und mathematisch-physikalische
mathematisch-physikalische
Methode. -‐ Die Die symbolische
symbolische Funktion der Empfindung.
Funktion der Empfindung.
nl. D
II. Die Begründung des Idealismus
i e B e g r ü n d u n g des Idealismus 208
Ding und
Ding und Vorstellung.
Vorstellung. ‐- Die Die Polemik gegen die,
Polemik gegen die abstrakten
abstrakten
Begriffe.
Begriffe. ‐- Die Die Umformung
Umformung des Seinsbegriffs. -‐ Der
des Seinsbegriffs. Der Begriff
Begriff
dder Perception. ‐ Die
e r fPerception. Die Aufbebung
Aufhebung der absoluten Materie.
der absoluten Materie. ‑
HL
III. K der Berkeleyschen
r i t i k der
Kritik Berkeleyschen Begriffstheorie
Begriffstheorie : i 219
219
Die Rolle
Die Rolle der der Association
Association im im Prozess
Prozess der Begriffsbildung.
Begriffsbildung. ‐_
Die Polemik
Die Polemik gegen gegen die mathematischen Begriffe.
d i e mathematischen Begriffe. ‐- Stetigkeit
Stetigkeit
und Unendlichkeit.
und Unendlichkeit. ‐ - Die Identität des Gegenstandes.
Die Identität Gegenstandes. ‐- Die Die
metaphysische
metaphysische BegründungBegründung des des Objektbegriffs.
Objektbegriffs.
IIV . D
V. Derer B egriff d
Begriff e r Substanz.
der S u b s t a n.z. N 229
Idee
Idee und und Begriff.
Begriff. -‐ Der Geist als
Der Geist tätiges Prinzip.
als tatiges Prinzip.
V. D
V. ieU
Die m g e s t a l t u n g der
Umgestaltung BerkeleyschenErkenntnislehre
d e r Berkeleyschen Erkenntnislehre 234
Vernunft und
Vernunft und Erfahrung.
Erfahrung. -‐ Begriff Begriff und Zeichen. ‐ Die
und Zeichen. Die
Ueberwindung
U e r ssensualistischen
e b e r w i n d u n g dder E r k e n n t n i s l e h r e . ‐- - Mathe‑
e n s u a l i s t i s c h e n Erkenntnislehre. Mathe-
matik und
matik u n d„transzendentale" Philosophie. -‐ Berkeley
„transzendentale“ Philosophie. und Kant.
Berkeley und Kant.
D i e ethischen
-‐ Die ethischen GGrundprobleme.
rundprobleme.

Fünftes
F Kapitel: /Hume
ü n f t e s Kapitel: /ume . 244
Das
Das Postulat der Gleichförmigkeit des Naturlaufs
Postulat der Gleichförmigkeit bei Berkeley
Naturlaufs bei Berkeley
und Hume. -‐ Impression
und Hume. Impression und und Begriff.
Begriff.
I.I. D
Dieie K r i t i k d eerr mathematischen
Kritik Erkenntnis .
m a t h e m a t i s c h e n Erkenntnis 248
DDie psychologische Kritik
i e psychologische mathematischen Begriffe.
Kritik der mathematischen Begriffe. _
vIaH
VIII Inhalts - Verzeichnis.
Inkalts-Verseichnis.

Sinnliche und
Sinnliche mathematische „Ideen“.
und mathematische „Ideen«. ‐- Reine und angewandte
Reine und angewandte
Maihematik.
Mathematik. ‐- R Raum
a u m und Zeit. ‐
u n d Zeit. mathematischen und
Die mathematischen
Die und
die sinnlichen „Punkte“.
die sinnlichen „Punkte". -‐ DerDer Begriff der Zahl.
Begriff der Zahl.
n.
II. D Dieie K r i t i k des
Kritik des K ausalbegriffs .
Kausalbegriffs Er 259
259
Das Problem
Das Problem der .„notwendigen Verknaplung
der „notwendigen Verh ältn is
Verknüpfung": ‐ Verhältnis
zur antiken
zur Skepsis. -‐ Der Begriff
antiken Skepsis. Begriff der Wahrscheinlichkeit.
d e r Wahrscheinlichkeit.
--- Die Schranken derKpsycbologischen
Die Schranken B yeholegiechenErklärung.
Erklärung. ‐ - DDer
e rWert‑
Wert-
Unterschied
unterschied in in den ahrungsurteilen. ‐ Der
den Erfahrungsurteilen. Der Begriff
Begriff des
Wun unders.
ders.
IN. D
III. Der B e r egriff d
Begriff e r Existenz...
der Existenz. Fa E E E 273
273
Bewusstsein
Bewusstsein und und Wirklichkeit.
Wirklichkeit. ‐ Die
Die Konstanz
Konstanz der Wahr‑
Wahr-
nehmungsinbalte.
nehmungsinhalte. ‐ DDie i e Ueberwindung
Ueberwindung des des Gewohnheits‑
Gewohnheits-
prinzips.
p r i n z i p s . -‐ Die idealisierende Leistung
Dieidealisierende Leistung derder Einbildungskraft.
Einbildungskraft.
-‐ Anfang
Anfang und und Ende
Ende vvon Humes Kritik.
o n Humes Kritik.
Anhang: Hauptströmungen der englischen
Anhang: Hauptströmungen englischen Philosophie
Philosophie ausser‑ ausser-
halb
halb des
des Empirismus.
Empirismus.
II.. Das „Apriori"
Das „Apriori“ und das
und A n g e b o r e n e- “‐ .• Herbert
das „„Angeborene". v o n Cherbury's
H e r b e r t von Cherbury's
Lehre vom
Lehre Instinkt. -- Der
vom Instinkt. Instiakt als Antizipation
D e r Instinkt Antizipation der Er‑
d e rEr-
fahrung. ‐- Fortführung
fabrung. Fortfahrung der Lehre Herberts in der schoftlschen
Lehre Herberts schottischen
Thomas Reid.
Schule: Thomas Reid. ‐- Ideen
Ideen und Urteile
und Urteile 285
1.
Il. Die D i e Analyse
Analyse desdes Dingbegriffs,
Dingbegriffs.
Kenelm Digby
Kenelm Digby .. 292
292
Wahrheit. ‐ - Das Das „Sein“ als Grundbegriff der
Seele.
e g r i fldder
Der BBegri
S e e l e ‐ Die
e s Urteils.
ddes Urteils.
e r Wahrheit.
Die Synthesen
Synthesen des "Senisé asl Grundsio eeli der
des Bewusstseins.
Bewusstseins. ‐ Die Theorie

IIE Platonismus
III. P l a t o n i s m u s u nn dd Idealismus.
Idealismus.
Die Schule von
Die Schule von Cambridge. -‐ Ralph Ralph Cudworth
Cudworth.. 299
299
Idee und
Idee Wirklichkeit. ‐- D
und Wirklichkeit. ie logische
Die logische Rangordnung
Rangordnung zwischen
den
den Dingen
Dingen und der Erkenntnis.
und der
JJohn
o h n Norris
Norris . 302
Diesinnliche
sinnliche und die intelligible
unddie Welt. _
intelligible Welt. Sein der
Das Sein
- Das der ‚ewigen
,ewigen
Wahrheiten". ‐- Sinnlichkeit
Wahrheiten“. Sinnlichkeit und Urteilsfunktion.
und Urteilsfunktion.
Arthur Collier .
Arthur Collier ; . . . 306
Die Unmöglichkeit
Die einer ‚Ausseren®
Unmöglichkeit einer Welt. _- Die
„äusseren* Welt. Die Antinomien
Antinomien
des Weltbegriffs. -‐ Raumbegriff
des Weltbegriffs. und Gottesbegriff.
Raumbegriff und Gottesbegriff.
IIV
V. Die K
. Die r i t i k des
Kritik N a t u r b e g r i ff s .
des Naturbegriffs.
Robert
R o b e r t Boyle
Boyle . . 312
Schrift „de
DieSchrift „de ipsa Naturas, _
ipsa Natura". Materialer und
- Materialer und formaler Be‑
Be-
ggriff d e r Natur.
r i f f der N a t u r.
Joseph Glanvill
Joseph Glanvill u 314
und moderne
Aristotelische und
Aristotelische moderne Naturansicht.
Naturansicht. ‐- Das neue Ideal
Das neue
des Wissens:
des Wissens: der
der „Begriffsweg“
„Begriffsweg" und die Erfahrung.
und die Erfahrung.
Inhalts-Verzeichnis.
Inhalts-Verseichnis. 1X
IX

S e c h s t e s B u cchh::
Sechstes »
Vo
Von Newton
n N z u Kant.
e w t o n zu Kant.
Wissenschaft und Philosophie
Wissenschaft und achtzehnten Jahrhundert.
Philosophie im achtzehnten Jahrhundert.
Erstes
Erstes Kapitel: Das Problem
Kapitel: Das der Methode.
Problem der Methode.
.1. Grundlegung der Induktion.
1 Newtons Grundlegung Induktion. ‐- Die Forderung
Die Forderung der
der
B e s c h r e i b a n g dder
Beschreibung e r Tatsachen.
Ta t s a c h e n .
Schule Newtons:
D i e Schule
Die Newtons: KeillKeill und und Freind
Freind 322
322
dd’Alembert
'Alembert a 326
326
Tatsachen und
Tatsachen Definitionen. ‐ DDer
und Definitionen. e r Doppelcharakter
Doppelcharakter vvon on
d’Alemberts Erfahrungslehre.
d'Alemberts Erfahrungslehre. ‐ Locke Locke und Newton. ‐ Die
u n d Newton. Die
Analyse
Analyseder mathematischen Begriffe.
der mathemarischen Die Metaphysik
Begriffe. ‐- - Die Metaphysik der
x a r t e n Wissenschaften.
eexakten w i s s e n s c h a r t e n .

n.
II. DDerer B e g r i f f der
Begriff der K raft.
Kraft.
D Kausalbegriff und
e r Kausalbegriff
Der und das das Problem
Problem der Fernkraft.
Fernkraft.
M a u p e r u i s
Maupertuis . - : : > e n 334
334
Maupertuis
Mauperluis und und Hume.Hume. ‐ Der psychologische Ursprung
Der psychologische Ursprung der
der
mathematischen
mathematischen Begriffe. Begriffe. .-‐ Die „Wiederholbarkeiı“ als Merk‑
Die „Wiederholbarkeit" Merk-
mal der
mal der maıhematischen
mathematischen Ideen. Ideen. ‐- • Die
Die Kritik des Krafıbegriffs.
Kritik des Kraftbegriffs.
‐ Die Die teleologische
teleologische NaturerklärungNaturerklärung uund n dddasa sPrinzip
Prinzip des
des
kleinsıen Kraftmasses.
kleinsten Kraftmasses. -‐ Die Die „absoluten Ursachen* der Er‑
„absoluten Ursachen“ Er-
scheinungswelt.
scheinungswelt.

Zweites Kapitel:
Zweites Kapitel: Raum und Zeit.
Raum und Zeit.
1. Das Raum-
1. Das Zeitproblem in der Naturwissenschaft.
und Zeitproblem
Raum- und Naturwissenschaft.
a ) Newton
a) Newton uu nndd ss eeii n ee K r i t i k ee rr . . 2 . 2 . 2 . 2 2
2 0 0 . 339
339
Newtons Begriffe
Newtons Begriffe ddes absoluten Raumes
e sabsoluten Raumes und der absoluten
und der absoluten
Z
Z eei ti .t ‐ Berkeleys Kritik
Berkeleys Kritik ddere r Newtonischen
Newtonischen Grundbegriffe.
Grundberriffe. ‑-
Leibniz
Leibniz und Newton: der
und Newton: der absolute
absoluteundund der intelligible Raum.
d e rintelligible Raum.
-‐ Der Briefwechsel zwischen
Der Briefwechsel zwischen Leibniz
Leibniz und und Clarke.
Clarke.
b) D i e F o r t bbii l d uunngg d eerr N e w t o n i s c h eenn LLehre.
b ) Die ehre.
Leonhard Euler
Leonhard Euler ER 346
346
Das
Das methodische
methodische Postulatdes
desreinen (Die „Mechanik“
Raunes. (Die
reinen Raumes. „Mechanik"
1736) - ‐ Die
v o n 1736)
von Die Refiexions l'espace et
u r l’espace
Réflexions ssur et le temps.
temps. ‐- DieDie
Analyse
A der mechanischen
n a l y s e der Grundsätze: der
mechanischen Grundsätze: absolute Raum
der absolute Raum
Trägheitsprinzip. -‐ Zuler
und das Trägheitsprinzip.
und Euler und Maclaurin. ‐- Die
und. Maclaurin. Die
Kriterien d
Kriterien der „Realität“. -‐ Der
e r„Realitat". neue Begriff
Der neue Begriff dder Realität. ‑
e rRealitat.
Recht
Recht und und Besonderheit
Besonderheit der naturwissenschaftlichen „Ab‑
der naturwissenschaftlichen „Ab-
straktion". -‐ Raum
straktion“. Raum und Zeit keine
und Zeit keine „Gattungsbegriffe“.
„Gattungsbegriffe".
Die
D „Theoria motus
i e „Theoria o m Jahre
motus“ vvom 1765. -‐ Die
Jahre 1765. sinnliche Auf‑
Die sinnliche Auf-
fassung des
fassung des Raumes
Raumes und u n dder Zeit. ‐ Verhältnis
der Zeit. Verhältnis zu zu den
den
phänomenalistischen
hänomenalistischenRaumlehren.
Raumlehren. ‐- Der Raum als „Verstandes‑
Der Raum , Verstandes-
egriff* uund
begriff° n d alsals absolute Realität. ‐ Der
absolute Realitat. D e r Raum
R a u m und
und das
das
pbilosophische
philosophische System der Kategorien.
System der Kategorien.
Inhalts - Verseichnis.
Inhalis- Verseichris.

2. Raum- und
Das Raum-
2. Das und Zeitproblem
Zeitproblem in der Metaphysik
Metaphysik und
und
spekulativen Theologie.
spekulativen Theologie.
Raumbegriff und
l.I. Raumbegriff Gottesbegriff: Newton
und Gottesbegriff: Newton und und Clarke.
Clarke. ‐~ Die Die
Raum-
Raum- und und Zeitlehre
Zeitlehre als G r u n d l a g e der
a l sGrundlage der Gottesbeweise.
Gottesbeweise. ‑-
Raum und
Raum und Zeit
Zeit als Attribute des Urwesens:
als Attribute Jacob Raphson.
U r w e s e n s : Jacob Raphson.
Henry
Henry More's More’s Enchiridium Metaphysicum.
Enchiridium Metaphysicum. - ‐ Die geistige Natur
geistige Natur
.des
•des reinen Raumes. -‐ Der
reinen Raumes. Der sinnliche
sinnliche und intelligible Raum
und der intelligible Raum 357
357

l1. .Isaac
Isaac Watts’ Watts' „Eaquiry concerning Space“.
„Enquiry concerning Spaco". ‐- Das Das Raum-
Raum- und und
Zeitproblem iin.der
Zeitproblem Psychologie: Edmund
n der Psychologie: Edmund Law. Law. ‐- Die Die Kritik
Kritik
Locke'schen Raumlehre.
der Locke'schen
der Raumlehre. ‐ Die Die „„Idee-
I d e e und und ihr
ibr Gegen‑
Gegen-
sstand.
t a n d . ~‐ Das
D a s Sein des Gegenstandes
Sein des Gegenstandes und und das d a s SSein
e i n der
Relationen ‐ Raum
Relationen. und Zeit als
Raum und Gebilde der Einbildungs‑
a l sGebilde Einbildungs-
k r a f t . ‐- Idealität
kraft. und Objektivisät
Idealität und Objektivität des des Raumes
Raumes und und der Zeit Zeit 366

3. Die
3. Die Idealität des Raumes
Idealität des Raumes und
und der Zeit.
Zeit. ‑
Die Antinomien des
Die Antinomien des Unendlichen.
Unendlichen.
Die Lehre von
Die Lehre der Idealität
von der Idealität des
des Raumes Maupertuis' Briefen,
Raumes in Maupertuis’ Briefen.
‐ Maupertuis
Maupertuis und Schopenhauers Urieil
Kant; Schopenhauers
und Kant; Urteil 875
375
Die Lehre
Die Lehre von Phaenomenalität der Körperwelt.
von der Phaenomenalität Körperwelt. _ Die Die
Entwicklung
Entwicklung des des Leibnizischen
Leibnizischen Phaenomenalismus:
Phaenomenalismus: Joh. Joh. Aug.Aug.
Eberhard Kasimir von
und Kasimir
Eberhard und von Creuz. Maupertuis’ Theorie der
Creuz. ‐ -Maupertuis' der
Existentialurteile.
Existentialurteile. -‐ Die
Die zwei
zwei Grundformen
Grundformen des des „Idealismus*
„Idealismus" 377
877
Gottfried Ploucquet
Gottfried Plouequet.. . . . . B8l
881
Ploucquet Malebranche. ‐ Raum
und Malebranche.
Ploucquet und R a u m und Zeit als
und "Zeit ideen des
als Ideen
„göttlichen Verstandes“. ‐ Die
göttlichen Verstandes". D i c Antinomie
A n u n o m i c der
d e r unendlichen
u n e n c u c h e n

Teilung.
eilung,

Die Prinzipien
Die Prinzipien der Infinitesimalrechnung
'der Infinitesimalrechnung 386
386
Die „Unbegreiflichkeiten
Die der Mathematik“
„Unbegreiflichkeiten der Mathematik"( (De matheseos in-
D e matheseos in‑
comprehensibilibus): Grandi
comprehensibilibus): und Sturm.
Grandi und Sturm. ‐- Das Unendlichkleine
Das Unendlichkleine
bei
b e i Leibniz n d Maclaurin.
Leibniz uund Maclaurin.
Fontenelles „Elements de
Fontenelles „Elements de la Géométrie
Geometrie de ! ’ I n fi n i ‘-‐“ Mathema‑
de l'Infini" Mathema-
tische und
tische metaphysische Deutung
und metaphysische Deutung des Unendlichkeitsbegriffs.
Unendlichkeitsbegriffs.
Eulers Kritik des
Eulers Kritik des Unendlichkeitsbegriffs. Der K
Unendlichkeitsbegriffs. ‐ - Der Kampf gegen
a m p fgegen
„Chicanen“ der Metaphysik.
die „Chicanen" Metaphysik. -‐ Das
Das Problem der objektiven
Problem der objektiven
Gültigkeit der
Galtigkeit Mathematik.
der Mathematik.

4. Das Raum-
4. Das Raum- und
und Zeitproblem in der Naturphilosophie.
Naturphilosophie,
Boscovich
Boscovih . . . . . » 392
Die Analyse
Die Analyse des Stossvorganges. -‐ Das
des Stossvorganges. Das Postulat
Postulat der Continuität.
Continuität.
Maupertuis'
Maupertuis'Kritik Continuitätsgesetzes. ‐ - Die
Kritik des Continuitätsgesetzes. DieContinuität
Continuität
m Sein
iim Sein uund
n dim Geschehen. - Der
im Geschehen. „imaginäre" und
D e r„imaginäre“ und der physi‑ physi-
kalische Raum. ‐ Kritik
kalische Raum. K r i n k der B o s c o v i c hs c h e n Raumlehre.
d e r Boscovich’schen K a n m i e n r e . ‑
Idealität und Realität.
Idealität und Realität.
I nhhaal lt ts-s Verseichnis.
Verseichnis. x1l
XI

Drittes Kapitel:
Drittes Kapitel: Die Ontologie.-‐ Der
Die Ontologie. Satz des Widergpruchs
Der Satz Widerspruchs
u nndd der
u Satz
der S m zzureichenden
atz v om u r e i c h e n d e n Grunde.
Grunde.
.LI Denken Sein. -‐ Der
und Sein.
Denken und Der Wahrheitsbegriff bei Leibniz
Wahrheitsbegriff bei und Wolff
Leibniz und Wolff 404
Die Kritik der
Die Kritik Wolffschen Lehre:
d e r Wolffschen Andreas Radiger.
Lehre:Andreas Radiger. ‐ Die
Die
sinnliche Grundlage der
sinnliche Grundlage der mathematischen Gewissheit..‐ Formale
mathematischen Gewissheit. Formale
Kriterien des
materiale Kriterien
u nndd materiale Seins . . . » 2 2 2 2 2 . 2 . 2 4 408
des Seins 08
Aug. Crusius.
Chr. Aug.
Chr. Crusius. .
Die.Kritik
Die. Kritik der Ontologie. ‐ Begriff und
der Ontologie. Existenz. -‐ Die
und Existenz. D i e ein‑
ein-
fachen Begriffe
fachen Begriffe und und die „Deutlichkeit ddes
dıe „Deutlichkeit Abstraktionsweges“.
e sAbstraktionsweges".
-‐ Das
D r o b l e m dder
Problem
as P e r Notwendigkeit.
Notwendigkeit. ‐ Die
Dienneuee u e „Methode“
„Methode"
Crusius’ Philosophie
v o n Crusius'
von Philosophie uund n d ihre geschichtliche Wırkung:
ihre geschichtliche Wirkung:
Lambert
Lambert und und Mendeissohn
Mendelssohn u a a 409
Joh.
Joh. Heinr. Lambert . . . : . 22
Heinr. Lambert 2 2 415
416
.

D a s „Solide
Das „Solide und und die Krafte", ‐ - Wi
die Kräfte“. Wirklichkeit u n d „Gedenkbar‑
r k l i c h k e i t und .G e d e n k b a r -
keit«.• ‐- A
keit“. A ppriori
r i o r i und
und a a posteriori:
posteriori: Leibniz
Leibniz und Locke. ‐ - Die
und Locke. Die
„einfachen Möglichkeiten“
„einfachen Möglichkeiten"und und ihre Verknüpfung. -‐ Das
ihreVerknüpfung. Das „Reich
„Reich
der Wahrheit“. -‐ Der
der Wahrheit*. Gesichtspunkt der
Der Gesichtspunkt der „Gegenstandstheorie*,
„Gegenstandstheorie".
‐ Die mathematische und
Die mathematische und die philosophische
philosopbische Abstraktion. Abstraktion. ‑
Logische
Logische und und metaphysische
metapbysische Wahrheit
Wahrheit bbei e i Lambert
Lambert uund n d bei
bei
Mendelssohn.
Mendelssohn.
III.I . Der
Der Satz des Widerspruchs
Satz des Widerspruchs und und derder Satz Satz vom v o r zureichenden
zureichenden
Grunde. -‐ Wolff
Grunde. Wolffuu n ddseine Schule: dder
seine Schule: syllogistische Beweis
e r syllogistische Beweis
dos Satzes
dos Satzes vom vom Grunde.Grunde. (Darjes,
(Darjes, Carpow,
Carpow, Meier) Meier) . . .. 4%
425
Crusius' Kritik
Crusius’ Satzes
Kritik des Satzesvom Grunde. Gr
des vom Grunde. ‐ Das Prinzip
- Das Prinzip der der
Einteilung:
Einteilung: Crusius
Crusius und Schopenhauer. ‐ Grund
und Schopenhauer. unduund n dUrUrsache,
sache,
Realgrund und Erkenntnisgrund
Realgrund und E r k e n n t n i s g r u n d . . . . 22 2 . 2 . . 427
Die Kritik
Die Causalbegriff:: Nik.
Kritik desCausalbegriff: Nik. Beguelin.
Béguelin.
Die „Unerweislichkeit“
Die , Unerweislichkeit" der der metapbysischen
metapbysischen Grundsätze.Grundsätze. ‐- Der Der
Begriff
Begriff der der Ursache
Ursache und und die Erfahrung. ‐- Beguelin
die Erfahrung. Béguelin und und Hume
Hume 4% 430
Der Satz des
Der Widerspruchs und
d e sWiderspruchs u n ddie Realprinzipien der Er‑
die „Realprinzipien Er-
kenntnis“. (Thammig und
kenntnis". (Thammig Crusius) .
und Crusius) 432

Viertes Kapitel: Das


Viertes Kapitel: Problem des
Das Problem Bewusstseins. ‐- Subjektive
des Bewusstseins. Subiektive
u n d objektive
und Begründung der Erkenntnis.
objektive Begründung Erkenntnis.
I. Fortbildung und Kritik von Lockes Psychologie.
I. Fortbildung und Kritik v o n Lockes Psychologie.
Browne - . . >:
Peter Browne
Peter 2 2 2 e r 485
135.
Die Aufhebungder „Ideen“
Die Aufhebung „Ideen" der Reflexion. ‐- Die
der Reflexion. Die „symbolische“
„symbolische"
Erkenntnis
Erkenntnis des geistigen Seins.
des geistigen Seins.
Die
Die Associationspsychologie.
Associationspsychologie. -‐ Hartley und Priestiey
Hartley und Priestley . . . 487
487
Die Anknüpfung an
DieAnknüpfung an die Newtonische Wahrnehmungstheorie.
die Newtonische Wahrnehmungstheorie.
‐- Die
Die physiologische
physiologische Deutung Association.
Deutung der Association.
Condilae..
Condillac 2 22 E n e r 489
439.
Der Begriff der
Der Begriff Metaphysik und
der Metaphysik die Methode
und die Methode der Analysis. ‑
der Analysis.
Denkenund und Sprechen.
Sprechen. -‐ Das
Das Denken als Rechnen:
Denken als Rechnen: Analyse
Analyse
n d Erfindung.
und
u Erfindung.
XII
Xu Inhalts- Verzeichnis.
Inhalts -Verzeichnis.

neye Begriff
Der neue
Der Begriffdes Bewusstseins
des Bewusstsei die Autonomie des
und die
ns und des
Geistes. "‐ Der
Geistes. Der Begriff der „Dichtkraft*
Begriff der „Dichtkraft bei den S.hweizern
bei den Schweizern
und in der
und deutschen Psychologie.
der deutschen Psychologie.
Baumgarten und
Baumgarten und GeorgGeorg Friedr. Meier .
Friedr. Meier 441
Tetens . a ER 443
Die
Die Kritik
Kritik der der Assoeiationspsychologie.
Associationspsychologie. ‐ Die Die Selbsttätigkeit
Selbsttätigkeit
Verstandes. ‐ - Die
des Verstandes.
des exakten Wissenschaften
Dieexakten Wissenschaften und die „Denk‑
und die „Denk-
kraft". -‐ Psychologische
kraft“. Psychologische und „transzendentale" Fragestellung.
und „transzendentale“ Fragestellung.
Das psychologische
III.I . Das psychologische und und das logische
logische Wahrheitskriterium
Wahrheitskriterium . . 448
Lossius' „Physische Ursachen
Lossius' „Physische Ursachen des Wahren". ‐- Die
des Wahren“. Die Wahrheit
Wahrheit
Produkt der
als Produkt
als der „Organisation“. „Subjektivische" oder „ob‑
„Organisation". -‐ „Subjektivische“ „ob-
jektivische* Natur Natur der Wahrheit.
d e r Wahrheit.
Der Kampf
Der Kampf der logischen und der „psychologistischen*
der logischen Auf‑
„psychologistischen"Auf-
fassung. -‐ Der
fassung. Der Satz des Widerspruchs bei
Satz des bei Zossius und bei
Lossius und bei
Tetens. -‐ Tetens'
Tetens. Abweisung der Common-Sense-Philosophie.
Tetens’ Abweisung Common-Sense-Philosophie.‑-
Notwendigkeit und
Notwendigkeit und Allgemeıingültigkeit
Allgemeingültigkeitder logischen
logischen,,„Verhältnis‑
Verhältnis-
gedanken". -‐ Metaphysischer
gedanken“. Metaphysischer und und erkenntnistheoretischer Sinn
Sinn
e r Objektivität.
dder O b i e k t i v i t ä t . ‐ Subjektive
Subjektive undund objektive
objektive Begründung
Begründung derder
Erkenntnis.
Erkenntnis.

Siebentes
S i e b e n t e s Buch:
Buch:

Die kritische Philosophie.


Die kritische Philosophie.
Kapitel: Die
Erstes Kapitel:
Erstes Die Entstehung kritischen Philosophie
Entstehung der kritischen Philosophie 459
459

11.
. Die
D i e Schriften des Jahres
S c h r i f t e n des Jahres 1763.
1768. ‐ - Mathematik
Mathematik und
und Meta‑
Meta-
physik. ‐ Analytische
physik. Analytische und synthetische Methode.
und synthetische Methode. ‐ Die an-
Die an‑
schauliche Evidenz
schauliche Evidenz der Mathematik. -‐ Der
der Mathematik. Begriffdes Daseins.
Der Begriff Daseins.
- ‐ Logischerund und realer
realer Widerstreit. Die „materialen
Widerstreit. -‐ Die „materialen Grund‑
Grund-
sätze" und
sätze* und ihr ihr Prinzip
Prinzip (Verhältnis
(Verhaltnis zu Crusius).. ‐ Kant
zu Crusius). und
Kant und
die Erfahrungslehre
die Erfahrungslehre der mathematischen Physik
der mathematischen Physik (d’Alembert
(d'Alembert
Maupertuis) .
und Maupertuis)
und Fe 460
IL.
II. D i e „Träume
Die „Träume eeines (1765).-‐ Die
i n e s G e i s t ee rrssee h e rrss “"(1766). Begriffe
Die Begriffe
der „Wirklichkeit“ und
der „Wirklichkeit" und des „Traumes“ in
d e s„Traumes" in dder e r Wolffischen
Wolffischen
Philosophie. -‐ Materiale
Philosophie. Materiale und und formale Kriterien der Wirklichkeit.
formale Kriterien Wirklichkeit.
‐- Die Grundprobleme derEthik:
Die Grundprobleme Ethik und
Ethik: Ethik und Metaphysik.
Metaphysik. ‐- Ver‑ Ver-
hältnis zu Rousseau.
hältnis zu Rousseau. ‐- - D Metaphysik als
D i eeMetaphysik als Grenzwissenschaft.
Grenzwissenschaft.
‐ • Kant Hume. ‐- Die
und Hume.
Kant und Die Erfahrung
Erfahrung und und die die „Vernunftgründe*
„Vernunftgründe" 473
III. V
IE. Voo nn ddee nn „TTr
r ää u
um me e nn e i n e ss G e e i s t e r s ee hheerrss"“ b i ss z u r
„Dissertation“ (1765-69).
„Dissertation' (1765-69).
Die
Die Logik der Wirklichkeit.
Logik der Wirklichkeit, -‐ Das Das Problem
Problem der synthetischen
synthetischen
Grundsätze
Grundsätze -‐ N Notwendigkeit u n d Al'gemeinheit
o t w e n d i g k e i t und d e r syn‑
A l ' g e m e i n h e i t der syn-
thetischen
thetischen Grundsätze
Grundsätze . F R E a a FE GE al
481
V. Vo
IVW. rbereitung u
Vorbereitung undndA Abbsscchhl luussssd e r D i s s e r t a t(1769
derDissertation i o n - 70),
70).
Der absolute Raum
Der absolute Raum und und die Geometrie. ‐- Die
die Geometrie. Die Idealıtät
Idealtät des
Raumes
Raumes und und der Zeit. ‐ Das
der Zeit. Problem der Antinomien.
Das Problem Antinomien ‑
Raum
Raum uund Zeit als
n d Zeit Verstandesbegriffe. ‐ Anschauung
als Verstandesbegriffee Anschauung und und
Inhalts Verzeichnis.
Inhalts - Verseichmis. xX I I

Begriff. ‐ - DDie
Begriff. i e Scheidung
Scheidung dder sinnlichen und dder
e rsinnlichen e r intelligiblen
intelligiblen
Welt.
We l t . ‐ DieDieGrundlegung
Grundlegungder der Mathematik
Mathematik und die
und die -„reine
reine Sinn‑
Sinn-
i c h k e i t . ‐- K
llichkeit“. Kant
a n t uund E u l e r. --
n d Euler. D i e intelligible
- - Die i n t e l l i g i b l e Welt
W e l t als
a l s R„Reich
eich
dder
er Z w e c k e . ‐- Die
Zwecke“. Die A Autonomie e sVersiandes
u t o n o m i e ddes Ve r s t a n d e s und d e s 'Willens
u n d des’ Willens 487
V
V D
Der er F o r t s c h r i t t zzur
Fortschritt Ve r n u n f t k r i t i k (1772-81).
u r Vernunftkritik (1772--81).
Der Gegenstand der
D e r Gegenstand Erkenntnis. -‐ Die
der Erkenntnis. Die Problemstellung
Problemstellung im
B r i e f aan
Brief n M Markus H e r z . ‐ Versuche
a r k u s Herz. Versuche eines eines Kategoriensystems;
Kategoriensystems;
Substanzbegriff und
Substanzbegriff und Relationsbegriff
Relationsbegriff . . . 2 2 2 . 2 . 2 . 0 . 504

Kapitel: Die
Zweites Kapitel:
Zweites Die Vernunftkritik.
Vernunftkritik.
.1.
I D Dere r metaphysische
metaphysische G G e g e n s a ttzzvvoo nn S ubjekt u
Subjekt nd O
und b‑
Ob-
jjekt u n d sseine
e k t und eine g eschichtliche E
geschichtliche ntwicklung .
Entwicklung ... 509
Der Idealismus
Idealismusdder e r Inder.
Inder. - ‐ Die griechische Philosophie.
Die griechische Philosophie. ‑
Platon
Platon und
und die doppelte Richtung
die doppelte Platonismus.‐- Platonismus
Richtung des Platonismus. Platonismus
und
u n d Augustinismus. Descartes
A u g u s t i n i s m u s . ‐- D e s c a r t e s und L e i b n i z . ‐ - Subjekt
u n d Leibniz. Subjekt und
und
Objekt in
Objekt der Erfabrungsphilosophie.
in der Erfahrungspbilosophie.
2.
II. DDasas P Prr oobbll eem
m dd eerr O
Obbijeekkttiivvii tt äätt.. ‐ Analytisch
Analytisch u unn dd
ss y n t hye t i s cnh t. 2 h 2. 2e 2 N:t EE i rs c h . 528
Wahrnehmungsurteil und
Wahrnehmungsurteil Erfahrungsurteil. -‐ Die Notwendig-
und Erfabrungsurteil. Notwendig‑
keitder
keit der Verknüpfung und und derder Gegenstand.
Gegenstand. -‐ Die Die Kriterien
Kriterien
empirischen Wahrheit.
der empirischen
der Wahrheit. ‐ Die Die Natur Natur in formaler
formaler und
und
materialer Bedeutung.
materialer Bedeutung. ‐ -DerDer Verstand
Verstand als als „Urbeber
„Urbeber der Natur“.
derNatur",
-‐ Die
Die Einheit
Einheit der Synthesis und
der Syntheris und der Begriff. ‐- Analytische
der Begriff. Analytische
und synthetische Urteile (Die Beispiele). ‐ Der empirische
empirische
undrauchetercheriorrichetishaiesisle).
Gebrauch der apriorischen Synthesis. ‐Dieforderuirisches
Die Forderung des
Gilatarsga etes, apriortschen Synthesis.
„Natursystems*.
B R a u m und
UI.I . Raum u n d ZZee i tt u a a u 542
Trennung von
Die Trennung v o n Verstand
Verstand und und Sinnlichkeit.
Sinnlichkeit. ‐ DDer e rssyn‑
yn-
thetische Charakter
theiische Charakter des Raumes und
des Raumes und der Zeit.
Zeit. ‐ Der Raum
Der Raum
als Erkenntnisgegenstand und
als Erkenntnisgegenstand und als als Erkenntnismittel.
Erkenntnismittel. ‐ Die
Die
transzendentale
transzendentale Erörterung Erörterung des des Raumes.
Raumes. -‐ Das Das „Gegebene“
„Gegebene"
Anschauung. ‐ D
der Anschauung.
der Synthesis des
i eSynthesis
Die Verstandes und
des Verstandes und diedie
Anschauungsformen. -‐ Ursprung
Anschauungsformen. Ursprung und und Ziel
Ziel der Synthesis.
reinen Synthesis.
der reinen
“‐ Die Anschauung
Die Anschauung und e r„diskursive*
u n d dder Begriff. ‐ Die
,diskursive"Begriff. s a D i e

Probleme
Probleme des absoluten Raumes
des absoluten Raumes und Zeit. ‑
absoluten Zeit.
der absoluten
uod der
Der
Der R Raum
a u r alsals „unendlich-gegebene*
„unendlich-gegebene" Grösse. Grösse. -‐ Subjektivität
Subjektivität
Idealität.
und Idealität.
und
IIV
V. . D Derer B Begriff
e g r i f f des
des Selbstbewusstseins
Selbstbewusstseins . . . 2 2 . . . 563
663
Die Kritik
Die Kritik der Associationspsychologie. ‐- - Die
der Associationspsychologie. Die „transzendentale
„transzen dentale
Affinität“
Affinitat® der der Erscheinungen. -‐ Die Die drei Stufen der
drei Stufen Synthesis.
der Synthesis.
Der Schematismus. ‐
D e r Schematismus. Das Problem der
D a s Problem Begriffsbildung. - ‑
d e rBegriffsbildung.
Subjektive und
Subjektive objektive Einheit
und objektive Einheit des des Selbsıbewusstseins.
Selbstbewusstseins. ‑
Subjektive und objektive Zeit.
S u b j e k t i v e und Der Gegenstand
Zeit. ‐-. .Der Gegenstand und und das Ich.
Ich.
-‐ D a sempir
Das empirische
ische Ich als Erscheinung.
Ich als Erscheinung..
Die Widerlegung des Idealismus. ‐ Die Paralogismen der
D i eParalogismen
Seelenlehre.
Seelenlebre. ‐ Die innere Erf.hrung und der Substanzbegriff.
Das Ich
-‐ Das Ich als Funktion und
als Funktion und als
als Gegenstand.
Gegenstand.
xIV
X IV Inhalts-
Inhalts= Verzeichnis.
Verseichnis.

V..
V Das „Ding an
Das „Ding a n ssich"
ich“. . . ln 589
589
der „Erscheinung*• und
Das ulisere der Vascheinung,
Der Begriff
Der Begriff der und d d iiee' Naturwissenschaft.
Naturwissenschaft. ‑
Das „Innere der Natur“. ‐ Der Der Begriff
Begriff des des Unbedisgten.
Unbedidgten. ‑
Der Grenzbegriff
Der des „Ding
Grenzbegriff des „Ding an
an sich“,
sich".
Affektion uund
Affektion Funkrion. ‐ Sinnenwelt
n d Funktion. Sinnenwelt und und Verstandeswelt.
Verstandeswelt. .
-‐ Phaenomena und und Noumena. -‐ Der D e r „transzendentale
„transzendentale Gegen‑ Gegen-
stand". -‐ Das
stand”, Das Ganze der möglichen
Ganze der möglichen Erfahrung.
Erfahrung. Welibegriff
Weltbegriff
und Erfahrungsbegriff.
und Erfahrungsbegriff. ‐ Die Vernunft uund
Die Vernunft n d iihre regulativen
h r e regulativen
Prinzipien. ‐- DDas
Prinzipien. „Ding an
a s „Ding an sich*
sichu nundd die Relativität dder
dieRelativität e r Er‑
Er-
kenntnis. -‐ Die
kenntnis. Grundlegung der Ethik.
Die Grundlegung Ethik. ‐- Die Idee der Freiheit.
Die Idee Freiheit.
Belegstellen und Anmerkungen
Belegstellen und Anmerkungen . . . 2. 2 2 2 0 2 0 . 618
618
Viertes Buch:
Viertes Buch:

Fortbildung Vollendung des Rationalismus.


und Vollendung
Fortbildung und Rationalismus.

1
Erstes Kapitel.
Erstes K apitel.

Spinoza.
S pinoza.
I.
D
Die des „Kurzen
i e E r k e n n t n i s l eehhrree des „Kurzen Tr aktats“.
Traktats",
So nahe
So Verwandtschaft zwischen
die Verwandtschaft
n a h e die Descartes und
zwischen Descartes und Spinoza
Spinoza
im Gebiete
im Gebiete der Metaphysik zu
der Metaphysik scheint, so
sein scheint,
zu sein deutlich im Car‑
so deutlich Car-
tesianismus selbst
tesianismus die Wege
selbst die Wege vorgezeichnet zu sein scheinen,
zu sein scheinen, die,
die,
konsequent verfolgt, z u m Spinozismus hinleiten müssen:
konsequent verfolgt, zum Spinozismus hinleiten müssen: so ergibt so ergibt
doch, vom
sich doch,
sich Standpunkt der Erkenntnislehre,
v o m Standpunkt Erkenntnislehre, alsbald
alsbald ein
ein
eingreifender und charakteristischer
eingreifender und Unterschied. Die
charakteristischer Unterschied. Die Ueberein‑
Ueberein-
ssimmung
l i m m u n g in den den einzelnen metaphysischen Hauptsätzen
einzelnen metaphysischen Hauptsätzen lässt lässt
den Gegensatz
den methodischen Begründung
Gegensatz der methodischen Begründung nnur u r um so so deut‑
deut-
licher hervortreten.
licher hervortreten. FFür ü r Descartes
Descartes ist ist die Grundlegung
Grundlegung der der
E die erste
E r k ee nnnnttnnii ss die und wesentliche
erste und wesentliche Aufgabe.
Aufgabe. Erst Erst nachdem
nachdem
ein festes
ein festes Kriterium
Kriterium der der W Waa h rr hheeiitt erreicht
erreicht und gegen jeden
und gegen jeden
Zweifel sichergestellt ist,
Zweifel sichergestellt ist, kann
k a n n dder
e r Gedanke
G e d a n k e zumm absoluten
a b s o l u t e n Sein
Sein
hinausgreifen.
hinausgreifen. So So bildet
bildet der Gottesbegriff
Gottesbegriff und und die
die Gotteserkenntnis
das Ziel,
das nicht aber den
Ziel, nicht Anfang seiner Philosophie.
dem Anfang Philosophie. F Für Spinoza
ü r Spinoza
dagegen
dagegen ist ist der feste Punkt,
der feste Punkt, den den Descartes mühevoller Analyse
Descartes in mühevoller Analyse
des Wissens
des Wissens zu gewinnen sucht,
zu gewinnen sucht, vvon Anfang an
o n Anfang an unverrückbar
unverrückbar
gegehen. Jedes bloss
gegeben. bloss vermittelte
vermittelte Erkennen
Erkennen wäre in sich selbst
sich selbst
haltlos, wenn wenn es es nicht
nicht auf dem Grunde
auf dem Grunde einereiner unmittelbaren
unmittelbaren IIn-n ‑
u i t i o n ruhte,
ttuition ruhte, in der der sich
sich uunsn s die Wirklichkeit des unendlichen
die Wirklichkeit unendlichen
Seins erschliesst. Kein
Seins erschliesst. Kein stetiger Fortgang rationaler
stetiger Fortgang Schlussfolge‑
rationaler Schlussfolge-
rrung
u n g vermag
vermag uns uns über
über den Kreis des
den Kreis des endlichen Seins zum
endlichen Seins zum Un‑ Un-
bedingten hinzuführen;
bedingten hinzuführen; w i r erfassen
wir erfassen es, nicht indem
es, nicht indem w wir i r durch
durch
abgeleitete Begriffe
abgeleitete Begriffe zu zu iihm
h m emporsteigen,
emporsteigen, sondern indem es
sondern indem es uns
uns
selbst ergreift
selbst ergreift und und sich
sich uns, Gesamtheit seiner Wesenheit,
uns, in der Gesamtheit Wesenheit,

4 Spinosa.
Spinosa.

anschaulich offenbart. S
anschaulich offenbart. So beginnt Spinozas
o beginnt Spinozas „Kurzer Traktat Traktat von von
Gott,
Gott, demdem Menschen
Menschen und und dessen Glückseligkeit", der die
dessen Glückseligkeit“, die früheste
früheste
Fassung
Fassung seiner seiner Lehre darstellt und
Lehre darstellt und ihre ihre eigensten
eigensten Motive
Motive bloss‑ bloss-
legt,
legt, zwar
zwar mit der Wiedergabe
m i t der Wiedergabe und Erläuterung der Cartesischen
und Erläuterung Cartesischen
Gottesbeweise;
Gottesbeweise; aber aber das das endgiltige Ergebnis der Schrift
endgiltige Ergebnis Schrift berichtigt
berichtigt
ihren eigenen
ihren eigenen Ausgangspunkt.
Ausgangspunkt. Es Es ist unmöglich, dass Gott durch
ist unmöglich, durch
ein anderes Ding
ein anderes begriffen und
Ding begriffen und erkannt
erkannt werden werden sollte;
sollte; istist erer doch
doch
der Ursprung
Ursprung des Seins, wie
des Seins, wie des Wissens, und
des Wissens, und kann
kann somit somit an an
Klarheit und
Klarheit und Evidenz
Evidenz von keinem anderen
von keinem anderen Erkenntnisgegenstand
Erkenntnisgegenstand
erreicht, geschweige
erreicht, geschweige übertroffen
übertroffen werden. werden. „Da „Da also
also die Vernunft
Vernunft
keine Macht hat,
keine Macht hat, uns uns zu unserer Glückseligkeit
zu unserer Glückseligkeit zu zu bringen,
bringen, so so
bleibt
bleibt nur übrig, dass
n u r übrig, dass diesediese ArtArt vvon Erkenntnis nicht
o n Erkenntnis nicht aus aus etwas
etwas
anderm folgt,
anderm sondern durch
folgt, sondern durch eine eine u n m i t t e l b a r ee O ff f f e n baarruunngg
des O b j e k t s selbst an
des Objekts selbst an den Verstand entsteht; und
d e n Ve r s t a n d entsteht; und wennwenn
dieses
dieses Objekt herrlich und
Objekt herrlich und gutgut ist,
ist, so so wird
wird die Seele notwendig
die Seele notwendig
damit
damit vereinigt.)
vereinigt."1)
Von diesem PPunkte
Von diesem aus empfängt die
u n k t e aus gesamte Erkenntnis‑
die gesamte Erkenntnis-
lehre ddes
lehre e sK„Kurzen
u r z e n Traktats"
Traktats“ iihr h r Licht.
Licht. Wie Wi e für Descartes
Descartes das das
Selbstbewusstsein,
Selbstbewusstsei n, soso bedeutet
bedeutet für Spinoza Spinoza das Gottesbewusstsein
das Gottesbewusstsein
dasGrundfaktum,
dasGrundfaktum, auf auf dasdaseer hinblickt, um
r hinblickt, nach iihm
um nach h m den Wert jeder
den Wert jeder
anderen abgeleiteten
anderen Gewissheit zu
abgeleiteten Gewissheit zu bestimmen.
bestimmen. Der Der Charakter
Charakter der der
Erkenntnis
Erkenntnis bleibt bleibt auf allen Stufen
auf allen Stufen der der gleiche:
gleiche: immer
immer ist ist es
es der
äussere Gegenstand,
äussere Gegenstand, der der das das IIchc h ergreifen
ergreifen und und vonvon iihm h m Besitz
Besitz.
nehmen m
nehmen muss, um in ihm
u s s , um i h m das
das Wissen
Wissen zu zu wirken.
wirken. Je Je nachnach demdem
Objekt, m
Objekt, miti t welchem
welchem sie verschmilzt und
sie verschmilzt vereinigt wird,
und vereinigt wird, bestimmt
bestimmt
der Wert
sich der
sich Wert und und die Klarheit der Einsicht,
die Klarheit Einsicht, die die die Seele gewinnt.?)
die Seele gewinnt.*)
So ist
So ist -‐ wie ausdrücklich betont
wie ausdrücklich betont und und eingeschärft
eingeschärft w i r d -‐ - das
wird das
Verstehen
Ve r s t e h e n durchgehend
durchgehend als als einein „reines
„reines Leiden“
Leiden" zu zu denken:
denken:
nicht
nicht w wiri r sind
sind es, es, die etwas von
die etwas von einereiner Sache bejahen oder
Sache bejahen oder ver‑
ver-
neinen, sondern die
neinen, sondern die Sache
Sache selhstselbst ist ist es, die etwas von
es, die von sich sich inin
uns bejaht oder
u n s bejaht verneint.) Das
oder verneint.°) Das Bewusstsein
Bewusstsein beschränkt
beschränkt sich sich
darauf,
darauf, die die Wirkungen,
Wirkungen, die die iihmh m vvon o n aussen zugefübrt werden,
aussen zugeführt werden,
zu
zu empfangen.
empfangen. Auf Auf diesediese Weise allein scheint der Prozess
allein scheint Prozess des des
Erkennens
Erkennens b eeggrriiff f f eenn,, d.d. h. dem kausalen
h. dem kausalen Zusammenhang
Zusammenhang der
einheitlichen Gesamtnatur eingereiht
einheitlichen Gesamtnatur eingereiht werden werden zu können. Wie
zu ..können. Wie
die
die Freiheit
Freiheit des des Willens,
Willens, so so istist jede angebliche
angebliche Selbsttätigkeit
Selbsttätigkeit
des Intellekts
des Intellekts eine eine abstrakte
abstrakte und chimärische Erdichtung.
und chimärische Erdichtung. Ver‑ Ver-
stand und
stand und Wille Wille sind sind nnur allgemeine, willkürlich
u r allgemeine, willkürlich ersonnene
Die des „Kursen
Erkenninisiehre des
Die Erkenntnislehre „Kursen Traktais“.
Traktats". 5

Gattungsnamen;
Gattungsnamen; was was uns uns in Wahrheit
Wahrheit bekannt bekannt und gegeben ist,
und gegeben ist,
sind n
sind nur besondere Einzelakte
u r besondere Einzelakte des des Bejahens
Bejahens und und Verneinens,
Verneinens, des
Begehrens und
Begehrens Verwerfens.") In allen
und Verwerfens.‘) allen diesen
diesen Akten Akten handelthandelt es es
somit nnur
sich somit
sich u r um Te ii l ee des Naturgeschehens selbst,
des Naturgeschehens selbst, die das
umfassende Gesetz
umfassende Gesetz der Allnatur nur
der Allnatur n u r zuzu wiederholen und und in einemeinem
beschränkten
beschränkten Auszug Auszug wiederzugeben
wiederzugeben vermögen. vermögen. Die Die eine,
eine, ffür ür
alle Zeiten feststehende
alle Zeiten feststehende Ordnung Ordnung des des S trägt und
e i n s trägt
Seins und bedingt
bedingt
auch die
auch Ordnung des
die Ordnung Erkennens. Die
des Erkennens. Frage, wie es
Die Frage, es möglich
möglich
ist, dass die
ist, dass die körperlichen
körperlichen GegenständeGegenstände auf auf das DenkenDenken eindringen
eindringen
und in iihm
und h m eine Einwirkung binterlassen,
eine Einwirkung hinterlassen, w wird hierbei noch
i r d hierbei noch
nicht gestellt:
nicht gestellt: die die Ta t s a c h ee der der sinnlichen Wabrnehmung gilt
sinnlichen Wahrnehmung gilt
zugleich unmittelbar als
zugleich unmittelbar als dasdas Zeugnis
Zeugnis uund n d diedie E r k l ä r u n g dieses
Erklärung
Wechselverhältnisses5)
Wechselverhältnisses.°) Zwar Zwar unterscheidet
unterscheidet auch auch der der „kurze
„kurze
Traktat“ die beiden Attribute
Traktat" die beiden Attribute des Denkens und des Denkens und der Ausdehnung;
Ausdehnung;
aber
aber dieser Unterschied tritt
dieser Unterschied zurück gegenüber der Gemeinsam‑
tritt zurück Gemeinsam
keit,
keit, die die sie dadurch gewinnen,
sie dadurch gewinnen, dass dass siesie beide
beide als als K K r ä f t ee be‑
be-
zeichnet
zeichnet uund n d erläutert werden.°) Beide
erläutert werden.) Beide sindsind n uurr verschiedene
verschiedene
Aeusserungsf[ormen ein
Aeusserungsformen ein undund derselben
derselben zzu Grunde liegenden
u Grunde liegenden Natur‑ Natur-
macht: so
macht: so vermögen
vermögen sie auch aufeinander einzuwirken
sie auch einzuwirken und u n d sich
sich
gegenseitig
gegenseitig zu zu bestimmen.
bestimmen. Wie Wie der Körper Körper sich sich dem Geiste dar‑
dem Geiste dar-
bietet und
bietet und den den AktAkt der der Empfindung
E m p fi n d u n g in iihm h m wachruft,
wachruft, so so vermag
vermag
andererseits
andererseits die Seele zwar nicht,
die Seele nicht, neueneue körperliche
körperliche BewegungenBewegungen
zu erschaffen, wohl
zu erschaffen, wohl aber aber die die R ii c h t u nngg derder vorhandenen
vorhandenen Bewe‑ Bewe-
gung nach
gung nach ihrem ihrem Enischlusse
Entschlusse abzulenken.?)
abzulenken.?) ‑
Es
Es ist klar, dass
ist klar, dass von von dieser Grundapschauung
allgemeinen Grundanschauung
dieser allgemeinen
aus ddie
aus i e Wertunterschiede
Wertunterschiede des Wa h r e n und
des Wahren Falschen ihre
und Falschen ihre abso‑
abso-
Jl u t ee B e d e u t u n g einbüssen
Bedeutung Sie gehören
m ü s s e n .• Sie
e i n b ü s s e n müssen. g e h ö r e n zu d e n subjek‑
z u den subjek-
tiven Gegensätzen, die
tiven Gegensätzen, die nnur der unvollkommenen
u r der unvollkommenen und und stückweisen
stückweisen
Betrachtung
Betrachtung der einen, der einen, in sich unterschiedsiosen
sich unterschiedslosen Gesamtnatur Gesamtnatur
anhaften. Die
anhaften. Die Erkenntnis substantiellen Einheit
der substantiellen
E r k e n n t n i s der E i n h e i t des Welt-
des Welt‑
g
ganzena n -•zbringte n die
bringt die qualitaliven
qualitaiiven logischen Differenzen zum
logischen Differenzen zum Ver‑ Ver-
schwinden, indem
schwinden, indem sie sie in quantitative
sie sie quantitative Unterschiede
Unterschiede des des Grades
auflöst. IIrrtum
auflöst. und Wahrheit
r r t u m und Wahrheit stehen stehen einander nicht nicht als gleichgleich
selbständige uund
selbständige n d positive
positive Momente gegenüber, sondern
Momente gegenüber, sondern verhalten
verhalten
sich wie
sich wie derder TeilTeil zum Ganzen. Ist
zum Ganzen. alles Denken,
Ist alles Denken, kraft kraft seines
Begriffs,
Begriffs, der der Ausdruck
Ausdruck eines äusseren Tat-
eines äusseren Tat- und und Wesensbestandes,
Wesensbestandes,
muss jede Vorstellung,
so muss
so Vorstellung, sofern sofern sie sie überhaupt
überhaupt irgend irgend welchen
welchen
Inbalt
Inbalt in sich sich fasst,
fasst, auch auch das das wirkliche Sein Sein unter unter einemeinem be‑ be-
6 Spinosa,

stimmten Gesichtspunkt widerspiegeln. Der I r r t u m besteht nicht


darin, dass w i r an und für sich Wesenloses v o r s t e l lund e n in
Gedanken fassen, sondern dass w i r bei einem Fragment des Seins
stehen bleiben und in i h m das Ganze zu besitzen glauben. Somit
gliedert sich alle Erkenntnis in eine fortlaufende Reihe und
Stufenfolge, kraft deren wir, v o m Einzelnen beginnend, zu immer
weiterer und universellerer Anschauung des Alls uns erheben.
Nicht darum aber handelt es sich hierbei, zu willkürlich gebil‑
deten Gattungsbegriffen aufzusteigen, sondern die wirklichen und
wirkenden Momente und Kräfte des Seins blosszulegen, die in
jedem Einzelinhalt tatsächlich mitenthalten sind. Von diesem
Gesichtspunkt aus wird die Erkenntnis durch Hörensagen, also
durch E r f a h r u n g , die u n s stets n u r m i t bestimmten Einzel‑
tatsachen vertraut macht, v o n dem „ w a h r e n G l a u b e n “ unter‑
schieden, welcher das alien besonderen Dingen Gemeinsame
kraft sicherer Beweise und Folgerungen herauslöst. Ueber beide
Formen des Wissens aber erhebt sich die letzte Stufe der „klaren
und deutlichen Erkenntnis“, kraft deren w i r das Allgemeine nicht
in mühseliger Deduktion erschliessen, sondern es unmittelbar
im Einzelnen erschauen und in der uns somit die universelle
Regel selbst, die alles Sein und Geschehen beherrscht, gleich
einer konkreten Erkenntnis objektiv gegeben i s t . ) ‑
F ü r das Verständnis dieser Grundansicht ist‘ es wesentlich,
die richtige g e s c h i c h t l i c h e Perspektive z u gewinnen, unter
der sie zu betrachten ist. So deutlich der „Kurze Traktat‘“ allent‑
halben die genaue Kenntnis der Cartesischen Philosophie be‑
kundet, so steht er deren eigentlicher l o g i s c h e r Tendenz noch
völlig fern. Der Grundbegriff der I n t u i t i o n , auf den die ge‑
samie Lehre Spinozas mittelbar hinzielt und in dem sie ihren
inneren Abschluss findet, lässt dieses Verhältnis deutlich hervor‑
treten. F ü r Descartes sind es die geometrischen und arithmeti‑
schen Axiome, sind es somit die Fundamente seiner neuen
Wissenschaft, die den Inhalt der „Intuition“ ausmachen; f ü r
Spinoza besteht i h r Inbalt in dem unendlichen göttlichen Sein,
m i t dem das I c h sich zu erfüllen trachtet. Handelte es sich dort
um ein oberstes P r i n z i p der Einsicht, so handelt es sich hier
um das Einswerden m i t einem äusseren Objekt, um das „Gefühl
und den Genuss d e r Sache selbst.“®%) „Die Intuition des Car‑
Das Erkennen als
Das Erkennen als Leiden.
Leiden, 7

tesius
tesius ist“ ist" -‐ wie Sigwart treffend
wie Sigwart treffend bemerkt bemerkt -‐ „die mathematische;mathematische;
die Spinozas -‐ wenigstens im
die Spinozas Traktat noch
im Traktat noch -‐ die die mystische.“!)
mystische.«10)
Und die
Und die Mystik
Mystik selbst selbst trägtträgt hhier eigenartige Züge,
i e r eigenartige Züge, die sie sie
v o n der
von Gestalt, welche sie
der Gestalt, sie in der späteren Fassung
der späteren Fassung der Lehre Lehre
gewinnt,
gewinnt, unterscheiden.
unterscheiden. Wenn We n n in der der Ethik
Ethik die die intellektuelle
intellektuelle
Liebe zzu
Liebe Gott m
u Gott miti t dem höchsten Freiheitsbewusstsein
dem höchsten Freiheitsbewusstsein des Men‑ Men-
schen zusammenfällt, wenn
schen zusammenfällt, wenn somit somit jedes echte echte Erkennen
Erkennen seinen seinen
Grund
Grund und Ursprung iinn der
und Ursprung der A Akk tt ii v ii t ä tt des Geistes besitzt:
des Geistes besitzt: ssoo
g i l t hhier
gilt i e r die
die umgekehrte
umgekehrte Ansicht. Ansicht. Um Um GottGott wahrhaft
wahrhaft zu zu schauen,
schauen,
müssen w
müssen wir zu „Sklaven
i r zu „Sklaven Gottes" Gottes‘ werden, werden, müssen müssen w wir i r das
das eigene
eigene
Selbst verlieren
Selbst verlieren und aufopfern. Der
und aufopfern. Mensch vermag
Der Mensch vermag „als „als ein ein
Te
Teili l der gesamten Natur,
der gesamten Natur, von von welcher
welcher er er abhängt
abbängt und und vvon on
welcher
welcher er auch regiert
er auch regiert wird, aus aus sich selbst zu
sich selbst seinem Heil
zu seinem Heil und und
Glückseligkeit nichts
seiner Glückseligkeit
seiner nichts zu u n . " ) „Sklaven
zu ttun.“!!) „Sklaven Gottes“ Gottes" sind sind
wiri r somit,
w somit, weil Sklaven der Allnatur sind;
weil wir Sklaven sind; weil weil all all unser
unser
W i ss s e e nn vvono n ihrem
ihrem S umschlossen ‚und
Seeiinn umschlossen und von von ihremihrem ehernenehernen
Gesetz abhängig
Gesetz abhängig bleibt.bleibt. Es Es ist ist vergebens,
vergebens, den den Gegensatz,
Gegensatz, in dem dem
diese
diese Anschauung
Anschauung sich sich zu zu dem endgiltigen System
dem endgiltigen System Spinozas Spinozas be‑ be-
findet,
findet, durch durch eine Einschränkung der
eine Einschränkung der Grundbestimmungen
Grundbestimmungen des des
„Kurzen
„Kurzen Traktats" Traktats‘‘ beseitigen
beseitigen zu wollen. Das
zu wollen. scharfe und
Das scharfe und präg‑präg-
nante Wort, dass nicht
nante Wort, dass nicht wir, die Urteilenden, wir, die Urteilenden, etwas von einem
von einem
Gegenstande aussagen,
Gegenstande aussagen, sondernsondern dass dass die Sache selbst
die Sache selbst es es ist,
ist, die
die
etwas von
etwas von sich sich in in uns bejaht oder verneint,
uns bejaht verneint, widerstrebt jeder
Umdeutung
Umdeutung oder oder Abschwächung.)
Abschwächung. 13) Die Auffassung des
Die Auffassung des Erken‑
Erken-
nens als
nens reinen L e i d e nn ss betrifft
eines reinen
als eines betrifft nicht n i c h t lediglich
lediglich den den Akt
sinnlichen Wahrnehmung,
der sinnlichen Wahrnehmung, sondern sondern sie sie greift auf auf die die rationale
rationale
Erkenntnis
E r k e n n t n i s üüber b e r und
u n d verleiht s e l b s t der
v e r l e i h t selbst d e r Charakteristik d e s intui‑
C h a r a k t e r i s t i k des intui-
tiven Wissens
tiven Wissens ihre ihre eigentümliche
eigentümliche Färbung. Färbung.
Diese Gleichsetzung aber
Diese Gleichsetzung aber begegnet
begegnet uns uns in der Erkenntnis‑ Erkenntnis-
lehre der
lebre der neueren
neueren Zeit Zeit niclıt
nicht zum zum ersten ersten Male:Male: sondernsondern sie sie ist
ist
u nnss iinn der der N a t u r pp hhii l o ss oopphhiiee d e er R Renaissance
e n a i s s a n c e bereits bereits iinn
voller Bestimmtheit gegenübergetreten [s.
Bestimmtheit gegenübergetreten Bd. I, S.
[s. Bd. S. 212ff.,
212ff., 219 219 ff.].
fT.].
M
Man a n hat Spinozas Lehre
hat Spinozas Lehre im „kurzen „kurzen Traktat"Traktat“ zumeist zumeist m miti t G ior‑
Gior-
d ano B
dano r u n o verglichen,
Bruno verglichen, m miti t dem
dem sie sie in der Tat Tat die die Anschauung
Anschauung
v o nn der Einen, Einen, unendlichen
unendlichen und und in sich sich vollkommenen
vollkommenen Natur Natur
teilt.
t e i l t . LegtLegt man indessen die
man indessen Theorie des Erkennens
die Theorie E r k e n n e n s als Maass-
als Maass‑
stab
stab an, a n , soso sieht
sieht m man Spinoza vvon
a n Spinoza Bruno ebensosehr getrennt,
o n Bruno getrennt, wie
m
man a n iihn hn m miti t seinen unmittelbaren Vorgängern,
seinen unmittelbaren Vorgängern, insbesondere
insbesondere m miti t
8
8 Spinoza.
Spinosa.

Telesio,
Telesio, in innerer Uebereinstimmung erblickt.
innerer Uebereinstimmung erblickt. Eben derjenige
Eben derjenige
Schritt,
Schritt, durch
durch den den sich
sich BrunoBruno vvon o n der gesamten Naturphilosophie
der gesamten Naturphilosophie
des sechzehnten Jahrhunderts
des sechzehnten J a h r h u n d e r t s trennt,
trennt, ist bei Spinoza
ist bei Spinoza bisherbisher nochnoch
nicht vollzogen: das reine
nicht vollzogen: das reine Denken ermangelt nochDenken ermangelt noch einer selb‑
selb-
ständigen und ursprünglichen Funktion,
ständigen und ursprünglichen Funktion, kraft deren es sich vvon kraft deren es sich on
der passiven sinnlichen Empfindung
der passiven sinnlichen Empfindung prinzipiell unterschiede prinzipiell unterschiede.
hrz. Bd.
(S. brz.
(S. Bd. I, $S. 345f.) Um so
S. 345f.) näher steht Spinozas
so näher Spinozas Lehre Lehre hier hier
der Anschauung desjenigen
Anschauung desjenigen Denkers, Denkers, der an
an der erkenntnistheo‑
erkenntnistheo-
G r u n d a n s i c h t dder
retischen Grundansicht
retischen e r Naturphilosophie
Naturphilosophie selbst selbst festhält,
festhält, um um
auf ihrem
auf ihrem Grunde
Grunde ein ein modernes
modernes System System des des Pantheismus
Pantheismus zu zu eer-r ‑
richten.
richten. Schon Schon die die Bedeutung
Bedeutung und und Wendung,
Wendung, die die derder Grundbe‑
Grundbe-
griff der Intuition
griff der Intuition hier hier gewinnt,
gewinnt, muss muss an an Campanella
Campanella erinnern. erinnern.
»Die Schau der
„Die Schau Seele -‐ so
der Seele so beschreibt
beschreibt Campanellas
Campanellas Metaphysik
Metaphysik
den
d e n Akt
A k t dder h ö c h s t e n Erkenntnis
e r höchsten E r k e n n t n i s - ‐ istist mm iitt dem
d e m Schauen
S c h a u e n des
des
Auges nicht
Auges einerlei: denn
nicht einerlei: denn während das Auge die
das Auge Dinge durch
die Dinge durch
Bilder erkennt, die
Bilder erkennt, die iihm h m vvon zugeführt werden,
aussen zugeführt
o n aussen werden, so so erblickt
erblickt
die Seele
die Seele ihren Gegenstand, indem
ihren Gegenstand, indem sie sich in iihn
sie sich h n undund ihn ihn in
sich innerlich
sich verwandelt. Das
innerlich verwandelt. intuitive Erkennen
Das intuitive Erkennen ist ist somit das das
innerliche Einswerden,
innerliche Einswerden, durch durch welches das eine andern
das eine zum andern wird
z u m wird
(intrinsecatio,
(intrinsecatio, per per quam
quam uunum n u m fit aliud).« Alles Wissen
fit aliud).“ Wissen ist ist Ueber‑
Ueber-
gang und Auflösung
gang und Auflösung des Ich des I c h in den Gegenstand,
den Gegenstand, der ihm gegen‑
ihm gegen-
übersteht; es
übersteht; es ist somit vergänglich
ist somit vergänglich und ungewiss, sobald
und ungewiss, sobald es es sich
sich
einem wandelbaren und zufälligen Objekte zuwendet, um zu
einem wandelbaren und zufälligen Objekte zuwendet, um zu
einem festen
einem festen unverlierbaren
unverlierbaren Gute Gute zu zu werden,
werden, nachdem
nachdem es es einmal
einmal
das
das höchste
höchste ewigeewige Sein erfasst hat.
Sein erfasst hat. Das Das Bewusstsein,
Bewusstsein,das die die end‑
end-
lichen Dinge
lichen erkennt, taucht
Dinge erkennt, t a u c h t gleichsam
gleichsam in sie u n d verliert
u n t e r und
sie unter verliert
einen Te i l des
einen Teil eigenen Daseins
des eigenen Daseins an sie; sie; erst wenn es
erst wenn es sich
sich vvon on
ihnen
ihnen wieder zum z u m AllAll der der Realität,
Realität, zzum u m unendlichen
unendlichen Sein Sein Gottes
zurückfindet, gewinnt
zurückfindet, gewinnt es hier, wo
es hier, wo alle Gegensätze uund
alle Gegensätze n d alle
alle Be‑
Be-
schränkung fortfallen,
schränkung fortfallen, auch auch das eigene Sein Sein zurück.!S)
zurück. 18) Die Die
Liebe
Liebe zu Gott Gott ist somit ffür
ist somit das endliche
ü r das endliche Wesen Wesen nichts
nichts Aeusseres
Aeusseres
und
und Zufälliges,
Zufälliges, was was es es besitzen
besitzen oder entbehren entbehren könnte,könnte, sondern
sondern
sie ist es,
sie ist die iihm
es, die h m erst seine eigene
erst seine eigene Wesenheit gibt und und die die eses
im Sein erhält. Sie
Sein erhält. kann beschränkt und
Sie kann beschränkt und verdunkelt, niemals verdunkelt, niemals
aber völlig
aber ausgelöscht sein,
völlig ausgelöscht sein, da ohne sie
da ohne sie jedes Wesen
Wesen in Nichis Nichts
zerfallen müsste. Indem wir unser Sein bejahen, bejahen
zerfallen müsste. Indem w i r unser Sein bejaben, bejahen w wiri r
damit mittelbar
damit mittelbar die allumfassenden Existenz,
Realität einer allumfassenden
die Realität Existenz, ohne obne
welche jenes
welche nicht bestehen,
jenes nicht bestehen, noch noch gedacht
gedacht werden könnte. Die
werden könnte. Die
Spinosas Naturbegriff
Spinozas die Renaissance.
und die
Naturbegriff und Renaissance. 9

Erkenntnis
Erkenntnis sowie sowie das das Begehren
Begehren eines eines Einzeldinges
Einzeldinges ist ist nnuru r eine
eine
Sprosse und
Sprosse Staffel, auf
und Staffel, auf derder w wiri r zu höchsten Intuition
zu der höchsten Intuition e m‑
em-
porsteigen,
porsteigen, in welcher w
in welcher uns dem
wiri r uns absoluten Sein
dem absoluten Sein vereinigen.!)
vereinigen.1)
Es
Es ist nicht notwendig,
ist nicht notwendig, die die Parallelen,
Parallelen, die Spinozas „Kurzer
die Spinozas
Traktat“ zu
Traktat" zu diesen darbietet,
Bestimmungen darbietet, im Einzelnen darzu‑
diesen Bestimmungen im Einzelnen darzu-
legen; sie drängen
legen; sie drängen sich sich von selbst auf.
von selbst auf. Ob Spinoza Campa‑
Ob Spinoza Campa-
nella gekannt, ob
nella gekannt, ob er von von iihm h m einen
einen nachhaltigen
nachhaltigen Einfluss Einfluss er‑ er-
fabren habe:
fahren habe: dies dies kann
kann -‐ obwohl obwohl viele viele Momente
Momente dazu dazu drängen,
drängen,
diese
diese Frage Frage zu bejahen ) -‐ ffür
zu bejahen!5) ü r die
die systematische Auffassung Auffassung
seiner Lehre
seiner dahingestellt bleiben.
Lehre dahingestellt bleiben. Campanella
Campanella selbst selbst ist ist kein
kein
originaler Denker;
völlig originaler Denker; sondernsondern er verknüpftverknüpft nnur u r die
die mannig‑
mannig-
fachen und
fachen und oft widerstreitenden Bildungselemente
oft widerstreitenden Bildungselemente seiner Zeit zu zu
einer philosophischen
philosophischen Synthese. Synthese. So So verbindet er Grundgedanken
Grundgedanken
Neuplatonischer
Neuplatonischer Metaphysik Metaphysik und und Mystik
Mystik m miti t Ergebnissen
Ergebnissen moder‑ moder-
ner Naturbeobachtung; so
ner Naturbeobachtung; flicht er
so flicht er in die die Darstellung
Darstellung der sen‑ sen-
sualistischen Erkenntnislehre
sualistischen Erkenntnislehre des Telesio Züge ein,
des Telesio ein, diedie er un‑ un-
mittelbar
mittelbar der der Psychologie
Psychologie des des Thomas
Thomas von von Aquino
Aquino entnimmt.
entnimmt.
Bd. I, S
(S. Bd.
(S. S.
. 218218f., S. 225.)
f., S. 225.) Die Quellen der pantbeistischen
Die Quellen pantheistischen Grund‑ Grund-
anschauung flossen
anschauung flossen insbesondere
insbesondere ffür Spinoza, der mit
ü r Spinoza, mit derder jüdi‑
jüdi-
schen Religionsphilosophie
schen Religionsphilosophie aufs aufs genaueste
genaueste vertrautvertraut ist,ist, soso reich‑
reich-
lich, dass
lich, dass es schwer ist,
es schwer ist, über
über die die tatsächliche Wirkung, Wirkung, die sie
im Einzelnen
im geübt haben,
Einzelnen geübt haben, eine endgültige Entscheidung zu
‘eine endgültige Entscheidung zu
treffen. Charakteristisch und
treffen. Charakteristisch und wichtig
wichtig aber aber ist dies Eine,
ist dies Eine, was hier hier
unverkennbar hervortritt:
unverkennbar hervortritt: dass Spinoza seinen
dass Spinoza seinen Ausgangspunkt
Ausgangspunkt
nicht v o nn ddem
nicht em m mathematisch-mechanischen Naturbegrifte Des‑
a t h e m a t i s c h - m e c h a n i s c h e n Naturbegriffe Des-
cartes’, sondern von
cartes', sondern von der Alleinheits-
Alleinheits- und Allbeseelungslehre der
und Allbeseelungslehre
spekulativen Naturphilosophie
spekulativen Naturphilosophie nimmt. nimmt. E Ein i n Blick auf den
Blick auf den „kurzen
„kurzen
Traktat“ genügt,
Traktat" genügt, um um zu zeigen, dass
zu zeigen, dass in in iihm h m das Problem
Problem der der ex‑
ex-
akten Wissenschaft,
akten Wissenschaft, das Problem der m a t h e m aatti s cchheenn N
das Problem Natur-
atur‑
ee rr k ee nnnntt nnii ss noch nicht lebendig
noch nicht lebendig gewordengeworden ist. ist. Man
Man hathat versucht,
versucht,
aus dem
aus Ganzen des
dem Ganzen des Traktats selbst selbst einzelne
einzelne Bestandteile
Bestandteile heraus‑heraus-
zusondern, die
zusondern, eine frühe,
die eine frühe, rein rein „naturalistische“
„naturalistische" Phase Phase in in Spino‑
Spino-
zas Denken
Denken bezeugen sollten, in der
bezeugen sollten, der er noch gänzlich
er noch gänzlich ausserhalb
ausserbalb
des Cartesischen
des Cartesischen Einflusses gestanden hätte.!6)
Einflusses gestanden hätte.1) Dieser Versuch ist
Dieser Versuch ist
misslungen;
misslungen; es es zeigt sich, dass
zeigt sich, dass die die beiden
beiden in den den Traktat
Traktat einge‑ einge-
schobenen
schobenen Dialoge, Dialoge, auf auf welche
welche man sich hierfür berief,
m a n sich berief, gegengegen
den übrigen Inhalt
den übrigen Inhalt des Werkes keine
des Werkes keine prinzipiellen
prinzipiellen Unterschiede
Unterschiede
aufweisen, aus
aufweisen, aus denen
denen m mana n auf eine frühere
auf eine Abfassung schliessen
frühere Abfassung schliessen
10
10 Spinosa.
Spinosa.

d ü r f t e . ) Wohl
dürfte.17) Wohl aber aber lehrtlebrt unsuns der Traktat
Traktat als a l s Ganzes
G a n z e s eine
eine
wichtige Epoche
wichtige Epoche in Spinozas Denken kennen,
Spinozas Denken kennen, die die zu zu den
den späteren
späteren
Grundanschauungen in Metaphysik
Grundanschauungen Metaphysik und Erkenntnislehre in einem
und Erkenntnislehre einem
interessanten
interessanten und und lehrreichen Gegensatz steht.
lehrreichen Gegensatz steht. HierHier steht
steht Spinoza
Spinoza
noch völlig
noch völlig auf auf demdem Boden italienischen Renaissancephilo‑
Boden der italienischen Renaissancephilo-
sophie; auf
sophie; auf demdem Boden,
Boden, dem dem diedie Naturansicht
Naturansicht eines eines Telesio und und
Patrizzi,
Patrizzi, eines Giordano Bruno
eines Giordano Bruno und und Campanella
Campanella entsprossenentsprossen ist. ist.
Und
Und noch deutlicher, als
noch deutlicher, theoretischen Philosophie,
als in der theoretischen Philosophie, be‑ be-
kundet
kundet sich sich dieser Zusammenhang in der
dieser Zusammenhang der E Ethik Spinozas, die
t h i k Spinozas, die
die allgemeinen
die allgemeinen stoischen s t o i s c h e n Grundmotive,
Grundmotive, auf auf welche
welche sie sich sich
stützt.
stützt, d durchaus Fassung aufnimmt
u r c h a u s in der Fassung u n d verwertet,
a u f n i m m t und verwertet, die sie sie
in derder Affektenlebre des Telesio erhalten
Affektenlebre des Telesio erhalten hatten. Hier wie hatten. Hier wie dort
finden w
finden wir das Bestreben,
i r das Bestreben, die sittliche Welt
die sittliche Welt völlig in die die natür‑
natür-
liche aufgehen zu lassen und
liche aufgehen zu lassen und aus deren abzuleiten;
deren Gesetzen abzuleiten; hhier
Gesetzen ier
wie dort dort ist ist es d a h e r der
es daher der natürliche
natürliche TriebTr i e b der Selbsterhaltung,
d e r Selbsterhaltung,
der
der zur zur Grundlage
Grundlage jeglicher ethischen ethischen Norm Norm gemacht wird.!®) wird.18) JeJe
energischer das
energischer das Einzelwesen
Einzelwesen sich seinem Sein
sich in seinem Sein zu z u behaupten
behaupten
strebt, um so
strebt, so tiefer erfüllt
erfüllt es damit seine
es damit seine sittliche
sittliche Bestimmung.
Bestimmung.
So ist
So ist die Tugend nichts
die Tugend nichts anderes,
anderes. denn
denn die die ihrer
ihrer selbst bewusste
selbst bewusste
„Tapferkeit“
„Tapferkeit" und und von allen weichlichen
von allen Affekten der
weichlichen Affekten der Trauer und und
Mitleids ihrem
des Mitleids
des ihrem innersten
innersten WesenWesen nach nach geschieden.
geschieden. „Aus die-
„Aus die‑
ser Benützung
ser Benützung des Telesio“ -‐ so
des Telesio" urteilt D i lltt h eeyy m
so urteilt Recht -‑
miti t Recht
„wird deutlich,
»wird deutlich, wie wie in Spinoza
Spinoza der Geist der
der Geist Renaissance fortlebt,
der Renaissance fortlebt,
welcher in der Verbindung
welcher Verbindung vvon Selbsterhaltung, Stärke,
o n Selbsterhaltung, Stärke, Ehre,
Ehre,
Lebensfreudigkeit, Tugend
Lebensfreudigkeit, Tugend sich sich äussert,
äussert, daher daher Spinoza
Spinoza auch auch in
Rücksicht der
dieser Rücksicht
dieser der reife
reife Abschluss
Abschluss dieser Epoche Epoche ist.“1?)
ist."19) Aber
Aber
w e n n die Ethik Spinozas diesen
wenn die Ethik Spinozas diesen Zusammenhang bis Zusammenhang bis in ihre letzte
ihre letzte
und reifste
und reifste Ausführung
Ausführung bewahrt, bewahrt, ssoo zeigt seine E r k e n nnttnniiss•‑
zeigt seine
l e hh rr ee eine entschiedene und
eine entschiedene und bezeichnende
bezeichnende Wandlung. Wandlung. Es
Es g ilt
gilt
die Motive zu
die Motive erforschen, die
zu erforschen, Wandlung eingeleitet
diese Wandlung
die diese eingeleitet und und die
damit
damit dem Gesamtsystem eine
dem Gesamtsystem eine völlig
völlig neue
neue logische
logische FForm gegeben
o r m gegeben
hhaben.
aben.

II.
D e r „Tractatus de
Der de iintellectus
n t e l l e c t u s emendatione“.
emendatione".
Wenn
Wenn m man o m „Kurzen
a n vvom Tractat" zu
„Kurzen Tractat“ Spinozas nächster,
zu Spinozas nächster,
selbständiger Hauptschrift,
selbständiger zum „Tractatus
Hauptschrift, zum „Tractatus de de intellectus
intellectus emen‑
emen-
"Der
Der „Tractatus de intollectus
„Tractatus de intellectus emendatione“
emendatione".. 5}

datione“ übergeht,
datione" so findet
übergeht, so findet m a n die
man Grundzüge der Spinozischen
die Grundzüge Spinozischen
Weltanschauung zunächst kaum
Weltanschauung zunächst Die subjektive
verändert. Die
kaum verändert. subjektive Hal‑
Hal-
t u n gg und Grundstimmung, die
und Grundstimmung, Spinozas Lehre
die Spinozas Lehre iihr h r eigentümliches
eigentümliches
Gepräge gibt, ist unverändert
Gepräge gibt, ist unverändert geblieben. Auch hier geblieben. Auch hier ist ist es es die
die
Frage
Frage nach dem höchsten
nach dem höchsten Gut, die Gut, die der theoretischen Unter‑
Unter-
suchung die
suchung die Richtung
Richtung weist. weist. •- WasWas immer die die gewöhnliche
gewöhnliche Welt‑ Welt-
u nndd Lebensansicht an
Lebensansicht an Gütern kennt und was iihr
Gütern kennt und was als begehrens‑
h r als begehrens-
wwert erscheint, das
e r t erscheint, das vermag
vermag das das rastlose Streben des Geistes nnur
rastlose Streben ur
ffür einen kurzen
ü r einen kurzen Augenblick
Augenblick auszufüllen.
auszufüllen. Was Was hier gewonnen gewonnen
wird,
wird, sind sind Scheingüter,
Scheingüter, ddie m i t t e n im
i e u nnss mitten G e n u s s e selbst
i m Genusse s e l b s t inin
Nichts zerrinnen. Jede
Nichts zerrinnen. Jede Befriedigung,
Befriedigung, die die w wir i r hier
hier zu zu gewinnen
gewinnen
scheinen, wird
scheinen, wird uns unmittelbar wieder zum
uns unmittelbar zum Quell Quell neuen neuen leiden‑
leiden-
schaftlichen Begehrens;
schaftlichen Begehrens; w i r finden
wir finden uns uns vvon jedem Objekt
o n jedem Objekt zu zu
einem
einem neuen neuen hinausgelrieben,
hinausgetrieben, ohne ohne diesen diesen ziel- ziel- und und endlosen
endlosen
Fortgang
Fortgang entbehren entbehren oder aufgeben zu
oder aufgeben können. Nur
zu können. Nur ein ein ewiges
ewiges
u n d unvergängliches
und unvergängliches Sein, Sein, das das in sich sich allein
allein vollendet
vollendet ist ist undund
nichts ausser
nichts ausser sich bedarf, vermöchte
sich bedarf, vermöchte auch auch dem Geiste Halt
dem Geiste Halt und und
Sicherheit zu
Sicherheit geben. W
zu geben. Wir i r fühlen,
fühlen, wie wie schonschon der der Gedanke
Gedanke an an
ein derartiges Sein
ein derartiges Sein die die Macht
Macht der der Leidenschaften
Leidenschaften abstumpft abstumpft und und
uns, zum
uns, zum erstenersten Male,
Male, jenen empfinden •-lässt,
Frieden empfinden
jenen Frieden lässt, denden w wirir
im Besitze
Besitze der endlichen Daseinsgüter
der endlichen Daseinsgüter vergebens gesucht gesucht haben. haben.
IInn ddiesem
iesem G Gedanken i c h das
s a m m e l t ssich
e d a n k e n sammelt vielfältige und
das vielfältige und wider‑
wider-
spruchsvolle Streben auf einen Punkt: wir erkennen die Einheit,
spruchsvolle Streben auf einen Punkt: w i r erkennen Einheit,
d i e den
die den GeistGeist m miti t der gesamten Natur
der gesamten Natur verbindet und und fügen
fügen uuns ns
i h r eerr notwendigen
notwendigen und und unwandelbaren
u n w an d el b a r en Gesetzesordnung
Gesetzesordnung ein. ein.
So unmittelbar dieses
So unmittelbar dieses Endziel
Endziel m miti t demjenigen
demjenigen zusammen‑ zusammen-
fällt,
fällt, das das der der kurze Traktat als
kurze Traktat die Liebe
als die Liebe und und den den Frieden
Frieden GottesGottes
geschildert hatte:
geschildert hatte: die Anschauung über
die Anschauung über die die Art, Art, in der w wir i r uuns
ns
iihm nähern können,
h m nähern können, hat dennoch eine
hat dennoch eine Wandlung
Wandlung erfahren. erfabren. Der Der
Mensch
Mensch ist ist nicht mehr der „Sklave
nicht mehr „Sklave Gottes“,
Gottes", der seine seine Glückselig‑
Glückselig-
k e i t von
keit von einemeinem Gute,
Gute, das das sich sich vonvon aussen
aussen auf auf iihnh n herabsenkt,
herabsenkt,
erwarten hätte;
zu erwarten sondern in
hätte; sondern in iihm selbst liegen
h m selbst liegen die die Mittel,
Mittel, es es
sich zu
sich eigen zu
zu eigen zu machen.
machen. Das Schauen Gottes
Das Schauen Gottes ist kein unmittel‑
ist kein unmittel-
barer Besitz,
barer sondern es
Besitz, sondern es kann
kamn und und muss muss im allmählichen
allmählichen und und
methodischen Fortschritt
methodischen Fortschritt der Erkenntnis Schritt
der Erkenntnis Schritt ffür Schritt er‑
ü r Schritt er-
worben werden.
worben werden. Der Der „Traktat
,,Traktat über über die die Läuterung
Läuterung des des Verstan‑
Verstan-
des"
des“ w will
i l l den Weg zu
den Weg zu diesem
diesem Ziel Ziel wissen;
wissen; er w will zeigen, wie
i l l zeigen, wie
die „wahre
die „wabre Idee“, Idee", die,die, einmal
einmal gewonnen,
gewonnen, sich selbst erleuchtet
sich selbst erleuchtet
12
12 Spinoza.
Spinosa.

und verbürgt,
und verbürgt, zu
zu erlangen und wie
erlangen und o n iibr
wie vvon aus in lückenlosem
h r aus lückenlosem
deduktiven Fortgang jegliche
deduktiven Fortgang jegliche andere
andere Erkenntnis abzuleiten ist.
Erkenntnis abzuleiten ist.
Eiinn ssolcher
E Ve r s u c h aaber
o l c h e r Versuch s e t z t eine
b e r setzt e i n e veränderte A n s i c h t über
v e r ä n d e r t e Ansicht ü b e r das
das
Ve r hb ääll t nn i ss ddes voraus. Mit
G e i s t e s z uu d ee nn D i nn g ee nn voraus.
e s Geistes Mit der
gleichen Entschiedenheit,
gleichen Entschiedenheit, in der zuvor in der zuvor das Erkennen
Erkennen als ein ein
„reines
„reines Leiden“ bezeichnet, in der also
Leiden" bezeichnet, also die die Uebereinstimmung
Uebereinstimmung
m dem O
miti t dem O bbjj eekktt als höchster Massstab
als höchster Massstab ffür Gewissheit der
ü r die Gewissheit
idee proklamiert war,
Idee proklamiert war, tritttritt jetzt
jetzt die die entgegengesetzte
entgegengesetzte Grundan‑
Grundan-
schauung hervor.
schauung hervor. Der Der wahre Gedanke kann
wahre Gedanke kann vvom o m falschen
falschen nicht
nicht
n durch eine
u r durch
nur eine äusserliche,
äusserliche, zufällige Beziehung Beziehung unterschieden
unterschieden
sein, sondern
sein, sondern in in iihm
h m selbst muss das Kriterium
selbst muss Kriterium für seinen seinen WeWertr t
u n d seine
und Giltigkeit liegen.
seine Giltigkeit liegen. Was Was eineneinen Gedanken
Gedanken zzum u m wahren
wahren
Gedanken macht,
Gedanken macht, was was iihm h m die
die A r t und
Art und denden Stempel
Stempel der Gewiss‑
Gewiss-
heit aufdrückt, das erkennt
heit aufdrückt, erkennt kein äusseres Objekt
kein äusseres Objekt als Ursache an,
als Ursache an,
sondern muss
sondern muss „von der Kraft
„von der Kraft und Natur des
und Natur des Intellekts selbst ab‑
Intellekts selbst ab-
hängen".$) Der
hängen“.?2) Der bündige
bündige und und vollgiltige Beweis hierfür sind
vollgiltige Beweis sind die
Objekte der
Objekte mathematischen Erkenntnis,
der mathematischen Erkenntnis, die die ebensosehr das
Zeugnis der
Zeugnis der W Wa a h r h eeii tt in sich
sich tragen,
tragen, wie wie siesie andererseits
andererseits vonvon
jeder
jeder W i r k l i cc h k eeii tt absehenabsehen und absehen dürfen.
u n d absehen dürfen. S Soo braucht
braucht
die Definition
die Definition der der Kugel
Kugel nichtsnichts anderes
anderes in sich sich zu zu enthalten,
enthalten, als
die Aufweisung
die Aufweisung des Gesetzes, nach
des Gesetzes, nach welchem
welchem w wiri r die
die Kugel
Kugel ent‑
ent-
standen und
standen und durchdurch welches
welches wir ihre rein logische
ihre rein logische B e ssttii mmm mtthheeiitt
verbürgt
verbürgt denken.denken. Legen Legen wir wir ein ein derartiges Gesetz Gesetz zu zu Grunde,
Grunde,
bestimmen w
bestimmen etwa, dass
wiri r etwa, „Kugel“ ein
dass u nnss ,„Kugel" ein Gebilde heissen soll,
Gebilde heissen soll,
welches ddurch
welches u r c h die D r e b u n g eines Halbkreises
die Drehung Halbkreises um eine eine feste
feste
Achse entsteht, so
Achse entsteht, so können
können w fortan jede
i r fortan
wir jede Eigenschaft
Eigenschaft eines eines der‑
der-
artigen Gebildes
artigen Gebildes m miti t Gewissheit
Gewissheit und und Notwendigkeit
Notwendigkeit ableiten. ableiten.
„Diese Idee
„Diese Idee ist also wahr,
ist also wahr, und und wenngleich
wenngleich wwir i r wissen,
wissen, dass
dass inin
der N
der a t u r niemals
Natur niemals eine eine Kugel
Kugel auf auf diese Weise entstanden ist,
Weise entstanden ist,
so besitzen
so besitzen wir w i r in iihrh r dennoch
dennoch eine eine wahrhafte Erkenntnis und
wahrhafte Erkenntnis und
die leichteste Art,
die leichteste den B
Art, den e g r i f f der Kugel
Begriff Kugel zu bilden. 21)
zu bilden.‘“2)
So führt
So führt der Weg jetzt
der Weg jetzt nicht
nicht m mehr äusseren Wirklich‑
von der äusseren
e h r von Wirklich-
keit, die
keit, die wir w i r in der Wahrnehmung erfassen, zum Begriff, sondern
der Wahrnehmung erfassen, zum Begriff, sondern
umgekehrt sollen
umgekehrt sollen in dem dem giltigen Begriff die Merkmale
giltigen Begriff aufgewiesen
Merkmale aufgewiesen
werden,
werden, die die uuns n s der Realität seines Gegenstandes
der Realität versichern. D
Gegenstandes versichern. Die ie
Spuren zu
ersten Spuren
ersten dieser Umbildung
zu dieser Gesamtansicht lassen
Umbildung der Gesamtansicht lassen sich
sich
bereits in den
bereits den Verbesserungen
Verbesserungen und Zusätzen nachweisen,
und Zusätzen nachweisen, die die
Spinoza in späterer
Spinoza späterer ZeitZeit -‐ kurz kurz vor der Abfassung der Abhand‑ Abhand-
Der Begriff
Der der Wahrheit.
Begrif der Wahrheit. 13
13

lung über die


lung über Verbesserung des
die Verbesserung Verstandes ‐ dem
des Verstandes dem „Kurzen
„Kurzen
Traktat'
Traktat‘‘ selbst hinzugefügt hat.
selbst hinzugefügt hate Wenn Versteben ı1
We n n zuvor das Versteben
schlechthin
schlechthin als das Gewahrwerden
als das Gewahrwerden der äusseren Existenz
der äusseren Existenz in der
Seele, also
Seele, also als eine Wirkung
als eine Wirkung desdes Körpers
Körpers auf den Geist definiert
den Geist
worden war,
worden war, soso ttritt jetzt deutlich
r i t t jetzt deutlich hervor,
hervor, dass auf diesem
dass auf diesem Wege
Wege
zum mindesten
zum eine in sich
mindesten eine selbst völlig
sich selbst gewisse und
völlig gewisse und adaequate
adaequate
E r k e n n t n i s nicht
Erkenntnis n i c h t zzu
u erreichen
e r r e i c h e n ist.
ist. Der
D G e i s t vermöchte
e r Geist v e r m ö c h t e alsdann
alsdann
immer
immer n nuru r die Zuständlichkeiten des einzelnen,
momentanen Zuständlichkeiten
die momentanen einzelnen, in‑ in-
dividuellen Körpers,
dividuellen Körpers, auf auf denden er bezogen und
er bezogen und m miti t dem
dem er er „ver‑
„ver-
knüpft ist,
knüpft“ abzubilden; er
ist, abzubilden; er könnte
könnte somitsomit zwar einen einen bestimmten
bestimmten
Modus
Modus des Seins in vereinzelten
des Seins Beziehungen erfassen,
vereinzelten Beziehungen erfassen, nichtnicht aber
zu einer
zu Gesamtanschauung des
einer Gesamtanschauung des Alls
Alls uund seiner allgemeinen
n d seiner allgemeinen
dauernden Gesetze
dauernden Gesetze sich erheben.*?) Soll
sich erheben.%) Soll dies möglich möglich sein, sein, so SO
w i r d eine Erkenntnisart erfordert, die nicht
wird eine Erkenntnisart erfordert, die nicht von den Teilen zum v o n den Teilen z u m
Ganzen fortgeht, sondern
Ganzen fortgeht, sondern von von der Idee dder
der Idee unendlichen Totalität
e r unendlichen
aus, die
aus, die sie
sie anan die Spitze stellt,
die Spitze Einzelne bestimmt
das Einzelne
stellt, das bestimmt und und ab‑ ab-
leitet.
leitet. In In dieser A Art
r t der
der Einsicht
Einsicht ist ist der Verstand
Verstand nicht bedingt,
nicht bedingt,
sondern bedingend.
sondern bedingend. Jetzt Jetzt ersterst hat die „Idee“
hat die „Idee" diejenige Bedeutung Bedeutung
gewonnen, die
gewonnen, die iihr
h r im reifen System Spinozas
reifen System Spinozas zukommt. zukommt. Die Die
Idee ist
Idee ist nicht
nicht dem stummen Bild
dem stummen Bild aufauf einer Tafel Tafel gleich
gleich zu zu er‑
er-
achten, sondern
achten, sondern sie sie entsteht
entsteht erst erst inin der Bejahung oder
der Bejahung oder Vernei‑
Vernei-
nung.
nung. So muss sie
So muss sie eher
eher Begriff
Begrift als als Bild,
Bild, eher „conceptus“
„conceptus" als
„perceptio“
„perceptio" heissen, heissen, weil durch diese
weil durch diese Bezeichnung
Bezeichnung allein allein zum zum
Ausdruck kommt,
Ausdruck kommt, dass dass sie
sie nichts
nichts vonvon aussen Gegebenes ist,
aussen Gegebenes ist, son‑
son-
dern rein
dern rein dem dem Geiste selbst ihren
Geiste selbst Ursprung verdankt.®)
ihren Ursprung verdankt.2) Der Der
neue Wahrheitsbegrift fordert nunmehr
n e u e Wahrheitsbegrift nunmehr eine eine neue neue Gestaltung
Gestaltung der
Metaphysik.)
Metaphysik.») Der höchste Punkt.
Der höchste Punkt. vvon o n dem
dem alle alle Metaphysik
Metaphysik
ihren Anfang nehmen
ibren Anfang nehmen muss, muss, kann nirgends anders
kann nirgends anders gesucht
gesucht wwer- er‑
den,
den, als als „„in Erkenntnis dessen,
i n der Erkenntnis dessen, was was diedie FormForm der Wahrheit
der Wahrheit
selbst ausmacht“, also
selbst ausmacht, also in der der Erkenntnis
Erkenntnis des des Versiandes
Verstandes uund nd
seiner Beschaffenheiten und Kräfte. „Denn
seiner Beschaffenheiten und K r ä f t e .„Denn ist diese einmal ge- ist diese einmal ge‑
wonnen, so
wonnen, so besitzen
besitzen w das Fundament,
wiri r das Fundament, von von dem dem w wiri r unsere
unsere
Gedanken ableiten
Gedanken ableiten können
können und und kennen
kennen den den Weg, Weg, auf auf welchem
welchem
der Verstand,
der Verstand, soweit Fähigkeit reicht,
seine Fähigkeit
soweit seine reicht, zzur Einsicht der
u r Einsicht
ewigen Dinge
ewigen Dinge zu gelangen vvermag,
zu gelangen e r m a g&) . “ Jetzt
?) erst ist
Jetzt erst ist in einer Selbst‑Selbst:
berichtigung
berichtigung u n d Umgestaltung
und Umgestaltung des des früheren
früheren AnsatzesAnsatzes der der Salz
Satz
erreicht,
erreicht, vvon o n dem
dem D e s c a r t e s in
Descartes in denden „Regeln“
„Regeln" seinen seinen Ausgang
Ausgang
nicht die
n i m m t : nicht
nimmt: die Dinge draussen, te
Dinge draussen, sondern der Intellekt Intellekt bildet bildet 5
14
14 Spinoza.
Spinoza.

das
das erste erste Objekt
Objekt aller philosophischenphilosophischen Besinnung. Besinnung. Der Der Schritt
Schritt
vvono n der passiven, hingegebenen
der passiven, hingegebenen Anschauung Anschauung der N Na a ttuurr zur
zur Re‑Re-
flexion über
flexion über die die Grundlagen
Grundlagen und und Verfahrungsweisen
Verfabrungsweisen des des Wissens
Wi s s e n s
ist getan.)
ist getan.20,
A f r e i l i c h : nnicht
b e r freilich:
Aber b e s c h r ä n k t e s und
u n s e r beschränktes
i c h t unser u n d zusammen‑
zusammen-
hangsloses
hangsloses E r f a h r u n g s w i s s e n , noch
Erfahrungswissen, noch auch auch die die A Artr t und
und Technik
Technik
der gewöhnlichen
gewöhnlichen schulmässigen schulmässigen LLogik o g i k darf hier bier die die Norm
Norm bbil-i l ‑
dden. Das scholastische
e n . Das scholastische Verfahren Verfahren der Begriffsbildung
Begriffsbildung teilt teilt m miti t
der biossen Empirie, zu
der blossen Empirie, zu der es sich scheinbar der es sich scheinbar in Gegensatz
Gegensatz stellt, stellt,
dennoch einen
dennoch einen entscheidenden
entscheidenden Grundzug: Grundzug: es es suchtsucht durch d u r c h Ver‑
Ver-
gleichung des Einzelnen „abstrakten“
gleichung des Einzelnen zur „abstrakten" Erkenntnis des Allge-
z u r Erkenntnis des Allge‑
meinen zu
meinen gelangen. Aber
zu gelangen. Aber was was iihm übrig bleibt,
h m übrig bleibt, indem indem es es auf
auf
diese Weise
diese Weise die die mannigfach verschiedenen Bilder der besonderen
mannigfach verschiedenen besonderen
Dinge
Dinge ineinander
ineinander fliessen fliessen lässt:lässt: das ist ist nicht
nicht sowohlsowohl eine eine allge‑
allge-
meine,
meine, wie eine eine verschwommene und und unklare
unklare Gesamtvorstellung.
Gesamtvorstellung.
Die blosse
.. Die Vergleichung des
blosse Vergleichung des Einzelnen
Einzelnen lehrt lehrt uns uns nicht nicht die die Be‑
Be-
d i n g u n g e n und
dingungen und Gründe Gründe kennen, kennen, aus denen es
aus denen es sich
sich konstituiert
konstituiert
und aufbaut.°)
und aufbaut. ° ) Hier Hier gilt gilt es es daher
daher den den entgegengesetzten
entgegengesetzten Weg We g
einzuschlagen. Das
einzuschlagen. besondere individuelle
Das besondere individuelle Sein Sein muss muss als solches
in seiner vollen Bestimmtheit
seiner vollen Bestimmtheit und und Eigenart festgehalten, zugleich
Eigenart festgehalten, zugleich
aber als
aber als das Produkt notwendiger
das Produkt notwendiger und universaler Gesetze
und universaler G e s e t z e be‑be-
griffen werden.
griffen werden. W Wir i r dürfen
dürfen es somit nicht
es somit schlechthin als festes
nicht schlechthin
Datum
Datum hinnehmen,
h i n n e h m e n , sondernsondern müssen müssen es es aus seinen Grundfaktoren
aus seinen Grundfaktoren
konstruktiv erschaffen.
konstruktiv erschaffen. Erst Erst indem
indem w wir es innerhalb
i r es innerhalb dieser not‑ not-
wendigen n ü p f u n g erblicken,
wendigen Verknüpfung erblicken, haben wir eine wahre und
V e r k haben w i r eine wahre u nd
adäquate Idee
adäquate seines Seins
Idee seines Seins gewonnen. gewonnen. Alles wahrhaft
wahrhaft produk- produk‑
tive
tive E Erkennen
r k e n n e n ist ist daher
d a h e r synthetisch;
s y n t h e t i s c h ; es es geht
geht vvon o n „einfachen“
„einfachen"
Urelementen
Urelementen aus, aus, um um sie sie in bestimmter,
bestimmter, gesetzlicher Weise Weise zu zu
verknüpfen und
verknüpfen u n d ddadurcha d u r c h zu Inhalten des Wissens
neuen Inhalten
zu neuen Wissens zu zu be‑
be-
stimmen. Nur
stimmen. dasjenige, was auf
Nur dasjenige, diese Weise
auf diese Weise aus aus dem dem Denken
Denken
selbst hervorgeht, vermag
selbst hervorgeht, vermag das das Denken vollkommen zu
Denken vollkommen zu begreifen.
begreifen.
•- Die
Die LLehre e h r e vvon on d er D
der e fi n i t i o n , die Spinoza
Definition, Spinoza iinn der der Ab‑
Ab-
Ar handlung
handlung über über die Verbesserung des
die Verbesserung Verstandes entwickelt,
des Verstandes entwickelt, er‑ er-
gibt sich
gibt sich von von hier hier aus aus m miti t innerer Folgerichtigkeit. Ein
innerer Folgerichtigkeit. Ein Gebilde
Gebilde
„definieren" heisst
„definieren“ heisst nicht, nicht, die besonderen Merkmale,
die besonderen Merkmale, die an an iihmhm
hervortreten, nacheinander
hervortreten, nacheinander aufsuchen aufsuchen uund n d beschreiben,
beschreiben, sondern sondern
sie
sie vvoro r denden AugenAugen des des Geistes
Geistes in fester gesetzlicher Folge
fester gesetzlicher Folge ent‑ ent-
stehen lassen. Jede
stehen lassen. Jede echte wissenschaftliche Definition
echte wissenschaftliche Definition ist ist daber
daher
Die Bedingungen
Die der Definition.
Bedingungen der Definition. 15
15

genetisch; sie bildet


genetisch; sie bildet nicht
nicht bloss bloss ein Objekt ab,
ein vorhandenes Objekt ab,
sondern deckt
sondern deckt die
die G
Gesetzlichkeit einer B
e s e t z l i c h k e i t sseiner i l d u n g selbst
Bildung selbst auf.
auf.
So ist
So ist eses z. z. B. genug, den
nicht genug,
B. nicht den Kreis als eine Figur
Kreis als F i g u r zu zu erklären,
erklären,
in welcher alle alle Punkte
Punkte vvon o n einem gemeinsamen Mittelpunkt
einem gemeinsamen Mittelpunkt
gleich weit
gleich weit entfernt sind; denn
entfernt sind; denn was hier bezeichnet
was hier bezeichnet wird, wird, das ist ist
n u r eine
nur eine einzelne des Kreises,
einzelne E i g e nnsscchhaafftt des Kreises, die aber keineswegs
die aber keineswegs
seine begriffliche
seine begriffliche We ausmacht. Die
We sseennhheeiitt ausmacht. D i e letztere
l e t z t e r e w i r dd erst
erst
erfasst, wenn
erfasst, wenn w i r die
wir die Regel
Regel der der K o n s t r u k t i o n des Kreises
Konstruktion Kreises an‑ an-
geben, wenn
geben, wenn w i r iihn
wir h n also
also als diejenige geometrische Gestalt
als diejenige Gestalt eer-r ‑
klären, die
klären, durch die
die durch die Bewegung
Bewegung einer Geraden um
einer Geraden um einen einen ihrer
ihrer
Endpunkte, der als fest wird,
Endpunkte, der als fest gedacht wird, entsteht.2) Der allgemeine
gedacht entsteht.?®2) Der allgemeine
Grundgedanke, der
Grundgedanke, der bei
bei dieser Unterscheidung massgebend
dieser Unterscheidung massgebend ist, ist,
tritt in dem
tritt dem Beispiel
Beispiel klar hervor. Keine
klar hervor. Keine der beidenbeiden Definitionen
Definitionen
des Z
des Zirkels
i r k e l s scheint
scheint ‐ - v o m rein
vom technischen Standpunkte
rein technischen Standpunkte der der
Mathematik
Mathematik -‐ einen einen Vorzug
Vorzug vor der anderen anderen zu besitzen. IIhr
zu besitzen. hr
Unterschied ist
Unterschied ist lediglich logischer und
lediglich logischer methodologischer Art.
und methodologischer Art.
Gehen w
Gehen wir von irgend
i r von irgend einer einzelnen
einzelnen E i g e n s c h a f t eines geo‑
Eigenschaft geo-
metrischen
metrischen Gebildes Gebildes aus,aus, umum sie Erklärung zu
zur Erklärung
sie zur verwerten, so
zu verwerten, so
muss es
muss es zunächst fraglich bleiben,
zunächst fraglich bleiben, obob die
die Forderung,
Forderung, die die in der der
Definition gestellt wird,
Definition gestellt wird, real e r f ü l l b a r ist,
real erfüllbar ist, ob
ob also
also der
der Inhalt,
Inhalt,
der
der hierhier gesetzt wird, anschaulich
gesetzt wird, anschaulich möglich möglich ist. ist. Und
Und selbst
selbst wenn
wenn
w u n s dessen
wiri r uns versichert haben,
dessen versichert haben, so so bliebe
bliebe noch immer die Frage
noch immer Frage
offen, ob
offen, durch die
ob durch Bedingung, die
die Bedingung, die w formuliert haben,
i r formuliert
wir haben, eine
eine
einzelne charakteristische
einzelne charakteristische Gestalt bezeichnet und
Gestalt bezeichnet abgegrenzt
und abgegrenzt
wird,
wird, oderoder aber
aber ob ob es es eine übrigens verschiedener
Mehrheit übrigens
eine Mehrheit verschiedener Figu‑
Figu-
die sämtlich
gibt, die
ren gibt,
ren sämtlich das das verlangte Merkmal Merkmal aufweisen.
aufweisen. Der Der
löst uund
A k tt dd ee r K o n ssttrr uukkttii oo nn löst beseitigt diesen
n d beseitigt diesen Zweifel.
Zweifel. HierHier
entsteht uuns
entsteht die Figur
n s die Figur nichtnicht als abstrakter Gattungsbegriff,
als abstrakter Gattungsbegriff, son‑son-
e r n in eindeutiger
ddern eindeutiger konkreter Bestimmtheit; bier
konkreter Bestimmtheit; wird eine
hier wird eine all‑
all-
gemeingültige Regel
gemeingültige gesetzt, aus der dennoch
Regel gesetzt, aus der dennoch ein allseitig be‑ ein allseitig be-
stimmtes,
stimmtes, sspezifisches hervorgeht. So
Sein hervorgeht.
p e z i fi s c h e s Sein So lehrt n s das
lehrt uuns Ver-
das Ver‑
fahren
fahren der Geometrie eine
der Geometrie Mannigfaltigkeit individueller
eine Mannigfaltigkeit individueller Inhalte
Inhalte
kennen,
kennen, die die dennoch
dennoch gemäss gemäss einem universellen Gesetz
einem universellen Gesetz entstan‑
entstan-
den sind.
den sind. ErstErst damit
damit aber aber w wird es zzum
i r d es Vorbild der
wahren Vorbild
u m wahren
Metaphysik. Die Aufgabe derMetaphysik besteht nicht darin,
Metaphysik. Die Aufgabe der Metaphysik besteht nicht darin,
vielfältige lebendige
das vielfältige
das lebendige Sein der Erscheinungen
Sein der Erscheinungen auf leere leere Gat‑
Gat-
tungsbegriffe
tungsbegrifie zu zu reduzieren,
reduzieren, sondernsondern es es in seiner natürlichen Ab‑
seiner natürlichen Ab-
folge
folge aus aus seinen
seinen realen erzeugenden Bedingungen
realen erzeugenden Bedingungen zu zu begreifen
begreifen
16
16 Spinoza.
Stino za.

uund zu entwickeln.
n d zu entwickeln. Erst Erst wenn dieser Methode
kraft dieser
w e n n kraft Methode das Beson‑ Beson-
dere a l s Besonderes e r k a n n t ,
dere a s B e s o n d e r e s e a n n t , wenn ihm innerhalb des Ge‑
wenn i h m innerhalb des Ge-
samtzusammenhangs der Natur
samtzusammenhangs Natur die die eindeutige
eindeutige Stelle bezeichnet ist,
Stelle bezeichnet ist,
an der es
an steht und
es steht und entsteht,
entsteht, ist ist das Ziel Ziel der philosophischen
philosophischen
Erkenntnis r r e i c h t . ) Die
Erkenntnis eerreicht.) Die O r d n u n g , die
Ordnung, die auf diese Weise
auf diese Weise vor vor
uns hintritt, ist keine blosse Ordnung
uns hintritt, ist keine blosse Ordnung des Denkens, sondern diedes Denkens, sondern die
Eine, in
Eine, sich vollkommen
in sich vollkommen bestimmte bestimmte Ordnung Ordnung des Seins. In‑
des Seins. I n -

dem der
dem Verstand den
der Verstand den Weg Weg von von den einfachen Bedingungen
den einfachen Bedingungen zzum um
zusammengesetzten
zusammengesetzten Bedingten Bedingten verfolgt, entwirft er damit
verfolgt, entwirft damit zugleich
zugleich
das reine
das Bild der
reine Bild der Wirklichkeit.
Wirklichkeit. Die Die Ideen müssen derart
Ideen müssen derart ver‑ver-
knüpft
knüpft und geordnet werden,
und geordnet werden, dass dass unserunser Geist, soweit es
Geist, soweit es iihm
h m ge‑
ge-
geben ist,
geben sich die
ist, in sich Realität der Natur,
die Realität sowohl im
Natur, sowohl im Ganzen,
Ganzen, wie wie
ihren Teilen,
in ihren Teilen, wiedergibt
wiedergibt ((ut mens nostra
u t mens referat objective
nostra .• . referat objective
formalitatem naturae
formalitatem' naturae qquoad totam et
u a d totam et quoad
quoad ejus partes).30) So
ejus partes).®) So
bleibt hier
bleibt hier diedie Aristotelische
Aristotelische Definition Definition der Wissenschaft,
Wissenschaft, dass dass
sie die
sie Erkenntnis der Wirkungen
die Erkenntnis Wirkungen aus a u sden Ursachen sei,
den Ursachen sei, in Kraft;
Kraft,
aber was Spinoza
aber Spinoza hinzufügt
hinzufügt und und was er selbst als
er selbst als notwendige
notwendige
Ergänzung ausdrücklich hervorhebt,
Ergänzung ausdrücklich hervorhebt, ist ist dies: dass der Geist
dies: dass Geist in
diesem Fortschritt
diesem Fortschritt vvon o n den Ursachen zur Wirkung
den Ursachen Wirkung nicht von von
durch die
aussen durch
aussen Dinge bestimmt
die Dinge bestimmt und bezwungen wird,
und bezwungen wird, sondern
sondern
lediglich
lediglich dem dem eigenen
eigenen logischen Gesetze folgt.
logischen Gesetze folgt. DieDie Seele
Seele istist ein
ein
„geistiger
»geistiger A u
u t o m
m aa tt"“ ,
, der
der frei
frei und
und dennoch
dennoch gesetzmässig
gesetzmässig nach
nach
.... bestimmten, innewohnenden Regeln
h m innewohnenden
bestimmten, iihm Regeln tätig ist.)
tätig ist,31)
Damit
Damit ist das theoretische
ist das theoretische Hauptziel
Hauptziel erreicht:
erreicht: die die Ver‑Ver-
knüpfung
knüpfung der Glieder Glieder des des realen
realen Seins ist ist in einein System
System notwen‑
notwen-
diger Denkakte
diger Denkakte aufgelöst.
aufgelöst. Die Die Gleichsetzung
Gleichsetzung vvon o n Realgrund
Realgrund und und
Erkenntnisgrund,
Erkenntnisgrund, von causa und
von causa und ratioratio ist: vollzogen. Die
ist vollzogen. Die Ver‑
Ver-
mittlung zwischen den
mittlung zwischen den beiden Gegengliedern erfolgt
beiden Gegengliedern indessen nicht
erfolgt indessen nicht
derart, dass
derart, dass - ‐ wie wie es es zunächst
zunächst zu zu erwarten stünde stünde -‐ der physi‑ physi-
kalische U r s aacchheennbbeeggr ir fi f f gänzlich
kalische gänzlich iinn den den mathematischen
mathematischen
F u n k t i o n ssbbeeggrri iff aufgelöst würde;
f f aufgelöst sondern dadurch,
würde; sondern dadurch, dass die
Mathematik
Mathematik selbst selbst dden en B Begriff
e g r i f f dder
er U Ursache
r s a c h e in ssich ich a auf-
uf‑
u iim m
w mtt.. So fremdartig diese
So fremdartig diese Lösung
Lösung uns uns auf auf den ersten Blick
den ersten Blick
verühren mag,
berühren mag, so notwendig ist
so notwendig ist siesie in den Voraussetzun-
ersten Voraussetzun‑
den ersten
gen der
gen Methodenlehre Spinozas
der Methodenlehre Spinozas gegründet.
gegründet. Denn Denn iihmh m erscheint
die Mathematik nirgends
die Mathematik nirgends im im Lichte
Lichte der reinen reinen AAnalysis, son-
n a l y s i s , son‑
dern ddurchaus
dern u r c h a u s im
i m Sinne
Sinne derder G eeoom meettrriiee:: i h m
m ist sie daher
ist sie nicht
d a h e r nicht
die abstrakte Wissenschaft von
die abstrakte Grösse und
von Grösse und Zahl,
Zahl, sondern
sondern ein ein
Die metaphysische
Die metaphysische Bedeutung
Bedeutung der geometrischen Methode.
der geometrischen Methode. 17

synthetisches Gestalten
synthetisches Gestalten und Bilden. So
und Bilden. lässt es
So lässt sich verstehen,
es sich verstehen,
dass mathematischen Objekte, die sonst v o n Spinoza
dass die mathematischen Objekte, die sonst von Spinoza stets
die stets als
der Typus des E w i g e n und Ungewordenen betrachtet
der Typus des Ewigen und Ungewordenen betrachtet werden, werden,
hhier geradezu den
i e r geradezu Dinge" annehmen,
Charakter „geschaffener Dinge“
den Charakter annehmen, die‑
die.
ihrer „nächsten
aus ihrer
aus „nächsten Ursache“
Ursache" (causa proxima) zu
(causa proxima) zu begreifen
begreifen ssind
ind
Ungeworden
Ungeworden im strengen strengen und eigentlichen Sinne
und eigentlichen ist n u rr der IIn-
Sinne ist n‑
h der obersten
a l t der
halt obersten Definition,
Definition, der der lediglich
lediglich aus aus der eigenen
eigenen W We-e ‑
s eennhheeiitt des Begriffs, nicht
des Begriffs, nicht aus einer ihm
aus einer selbst fremden
i h m selbst fremden Bedin‑
Bedin-
gung zu
gung begreifen ist;
zu begreifen alles Abgeleitete
ist; alles Abgeleitete ist ist dagegen „,erzeugt", weil
dagegen „erzeugt“, weil
durch fortschreitende
durch fortschreitende Determination
Determination aus aus dem ersten Prinzip
dem ersten Prinzip her‑her-
vorgegangen. So
vorgegangen. So knüpft
knüpft der Prozess Prozess des Folgerns
geometrischen Folgerns
des geometrischen
alles Sein an
alles an diese höchste Wesenheit
diese höchste Wesenheit selber seiber an an und
und macht
macht da‑ da-
h
here r erst innere metaphysische
seine innere
erst seine metaphysische GliederungGliederung verständlich.
verständlich. Die Die
Mathematik
Mathematik besitzt besitzt hier
hier eine andere und
eine andere weitergreifende Bedeu‑
und weitergreifende Bedeu-
tung,
tung, als als iibr bei Descartes
h r bei D e s c a r t e s und G a l i l e i zukam.
und Galilei zukam. Wenn Wenn Des‑ Deg-
cartes alle
cartes physikalische Wirklichkeit in rein
alle physikalische rein geometrische
geometrische Be‑ Be-
stimmungen auflöst,
stimmungen auflöst, so so versäumt
versäumt er er doch
doch nichtnicht hervorzuheben,
hervorzuheben,
dass es
dass es sich ihm hierbei
sich ihm nicht um
hierbei nicht um die Ordnung des Seins,
die Ordnung Seins, son‑son-
dern u m die
dern um die Ordnung derOrdnung der E r k e n n t n i s handelt,
n i s handelt, dass nicht die
nicht die
Wesenheit der
innere Wesenheit
innere der Sachen,
Sachen, sondernsondern die Stellung der
logische Stellung
die logische
Begriffe
Begriffe es es ist, die er
ist, die er im AugeAuge hat. hat. Die dynamischen
Die dynamischen Verhält‑Verhält-
nisse des
nisse des Realen Verhältnisse der Ausdehnung
werden in Verhältnisse
Realen werden Ausdehnung umge‑ umge-
setzt: nicht
setzt: nicht um damit ein
um damit neues absolutes
ein neues absolutes Sein Sein willkürlich
willkürlich ein‑ ein-
zzuführen, sondern um
u f ü h r e n , sondern u m diedie Beziehungen
Beziehungen zwischen zwischen den den P hh ää nnoo..
m e nneenn zu zu begrifflicher Bestimmtheit
Bestimmtheit und Klarheit zu
und Klarheit zu bringen‑
bringen-
(S. B
(S. d. I, S
Bd. S. 390 ff.) Für
. 390ff.) Spinoza gibt
F ü r Spinoza gibt es keine derartige
es keine derartige Be‑ Be-
schränkung; die
schränkung; die wahrhafte Verknüpfung der
wahrhafte Verknüpfung der Begriffe trägt die
Begriffe trägt die
GGewähr
e w ä h r der absoluten Realität der Objekte
absoluten Realität Objekte unmittelbar
unmittelbar in sich. sich.
D
Die i e strenge,
strenge, durch durch sich sich selber
selber bestimmte
bestimmte Folge Folge derder Gedanken,
Gedanken,
die
d Art, wie
i e Art, wie der eine eine aus
aus dem anderen deduktiv erwächst,
dem anderen erwächst, spie‑spie-
gelt den
gelt den realen Prozess wider,
realen Prozess wider, kraft kraft dessen
dessen die Einzeldinge
Einzeldinge ins ins
Dasein
D a s e i n treten.®2)
treten.82)
Der
Der Wert Wert und und die Bedeutung jeglicher
die Bedeutung Einzelerkenntnis
jeglicher Einzelerkenntnis
muss daher danach
muss daher danach bemessen werden, wie weit
bemessen werden, h r jener
weit in iihr jener all‑
all-
gemeine Grundcharakter
gemeine Grundcharakter schöpferischer schöpferischer Tätigkeit Ausdruck
zum Ausdruck
zum
gelangt. Die
gelangt. Die Unterscheidung
Unterscheidung der verschiedenen Erkenntnisstufen,
der verschiedenen Erkenntnisstufen,
d i e schon
die schon im „kurzen Traktat“ durchgeführt
„kurzen Traktat" durchgeführt war, gewinnt hier war, hier
einen neuen
einen Sinn. Das
neuen Sinn. Das Wissen,
Wissen, das aus dem
das aus dem blossen
blossen Hörensagen
Hörensagen
18
18 Spinosa.
Spinoza.

oder aus irgend


oder aus irgend einer unbestimmten Erfahrung quillt,
unbestimmten Erfahrung ist ledig‑
quillt, ist ledig-
i c h passiv;
llich passiv; es es kann
kann n uurr wiedergeben,
wiedergeben, was was iihmh m vvon aussen, durch
o n aussen, durch
fremde
fremde Autorität
Autorität oderoder durch durch die AutoritätAutorität der Sinne aufgedrun‑
der Sinne aufgedrun-
gen wird.
gen wird. Ein Ein derartiges
derartiges Wissen Wissen ist kein selbständiges
ist kein selbständiges Werk Werk des
Geistes, sondern
Geistes, sondern ein ein Produkt
Produkt der der Einbildungskraft,
Einbildungskraft, die die bei
bei der der
Betrachtung
Betrachtung eines einzelnen Zustandes
eines einzelnen verweilt. Die
Zustandes verweilt. Die Freiheit
Freiheit und und
Eigentümlichkeit des
Eigentümlichkeit des Verstandes bekundet bekundet sich sich erst erst auf der
nächsthöheren
nächsthöheren Stufe Stufe der der rationalen
rationalen Schlussfolgerung,
Schlussfolgerung, in der der das
Einzelne
Einzelne einem einem allgemeingültigen
allgemeingültigen Gesetz untergeordnet erscheint
Gesetz untergeordnet erscheint
und
und aus aus iihm abgeleitet wird.
h m abgeleitet wird. Den Den höchsten
höchsten Grad Grad der der Gewissheit
Gewissheit
aber erreicht
aber erreicht wiederum
wiederum die die IIntuition,
n t u i t i o n , indem
indem sie sie das Besondere
Besondere
dem Allgemeinen
dem Allgemeinen nicht nicht nnur u r subsumiert,
subsumiert, sondern sondern BeidesBeides in einem einem
_einzigen
einzigen Blicke zusammenfasst; indem
Blicke zusammenfasst; indem sie sie somit
somit die die Prinzipien
Prinzipien
alles Seins nicht
alles Seins nicht nurn u r in in abstrakter Betrachtung isoliert,
abstrakter Betrachtung isoliert, sondern
sondern
sie
sie in ihrer
ihrer unmittelbaren Wirksamkeit ergreift und
unmittelbaren Wirksamkeit ergreift und auf diese
Weise
Weise die durchgehend bestimmte,
die durchgehend bestimmte, einmalige einmalige Ordnung Ordnung des des Ge‑ Ge-
schehens überschaut.3)
schehens überschaut.3g) Jetzt ist es kein Jetzt ist es kein fremdes mehr,
Sein mehr, dem
Sein dem
der Geist
Geist sich sich in in der Intuition
Intuition zu zu Eigen
Eigen gibt; gibt; sondern
sondern sie sie be‑ be-
deutet nichts anderes, als seine
deutet nichts anderes, als seine höchste Selbstbetätigung,höchste Selbstbetätigung, in der
der
die eigene Wesenheit
die eigene Wesenheit ihm i h m erst vollkommen
vollkommen durchsichtig
durchsichtig wird. wird.
So erscheint in der echten
So erscheint echten Erkenntnis
Erkenntnis auch auch allesalles Einzelne
Einzelne
und Zufällige
und Zufällige ins „Licht des
ins „Licht des Ewigen“ gerückt.34) Denn
Ewigen" gerückt.) Denn die die De‑ De-
y dukti
duktion, on, die die hier
hier gefor
gefordert dert wird,
wird, will will nicht
nicht dem Fortgang
dem Fortgang des des
empirisch zufälligen
empirisch zufälligen Geschehens und und der besonderen
besonderen Ursachen Ursachen
nachgehen, sondern
nachgehen, sondern eine eine andere Richtung der
andere Richtung Betrachtung ein‑
der Betrachtung ein-
schlagen. „Was
schlagen. „Was diedie Ordnung
Ordnung angeht, angeht, in der all
in der unsere Erkennt‑
all unsere Erkennt-
nisse
nisse einheitlich
einbeitlich zu zu verknüpfen
verknüpfen sind, sind, so gilt es
so gilt zunächst zu
es zunächst zu eer-r ‑
forschen,
forschen, ob ob eses ein Wesen gibt
ein Wesen gibt und und vvon o n welcher A Artr t es
es ist,
ist, das
die
die Ursache
Ursache aller aller Dinge
Dinge bildet: bildet: derart,
derart, dassdass sein Denken zugleich
sein Denken zugleich
die Ursache
die Ursache aller unserer unserer Ideen Ideen ist ist undu n d somit
somit unserunser Geist Geist die die
Natur
Natur so so vollkommen als möglich
vollkommen als möglich wiedergibt wiedergibt ....... Es ist jedoch
Es ist jedoch
zu bemerken, dass
zu bemerken, dass iich c h hier unter der
hier unter Reihe der
der Reihe Ursachen und
der Ursachen und
d e r realen
der We s e n b e i t e n n
r e a l e n Wesenheiten n i c hh tt dd iee Re eih h ee ddee rr v e
e rr ä
ä nn ddeerrll i cc h e
e nn
E i n z e l d i n g e , ssoonnddeerrnn d
Einzeldinge, ie d
die dere r ffesten
e s t e n uundnd e wigen D
ewigen Dingeinge
verstehe. Denn
verstehe. Denn die Reihe der veränderlichen
die Reihe veränderlichen Einzeldinge
Einzeldinge voll‑ voll-
ständig zu
ständig zu verfolgen,
verfolgen, ist eine Aufgabe,
ist eine Aufgabe, die die Fassungsgabe
die die Fassungsgabe des
menschlichen
menschlichen Geistes Geistes übersteigt,
übersteigt, teils teils wegen
wegen der unzählbarenunzählbaren
Menge
Menge dieser dieser Dinge,
Dinge, teils wegen der unendlich
teils wegen unendlich mannigfaltigen
mannigfaltigen
Die „festen und
Die „festen und ewigen Dinge."
ewigen Dinge.“ 19
19

Umstände,
Umstände, die die jedes einzelne
einzelne vvono n ihnen bedingen. Es
ihnen bedingen. Es ist
ist aber
aber
auch nötig, dass
auch garnicht nötig, dass wir diese Reihe
w i r diese Reihe vollkommen
vollkommen über‑ über-
blicken; denn was
blicken; denn was uns geboten würde,
damit geboten
uns damit würde, sindsind doch
doch immer
immer
n äusserliche Bestimmungen,
u r äusserliche
nur Bezeichnungen und
Bestimmungen, Bezeichnungen und Nebenum‑
Nebenum-
stände, die
stände, die uns das innere
uns das innere Wesen
Wesen der Dinge nicht
der Dinge nicht erschliessen
erschliessen
würden.
würden. Dieses
Dieses ist aus den
ist vielmehr n uurr aus den f ee s t eenn u nn dd e
e w i g eenn
D i n g e n abzuleiten
Dingen abzuleiten und aus den
und aus Gesetzen, die in diesen,
den Gesetzen, diesen, als in
ihren wahren Gesetzbüchern,
ihren wahren Gesetzbüchern, eingeschrieben
eingeschrieben sindsind und und gemäss
denen
denen alles alles Einzelne geschieht und
Einzelne geschieht geordnet wird:
und geordnet hängen doch
wird: hängen doch
ddie wandelbaren Einzeldinge
i e wandelbaren Einzeldinge so so innerlich
innerlich und und wesentlich
wesentlich vvon on
jenen festen
jenen festen Dingen Dingen ab, ab, dassdass sie ohne sie
sie ohne sie weder sein noch ge‑
sein noch ge-
dacht werden
dacht werden können. “ 3 ) Die
k ö n n e n ."8) Die Erklärung
Erklärung dieser Stelle hat
dieser Stelle hat den
den
Historikern
Historikern der der Philosophie
Philosophie von von jeher grösste Schwierigkeit
die grösste
j e h e r die
bereitet. Man
bereitet. Man hat hat die „festen uund
die „festen ewigen Dinge“,
n d ewigen Dinge", vvon o n denen
denen hier
die Rede
die Rede ist, ist, bald
bald den den Baconischen
Baconischen Formen, Formen, bald bald den den Attributen
Attributen
oder den
oder „unendlichen Modi“
den „unendlichen Modi" der Spinozistischen
Spinozistischen Ethik Ethik ver‑ver-
glichen, ohne
glichen, ohne jedochjedoch zu zu einer klaren und
einer klaren völlig eindeutigen
und völlig eindeutigen Be‑ Be-
griffsbestimmung gelangen
griffsbestimmung gelangen zu können,&) Dennoch
zu können.®) Dennoch kann kann der SinnSinn
und die
und die logische
logische TendenzTendenz vvon Spinozas Sätzen,
o n Spinozas Sätzen, wenn wenn m a n sie
man sie
im Zusammenhange
Zusammenhange mit m i t den vorangehenden Entwicklungen
den vorangehenden Entwicklungen der der
Abhandlung
Abhandlung über über die die Verbesserung
Verbesserung des Verstandes auffasst,
des Verstandes auffasst, nicht
nicht
fraglich sein.
fraglich sein. Schon Schon der der „kurze Traktat“ hatte
„kurze Traktat" zwischen das
hatte zwischen das Eine
Eine
uunendliche
n e n d l i c h e Urwesen
U r w e s e n und und die die wardelbaren
wardelbaren Einzeldinge
Einzeldinge eine eine be‑
be-
sondere Klasse
sondere Klasse vvon o n Wesenheiten eingeschoben, die
Wesenheiten eingeschoben, die diedie Vermitt‑
Vermitt-
u n g zwischen
llung zwischen ihnen ihnen bilden
bilden und und denden Uebergang
Uebergang von von einem
einem zzum um
andern ermöglichen
andern ermöglichen sollten. sollten. Schon Schon er spricht von Grundarten
von Grundarten
des Seins, die
des Seins, die u n mii t t eell bbaar,r, nicht
nicht durchdurch mannigfaltige
mannigfaltige causale causale
Zwischenglieder.
Zwischenglieder.aus Gott hervorgehen
aus Gott hervorgehen und die daher,
und die daher, wie er er selbst,
selbst,
unveränderlich
unveränderlich und und ewig
ewig sind. „Vondiesen
sind. „Von diesen Arten aber
Arten aber kennen wkennen wiri r
nnicht
i c h t mehr
m e h r als als zwei:
zwei: nämlich
n ä m l i c h die
die B Bewegung
e w e g u n g inin der Materie
Materie undund
dd ee nn Ve r s s t aa nndd in der der denkenden
denkenden Sache.«g7)
Sache.“s?) Fügt Fügt m mana n diese
diese Be‑
Be-
sstimmung
t i m m u n g den den Sätzen
Sätzen der der Abhandlung
Abhandlung über über diedie Verbesserung
Verbesserung des des
Verstandes
Verstandes ein: ein: so so w also gefordert,
i r d also
wird gefordert, dass dass wir,
wir, statt uns in die
statt uns die
Betrachtung dder
Betrachtung besonderen Bewegungserscheinungen
e r besonderen B e w e g u n g s e r s c h e i n u n g e n zu
zu ver‑
ver-
ssenken
e n k e n und und ihre empirische Abfolge festzustellen,
ihre empirische festzustellen, die die „Natur“
„Natur"
der Bewegung
der Bewegung selbst selbst als etwas in sich
als etwas sich Gleichförmiges
Gleichförmiges und und Blei‑
Blei-
bendes erfassen
bendes erfassen und und vvon o n dieser
dieser gemeinsamen
gemeinsamen Grundnatur zzur ur
Erkenntnis
Erkenntnis des Einzelnen fortschreiten.
des Einzeinen fortschreiten. Analog Analog soll aller psycho‑
soll aller psycho-
2*

220
0 Spinosa.
Stinosa.

logischen Einzelbeobachtung die


logischen Einzelbeobachtung Einsicht in
die Einsicht die „Wesenheit“
in die „Wesenheit" des des
Verstandes
Verstandes vorausgehen,
vorausgehen, aus aus der w wir sodann die
i r sodann die besonderen
besonderen Modi Modi
des Denkens
des Denkens -‐ zu zu denen
denen in Spinozas
Spinozas Sinne insbesondere die
Sinne insbesondere die AAf- f‑
•- ffekte gehören-‐ nach
e k t e gehören allgemeinen Regeln
nach allgemeinen Regeln ableiten.
ableiten. Es Es ist
ist somit
somit
nichts anderes, als
nichts anderes, als das strenge Ideal
das strenge Ideal der reinen D
der reinen e d u k t i o n , das
Deduktion, das
Spinoza hier
Spinoza noch einmal
hier noch einmal zzum prägnanten Ausdruck bringt.
u m prägnanten bringt. Alle Alle
wahrhafte Erkenntnis ist
wahrhafte Erkenntnis Erkenatnis „aus
ist Erkenutnis „aus den den Ursachen“,
Ursachen", ist ist so‑so-
m i t ‐ nach der ursprünglichen
mit - nach der ursprünglichen Bedeutung Bedeutung des Terminus - n rein
T e r m i ‐ u s
rein
aapprri o r i ss c h e Erkenntnis. In der
e Erkenntnis. u n e n d l i c h e n Mannigfaltigkeit
d e r unendlichen Mannigfaltigkeit
der vermöchten w
der Naturvorgänge vermöchten wir nirgends Fuss zu
Naturvorgänge i r nirgends Fuss zu fassen,
fassen, wennwenn
w i r darauf
wir angewiesen blieben,
darauf angewiesen sie einzeln
blieben, sie einzeln vor uns uns hinzustellen
hinzustellen
und
und in ihrem Zusammenhang und
causalen Zusammenhang
ihrem causalen und Ablaufzzu u beobachten.
beobachten.
Aber w wiri r kennen
kennen einen einen anderen
anderen Weg, Weg, den den M a t h ee m maattii kk uund nd
abstrakte
abstrakte M e c hh aanniikk u uns weisen. Auch
n s weisen. Auch sie schliessen die be‑
sie schliessen be-
sonderen, komplexen
sonderen, komplexen Bewegungsformen
Bewegungsformen von von ihrerihrer Betrachtung
Betrachtung
nicht
nicht aus, aus, aberaber sie entnehmen sie
sie entnehmen nicht der sinnlichen
sie nicht sinnlichen Wahr‑ Wa h r -
nehmung, sondern
nebmung, sondern gewinnen
gewinnen sie durch die
sie durch Synthese der ein‑
die Synthese ein-
fachen
fachen Grundelemente der Bewegung, die
der Bewegung, die sie kraft der
sie kraft der Definition
Definition
zuvor festgestellt
zuvor haben. Es
festgestellt haben. somit nicht
sind somit
Es sind nicht die die tatsächlichen,
tatsächlichen, in
der
der Welt Bewegungsvorgänge, sondern
stattfindenden Bewegungsvorgänge,
Welt stattfindenden sondern lediglich
lediglich
ddie allgemeinen und
i e allgemeinen speziellen Bewegungsgesetze,
und speziellen Bewegungsgesetze, auf auf diedie iihr hr
Blick gerichtet
Blick gerichtet ist. ist. Kraft
Kraft dieser
dieser Gesetze
Gesetze vermögen wir,
vermögen wir, mittenn m i t t e
iim Z e i t v e r l a u f selbst,
m Zeitverlauf selbst, ein Zeitloses und Bleibendes
ein Zeitloses und Bleibendes zzuu erfassen
erfassen
und
und uns uns somit
somit vvon o n den veränderlichen Einzelobjekten
den veränderlichen Einzelobjekten zu zu denden
„festen und
„festen und ewigen Dingen" zu
ewigen Dingen“ zu erheben,
erheben, ohne ohne welchewelche died i eEinzel‑
Einzel-
dinge „weder
dinge „weder sein, sein, noch
noch gedacht werden können“.
gedacht werden können".
* *
®

Je schärfer der Gegensatz


Je zwischen der Erkenntnislehre
Gegensatz zwischen Erkenntnislehre des
des
„Kurzen Traktats"
„Kurzen und derjenigen
Traktats“ und der „Abhandlung
derjenigen der „Abhandlung über die
die
Verbesserung des Verstandes“
Verbesserung des Verstandes" hervortritt:
hervortritt: um so grössere Bedeu‑
so grössere Bedeu-
tung gewinnt
tung gewinnt die Frage nach
die Frage den gedanklichen
nach den gedanklichen Motiven
Motiven undund nach nach
den geschichtlichen Bedingungen,
den geschichtlichen Bedingungen, die die diese
diese Umbildung
Umbildung entschie‑
entschie-
den
den haben.
haben. E T e i l dieser
i n Teil
Ein Bedingungen freilich
dieser Bedingungen freilich liegt
liegt sogleich
sogleich
l a r zu
kklar Tage: es kann kein Zweifel sein, dass
zu Tage: es kann kein Zweifel sein, dass erst erst jetzt, miti t dem
m dem
tieferen Eindringen in
tieferen Eindringen das System
in das Descartes', Spinoza
System Descartes’, Spinoza diedie Einsicht
Einsicht
o n der
vvon der entscheidenden
entscheidenden und Bedeutung der M
zentralen Bedeutung
und zentralen athe‑
Mathe-
m a t i k für das
matik Ganze der Philosophie
das Ganze Philosophie gewonnen
gewonnen hat. hat. Es
E s is
s tt
D i e geometrische Methode und die Geisteswissenschaften. 21

daher nicht lediglich durch äussere Umstände zu erklären, son‑


dern es w a r zugleich durch sachliche Motive gefordert, wenn er
es nunmehr ‐ fast gleichzeitig m i t der Abfassung der Abhand‑
lung über die Verbesserung des Verstandes ‐ unternahm, das
Ganze der Cartesischen Lehre in geometrischer F o r m darzustel‑
len. Diese Darstellung aber musste an e i n e m Punkte auf ein
entschiedenes Hindernis stossen, das von Spinoza aufs stärkste
empfunden und ‐ trotz der Zurückhaltung, die er sich in der
Schrift über die Cartesischen Prinzipien, sowie in den „Metaphy‑
sischen Gedanken“ auferlegte ‐ immer v o n neuem angedeutet
wird. Der Cartesische Begriff der W i l l e n s f r e i h e i t durchbricht
den Gedanken von der notwendigen Verknüpfung der Dinge, der
eine Bedingung ihrer exakten E r k e n n b a r k e i t ist. Führen w i r
an irgend einem Punkte des körperlichen oder geistigen Gesche‑
bens Zufall und W i l l k ü r ein, s o ist der Begriff des Einen Seins
selbst hinfällig geworden. Die geometrische Methodik kennt und
duldet keine Einschränkungen; eine Lücke im Einzelnen ist hier
mit der Aufhebung des Ganzen gleichbedeutend. Die Unterschei‑
dung notwendiger Wirkungen ..der Natur und freier Handlungen
des Menschen ist ein Anthropomorphismus, der die Schranken
unserer subjektiven Einsicht zu absoluten Schranken der Dinge
macht. „Wenn die Menschen die ganze Ordnung der Natur klar
erkennen könnten, so würden sie alles ebenso notwendig finden,
wie das, was in der Mathematik gelehrt wird; allein da dies die
menschliche Einsicht übersteigt, so hält m a n manches f ü r
m ö g l i c h , statt es f ü r notwendig zu halten.“®) Die metaphysi‑ 160]
schen Grundlehren Descartes’ widerstreiten somit dem Ideal der
Methode, das er selbst entworfen hat: es gilt, sie fallen zu
lassen, wenn m a n dieser letzteren zum Siege und z u r u n u m ‑
schränkten Durchführung verhelfen will. Der Geist des Menschen
darf -- wie es später die Ethik ausspricht ‐ kein Sondergebiet,
keinen Staat im Staate mehr darstellen,®) sondern er muss sich
denselben Begriffen und denselben Bedingungen des Wissens
fügen, die f ü r das Sein der Natur gelten.
Jetzt ist der Cartesische Dualismus, der im „Kurzen
Traktat“ noch dauernd fortwirkte, endgiltig überwunden; die Ein‑
heit des Seins scheint unmittelbar aus der Einheit der Methode
gefolgert und erwiesen werden zu können. Die Forderung aber,
22
22 Spinoza.
S p r n o z a . '.
.'

Spinoza hier
die Spinoza
die hier an an die die Psychologie
Psychologie und und diedie Geisteswissenschaf‑
Geisteswissenschaf-
ten stellt, wird nicht i h m zuerst
ten stellt, wird nicht von ihm zuerst proklamiert; sondern
von proklamiert; sondern sie sie
bildete den Ausgangspunkt
bildete den Ausgangspunkt eines bedeutendsten Werke
eines der bedeutendsten Werke der der
zeitgenössischen Philosophie.
zeitgenössischen Philosophie. Es Es ist merkwürdig, dass man,
ist merkwürdig, man,
während
während m den Einfluss,
a n den
man Einfluss, den den H o b b e s in der Staatslehre
Hobbes Staatslehre auf
Spinoza geübt hat,
Spinoza geübt überall hervorhebt,
hat, überall hervorhebt, die nicht minder
die nicht minder weit‑ weit-
reichende
reichende und tiefe Einwirkung
und tiefe Einwirkung seiner seiner Lehren
Lehren auf auf Spinozas
Spinozas
Erkenntnistheorie
Erkenntnistheorie völlig übersehen konnte
völlig übersehen konnte. Die „Abhandlung
Die „Abhandlung
über
über die Verbesserung des
die Verbesserung des Verstandes“
Verstandes" erweist erweist sich sich gerade
gerade in den den
charakteristischen Haupizügen
charakteristischen Hauplzügen den den fundamentalen
fundamentalen Bestimmungen
Bestimmungen
von Hobbes’
von Hobbes' Logik innerlich verwandt.
Logik innerlich verwandt. D Die
ie L Lehre
e h r e vvon on d der ge-
e r ge‑
n etischen D
netischen e fi n i t i o n , die
Definition, die vonvon Spinoza
Spinoza selbst
selbst als als ein
ein Kardinal‑
Kardinal-
punkt seiner Methodenlehre
punkt Methodenlehre bezeichnet bezeichnet wird,“) stimmt in allen
wird,∞ ) stimmt allen
Einzelheiten, stimmt
Einzelheiten, stimmt selbst bis in die
selbst bis die konkreten
konkreten Beispiele
Beispiele m miti t der
der
Darstellung der
Darstellung Schrift „De
der Schrift C o r p o r e überein.
„De Corpore“ überein. Wie Spinoza, so
Wi e Spinoza, so
stellt Hobbes den
stellt Hobbes den Satz an Satz an die Spitze,
Spitze, dass wir dasjenige
nur dasjenige
n u r
wahrhaft
wahrhaft b e g r e i f e n , was
begreifen, was unser Verstand selbst erschafft;
unser Verstand erschafft; dass dass
somit Wissenschaft von
somit Wissenschaft äusseren Natur,
von der äusseren Natur, wie von von der der politi‑
politi-
schen und
schen sozialen Wirklichkeit,
und sozialen Wirklichkeit, nnur möglich ist,
u r möglich sofern w
ist, sofern ir
wir
nicht bei
nicht der blossen
bei der blossen rezeptiven Kenntnisnahme einzelner Objekte
rezeptiven Kenntnisnahme Objekte
stehen bleiben,
stehen bleiben, sondern
sondern ein ein bestimmtes Gesamtgebiet von Pro‑
bestimmtes Gesamtgebiet Pro-
blemen
blemen und Tatsachen aus
und Tatsachen ursprünglichen gedanklichen
aus ursprünglichen gedanklichen Prin‑ Prin-
zipien entstehen lassen.
zipien entstehen lassen. So gibt es
So gibt ein demonstratives „apriori‑
es ein „apriori-
sches“ Wissen, wie
sches" Wissen, wie vvon Geometrie auch
o n der Geometrie auch vvon o n Recht
Recht und und Un‑ Un-
recht,
recht, Billigkeit
Billigkeit uund n d Unbilligkeit,
Unbilligkeit, weil weil w selber es
wiri r selber es sind,
sind, die
‚ ebenso
ebenso wie wie die Gestalten der
die Gestalten der Geometrie,
Geometrie, auch auch die Grundlagen
Grundlagen
des Rechts,
des Rechts, nämlich
nämlich Gesetze Gesetze und und Verträge geschaffen haben.
Verträge geschaffen haben.") *)
Schon der Beginn der Schrift „De Corpore“
Schon der Beginn der Schrift „De Corpore" stellt die Aufgabe, stellt die Aufgabe,
das Verfahren,
das Verfahren, das das sich sich in der der Betrachtung
Betrachtung von von FFiguren
i g u r e n undund
Grössen
Grössen so fruchtbar erwiesen
so fruchtbar erwiesen habe, habe, auf die die übrigen
übrigen GebildeGebilde
der Philosophie
der Philosophie zu übertragen.) Und
zu übertragen.«) Und so so wirdwird weiterhin be‑ be-
ständig auf
ständig auf die
die rationale Erkenntnis nicht
rationale Erkenntnis nicht nnur der körperlichen,
u r der körperlichen,
sondern auch
sondern auch der geistigen Vorgänge gedrungen,
der geistigen gedrungen, da da diese nicht nicht
minder
minder notwendigen
notwendigen Regeln Regeln unterstehen
unterstehen und und daher auf die
d a h e r auf d i egleiche
gleiche
Weise aus primitiven
Weise aus Grundfaktoren in streng
primitiven Grundfaktoren streng deduktiver Folge Folge
ableitbar
ableitbar sein müssen. Hobbes
sein müssen. Hobbes Lehre Lehre von von den den A Afff feek t e nn hatte
hatte
alsdann eine
alsdann charakteristische Probe
eine charakteristische Probe und und Anwendung
Anwendung dieser dieser
Grundansicht gegeben.
Grundansicht gegeben.*) 49) Man begreift in diesem
Man begreift diesem Zusammen‑
Zusammen-
Verhältnis zu Hobbes. 23

hange, was Spinoza an H o b b e s fesselte. Hier fand er genau


dasjenige erstrebt und z u m Te i l geleistet, was er bei Descartes
vermisste. Die Gegensätze der Metaphysik traten zunächst zu‑
rück v o r dem grossen methodischen Hauptziel, das jetzt seiner
Verwirklichung um einen Schritt näher gerückt w a r und dessen
Vollendung, wie es scheinen konnte, nunmehr in naher Aussicht
stand. ‑
Denn selbst in der Prinzipienlehre der p h y s i k a l i s c h e n
E r k e n n t n i s befinden sich Spinoza und Hobbes i n vollem Ein‑
klang. Beide verwerfen m i t derselben Energie und Entschieden‑
heit das Ideal der Baconischen Induktion;*) beide betonen, dass
die empirische Feststellung von noch so vielen, einzelnen Tat‑
sachen niemals zu einer wahrhaften, beweiskräftigen Einsicht
führen könne. Die Physik ruht auch für Hobbes auf „apriori‑
schem“* Grunde, sofern sie die reine Phoronomie, die abstrakte
geometrische Wissenschaft von der Zusammensetzung der Be‑
wegungen voraussetzen muss.*) Da alles Wissen darin besteht,
eine bestimmte Wirkung aus ihren Ursachen zu erkennen, und
d a weiterhin d i e Ursachen a l l e r E i n z e l d i n g e a u s d e n U r ‑
s a c h e n der a l l g e m e i n e n o d e r e i n f a c h e n D i n g e r e s u l ‑
t i e r e n , so muss die Erkenntnis dieser letzteren notwendig den’
Anfang machen. Die „allgemeinen Dinge“ aber, von denen hier
die Rede ist, sind gleichfalls nicht in der Art abstrakter Gattungs‑
begriffe zu denken, sondern als die Prinzipien und Urgründe für
d i e genetische Erklärung des Einzelnen.*) So werden w i r z.B. in
der Physik dieBewegung schlechthin als Etwas, das keine Ursache
zulässt und das daher keiner weiteren D e fi n i t i o n fähig ist,
an die Spitze zu stellen haben: „was immer dagegen eine Ursache
besitzt, von dem muss in der Definition die Ursache oder die Er‑
zeugungsart enthalten sein, wie wenn wir z. B. den Zirkel als die‑
jenige Gestalt erklären, die aus der Umdrehung einer Geraden in
einer Ebene entsteht.“1) So stimmen Hobbes’ „Universalia“, unter
d i e er weiterhin den Körper oder die Materie, die Grösse oder die
Ausdehnung, kurz alles dasjenige zählt, „was aller Materie gleich‑
mässig innewohnt““), ihrem Inhalt, wie ihrer logischen Tendenz
n a c h m i t Spinozas „festen und ewigen Dingen“ überein. Wenn m a n
diese letzteren den Baconischen Formen verglichen hat, so tritt das
relative Recht, zugleich aber auch die bloss eingeschränkte Geltung
24 . Spinoza.

dieses Vergleiches nunmehr deutlich hervor. Denn Hobbes ist in


seiner Bestimmung der „allgemeinen Naturen“, die den Grund
der Physik ausmachen, allerdings von Bacon ausgegangen, aber
er hat dessen scholastischen Formbegriff im Sinne der exakten
G a l i l e i s c h e n Naturwissenschaft umgedeutet und i h m damit eine
völlig neue Richtung gegeben. (S. hrz. später Buch V, Cap. 23%).
Hier zeigt sich denn auch die allgemeine Bedeutung, die der Ein‑
fluss des Hobbes f ü r Spinoza besitzt: er ist es gewesen, der i b m
zuerst die Einsicht in den prinzipiellen logischen Charakter der
modernen P h y s i k vermittelt und erschlossen hat.
Zugleich stehen wir hier an einem Punkte, von dem aus
die allgemeinen methodischen Kämpfe und Gegensätze in der
Philosopbie und Wissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts sich
aufs klarste überschauen lassen. Verfolgt m a n den Zusammen‑
hang zwischen Hobbes und Spinoza genauer, so erkennt man,
dass Spinozas Methodenlehre noch deutlicher als auf das philo‑
sophische Hauptwerk, auf eine andere Schrift des Hobbes zurück‑
weist: auf die sechs lateinischen Dialoge, die dieser gegen W a l ‑
l i s gerichtet hatte und die im Juli 1660, also unmittelbar vor der
A u s a r b e i t udes n g „Tractatus de intellectus emendatione*, erschie‑
nen waren. Die Lehre von der causalen Definition findet sich
hier an dem gleichen Beispiel entwickelt, das Spinoza in den
Mittelpunkt seiner Schrift gestellt hat und das deren gedankliche
Grundtendenz so charakteristisch erleuchtet.%) Wenn w i r die
K u g e l durch die Rotation eines Halbkreises erklären, so geschieht
es‐ wie Hobbes hervorhebt ‐ nicht darum, weil w i r behaupten
dass das Sein der Kugel das S e i n der Bewegung voraussetze und
einschliesse. Die Geltung der Definition w i r d durch die Einsicht,
dass keine w i r k l i c h e Kugel jemals auf diese Weise entstanden
sei, nicht im geringsten berührt. „Denn wer eine bestimmte F i ‑
gur erklärt, der blickt hierbei auf die I d e e n in seinem Geiste,
nicht aber auf die Körper selbst h i n und leitet von seiner Vor‑
stellung des Werdens alle Eigentümlichkeiten des Gewordenen
ab, gleichviel woher und auf welche Weise es tatsächlich ent‑
standen sein mag.“5!) Die Notwendigkeit, dass jede echte Defi‑
nition ein konstruktives Element in sich schliessen muss, kann
daher nicht aus der Natur der Dinge, wohl aber aus der Begrifls‑
bestimmung des Wissens selber eingesehen werden. Das wahr‑
Geometrie und Analysis. 25

haft konstruktive Denken aber ‐ und damit stehen w i r v o r


einer neuen Wendung ‐ ist in seinem Ursprung und in seiner
Wurzel g e o m e t r i s c h e r Art. Von dieser. Grundansicht aus wen‑
det sich Hobbes gegen das moderne Ideal der Analysis, das v o n
Wallis vertreten wird. Jede Uebertragung algebraischer Metho‑
den auf die Betrachtung der Raumgestalten, jede Auflösung der
Figur in die Z a h l verfälscht den eigentlichen Charakter geome‑
trischen Wissens. Und so wird, zugleich m i t der Algebra, die
neue Analysis des Unendlichen, die in Wallis einen ihrer bedeu‑
tendsten Vertreter besass, v o n Hobbes bekämpft und abgewehrt.
($S. unten Buch V, Cap. 2.) Man begreift, inwiefern der Streit, der
sich hier abspielte, für Spinoza, der v o n Anfang an m i t dem
Grundproblem der Methode gerungen und der schon im „kurzen
Traktat“ die scholastische Lehre v o n der Definition bekämpft
hatte,52) v o n innerlicher Bedeutung war. Hier entschied sich das
Schicksal seiner eigenen Logik: hier musste es deutlich werden,
ob und wie weit die Geometrie das Vorbild alles adäquaten Er‑
kennens und die einzige und unbedingte Form alles Folgerns
und Schliessens sei. Indem Spinoza sich an diesem Punkte für
Hobbes und gegen die moderne Mathematik erklärte, hat er da‑
mit zuerst seinem System die streng einheitliche und abgeschlos‑
sene Form gegeben; aber er hat es freilich damit zugleich den
lebendigen Triebkräften der neueren Wissenschaft entfremdet.:s) ‑
So gross freilich die allgemeine methodische Uebereinstim‑
mung zwischen Spinoza und Hobbes ist, so wenig gelangen da‑
rüber die metaphysischen Gegensätze in den Lehren beider
zum Verschwinden. Beide begegnen sich in der logischen Grund‑
konzeption, um sich in der Anwendung, die sie von i h r m a ‑
chen, und in den Folgerungen, zu denen sie sie entwickeln, wie‑
derum zu trennen. Der Rationalismus des Hobbes kennt kein
anderes Ziel, als die strenge deduktive Erkenntnis der e m p i r i ‑
schen Wirklichkeit, als die genaue Einsicht in den Bau des na‑
türlichen und des staatlichen „Körpers“. Von dem Ungewordenen
und Ewigen kann es kein Wissen geben, weil es v o n i h m keine
.Erzeugung“ gibt. Daher schliesst seine Philosophie die gesamte
Theologie, d. h. die Lehre von der N a t u r und den A t t r i b u t e n
des ewigen, unerzeugbaren und unbegreiflichen Gottes von sich
a u s . ) Die Grenze zwischen Hobbes’ und Spinozas Philosophie
26 Spinoza.

ist in diesen Worten aufs schärfste gezogen. Aber auch der „No‑
minalismus“, in dem sie anfangs übereinzukommen scheinen,
trägt bei beiden sehr verschiedenartige Züge. Die Ansicht des
w. Hobbes, dass die ersten Grundlagen des Wissens, weil sie Erzeug‑
nisse des Denkens sind, darum n u r willkürliche und konventio‑
nelle Geltung besitzen, wird v o n Spinoza zu jenen Absurditäten
gerechnet, die sich von selbst aufheben und die daher keiner
eingehenden Widerlegung bedürfen.) Die wahre Idee bezeugt
unmittelbar ihre Gewissheit und ihre objektive Notwendigkeit
und besitzt darin zugleich die zweifellose Gewähr, dass sie k e i n
beliebiges Gebilde des Geistes ist, sondern eine „formale“ Realität
der Natur z u m Ausdruck bringt. Die höchste und ursprüngliche
+. Idee, aus der alle abgeleitete Erkenntnis quillt, ist daher selbst
freilich keiner genetischen Erklärung fähig; aber sie bedarf des‑
sen nicht, da in i b r Begriff und Sein, Essenz und Existenz u n ‑
mittelbar in Eins fallen. So tritt die metaphysische Grundan‑
schauung, die der „kurze Traktat“ gelehrt hatte, hier in die Lücke
ein, die die reine Methodenlehre für sich allein nicht zu schlies‑
sen vermag. Die logische Lehre von der „causalen“ Definition
findet in dem ontologischen Begriff der „causa sui* ihren Ab‑
s c h l u s s . 5 ) Schon a n diesem Punkte zeigt e s sich, dass die neue
Auflassung der Erkenntnis, die die Abhandlung über die Verbes‑
serung des Verstandes zu Grunde legt, nicht zu allseiliger Durch‑
führung gelangt ist, sondern dass sie Bestandteile, die noch der
früheren Ansicht entstammen, neben sich dulden muss. Somit
sind es zwei verschiedene und einander gegensätzliche Motive,
die nunmehr im Aufbau des Systems zusammenwirken: es ent‑
steht die Aufgabe, im Einzelnen zu prüfen, wie dieser Gegensatz
der Prinzipien sich in den abgeleiteten metaphysischen Folgerun‑
gen ausprägt und kenntlich macht.

II.
D e r B e g r i f f der Substanz. ‐ D i e Metaphysik.
Wenn m a n ohne die Kenntnis der Entwicklung des Spino‑
zistischen Denkens unmittelbar an die grundlegenden Bestim‑
mungen der E t h i k herantritt, so sieht m a n sich alsbald in eine
Fülle schwierigster Probleme verstrickt. Das Verbältnis zwischen
Die des Pantheismus.
Antinomien des
Die Antinomien Pantheismus. 27
27

der Einen
der allumfassenden Substanz
Einen allumfassenden Substanz und und den den veränderlichen,
veränderlichen, end‑ end-
lichen Einzeldingen
lichen scheint, rein
Einzeldingen scheint, logisch betrachtet
rein logisch betrachtet und und beurteilt,
beurteilt,
m unauflöslichen Widersprüchen
miti t unauflöslichen Widersprüchen behaftet. behaftet. Das Das besondere
besondere Sein Sein
erscheint bald als ein
erscheint bald als ein völlig Wesenloses,völlig Wesenloses, das nur in der inadä‑
n u r inadä-
quaten subjektiven
quaten subjektiven Auffassung
Auffassung unserer unserer „Imagination“
„Imagination" seinen seinen Ur‑ Ur-
sprung und
sprung u n d seine E r k l ä r u n g hat;
seine Erklärung h a t ; bald
bald wird w i r d eses wiewie einein notwen‑
notwen-
diges Moment
diges Moment betrachtet,
betrachtet, das das in Gottes eigenem Wesen
Gottes eigenem Wesen gegründet
u n d aus
und aus iihmh m in lückenloser
lückenloser Folge Folge abzuleiten
abzuleiten ist. ist. Die Die endlichen
endlichen
Dinge bedeuten
Dinge bedeuten bald bald nmur die Negation
u r die Negation des Seins und
des Seins und die die Schei‑
Schei-
dewand, die
dewand, die uns Anschauung der
von der Anschauung
uns von der göttlichen
göttlichen Natur Natur trennt;
bald
bald wird wird ihnen
ihnen eine Wesenheit und
eine Wesenheit und eine eigene Selbstbehaup‑
eine eigene Selbstbehaup-
tung zugeschrieben.
tung zugeschrieben. Die Die AArt r t aber,
aber, in der die vielfältigen „Modi“
die vielfältigen „Modi"
aus der
aus der Einheit
Einheit der der Substanz hervorgehen, bleibt
Substanz hervorgehen, bleibt nach nach wie vor vor
dunkel. Die
dunkel. besonderen Existenzen
Die besonderen Existenzen folgen folgen nicht nicht unmittelbar
unmittelbar aus aus
Wesenheit Gottes;
der Wesenheit sondern sie
Gottes; sondern sie lassen
lassen sich sich aus aus iihr nur ab‑
h r nur ab-
leiten, sofern wir
leiten, sofern diese selbst
wir diese schon in einer
selbst schon einzelnen, bestimmten
einer einzelnen, bestimmten
Richtung tätig
Richtung und somit
tätig und somit in bestimmter
bestimmter Weise Weise modifiziert
modifiziert denken. denken.
Jeder Modus führt, w i r
Jeder Modus führt, wenn wir seinen causalen Ursprung verfolgen,
wenn seinen causalen Ursprung verfolgen,
iimmer
m m e r nnur u r auf einen anderen,
auf einen anderen, ihm ihm selbst gleichartigen zurück,
selbst gleichartigen zurück,
ohne
ohne dass dass wirwir die unbegrenzte Kette des Endlichen, die uns
die unbegrenzte Kette des Endlichen, uns auf
auf
diese Weise
diese entsteht, jemals uunmittelbar
Weise entsteht, n m i t t e l b a r anan dasdas unendliche
unendliche Sein Sein
aanheften
n h e f t e n könnten.5)
könnten.st) Wie w e i t wir
W i e weit w i r iinn derder R Reihe a u c h zurück‑
e i h e auch zurück-
gehen
gehen mögen: mögen: die die logische
logische Kluft zwischen dem
Kluft zwischen relativen und
d e m relativen u n d dem
dem
absoluten Sein
absoluten Sein wird
wird dadurch
dadurch nicht gemindert, geschweige ge‑
nicht gemindert, ge-
schlossen. So
schlossen. drängen, durch
So drängen, durch die starre Hülle
die starre Hülle der geometrischen
geometrischen
Methodik
Methodik hindurch,hindurch, die die alten Rätselfragen des
alten Rätselfragen des Pantheismus
Pantheismus immer immer
energischer zum
energischer Vorschein. Ist
z u m Vorschein. Ist dasdas A Alll l lediglich
lediglich als als die Summe
die Summe
uu nn dd der
der Inbegriff
Inbegriff seiner Teile Teile zu denken oder bedeutet
zu denken bedeutet es es ihnen
ihnen
gegenüber
gegenüber etwas etwas Eigenes
Eigenes und Selbständiges? Und
und Selbständiges? wenn
Und wenn dies der dies der
F a l l ist: wie ist es zu verstehen,
Fall ist: wie ist es zu verstehen, dass es von seinen einzelnendass es von seinen einzelnen
Elementen u
Elementen n t e r s c h i e d e n ist,
unterschieden ohne doch
ist, ohne doch vvon ihnen ggetrennt
o n ihnen etrennt
sein; dass
zzuu sein; dass es ganz iinn jedem
e s ganz jedem seiner seiner TeileTeile e n t h aall t eenn ist, ist, ohne
ohne
d o c h in irgend
doch einem vvon
irgend einem ihnen völlig
o n ihnen aufzugehen? ‑-
völlig aufzugehen?
Um
Um den den richtigen
richtigen geschichtlichen
geschichtlichen Gesichtspunkt Gesichtspunkt für die die
Beantwortung dieser
Beantwortung Fragen zu
dieser Fragen gewinnen, müssen
zu gewinnen, müssen wir genau genau von von
demjenigen Punkte
demjenigen ausgehen, bis
Punkte ausgehen, bis zu zu welchem
welchem die die Abhandlung
Abhandlung
über
über die die Verbesserung
Verbesserung des Verstandes das
des Verstandes allgemeine Problem
das allgemeine Problem
hingeführt
hingeführt hat. hat. Was immer geschieht ‐ so
immer geschieht so w wara r hier gelehrt
28 Spinosa.

worden ‐ das vollzieht sich nach einer ewigen Ordnung und


nach bestimmten Naturgesetzen. „Da indessen der Mensch in
seiner Schwäche diese Ordnung m i t seinem Denken nicht u n ‑
mittelbar zu erfassen vermag, er aber anderseits imstande ist,
sich eine menschliche Natur, die der seinigen weit überlegen ist,
vorzustellen, ja da er kein Hindernis sieht, selbst eine solche
Natur zu erlangen: so w i r d er dazu angetrieben, Mittel zu suchen,
die i h n zu einer derartigen Vollkommenheit zu führen vermögen.
Was immer als Mittel dienen kann, um zu diesem Ziele zu ge‑
langen, heisst ein wahres Gut. Das höchste Gut aber besteht
darin, dass w i r selber zugleich m i t anderen Individuen, sofern
es möglich ist, einer derartigen Natur teilhaft werden. Welcher
Art aber diese Natur sei, werden w i r an gehöriger Stelle zeigen:
nämlich dass e s d i e E r k e n n t n i s d e r E i n h e i t sei, d i e d e n
Geist m i t der A l l n a t u r v e r k n ü p f t . “ ) Das echte Medium
zur Erlangung dieser höchsten Einsicht aber ‐ daran lässt schon
die Abhandlung selbst nirgends einen Zweifel ‐ ist uns einzig
und allein i n der G e o m e t r i e gegeben. Alle anderen Mittel und
Instrumente des Erkennens, wie immer sie heissen mögen, ge‑
hören lediglich der subjektiven, menschlichen Betrachtungsart an
und sind mit all ihren Unvollkommenheiten behaftet. Mensch‑
lich ist der Zweckbegriff, menschlich die Begriffe der Zeit, der
Zahl und des Maasses;5°) menschlich nicht minder die Gegensätze
des Vor und Nach, des Schönen und Hässlichen. Die Geomeirie
erst ist es, die uns aus dem Banne aller dieser feineren oder
gröberen Anthropomorphismen erlöst und uns z u r Anschauung
der absoluten, in sich selbst gegründeten Ordnung des Seins er‑
hebt. In i h r allein sind w i r den Schranken des spezifisch Mensch‑
lichen entrückt; in i h r denken w i r nicht sowohl u n s e r e Gedan‑
ken, wie die Gedanken der Natur und des Alls selbst. Somit
kann u n s fortan n u r dasjenige o b j e k t i v heissen, was in geome‑
trischen Begriffen gegründet und in ibnen rein darstellbar ist.
Die „geometrische Methode“ ‐ daran muss v o r allem festgehalten
werden ‐ bildet für Spinoza kein äusserliches Hilfsmittel des
Beweises, kraft dessen der bereits feststehende Begriff des Seins
bloss expliziert würde; sondern sie ist es, wodurch alle Grund‑
bestimmungen des Seins erst gesetzt werden und woher sie ihren
sachlichen I n h a l t empfangen.
Die Substans als Ordnung des Geschehens. 29

Es ist interessant, die weiteren Spuren dieser Grundan‑


schauung in einem Werke zu verfolgen, das scheinbar einem
völlig anderen Gedankenkreis angehört und auf durchaus andere
Motive zurückgeht. Der „Theologisch-Politische Traktat“ bildet
sowohl zeitlich wie sachlich ein wichtiges Mittelglied zwischen
der Darstellung der Ethik und derjenigen der „Abhandlung über
die Verbesserung des Verstandes“. Die Grundtendenz ist hier
darauf gerichtet, der theologischen Auffassung, die Gott nach
Zwecken und Absichten tätig sein lässt, die wahre und adäquate
Erkenntnis der Notwendigkeit seines Wirkens entgegenzustellen.
„Unter der Leitung Gottes verstehe i c h nichts anderes als jene
feste u n d unabänderliche Ordnung der Natur oder jene Verket‑
t u n g der Naturdinge. Denn die allgemeinen Naturgesetze, kraft
deren alles geschieht und bestimmt wird, sind nichts als die
ewigen Dekrete Gottes, die immer ewige Wahrheit und Notwen‑
digkeit einschliessen. Es ist demnach dasselbe, ob w i r sagen,
dass Alles geinäss den Gesetzen der Natur oder gemäss dem Be‑
schluss und der Leitung Gottes geschehe.“%) Der „Wille“ Gottes
besagt somit nichts anderes als sein Sein, das selbst wiederum
n u r ein anderer Ausdruck für die Unverbrüchlichkeit der Natur‑
ordnung ist. Dass das Sein in sich durchgehend geregelt und
unwandelbar ist: das ist es, was es uns zum g ö t t l i c h e n Sein
macht. Wer hier eine Lücke oder einen äusseren Eingriff duldet:
der ist damit wahrhaft z u m A t h e i s t e n geworden.) Eine an‑
dere Form des Geschehens setzen oder als möglich annehmen,
heisst einen anderen G o t t setzen.) Die Gleichung „Deus sive
n a t u r a “ gewinnt in diesem Zusammenhang erst ihre schärfere
Bestimmung und Bedeutung. Um die Identität der beiden Glie‑
der zu begreifen, darf die „Natur“ nicht schlechthin als die
S u m m e der Einzeldinge, sondern muss als deren gesetzliche
Ve r k n ü p f u n g betrachtet werden, darf sie somit nicht als ein
allumfassendes d i n g l i c h e s Ganze, sondern als die Einheit und
Notwendigkeit der Regel des Geschehens gedacht werden.
Damit erst ist der spezifische Grundcharakter des Spino‑
zistischen P a n t h e i s m u s gegeben. Wenn e r i n der Ethik nicht
von Anfang an deutlich und unverkennbar hervortritt, so ist dies
durch die Darstellung verschuldet, die Spinoza f ü r seine Philo‑
sophie gewählt hat. Das eigentlich Scholastische dieser Darsiel‑
80 Spinoza.

t u n g aber liegt nicht in der Nachabmung des mathematischen


Beweisverfahrens, sondern in dem Inhalt desjenigen Grundbe‑
griffs, von dem Spinoza seinen Ausgang nimmt. D e r Substanz‑
b e g r i f f des Aristoteles und der mittelalterlichen Philosophie
w i r d von ibm, ohne jeden Versuch der Kritik, herübergenommen
und an die Spitze gestellt. Kein Zweifel, dass dieser Begriff nicht
an und für sich den I n h a l t seiner Lehre ausmacht, dass er viel‑
mehr n u r die Form abgeben soll, in welcher Spinoza das anderweit
gewonnene Ergebnis seiner Philosophie darstellt und ausspricht.
Die Frage aber, ob diese Form dem Inhalt gemäss sei und ob sie
i h n adäquat wiederzugeben vermöge, wird nicht gestellt. Spinoza,
der in den „Metaphysischen Gedanken“ wie in der „Ethik* eine
nominalistische Kritik des scholastischen Begriffssystems durch‑
zuführen sucht, der neben den Begriffen der E i n h e i t und V i e l ‑
heit, der Z e i t und der Dauer auch den allgemeinen Begriff des
Seienden als eine blosse „Weise des Denkens“ erklärt®®): Spi‑
noza macht vor dem eigentlichen Fundament der Ontologie Halt.
Der Gegensatz v o n Substanz und Modus gilt als das zweifel‑
lose, durch sich selbst gewisse Instrument der absoluten Wirk‑
lichkeitserkenntnis. Freilich konnte dieser Gegensatz allgemein
und weit genug erscheinen, um jeden 'gedanklichen Inhalt, wie
immer er im Einzelnen bestimmt sein mochte, in sich zu fassen.
Die Kategorie der Substanz besitzt nach ihrer Ableitung bei
Aristoteles eine rein l o g i s c h e Funktion und Bedeutung: sie be‑
zeichnet das letzte „Subjekt“ der Aussage, das seinerseits nicht
wiederum z u m Prädikat werden kann. Diese logische Definition
lässt der näheren inhaltlichen Bestimmung zunächst noch völlig
freien Spielraum. „Spinozas Definition“ ‐ so urteilt Trendelen‑
burg ‐ „Spinozas Definition „per substantiam intelligo id, quod
in se est et per se concipitur“ vollendet n u r in einem
scharfen Ausdruck, was Aristoteles beginnt; aber auch diese De‑
finition, scheinbar positiv und aus sich verständlich, hat ein
Element i n sich, das n u r d a n n b e g r i f f e n w i r d , w e n n d i e
Substanz, d i e d e fi n i e r t w e r d e n soll, vorausgesetzt in
d e r V o r s t e l l u n g v o r a n g e h t . . In Spinozas weitgreifendem
Axiom: „omnia quae sunt vel in se, vel in alio sunt,* ist Aristo‑
teles’ Unterscheidung der oösia und der ouußeßrxöta, der Substanz
und der Accidenzen, real angewandt. Das Verständnis der Sub‑
Verhältnis sum Aristotelischen. Substanzbegriff. 3

stanz ist darin vorausgesetzt. D a h e r geschieht es, dass... die


Substanz zunächst n u r negativ bestimmt und der u n w i l l ‑
k ü r l i c h e n I n d u k t i o n der Anschauung vertraut (wird),
d i e e i n e a l l g e m e i n e Vo r s t e l l u n g a l s das P o s i t i v e u n t e r ‑
schieben werde.““) Dieses Urteil beleuchtet in der Tat aufs
hellste die logische Unbestimmtheit, die dem Grundbegriff des
Spinozistischen Systems v o n seinem geschichtlichen Ursprung
her anhaftet. Es gilt zunächst, jenes „Positive“ anzugeben und
aufzuzeigen, das wir, nach Spinozas Meinung, der Definition der
Substanz unterschieben sollen, um ihren Sinn vollkommen zu
begreifen. Dieser positive Gehalt ist für Spinoza ein völlig an‑
derer, als er für Aristoteles gewesen w a r ; und erst nachdem er
festgestellt, ist auch das Eigentümliche seiner Lehre bezeichnet.
Hier t r i t t denn zunächst hervor, dass die E i n h e i t der Sub‑
stanz, wie Spinoza sie versteht, nirgends im Sinne der Zahlein‑
heit zu denken ist. Gilt i h m doch die Zahl selbst, gilt ihm so‑
m i t der numerische Gegensatz der E i n h e i t und der M e h r h e i t
n u r als ein Gebilde der „Imagination“, das in der reinen intellek‑
tuellen Auffassung des Wirklichen keine Rolle spielen darf. So
erklären die „Metaphysischen Gedanken“ ausdrücklich, dass Gott
n u r uneigentlich und im übertragenen Sinne „Einer“ und „Ein‑
ziger“ genannt werden könne.) Und ein Brief Spinozas gibt zu
dieser Stelle die nähere Erläuterung. Wenn wir ein bestimmtes,
empirisch gegebenes Ding als ein „einzelnes“ bezeichnen, so kann
dies n u r geschehen, sofern w i r i h m andere konkrete Objekte
gegenüberstellen und sie m i t i h m vergleichen; sofern wir also
zuvor einen allgemeinen Gattungsbegriff bilden, der dieses Ding
als Spezialfall, als ein besonderes Exemplar unter sich enthält.
Dieses Verfahren aber wäre in der Bestimmung der göttlichen
Wesenbeit absurd: denn da sie die unendliche Totalität des Seins
ist, so gibt es nichts ausser i h r, was wir i h r entgegensetzen
k ö n n t e n . ) M i t dieser Einsicht sind w i r zugleich aller Fragen
überhoben, die aus der falschen Anwendung der Begriffskorre‑
lation des Ganzen und des Te i l e s auf das Verhältnis des Ur‑
wesens zu einer besonderen Modifikation entspringen. Auch
Ganzes und Teil sind n u r Gedankendinge, die uns dazu dienen
können, bestimmte empirische Objekte, die w i r isoliert und so‑
m i t „verworren“ auffassen, m i t einander zu vergleichen, die aber
32 Spinoza.

in der Bestimmung und Bezeichnung des Alls keine Stelle finden


dürfen. Dieses All ist unendlich, nicht der Grösse, sondern d e r
Wesenheit nach. sofern e s jegliche Realität q u a l i t a t i v i n sich
befasst.)
Jetzt aber drängt sich ein anderer Gesichtspunkt auf, d e n
es nicht minder abzuwehren gilt. Soll die Einheit des Seins n i c h t
im quantitativen Sinne verstanden werden, so scheint nichts
übrig zu bleiben, als i h r eine dynamisc he Bedeutung zu geben.
Die Substanz würde alsdann zu der einheitlichen G r u n d k r a f t ,
die in eine unendliche Fülle v o n Einzeläusserungen ausströmt u n d
sich in ihnen allseitig entfaltet und offenbart. In der Tat ist das
System Spinozas häufig ‐ z.B. von K. Fischer ‐ in diesem Sinne
verstanden und gedeutet worden. „Gott ist die alleinige Ursache, da‑
her ist auch er allein die alle Erscheinungen hervorbringende, in
jeder auf bestimmte Art tätigeKraft: esgibt zahllose Erscheinungen,
daher gibt es zahllose Kräfte, in denen die Wesensfülle Gottes be‑
s t e h t . . . Die einzelnen Dinge sind vorübergehend und hinfällig;
was aber in den Dingen wirkt und im Wechsel der Erscheinungen
fortwirkt, ist ewigen und göttlichen Ursprungs. Diese in den
Dingen wirksamen Kräfte sind die Dinge, nicht wie sie kommen
und gehen, sondern wie sie in sich sind. Träger dieser Kräfte
sind nicht die Dinge selbst, sondern Gott, denn er allein ist das
k r a f t v o l l e Urwesen.“#®) Diese Schilderung, so anschaulich sie
das Grundverhältnis des Unendlichen z u m Endlichen vor Augen
z u stellen scheint, verfehlt dennoch den l o g i s c h e n Grundge‑
danken des Systems. Sie besteht zu Recht für jene frühe Phase
der Spinozistischen Lehre, die w i r im „Kurzen Traktat* kennen
lernten. Denn hier steht Spinoza noch mitten in der allgemeinen
Naturanschauung der Renaissance; hier ist i h m die Natur nichts
anderes als das einheitliche L e b e n des Alls, das alles einzelne
Sein durchdringt und erhält. Aber schon die „Metaphysischen
Gedanken,“ die bereits das strenge Ideal der durchgängigen mathe‑
matischen Erkennbarkeit und Ordnung des Seins formulieren,
haben m i t dieser Auffassung gebrochen. Die „Wirksamkeit“
Gottes fällt jetzt völlig m i t seinem zeitlosen und ewigen Sein zu‑
sammen; seine Tätigkeit besagt nichts anderes, als die unver‑
änderliche Gesetzesordnung, kraft deren die Dinge s i n d und sich
in ihrer Folge wechselseitig bestimmen. Das „operari“ ist rein
Substansbegrif und Kraftbegriff. 83

u n d vollkommen in das mathematische „sequi“ aufgelöst. „Was


das L e b e n Gottes angeht ‐ so erklärt Spinoza nunmehr selbst
‐ so sehe i c h nicht ein, weshalb die Verstandestätigkeit bei i h m
mehr als die des Willens und ähnlicher Kräfte T ä t i g k e i t sein
soll.“ In der Tat ist f ü r eine Ansicht, die den Begriff der Z e i t
aus der adäquaten Erkenntnis der Dinge ausstreicht, auch der
Begriff der Kraft im gewöhnlichen Sinne hinfällig geworden.
Die Spinozistische „Kraft“ hat jedes Merkmal des Erschaffens
u n d Zeugens abgestreift; was in i h r zurückgeblieben ist, ist ledig‑
l i c h das allgemeine logische Merkmal der Bedingung. Der Gott
Spinozas gleicht nicht dem Goetheschen Erdgeist, der in Lebens‑
fiuten, im Tatensturm auf und abwallt: er verharrt in der ehernen
Ruhe einer mathematischen Formel.
Am stärksten kommt dieser Grundgedanke dort z u m Durch‑
bruch, wo sich seiner Durchführung die grössten und scheinbar
unüberwindlichen Schwierigkeitenin den Weg stellen. Die be‑
wusste W i l l e n s t ä t i g k e i t ist es, die die entscheidende negative
Instanz gegen die Spinozistische Bestimmung des Seins und
Wirkens abzugeben scheint. Hier wenigstens ‐ so muss m a n
annehmen ‐ treten wir aus dem Umkreis der blossen logischen
F o l g e heraus; hier erschliesst sich uns unmittelbar und völlig
selbstgewiss eine Welt des Tuns. Und von diesem Punkte aus
scheint sich weiterhin auch eine Rückwirkung auf das gesamte
übrige System ergeben zu müssen. Wenn Spinoza die Wesenheit
jedes Einzeldinges durch das i h m innewohnende S t r e b e n , in
seinem Dasein zu beharren erklärt, wenn i h m somit „essentia“
und „conatus“ zu Wechselbegriffen werden, so scheint damit in
der Ta t wieder ein Moment, das der Sphäre des W i l l e n s ange‑
hört, a u f die allgemeine Erklärung des S e i n s übertragen zu
werden. Dennoch erweist sich, bei schärferer Analyse, diese
Annahme als irrig. Das „Streben“, von dem Spinoza spricht, ist
selbst bereits aller spezifischen Gefühls- und Willenselemente
entkleidet und zum Ausdruck eines lediglich begriftlichen und
logischen Verhältnisses geworden. Dass jeder einzelne Zustand
des Seins über sich hinausweist und fortstrebt: das besagt für
Spinoza zuletzt nichts anderes, als dass er nicht isoliert steht,
sondern n u r ein besonderes Glied in einem System v o n Be‑
dingungen bildet, dass also in und m i t i h m zugleich die ganze
8
34 Spinosa.

Reihe seiner möglichen F o l g e n logisch mitgesetzt ist. D i e


„Macht“ jeglichen Dinges fällt zusammen m i t der Gesamtheit der
Eigenschaften und Folgerungen, die aus seinem Wesen, die also
i m letzten Grunde aus seiner D e fi n i t i o n quellen; sie besagt,
dass das Einzelne eine Mehrheit von Bestimmungen nicht sowohl
erschafft, als involviert. So hat Spinoza ‐ wie ein Darsteller
seiner Willenslehre m i t Recht hervorhebt ‐ gerade an dieser
Stelle den Versuch unternommen, „den Willen in seinen tiefsten
Wurzeln zu intellektualisieren“ und „jedes in der tiefsten Anlage
der Dinge etwa schlummernde spezifische Willenselement in reale
oder logische Notwendigkeit aufzulösen.*”%) Und es ist wiederum
charakteristisch, dass dieser Versuch einer „Intellektualisierung“
der Begierden und Willensakte sich im „Kurzen Traktat“, der
noch auf dem Standpunkt der dynamischen Naturbetrachtung
steht, nirgends findet, sondern dass er erst allmählich, mit der
logischen Umbildung der Gesamtanschauung, zur Reife gelangt..‘')
Immer deutlicher zeigt es sich jetzt, dass das positive inhalt‑
liche K o r r e l a t , das w i r für den Spinozistischen Begriff der Sub‑
stanz fordern mussten, um ihn m i t wirklicher, anschaulicher
Bedeutung erfüllen zu können, nirgends anders gesucht werden
kann, als im Gebiete der rein mathematischen Betrachtung. Jede
andere Bestimmung, die m a n versuchen könnte, widerstreitet den
Grundlehren des Systems. Die Dinge i n ihrer S u b s t a n t i a l i t ä t
erkennen heisst sie in ihrer ein f ü r allemal feststehenden mathe‑
matischen A b h ä n g i g k e i t erkennen. I n diesem Sinne ist die
Substanz nicht die „transiente“, sondern die „immanente* Ur‑
sache der Einzeldinge: stellt sie doch nicht anderes, als deren
eigenen, notwendigen und gesetzlichen Zusammenhang dar. So‑
lange Spinoza an dieser seiner spezifischen Grundansicht festhält:
solange ist er den dialektischen Gefahren des Pantheismus ent‑
hoben. Bedeutet das All nichts als die durchgreifende O r d n u n g
des Seins, so geraten w i r nicht in Versuchung, es als ein eigenes
Etwas zu denken, das ausserhalb der Einzelobjekte und ge‑
t r e n n t v o n ihnen ein gesondertes Dasein besässe; so wenig es
uns auf der anderen Seite m i t der blossen S u m m e der Einzel‑
dinge zusammenfällt. Denn dies einheitliche Gesetz, kraft dessen °
alles Einzelne unter einander zusammenhängt, ist kein Produkt
und Ergebnis aus dem Bestande der Einzeldinge, sondern die
D Substanz als
i e Substans
Die mathematische Ordnung
als mathematische Seins.
Ordnung des Seins. 35
35

Voraussetzung
Voraussetzung dieses dieses Bestandes
Bestandes selbst. selbst. Auch Auch die Schwierigkeit,
Schwierigkeit,
d i ee sichsich vvor o r aallen’ anderen aufdrängt,
l l e n anderen aufdrängt, dass nämlich die
dass nämlich die uun-n ‑
endliche
endliche Substanz, Substanz, da da sie keinerlei Einschränkung
sie keinerlei Einschränkung fähig fähig sei, sei,
nach
n a c h den den Grundsätzen
Grundsätzen des des Systems
Systems auch auch jeglicher B e e sstti m mm uu nngg
bar
b a r und und somit somit ein ein gänzlich
gänzlich inhaltleerer
inhaltleerer Begriff Begriff sein sein müsse,
müsse, findet
jetzt ihre ihre Aufklärung.
Aufklärung. Wenn Wenn die die „Substanz“
„Substanz* vvom o m d i n g l i c h eenn
Standpunkt
Standpunkt als als einein reines „Nichts" erscheint,
reines „Nichts“ erscheint, wenn wenn w wiri r in iihr hr
keines der sachlichen Merkmale,
keines der sachlichen Merkmale, das die endlichen das die endlichen Objekte
charakterisiert und
charakterisiert und unterscheidet,
unterscheidet, wiederfinden:
wiederfinden: so erweist sich
so erweist sich
damit dass i h r Ursprung einer
damit nur, dass ibr Ursprung in einer völlig a n d e r e n llogischen
n u r, i n völlig anderen ogischen
Be e t r a cc hh t u nn gg sswweeii ssee zu z u suchen
suchen ist. ist. Die universelle Regel
Die universelle Regel ffür ür
alles
alles Sein Sein und und Geschehen
Geschehen kkann a n n n u rr in der Totalität dieses dieses Ge‑ Ge-
schehens selbst
schehens angeschaut werden;
selbst angeschaut werden; sie kann sich
sie kann nicht in
sich nicht in irgend
irgend
einem
einem konkreten Einzelgliede und
konkreten Einzelgliede und Einzelzuge
Einzelzuge unmittelbar unmittelbar offen‑ offen-
baren.
baren. Sie Siebleibt
bleibt gegenüber allen allen Maassen,
Maassen, die die wir den den besonderen
besonderen
empirischen
empirischen Gegenständen Gegenständen entlehnen, entlehnen, inkommensurabel;
inkommensurabel; nicht nicht
weil
weil sie ausserhalb jeglicher B
sie ausserhalb Beziehung
e z i e h u n g zu ihnen steht,
zu ihnen steht, sondern
sondern
weil
weil sie umgekehrt die
sie umgekehrt die Bedingung
Bedingung all dieser Maasse
all dieser Maasse selbst selbst ist. ist.
So fühlt
So fühlt man man durchdurch alle die metaphysischen
alle die metaphysischen Grundbestimmungen Grundbestimmungen
Spinozas hindurch
Spinozas hindurch das deutliche Bemühen,
das deutliche Bemühen, ein ein „Sein“
„Sein" zu zu er‑er-
. greifen und zu beschreiben,
greifen und zu beschreiben, das nur das n u r in der K o r r e l
der Korrelation zu den a t i o n zu den
endlichen Dingen
endlichen Dingen BestandBestand hat hat und und das dennoch dennoch einer völlig
anderen gedanklichen
anderen gedanklichen D i m als sie selber
m e nn ssiioonn,, als selber angehört.
angehört. In
diesem innern
diesem Gegensatz der
innern Gegensatz Motive: in dem
der Motive: dem Umstand,Umstand, dass das das
Endliche
Endliche uund das Unendliche,
n d das Unendliche, die die sich wechselseitig fordern,
sich wechselseitig fordern,
sich, unter
sich, unter einem einem andern Gesichtspunkt, notwendig
andern Gesichtspunkt, notwendig abstossen, abstossen,
vollendet
vollendet sich erst der Aufbau
sich erst Aufbau des Systems. Das
des Systems. Das ist ist das Eigen‑Eigen-
tümliche
tümliche von Spinozas Pantheismus,
von Spinozas Pantheismus, dass dass er zugleich der Aus‑
er zugleich Aus-
druck eines
druck logischen Kampfes
eines logischen Kampfes ist. ist. Der Der Kampf,Kampf, der der hier hier gegen
gegen
den persönlichen Gott
den persönlichen Theologie geführt wird,
Gott der Theologie wird, stammt
stammt nnur ur
zur Hälfte
zur Hälfte aus ethisch-religiösen Motiven;
aus etbisch-religiösen Motiven; er ist ist zugleich
zugleich aus aus demdem
hervorgegangen, das
Streben hervorgegangen,
Streben das neue, gleichsam unpersönliche
neue, gleichsam unpersönliche
„Sein“, das
„Sein", Spinoza in
das Spinoza in der Geometrie und
der Geometrie und in in derder mathematischen
mathematischen
Physik
Physik in scharfer scharfer Ausprägung
Ausprägung vvor sich sieht,
o r sich sieht, zu zu allumfassender
und ausschliessender Geltung
und ausschliessender Geltung zu bringen. Wir müssen zu bringen. W i r müssen die die Sub‑
Sub-
stanz
stanz jeglicher Individualität entkleiden,
jeglicher Individualität entkleiden, um u m in i hrr rein rein und und
vollkommen den
vollkommen Charakter der allgemeinen
den Charakter allgemeinen geometrischen geometrischen Ge‑ Ge-
s e t z l i c h k e i t zu
setzlichkeit z u eerkennen. D i e s e Gesetzlichkeit
r k e n n e n . Diese ist kein
G e s e t z l i c h k e i t ist k e i n blosses
blosses
Br
ga
36 Spinoza.

Begriffswesen, kein blosser Gedanke in den Köpfen der Menschen,


sondern sie steht in der Ordnung und dem tatsächlichen Verlauf
der Einzeldinge konkret und wirklich v o r uns. ‑
Dass freilich diese gesamte Gedankenreihe innerhalb des
Systems selbst nicht zum endgültigen Abschluss gelangt ist: dies
lässt, deutlicher als alles andere, Spinozas L e h r e v o n d e n A t ‑
t r i b u t e n erkennen. Sie hat von jeher einen schweren Anstoss
f ü r jede einheitliche Deutung des Gesamtsystems gebildet; u n d
man kann es begreifen, dass manche Interpreten in i h r schliess‑
l i c h n u r noch einen unauflöslichen Selbstwiderspruch gesehen
haben, der dem Spinozismus von Anfang an anhaftet und dem
e r sich vergebens z u entziehen trachtet.”?) Die i d e a l i s t i s c h e
Auffassung der Lehre, nach der die Verschiedenheit der Attribute
nicht sowohl in der Substanz selbst, wie in der „subjektiven“
Beurteilung des I n t e l l e k t s ihren letzten Grund haben soll, setzt
eine Unterscheidung voraus, die dem System selber durchaus
fremd ist. F ü r Spinoza vermag der Verstand, auch in seinen
höchsten und freiesten Betätigungen, zu denen er lediglich v o n
der eigenen Natur bestimmt wird, n u r wiederzugeben, was in der
Wirklichkeit der Dinge real vorhanden ist: er setzt somit keine
völlig neuen Unterschiede und Abgrenzungen, sondern er „refe‑
riert“ n u r für sich bestehende, objektive Differenzen. Nicht min‑
der aber erweist sich die Deutung der Attribute als verschieden
gerichteter Wirkungsweisen und Kräfte, die sämtlich aus einer
einheitlichen Urkraft hervorquellen, als undurchführbar; kennt
doch die Lehre Spinozas in ihrer reifen Form keine Vorstellung
einer K r a f t , die über die Vorstellung der notwendigen geome‑
trischen F o l g e hinausginge’(s. ob. S. 32f.). W i e aber in dem
schlechthin gleichartigen Urwesen der notwendige rationale Grund
für eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungenliegen könne, scheint
nach wie v o r ein Rätsel. Und dennoch lässt sich auch bier eine
begriffliche Vermittlung finden, lässt sich z u m mindesten das ge‑
dankliche M o t i v von Spinozas Lehre deutlich bezeichnen, so‑
fern m a n n u r das methodische Interesse, von dem er seinen
Ausgang nimmt, scharf ins Auge fasst. Der Zusammenhang u n d
. die mathematische V e r f a s s u n g des Seins, kraft deren jedes Glied
sich deduktiv aus dem andern ergibt, bildet den letzten und
höchsten Gegenstand der Erkenntnis. Betrachten w i r diesen Zu‑
Die Attributenlehre. 37

sammenhang, wie er sich im Lehrgebäude der Geometrie aus‑


prägt, so bietet sich u n s unmittelbar eine zwiefache Beziehung
dar. W i r können entweder direkt auf den I n h a l t der geome‑
trischen Sätze reflektieren und uns völlig in seine Anschauung
versenken, oder aber diese Sätze a l s solche betrachten und nach
der Stellung erwägen,die sie im System der Erkenntnis, im Ge‑
samtsystem der wissenschaftlichen W a h r h e i t zu einander be‑
sitzen. Ein beliebiger geometrischer Lehrsatz sagt zunächst et‑
was über das Verhältnis objektiver, räumlicher G e sta l te n aus:
aber durch diese Aussage wird zugleich unmittelbar ein Verhält‑
nis zwischen Begriffen, eine logische Verknüpfung v o n Gedanken
gesetzt. Beide Momente existieren nicht losgelöst v o n einander,
sondern sie sind in demselben einfachen Tatbestand der Erkennt‑
nis gegeben. Es ist ein und derselbe Funktionalzusammenhang,
der uns jetzt als eine Ordnung der Gegenstände, jetzt als eine
notwendige Abfolge in unserem Denken erscheint. Die Trennung
in diese „subjektive“ u n d „objektive“ Betrachtungsweise ist all
unserem Wissen wesentlich; aber sie lässt die Einheit des ge‑
wussten Inbalts unberührt. Die Ordnung und Verknüpfung der
Ideen ist dieselbe, wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge:
die I d e n t i t ä t der O r d n u n g aber ist es, die, wie w i r überall
sahen, für Spinoza die I d e n t i t ä t der Substanz ausmacht. Die
Eigenart der Spinozistischen Ansicht und i h r Unterschied gegen
alle modernen Theorien des „Parallelismus“ v o n Sein und Den‑
ken, v o n Physischem und Psychischem besteht darin, dass es
sich hier nicht darum handelt, zwei verschiedene Reihen c a u ‑
s a l e n W i r k e n s miteinander in Beziehung und Verbindung zu
seizen. Stünde die Aufgabe so, so bliebe ihre Lösung problema‑
tisch: denn es wäre zum mindesten kein Widerspruch, dass es
zwei verschiedene, von einander unabhängige Wirkungsweisen
gäbe, die getrennten Wirkungsgesetzen gehorchten. F ü r Spinoza
indessen ist das Causalverhältnis völlig in ein reines B e g r i ff s ‑
v e r h ä l t n i s umgesetzt: die Ursache bedingt die Wirkung i n der‑
selben Weise, wie die Prämissen den Schlusssatz bedingen. Der
Gedanke einer zwiefachen Causalität würde daher dem Gedanken
einer zwiefachen Logik gleichkommen: er würde nicht weniger
besagen, als dass die Gesetze unseres Folgerns und Schliessens
nicht ein- für allemal unverbrüchlich feststünden, sondern sich
38 Spinosa.

je nach dem Material, an dem sie ausgeübt werden, wandeln


könnten. Man begreift es daher, dass Spinoza nirgends den Ver‑
such unternimmt, die Identität der Ordnung innerhalb der bei‑
den Attribute des Denkens und der Ausdehnung zu beweisen,
sondern dass sie i h m v o n Anfang an als axiomatische Grundan‑
schauung feststeht.) Die logische Gliederung des Alls ist n u r
Eine: wenn w i r sie jetzt als eine solche der Körperwelt, jetzt als
eine solche der Ideen bezeichnen, so ändern w i r sie dadurch
nicht, sondern stellen sie n u r in. einer bestimmten Ausprägung
v o r uns hin. Der Intellekt wendet sich einem bestimmten Ge‑
biete des Seins zu; aber das Spezifische dieses Gebiets ist i h m
n u r das Mittel, um sich der universellen einheitlichen Ordnung
des Geschehens zu versichern.) Was die Betrachtungsweise i n ‑
nerhalb eines Attributs uns liefert, ist daher keine blosse Te i l ‑
a n s i c h t der Realität, sondern das Bestimmende und Charakte‑
ristische der Gesamtverfassung des Universums. W i r besitzen in
jedem Attribut die ganze Substanz, weil w i r in ihm die überall
gleichartige Regel der Verknüpfung des Einzelnen, die sich nicht
zerfällen noch auflösen lässt, rein und ungebrochen anschauen.
Lässt sich somit bis hierher das Motiv der Spinozistischen
Attributenlehre in der Analyse der E r k e n n t n i s unzweideutig
aufzeigen: so begegnet uns eine neue und tiefere Schwierigkeit
i n der Annahme einer U n e n d l i c h k e i t v o n Attributen, die
dem menschlichen Geist f ü r immer unzugänglich bleiben sollen.
Hier ist jede Vermittlung abgebrochen; hier fehlt jeglicher Weg,
der uns zu diesem prinzipiell unerkennbaren Sein hinauszuführen’
vermöchte. Die Einwände, die Ts c h i r n h a u s gegen diesen Te i l
des Systems gerichtet hat, hat Spinoza nicht zu widerlegen ver‑
mocht. Wenn jedes Einzelding das Urwesen unter einer Unend‑
lichkeit v o n Attributen ausdrückt, v o n denen dem Denken indess
lediglich das Attribut der Ausdehnung bekannt wird, so gibt es
eine Unendlichkeit selbständiger Welten, die ausserhalb jeglicher
Beziehung zu unserer Erkenntnis stehen. Unser Wissen bietet
uns alsdann n u r einen beschränkten Ausschnitt des Alls, der im
Vergleich z u m Ganzen verschwindend klein heissen muss.’5) Hier
grenzt daher das System des absoluten Wissens in der Tat h a r t
an die Skepsis an. Und der tiefere Grund dieses Zwiespalts w i r d
deutlich, w e n n man auf die Entstehung der Spinozistischen Attri‑
Die Unendlichkeit der Attribute. 89

butenlebre zurückblickt. Die Grundanschauung v o n der Unend‑


lichkeit der Attribute geht auf die erste Phase des Systems zu‑
rück, wie sie im „Kurzen Traktat“ vorliegt. Hier besitzt sie
denn auch ihren wahrhaften Ort und lässt sich in ihrem natür‑
lichen logischen Zusammenhange begreifen. W i r müssen der
Natur unendlich viele Attribute zuschreiben, weil w i r i h r n u r
auf diese Weise jene allseitige qualitative Vollkommenbheit
verleihen, kraft deren sie z u m g ö t t l i c h e n Sein wird. Eine je
grössere Zahl realer Eigenschaften w i r einem Dinge zusprechen,
eine u m s o grössere S e i n s f ü l l e denken w i r i n i h m verkörpert und
vereinigt: das All der Realität kann daher nicht anders gedacht
werden, als dass es jede n u r erdenkliche Wesensbestimmtheit in ‑
sich fasst. „Die Einheit der Natur“ ‐ so gibt S i g w a r t das
Grundmotiv treffend wieder ‐ „kann nicht stärker ausgedrückt
werden, als durch die Formel, dass Alles, was ein Sein ausdrückt,
ihr zugeschrieben werden muss; ihre Unendlichkeit nicht be‑
stimmter, als wenn unendlich viele Welten, jede ebenso unend‑
lich in ihrer bestimmten Gattung, wie Denken oder Ausdehnung,
sie bilden. Ist sie das unendliche Eine, dem alle Attribute zu‑
kommen, so ist sie Gott, und daraus erst ergibt sich der Begriff
Goties, m i t dem die Ethik beginnt als der Einen Substanz, die
aus unendlich vielen Attributen besteht.“ Die Schwierigkeit,
diese unendliche Mannigfaltigkeit völlig getrennter und unter
einander logisch beziehungsloser Bestimmungen zu Einer ein‑
zigen Substanz zusammenzufassen, diese Schwierigkeit, die später
zum mindesten bemerkt und eindringlich betont wird, besteht
auf diesem Standpunkte noch nicht, weil der Gedanke, der
Spinoza hier völlig beherrscht, „der der Einheit der unendlichen
Natur, der To t a l i t ä t des Seienden ist, i n der ohne Wider‑
spruch zwei von einander unterschiedene Welten, deren jede in
sich unendlich ist, zusammengedacht werden können’‘“’6) Die
Lösung aber, die hier gegeben war, musste v o n neuem z u m
Problem werden durch die innere Umbildung, die der B e g r i f f des
Seins bei Spinoza allmählich erfährt. W i r sahen, wie das absolute
Sein jede bestimmte dingliche Beschaffenheit und Charakteristik
immer m e h r von sich abstreift, um sich in den Begriff der all‑
umfassenden mathematischen W e l t o r d n u n g zu wandeln. Erst
diese Läuterung des Begriffs stellte i h n ausserhalb der Anli‑
140
0 Spinoza.
Spinoza.

nomien,
nomien, in die die jede jede pantheistische
pantheistische Ansicht sich sich sonst sonst m i tt
Notwendigkeit
Notwendigkeit verwickelt. verwickelt. Die Die Lehre
Lehre vvon o n der Unendlichkeit
Unendlichkeit
Attribute aber
der Attribute
der aber bildetbildet einen einen jener Bestandteile Bestandteile des des Systems,
Systems.
der diesem
der diesem inneren Bildungsprozess widerstanden
inneren Bildungsprozess widerstanden hat. hat. Sie Sie be‑ be-
zeichnet am
zeichnet am deutlichsten
deutlichsten den den Widerstreit,
Widerstreit, in welchem welchem der Spino‑ Spino-
i s m u s zzuletzt
zzismus v e r h a r r t und
u l e t z t verharrt u n d in i n dem
dem er verbarren muss,
er verharren muss, sofern sofern
er es unternimmt, seinen
es unternimmt, eigentlichen Grundgedanken
seinen eigentlichen Grundgedanken vvon o n der.
der
deduktiven Verknüpfung
strengen deduktiven
strengen Verknüpfung alles Seins in der FForm
alles Seins o r m des des
Substanzbegriffes auszusprechen. Der
S u b s t a n z b e g r i f f e s auszusprechen. Dualismus der Auf‑
Der Dualismus Auf-
fassung wird
fassung nunmehr unverkennbar:
wird nunmehr unverkennbar: auf der einen einen Seite Seite eine eine
universelle
universelle und allbefassende Regel,
und allbefassende Regel, die die jedejede besondere
besondere Seins‑ Seins-
beschaffenheit
beschaffenheit vvon o n sichsich ausschliesst,
ausschliesst, auf auf derder anderen
anderen ein ein „Ding„Ding
aller Dinge“,
aller Dinge", das das die unendliche Fülle
die unendliche aller Eigenschaften
Fülle aller Eigenschaften in
sich trägt
sich trägt und und bewahrt;
bewahrt; hier hier der reine reine Gedanke
Gedanke vvom o m notwen‑
notwen-
digen Z uu s a m m e n h aanngg alles
digen Wirklichew, dort wiederum
alles Wirklichen, wiederum das das
„Ens
„Ens realissimum“
realissimum" der Scholastik. Scholastik.
Damit
Damit aber stehen wir zugleich
aber stehen zugleich an einem Punkt,
an einem Punkt, der ffür ür
die Stellung des
die Stellung des Erkenntnisproblems
Erkenntnisproblems im Ganzen Ganzen der philoso‑ philoso-
phischen Grundprobleme von
phischen Grundprobleme von typischer Bedeutung Bedeutung ist. Betrachtet
ist. Betrachtet
man Spinozas Metaphysik,
man Spinozas Metaphysik, so scheint sie,
so scheint sie, in der Geschlossen‑
Geschlossen-
heit,
heit, in der sie sie uns zunächst entgegentritt,
uns zunächst entgegentritt, völlig völlig ausserhalb
ausserbalb des
F o r t g a n gg ss d ee r w iiss s e e nnsscchhaaffttll i c h eenn N Naa t uu rraa u fff faass s u n g zzuu
stehen. So
stehen. So sehr sehr SpinozaSpinoza m miti t den Ergebnissen der modernen
den Ergebnissen modernen
mathematischen
mathematischen und und physikalischen
physikalischen Forschung Forschung vertraut vertraut ist: ist: so so
wenig scheinen diese
wenig scheinen Ergebnisse unmittelbar
diese Ergebnisse unmittelbar auf auf das Ganze Ganze seiner
philosophischen Ansicht
philosophischen Ansicht einzuwirken
einzuwirken und und deren Fundamente zu
deren Fundamente zu
bestimmen.
bestimmen. Man Man brauchtbraucht iihn h n nnur ur m miti t Denkern,
Denkern, wie wie D escaries
Descartes
oder LLeibniz
oder e i b n i z zu zu vergleichen,
vergleichen, um um sich sogleich den
sich sogleich den ganzen
ganzen Ab‑ Ab-
stand zu
stand zu deutlichstem
deutlichstem Bewusstsein Bewusstsein zu bringen. Und
zu bringen. Und dennoch
dennoch
trägt
trägt auch auch seine seine Lehre, wenngleich verdeckt,
Lehre, wenngleich verdeckt, Jie Spuren jener
die Spuren jener
allgemeinen Wandlung
allgemeinen Wandlung in in sich, die
sich, die das Ideal
Ideal der wissenschaft‑
wissenschaft-
l iicc hh e
e nn EE rr k e e nn nn tt nn ii ss iim s i e b z e h n t e n JJahrhundert
m siebzehnien e r f ä h r t . Die
a h r h u n d e r t erfährt. Die
Gleichung
Gleichung „Deus „Deus sive sive nnatura"
a t u r a “ bleibt
bleibt von von der logischen
logischen Ent- Ent‑
wickelung, die
wickelung, die der der Begriff
Begriff der Natur Natur selbst erfahren hatte,
selbst erfahren hatte, nicht nicht
unberührt.
unberührt. Wenn ffür
Wenn die Renaissance
ü r die Renaissance die die „Natur“
„ N a t u r das unend‑ unend-
liche allgegenwärtige
liche allgegenwärtige Sein Sein war, war, das in seiner Kraftfülle Kraftfülle unab‑ unab-
lässig
lässig neue neue Einzelgestalten
Einzelgestalten gebiert, gebiert, wenn wenn sie sie als das innere innere
zwecktätige L e b eenn des
zwecktätige des Alls
Alls galt,galt, so so w ar m
war miti t der Entstehung
Entstehung
Der Spinosismus und die exakte Wissenschaft, 41

der exakten Wissenschaft eine völlig neue Betrachtung z u r Herr‑


schaft gelang. Was v o n jenem lebenswarmen Bilde zurück‑
blieb, schien n u r ein Gerippe, n u r das abstrakte Schema der
mathematischen Notwendigkeit zu sein. Aber eben diese schein‑
bare Verarmung des Seins stellte sich auf der anderen Seite als
eine unermessliche Bereicherung des Wissens dar. - Und so
zeigte es sich jetzt mehr und mehr, dass auch der neue empi‑
rische Naturbegriff der gleichen metaphysischen Idealisierung,
der gleichen Steigerung ins G ö t t l i c h e und U n b e d i n g t e fähig
war. Die neue Physik erschliesst zugleich eine ueue Möglichkeit
der Metaphysik: ist sie es doch, die den Weg weist, die end‑
lichen Dinge und ihren Ablauf mathematisch d. h. unter der
Form des Ewigen zu begreifen. Die Zeitfolge selbst wird durch
sie in das Gebiet des zeitlos gültigen Erkennens emporgehoben,
so dass jetzt erst wahrhaft die Kluft zwischen dem Bedingten
und Unbedingten überbrückt scheint. Spinozas Gottesbegriff
spiegelt die beiden entgegengesetzten Phasen dieses geschicht‑
lichen Fortgangs deutlich wieder. Er steht mitten inne zwischen
der Anschauung der Natur als eines lebendigen Kosmos und
zwischen ihrer Auffassung als reiner logisch-geometrischer Ge‑
setzlichkeit. Aus dem Gegensatz dieser beiden Grundansichten,
der nirgends völlig geschlichtet und ausgeglichen ist, aus dem
Widerstreit zwischen den abstrakten rationalenErkenntnismitteln
und dem mystischen Endziel des „amor Dei intellectualis*“ erklären
sich die Widersprüche in den abgeleiteten Sätzen des Systems.
So erweist sich die scheinbare Absonderung und Selbstgenüg‑
samkeilt der Metaphysik auch hier als Illusion. Auch dort, wo
die Metaphysik nicht m i t klarem methodischen Bewusstsein an
die empirische Wissenschaft herantritt, um sie nach ihren Prin‑
zipien zu befragen, wird sie nichtsdesioweniger unvermerkt in
den Bann dieser Prinzipien gezogen. In diesem Sinne ist auch
der Spinozismus das Ergebnis und der Reflex zweier verschieden‑
artiger E r k e n n t n i s i d e a l e , die m i t einander u m die logische
Herrschaft ringen. ‑
Die Lehre von der Unendlichkeit der Attribute aber weist
uns zugleich auf ein anderes Problem v o n allgemeinster syste‑
matischer Bedeutung zurück. Wie gelangen w i r von dem all‑
gemeinen Ordnungsgesetz, als welches die Substanz Spinozas in
42 i Spinoza.

ihrer reinsten Ausprägung allenthalben erscheint, zum bestimmten


Sein der D i n g e ? Die methodischen Mittel der Geometrie,
über die Spinoza zuletzt allein verfügt, genügen nicht z u r Setzung
der empirisch-physikalischen, geschweige der absoluten W i r k ‑
l i c h k e i t . W i r stehen hier a n demselben Punkt, a n dem die
Methodik Descartes’ ihre Schranke fand: die Bestimmung der
E x i s t e n z bleibt den blossen Mitteln der Mathematik und der
Logik versagt. Was uns hier gegeben ist, sind blosse allgemeine
Beziehungen, die f ü r sich allein das konkrete besondere Dasein
nicht erschöpfen. (Vgl. bes. Bd. I, S. 411 u. 421.) So klafft hier
in dem strengen deduktiven Beweisgang eine Lücke, die durch
das ontologische Argument, das an die Spitze tritt, nicht sowohl
ausgefüllt, als n u r um so schärfer bezeichuet wird. Hier wird
der Spinozismüs, wenn er konsequent zu Ende gedacht wird, in
der Tat, gemäss dem Worte Hegels, z u m „Akosmismus*: die
„Dinge“ werden durch ihn letzten Endes nicht abgeleitet, sondern
verneint und aufgehoben. Die „Seinsfülle“ des Absoluten, die
anfangs so fraglos und unangreifbar feststand, droht sich zu ver‑
flüchtigen, je mehr der streng r a t i o n a l e Erkenntnischarakter
des Systems sich durchsetzt. Die Begriffsbestimmung des „Attri‑
buts“ ist ein deutliches Symptom dieses innern Widerstreits.
Dass w i r die Substanz niemals an und f ü r sich ergreifen, sondern
sie vielmehr stets unter irgend einem Attribut auffassen und da‑
ber m i t bestimmten qualitativen Eigenschaften behaften müssen:
dies wird als eine Notwendigkeit erklärt, die uns durch die Natur
des Denkens, durch das Wesen des Intellekts selber aufgedrängt
w i r d . ) Aber dieser l o g i s c h e Zwang w i r d zugleich unmittelbar
als ein solcher gedeutet, der in den Objekten selbst besteht u n d
gegründet ist. Dass w i r der Substanz unendlich viele Attribute
zusprechen, dies stammt nicht „ v o n uns“, die w i r ja empirisch
n u r deren zwei erkennen, sondern es muss seinen Ursprung in
jenen unendlichen Attributen selbst haben, „die u n s sagen, dass
sie da sind, ohne uns ebenso auch zu sagen, w a s sie sind.*'®)
Es ist vollkommen deutlich, wie hier die formalen Kategorien
des Dinges und der Eigenschaft sich in absolute Bestimmungen
des Seins verwandelt haben. Die Unendlichkeit der Attribute
aber erscheint in diesem Zusammenhang lediglich als der Aus‑
druck ihrer völligen l o g i s c h e n U n b e s t i m m b a r k e i t : d a durch
Das Sein des Gesetses und das Sein der Dinge. 43

die Spinozistische Substanz, ihrem reinen Begriffe nach, noch


keinerlei besondere sachliche Bestimmungen gesetzt sind, so
können freilich auch keinerlei andere von i h r durch eben diesen
Begriff ausgeschlossen sein. So wenig daher eine derartige
Determination an sich widersprechend ist, so wenig ist doch
positiv der Weg gewiesen, auf welchem w i r zu i h r gelangen
könnten. Die E r f a h r u n g darf bier, nach dem gesamten Auf‑
b a u des Systems, nicht in Frage kommen: Spinoza selbst ist es,
der sie v o n der Lösung des Problems prinzipiell ausschliesst.
„ D u fragst ‐ so schreibt er an Simon de Vries ‐ ob w i r der
Erfahrung bedürfen, um zu wissen, ob die Erklärung eines be‑
stimmten Attributes wahr sei? Hierauf erwidere ich, dass wir
die Erfahrung n u r f ü r diejenigen Bestimmungen brauchen, die,
w i e die Existenz der Modi, nicht aus der D e fi n i t i o n der Sache
abgeleitet werden können; ‐ nicht aber f ü r die Erkenntnis der
Dinge, in denen Essenz und Existenz zusammenfällt und deren
Sein somit aus ihrer Definition folgt. Ja es vermöchte uns hier
keinerlei Erfahrung zu belehren: denn die Erfahrung zeigt uns
nicht die Wesenheiten der Dinge, sondern das Höchste, was sie
zu leisten vermag, ist, dass sie dem Geist eine bestimmte Rich‑
t u n g gibt, an gewisse Wesenheiten mehr als an andere zu denken.
Da n u n bei den Attributen Essenz und Existenz nicht getrennt
sind, so können wir uns ihrer durch keine Erfahrung ver‑
sichern.“’?) Welcher andere Weg also bleibt uns, um zu einer
k o n k r e t e n V i e l h e i t v o n Bestimmungen zu gelangen, die
m i t den Mitteln des reinen logischen Denkens gewonnen und ge‑
sichert werden’ soll? Ist es die Analyse des Bewusstseins, die
u n s hier weiter zu führen vermag, indem sie uns, wie w i r früher
anzudeuten suchten, in dem an sich einheitlichen Begriff des
Seins, je nach der Richtung unserer Betrachtung, notwendige
u n d innere ' Unterscheidungen kennen lehrt? (Vgl. ob. S. 37.)
Aber wenn dies der Fall ist, so steht doch dieses Eine fest: dass
w a s i m m e r auf diesem Wege erreicht wird, n u r in der K o r r e ‑
l a t i o n zum Bewusstsein seine Bedeutung besitzt und bewahrt
u n d dass w i r daher hier nirgends zu einem Sein gelangen
könnten, das prinzipiell über alle Grenzen der Erkennbarkeit
hinausliegt. ‐
. Und hier stehen w i r denn schliesslich vor der eigentlichen
44
‑ Spinoza.

Hauptfrage, m i t welcher sich das Schicksal des Spinozismus


entscheidet. Ist der Gedanke lediglich ein einzelnes Erzeugnis
des absoluten Seins oder kommt i h m eine auszeichnende Bedeu‑
tung zu? Es ist kein fremder Gesichtspunkt, der m i t dieser
Frage an das System herangebracht wird, sondern m a n kann
ihre Entstehung innerhalb der eigenen Lehre Spinozas deutlich
verfolgen.) W i r mögen u n s noch so viele verschiedenartige
W e l t e n vorstellen, die aus dem Beisammen verschiedener, uns
unbekannter A t t r i b u t e bestehen: immer ist es das A t t r i b u t
des Denkens, das wirjedem dieser Gebiete des Seins zuordnen
müssen, damit u n s der Begriff einer in sich einheitlichen Wirk‑
lichkeit entsteht. So bildet das Denken kein einzelnes Attribut
neben anderen, das v o n ihnen beliebig abgelöst werden könnte,
sondern es ist gleichsam ein gemeinsamer Exponent, den w i r z u r
Konzeption jedweden Seins notwendig brauchen. Hieraus aber
ergibt sich, im Zusammenhang m i t den Grundvoraussetzungen
der reifen Spinozistischen Erkenntnislehre, ein weiterer Schritt.
Die „wahre Idee“ wird nicht von aussen durch i h r Objekt be‑
stimmt; sondern sie ergibt sich im notwendigen Fortschritt aus
der Aktivität des Geistes (s. oben S. 12ff). Alles echte und adä‑
quate Wissen, das der Verstand von irgend einer Realität ausser‑
halb seiner eigenen Grenzen zu erwerben vermag, entstammt so‑
m i t lediglich dem Grunde des Denkens selbst. Wenn wir irgend
einem Inhalte eine „formale“, für sich bestehende Realität ver‑
leiben, so geschieht auch dies lediglich gemäss r e i n l o g i s c h e n
Kriterien und Kennzeichen, nicht aber infolge einer tatsächlichen
Einwirkung und eines Zwanges, den der Gegenstand selbst auf
u n s ausübt. Alles Sein, von dem w i r Kunde baben, ist somit
ein durch das Wissen gesetztes und vermitteltes Sein. Besitzen
w i r aber alsdann noch ein Recht, es von diesem seinen Urgrund
loszulösen und i h m eine schlechthin unbedingte Wirklichkeit
zuzuschreiben? Die Unterschiedenheit der Attribute selbst konnte
nicht anders begründet und erwiesen werden, als dass w i r auf
die F u n k t i o n des Intellekts, der die unendliche Substanz
notwendig unter einem bestimmten „Gesichtspunkt“ betrachten
müsse, Rücksicht nabmen; der Intellekt ist somit nicht n u r ein
einzelnes G l i e d in der Mannigfaltigkeit des Seins, sondern er be‑
deutet eine der Voraussetzungen dieser Mannigfaltigkeit.
Die Stellung
Die des Intelickts
Stellung des Intelickts im System Spinosas.
im Systems Spinosas. 45

Eben diese
Eben Ursprünglichkeit, diese
diese Ursprünglichkeit, diese Selbständigkeit
Selbständigkeit des Den‑ Den-
kens aber
kens aber ist es, für die
ist es, die Metaphysik
die die Metaphysik des des Spinozismus,
Spinozismus, wenn‑ wenn-
gleich
gleich siesie sie anerkennt, zuletzt
sie anerkennt, Erklärung zu
keine Erklärung
zuletzt keine zu finden
finden ver‑ ver-
mag.
mag. Wie vermöchte in der Tat
Wie vermöchte ein blosser
Tat ein blosser begrenzter
begrenzter M Modus
odus
sich
sich vvono n der
der Kette
Kette des des Seins,
Seins, die die iihn
h n fesselt und hält,
fesselt und hält, loszureis‑
loszureis-
sen u
sen und der Welt
n d der Welt der der Dinge
Dinge als erkennendes S u bbjjeekktt gegen‑
als erkennendes gegen-
überzutreten?
überzutreten? Die Die Möglichkeit
Möglichkeit des Selbstbewusstseins muss
des Selbstbewusstseins muss
hier als
hier als ein unlösbares Problem
ein unlösbares Problem erscheinen.81)
erscheinen.) Alles Alles Denken
Denken
besteht ffür
besteht ü r Spinoza zunächst darin,
Spinoza zunächst dass der Geist
darin, dass Geist eine bestimmte
bestimmte
im Körper v o r sich gehende
im Körper vor sich gehende Veränderung Veränderung in sich ausdrückt
sich ausdrückt und und
wiedergibt.
wiedergibt. Gestehen w
Gestehen wir diese Fähigkeit
i r diese Fähigkeit des des „Ausdrucks“
„Ausdrucks" zu, zu,
so gelangen w i r auf diese Weise doch immer
so gelangen wir auf diese Weise doch immer nur zu Bildern ein- n u r zu Bildern ein‑
zelner körperlicher Zustände,
zelner körperlicher Zustände, vvon nicht ersichtlich
denen nicht
o n denen ersichtlich ist, ist, wiewie
sie miteinander
sie miteinander in Beziehung treten und sich zu
Beziehung treten und sich zu einer umfassen- einer umfassen‑
den
den E E i n hh eeiitt zusammenschliessen
zusammenschliessen können. können. Um Um dieser Schwierig‑
Schwierig-
keit zu begegnen,
keit zu begegnen, wird wird neben
neben der „idea corporis“
der „iden corporis" die die „idea
„idea men‑men-
tis“ eingeführt: die
tis" eingeführt: die Idee ist nicht
Idee ist nicht n uurr diedie Spiegelung
Spiegelung bestimmter
bestimmter
körperlicher Affektionen,
körperlicher Affektionen, sondern sondern sie vermag ihrerseits
sie vermag ihrerseitssellstselbst
wiederum
wiederum zum Gegenstand denkender
zum Gegenstand denkender Betrachtung,
Betrachtung, zum zum Objekt
und Inhalt einer
und Inhalt einer höheren
höheren Idee Idee zu zu werden.
werden. DieseDiese ins ins Endlose
Endlose fort‑ fort-
gehende Reflexion
gehende Reflexion folgt folgt schlechthin
schlechthin aus Natur des Denkens
aus der Natur Denkens
denn wer irgend
selbst: denn
selbst: irgend etwas weiss, der weiss
etwas weiss, damit auch,
weiss damit auch, dass
dass er er
weiss n d weiss
weiss uund zugleich, dass
weiss zugleich, dass er wisse, dass
er wisse, dass er weiss u.
er weiss u. s.s. [f.-.R2)
“*)
eben diese
Aber eben Vervielfältigung, die
eigentümliche Vervielfältigung,
diese eigentümliche erst das Denken
die erst Denken
als seiner
als selbst bewusste
seiner selbst bewusste Tätigkeit charakterisiert, hebt
Tätigkeit charakterisiert, hebt eses damit
damit
zugleich
zugleich aus aus dem dem Kreise
Kreise der übrigenübrigen Aitribute
Attribute heraus. Wäbrend
heraus. Während
auf der Seite
auf Seite der Ausdehnung jede
der Ausdehnung einzelne besondere
jede einzelne besondere Modifika‑
Modifika-
tion einen isolierten Bestand bildet,
tion einen isolierten Bestand bildet, der nirgends über der nirgends sich selbst
über sich selbst
hinausweist,
hinausweist, gewinnt gewinnt die die Idee
Idee ersterst in der Rückwendung auf
der Rückwendung sich
auf sich
selbst, erst
selbst, erst in der „idea spezifischen
„idea ideae" ihren spezifischen Inhalt. Sie be‑
ideae“ ihren Inhalt. Sie be-
sitzt eine innere, qualitative
eine innere, qualitative Unendlichkeit,
Unendlichkeit, die die sichsich als solche in
als solche
keinem
keinem der übrigen zahllosen
der übrigen Attribute wiederfindet;
zahllosen Attribute wiederfindet; sie bleibt
sie bleibt
somit nicht als
somit nicht als ein einzelner Bestandteil
ein einzelner Bestandteil n e e bb eenn ihnen
ihnen stehen,
stehen,
sondern erschliesst den
sondern erschliesst den Ausblick
Ausblick in eine eine völlig neue Dimension.
völlig neue Dimension. -‑
Und nicht
Und nicht nnur die Begriffsbestimmung
u r die Begriffsbestimmung der der A t t r iibb u t ee ,, son‑
son-
dern die
dern der SSubstanz
die der selbst weist uns
u b s t a n z selbst uns zuletzt
zuletzt auf diesen Zu‑
auf diesen Zu•
sammenhang zurück.
sammenhang zurück. Kann Kann die die Idee der Substanz,
Idee der Substanz, kann kann die die Idee
Idee
der durchgängigen Gesetzesordnung
der durchgängigen Gesetzesordnung des des Alls selbst
selbst etwasetwas anderes
anderes
46 on Spinoza.

bedeuten wolien denn eine „Weise des Denkens“? Um der Re‑


lativität aller bloss „subjektiven“ Betrachtungs- und Beurteilungs‑
weisen zu entgehen, wurden w i r an die G e o m e t r i e gewiesen,
die allein den absoluten Zusammenhang des Seins treu und u n ‑
verfälscht widerspiegelt. Die Geometrie aber setzt die Anschau‑
ung des Raumes einerseits, die logischen Gesetze der Schluss‑
f o l g e r u n g andererseits voraus; sie z u r alleinigen Norm machen,
heisst somit nichts anderes, als die unendliche Fülle des Seins
aus den beiden uns allein gegebenen Attributen zu erklären. Hier
stehen w i r also v o r einem ‐ Anthropomorphismus, der nicht zu
umgehen u n d nicht zu überwinden ist. So gut wie der Zweck‑
begriff, so gut wurzelt auch der Begriff der mathematischen Not‑
wendigkeit lediglich im Intellekt. Die Begriffe der O r d n u n g ,
der E i n h e i t und der Vi e l h e i t , des S u b j e k t s und der a t t r i l
b u t i v e n B e s t i m m u n g (subjectum e t adjunctum) werden v o n
Spinoza selbst in den „Metaphysischen Gedanken“ zu den „modi
cogitandi“ gezählt, „vermöge deren w i r die Dinge leichter be‑
halten oder vorstellen“, die aber die Wesenheit der Dinge selbst
nicht berühren.s) Ist dem aber so, so lässt sich nicht verstehen,
wie eben diese Begriffe in Spinozas Ethik dauernd als Mittes
der absoluten W i r k l i c h k e i t s e r k e n n t n i s gebraucht werden
können. Der Widerstreit, der hier entsteht, ist auf dem Stand‑
punkt, auf dem Spinoza selbst verharrt, nicht zu heben: er würde
zu seiner Lösung eine Umformung des Begrifis des Seins, w i e
des Begriffs der Erkenntnis erfordern.
Zweites Kapitel.

Leibniz.
Wenn f ü r Descartes und f ü r die gesamte Cartesische Schule
die Untersuchung der letzten Gründe der Erkenntnis sich m i t
dem psychologischen Problem des Selbstbewusstseins ver‑
flicht; wenn für Spinoza die abstrakte Methodenlehre n u r das
Mittel ist, um eine sichere Antwort auf die ethischen und reli‑
giösen Fragen zu gewinnen und dem Menschen sein Verhältnis
zu Gott anzuweisen; so ist für Leibniz die Frage nach den
Prinzipien des Wissens zum ersten Male zum Selbstzweck
geworden. Sein erstes Interesse an der Philosophie entzündet
sich an diesem Problem, das ihn fortan nicht mehr verlässt und
das sich durch alle Wandlungen seiner spekulativen Denkart hin‑
durch in unveränderter Energie erhält. Hier liegen die eigent‑
lichen Wurzeln seiner philosophischen Kraft. Die geschichtliche
Stellung, die Leibniz’ Philosophie einnimmt und die geschichtliche
Mission, die sie zu erfüllen sucht, sind damit bereits von Anfang
an deutlich bestimmt. Wenn Leibniz in der Entwicklung seiner
Philosophie ‐ über alle Gegensätze der metaphysischen „Stand‑
punkte* hinweg ‐ bald an Descartes, bald an Spinoza und
Hobbes anknüpft, wenn er völlig unbefangen Bestandteile ihrer
Lehren aufnimmt und dem eigenen Gedankenkreis einfügt, so
müsste dieses Verhalten als ein bloss eklektischer Versuch er‑
scheinen, wenn es nicht v o n vornherein von einem einheitlichen
systematischen Interesse geleitet und beherrscht wäre. Nicht
der I n h a l t irgendwelcher philosophischer Lehrsätze, sondern
die Forschungsweise, kraft deren sie erreicht und b e ‑
gründet sind, ist es, was i h n vornehmlich fesselt und was für
ihn den eigentlichen Maassstab der Beurteilung bildet. Wenn er
sich m i t gleicher Hingebung in Descartes’ rationale Physik oder
48 Leibniz.

in Galileis und Boyles „Experimentalphilosophie*, in Spinozas


Gotteslehre und in Hobbes Körperlehre versenkt, so geschieht
es, weil er in ihnen, v o n allen Sonderfragen abgesehen, v o r allem
Beispiele und Ausprägungen des eigenen methodischen I d e a l s
der reinen D e d u k t i o n sucht. Wie weit dieses Ideal sich ver‑
wirklichen und zur Lösung konkreter Aufgaben ‐ sei es in der
Physik oder in der Psychologie, in der Rechts- und Staatslehre
oder in der Aftektenlehre ‐ fruchtbar machen lässt: dies ist die
Frage, von der er seinen Ausgang nimmt. ‑
Somit steht Leibniz in seinen Anfängen durchaus innerhalb
der allgemeinen geistigen Atmosphäre, die dem siebzehnten
Jahrhundert eigentümlich ist. Die Lehre v o n d e r D e fi n i t i o n
‐ dieses charakteristische Hauptstück seiner logischen Methoden‑
lehre ‐ weist dieselben bezeichnenden Züge auf, die u n s in
Spinozas Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes ent‑
gegengetreten sind, und die hier, wie wir sahen, wiederum auf
Hobbes zurückweisen. Das letzte Kriterium für die Wahrheit
einer Idee ‐ davon wird auch hier ausgegangen ‐ ist nicht in
ihrer Uebereinstimmung m i t einem äusseren Dinge, sondern
lediglich in der Kraft und dem Vermögen des Verstandes selbst
zu suchen. Ein Begriff kann „möglich“ und „wahr“ sein, ohne
dass sein Inhalt jemals in äusserer Realität gegeben werden
könnte, sofern w i r n u r die Gewissheit besitzen, dass er, als
innerlich widerspruchslos, den Ausgangspunkt und den Quell
g ü l t i g e r U r t e i l e bilden kann. Dieser Möglichkeit und dieses
inneren Reichtums eines Begriffes aber versichern w i r uns voll‑
kommen erst dann, wenn w i r i h n konstruktiv v o r u n s entslehen
lassen. Der Akt der genetischen K o n s t r u k t i o n verbürgt erst
die Sicherheit und den Bestand eines bestimmten Begriffs; er ist
es, der die echten, wissenschaftlich gültigen und fruchibaren
Konzeptionen v o n willkürlichen Namenerklärungen und fiktiven
Gebilden der Einbildungskraft trennt. Die Geltung eines kom‑
plexen Begriffes wird daher erst damit bewiesen, dass wir i b n in
seine „einfachen“ Bestandteile zerlegen, deren jeder sich als
konstruierbar, und somit als „möglich“ aufweisen lässt. Der u r ‑
sprüngliche Inhalt des Wissens, aus dem jeder abgeleitete quillt,
ist nicht irgendwoher v o n aussen zusammengelesen, sondern er
stammt aus einer schöpferischen Setzung des Geistes. Indem der
Verhältnis su Spinoza. 49

Verstand die Begriffe genetisch erzeugt, schafft er sich dadurch


das Material, aus dem er fortan, durch blosse mannigfache
Abwandlung und Umstellung der einzelnen Komponenten, die
ganze Fülle des Wissens zu gewinnen vermag. Wie von Spinoza,
so w i r d auch v o n Leibniz dieses erste Grundvermögen der freien
B e g r i ff s g e s t a l t u n g m i t dem Namen der I n t u i t i o n bezeichnet!)
wie Spinoza, so fordert auch er, dass von den höchsten intuitiven
Gewissheiten, v o n den anfänglichen Selbstbezeugungen des
Denkens aus, der Weg zu den mittelbaren Erkenntnissen, durch
die gesamte Reihe der bedingenden „Ursachen“ hindurch, durch‑
messen werde.
Aber schon an diesem Punkte, an dem m a n Leibniz noch
ganz innerhalb einer Gedankenreihe erblickt, die der gesamten
rationalistischen Metaphysik gemeinsam ist, beginnen die unter‑
scheidenden und eigentümlichen Züge sich herauszuheben. F ü r
Spinoza wird der höchste Punkt alles Wissens durch die Gottes‑
idee bezeichnet. Sie allein bildet das selbstgewisse Fundament,
mit dem w i r beginnen müssen, um zu irgend einer gegründeten
Kenntnis der abhängigen Modi zu gelangen. All unser empiri‑
sches Wissen bleibt in sich unfertig und haltlos, solange es uns
nicht gelungen ist, die endlichen Einzeldinge selbst und das end‑
liche, zeitliche Geschehen als eine notwendige Folge aus der
Existenz des Urwesens, in dem logisches und reales Sein zusam‑
menfallen, zu begreifen. Auch Leibniz steht, namentlich in den
Anfängen seiner Spekulation, noch durchaus innerhalb dieser
allgemeinen Grundanschauung, die freilich alsbald eine charak‑
teristische Einschränkung erfährt. „Ein primitiver Begriff ‐ so
bemerkt ein Fragment der allgemeinen Charakteristik ‐ ist ein
solcher, der sich nicht in andere auflösen lässt, sofern der Ge‑
genstand, den er bezeichnet, keine anderen Kennzeichen besitzt,
sondern sich lediglich durch sich selber kundgibt (sed est i n d e x
sui). Nun kann es einen derartigen Begriff n u r von derjenigen
Sache geben, die durch sich selbst erkannt wird: nämlich v o n
der höchsten Substanz, d. h. v o n Gott. Alle abgeleiteten Begriffe
aber, die w i r haben können, können w i r n u r vermittels dieses
primitiven Begriffs besitzen, so dass in den Dingen Nichts ist
ausser durch die Wirksamkeit Gottes, und’ in unserem Geiste
Nichts gedacht werden kann, ausser durch die Idee Gottes:
4
560 Leibniz.

wenngleich w i r n i c h t v ö l l i g d i s t i n k t zu erkennen v e r ‑
mögen, a u f welche Weise die N a t u r e n d e r D i n g e a u s
Gott, n o c h d i e I d e e n d e r D i n g e a u s d e r I d e e Gottes h e r ‑
fliessen, worin die letzte Analysis oder die adäquate Erkennt‑
nis aller Dinge kraft i h r e r Ursache bestehen würde.“?) So u n ‑
verkennbar es Begriffe und Wendungen der Spinozistischen Meta‑
physik sind, auf die Leibniz hier zurückgreift, so deutlich sieht
m a n zugleich, wie er den Voraussetzungen dieser Metaphysik
nunmehr m i t freierer und gereifterer logischer K r i t i k gegenüber‑
steht. Es übersteigt ‐ wie er ausdrücklich hervorhebt ‐ das
Maass der m e n s c h l i c h e n Erkenntnis, alles Sein rückwärts b i s
in seine absoluten Urbestimmungen, bis auf „Gott- und das
„Nichts“, zurückzuführen. So muss es u n s genügen, statt die
Möglichkeit der Dinge völlig a priori zu beweisen, die unendliche
Menge des Gedachten auf wenige Begriffe zu reduzieren, deren
Möglichkeit entweder postuliert oder aber durch die Erfahrung,
d. b. durch die Aufzeigung der Wirklichkeit der Begriffsgegen‑
stände dargetan werden muss. „So werden in der Geometrie die
Bahnen aller bewegten Punkte lediglich auf zwei Bewegungen,
auf diejenige in der Geraden und auf die in der Kreislinie zu‑
rückgeführt. Denn setzt m a n «diese beiden voraus, so kann m a n
beweisen, dass alle anderen Linien, wie etwa die Parabel, die
Hyperbel, die Conchoide, die Spirale möglich s i n d . . . Vollkom‑
mene k a u s a l e Definitionen der ersten Begriffe aber sogleich am
Anfang zu geben, d. h. solche, die die Möglichkeit der Sache a
priori anzeigen, ist freilich schwierig; an ihre Stelle können i n ‑
dessen bisweilen Nominaldefinitionen treten, durch welche die
betrachtete Idee in andere Ideen, aus denen sie begriffen werden
kann, aufgelöst wird, wenngleich w i r nicht bis zu ihren ersten
Bestandteilen vorzudringen vermögen.“?) So w i r d hier die reine
apriorische Ableitung jedweden Inhalts durch die Aufweisung
seiner „Erzeugung“ oder seiner „Ursache“ z w a r als allgemeine
Aufgabe festgehalten; zugleich aber w i r d auf eine Reihe notwen‑
diger vermittelnder u n d vorbereitender Denkschritte hingewiesen,
die dieser Operation vorangehen müssen, Es bedarf einer langen
und mühevollen Arbeit begrifflicher Analyse, es bedarf der i m ‑
mer erneuten Sichtung und Zerlegung unserer empirischen u n d
reinen Begriffe, ehe wir zu jenen ersten Elementen gelangen, m i t
D i e Analyse der Begriffe und Wahrheiten. öl

denen der synthetische konstruktive Aufbau der Erkenntnis be‑


ginnen kann. Wenn Descartes sich z u m Erweis der obersten
Begriffe und Grundsätze lediglich auf die psychologische Klarheit
u n d Deutlichkeit, m i t der w i r sie vorstellen, berief; wenn Spinoza
jede Frage nach ihrer unbedingten Giltigkeit m i t dem Satze be‑
schwichtigte, Jass die wahre Idee Zeuge und Bürgschaft ihrer
selbst und des Falschen sei: so wird Leibniz nicht müde, an die‑
s e m Punkte immer v o n neuem auf schärfste kritische P r ü f u n g
zu dringen. Die Elemente der Deduktion dürfen nicht, wie ein
selbstverständlicher Besitz, der unmittelbaren Anschauung ent‑
n o m m e n werden, sondern müssen allmählich in immer tiefer
dringender logischer Zergliederung gewonnen und erarbeitet wer‑
den. Und es besteht zuletzt kein Zweifel, dass innerhalb der
Grenzen und der Bedingtheit unserer wissenschaftllichen Erkennt‑
n i s der definitive Abschluss dieser Arbeit an keinem Punkte
gewährleistet ist. Die Einzelwissenschaften zwar können und
sollen, von ersten Prinzipien aus, die sie hypothetisch zu
Grunde legen, ihren Fortgang beginnen, ohne sich davon beirren
zu lassen, ob nicht jene Voraussetzungen selbst noch weiterer
Zerlegung fähig und bedürftig sind. Aber was f ü r sie ein sicheres
und feststehendes D a t u m bildet, das wird für die Logik viel‑
mehr zum eigentlichen und niemals völlig gelösten Problem.
D e r Beweis der angeblichen Axiome, so zweifellos sie sich der
sinnlichen Vorstellung darbieten und aufdrängen, ist immer aufs
neue zu fordern: die wahren Elemente, die anfangs in greifbarer
Nähe vor u n s zu liegen scheinen, rücken für die wissenschaft‑
liche Reflexion immer weiter zurück.
Das letzte Kriterium und der höchste Begriff, v o n welchem
a l l unsere Gewissheit abzuleiten ist, ist daher f ü r Leibniz nicht
sowohl der G o t t e s b e g r i ff , als der Wa h r h e i t s b e g r i f f . O b die
menschliche Erkenntnis zu einer vollkommenen Analyse der Vor‑
stellungen, also zu den ersten Möglichkeiten und unauflöslichen
"Begriffen gelangen werde; ob sie, m i t andern Worten, jemals alle
Gedanken auf die absoluten Attribute Gottes selbst, als erste Ur‑
sachen und den letzten Grund der Dinge werde zurückführen
können: darüber erklärt er ‐ in den grundlegenden „Meditatio‑
nes de Cognitione, Veritate et Ideis v o m Jahre 1684 ‐ keine
Entscheidung treffen zu wollen.) Aber diese Resignation berührt

52 Zeibnis.

nicht das eigentliche Ziel, noch das Verfahren der allgemeinen
Prinzipienlebre. Was u n s „Wahrheit“ bedeutet und welche Vor‑
aussetzungen dieser Begriff in sich birgt: dies wenigstens muss
sich klar und eindeutig beantworten lassen. „ W i e jemand, der
auf sandigem Boden ein Gebäude zu errichten gedenkt, fortfabren
muss, zu graben, bis er auf steinigen u n d festen Grund gelangt;
wie jemand, der einen verwickelten Knoten entwirren will, z u ‑
nächst irgend eine Stelle, an der er beginnen kann, suchen muss,
und wie Archimedes einen einzigen unbeweglichen Ort verlangte,
um die grösste Last zu bewegen, so wird, um die Elemente des
menschlichen Wissens zu begründen, ein fester Punkt erfordert,
auf den w i r uns stützen u n d von dem aus w i r sicher fortschrei‑
ten können. Dieser Anfang aber ist i n der a l l g e m e i n e n N a ‑
‘ t u r d e r W a h r h e i t e n (in ipsa generali natura Veritatum' z u
suchen.*S) Nicht das psychologische Faktum des Selbstbe‑
wusstseiss ist essomit, von dem Leibniz seinen Ausgang nimmt;
sondern womit er beginnt, das ist die allgemeine Natur, d. h. die
D e fi n i t i o n der Wahrheit selbst. W i r brauchen n u r die Forde‑
rungen, die der B e g r i f f des Wissens stellt, vollständig zu ent‑
wickeln, um damit einen sicheren und mannigfaltigen I n h a l t
des Wissens zu gewinnen. Der Gehalt der Leibnizischen Phi‑
losophie wurzelt i n den f o r m a l e n E i g e n t ü m l i c h k e i t e n
i h r e s E r k e n n t n i s b e g r i ff s und empfängt von hier aus erst sein
volles Licht.
I.
Wenn w i r ‐ wie die Fragestellung Leibnizens es verlangt
‐ nicht m i t der Analyse der D i n g e , sondern m i t der der
U r t e i l e beginnen; wenn wir uns fragen. welches das allge‑
meine Kriterium ist, auf dem die Gültigkeit und Sicherheit eines
beliebigen Urteils beruht: so finden w i r, dass das Prädikat in
das Subjekt a u f irgend eine Weise „eingeschlossen“ sein muss.
Das Urteil fügt dem Inhalt des Subjektbegriffs nichts Fremdes
und Aeusserliches hinzu, sondern es enthüllt und expliziert n u r
den Reichtum seiner idealen Bedeutung. Die gewöhnliche
empiristische Ansicht pflegt das Urteil als eine Zusammenfügung
verschiedenartiger, innerlich einander fremder Bestandteile an‑
zusehen, die w i r auf irgend eine Weise m i t einander angetroffen
D e r Begriff
Der der Wahrheit.
Begriff der Wahrheit. 68
538

haben; der Gedanke


haben; konstatiert nnur
Gedanke konstatiert eine tatsächliche
u r eine Verbindung,
tatsächliche Verbindung,
die sich
die zufällig in der Beobachtung
sich zufällig Beobachtung darbietet. darbietet. Dass Begriff a
ein Begriff
Dass ein
ein Merkmal
ein Merkmal b besitzt: besitzt: dies bedeutet
bedeutet nach nach dieser AuffassungAuffassung nichts
nichts
anderes, als
anderes, als dass sich a und
dass sich und b, sei es
b, sei unserem Denken,
es in unserem Denken, sei es
sei es
in der
in der Erfahrung,
Erfahrung, regelmässig zusammenfinden. Worauf
regelmässig zusammenfinden. W o r a u f aber
aber ‑
sso muss hhier
o muss i e r gefragt werden -‐ beruht
gefragt werden beruht die die Gewissheit,
Gewissheit, dass das‑ das-
jenige, was
jenige, was sich sich aufauf diesediese WeiseWeise in beliebig beliebig vielenvielen Fällen
Fällen zu‑ zu-
sammenfindet, auch
sammenfindet, auch nach allgemeinen logischen
nach allgemeinen logischen Gesetzen
Gesetzen zzu- u‑
sammengehört? Die Gültigkeit.
sammengehört? Die Gültigkeit der Beobachtung erstreckt sichder Beobachtung erstreckt sich
nicht weiter,
nicht weiter, als als iihr tatsächlicher Vollzug
h r tatsächlicher Vollzug reicht.reicht. Was Was sie sie bietet,
bietet,
ist somit iimmer
ist somit m m e r n uurr eine Zusammenstellung von
eine Zusammenstellung von einzelnen
einzelnen
Fällen, aus
Fällen, aus derenderen Anhäufung,
Anhäufung, soweit soweit siesie auch gehen mag,
auch gehen mag, niemals
niemals
eine in
eine sich selbst
in sich schlechthin notwendige
selbst schlechthin notwendige Regel Regel gewonnen
gewonnen werden werden
kann. Soll
kann. Soll es also überhaupt
es also überhaupt feststehende und und beharrende
beharrende
Wahrheit
Wa h r h e i t vonvon Urteilen
Urteilen geben; geben; ‐- soll soll es es nicht,
nicht, wie wie weit wir wir
auch fortschreiten, dauernd
auch fortschreiten, zweifelhaft bleiben,
dauernd zweifelbaft bleiben, ob ob bestimmte
bestimmte
Sätze nur
Sätze zufällige assoziative
n u r zufällige assoziative Verknüpfungen
Verknüpfungen von von Vorstellungen
Vorstellungen
sind
sind oderoder aber
aber in sich sich selbst
selbst ein für allemal
ein für allemal und und abgesehen
abgesehen von von
allen vergangenen
allen vergangenen oder künftigen künftigen Proben Proben die die Gewähr
Gewähr unbediugter
unbedingter
Geltung besitzen: so
Geltung besitzen: so mussmuss es es irgendwelche
irgendwelche ZusammenhängeZusammenhänge
geben, die
geben, die nicht
nicht ausaus der empirischen Vergleichüng
der empirischen Vergleichung des des einzelnen,
einzelnen,
sondern aus
sondern aus objektiv notwendigen und
objektiv notwendigen unumstösslichen Relationen
und unumstösslichen Relationen
zwischen den
zwischen den IdeenIdeen selber stammen. stammen.
derartige Relationen
Dass derartige
Dass Relationen als als Bedingung
Bedingung und und Erklärungs‑
Erklärungs-
grund der
grund der II nn d uu kk tt ii oonn selbst fordern sind,
s e l b s t zzuu fordern sind, hat hat Leibniz
Leibniz
bereits
bereits in einer seiner frühesten
einer seiner systematischen Schriften:
frühesten systematischen Schriften: in i nder
der
Abhandlung
Abhandlung über über den den philosophischen
philosophischen Stil Stil desdes Nizolius
Nizolius vvom om
Jahre
J a h r e 1670
1670 m m iitt voller
voller S c h ä r f e und
Schärfe B e s t i m m t h e i t eentwickelt.
u n d Bestimmtheit ntwickelt. W Wir
sahen, wie
sahen, wie in Logik des
in der Logik des Nizolius
Nizolius der Versuch Versuch unternommen
unternommen
worden
worden war, war, die selbständige Bedeutung
die selbständige Bedeutung def „abstrakten" Wahr‑
det „abstrakten“ Wahr-
heiten aufzuheben.
beiten aufzuheben. Nach Nach iihr ist der
h r ist der Begriff nicht mehr,
Begriff nicht mehr, als als die
Abkürzung und
Abkürzung und kompendiarische
kompendiarische ZusammenfassungZusammenfassung ffür vielerlei
ü r vielerlei
einzeln
einzeln beobachtete
beobachtete Tatsachen, Tatsachen, die die durch
durch einen einen gemeinsamen
gemeinsamen
Namen zusammengehalten werden.
Namen zusammengehalten werden. Er ist somit nicht
ist somit nicht ein ein
Mittel
Mittel und und ein Instrument der Forschung,
ein Instrument Forschung, sondern sondern nnur u r das Gefäss
das Gefäss
zur Aufbewahrung
zur Aufhewahrung vvon o n Erkenntnissen,
Erkenntnissen, die die aus anderen Quellen
aus anderen Quellen
herstammen
herstammen und und in ihnen ihre Begründung
ihnen ihre Begründung suchen müssen. suchen müssen. Die Die
angebliche „Deduktion“,
angebliche „Deduktion, die die reinrein ausaus dem dem Inhalt eines Begriffs
Inhalt eines Begriffs
54 Leibnis.

folgert, gewährt nicht die mindeste neue Einsicht, sordern hebt


n u r einen Einzelfall, der z u r Bildung des Allgemeinbegriffs mit‑
wirkte und mitwirken musste, nochmals gesondert und nament‑
l i c h !heraus. Sie geht v o r einem Ganzen von Erkenntnissen,
die w i r bereits besitzen, zu einem Teil fort, der darin enthalten
ist; sie bereichert somit nicht, sondern verengert den Umfang d e s
Wissens (Vgl. Bd. I, S. 145 f.). Was Leibniz dieser Auffassung gegen‑
überstellt, ist eine neue und tiefere Ansicht v o m Sinn des „all‑
gemeinen“ Urteils. Entstünde die Allgemeinheit des Begriffs
lediglich aus dem Zusammenfluss und der Summierung des
Einzelnen, so wäre es freilich eine leere petitio principii, das
Einzelne selbst wiederum kraft des Begriffs entdecken und fest‑
stellen zu wollen. In Wahrheit aber bezeichnet die Allgemeinheit
eine Bestimmung, die dem Gebiete der blossen Quantität gänz‑
lich entrückt ist und einer rein qualitativen Betrachtungsweise
angehört. Dass ein Begriff diese oder jene Eigentümfichkeit be‑
sitzt, dies besagt nicht, dass sie a l l e n seinen E x e m p l a r e n
einzeln zukommt, sgndern dass i n seiner D e fi n i t i o ndie
] , ganz
unabhängig.davon’ erfölgte, ‘ob überhaupt und wievieTe konkrete
Beispiele des Begriffs sich’ in der Natur der Dinge. vorfinden,
bestimmte abgeleitete Beschafferheiten notwendig'mitgesetzt sind.
Das „Ganze“ des Begriffs ist somit kein totum discrefum, sondern
ein totum distributivum, kein arithmetisches, sondern ein
logisches Ganze. Haben w i r den idealen S i n n eines Begrifls
einmal gefasst, wozu es nicht des Durchlaufens mehrerer
Exemplare von ihm, sondern lediglich des einheitlichen Aktes
seiner genetischen Konstruktion bedarf, so sind w i r damit ver‑
sichert, dass, was immer aus diesem Sinn und I n h a l t des Be‑
griffs folgt, auch f ü r jedwedes Glied seines U m f a n g s gültig sein
muss. „Sagen w i r also, alle Menschen sind Lebewesen, so ist
der Sinn distributiv: ob m a n n u n diesen oder jenen Menschen,
ob m a n Cajus oder Titius nehmen mag; so wird m a n finden,
"Gass er ein lebendes Wesen ist und Empfindung besitzt.“ Be‑
stünde dagegen die Ansicht des Nizolius zu Recht, so würde da‑
m i t nicht n u r alle rationale Erkenntnis, sondern vor allem der
Wert u n d das Recht des Erfahrungsschlusses selbst entwurzelt.
Denn der Kern des induktiven Verfahrens besteht darin, dass
w i r von einer geringen Zahl direkt beobachteter Fälle einen.
Die rationalen Grundlagen der Induktion. 55

Schluss auf unzählige andere Fälle ziehen, die sich niemals der
Beobachtung dargeboten haben. Was aber versichert uns der
inneren Gleichartigkeit dieser beiden Reihen, was verbürgt uns
Jie identische Wiederkehr des Erfolges unter gleichbleibenden
oder ähnlichen Bedingungen? Die „morallsche Gewissheit“, m i t
welcher w i r v o m Gegebenen auf das nicht Gegebene, vom Ver‑
gangenen auf das Zukünftige schliessen, ist selbst n u r insoweit
gültig, als sie sich auf das logische P o s t u l a t einer Jdurch‑
gängigen Gesetzlichkeit des Geschehens stützt. Von induktiver
„Wahrscheinlichkeit* zu sprechen, hat n u r dann einen Sinn,
wenn der strenge rationale Begriff der W a h r h e i t bereits v o r ‑
ausgesetzt wird: wenn w i r, m i t anderen Worten, Grundsätze zu‑
lassen und an die Spitze stellen, die nicht aus der Betrachtung
der Einzelfälle, sondern aus der „allgemeinen Idee oder der De‑
finition der Termini selbst“ stammen. „Somit ist klar, dass die
Induktion an und für sich kein Wissen, ja nicht einmal eine
blosse moralische Gewissheit hervorbringt, ohne die Stütze anderer
Sätze, die nicht auf der Induktion, sondern auf allgemeinen Ver‑
nunftgründen beruben. Denn beruhten auch diese Stützen auf
der Induktion, sowürden sie ihrerseits wieder neuer Stützen be‑
dürfen und so gäbe es bis ins Unendliche keine moralische
Gewissheit.“°)
Von so grosser Bedeutung indessen diese ersten Festsetzungen
f ü r die Gesamtentwickelung der Leibnizischen Erkenntnislehre
sind: der eigentliche, originale Grundgedanke der Leibnizischen
Philosophie ist in ibnen noch nicht erreicht. Die Scheidung
und Verhältnisbestimmung zwischen dem „Allgemeinen“ und
„Besonderen“ hat bisher die herkömmlichen Bahnen noch nicht
prinzipiell verlassen. Noch sind es z w e i Grundquellen der
k.rkenntnis, die in ihrer Wechselwirkung und somit in ihrem
selbständigen Nebeneinander betrachtet werden. Die Vernunft‑
sätze bilden die Stützen und Hilfsmittel (adminicula) der Er‑
fahrungssätze. Von hier aus indessen muss die logische Reflexion
weiter greifen und tiefer dringen. Soll das Ziel der rationalen
Erkenntnis wahrhaft verwirklicht werden, so gilt es, die Vernunft
über diese ihre helfende und dienende Rolle hinwegzuheben u n d
sie z u r höchsten, entscheidenden Instanz zu machen, die selbständig
u n d völlig aus sich heraus den We r t der „Wahrheit“ zu ver‑
56 Leibniz.

leihen hat. So wenig es eine „doppelte Wahrheit“, die eine


für die menschlichen, die andere f ü r die göttlichen Dinge gibt,
so wenig darf es sie für das Gesamigebiet unserer Wirklichkeits‑
erkenntnis geben. Blicken w i r auf die Art, in der bestimmte
Sätze uns zuerst b e k a n n t werden, so können w i r hier allerdings
Urteile verschiedener Herkunft, Urteile v o n empirischem u n d
rationalem Charakter unterscheiden. Sobald w i r indes auf die
A r t ihrer B e g r ü n d u n g sehen, so bietet sich u n s schlechthin
n u r ein einziger, streng einheitlicher Typus dar. Immer m u s s
hier ein l o g i s c h e s Band aufgewiesen werden, das Subjekt und
Prädikat aneinander knüpft; immer muss aus der blossen Be‑
trachtung der „Ideen“ heraus die Uebereinstimmung zwischen
Subjekt und Prädikat dargetan werden können. Die notwendigen
und zufälligen Wahrheiten unterscheiden sich hierbei lediglich
nach dem Maasse, in welchem diese Forderung bei ihnen erfüll‑
bar ist: wenn bei den ersteren die Analyse an ein Ende gelangt,
wenn sie also ‘die gemeinsamen Momente des Subjekts- und
Prädikatsbegriffs isoliert herausheben und deutlich aufzeigen
kann, so ist bei den letzteren n u r eine beständige A n n ä h e r u n g
an dieses Ziel möglich. (S. unten Abschn. III.) Gleichviel in‑
dessen, ob dieses Ziel für uns erreichbar oder nicht erreichbar
ist, ob es in endlicher oder unendlicher Ferne liegt: der We g ,
der zu i h m hinführt, ist durch die allgemeinen r a t i o n a l e n
Methoden völlig und eindeutig bestimmt. Die Aufgabe des
Wissens besteht darin, jede Tatsachenwahrheit, die dieBeobachtung
u n s darbietet, fortschreitend derart zu zergliedern, dass sie sich
für uns mehr und mehr in ihre apriorischen „Gründe“ auflöst’)
Auch diejenigen Urteile, die wir, die enkennenden Subjekte, n u r
empirisch, auf dem Wege der Sinnes- oder Selbstwahrnehmung,
gefunden haben, sind doch der Ausdruck für objektive und sach‑
liche Zusammenhänge, die „a parle rei“ kraft der Gesetzlichkeit
alles Geschehens, bestehen. Die beiden Bestimmungen, die w i r
in einem empirischen Urteil verknüpfen, könnten nicht in der
Erfshrung neben einander stehen, wenn sie nicht irgendwie
innerlich, kraft der Natur der Begriffe, durch einander bedingt
wären. j
Deutlicher noch tritt diese Grundanschauung hervor, wenn
w i r sie in die bekanntere und populärere Sprache von Leibniz’
D i e Sinne und der Intellekt. 67

p s y c h o l o g i s c h e n Theorien übersetzen. Was immer dem Geiste


gegeben werden kann, das muss er aus seinem eigenen Grunde
schöpfen. Selbst dort, wo er sich zunächst rein aufnehmend zu
verhalten, wo er keine andere Aufgabe zu haben scheint, als
einen Stoff, der ihm aufgedrängt wird, in Besitz zu nehmen u n d
zu verarbeiten, ist er, wie die tiefere Betrachtung zeigt, der Schöpfer
seiner Begriffe und Gedanken. Wenn in der ersten, exoterischen
Fassung der Leibnizischen Lehre der I n t e l l e k t n u r als der
Grund der notwendigen und allgemeinen Wahrheiten bezeichnet,
die Kenntnis des Besonderen dagegen den Sinnen und der äusseren
Wahrnehmung überlassen wird®), so berichtigen die „Nouveaux
Essais“ alsbald diese Darstellung. Keine Erfahrung vermag
in das I c h irgend einen, allgemeinen oder besonderen, I n ‑
halt hineinzuschaffen, der nicht in i h m bereits gelegen hätte und
der somit nicht aus den Bedingungen, die der Geist selbst in sich
birgt, völlig v e r s t ä n d l i c h gemacht werden könnte. Wenn w i r
davon sprechen, dass die Natur der D i n g e es ist, die uns diese
oder jene Erkenntnis vermittelt und aufdrängt: so ist auch dies
n u r eine bequeme und im gewöhnlichen Sprachgebrauch zu‑
lässige Metapher, die indessen vor der philosophischen Reflexion
in gleicher Weise hinfällig wird, wie vor dem Weltsystem der
wissenschaftlichen Astronomie das gewöhnliche anthropozentri‑
sche Weltbild der sinnlichen Anschauung seine Geltung verliert.
Was w i r die Natur der Dinge nennen, das ist zuletzt nichts
anderes, als die Natur des Geistes und seiner „eingeborenen
Ideen*.°) Jeder Erfahrungssatz bietet u n s n u r das Beispiel und
die Ve r k ö r p e r u n g eines notwendigen „Axioms“ dar.!%) S o kann
man sagen, „dass sowohl die ursprünglichen, wie die abgeleiteten
Wahrheiten s ä m t l i c h in u n s sind, weil alle abgeleiteten Ideen
und alle Wahrheiten, die man aus ihnen folgert, aus den Ver‑
hältnissen zwischen den ursprünglichen Ideen, die in uns sind,
resultieren.“!!) Es ist eine Durchdringung und eine Synthese
allgemeiner Vernunftprinzipien, woraus die Wahrheit des Be‑
sonderen und Tatsächlichen hervorgeht.
Und somit entsteht jetzt f ü r die L o g i k ein völlig neuer _
Sinn und eine neue, unermessliche Aufgabe. Sie kann sich nicht ‑
länger damit begnügen, die „formalen“ Verknüpfungen des Den‑
-kens zu beschreiben und in ein System zu bringen, sondern sie
58 . Leibniz.

geht auf den sachlichen G e h a l t des Wissens selbst. S i e i s t es.


die jene „Verflechtung“ der rationalen Grundbegriffe u n d G r u n d ‑
sätze darstellen soll, aus welcher die gegenständliche Erkenntnis»
des Einzelnen hervorgeht. Man erkennt in diesem Zusam m e n ‑
hang bereits die innere Beziehung, die in Leibniz’ Sinne z w i s c h r n
der Logik und der K o m b i n a t o r i k besteht. Jeder E r f o l g , der
im realen Geschehen durch das Zusammenwirken verschiedener,
sich wechselseitig bestimmender Bedingungen e i n t r e t e n k o n n t e ,
hätte sich durch geeignete Verknüpfung dieser Bedingunsen,
die einzeln völlig in unsere Hand gegeben waren, v o r a u s ‑
s e b e n und h e r s t e l l e n lassen. Auf diesem Gedanken b e r u h t
und i n i h m besteht der Entwurf der „Scientia g e n e r a l i s “ ,
wie Leibniz i h n entwickelt und begründet hat. „Dass es e i n e
derartige Wissenschaft geben muss, ist a priori zu beweisen.
wenngleich die grosse Menge in Dingen dieser A r t g e w ö h n l i c h
n u r Beweise a posteriori, nämlich solche, die v o m Erfolg herge‑
nommen sind, versteht und gelten lässt. Ich sage also, dass, w e n n
irgend eine Wahrheit oder irgend eine technische Fertigkeit u n s
aus jenen Aniängen heraus, die w i r bereits besitzen, von e i n e m
Engel gewiesen werden könnte, w i r sie ebenso kraft dieser a l l ‑
gemeinen Wissenschaft hätten entdecken können, wenn w i r u n s e r e
Gedanken auf die Erforschung dieser Wahrheit oder die E r r e i ‑
chung dieses technischen Zweckes gerichtet hätten. Der G r u n d
hierfür liegt in aller Kürze darin, dass Nichts uns, selbst von einem
Engel, gewiesen werden kann, ausser sofern w i r d i e B e d i n ‑
g u n g e n d e r Sache e i n s e h e n (nisi quatenus requisita ejus r e i
intelligimus). N u n sind in jeder Wahrheit die Bedingungen, d i e
das Prädikat ausmachen, in denen des Subjekts enthalten u n d
die Bedingungen eines gesuchten Erfolges enthalten zugleich die
Mittel, die zu seiner Herstellung notwendig sind. In diesem Be‑
weis sind alle’Kunstgriffe dieser Wissenschaft enthalten.“!?, M a n
sieht, wie der Plan der Scientia generalis auf der einen Seite den
Leibnizischen Begriff des Bewusstseins voraussetzt, i ı n aber
andererseits auch erst z u m Abschluss und z u r konkreten Er‑
„ füllung bringt. Das Material jeglichen Wissens liegt in u n s be‑
schlossen und vorbereitet; die Allgemeinwissenschaft w i l l n u r
den Weg weisen, auf dem w i r dazu gelangen können, diesen
Die Stufenfolge der Erkenntnis. 59

unsern eigensten Besitz fortschreitend und nach strenger Methode


zu erwerben. ‐
Alle Erkenntnis besteht somit in der schrittweisen Auf‑
hellung und distinkten Auseinanderlegung dessen, was uns an‑
fangs n u r als ein Chaos mannigfaltiger Eindrücke gegeben ist.
Je mehr w i r das sinnlich Verschiedene und Auseinanderstrebende
unter immer höhere und bestimmtere logische E i n h e i t e n fassen,
ohne doch seine besondere spezifische Eigentümlichkeit darüber
zu vernichten: um so näher sind w i r dem Ziel des Wissens ge‑
rückt. Die „Meditationen über die Erkenntnis, die Wahrheit und
die Ideen“ v o m Jahre 1684, auf die sich Leibniz später durch‑
weg als auf den eigentlichen Anfang seiner systematischen For‑
schung beruft, verfolgen diesen Stufengang der Erkenntnis. Eine
Vorstellung ist dunkel, wenn sie nicht genügt, um die vorge‑
stellte Sache wiederzuerkennen; sie ist k l a r, sobald sie uns
in den Stand setzt, dies zu tun und uns somit die Mittel an die
Hand gibt, den Inhalt der Vorstellung von dem jeder anderen zu
unterscheiden. In diesem letzteren Falle wiederum kann sie ent‑
weder d i s t i n k t oder v e r w o r r e n sein, j e nachdem die Merk‑
male, die in sie eingehen, sich deutlich sondern und in bewusster
Abtrennung herausheben lassen, oder n u r zu einem allgemeinen
Gesamtbilde zusammenfliessen, das bei aller Schärfe, in der es
sich uns darbietet, doch keiner weiteren Zerlegung in seine ein‑
zelnen Momente fähig ist. Die distinkte Erkenatnis selbst ist
weiterhin adaequat, wenn diese Scheidung völlig und bis ans
Ende durchgeführt ist, wenn also jeder Einzelfaktor seinerseits
wiederum in all seine konstitutiven Bestandteile aufgelöst ist und
somit der gesamte Inhalt der Vorstellung sich eindeutig aus den
primitiven, nicht weiter analysierbaren Elementen alles Wissens
aufbaut. Endlich ist eine Erkenntnis s y m b o l i s c h , wenn sie sich
damit begnügt, den Inhalt, statt i h n direkt in seiner konkreten
Gesamtheit vorzustellen, durch Z e i c h e n wiederzugeben; sie ist
i n t u i t i v, wenn sie dieses Hilfsmittels nicht bedarf und alle Mo‑
mente im wirklichen Denken umfasst und begreift. „Von den
distinkten primitiven Vorstellungen kann es keine andere als
intuitive Erkenntnis geben; während das Denken der zusammen‑
gesetzten f ü r gewöhnlich n u r symbolisch ist.“!3) Damit ist die Auf‑
gabe, die der Grundwissenschaft gestellt ist, klar umgrenzt. Sie soll
60 Leibniz.

m i t Hilfe einer allgemeinen Charakteristik, die die Verhältnisse der


Ideen durch gesetzliche Verknüpfungen v o n Zeichen ausdrückt,
u n d die sie damit der logischen Betrachtung und Handhabung
unmittelbar zugänglich macht, alles Zusammengesetzte so weit
entwickeln und entwirren, bis die ursprünglichen intuitiven
Wahrheiten, die auf seinem Grunde liegen, deutlich und selbst‑
ständig heraustreten. Diese Aufgabe ist f ü r die empirischen Be‑
griffe prinzipiell unabschliessbar; aber sie muss dennoch den
beständigen Wegweiser bilden, der uns bei allen Untersuchungen
leitet und der allen Versuchen der Einzelwissenschaften die all‑
gemeine Richtung des Fortschritts’ anweist.

I.
Die Forderung eines Gedankenalphabets, das es u n s
gestatten soll, das Ganze der Erkenntnis aus relativ wenigen ein‑
fachen Elementen aufzubauen, eröffnet Leibniz’ Philosophie. Aber
es ist ein weiter Weg von dem ersten Entwurf, der in jugend‑
lichem Ueberschwang erfasst wird, bis zur reifen Ausführung,
die, stets von neuem kritisch geprüft und umgeformt, doch
immer wieder hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück‑
bleibt. Was immer Leibniz in der Gesamtentwicklung seiner
Lehre an neuen Einsichten gewinnt, das wird sogleich in den
Bann dieser einen Grundaufgabe gezogen und ihren Zielen
Jienstbar gemacht. Aber damit verändert sich schrittweise
und unvermerkt auch der Charakter der Aufgabe selbst. Sie
kann den neuen Inhalt, der i h r beständig zugeführt wird, nicht
bezwingen, ohne selbst auf i h n einzugehen und somit zuletzt
ihrerseits von i h m bestimmt zu werden. In dieser doppelten
Richtung des Denkens entsteht und reift das System der Leibnizi‑
schen Philosophie.!!)
Das erste und sichere Analogon f ü r die allgemeine Kon‑
zeption der „Scientiä generalis“ sieht Leibniz in der Wissen‑
schaft der Z a h l e n vor sich. Noch die „Meditationen über die
Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen“ führen unsere Ein‑
sicht in das Wesen und die Verhältnisse der Zahlen als das ein‑
zige Beispiel an, in welchem die Forderung der adaequaten
Erkenntnis ihre nahezu vollkommene Erfüllung findet. Jeder
noch so komplexe Begriff, den w i r in der Rechnung zulassen,
Das Alphabet der Gedanken. 61

muss in der Tat in lückenlosem Fortgang aus den ursprüng‑


lichen Definitionen der Einheit und Vielheit gewonnen, jede
Relation, die w i r betrachten, muss aus dem einzigen Grundver‑
fahren des Zählens selber ableitbar sein. Und wie hier die Zahl
als das formale Vorbild alles Wissens erscheint, so lässt sich
andererseits kein I n h a l t denken, der ihrem Gesetze wider‑
strebte. ,„Ein altes Wo r t besagt, Gott habe alles nach Ge‑
wicht, Mass und Zahl geschaffen. Manches aber kann nicht ge‑
wogen werden: nämlich all das, dem keine Kraft oder Potenz
zukommt, manches auch weist keine Teile auf und entzieht sich
somit der Messung. Dagegen gibt es nichts, das der Zahl nicht
unterworfen wäre. Die Zahi ist daher gewissermassen eine meta‑
physische Grundgestalt und die Arithmetik eine Art Statik des
Universums, in der sich die Kräfte der Dinge enthüllen.“!5) Die
Kräfte der Dinge aber sind auf diesem Standpunkt der Betrach‑
tung nichts anderes, als die logischen Bedingungen ihrer Ver‑
knüpfung. Wie jede Zahl ‐ falls sie nicht jede Teilung durch
eine andere ausschliesst und insofero „einfach“ ist ‐ sich als
ein P r o d u k t von Primzahlen darstellen lässt und wie sich kraft
dieser Zerlegung f ü r je zwei Zahlen bestimmen lässt, ob sie einen
gemeinsamen Teiler besitzen, so müssen die zusammengesetzten
Begriffe zunächst bestimmten Grundklassen zugeordnet werden,
ehe die Frage nach ihrer gegenseitigen Vereinbarkeit sich streng
und nach einem systematischen Plan beantworten lässt. Denken
w i r diese Analogie bis zu Ende durchgeführt, so wird also. jedem
Begriff eine bestimmte „charakteristische Zahl“ entsprechen, die
sich aus den Zahlen der einzelnen inhaltlichen Merkmale. die
in i h n eingeben, zusammensetzt. Die Bedingung des wahren
Urteils lässt sich dann dahin aussprechen, dass Subjekt und
Prädikat in irgend einer ihrer Grundbestimmungen überein‑
stimmen, also einen gemeinsamen Faktor aufweisen müssen.
Und wie hier der Begriff als ein Komplex aus seinen sämtlichen
inhaltlichen BestiaAmungen gedacht wird, so überträgt sich n u n ‑
mehr diese Betrachtungsweise auf die Gesamtheit des Seins über‑
haupt. „Da Alles was ist oder gedacht werden kann, sich aus
realen oder wenigstens gedanklichen Te i l e n zusammensetzt, so
muss, was immer sich spezifisch unterscheidet, sich entweder
darin unterscheiden, dass es andere Teile besitzt, oder dass es
62 Leibniz.

dieselben Teile in anderer Anordnung enthält.“1%) Die Kunst der


Kombinatorik, die sich die Aufgabe stellt, die Anzahl der mög‑
lichen Verknüpfungen gegebener Elemente zu bestimmen, enthält
somit das fertige Schema f ü r alle Fragen, die die Wirklichkeit
u n s stellen kann. .Dass w i r von unserem Thema abgeschweift
sind ‐ so beschliesst Leibniz eine Erörterung der Schrift „De
arte combinatoria* ‐, w i r d niemand behaupten, der begreift, wie
alles innerlich aus der L e h r e v o n d e n Va r i a t i o n e n hervor‑
geht, die fast von selber den Geist, w e n n er sich i h r überlässt,
durch die unendliche Allheit der Probleme hindurchgeleitet und
die Harmonie der Welt, den innersten Bau der Dinge, und die
ganze Reihe der Formen in sich fasst. Den unermesslichen
Nutzen dieser Lehre wird erst eine vollendete, oder nahezu voll‑
endete Philosophie recht zu schätzen w i s s e n . . . Denn durch
diese Betrachtung der Komplexionen wird nicht n u r die Geo‑
melrie bereichert, sondern in i h r bietet sich auch (wenn anders
es wahr ist, dass das Grosse aus Kleinem, mag man es n u n
A t o m oder Molekül heissen, sich zusammensetzt) der einzige
Weg dar, um in die Geheimnisse der Natur einzudringen. Denn
wir erkennen eine Sache um so besser, je mehr wir von ihren
Teilen, sowie von den Teilen der Teile, und ihrer Gestalt und
Lage, Kenntnis haben. Dieses Verhältnis der Gestalten haben
w i r zunächst abstrakt in der Geometrie und Stereometrie zu er‑
forschen; treten w i r aber alsdann an die Naturgeschichte u n d
an die Eigenschaften der wirklichen Körper heran, so wird sich
uns die Pforte der Physik weit auftun und die Beschaffenheit
der Elemente, der Ursprung und die Mischung der Qualitäten,
sowie der Ursprung der Mischung und die Mischung der Misch‑
ungen, nebst allem anderen, was w i r sonst in der Natur staunend
bewunderten, wird offen v o r unseren Augen daliegen.“?) Die
A t o m i s t i k bildet somit ‐ innerhalb der Gesamtanschauung
von Leibniz’ erster Epoche ‐ das notwendige naturphilosophische
Korrelat zu seiner Begriffsbestimmung der Logik; sie ist gleich‑
sam die unmittelbare sinnliche Verkörperung des Gedankens
dass alles Sein aus „einfachen“ Elementen aufzubauen ist. ‑
Aber es ist n u r ein allgemeiner programmatischer Ent‑
wurf, den die Schrift „De Arte combinatoria“ darbietet, ohne
dass der Weg der Lösung in i h r näher bestimmt wäre. Leibniz
Logik und Algebra. 63

selbst hat später die Schrift als das Werk eines Jünglings be‑
zeichnet, der in die realen Wissenschaften, v o r allem in die Ma‑
thematik, noch zu wenig eingeweiht gewesen sei, um das grosse
Ziel, das i h m klar vor Augen stand, im einzelnen wahrhaft zu
fördern.'%) In der Ta t haben erst die modernen geometrischen
und analytischen Methoden, deren Kenntnis Leibniz während
seines Pariser Aufentbaltes in den Jahres 1673-76 erwirbt, das
abstrakte Schema der Universalwissenschaft m i t tieferem Gehalt
erfüllt und i h m den Ausblick auf völlig neue Aufgabengebiete
verschafft. Ueber die Enge der lediglich a r i t h m e t i s c h e n Be‑
trachtungen sieht sich Leibniz jetzt, v o n allen Seiten h e r, h i n ‑
ausgewiesen. Die analytische Geometrie bietet i h m das Beispiel
von Kurven, deren Abscissen- und Ordinatenwerte durch eine
feste und eindeutige Regel m i t einander verbunden sind, ohne
dass diese Abhängigkeit sich doch in einer algebraischen
Gleichung bestimmten Grades aussprechen liesse. Hier ist
also eine strenge gesetzliche Beziehung zwischen Grössen gesetzt,
ohne dass doch die Reihe der einen aus der Reibe der andern
durch die Anwendung der einfachen Rechenoperationen des Ad‑
dierens und Subtrabierens, Multiplizierens und Dividierens ab‑
leitbar wäre. Allgemein ist e s nunmehr der F u n k t i o n s b e g r i f f ,
der sich a n Stelle des Z a h l b e g r i ff s als der eigentliche Grund
und Inhalt der Mathematik erweist. Der Gesamtplan der Univer‑
salwissenschaft erfährt damit eine charakteristische Umbildung.
Wenn das Interesse bisher wesentlich an der Bestimmung der
Elemente haftete, aus denen die zusammengesetzten Inhalte sich
erzeugen sollten, so wendet es sich jetzt vor allem den F o r m e n
der Ve r k n ü p f u n g zu. Die verschiedenen Arten, wie w i r in
unserem Denken Inhalte wechselseitig durch einander bedingen,
müssen an und für sich und ohne dass w i r den materialen Ge‑
halt der einzelnen Inhalte selbst ins Auge zu fassen brauchen,
zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Jede dieser
Weisen, v o n einem Begriff kraft einer fortschreitenden Reihe
vorgeschriebener Denkschritte zu einem anderen weiterzugehen,
stellt eine neue eigentümliche Leistung des Intellekts dar, die
allgemeinen, ein- f ü r allemal feststehenden Gesetzen gehorcht.
So eröffnen sich uns hier ebenso viele Arten des begrifflichen
„Calculs“, als es Arten des d e d u k t i v e n F o r t g a n g s von Be‑
64 Leibnin.

griff zu Begriff, v o n Wahrheit zu Wahrheit gibt. Die Methoden


der Arithmetik erscheinen, in diesem Zusammenhange gesehen,
n u r als besondere Verknüpfungsweisen, die, statt allen anderen
ihre speziellen Regeln aufzudrängen, die eigene Giltigkeit erst
v o n höheren „logischen Formen“ entlehnen müssen. Die Zahl
selbst, die jetzt nicht mehr, wie anfangs, als blosse S u m m e v o n
Einheiten, sondern als ein Ve r h ä l t n i s v o n Grössen aufgefasst
und definiert wird,'!®) ist n u r der einfachste Fall der R e l a t i o n
überbaupt.?) Die herkömmliche Fassung der Logik freilich
vermag dem Gehalt, der sich jetzt aus der Behandlung u n d
Analyse der Einzelwissenschaften ergibt, nicht gerecht zu werden.
Die Arbeit des Aristoteles ist ‐ wie Leibniz in seinem Schreiben
an Gabriel Wagner über den Nutzen der Vernunftkunst aus‑
spricht ‐ n u r ein Anfang und gleichsam das ABC, „wie es dann
andere mehr zusammengesetzte und schwerere Formen gibt, die
m a n alsdann erst brauchen kann, wenn man m i t Hilff dieser
ersten und leichten Formen festgestellet, als z u m Exempel die
Euclidischen Schlussformen, da die Verhaltungen (proportiones)
versetzt werden, invertendo, componendo, dividendo rationes etc.,
ja selbst Additionen, Multiplicationen oder Divisionen der Zahlen,
. wie man sie in den Rechenschulen lehrt, sind Beweisformen
(Argumenta in forma) und man kann sich darauf verlassen, weil
sie krafft ihrer Form beweisen .... So ist es auch m i t der
Algebra und vielen andern förmlichen Beweisen b e w a n d t . . Es
ist nicht eben nötig, dass alle Schlussformen heissen: omnis,
atqui, ergo. In allen unfehlbaren Wissenschaften, wenn sie genau
bewiesen werden, sind gleichsam höhere logische Formen ein‑
verleibet, so theils aus den Aristotelischen fliessen, theils noch
etwas anders zu H ü l ff nehmen . . . Dass aber diese Vernunfft
Kunst noch unvergleichlich höher zu bringen, halte ich v o r
gewiss, und glaube es zu sehen, auch einigen Vorschmack davon
zu haben, dazu i c h aber ohne die Mathematik wohl schwerlich
kommen wäre. Und ob i c h zwar schon einigen Grund darin
gefunden, da i c h noch nicht einmal im mathematischen Novitiat
war, und hernach im 20ten Jahr meines Alters bereits etwas
davon in Druck geben, so habe doch endlich gespüret, wie sehr
die Wege verhauen, und wie schwer es würde gewesen sein, ohne
Hülfe der i n n e r n M a t h e m a t i k eine Oeffnung z u finden.“
?')
Diegeometrische Charakteristik. 65

So bildet die Mathematik das Material, in welchem sich die


mannigfachen Formen der Deduktion verkörpern und aus dem
w i r sie wiederum rein zurückgewinnen müssen. W i e vollkom‑
ı n e n und selbständig die Deduktion sich zu betätigen vermag,
o h n e der Beihilfe q u a n t i t a t i v e r Betrachtungen z u bedürfen,
d a f ü r bietet die g e o m e t r i s c h e C h a r a k t e r i s t i k , die Leibniz
entdeckt, ein klassisches Beispiel. Es ist eine rein kritische und
prinzipielle Forderung, die i h n z u m Ausbau dieser neuen Dis‑
ziplin hintreibt. Die analytische Geometrie bildet trotz der u n ‑
bestreitbaren technischen Meisterschaft, die i h r eignet, in ihren
Vo r a u s s e t z u n g e n kein völlig geschlossenes und einheitliches
Ganze. Statt alle Gebilde aus e i n e m Grundelemente hervorgehen
zu. lassen, muss sie in der Erklärung ihrer ersten Bestimmungen
algebraische und geometrische Momente m i t einander vermischen
und in einander übergehen lassen. Nur scheinbar löst sie alle
Eigentümlichkeiten der sinnlichen Gestalt in reine Zahlenwerte
und Zahlenverhältnisse auf: muss sie doch in der Definition des
Coordinatensystems selbst, sowie in der Ableitung der ursprüng‑
lichen Gleichungen für die Gerade und f ü r die Entfernung zweier
Punkte auf Sätze zurückgreifen, die sich nicht anders, denn m i t
Hilfe der geometrischen Anschauung beweisen lassen.2) Aber
auch nachdem diese ersten vorbereitenden Schritte geschehen
und die Betrachtung völlig in den Abstraktionen der Algebra
einberschreitet, sind in i h r nicht alle Bedingungen der echten,
logischen Analyse erfüllt. Die analytische Geometrie. vermag
ihre Inhalte n u r zu bezwingen, indem sie sie vernichtet; indem
sie die Beziehungen zwischen ihnen, statt sie in ihrer unmittel‑
baren Eigenart zu erfassen, zuvor in eine fremde Sprache über‑
setzt. Und es ist keineswegs immer leicht, die Sätze dieser Sprache
wiederum unmittelbar auf die Gebilde, von denen sie gelten
wollen, zurückzudeuten, d. h. jedem Ausdruck der Rechnung eine
bestimmte und einfache C o n s t r u k t i o n entsprechen z u lassen.®)
Die eigentlichen Relationen der Lage werden daher hier eher
versteckt, denn erleuchtet; eher geduldet, denn als das eigent‑
liche Ziel und Objekt der Untersuchung anerkannt. So entsteht
jetzt eine doppelte Aufgabe. Die Forderung, das Komplexe nicht
in seiner konkreten Gesamtheit aufzufassen, sondern es, ehe w i r
mit i h m operieren, in seine einfachen Bedingungen aufzulösen,
[)
66 Leibnis.

bleibt bestehen; aber die inhaltliche Bestimmung des Grundele‑


mentes muss eine andere werden. An die Stelle des Calculs der
Grössen und Zablen tritt ein reiner Calcul der P u n k t e . ) W i e
die Gerade durch zwei ihrer Punkte eindeutig bestimmt ist, w i e
also ihre Lage im Raume und ihre Beziehungen zu anderen Ge‑
bilden in diesen Punkten vollkommen mitgegeben sind, so lässt
sich der gleiche Gesichtspunkt für alle geometrischen Grund‑
begriffe und die Verbindungen, die aus ihnen resultieren, durch‑
führen. Statt die einzelnen Figuren in ihrer gesamten sinnlichen
Erscheinung v o r uns hinzustellen und m i t einander zu ver‑
gleichen, beschränken w i r uns in der Analysis der Lage darauf,
n u r diejenigen gedanklichen B e s t i m m u n g s s t ü c k e z u be‑
trachten, die für ihren Begriff notwendig und hinreichend sind.
Alle Ve r s c h i e d e n h e i t , die sich a n den anschaulichen Einzel‑
gestalten findet, muss aus der Differenz dieser ihrer logischen
Grundmomente völlig ableitbar sein: denn eskann keinen äusser‑
lichen Unterschied der fertigen Gebilde geben, der nicht aus den
inneren Bedingungen ihrer Setzung herflösse und in ihnen
seinen zureichenden Grund fände. „Ob aber gewisse Bedingungen
wahrhaft bestimmend sind: das lässt sich aus ihnen selbst ent‑
nehmen, sofern sie nämlich so beschaffen sein müssen, dass sie
die Erzeugung oder Hervorbringung der gesuchten Sache in sich
enthalten, oder wenigstens deren Möglichkeit dartun und sofern
man, im Fortgang des Beweises und der Erzeugung, immer nach
einer festen Methode weiterschreitet, sodass f ü r keinerlei W i l l k ü r
Raum bleibt. Sobald m a n nämlich unter Einhaltung dieser
Methode nichtsdestoweniger zur Erzeugung der Sache oder z u m
Beweis ihrer Möglichkeit gelangt, so ergibt sich daraus, dass das
Problem vollkommen bestimmt ist.“®) So erfüllt die Analysis der
Lage die allgemeine Aufgabe, die Leibniz’ Universalwissenschaft
sich stellt: sie löst die fertigen Gebilde des Denkens in eine nach
strenger Regel fortschreitende Denkbe wegung auf und bestimmt
aus den formalen Eigentümlichkeiten dieses Prozesses sein
schliessliches Ergebnis. Die Elemente selbst werden nicht mehr
vorausgesetzt, sondern deduktiv errechnet und abgeleitet. „Ich
bin bestrebt ‐ so spricht Leibniz selbst diese Tendenz aus ‑
meinen calculum situs in Form zu bringen, weilen w i r bisher n u r
calculum magnitudinis gehabt und daher unsere Analysis n i c h t
Anschauung und Begriff. 67

perfecta, sed ab Elementis Geometriae dependens gewesen. Mir


aber müssen die Elementa selbst per calculum herauskommen,
und gehet gar artlich v o n statten. Von dieser analysi depen‑
dieret alles, was imaginationi distinctae unterworffen.“*)
Somit bietet die geometrische Charakteristik ‐ deren mathe‑
matische Struktur w i r bier nicht im einzelnen verfolgen können?) ‑
in ihrem Aufbau ein prägnantes Einzelbeispiel für Leibniz’ allge‑
meine Prinzipienlehre, wie sie uns in den „Meditationen über die
Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen“ entgegentrat. Solange
w i r u n s m i t der unmittelbaren sinnlichen Erfassung der Figuren
begnügen, mögen w i r v o n ihnen klare und in allen ihren Einzel‑
zügen scharf unterschiedene B i l d e r erlangen; aber diese Klarheit
des Bildes ist f ü r den Charakter der G e w i s s h e i t , der diesen
Vorstellungen eignet, ohne Belang. Die Geometrie hat es nicht
m i t diesen Geschöpfen der Einbildungskraft, sondern lediglich
m i t den distinkten Ideen zu tun, deren Inhalt sich in einer all‑
gemeingültigen D e fi n i t i o n festhalten lässt. So besitzt der Mathe‑
matiker eine ebenso distinkte Erkenntnis vom Tausendeck, wie
er sie vom Dreieck und Viereck besitzt, weil er alle diese Figuren
h e r z u s t e l l e n versteht, wenn e r sie auch nicht durch das Ge‑
sicht zu unterscheiden imstande ist. „Allerdings wird ein Arbeiter
oder ein Ingenieur, ohne vielleicht ihre Natur völlig zu erkennen,
vor einem grossen Geometer darin einen Vorzug besitzen, dass er
sie m i t dem blossen Blick zu unterscheiden vermag, wie es z.B.
Lastträger gibt, die das Gewicht dessen, was sie tragen sollen, rich‑
tig angeben, ohne sich auch n u r um ein Pfund zu täuschen, worin
sie den tüchtigsten Statiker der Welt übertreffen werden ..
Indessen besteht dieses k l a r e B i l d oder diese Empfindung, die
m a n v o n einem regelmässigen Zehneck oder von einem Gewichte
v o n 9 %Pfund besitzt, doch n u r i n einer v e r w o r r e n e n Idee,
weil m a n dadurch nicht in den Stand gesetzt wird, die Eigen‑
schaften dieses Gewichts oder des regelmässigen Zehnecks zu
entdecken, wie eine deutliche Idee dies verlangt.“®) Die Vollen‑
dung und das Muster einer derartigen d i s t i n k t e n Erkenntnis
scheint in der analytischen Geometrie gegeben zu sein; denn
b i e r birgt die Funktionsgleichung, die die Definition eines be‑
stimmten Gebildes ausmacht, die gesamte Fülle seiner Merkmale,
die jedes sinnliche Unterscheidungsvermögen übersteigt, in einer

68 Leibniz.

einzigen rechnerischen Formel in sich. Und dennoch haben wir


es auch hier noch nicht m i t einer völlig homogenen und
adaequaten Erkenntnis -der spezifischen Lageverhältnisse zu
tun, da die Elemente, die die analytische Geometrie zu Grunde
legt, nicht sowohl konstruktiv erschaffen, als vielmehr aus der
Anschauung entlehnt, also nicht in ihre letzten begrifflichen
Bestandteile zerlegt sind. Diesem Mangel soll die Analysis der
Lage abhelfen; aber sie vermag es nur, indem sie, statt alle
Einzelschritte der Untersuchung jedesmal explicit von neuem zu
wiederholen, eine allgemeine S y m b o l i k zu Grunde legt, und
statt m i t der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Gestalten
selbst, m i t abgekürzten Zeichen f ü r sie operiert, die aber alle
ihre Beziehungen enthalten und getreu wiedergeben. So gelangen
w i r hier zuletzt zu einer adaequaten, symbolischen Erkenntnis,
die das Höchste ist, was wir innerhalb der Grenzen menschlicher
Wissenschaft fordern oder erstreben können. „Alles was die
empirische Imagination aus den Figuren erkennt, das wird hier
kraft sicherer Beweise aus den Zeichen abgeleitet und es werden
daraus Folgerungen entwickelt, zu welchen die sinnliche Vor‑
stellung niemals vordringen kann. Somit ist die Ergänzung und
gleichsam die Vollendung der Imagination in diesem Calcul der
Lage enthalten, der nicht n u r für die Geometrie, sondern auch
für die Erfindung von Maschinen und für die Beschreibung der
wirklichen Maschinen der Natur von ausserordentlichem, bisher
unbekanntem Nutzen sein wird.*®)
Der Uebergang zu den Problemen der Natur kann indess
nicht unvermittelt 'erfolgen, sondern er stellt die Universalwissen‑
schaft zunächst v o r eine neue und tiefere Aufgabe. Wie die
Leibnizische Analysis aus der Analogie z a h l e n m ä s s i g e r Be‑
trachtungen hervorgegangen ist, so bleibt sie zunächst durchaus
a u f das Gebiet der d i s k r e t e n Mannigfaltigkeit beschränkt. Selbst
die Untersuchung der geometrischen Probleme führt über diese
Fragestellung anfangs nicht hinaus; ist es doch gerade das
Eigentümliche der geometrischen Charakteristik, dass in i h r die
konkrete Figur, die als solche eine unendliche Punkt-Mannig‑
faltigkeit bildet, auf eine e n d l i c h e A n z a h l von Punkten zurück‑
geführt und in ihnen erschöpfend dargestellt wird. In der Ta t
scheint sich das räumliche und zeitliche C o n t i n u u m der bis‑
Das Problem der Stetigkeit. 69

herigen Betrachtungsweise prinzipiell zu entziehen. Die allge‑


meine Methode der Auflösung des Zusammengesetzten in seine
E l e m e n t e scheint hier z u m ersten Male zu versagen. Denn
besteht nicht eben das wesentliche Merkmal und die charak‑
teristische Definitionseigenschaft des Stetigen darin, dass es sich
niemals aus letzten Einheiten aufbauen und zusammensetzen lässt?
Die Punkte des Raumes, die Momente der Zeit sind nicht Teile,
sondern Grenzen, die w i r innerhalb der fertigen Gesamtheit
setzen; sie im Sinne der Analysis zu den bedingenden und kon‑
stitutiven Faktoren v o n Raum und Zeit zu machen, hiesse deren
eigentlichen Begriff verleugnen.
Dass Leibniz in der Tat m i t den Fragen, die sich hier auf‑
drängen, gerungen bat, beweist ein interessanter Versuch, die
A n t i n o m i e n des Stetigen in F o r m eines Platonischen Dialogs
zu entwickeln und zur Auflösung zu bringen. Die Schrift ‐ die
im Oktober 1676 auf der Ueberfahrt von England nach Holland
verfasst ist ‐ lässt die gewöhnlichen Erklärungen, die von der
„Zusammensetzung des Continuums* gegeben werden, sämtlich
vor uns vorüberziehen, um sie zuletzt gleichmässig zu verwerfen.
Wer die Elemente des Continuums leugnet, wer den einzelnen
momentanen Zuständlichkeiten im Prozess der stetigen Verän‑
derung das Sein und die Bestimmtheit abspricht, dem droht zu‑
letzt jegliches Sein und jeglicher Bestand des Ganzen verloren
zu gehen; w e r sie zulässt, der gerät damit in Gefahr, blosse Ab‑
straktionen des Denkens zu Gebilden der Wirklichkeit zu
hypostasieren. Der Ausweg aber, den Leibniz in diesem Dilemma
ergreift, ist zunächst nicht l o g i s c h e r, sondern metaphysischer
Natur. Was u n s als ein ununterbrochenes stetiges Geschehen,
was u n s als ein einheitliches Dasein erscheint, das sich nach
eigenen Gesetzen und Kräften erhält, das ist, wenn w i r unsere
Betrachtung bis z u m letzten Grunde der Dinge hinlenken, in
Wahrheit das Produkt einer immer erneuten göttlichen
S c h ö p f e r t ä t i g k e i t . Die Dinge bedürfen, u m i n der Zeit z u
verbarren und Veränderungen einzugehen, einer äusseren Bei‑
hilfe und einer äusseren geistigen Wirksamkeit, die sie beständig
begleitet und durchdringt. Es ist, im strengen metaphysischen
Sinne, nicht ein und derselbe Körper, der jetzt an diesem, jeizt
an jenem Raumpunkte auftritt; vielmehr wird der Körper an
70
0 Leibniz.
Leibniz.

einem Punkte
einem Raumes vernichtet,
des Raumes
Punkte des vernichtet, um
um an anderen, be‑
einem anderen,
an einem be-
nachbarten von neuem
nachbarten von erschaffen zu
neuem erschaffen zu werden.
werden. Alle
Alle Schwierig‑
Schwierig-
keiten schwinden, sobald
keiten schwinden, sobald w
wir begriffen haben,
i r begriffen haben, dass die
die Bewegung
Bewegung
nicht
nicht als stetiger Uebergang
als stetiger U e b e r g a n g vvon Stelle zu
o n Stelle Stelle -‐ denn
zu Stelle denn dieser
erweist
erweist sich sich in der Tat als unmöglich
Tat als unmöglich und und widerspruchsvoll ‑
sondern als
sondern als beständige
beständige „Umschaffung" (transcreatio)
„Umschaffung* (transcreatio) zu
zU
ddenken
e n k e n ist.80)
ist.80)
Es
Es lässt
lässt sich begreifen, dass
indessen begreifen,
sich indessen dass diese Art Art der LösungLösung
Leibniz nicht
Leibniz dauernd zu
nicht dauernd zu befriedigen
befriedigen vermochte.
vermochte. Denn Denn so so sehr
diese radikale
diese radikale Zerstückung
Zerstückung alles alles Seins
Seins den formalen Erfordernissen
den formalen Erfordernissen
e r Analysis
dder Analysis zu genügen schien,
zu genügen schien, ‐- - •ss oo sehr
s e h r widerspricht sie sie zzu-u‑
Jetzt deren leitenden Grundgedanken.
letzt deren leitenden Grundgedanken. Wo z u r Erklärung
zur Erklärung einer
empirischen
empirischen ErscheinungErscheinung auf auf einen
einen Deus Deus ex m a c h i n a zurück‑
ex machina zurück-
gegriffen wird, da
gegriffen wird, da ist damit eineist damit eine absolute und unaufhebliche
und unaufhebliche
Grenze der B e g r eeiiflfl i c h k eeii t anerkannt.
Grenze anerkannt. Zwar versucht Leibniz
Zwar versucht Leibniz
das rationalistische
das rationalistische Motiv Motiv seiner Gesamtanschauung
Gesamtanschauung wenigstens
mittelbar aufrecht
mittelbar aufrecht zu erhalten, indem
zu erhalten, indem er er nachdrücklich
nachdrücklich betont, betont,
dass jene
dass göttliche Wirksamkeit,
jene göttliche Wirksamkeit, die die hier dem dem natürlichen
natürlichen Ge‑ Ge-
schehen unterlegt wird,
schehen unterlegt wird, nicht
nicht willkürlich
willkürlich erfolgt, erfolgt, sondernsondern be‑ be-
stimmten und
stimmten und dauernden Gesetzen gehorcht.
dauernden Gesetzen gehorcht. Trotzdem Trotzdem sind sind es es
nicht
nicht die die eigenen
eigenen Kräfte „geschaffenen Dinge“,
Kräfte der „geschaffenen Dinge, somit somit auch auch
nicht
nicht die eigenen Prinzipien
die eigenen menschlichen Vernunft,
Prinzipien der menschlichen Vernunft, denen denen
bier
hier diedie Erklärung entnommen wird: diese
Erklärung entnommen diese Erklärung
Erklärung bleibt bleibt da‑da-
e r ein
her
h „beständiges Wunder“,
ein „beständiges Wunder, in dem dem Sinne,
Sinne, den den Leibniz
Leibniz selbstselbst
innerhalb
innerhalb seines seines reifen
reifen Systems dieser Bezeichnung
Systems dieser Bezeichnung gegeben gegeben hat.81l)
hat.8I)
Das Problem des Stetigen fordert
Das Problem des Stetigen fordert eine tiefere und reineine tiefere und rein logische
logische
A ufklärung. ‐
Aufklärung.
Wiederum
Wi muss m
e d e r u m muss mana n ana n diesem
diesem PunkteP u n k t e die HarmonieHarmonie
bewundern,
bewundern, die die zwischen
zwischen Leibniz’ allgemeinen philosophischen
Leibniz' allgemeinen philosophischen
Interessen und
Interessen u n d dden
e n besonderen Aufgaben besteht,
besonderen Aufgaben besteht, vvor o r welche
welche die die
Entwickelung
Entwickelung der Einzelwissenschaften iihn
der Einzelwissenschaften h n stellt.
stellt. Eine Eine Har‑ Har-
monie,
monie, die die wahrhaft „praestabiliert“ heissen
wahrhaft „praestabiliert" heissen kann, kann, da’sie d a sie nicht
nicht
auf
auf einem zufälligen Zusammentreffen
einem zufälligen Zusammentreffen verschiedenartiger Ge‑ Ge-
dankenreihen
dankenreihen beruht, beruht, sondern
sondern m Notwendigkeit aus dem
miti t Notwendigkeit dem ein‑ein-
methodischen Grundplan
heitlichen methodischen
heitlichen Grundplan der Leibnizischen Forschung
der Leibnizischen Forschung
hervorgeht.
hervorgeht. Die neue Analysis
Die neue des Une
A n a l y s i s des e nnddll i c hh eenn ist es, die
ist es, die
die Antwort auf
die Antwort die prinzipiellen
auf die Schwierigkeiten birgt,
prinzipiellen Schwierigkeiten birgt, die die bis‑
bis-
zurückblieben. Man
her zurückblieben.
her Man kannkann den allgemeinen Leitgedanken
den allgemeinen Leitgedanken
D i e Analysis des Unendlichen. 71

dieser Analysis, im Zusammenhang m i t den früheren Erwägun‑


gen, in aller Kürze bezeichnen. W i r sahen, wie die elemen‑
tare Arithmetik und Geometrie, die zunächst das Vorbild der
Methode bildeten, sich z u m Gedanken einer „universalen Mathe‑
matik“ erweiterten, die alle reinen Verknüpfungsformen des
Denkens überhaupt umfassen sollte. Die Gesetze dieser Ver‑
knüpfungsformen liessen sich studieren, die Ergebnisse, zu
denen sie hinführen, liessen sich ableiten, ohne dass die E l e ‑
mente, deren Abhängigkeit v o n einander es zu erfassen galt, als
e x t e n s i v e G r ö s s e n bestimmt waren. S o lehrt z . B . die geo‑
metrische Charakteristik uns einen Kongruenz-Calcul kennen, in
welchen weder Grössen noch Zahlen, sondern lediglich einfache
und unausgedehnte P u n k t e und Lageverhältnisse eingehen. Die
Rechnung hat es lediglich m i t der Ordnung und wechselseitigen
Bedingtheit rein q u a l i t a t i v e r Beziehungen, nicht m i t irgend‑
welchen quantitativen Verhältnissenzu tun. Allgemein zeigt
sich jetzt, dass die Algebra als Wissenschaft der Quantität einer
allgemeinen F o r m e n l e h r e untergeordnet ist, deren Ursprung
nach Leibniz in der „Metaphysik“ zu suchen i s t . ) Der
Funktionsbegriff ist an Ursprünglichkeit, sowie an methodischer
Allgemeinheit dem gewöhnlichen arithmetischen und geo‑
metrischen Grössenbegriff überlegen. Die Originalität und die
anfängliche Paradoxie des Infinitesimalcalculs besteht darin, dass
er diese allgemeine Einsicht a u f das Gebiet d e r Grössen
s e l b s t anwendet. Denken w i r uns zwei Reihen veränderlicher
Grössen einander gegenübergestellt und durch ein festes Gesetz
der Zuordnung miteinander verbunden, so bleibt dieses Gesetz,
wenn w i r die absoluten quantitativen Werte, die w i r miteinander
vergleichen, sich unbeschränkt vermindern lassen, in seinem S i n n
und seiner G e l t u n g völlig ungeschmälert. Das b e g r i f fl i c h e
Ve r h ä l t n i s , das w i r zwischen ihnen festgestellt haben, bleibt
bestehen, selbst wenn die Grössen, an denen es sich uns zuerst
darstellte, f ü r die Anschauung verschwinden. 8) Ja, esist umge‑
kehrt eben dieses Begriffsverhältnis, das den eigentlichen E r ‑
k e n n t n i s g r u n d f ü r alle Bestimmung der M a a s s v e r h ä l t n i s s e
abgibt. Das gewöhnliche Verfahren der Grössenvergleichung
durch direkte Messung versagt überall dort, wo es sich um u n ‑
gleichartige Gebilde, wo es sich etwa um Gerade und Kurven
12 Leibniz,

handelt. Hier bleibt kein anderes Mittel, als die verschiedenartigen


Gestalten nicht direkt, in ihrem fertigen sinnlichen Bilde, zu ver‑
gleichen, sondern sie zuvor auf die Regel zu reduzieren, nach
der w i r sie entstanden denken. Diese Regel der Entstehung
bildet fortan das wahre „Element“, das die Analyse zu fordern
hat. So wird die L ä n g e einer Kurve ermittelt, indem w i r in
jedem ihrer Punkte eine bestimmte Richtung mitdenken und aus
dem Gesetz der stetigen Richtungsänderung die Beschaffenheit u n d
die sämtlichen quantitativen Merkmale der Kurve erschliessen.
Die Forderung der „genetischen Definition“ hat h i e r ihre wahr‑
hafte Erfüllung gefunden: w i r verstehen ein Gebilde erst dann
wahrhaft, wenn w i r es in seinem logischen A u f b a u schrittweise
verfolgen. Die Differentialrechung erscheint nunmehr als e i n
technisches Verfahren, um uns ‐ namentlich in dem Fortschritt
zur Reihe der höheren Ableitungen ‐ die Gesamtheit der B e d i n ‑
gungen eines gegebenen Grösseninhalts zu versichern, während
die Integralrechnung lehrt, diesen Inhalt, sofern er noch nicht ge‑
geben ist, aus dem Inbegriff eben dieser Bedingungen zu k o n s t r u ‑
ieren. Fasst m a n alle bisherigen Ergebnisse zusammen, so zeigt
sich jetzt eine charakteristische logische Stufenfolge.. Wenn die
Universalwissenschaft sich zunächst auf die Rückführung alles
gedanklichen und wirklichen Seins auf Zahlverhältnisse be‑
schränkte; wenn sie alsdann auf jede Mitwirkung der Zahl zu
verzichten und die Verhältnisse der F o r m rein aus sich selbst
heraus zu begreifen lernte: so ist jetzt die reine Theorie u n d
: der allgemeine Calcul der Funktionen als das eigentliche u n d
tiefste Instrument für die Zahl- und Grössenbestimmung selbst
erkannt.
Jetzt erst hat die Frage nach der „Zusammensetzung“ des
Stetigen die scharfe und prägnante Fassung erhalten, die die
Voraussetzung ihrer Lösung ist. Der Gesichtspunkt des „Ganzen“
und des „Teils“ tritt zurück: an seine Stelle tritt ein Wechsel‑
verhältnis und eine Ueber- und Unterordnung begrifflicher Be‑
dingungen. Das „Einfache“ ist nicht ein Bestandstück des Zu‑
sammengesetzten, sondern ein logisches Moment, das in seine
Definition eingeht. „Viele, die in der Mathematik über den
Punkt und die Einheit philosophiert haben ‐ so schreibt Leib‑
niz an Bourguet ‐ sind in Irrtümer geraten, weil sie zwischen
D e r Infinitesimalbegriff. 73

der A u fl ö s u n g i n B e g r i f f e und der Z e r f ä l l u n g i n Te i l e


nicht unterschieden haben. Die Teile sind nicht immer einfacher
als das Ganze, obwohl sie stets kleiner als das Ganze sind.“ ®)
Somit w i l l auch das „Unendlich-Kleine“ lediglich das begriff‑
liche „Requisit“ der Grösse, nicht aber einen wirklichen „aktu‑
ellen“ Bestandteil v o n i h r darstellen. Gegenüber jeder realistischen
Deutung, die die Materie aus unendlich kleinen P a r t i k e l n zu‑
sammengesetzt denkt, hat daher Leibniz stets v o n neuem den
Charakter der Infinitesimalgrösse als einer rein methodischen
„Fiktion“ betont: einer Fiktion, die nichtsdestoweniger notwendig
und unentbehrlich ist, da ‐ kraft eines Zusammenhangs, der u n s
erst später völlig durchsichtig werden wird ‐ Alles in den Dingen
sich so verhält, a l s ob sie unbedingte Wahrheit wäre. Allge‑
mein k o m m t dem Unendlich-Kleinen die volle Geltung eines be‑
grifflichen Grundes, aber keinerlei Art tatsächlicher Sonder‑
existenz zu. Sein Platz ist ‐ wie es in einem Briefe an Johann
Bernoulli charakteristisch heisst ‐ „ i n den idealen Gründen,
v o n denen als ihren Gesetzen die Dinge regiert werden, obwohl
es sich in den Te i l e n d e r M a t e r i e nicht findet.“®)
Die h i s t o r i s c h e Frage nach der Ursprünglichkeit und
Unabhängigkeit der Leibnizischen Entdeckung des Infinitesimal‑
calculs erhält erst in diesem Zusammenhange i h r volles Licht.
D i e Antwort auf sie kann nicht zweifelhaft sein, sobald m a n
erkannt hat, dass die neue Rechnungsart in der Tat, wie Leibniz
selbst es ausspricht, aus dem innersten Quell seiner P h i l o s o p h i e
hervorgegangen i s t . ) Die Analysis des Unendlichen ist n u r eine
neue und fruchtbare Durchführung der allgemeinen Forderung
der Analysis der Begriffe, m i t welcher Leibniz’ Lehre beginnt.
Es ist sehr bezeichnend, dass Leibniz in einem Aufsatze, der
nach dem Ausbruch des Prioritätsstreites verfasst ist, und der
d i e M o t i v e der Entdeckung in meisterhafter Prägnanz und
Klarheit enthüllt, diesen Gedanken wiederum an die Spitze
s t e l l . Der eigentliche und letzte Ursprung liegt i h m hier
wiederum in seiner Lehre von den Bedingungen der D e fi n i t i o n
u n d des deduktiven Beweises89) Die Weite und Allge‑
meinheit, in der Leibniz v o n Anfang an seine Grundkonzeption
fasst und die ihre eigentliche Ueberlegenheit ausmacht, geht aus
diesem Zusammenhang hervor. Der Gedanke des Infinitesi‑
74 Leibniz.

malen brauchte als solcher von i h m nicht entdeckt zu werden:


er w a r bereits durch G a l i l e i in der Mechanik, durch Kepler
und C a v a l i e r i in der Geometrie, durch F e r m a t und Des‑
cartes in der Analysis heimisch und fruchtbar geworden. (Vgl.
Bd. I, S. 324 ff.) Leibniz’ Leistung besteht darin, dass er a l l
diesen verschiedenen Ansätzen, die in ihrer Durchführung auf
ein Sondergebiet beschränkt blieben, ein einheitliches Begriffs‑
fundament entdeckt. Hier geht er auch über N e w t o n hinaus,
der den Fluxionsbegriff durch den Begriff der Geschwindigkeit
erläutert und dessen Betrachtungsweise somit im wesentlichen
durch mechanische Analogien geleitet ist. Leibniz steht dieser
Anschauung innerlich nicht fern: gilt doch. auch i h m die B e ‑
wegung als ein reiner r a t i o n a l e r Grundbegriff, der dem Geiste
als unverlierbarer Besitz eingeprägt ist. „Unser Geist könnte in
einen Zustand kommen, in dem er keine Experimente anzustellen
noch auf die Erfahrungen Acht zu haben vermöchte, die er in
diesem Leben gesammelt; unmöglich aber ist es, dass die Ideen
der Ausdehnung und der Bewegung, sowie der anderen r e i n e n
F o r m e n jemals in ihm ausgelöscht würden.“®) Die „Bewegung*
indessen, wie sie hier verstanden wird, ist kein einzelnes empi‑
risches D a t u m mehr, sondern jenes allgemeine Prinzip, dessen
der Gedanke sich bedient, wenn er das Zusammengesetzte aus
dem Einfachen konstruktiv hervorgehen lässt. So lässt es sich
verstehen, dass dieser Begriff die verschiedensten Problemgebiete
gleichmässig zu durchdringen und zu beherrschen vermag. Vo n
der Cavalierischen „Geometrie des Unteilbaren“, die u n s „sozu‑
sagen die Rudimente oder Anfänge der Linien und Figuren“ auf‑
weist,89) schreitet Leibniz z u m physikalischenBegriff des „Moments“
der Geschwindigkeit, v o n hier aus wiederum zur analytischen
Geometrie u n d z u m „umgekehrten Tangentenproblem“ weiter,
wobei jedoch sein Blick niemals auf der einzelnen Aufgabe als
solcher, sondern auf der allgemeinen Methodik ihrer Lösung
haftet.
S o wird auch das P r i n z i p d e r C o n t i n u i t ä t , das Leibniz
als den letzten Grund seiner Analysis bezeichnet, v o n i h m über‑
all als ein Prinzip der O r d n u n g u n d d e r Methode des
Denkens eingeführt. Betrachten w i r zwei Wertefolgen verän‑
derlicher Grössen, die durch ein festes Gesetz m i t einander v e r ‑
Das Prinsip der Continuität. 15

bunden sind, so darf die Beziehung, die zwischen den Reihen‑


g l i e d e r n besteht, nicht aufgehoben werden, w e n n w i r von ihnen
a u f die Grenzen der beiderseitigen Reihen übergehen. In der
Anschauung zwar mögen diese Grenzfälle den übrigen Elementen
unvergleichlich gegenüberzustehen scheinen; wie denn Ruhe nnd
Bewegung, Gleichheit und Ungleichheit, Parallelismus und Con‑
vergenz v o n Linien in der unmittelbaren sinnlichen Auffassung
als Gegensätze erscheinen müssen. Aber diese Kluft, die f ü r
unsere „Imagination“ bestehen bleibt, muss der Gedan ke über‑
brücken und ausfüllen. Ein Element mag, isoliert betrachtet,
einem anderen noch so „unäbnlich“ scheinen: wenn es sich aus
i h m im stetigen logischen Fortgang ableiten und entwickeln
lässt, so gewinnt es kraft dieses Prozesses der Schlussfolgerung
eine höhere und fester gegründete Gemeinschaft m i t ihm, als die
sachliche Uebereinstimmung in irgend welchen konstanten an‑
schaulichen Einzelmerkmalen i h m zu geben vermöchte. „Ist
irgend ein stetiger Uebergang gegeben, der in einem letzten Ter‑
minus endet ‐ so formuliert Leibniz selbst den obersten Grund‑
satz der neuen Rechnung ‐ so ist es stets möglich, eine gemein‑
same rationale Betrachtungsweise durchzuführen (ratiocinationem
communem instituere), die den letzten Terminus m i t in sich ein‑
schliesst.“4%) Die Giltigkeit und Stringenz des logischen Verfahrens,
kraft dessen w i r die beiden Reihen auf einander beziehen, bricht
n i c h t ab, wenngleich die sinnliche Analogie und Aehnlichkeit ver‑
schwinden mag. Die Regel des Ungleichen muss so allgemein
konzipiert werden, dass sie die Gleichheit als eine besondere Be‑
stimmung in sich zu fassen vermag. Ausdrücklich w i r d daher das
Prinzip der Continuität v o n Leibniz als ein logisches P o s t u l a t für
d i e Aufstellung und Verknüpfung unserer Begriffe gefasst, das als
solches allerdings mittelbar auch für alle Wirklichkeit v o n Tat‑
sachen gelten muss, da sich keine Wirklichkeit erdenken lässt,
d i e nicht ihrem Grund und Inhalt nach durchgehend vernünftig
wäre. „Da die Continuität ein notwendiges Erfordernis der
wahren Gesetze-der Mitteilung der Bewegung ist, wie liesse sich
daran zweifeln, dass alle P h a e n o m e n e i h r unterworfen sind,
da diese ja n u r vermittels der wahren Gesetze der Mitteilung
d e r Bewegung verstandesgemäss e r k l ä r b a r werden.“4) Wer
daher Regeln der Bewegung und Ruhe aufstellen will, der muss
76 Leibniz.

sich v o r allem gegenwärtig halten, dass „die Regel der Ruhe so


zu fassen ist, dass sie als Corollar oder als Spezialfall der Regel
der Bewegung angesehen werden kann. Wenn dies ‐ wie bei
den Cartesischen Stossgesetzen ‐ nicht der Fall ist, so ist
dies das sicherste Zeichen dafür, dass die Regeln falsch
aufgestellt sind und m i t einander nicht in Einklang stehen.“%2)
Es ist bemerkenswert, dass Leibniz nirgends versucht hat, einen
direkten metaphysischen Beweis f ü r die Continuität der Be‑
wegung zu geben. Noch in Briefen an de Volder, die aus der
späteren Periode seiner Philosophie stammen, äussert er sich
über diesen Punkt m i t grösster Zurückhaltung.#) Die Stetigkeit
kann nicht unmittelbar aus dem „Wesen“ der Bewegung, sondern
n u r aus den Prinzipien der rationalen Ordnung, d. h. aus den
Erfordernissen unserer vernünftigen Einsicht gefolgert werden.
Aber freilich wird sie damit keineswegs zu bloss „subjektiver“
Geltung herabgesetzt; denn was als „ewige W a h r h e i t “ erkannt
und erwiesen ist, das gilt damit nicht n u r für unseren endlichen
Verstand, sondern ist eine schlechthin unbedingte Regel, an
welche der unendliche, absolute Verstand Gottes in der Reali‑
sierung der Dinge gebunden bleibt. „So kann man allgemein
sagen, dass die gesamte Continuität etwas I deales ist, dass aber
nichtsdestoweniger das Reale vollkommen vom Idealen und Ab‑
strakten beherrscht wird, sodass die Regeln des Endlichen im
Unendlichen . . . und umgekehrt die Regeln des Unendlichen
im Endlichen ihre Geltung behalten. Denn alles untersteht der
Herrschaft der Vernunft; andernfalls gäbe es weder Wissenschaft,
noch Regel, was der Natur des obersten Prinzips widerstreiten
würde.“44) In diesem Sinne bedeutet für Leibniz das Gesetz der
Stetigkeit den Schlüssel der wahrhaften Philosophie, die sich
über die Sinne und die Einbildung erhebt und den Ursprung
der Erscheinungen i m Gebiet des I n t e l l e k t u e l l e n sucht.#) ‑
Jetzt erst ist u n s der Weg z u r Betrachtung des r e a l e n Ge‑
schehens gebahnt, ohne dass w i r fürchten müssten, im logischen
Sinne eine peraßaoız eis AAAo yevos zu begehen. Die A n a l y s e des
Z e i t v e r l a u f s d e r w i r k l i c h e n E r e i g n i s s e stellt die „Scientia
generalis“ v o r eine Aufgabe, v o r der a l l ihre begrifflichen Mittel
zunächst zu versagen drohen. E i n Zusammenhang der Wirklich‑
keit ist für u n s ‐ nach den ersten Voraussetzungen der Leib‑
Die Analyse
Die des Werdens.
Analyse des Werdens. 77
77

nizischen Lehre ‐- nnur


nizischen Lehre vollkommen erkennbar,
dann vollkommen
u r dann erkennbar, wenn
wenn er er
sich in einem
sich einem Urteil darstellen lässt,
U r t e i l darstellen Prädikat ausdrücklich
dessen Prädikat
lässt, dessen ausdrücklich
oder „virtuell“ im
oder „virtuell" Subjekt enthalten
im Subjekt ist. Die
enthalten ist. Bestimmungen, die
Die Bestimmungen, die
an den
an Subjektsbegriff herantreten,
den Subjektsbegriff dürfen iihm
herantreten, dürfen h m gegenüber nichts
nichts
Fremdes und
Fremdes Aeusserliches bedeuten,
und Aeusserliches sondern es
bedeuten, sondern muss möglich
es muss möglich
sein, sie lediglich
sein, sie lediglich aus aus der eigenen „Natur“
eigenen „Natur" des Subjekts
Subjekts voll‑
voll-
ständig zu entwickeln
ständig zu entwickeln und und zu begreifen. Die
zu begreifen. gewöhnliche Ansicht,
Die gewöhnliche Ansicht,
die m
die mana n sich
sich vvon der A
o n der Art r t des Geschehens macht,
zeitlichen Geschehens
des zeitlichen macht, aber
widerspricht
widerspricht dieser Grundforderung. G
dieser Grundforderung. i l t doch
Gilt doch gerade dies als
Charakteristische des
das Charakteristische
das zeitlichen Wandels,
des zeitlichen Wandels, dass in iihm h m völlig
völlig
neue Inhalte
neue erschaffen werden,
Inhalte erschaffen werden, die die plötzlich,
plötzlich, wie a u s einem
w i e aus einem
uunbekannten
nbekannten G r u n d e des
Grunde des S e i n s hervortauchen
Seins h e r v o r t a u c h e n undu n d dem
d e m Bewusst‑
Bewusst-
sein, als
sein, etwas völlig
als etwas Selbständiges, von
völlig Selbständiges, von all seinen bisherigen
all seinen bisherigen
Kenntnissen Verschiedenes
Kenntnissen Verschiedenes gegenübertrete
gegenübertreten. n. Ist diese Auffassung
Ist diese Auffassung
richtig,
richtig, so müssen w
so müssen wir den Anspruch
i r den Anspruch aufgeben, aufgeben, den den IIntellekt
ntellekt
selbst als
selbst als den zulänglichen Grund
den zulänglichen Grund aller Wahrheiten, Wahrheiten, die die ihmihm
gegeben werden
gegeben werden können, anzusehen; so
können, anzusehen; muss neben
so muss neben und und ausser
ihm in der Sinneserfahrung
ihm Sinneserfahrung ein ein zweites,
zweites, gleich gleich ursprüngliches
ursprüngliches
Prinzip
Prinzip der Gewissheit anerkannt
der Gewissheit anerkannt werden. werden. Diese Lösung aber
Diese Lösung aber
würde
würde den den Leibnizischen
Leibnizischen B Begriff der E
e g r i f f der r k e n n t n i s selbst zu‑
Erkenntnis zu-
nichte m
nichte a c h e n : ddenn
machen: alle blossen
e n n alle blossen Ta t s a c h e n w a r h e i t e n wollen als
Tatsachenwarheiten als
Vorbereitung für rrationale
Vorbereitung a t i o n a l e Sätze dienen und
Sätze dienen und streben danach, streben danach,
sich fortschreitend
sich fortschreitend in sie sie aufzulösen
aufzulösen (vgl. (vgl. ob. ob. S. S. 5656 ff.)
ff.) So So giltgilt eses
an diesem
an Punkte, die herkömmliche
diesem Punkte, die herkömmliche Betrachtungsweise Betrachtungsweise in sich
sich
umzugestalten. Was w
selber umzugestalten.
selber wiri r als eine völlige
als eine zeitliche Neu‑
völlige zeitliche Neu-
schöpfung anzusehen
schöpfung anzusehen pflegen,pflegen, das das ist ist in Wahrheit nnur u r die
die Ent‑
Ent-
faltung uund
faltung n d das successive Hervortreten
das successive Hervortreten zzuvor u v o r gegebener
gegebener Be‑ Be-
dingungen,
dingungen, in denen denen der Erfolg bereits völlig
Erfolg bereits beschlossen lag.
völlig beschlossen lag.
Das
Das zeitliche
zeitliche We Werden ist statt
r d e n ist unter den
statt unter Gesichtspunkt der
den Gesichtspunkt der E pi‑
Epi-
unter den
e n e s i s unter
ggenesis Gesichtspunkt der P
den Gesichtspunkt P r aaeeffoorrm maattiioonn zuzu stellen.
stellen.
Jeder Moment
Jeder Moment des des Werdens
Werdens muss muss als eindeutige Folge
eine eindeutige
als eine Folge aus aus
der Gesamtheit
der Gesamtheit der der vorangehenden
vorangehenden Bedingungen Bedingungen ableitbar ableitbar und und
i n ihnen
in ihnen iinn seiner gesamten Eigenart
seiner gesamten Eigenart vvorgebildet sein.
o r g e b i l d e t sein.
Die mechanische Naturauffassung
Die mechanische Naturauffassung ist uns uns daher ‐- wie wie
Leibniz insbesondere gegen Robert
Leibniz insbesondere gegen Robert Boyle hervorhebt B o y l e hervorhebt ‐- #
4 8 )
) nicht
n i cht
lediglich
lediglich durchdurch die Erfahrung und
die Erfahrung und durch
durch die die „Natur
„Natur der der Dinge“
Dinge"
aufgedrängt, sondern
aufgedrängt, sondern sie wurzelt in den
sie wurzelt ersten Prinzipien
den ersten Prinzipien unserer unserer
Vernunft. Der
Vernunft. Satz, dass
Der Satz, dass alle alle Veränderungen,
Veränderungen, die die in der der NaturNatur
78 Leibnis,

vor sich gehen, aus den blossen Begriffen v o n Grösse, Gestalt und
Bewegung vollständig erklärbar sein müssen, ist n u r ein Corollar
und eine speziellere Fassung des allgemeinen Satzes vom z u ‑
reichenden Grunde. Denn diese Begriffe sind es, die das W i r k ‑
liche erst „intelligibel* machen, sofern sie gestatten, es dem
exakten mathematischen Calcul zu unterwerfen.) Die Deutung,
die die mechanische Physik den konkreten Naturerscheinungen
gibt, begünstigt somit, wenn m a n sie ihrem tieferen Sinn und
Rechte nach versteht, nicht die Folgerungen des dogmatischen
Materialismus, sondern umgekehrt ist sie es, die alles sinnliche
Sein in einen logisch-mathematischen Erkenntaiszusammenhang
und damit in ein „geistiges“ Sein auflöst. Wie in einer alge‑
braischen Progression v o n Zahlen jedes folgende Glied durch
das vorhergehende und das allgemeine Gesetz der Reihe bedingt
und vollständig umschrieben ist, so muss jeder Folgezustand des
Universums, der n u r immer erreichbar ist, in dem Gegenwärtigen
enthalten und aus i h m vollkommen ableitbar sein: „sonst wäre
die Natur ungereimt und des Weisen unwürdig.“#) Könnte man
kraft einer Formel einer „höheren Charakteristik“ irgend eine
wesentliche Eigenschaft des Universums ausdrücken, so könnte
man aus i h r die Folgezustände all seiner Teile für alle angebbaren
Zeiten herauslesen.#) Die Gegenwart geht m i t der Zukunft
schwanger, wie sie die Vergangenheit in sich bewahrt und
wiedergibt. "
In diesen Erwägungen ist der physikalische K r a f t b e g r i f f
Leibnizens bereits seinem gesamten Inhalt nach mitgegeben.
Denn die „derivative Kraft“, m i t der es nach Leibniz die Physik
allein zu t u n hat, besagt nach seinen wiederholten und unzwei‑
deutigen Erklärungen nichts anderes, als „den gegenwärtigen
Zustand des Geschehens selbst, sofern er zu einem folgenden
strebt oder einen folgenden im voraus involviert.“50%) Die Kraft
ist somit kein geheimnisvolles Agens, das von aussen her an
die Dinge herantritt, sondern sie ist lediglich der Ausdruck f ü r
die durchgängige m a t h e m a t i s c h e u n d l o g i s c h e D e t e r ‑
m i n a t i o n alles künftigen Werdens durch die Bedingungen,
die in der Gegenwart verwirklicht sind. Es gibt keine isolierte,
f ü r sich bestehende Gegenwart; vielmehr ist jeder Körper
das, was er i s t , n u r dadurch, dass er ausser. seiner m o m e n ‑
Der Begriff
Der der Kraft.
Begriff der Kraft. 79
79

tanen
t a n e n Daseinsforrm
D a s e i n s f o r m eine eine unabschliessbare
unabschliessbare Reihe Reihe zukünftiger
Gestaltungen, die zu bestimmter, fest
Gestaltungen, die zu bestimmter, fest vorgeschriebener Zeit zur
Zeit
Wirklichkeit
Wirklichkeit gelangen gelangen werden, werden, in in sich birgt. Nur
sich birgt. Nur vermöge
dieser Beziehung
dieser Beziehung und und dieser Tendenz Tendenz auf das das Kommende
Kommende ge‑ ge-
winnen
w i n n e n ddie i e vverschiedenen m o m e n t a n e n Zustände
e r s c h i e d e n e n momentanen Z u s t ä n d e des
des S e i n s ihre
Seins ihre
Differenzierung und
Differenzierung und ihre ihre innere
innere Unterscheidbarkeit.ö!l)
Unterscheidbarkeit.$) Die Die Be‑ Be-
wegung
wegung (so (so wiewie die die Zeit) „hat, genau
Zeit) „hat, genau genommen,
genommen, niemals niemals ein ein
eigentliches D a
eigentliches a ss eeii nn,, dada siesie keine koexistierenden Teile besitzt,
keine koexistierenden besitzt,
folglich niemals
folglich niemals als Ganzes existiert.
als Ganzes existiert. Und Und so liegt in iihr
so liegt h r selbst
nichts Reales,
nichts Reales, ausser ausser der der Realität
Realität des momentanen Zustandes,
des momentanen Zustandes,
der durch durch die die KraftKraft und und iihr h r Streben
Streben nach nach Veränderung
Veränderung zu be-
zu be‑
stimmen ist.“5%)
stimmen ist."8a) Trotz des des Ausdrucks
Ausdrucks des Strebens, der hier
des Strebens, hier
gebraucht wird,
gebraucht wird, liegt antbropomorphistische Auffassung
liegt jede anthropomorphistische Auffassung
doch völlig
doch völlig fern. fern. Der conatus fällt,
Der conatus fällt, wie wie bei Spinoza, m
bei Spinoza, miti t der
essentia, zusammen;
essentia, z u s a m m e n ; eerr ist ist der
d e r Ausdruck für f ü r die
die l o o g i ss c h e
e nn
F o l g eenn,, die die in einem gegebenen
einem gegebenen Zustand mit Zustand mit gesetzt sind.
sind.
(Vgl.
(Vgl. ob. ob. S. S. 33£.)
33 f.) Der Der pphysikalische Begriff der Kraft
h y s i k a l i s c h e Begriff Kraft ‐- - denndenn
von d
von dem biologischen und
e r biologischen und metaphysischen
metaphysischen ist hier noch
ist hier noch nichtnicht
die Rede
die Rede ‐- hat seine Wurzel
hat seine Wurzel nicht nicht in der sinnlichen sinnlichen Empfin‑ Empfin-
dung,
dung, sondern sondern geht auf auf den allgemeinen Begriff
den allgemeinen Begriff der Bedingung
Bedingung
zurück.
zurück. Er wird wird zu keinem anderen
zu keinem anderen Zwecke eingeführt, als um
Zwecke eingeführt, um
von den
von den Phänomenen
Phänomenen der Bewegung, die
der Bewegung, die diedie Beobachtung
Beobachtung uns uns
darbietet,
darbietet, völlige völlige logischel o g i s c h e Rechenschaft
R e c h e n s c h a f t zu zu geben.
geben. „Als „Als Ur‑ Ur-
sache bezeichnen
sache bezeichnen w wiri r diejenige Sache, aus deren
diejenige Sache, deren Zustand
Zustand sich sich am am
leichtesten der
leichtesten der Grund Grund dder e r Veränderungen
Ve r ä n d e r u n g e n ergibt.
ergibt. DenkenDenken w wirir
u n s z.
uns z. B.B. einen bewegten Körper
einen bewegten Körper in eine Flüssigkeit versetzt,
eine Flüssigkeit versetzt, in
der
der er er mannigfache
mannigfache Wellen erzeugt, so
Wellen erzeugt, so lässt
lässt sich sich der gesamtegesamte
Verlauf der
Verlauf Erscheinungen, die
der Erscheinungen, hierbei ergeben,
sich hierbei
die sich ergeben, auch auch durchdurch
die Annahme ausdrücken,
die Annahme ausdrücken, dass dass der der feste Körper Körper rruht u h t und
und die die
Flüssigkeit um ihn
Flüssigkeit i h n herum Bewegung begriffen
herum in Bewegung begriffen ist; ist; ja
ja es
es lassen
lassen
ssich
i c h eine i n und i e s e l b e n Phaenomene
u n d ddieselben Phaenomene a u n e n d l i c h verschiedene
a uuff unendlich verschiedene
Weise
Weise erklären.erklären. Und sicherlich ist
Und sicherlich ist auch
auch die Bewegung in Wahr‑
die Bewegung Wahr-
h e i t etwas Relatives;
heit nur etwas Relatives; dennoch ist
n u r dennoch ist diejenige Hypothese,
Hypothese, die die
dem festen
dem festen Körper Körper die Bewegung zuspricht
die Bewegung zuspricht und und aus aus iihr die
h r die
Weilen der Flüssigkeit herleitet, unendlich
Wellen der Flüssigkeit herleitet, unendlich viel einfacher als alle viel einfacher als alle
übrigen, und
übrigen, und es es kann
kann deshalb dieser dieser Körper als Ursache der Be‑
als Ursache Be-
wegung angesehen
wegung angesehen werden.“ werden." In aller aller Setzung
Setzung vvon Ursachen und
o n Ursachen und
Wirkungen
Wi r k u n g e n handelt handelt es es sich m m e r n uu rr um
sich iimmer u m eine derartige g
eine derartige ge-e ‑
80 Leibnis,

d a n k l i c h e B e s t i m m u n g , der w i r die Erscheinungen unter‑


werfen: „causae n o n a r e a l i i n fl u x u , sedareddenda r a t i o n e
sumuntur.*8)
Wiederum greifen hier die Ergebnisse der besonderen Wissen‑
schaften bedeutungsvoll in die Entwicklung der allgemeinen Me‑
thodenlehre ein. Schon während seines -Pariser Aufenthalts, in
der ersten Periode seiner Philosophie, wird Leibniz zum K r i ‑
tiker der fast allgemein anerkannten Cartesischen Grundbegriffe
der Mechanik. Er erkennt dem Cartesischen Kraftmass, wonach
die Kraft nach dem Produkt v o n Masse und Geschwindigkeit zu
schätzen ist, seine r e l a t i v e Berechtigung zu, indem er zeigt,
dass zwar nicht die absolute, wohl aber die algebraische Summe
der „Bewegungsgrössen* sich im Ganzen des Alis konstant er‑
hält.ö4) Aber dieses Gesetz der „Erhaltung der Richtung“ g i l t
ihm nunmehr n u r noch als ein Sonderfall des umfassenderen
Gesetzes der E r h a l t u n g d e r lebendigen K r a f t , das er allge‑
mein formuliert und a priori aus dem Satze, dass die volle W i r ‑
kung ihrer Ursache gleich sein muss, zu beweisen unternimmt.
Dieser Satz ist, wie er i h n auffasst, kein E r g e b n i s der sinn‑
lichen Wahrnehmung, sondern er gründet sich auf „Prinzipien,
die.von den Erfahrungen selbst Rechenschaft geben und die i m ‑
stande sind, Fälle, f ü r die es noch keine Experimente oder
Regeln gibt, zur Bestimmung zu bringen.“ Die Gleichheit v o n
Ursache und Wirkung ist ‐ im selben Sinne, wie das Stetigkeits‑
prinzip ‐ ein P o s t u l a t , m i t dem w i r an die Wahrnehmung
herantreten und gemäss dem w i r sie in feste konstante Ord‑
nungen fassen. Bleiben w i r bei der blossen sinnlichen Beobach‑
tung stehen, so löst sich u n s das Geschehene zunächst in völlig
heterogene Reihen: in eine Welt der Töne und Farben, der
Druck- und Muskelempfindung, wie der Temperaturempfindung
auf. Damit alle diese Gebiete unter einander vergleichbar werden,
damit etwa Phaenomene der Schwere und Elastizität, der Wärme
und der Bewegung sich wechselseitig einander zuordnen u n d
durch einander m e s s e n lassen; dazu muss zunächst eine be‑
griffliche E i n h e i t festgestellt werden, in der sie verbunden
sind. Welche qualitativen Unterschiede die Erscheinungen auch
unter sich aufweisen mögen: es muss einen Gesichtspunkt geben,
der sie als G r ö s s e n einander gleichartig macht. Leibniz ent‑
D i e Erhaltung der lebendigen Kraft. 81

deckt diesen Gesichtspunkt im B e g r i f f d e r Arbeit, den er zu‑


erst, m i t dem vollen Bewusstsein seiner allgemeinen prinzipiellen
Bedeutung, zur Grundlage der gesamten Physik m a c h t . ) Die
verschiedenartigen Prozesse des Wirkens besitzen ein gemein‑
sames Mass i n ihrer L e i s t u n g s f ä h i g k e i t . Gäbe e s kein der‑
artiges Mass; fände es sich etwa, dass zwei „Kräfte“, die inner‑
balb des einen Gebiets, wie z. B. in der Erhebung v o n Gewich‑
ten über ein bestimmtes Niveau, das Gleiche zu leisten vermögen,
in anderen Gebieten zu verschiedenen Ergebnissen führen ‐ so
fiele damit die gesamte dynamische Wissenschaft dahin. Die
K r a f t wäre alsdann, weil nicht quantitativ fassbar, auch kein
logisch bestimmbarer, eindeutiger Begriff; sie wäre keine feste
Grösse, sondern etwas Vages und Widerspruchsvolles.#) Der
strenge rationale Begriff der Ursache kann n u r durch Vermitt‑
l u n g des Grössenbegriffs auf die räumlich-zeitlichen Erschei‑
nungen anwendbar gemacht werden.
Aber noch in anderer Beziehung erweist der Gedanke der
E r h a l t u n g der lebendigen Kraft seine Bedeutung für die Ge‑
samtheit von Leibniz’ philosophischen Grundanschauungen.
Die Forderung, die wir anfangs stellen mussten: den realen Zeit‑
v e r l a u f gemäss den allgemeinen Bedingungen der Prinzipien‑
lehre zu begreifen, ist erst jetzt wahrhaft erfüllt. Es gibt kein
absolutes Entstehen; sondern jede scheinbare Neuschöpfung ist
n u r die Umformung ein und desselben realen Inhalts, der als
Grösse b e h a r r t . Der Gedanke, den Leibniz f ü r den B e ‑
w u s s t s e i n s b e g r i f f durchführt, erweist i m Gesetz der Erhaltung
seine Geltung für den W e l t b e g r i f f ; die physikalische Betrach‑
t u n g ergänzt und bestätigt die erkenntnistheoretisch-logische.
Das All ist nunmehr zum selbstgenügsamen System geworden,
das keines äusseren Eingriffs zu seinem Fortbestande bedarf. So
erfüllt die Entwickelung der konkreten Einzelwissenschaften die
Aufgabe, die methodischen Gedanken, die zunächst n u r den
Charakter allgemeiner Forderungen trugen, im einzelnen zu be‑
währen.

II.
Der Aufbau und der Stufengang der rationalen Erkenntnis
w a r bei Leibniz durch seinen allgemeinen B e g r i f f d e r W a h r ‑
6
82 Leibniz.

h e i t bestimmt. Der formale Charakter dieses Begriffs enthielt


bereits eine bestimmte Anweisung auf den sachlichen Inhalt, der in
i h n eingehen sollte. Jetzt, nachdem der erste Ueberblick über
das System der Wissenschaften erreicht ist, lässt sich dieser prin‑
zipielle Zusammenhang zwischen F o r m und Materie des Wissens
noch von einer anderen Seite her beleuchten. Es ist ein eigen‑
tümlicher und spezifischer Zug des Leibnizischen I d e a l s d e r
E r k e n n t n i s , der sich in der allgemeinen Charakteristik, wie in
der Mathematik, in der Dynamik und Biologie, wie in der Mela‑
physik gleichmässig ausprägt und der in diesem Fortgang zu
immer bestimmterer Gestaltung gelangt. ‑
Die Ansicht, dass alle Erkenntnis das getreue A b b i l d einer
f ü r sich bestehenden Wirklichkeit sein muss, wird v o n Leibniz
von Anfang an verworfen. Zwischen unseren Ideen und dem
Inhalte, den sie „ausdrücken“ wollen, braucht keinerlei Verhältnis
der A e h n l i c h k e i t z u bestehen. Die Ideen sind nicht die
B i l d e r, sondern die Symbole der Realität; sie ahmen nicht ein
bestimmtes ohjektives Sein in all seinen einzelnen Zügen u n d
Merkmalen nach, sondern esgenügt, dass sie die Verhältnisse,
die zwischen den einzelnen Elementen dieses Seins obwalten, in
sich vollkommen repräsentieren und sie gleichsam in ihre eigene
Sprache übersetzen. „Eine Sache drückt eine andere aus, wenn
eine konsiante und geregelte Beziehung zwischen dem, was sich
von der einen, und dem, was sich v o n der andern aussagen lässt,
besteht.5”)“ „So drückt das Modell einer Maschine die Maschine
selbst, so drückt eine ebene perspektivische Zeichnung einen
dreidimensionalen Körper, ein Satz einen Gedanken, ein Zeichen
eine Zahl, eine algebraische Gleichung einen Kreis oder eine
andere geometrische Figur aus: und allen diesen Ausdrücken ist
dies gemeinsam, dass wir aus der blossen Betrachtung der Ver‑
hältnisse des A u s d r u c k s z u r Kenntnis der entsprechenden
Eigenschaften der auszudrückenden S a c h e zu gelangen ver‑
mögen. Hieraus geht hervor, dass es nicht notwendig ist, dass
Ausdruck und Sache einander ähnlich sind; sofern n u r eine ge‑
wisse Analogie aller Verhältnisse gewahrt ist. Es ergibt sich
ferner, dass die einen Ausdrücke ein sachliches Fundament
(fundamentum in n a t u r a ) besitzen, während die anderen, w i e
etwa die Worte der Sprache oder irgendwelche Zeichen, wenigstens
D e r Symöbolbegriff. 83

z u m Te i l auf willkürlicher Konvention beruben. Die sachlich ge‑


gründeten fordern irgend eine Art Aehnlichkeit, wie sie z. B.
zwischen einer Gegend und ihrer geographischen Karte besteht,
oder doch eine Ve r k n ü p f u n g von der Art, wie sie zwischen
einem Kreise und seiner perspektivischen Darstellung in einer
Ellipse stattfindet: denn jeder Punkt der Ellipse entspricht hier
nach einem bestimmten Gesetz irgendeinem Punkte des Kreises.
Dass also eine Idee der Dinge in uns ist, bedeutet nichts anderes,
als dass Gott, der in gleicher Weise der Urheber des Geistes und
der Dinge ist, dem Geiste eine derartige Denkkraft gegeben hat,
dass er aus seinen eigenen Tätigkeiten Ergebnisse abzuleiten ver‑
mag, die den wirklichen Folgen in den Dingen vollkommen ent‑
sprechen. Obwohl daher die Idee des Kreises dem Kreise in der
Natur nicht ähnlich ist, so lassen sich doch aus i h r W a h r ‑
h e i t e n ableiten, die die Erfahrung an dem wirklichen Kreise
ohne Zweifel bestätigen wird.“®)
So geringfügig auf den ersten Blick die Aenderung erscheinen
mag, die Leibniz an der gewöhnlichen erkenntnistheoretischen
Ansicht vollzieht: so wichtig und fruchtbar ist sie f ü r seine ge‑
samte Lehre geworden. Der erste und entscheidende Schritt zur
Ueberwindung der „Abbildtheorie“ ist jetzt getan. Zwar beziehen
sich auch hier die Ideen auf ein objektives Sein, das ihnen gegen‑
übersteht; aber sie brauchen dieses Sein nicht mehr zu k o p i e r e n ,
um es zu verstehen und in ihren eigenen Besitz zu verwandeln.
Damit ändert sich zunächst die Auffassung v o n der Rolle und
Bedeutung, die der W a h r n e h m u n g i m Ganzen des Erkenntnis‑
prozesses zukommt. Die „Nouveaux Essais* lassen in ihrer Theorie
der „Perzeption* diesen Wandel deutlich hervortreten. Im H i n ‑
blick auf das bekannte Molyneuxsche Problem ‐ ob nämlich
ein Blindgeborener, der durch eine Operation sehend würde, so‑
gleich die verschiedenen räumlichen Formen, die i h m bisher n u r
durch den Tastsinn bekannt waren, durch das Gesicht werde
unterscheiden können ‐ führt Leibniz aus, dass esvon allgemeinem
psychologischen Interesse wäre, die Vorstellungsweisen der Blinden
und der Taubstummen eingehend zu untersuchen. Diese Vor‑
stellungsweisen könnten von einander und von der unsrigen voll‑
kommen abweichen, wie sie denn aus ganz verschiedenem sinn‑
lichen Material, als die unsrige aufgebaut sind und dennoch in dem,
El
84 Leibniz.

was sie ausdrücken, einander aequivalent sein. Denn die Em‑


pfindung als solche ist, für sich allein genommen, stumm; sie w i r d
z u r E r k e n n t n i s erst durch die ideale Bedeutung, die w i r i h r
geben und für die sie uns n u r als Hinweis dient. Es ist somit keines‑
wegs widersprechend, dass derselbe e i n h e i t l i c h e I d e e n g e h a l t
durch sehr verschiedene Gruppen sinnlicher Zeichen wiedergege‑
ben und vermittelt werden kann. Der Grundmangel v o n Lockes
Erkenntnistheorie besteht nach Leibniz darin, dass sie diese Unter‑
scheidung nicht beachtet und durchgeführt hat: dass i h r dasjenige,
was die Ideen im strengen Begriffsgebrauche der Wissenschaft b e ‑
deuten, m i t den Wahrnehmungskomplexen verschmilzt, die ledig‑
lich zu ihrer mehr oder weniger willkürlichen und wandelbaren
B e z e i c h n u n g dienen. Der Geometer hat e s nicht m i t den B i l ‑
dern der Geraden oder des Kreises zu tun, die notwendig in v e r ‑
schiedenen Individuen verschieden und somit schwankend u n d
mehrdeutig sind, sondern m i t den objektiven Beziehungen der
Gedanken, für die jene Bilder n u r als Abkürzungen dienen.5®)
Auf die Aufgabe der allgemeinen Charakteristik fällt von
hier aus neues Licht. Jetzt versteht man es, dass die Charaktere
die Dipge nicht in ihren konkreten Einzelheiten abzubilden und
sich somit nicht in ihre unendliche Mannigfaltigkeit zu verlieren
brauchen und dass sie trotzdem imstande sind, uns ihren ge‑
samten „intelligiblen“ Wahrbeitsgebalt zu versinnlichen. „Cha‑
raktere sind Dinge, durch welche die wechselseitigen Relationen
der Objekte unter einander ausgedrückt werden, deren Behand‑
lung indessen leichter als die der Objekte selbst ist. So entspricht
jeder Operation in den Charakteren irgend eine Aussage in den
Objekten, und w i r können die Behandlung der Gegenstände selbst
oft bis zum Ende des Verfahrens aufschieben. Denn jedes E r ‑
gebnis, zu welchem w i r in den Charakteren gelangen, kann leicht
auf deren Gegenstände übertragen werden, wegen der Ueberein‑
stimmung, die zwischen ihnen von Anfang an festgesetzt worden
i s t . . . Je exakter n u n die Charaktere sind, d. h. je mehr Be‑
ziehungen der Dinge sie z u m Ausdruck bringen, um so grösseren
Nutzen gewähren sie.“@) Die Ansicht, dass die Wahrheit selbst,
weil sie zu ihrer Darstellung irgendwelcher Zeichen bedarf, n u r
ein Gebilde subjektiver Willkür sei und von den Konventionen
der Sprache abhänge, ist damit bereits abgewehrt. N u r das
Die symbolische
Die Erkenninis in der Mathematik.
symbolische Erkenntnis Mathematik. 85
85

Material, in welchem
Material, welchem w wiri r iihr
h r zzumu m sinnlichen Ausdruck verhelfen
sinnlichen Ausdruck verhelfen
wollen, können können wir nach Belieben wählen, während die
w i r nach Belieben wählen, während die Be‑ Be-
ziehungen zwischen
ziehungen zwischen den den IdeenIdeen selbst als solche unabhängig
selbst als unabhängig und und
unveränderlich
unveränderlich feststehen. feststehen. W Wie w i r durch
i e wir durch das MediumMedium der sinn‑ sinn-
Empfindung hindurch
lichen Empfindung
lichen hindurch auf die die konstanten
konstanten Inhalte Inhalte der
mathematischen Definition
mathematischen Definition hinblicken,hinblicken, so so schauen
schauen w wiri r in den den
Zeichen
Zeichen einen objektiv-begrifflichen Sachverhalt
einen objektiv-begrifflichen Sachverhalt an, an, der jeder
iindividuellen ü rr eentrückt
n d i v i d u e l l e n W ii l l k ü ist.)
n t r ü c k t ist.81)
Was
Was dieser dieser Grundgedanke
Grundgedanke ffür ü r die Gestaltung der Mathe-
die Gestaltung Mathe‑
m
matika t i k bedeutet
bedeutet und und leistet,
leistet, das das haben
haben w wiri r insbesondere
insbesondere am am
Beispiel
Beispiel der der Analysis
A n a l y s i s d eerr LLaa g ee verfolgt.
verfolgt. (S.(S. ob.S.
ob. S. 65 ff.) Seine
65ff.) Seine
eigentliche
eigentliche Erfüllung Erfüllung aber aber findet er er erst
erst im Gebiete
Gebiete der Infini‑ Infini-
tesimalrechnung. Hier
tesimalrechnung. sehen wir,
Hier sehen wir, wie das das Differential,
Differential, ohne ohne dem dem
Gebilde, aus
Gebilde, aus dem dem es es abgeleitet
abgeleitet ist, ähnlich und
ist, ähnlich und gleichartig
gleichartig zu zu
sein, es
sein, es doch gesamten begrifflichen
seiner gesamten
doch seiner begrifflichen Bedeutung
Bedeutung nach nach zu zu
repräsentieren
repräsentieren und und allealle Verhältnisse,
Ve r h ä l t n i s s e , die die eszu anderen Grössen
es zu anderen Grössen
eingeht,
eingeht, zum exakten Ausdruck
zum exakten Ausdruck zu zu bringen
bringen vermag.
vermag. Die Die mathe‑
mathe-
matische Fruchtbarkeit der
matische Fruchtbarkeit der neuen Anschauung bekundet sichneuen Anschauung bekundet sich
allem in einer
v o r allem
vor einer Erweiterung
Erweiterung und und Umgestaltung
Umgestaltung des des Massbe‑
Massbe-
griffs. Die
griffs. elementare Geometrie
Die elementare Geometrie kann kann sich
sich ffür ihre Messungen
ü r ihre Messungen
m
miti t irgend
irgend einer gegebenen Einheitsstrecke
einer gegebenen Einheitsstrecke begnügen,begnügen, durch durch
deren wiederholte
deren wiederholte Setzung Setzung sie sie schliesslich
schliesslich das das Gebilde,
Gebilde, das das siesie
misst,
misst, in beliebiger Annäherung zu
beliebiger Annäherung erreichen und
zu erreichen und zu zu erschöpfen
erschöpfen
vermag.
vermag. Mass Mass und Gemessenes sind
und Gemessenes sind einander hier hier völlig ho‑ ho-
mogen;
mogen; sie gehören begrifflich,
sie gehören begrifflich, wie wie sachlich derselben Dimension
sachlich derselben Dimension
a nn.. DieDie moderne Entwicklung der
moderne Entwicklung der Mathematik
Mathematik hatte hatte indessen
indessen
energischer auf
i m m eerr energischer auf Probleme
Probleme hingeführt,hingeführt, vvor o r denen
denen diese diese
anfängliche Begriffsbestimmung
anfängliche Begriffsbestimmung versagte; sie sie hatte
hatte Grössen‑
Grössen-
Mannigfaltigkeiten kennen
Mannigfaltigkeiten kennen gelebrt, gelehrt, die, die, obwohl
obwohl an völlig be‑
sich völlig
an sich be-
s t i m m t und
stimmt und nach einem festen
nach einem festen Gesetz erzeugbar, doch
Gesetz erzeugbar, doch kein kein an‑an-
gebbares quantitatives
gebbares quantitatives VerhältnisVerhältnis zu Linien- oder
den Linien-
zu den oder Winkel‑
Winkel-
grössen aufwiesen, von
grössen aufwiesen, denen die
v o n denen Geometrie
die gewöhnliche Geometrie han‑
gewöhnliche han-
delt. Eines
delt. Eines der der bekanntesten
bekanntesten Probleme Probleme dieser Art stellt stellt diedie Frage
Frage
nach
nach der Grösse des
der Grösse des Contingenzwinkels
Contingenzwinkels d. d. h. nach demjenigen
h. nach demjenigen
Wii n k eell ddar,
W der vvon
a r, der o n der der Kreislinie
Kreislinie und und ihrer Tangente in
ihrer Tangente
einem bestimmten Punkte
einem bestimmten Punkte gebildetgebildet wird. wird. Solange
Solange der Versuch Versuch
gemacht wurde,
gemacht wurde, ein gemeinsames, sinnliches Grössenmass
ein gemeinsames, Grössenmass ffür ür
diesen Winkel
diesen Winkel und und die die geradlinigen
geradlinigen Winkel Winkel zu zu entdecken,
entdecken, so‑ so-
86 ' Leibniz.

lange die beiden Grössengruppen in irgend ein direktes Verhält‑


nis des „Grösser* und „Kleiner gesetzt wurden: solange musste
sich die Aufgabe immer mehr dialektisch verwirren. Die mannig‑
fachsten, sich direkt widerstreitenden Lösungsversuche standen
denn auch zu Leibniz’ Zeiten einander noch unvermiitelt gegen‑
über. Die Entscheidung, die er zwischen ihnen trifft, entspricht
seinem allgemeinen Grundgedanken. Die geradlinigen Winkel
und die Contingenzwinkel stehen untereinander in keinerlei mess‑
barer Beziehung, da sie völlig verschiedenen begrifflichen Gat‑
tungen angehören. Dagegen bilden die Contingenzwinkel unter
sich ein geschlossenes System, dessen einzelne Elemente sich in
eine feste und eindeutige Ordnung bringen lassen. Denn die
„Grösse“ jedes dieser Winkel hängt v o n der K r ü m m u n g des
Kreises ab, welch letztere wiederum durch die Länge des Radius
bestimmt wird. Somit bilden die Längen der Radien das Mass
f ü r das Wachstum oder die Abnahme der Contingenzwinkel:
nicht sofern zwischen den beiden Mannigfaltigkeiten, die hier
m i t einander verglichen werden, irgend eine Uebereinstimmung
in einem dinglichen Merkmal, sondern sofern zwischen ihnen
ein allgemeines Gesetz der Z u o r d n u n g besteht. Das Mass ist
nicht sachlicher, sondern s y m b o l i s c h e r Natur: e sberuht nicht
auf wirklicher Gleichartigkeit, sondern auf einer Regel der
wechselseitigen Entsprechung ungleichartiger Gebilde.)
Auch beim Uebergang z u r Mechanik bleibt dieser Gesichts‑
punkt bestehen. Wenn hier die sinnlichen Qualitäten durch‑
gängig auf Grösse, Gestalt u n d Bewegung zurückgeführt werden,
so bedeutet dies doch nicht, dass sie völlig in ihnen verschwinden
und die spezifische Besonderbeit, die ihnen eignet, einbüssen
sollen. „Man darf sich nicht vorstellen“ ‐ so wendet Leibniz
gegen L o c k e ein ‐ „dass Ideen, wie die der Farbe oder des
Schmerzes schlechthin willkürlich und ohne Beziehung oder na‑
türlichen Zusammenhang m i t ihren Ursachen seien: ist es doch
nicht der Brauch Gottes, m i t so wenig Ordnung und Vernunft
zu handeln. I c h möchte vielmehr sagen, dass hier zwischen U r ‑
sache und Wirkung eine A r t A e h n l i c h k e i t vorhanden ist, die
zwar nicht zwischen den Termini selbst besteht, die aber ex‑
pressiver Art ist und auf einer O r d n u n g s b e z i e h u n g beruht, i n
der Weise, wie eine Ellipse oder Parabel in gewisser Hinsicht
Symbolbegriff und Massbegriff. 87

d e m Zirkel gleicht, dessen ebene Projektion sie ist, weil hier


e i n e exakte und natürliche Beziehung zwischen dem projizierten
Gebilde und seiner Projektion besteht.“#) So sind denn auch die
sogenannten sekundären Qualitäten nicht leerer und wesenloser
Schein, sondern sie drücken eine reale Eigenschaft der Körper
aus, die ihnen indessen nicht absolut, sondern m i t Rücksicht auf
das empfindende Organ zukommt. Die Aufgabe der Physik ist
es daher nicht, das Weltbild der unmittelbaren Anschauung als
blosse Illusion zu erweisen, vielmehr besteht das ganze Geheim‑
n i s der „physischen Analyse“ „ i n dem einzigen Kunstgriff, dass
w i r die verworrenen Qualitäten der Sinne auf die distinkten
Qualitäten, die sie b e g l e i t e n , wie z. B. die Zahl, die Grösse, die
F i g u r, die Bewegung und die Festigkeit zurückführen.“ „Denn
w e n n w i r beobachten, dass gewisse verworrene Qualitäten immer
v o n diesen oder jenen distinkten begleitet sind, und wenn wir
m i t Hilfe dieser letzteren die ganze Natur gewisser Körper be‑
stimmt erklären können, so dass w i r beweisen können, dass ihnen
diese oder jene Figur oder Bewegung zukommen muss, so werden
notwendig auch die verworrenen Qualitäten aus eben dieser
Struktur herfliessen müssen, wenngleich wir sie aus sich selber
nicht vollkommen zu versteben vermögen, da sie für sich allein
keine Definition und somit auch keinen strengen Beweis ver‑
statien. Es muss uns also genügen, alles distinkt Denkbare,
w a s sie begleitet, durch sichere, m i t der Erfahrung überein‑
stimmende Schlussfolgerungen erklären zu können.“#) W i r be‑
haupten somit nicht, dass die sinnlichen Empfindungen m i t den
Bewegungen, von denen sie verursacht sind, sachlich schlechthin
identisch sind: sondern n u r, dass es kein anderes Mittel gibt,
sie völlig zu begreifen und verstandesmässig zu durchdringen,
als indem w i r sie auf rein mathematische Bestimmungen be‑
ziehen. Leibniz’ Physik hat uns den Weg, auf dem dies geschieht,
bereits kennen gelehrt. W i r müssen die verschiedenen Gebiete
sinnlicher Erscheinungen zunächst dadurch vergleichbar machen,
dass w i r sämtliche Unterschiede, die zwischen den Arten des
Wirkens obwalten, auf eine einzige Differenz: auf die Differenz
von Arbeitsgrössen zurückführen. (S. ob. S. 81.) Der konkrete
sinnliche Vorgang m i t all seinen mannigfachen qualitativen Eigen‑
tümlichkeiten muss für die wissenschaftliche Betrachtung in eine
88 Leibniz.

andere Sprache übersetzt werden, indem w i r i h n lediglich als


einen quantitativen Ausgleich und als eine Umsetzung lebendiger
Kraft ansehen. Indem w i r auf diese Weise jedes besondere Ge‑
schehen durch einen festen Zahlenwert repräsentieren, haben
w i r damit wiederum das exakte S y m b o l gefunden, kraft dessen.
es u n s allein völlig erkennbar wird.
Von hier aus aber greift der Gedanke weiter. Die stetige
Entwicklung des Symbolbegriffs hat u n s der konkreten Frage
der Leibnizischen Metaphysik fortschreitend näher gebracht.
Wenn selbst die rationale Erkenntnis der Mathematik und Me‑
chanik n u r ein „Gleichnis* bleibt, wenn sie uns das absolute
„Innere* der Natur nicht unmittelbar enthüllt: so erkennen w i r
die Bedingtheit und Relativität aller bisher erreichten Erkennt‑
nisstufen. Auch die derivativen Kräfte der Physik, die u n s vom
Standpunkt der Wissenschaft als das eigentlich „Reale“ gelten
durften, gehören, wie sich jetzt zeigt, dem Bereich der Erschei‑
nungen an; auch das Erhaltungsgesetz, das die oberste Regel f ü r
alles natürliche Geschehen darstellt, beschränkt sich darauf, eine
sichere gesetzliche Ordnung zwischen den Phänomenen zu
stiften.) Hier aber gilt es vor allem, den B e g r i f f des P h ä ‑
n o m e n s in der genauen und strengen Bedeutung zu fassen, die
er in Leibniz’ System besitzt. Die Frage nach dem Verhältnis
der Phänomene zu den Substanzen, d. h. zu den bewussten
Subjekten, denen sie als Inhalt der Vorstellung gegeben sind,
muss zunächst zurücktreten. So wichtig sie ist und so sehr sich
in i h r das eigentliche Interesse der Leibnizischen M e t a p h y s i k .
konzentriert: so sehr bedarf sie, um ihrem wahren Sinne nach
verstanden zu werden, der logischen Vorbereitung durch ein
anderes Problem. W i e verhält sich ‐ so muss vor allem ge‑
fragt werden ‐ die Welt der „Erscheinung“, wie verhält sich
das wirkliche Sein im Raume und das konkrete Geschehen in
der Zeit zu den universellen u n d „intelligiblen“ Wa h r h e i t e n ?
Sind diese Wahrheiten n u r eine „Abstraktion“, die die Ta t ‑
sachen n u r unvollkommen und in einer willkürlichen Einschrän‑
kung wiedergibt, oder lässt sich zwischen den beiden Gebieten
eine vollkommene und lückenlose Deckung erzielen? Diese
letztere Frage muss indessen in Leibniz’ Sinne eine Umkehrung
erfahren. Die ewigen Wahrheiten gelten an und f ü r sich u n d
D e r Begriff der Erscheinung. 89

gänzlich unabhängig davon, ob für sie in der Welt der Tatsachen


irgend eine direkte Entsprechung gefunden werden kann. Sie
sagen nicht das Mindeste über Existenz aus, sondern formu‑
lieren n u r allgemeine Bedingungssätze, die keine andere als
bypothetische Geltung beanspruchen. Nicht was i s t , lehren
sie, sondern was, unter Veraussetzung bestimmter Existenzen,
notwendig und allgemein giltig aus ihnen f o l g t . Dies gilt in
gleicher Weise für die rationalen Prinzipien, auf denen die Moral,
als f ü r diejenigen, auf denen die Mathematik und Naturwissen‑
schaft beruht. W i e die B e z i e h u n g e n zwischen den Zahlen
w a h r bleiben, gleichviel ob es jemand gibt, der zählt oder ob
Dinge vorhanden sind, die gezählt werden, so wird die Idee des
Guten nicht dadurch hinfällig, dass keine empirische Wirklich‑
k e i t i h r jemals völlig entspricht und gerecht wird.®) So haben
die notwendigen und beweiskräftigen Wissenschaften ‐ wie Logik
u n d Metaphysik, Arithmetik und Geometrie, Dynamik und Be‑
wegungslehre, Ethik und Naturrecht ‐ ihren eigentlichen Rechts‑
g r u n d nicht in Erfahrungen und Tatsachen, sondern dienen viel.
mehr dazu, „von den Tatsachen selber Rechenschaft zu geben
und sie im Voraus zu regeln.“#) Die Doppelstellung, die die
ewigen Wahrheiten im Verhältnis zu den Tatsachen einnehmen,
t r i t t hier deutlich hervor. Sie bedürfen ihrer nicht für die eigene
Evidenz und Gewissheit; aber sie besitzen an ihnen dennoch das
eigentliche Material für ihre Betätigung. So wenig eine e i n z e l n e
Wirklichkeit jemals die idealen Gesetze unmittelbar abzubilden
vermag, s o sehr muss die gesamte O r d n u n g u n d Ve r k n ü p f u n g
d e r E r s c h e i n u n g e n ihnen gemäss sein und auf sie hinweisen.
So bietet uns die Wirklichkeit niemals ein Gebilde dar, dessen
Gestait irgend einer geometrisch definierten Figur in allen Stücken
g l e i c h wäre; dennoch aber müssen w i r die e x a k t e n Definitionen
der Geometrie als oberste begriffliche N o r m festhalten, der,
w i e w i r versichert sein dürfen, kein empirisches Dasein jemals
widersprechen kann. In dem Maasse, als sie die Bedingungen
dieser Norm erfüllt, hat die „Erscheinung“selbst am „Intelligiblen“
Te i l . „Wenngleich in der Natur niemals vollkommen gleichförmige
Veränderungen vorkommen, wie sie die Idee, die die Mathematik
u n s v o n der Bewegung gibt, erfordert, so wenig wie jemals eine
w i r k l i c h existierende Figur in aller Strenge die Eigenschaften
90 Leibniz.

besitzt, die die Geometrie uns l e h r t . . . ., so sind doch nich


destoweniger die tatsächlichen Phänomene der Natur derart ;
regelt und müssen es in der Weise sein, dass kein wirklich
Vorgang jemals das Gesetz der Kontinuität... und alle die ander
exaktesten Regeln der Mathematik verletzt. Ja es g i b t kein
andern Weg, die Dinge verstandesmässig darzustellen, als v
möge dieser Regeln, die ‐ im Verein m i t denen der Harmoı
oder der Vollkommenbeit, die die wahrhafte Metaphysik u
liefert ‐ allein imstande sind, uns einen Einblick in d i e Grün
und Absichten des Urhebers der Dinge zu verschaffen.“es)
Alle skeptischen Einwände gegen die Realität d e Ir
scheinungswelt sind damit endgültig abgewehrt. Was die Skep:
m i t Recht bestreitet, das ist die Existenz jenseitiger Origina
die „hinter* den Phänomenen, aber diesen irgendwie vergleichb
und ähnlich, bestehen sollen. Die eigentliche erkenntnistbe
retische Frage aber betrifft, wie w i r nunmehr gesehen hab:
nicht die Uebereinstimmung der Erscheinungen m i t absolut
Dingen, sondern mit den ewigen, idealen Ordnungen. DieE
scheinungswelt ist genau insoweit real, als sie eine systematisc
Einheit darstellt, die den allgemeinen Vernunftregeln gehorel
Eine andere Art des Seins von ihr verlangen, heisst ihren Begr
verkennen und verfälschen. Nicht ibre metaphysische Wirl
l i c h k e i t ausserhalb jeglichen Bewusstseins, sondern lediglic
ihre logische Wa h r h e i t ist es, wonach m i t Recht gefragt werd
kann. Die Wahrheit der Sinnendinge aber erweist sich in ihr
Ve r k n ü p f u n g , die durch die reinen intellektuellen Prinzipie
und d u r :cdie h Konstanz der Beobachtungen gesichert wird‘
W i l l m a n diese ganze, in sich geschlossene und geregelte Wirl
lichkeit n u r einen Traum nennen, so läuft dies zuletzt auf e
blosses Spiel m i t Worten hinaus. Denn wie wenig oder wieri
absolute Realität m a n i h r auch zugestehen mag: der innere Z1
s a m m e n h a n g , der zwischen ihren einzelnen Gliedern bestel
und der alles ist, was w i r für die Zwecke unserer Erfahrung :
kennen brauchen, wird dadurch nicht berührt.‘0)
In voller Schärfe tritt dieser Gedanke dort hervor, W
Leibniz an die Frage nach dem wahren astronomischen Welt
system herantritt. Da alle Bewegung ihrer Natur nach etw
rein Relatives ist, so lässt sich jede wechselseitige Verschiebun,
Die Erscheinung und die „ewigen Wahrheiten“. 91

wischen Körpern je nach dem Bezugspunkt, den w i r wählen,


urch verschiedenartige Hypothesen, die sämtlich untereinander
q u i v a l e n t sind, z u m Ausdruck bringen. Keine dieser Hypo‑
ıesen besitzt den Vorzug, die a b s o l u t e Ordnung und Verfassung
er Körperwelt allein u n d ausschliesslich wiederzugeben. „ Wa h r “
eisst u n s vielmehr diejenige Annahme, die der Gesamtheit aller
rscheinungen gerecht w i r d und die sie auf die einfachste Weise
ı erklären gestattet. Das Mass der objektiven Gültigkeit eines
estimmten astronomischen Systems liegt daher einzig in seiner
Verständlichkeit“, d. h. in seiner Fähigkeit, eine möglichst
rosse Zahl v o n Beobachtungen aus einer möglichst geringen
ahl v o n Voraussetzungen begreiflich zu machen. Hält m a n
ieses Kriterium fest, so ergibt sich auf der einen Seite der ent‑
:hiedene Vorzug des Copernikanischen Weltbildes, wie sich
ndererseits zeigt, dass dieser Vorzug zuletzt lediglich ein
>gischer und methodischer ist und nichts anderes zu sein
eanspruchen darf. „Der Unterschied zwischen denen, die das
opernikanische System als eine klarere und unserem Verständ‑
is angemessenere Hypothese ansehen und denen, die es als
Vahrheit verfechten, fällt daher ganz weg; da es in der Natur
er Sache liegt, dass hier beides identisch ist und m a n eine
rössere Wahrheit, als diese nicht verlangen kann.“?!) Wissen‑
:haftliche Annahmen sind ‐ wie w i r jetzt wiederum v o n einer
euen Seite her erkennen ‐ niemals eine einfache K o p i e der
Virklichkeit, sondern sie sind Versuche, das Material der Be‑
bachtung derart zu bearbeiten, dass in i h m die grösste Einheit
ei der grössten Mannigfaltigkeit hervortritt. In diesem Sinne
at Leibniz schon v o n seinem physikalischen Erstlingswerk: v e n
er „Hypothesis physica n o v a “ her, die Aufgabe der Forschung be‑
timmt.2) An dieser Einsicht findet die Skepsis ihre Schranke.
Vas Wahrheit, was „Sein“ bedeutet: darüber geben die S i n n e
'eilich keine erschöpfende Auskunft. „Denn es wäre keineswegs
nmöglich, dass ein Geschöpf lange und geregelte Träume hätte,
ie u n s e r m Leben glichen, sodass alles das, was es vermiltels
er Sinne wahrzunehmen glaubte, nichts als blosser Schein wäre.
s muss also etwas über den Sinnen Stehendes geben, das Wa h r ‑
eit u n d Schein unterscheidet. Die Wahrheit der streng demon‑
trativen Wissenschaften aber unterliegt diesen Zweifeln nicht:
92 Leibniz.

ist sie es doch vielmehr, die über die Wahrheit der Sinnendinge
zu entscheiden hat.“”%) Denn es bedarf ‐ wie Leibniz insbe‑
sondere gegen F o u c h e r, den Erneuerer der akademischen Skep‑
sis im 17ten Jahrhundert, hervorhebt ‐ auch zwischen der Welt
der Wabrheiten und der der Wirklichkeiten keiner materiellen,
sondern lediglich einer funktionellen „Entsprechung“.‘) Das
Ideale findet im konkreten Dasein kein unmittelbares Gegenbild;
dennoch ist das Wirkliche derart geordnet, a l s ob die rein
idealen Normen vollkommene ‘Realitäten wären. (Vgl. ob. S. 73.)
M i t alledem ist indessen n u r e i n e Seite des Leibnizischen
Begriffs des Pbänomens bestimmt und somit n u r eine Teilan‑
sicht des Systems gewonnen. Wenn die Gesamtheit der Erschei‑
nungen m i t den ewigen Wahrheiten der Mathematik und Dyna‑
mik „harmonieren*“ muss, so geht sie doch andererseits in ihnen
niemals völlig auf. Und in diesem zweiten Zuge erst vollendet
sich der Leibnizische Begriff der „Tatsachenwahrheit“. Zwischen
dem Gebiet der Tatsachen und dem der reinen rationalen Prin‑
zipien besteht, bei aller Uebereinstimmung der Grundstruktur,
doch nicht minder eine dauernde Spannung und ein Abstand,
der auf keiner Stufe wissenschaftlicher Erkenntnis jemals völlig
aufgehoben werden kann. Das Finzelne stelit die Vernunfter‑
kenntnis v o r eine unvollendbare Aufgabe; wir können es fort‑
schreitend immer mehr m i t den allgemeinen wissenschaftlichen
Grundsätzen durchdringen, ohne es doch jemals gänzlich in sie
aufzuheben. Wieder beruft sich Leibniz, um dieses Doppelver‑
hältnis zu verdeutlichen, auf die Grundgedanken seiner neuen
Analysis. „Erst die geometrische Erkenntnis und die Analysis
des Unendlichen ‐ so heisst es in einer Abhandlung über d i e
Unterscheidung der notwendigen und der zufälligen Wahrheiten
‐ haben m i r Licht verschafft und mich erkennen lassen, dass
a u c h d i e B e g r i f f e i n s U n e n d l i c h e auflösbar s i n d . “ 5 ) U m
irgend ein Urteil als w a h r zu erweisen, gibt es ‐ nach der a l l ‑
gemeinen Grundanschauung, v o n der w i r ausgegangen waren ‑
n u r einen Weg: w i r müssen den Nachweis führen, dass das Prä‑
dikat im Subjekt eingeschlossen und somit m i t i h m in irgend‑
welchen Bestimmungen i d e n t i s c h ist. (S. ob. S. 52ff.) Der Be‑
weis hierfür aber kann entweder nach einer endlichen Reihe
v o n Denkschritten erbracht und abgeschlossen sein, sodass d i e
D e r Begriff der Tatsachenwahrheit. 98

gemeinsamen Merkmale sich nunmehr deutlich bezeichnen und


gesondert herausheben lassen, oder aber er erfordert eine immer
weitergehende Zergliederung des Inhalts der beiden Begriffe. Als
typisches Beispiel f ü r diesen Unterschied gilt Leibniz der Gegen‑
satz der Rational- und Irrationalzahlen. Während wir zwei ratio‑
nale Zahlen schliesslich immer auf eine gemeinsame Grundeinheit
zurückführen und dadurch i h r beiderseitiges Ve r h ä l t n i s exakt
z u m Ausdruck bringen können, erweist sich das Irrationale
gegenüber diesem Verfahren als „inkommensurabel*. Zwar dürfen
und müssen w i r versuchen, den irrationalen Wert zwischen
immer engere Grenzen einzuschliessen und i h m somit wenigstens
annäherungsweise seine „Stelle“ innerhalb des Systems der zu‑
nächst allein gegebenen, rationalen Zahlen anzuweisen. Aber w i r
begreifen zugleich, dass dieser Versuch niemals zu einem endgülti‑
gen Abschluss führen kann und seben ein, dass es nicht n u r das
zufällige Unvermögen unseres Intellekis, sondern die N a t u r der
Aufgabe selbst ist, die einen derartigen Abschluss verbietet.’$)
Im gleichen Sinne muss auch das einzelne zufällige „Faktum*
der immer weitergehenden Bestimmung durch die rationalen
Wahrheiten zugänglich sein und dieser Bestimmung nirgends
p r i n z i p iHalt
e l l gebieten, ohne doch darum den Charakter des
„Unerschöpflichen“ jemals zu verlieren. Das Kriterium f ü r die
allgemeine Geltung einer Wahrheit ist daher zu verändern:
damit ein Satz wahr ist, ist es nicht erforderlich, dass das Prä‑
dikat im Subjekt tatsächlich und ohne Rest aufgeht, sondern dass
eine a l l g e m e i n e Regel des F o r t s c h r i t t s ersichtlich ist, aus
der w i r m i t Sicherheit entnehmen können, dass der Unterschied
zwischen beiden mehr und mehr verringert werden und schliess‑
l i c h unter jede noch so kleine Grösse sinken k a n n . ) So w i r d
das Verhältnis zwischen I d e e und E r s c h e i n u n g zuleizt i m rein
Platonischen Sinne bestimmt: die Phänomene „streben“ danach,
die reinen Ideen zu erreichen, aber sie bleiben nichtsdestoweniger
beständig hinter ihnen zurück. Diese Mittelstellung zwischen
Erfüllung und Mangel, zwischen Wissen und Nicht-Wissen ist
es, auf welcher alle Möglichkeit und aller Antrieb der Forschung
beruht.
94 Leibniz.

I V.
In der Einsicht, dass das E i n z e l n e eine Unendlichkeit be‑
grifflicher Teilbedingungen in sich schliesst und somit für unsere
Erkenntnis, die sich diese Bedingungen n u r im successiven Fort‑
schritt von einem Moment z u m anderen zu verdeutlichen vermag,
zuletzt unausschöpfbar bleibt, ist der höchste Punkt der r e i n
logischen Analyse erreicht. Die „Scientia generalis* findet in dem
unbeschränkten Feld ihrer Tätigkeit, das sich i h r jetzt darbietet,
zugleich ihre natürliche Grenze. Und w i r sahen bereits, dass
Leibniz sich dieser Grenze in den ersten Schriften, in denen er
den allgemeinen Entwurf der Universalwissenschaft begründet,
deutlich bewusst geblieben ist. Die unendliche Mannigfaltigkeit
der Dinge auf ihren letzten metaphysischen Wesensgrund zurück‑
zuführen und sie aus den absoluten Attributen Gottes zu deduzieren
ist uns ‐ wie er bier hervorhebt ‐ versagt: wir müssen uns
m i t der Analyse der Ideen begnügen, die w i r soweit zu treiben
haben, als es zum Beweis der Wahrheiten erforderlich ist und
die in obersten Prinzipien, die wir hypothetisch zugrunde
legen, ihren Abschluss findet. (Vgl. ob. S. 50.)
Und dennoch drängt der allgemeine Grundgedanke des
meiaphysischen Rationalismus über diese methodische Be‑
schränkung immer von neuem hinaus. Was für u n s e r e E r ‑
kenntnis gültig und bindend ist: das erscheint immer wieder als
eine bloss subjektive Schranke, an die der u n e n d l i c h e V e r ‑
stand Gottes nicht gebunden ist. Die Totalität der Bedingungen,
die w i r n u r Glied für Glied zu verfolgen vermögen, vermag der
ewige Intellekt Gottes in einem einzigen Blicke zu überschauen.
F ü r i h n ist die Auflösung aller empirischen Wahrheiten in
apriorische, die das Ziel unserer Forschung ausmacht, vollendet.
Die notwendige Verknüpfung zwischen dem Subjekt und Prädikat
eines Urteils, das sich auf eine individuelle Tatsache, auf ein
„Hier“ und „Jetzt“ bezieht: diese Verknüpfung, die durch keinen
abstrakten B e w e i s festzustellen ist, wird v o n i h m in unfehlbarer
Intuition (infallibili visione) erkannt.®) Die Verfassung des Uni‑
versums aber ist aus dieser Intuition hervorgegangen und w i r d
durch sie bestimmt. Was in i h r gesetzt, was durch sie implizit
mitgegeben ist, das ist zugleich ein objektives Gesefz der Dinge.
Das Postulat des „absoluten Verstandes“. 95

Wir haben kein Recht, die zufälligen Bedingungen unserer


menschlichen Einsicht den Gegenständen als Norm vorzuschrei‑
ben; wohl aber muss, was aus dem Begriff der höchsten, in sich
v o l l k o m m e n e n Erkenntnis folgt, f ü r das A l l der Realität vor‑
bildlich und zwingend sein. ‑
W i r sahen, wie bei Spinoza, so nahe er dieser all‑
gemeinen Grundanschauung steht, die Forderung, d i e e m ‑
p i r i s c h e F o l g e d e s E i n z e l n e n aus i h r abzuleiten, aus‑
drücklich abgewiesen wurde. Was w i r wahrhaft zu begreifen
vermögen, sind n u r die „festen und ewigen Dinge“: die Reihe der
veränderlichen Einzelobjekte zu verfolgen, scheint i h m dagegen
eine Bemühung, die ebenso unerfüllbar wie ‐ unnötig ist, da
sie unsere Kenntnis vom innersten Grunde der Dinge nicht ver‑
mehren würde. Die Erscheinungen begreifen heisst sie in die
abstrakten Ordnungen der Geometrie und Mechanik aufheben,
in die sie, all ihrer modalen Besonderungen ungeachtet, n u r als
Beispiele universeller gesetzlicher Zusammenhänge eingehen.
ıS. ob. S. 18f f ) Damit aber sind ‐ wie Leibniz erkennt ‐ die
Aufgaben, die die empirische Forschung uns stellt, nicht so‑
wohl bewältigt, als vielmehr bei Seite geschoben. Behält Spinoza
recht, so bliebe zuletzt immer eine unabsehbare Mannigfaltigkeit
von Einzelkenntnissen übrig, die w i r lediglich hinzunehmen hätten,
ohne sie jemals im strengen rationalen Sinne begründen zu können.
Es ist nicht genug, zu wissen, dass ein allgemeiner B e g r i l f A
e i n „Merkmal“ B f ü r alle Zeiten in sich schliesst, sondern w i r
müssen die Notwendigkeit einsehen, gemäss welcher an einem
bestimmten, n u r einmal vorhandenen „ S u b j e k t “ diese oder jene
Eigentümlichkeit sich findet, und müssen weiterhin begreifen,
w a r u m sie z u diesem b e s t i m m t e n Z e i t p u n k t , nicht früher oder
später, an i h m hervortritt.”) Nichts kann an einem Subjekt ge‑
schehen, was nicht a u s i b m quillt und bedingt ist. Jede Ver‑
änderung, die in i h m vorgeht, ist durch die Natur, die i h m eignet,
v o n vornherein logisch „präformiert“: ja, diese Natur bedeutet
nichts anderes, als die eindeutige Gesetzlichkeit in der Abfolge
d e r Veränderungen.
Betrachten w i r zunächst die Folgen, die dieser Gedanke für
die Gestaltung unseres phänomenalen Weltbildes besitzt, so er‑
kennen w i r, dass w i r m i t i h m den Umkreis der abstrakten M e ‑
96 Leibnis.

c h a n i k verlassen haben und auf das Gebiet der o r g a n i s c h e n


N a t u r b e t r a c h t u n g übergetreten sind. Indem w i r ein be‑
stimmies Subjekt als den selbsttätigen Quell a l l seiner inneren
Wandlungen denken, verleihen w i r i h m damit den Charakter
und die spezifische Eigenart eines Organismus. Nichts, was sich
an i h m vorfindet, gilt uns jetzt mehr als der blosse Eindruck
eines äusseren Geschehens, sondern es erscheint als die Aus‑
prägung einer inneren Tendenz zu bestimmten Veränderungs‑
und Entwickelungsreihen. Der allgemeine logische Gedanke
nimmt hier eine b i o l o g i s c h e Fassung und Wendung an.®) Das
Subjekt bildet nicht mehr einen blossen ruhenden Inbegriff von
Bedingungen, sondern es ist eine a k t i v e Einheit, die sich in einer
Fülle successiver Gestaltungen zu entfalten strebt. Die „derivative“
Kraft, wie die Mechanik sie denkt, bezeichnete einen E i n z e l ‑
zustand des Geschehens, sofern er zu anderen strebt oder andere
im Voraus involviert. (S. ob. S. 78.) Gehen wir jelzt über jede
derartige Besonderung heraus, fassen w i r nicht mehr ein ein‑
zelnes, zeitlich begrenztes Sein, sondern die Gesamtheit einer Ent‑
wickelungsreihe ins Auge und die Regel, nach der in i h r der
Uebergang von Glied zu Glied erfolgt, so entsteht uns damit der
Begriff der p r i m i t i v e n Kraft. Diese Regel ist u n i v e r s e l l ,
sofern sie gegenüber den wechselnden momentanen Zuständlich‑
keiten immer ein und dieselbe bleibt; aber sie ist zugleich im
strengsten Sinne individuell, da sie sich nicht in mehreren
gleichartigen Exemplaren darstellt und verwirklicht, sondern das
eigentümliche Gesetz e i n e r konkreten Reihe darstellt. „Alle E i n ‑
zeldinge sind successiv oder dem Wandel unterworfen, dauernd
ist in ihnen nichts als das Gesetz selbst, das eine beständige Ver‑
änderung in sich schliesst, und das in den einzelnen Substanzen
m i t dem Gesamtgesetz, das im ganzen Universum herrscht, über‑
einstimmt.“2!) So ergibt sich. eine unendliche Mannigfaltigkeit
v o n Veränderungsreihen, die sämtlich ohne direkte physische
Einwirkung auf einander verlaufen und deren beherrschende
Regeln dennoch nicht beziehungslos nebeneinander stehen,
sondern nach einem allgemeinen i d e a l e n P l a n e zusammen‑
höngen. Die verschiedenen „Subjekte“ entfalten völlig unab‑
hängig von einander den Inhalt ihrer Vorstellungen; aber alie
diese subjektiven „Bilder“ machen dennoch n u r ein einziges
Die Monadologie. 97

Universum der Erscheinungen aus, da zwischen ihnen allen eine


konstante O r d n u n g und Entsprechung besteht.
Der allgemeine Grundriss des Systems der Monadologie ist
damit entworfen. Und von neuem tritt nunmehr hervor, dass es
Leibniz’ Begrifi der E r k e n n t n i s ist, der hier noch einmal eine
charakteristische Ausprägung erfahren hat. Man hat gegen Leibniz’
Lehre eingewandt, dass sie, indem sie alle Realität in die Tätig‑
k e i t des Vorstelleus auflöse, damit alle unabhängige M a t e r i e
der Vorstellung vernichte. Ist ‐ so hat man gefolgert ‐ der
ganze Bestand des Alls nichts anderes als eine endlose Fülle vor‑
stellender Wesen, so hat schliesslich die Wirklichkeit keinen
anderen Inhalt als ein Vorstellen des Vorstellens, so droht sie
sich schliesslich in lauter leere Formen zu verflüchtigen.
Dieser Einwand verkennt den Leibniz’schen S e i n s b e g r i ff , weil
e r den Wa h r h e i t s b e g r i f f verkennt, den Leibniz z u Grunde
legt. Das Kriterium für die Wahrheit einer Idee ‐ davon war
ausgegangen worden ‐ kann nicht darin gesucht werden, dass
sie irgend einem äusseren Gegenstande nachgeahmt ist. Wie
vielmehr die abstrakte Wahrheit der notwendigen Wissenschaften
auf einer bestimmten „Proportion“ oder „Relation“ der Ideen
selbst beruht, so berubt auch die empirische Wahrheit einer
einzelnen Erscheinung einzig auf ihrer h a r m o n i s c h e n Z u ‑
s a m m e n s t i m m u n g m i t den reinen Vernunftregein und der Ge‑
samtheit aller übrigen Beobachtungen. Der gleiche Gesichtspunkt,
der hier f ü r die Phänomene durchgeführt ist, beweist nunmehr
seine Geltung in einer neuen Sphäre. Auch die metaphysische
„Realität“ der Erkenntnis besteht nicht darin, dass die verschie‑
denen vorstellenden Subjekte ein gemeinschaftliches äusseres
O b j e k t besitzen, sondern dass sie in ihrer reinen Funktion,
in der Kraft der Vorstellungserzeugung, auf einander abgestimmt
sind und m i t einander in Zusammenhang stehen. ‑
W i r können den Aufbau der Leibnizischen M e t a p h y s i k
h i e r nicht weiter verfolgen; n u r insoweit gehörte sie in den
Kreis unserer Betrachtung, als sich in i h r die allgemeinen Züge
des Leibnizischen Ideals des Wissens widerspiegeln. Blicken w i r
jetzt a u f die Gesamtentwicklung zurück, die Leibniz’ philosophische
und wissenschafiliche Forschung genommen, so erscheint nun‑
mehr auch der Grundbegriff der H a r m o n i e in einem neuen
98 Leibniz.

. Lichte. Das einzelne empirische Subjekt findet sich, sobald es


auf sich selber und den Inhalt seiner Vorstellungen zu reflektieren
beginnt, zunächst scheinbar einer wirren und beziehungslosen
Vielheit v o n Eindrücken gegenüber. Indem es diese Mannig‑
faltigkeit fortschreitend ordnet, indem es v o n der Welt der sinn‑
lichen Empfindung zur Welt der distinkten Begriffe des Raumes,
der Z e i t und der Z a h l aufsteigt, um sich weiterhin zur An‑
schauung der lebendigen zwecktätigen Substanzen zu erheben,
erwirbt es damit keinen völlig fremden S t o f f von aussen hinzu,
sondern gewinnt n u r immer reichere und adäquatere F o r m e n
f ü r die erkenntnismässige Gestaltung und Deutung seines Bewusst‑
seinsinbalts. Erst in diesem Akt der fortgesetzten gedanklichen
Vereinheitlichung wird die Wahrheit des Seins erreicht: denn
diese besteht in nichts anderem, als in dem durchgängigen E i n ‑
k l a n g dieser mannigfachen Gesichtspunkte der Betrachtung.
Keiner dieser Gesichtspunkte ist entbehrlich; aber keiner besitzt
auch ein alleiniges und ausschliessliches Recht. Jede Phase, die
erreicht wird, besitzi ihre eigentümliche r e l a t i v e Bedeutung,
aber sie weist zugleich auf eine andere hin, die sich über sie
erhebt und sie ablöst. Nur in diesem Stufengang von Be‑
trachtungsweisen erschliesst sich uns der Gesamtinhalt der Wirk‑
lichkeit. So ist schon der Inhalt, den die Sinneswahrnehmung
uns darbietet, kein leerer wesenloser Schein, wenngleich er, um
der exakten wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich zu werden,
i n reine G r ö s s e n v e r h ä l t n i s s e aufgelöst werden muss. (S. ob.
S. 86f.) So bildet weiterbin das Reich der G r ö s s e n n u r die Vo r ‑
bereitung für das Reich der Kräfte, in dem w i r die innere Ver‑
fassung des Alls von einem neuen Standpunkt aus erfassen. U n d
innerhalb dieses Kräftereiches selbst deuten wiederum die „nie‑
deren“ Substanzen, die n u r der Ausdruck für die Einheit eines
natürlichen Lebensprozesses sind, auf die höheren hin, in
denen sich zugleich die bewusste Einheit einer moralischen
„ P e r s ö n l i c h k e i t “ offenbart. W i e alle diese intellektuellen Auf‑
fassungsweisen ineinandergreifen und sich übereinander auf‑
bauen, gewinnt das S e i n für u n s immer reicheren Gehalt. Die
echte Wirklichkeit kann nicht auf einmal ergriffen und abge‑
bildet werden, sondern w i r können u n s i h r n u r in immer voll‑
kommeneren S y m b o l e n beständig annähern. Noch einmal t r i t t
Die Harmonie als ideelle Einheit. 9

somit die zentrale Bedeutung dieses Begriffs für das Ganze der
Leibnizischen Lehre deutlich heraus. Der Wert, den der Gedanke
der allgemeinen Charakteristik für das System besitzen muss, be- '
stimmt sich nunmehr genauer. Es ist.kein Zufall, der uns dazu
drängt, die Verhältnisse der Begriffe durch Verhältnisse der
„Zeichen“ zu ersetzen; sind doch die Begriffe selbst ihrem Wesen
nach nichts anderes als mehr oder minder vollkommene Zeichen,
krait deren w i r in die Struktur des Universums Einblick zu ge‑
winnen suchen. ‑
Dass damit ein eigentümlicher und spezifisch moderner Ge‑
danke erreicht ist: dies wird sogleich ersichtlich, wenn m a n
Leibniz an diesem Punkte m i t seinen rationalistischen Vorgängern,
m i t D e s c a r t e s und Spinoza, vergleicht. F ü r Descartes w a r die
A u s d e h n u n g m i t der ersten Ausbildung seiner Metaphysik zur
unabhängigen, für sich bestehenden Substanz geworden; für
Spinoza bedeutet sie ein göttliches Attribut, das dem Attribut des
Denkens gleichgestellt und nebengeordnet ist. F ü r Leibniz da‑
gegen sind Raum und Z e i t nichts anderes als ideelle O r d n u n ‑
gen der Erscheinungen, sie sind somit keine absoluten Realitäten,
sondern lösen sich in die „Wahrheit von Beziehungen“ auf.®)
„ R a u m und Zeit, Ausdehnung und Bewegung, sind ‐ wie
es in einem bezeichnenden Worte heisst ‐ nicht D i n g e , sondern
W e i s e n der B e t r a c h t u n g “ (modi considerandi).) So sehr
gilt die Rückführung der Phänomene auf mechanische Vorgänge
als ein blosses Mittel der Methode, dass dieser schroff subjek‑
tive Ausdruck gewagt werden kann. Die G ü l t i g k e i t der mathe‑
matischen Grundbegriffe w i r d dadurch nicht angetastet; wissen
w i r doch, dass sie, wenngleich sie uns kein unbedingtes Dasein
erschliessen, doch an i h r e m O r t e innerhalb des Systems darum
nicht minder n o t w e n d i g sind. Die Begriffe selbst sind „real“
und haben ein objektives F u n d a m e n t , wenngleich sie nicht
auf irgendwelche transscendenten Gegenstände gehen. In diesem
Zusammenhange zeigt sich erst ganz, dass die „Versöhnung“, die
Leibniz zwischen Metaphysik und Mathematik, zwischen teleolo‑
gischer und kausaler Auffassung anstrebt, nicht auf einer eklek‑
tischen M i s c h u n g des Inhalts beider Gebiete beruht. Nicht die
Ergebnisse sollen einander äusserlich angepasst, sondern ein und
derselbe reale Zusammenhang soll unter verschiedene Gesichts‑
7
100 Leibniz.

punkte der B e u r t e i l u n g gestellt werden. Die Zwecke werden


nicht einzeln als wirkende Kräfte in das ursächliche Geschehen
hineingelegt, sondern die Gesamtheit dieses Geschehens wird,
ohne dass seine immanenten Regeln gestört würden, als Sinnbild
eines höheren geistigen Zusammenhangs gedeutet.
Selbst an diesem Punkte, an dem Leibniz sich der Aristo‑
telischen Weltansicht wieder unmittelbar zu nähern scheint, be‑
hauptet er daher den originalen Grundgedanken, durch den er
sich von der Scholastik unterscheidet. So nahe er in seinem
Begriffe der „Entelechie“ der organischen Naturauffassung des
Aristoteles kommt, so r u h t sie f ü r i h n dennoch auf einem ver‑
änderten logischen Fundament und weist einen völlig neuen
Typus der B e g r ü n d u n g auf. Leibniz geht von dem F u n k ‑
t i o n s b e g r i ff der neuen Mathematik aus, den e r als Erster i n
seiner vollen Allgemeinheit fasst und den er schon in der ersten
Konzeption von aller Einschränkung auf das Gebiet der Z a h l
und der G r ö s s e befreit. Mit diesem neuen Instrument der E r ‑
kenntnis ausgerüstet, tritt er an die Grundfragen der Philosophie
heran. Und n u n erweist es sich, dass es kein starres und 1otes
Werkzeug ist, das er ergriffen hat; sondern je weiter er fort‑
schreitet, um so mehr gewinnt es an innerem Gehalt und Reich‑
i u m . Der abstrakte mathematische Begriff der F u n k t i o n weitet
sich zum H a r m o n i e b e g r i f f der Ethik und Metaphysik. Was
zuvor als ein unversöhnlicher Gegensatz z u r mathematisch‑
naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise erschien, das erscheint
jetzt als ihre Ergänzung und i h r ideeller Abschluss. Die über‑
lieferte Metaphysik der „substantiellen Formen“ erfährt indessen
hier n u r eine scheinbare Erneuerung. Denn trotz aller Zu‑
stimmung zu dem I n h a l t einzelner ihrer Hauptsätze: der E r ‑
k e n n t n i s b e g r i auf
f f , dem sie ruht, ist endgültig überwunden.
Die „oberflächliche“ Ansicht, dass die „Formen“ der Dinge es
sind, die in den Geist eindringen und in i h m die Erkenntnis
der Objekte erzeugen, w i r d von Leibniz in allen Phasen seines
Denkens gleich rückhaltlos verworfen. Hier zum mindesiten
kennt er keine Möglichkeit der Vermittlung und Versöhnung.
Leibniz selbst bezeichnet sein System m i t Vorliebe als das
‚System der Harmonie“. Die Harmonie aber bedeutet ihrem
Grundsinne nach nicht lediglich das Verhältnis, das zwischen
Funktionsbegriff und Harmoniebegriff. 101

Leib und Seele, noch auch die Uebereinstimmung, die zwischen


den verschiedenen individuellen Substanzen und der Folge ihrer
Vorstellungen besteht; sie geht vielmehr ursprünglich auf den
Einklang zwischen den verschiedenartigen und wechselweise ein‑
ander bedingenden ideellen Betrachtungsweisen, aus denen sich
das Sein darstellen und deuten lässt. Auch Leibniz’ Gottes‑
begriff mündet in seiner Vollendung in diesen Gedanken ein:
bedeutet doch die Idee Gottes f ü r Leibniz zuletzt nichts anderes,
als den „Vernunftglauben“ an eine innere Uebereinstimmung
zwischen dem „Reich der Natur“ und dem „Reich der Zwecke.“®4)
D i e Gleichung „Harmonia universalis, id est Deus“ bildet, lange
bevor die eigentliche Monadologie konzipiert ist, einen Ausgangs‑
punkt von Leibniz’ M e t a p h y s:8)
i k sie bleibt zugleich der Ziel‑
punkt, auf den die mannigfachen Richtungen der Forschung ge‑
meinsam hinweisen und zustreben.
Drittes Kapitel.

Tschirnhaus.
Das Bild der Gesamtentwicklung des Rationalismus bliebe
unvollständig, wenn w i r einen Denker ausser Acht liessen, der ‑
so wenig bleibend und nachhaltig der Eindruck seiner Lehre w a r
‐ doch die geschichtlichen Hauptströmungen, die sich im sieb‑
zehrten Jahrhundert gegenüberstanden, am deutlichsten in sich
vereint. Die Methodenlebre, die Ebrenfried Walter v. Ts c h i r n ‑
haus in seiner „Medicina mentis“ niedergelegt hat, zeigt keine
völlig neuen und originalen Züge. Sie ist in ihrem Grund‑
“ gedanken, wie in ihrem gesamten Aufbau von Spinozas „Trac‑
tatus de intellectus emendatione*“ abhängig, und sie geht n u r darin
über ihn hinaus, dass sie die T h e o r i e des Erfahrungswissens,
deren Ausführung Spinoza gefordert und versprochen, die er i n ‑
dessen selber nicht mehr geleistet hatte, weiterzuführen und im
Einzelnen zu begründen sucht. Wichtiger als die eigenen posi‑
tiven Leistungen Tschirnhausens indessen ist die Rolle der ge‑
schichtlichen Vermittlung, die i h m zufiel. Er zuerst ist es, d e r
Leibniz, gerade in der Epoche seiner ersten jugendlichen E m ‑
pfänglichkeit, m i t den Grundgedanken von Spinozas Prinzipien‑
lehre bekannt macht und der damit die Entwicklung seiner Phi‑
losophie im positiven, wie im negativen Sinne bestimmt. Die
Weiterbildung, die insbesondere Hobbes’ und Spinozas Lehre v o n
der g e n e t i s c h e n D e fi n i t i o n bei Leibniz gefunden hat, die
ununterbrochene Stetigkeit der Gedankenentwicklung, die h i e r
obwaltet, findet ihre historische Erklärung in der gemeinsamen
Arbeit, die Leibniz und Tschirnhaus, wie aus ihrem Briefwechsel
ersichtlich ist, in der Zeit ihres Pariser Aufenthalts diesem Te i l
der allgemeinen Methodenlehre gewidmet haben.
Die Grundiegung der Methodenlehre. 103

Aber eben diese Gemeinsamkeit der Aufgaben beleuchtet


zugleich die spezifischen Unterschiede in der Forschungsart der
beiden Denker. Wenn Leihniz überall durch den Gedanken der
U n i v e r s a l w i s s e n s c h a f t geleitet wird, wenn e r daher über die
Algebra hinaus zu einer allgemeinen „Wissenschaft der Formen“
fortstrebt, so ist es ein engeres Gebiet, das sich Tschirnhaus v o n
Anfang an absteckt. Der Gegensatz, der hier besteht, ist nament‑
l i c h in den späteren Phasen der Korrespondenz zum schärfsten
Ausdruck gelangt. Immer von neuem betont Tschirnhaus hier,
dass es ein vergebliches Bemühen sei, die abstrakten algebrai‑
schen Methoden, statt sie in sich selber zu verbessern und zu
vollenden, prinzipiell überbieten zu wollen. Auch die Kombi‑
natorik könne dieses Ziel niemals erreichen: sei sie doch selbst
nichts anderes als die Wissenschaft v o n der Z a h l der möglichen
Verknüpfungen und somit ersichtlich der allgemeinen Zahlenlehre
untergeordnet. Auch gegenüber den eingehenderen Erläuterungen
Leibnizens, der nunmehr seinen Gesamtplan in seiner ganzen
Weite darlegt, verharrt er auf diesem Standpunkt.!) Und er schil‑
dert in einem wichtigen Schreiben, das auf die gesamte gedank‑
liche Bewegung der Epoche helles Licht wirft, die Art, in der
der Entwurf seiner Methode sich in i h m zuerst gestaltet und ge‑
festigt habe. Er berichtet, wie in ihm, kaum dass er die ersten
genauen Kenntnisse in der A l g e b r a erworben, der Wunsch rege
geworden sei, ein Verfahren v o n gleicher unfehlbarer Sicherheit
u n d v o n derselben Leichtigkeit der Handhabung auch für die
übrigen Wissenschaften zu besitzen. Indem er diesem Ziele nach‑
ging, seien i h m zuerst die Schriften Descartes’ in die Hände
gefallen, in denen er sein allgemeines methodisches Ideal nahe‑
zu verwirklicht fand. Und mehr noch als die bekannten meta‑
physischen Hauptwerke habe auf i h n jener Brief Descartes’ an
Mersenne, in welchem v o n der Möglichkeit einer a l l g e m e i n e n
p h i l o s o p h i s c h e n Sprache die Rede sei. bleibenden und be‑
stimmenden Eindruck gemacht. Die Aufgabe, die nunmehr zu‑
rückblieb, aber bestand darin, das noch unbekannte W ö r t e r ‑
b u c h dieser Sprache zu suchen: eine Aufgabe, über die er lange
vergebens nachgesonnen, bis er endlich gefunden habe, dass das
Vorbild eines derartigen Wörterbuchs eben in der Cartesischen
G e o m e t r i e selber bereits fertig vorliege.. W i e hier alle räum‑
104 Tschirnhaus.

lichen Gebilde einem exakten algebraischen Calcul unterworfen


werden, so gelte es, das Gleiche f ü r die Probleme der Natur
durchzuführen, um zum höchsten Ziel alles Wissens zu gelangen.
„ I c h habe D i r ‐ so fährt Tschirnhaus in seinem Briefe an Leibniz
- fort ‐ wie Du sicherlich wissen wirst, dieses Schreiben Des‑
cartes’ an Mersenne gezeigt und m i t D i r darüber wiederholt dis‑
kutiert; i c h erinnere mich aber, dass unser Gespräch immer da‑
m i t endete, dass Du die Methode a u f a l l e D i n g e d e r W e l t
ausdehnen wolltest... während mein Gedanke vorzüglich darauf
gerichtet war, ein Verfahren zu gewinnen, das es gestattet, die
Probleme der P h y s i k in derselben Weise zu behandeln und auf‑
zulösen, wie sämtliche Fragen der M a t h e m a t i k vermittels der
Algebra z u r Auflösung gelangen.“?)
In dieser Begrenzung des Themas liegt Tschirnhaus’
eigentliche und charakteristische Leistung. Er geht durchaus
von den Voraussetzungen des Rationalismus aus: „wahr“ heisst
auch i h m n u r das, was wir nicht lediglich in der Wahrnehmung
vorgefunden, sondern aus seinen allgemeinen logischen Gründen
entwickelt haben. Jede E r k l ä r u n g irgend eines Einzeldinges
muss die Erkenntnis seiner nächsten Ursache einschliessen und
von i h r weiterhin zur Einsicht in die Gesamtheit seiner näheren
und ferneren Bedingungen aufsteigen. Wer sich dieser Be‑
dingungen versichert hat, wer somit den Gegenstand, den er be‑
trachtet, nicht n u r aus irgend einer einzelnen Beschaffenbeit
kennt, sondern i h n nach der A r t seines Aufbaus durchschaut,
der erst vermag i h n begrifflich und sachlich vollkommen zu be‑
herrschen. „Denn eine Sache begreifen, ist nichts anderes als die
Tätigkeit und der gedankliche Prozess, vermöge deren w i r sie
vor u n s im Geiste entstehen lassen, und was immer von einer
Sache begriffen werden kann, ist lediglich die erste A r t i h r e r
Bildung oder, besser gesagt, ihre E r z e u g u n g . Soll also die
Definition die schlechthin erste Grundlage für a l l das bilden,
was sich v o n einer Sache begreifen lässt, so muss notwendig
jede gute und rechtmässige Definition eine Erzeugung in sich
schliessen. Hier besitzen w i r also eine unfehlbare Regel, nach
der w i r nicht n u r wissenschaftliche, d. bh. Wissenschaft schaffende
Definitionen aus eigener Kraft feststellen, sondern auch E r ‑
klärungen, die v o n anderen vorgebracht werden, nach i h r e m
Die begriffliche Erzeugung
Die begriffliche Erseugung der Einseldinge.
Einseldinge. 105
105

Werte abschätzen
w a r e n Werte
wahren können.48) Die
abschätzen können.“?) Die vollendete
vollendete Analysis
Analysis
dder Dinge ist
e r Dinge ist ddaher
aher mmiti t der Fähigkeit zu
der Fähigkeit zu ihrer
ihrer ssynthetischen
ynthetischen
H e r v o r b r i n g u n g gleichbedeutend:
Hervorbringung gleichbedeutend: wer diedie rechte Definition des
rechte Definition
Lachens besitzt, der
Lachens besitzt, der wird
wird dasdas Lachen auch nach
Lachen auch nach Belieben
Belieben her‑
her-
vorzurufen verstehen.
vorzurufen verstehen. Wird somit hier
W i r d somit hier der der reinen
reinen begrifflichen’
begrifflichen'
Einsicht unmittelbar
Einsicht unmittelbar die Kraft zugestanden,
die Kraft zugestanden, das das empirische
empirische Sein Sein
zu
zu pproduzieren,
r o d u z i e r e n , so so muss andererseits alle
muss andererseits unsere Bildung
alle unsere Bildung und und
Verknüpfung von
Verknüpfung Begriffen ihren
von Begriffen ihren WegWeg und und ihre alleinigeRichtung
ihre alleinige Richtung
eben nach
eben nach diesemdiesem empirischen
empirischen Inhalt Inhalt hhin i n nehmen.
nehmen. Das Das höchste,
höchste,
das ausschliessliche
das ausschliessliche Ziel, Ziel, dasdas alle unsere rationalen
alle unsere rationalen Methoden
Methoden sich sich
stecken können,
stecken können, ist eben die
ist eben die Erfahrung
Erfahrung selber und und ihre ihre gesetz‑
gesetz-
liche Struktur.
liche Struktur. So So betont Tschirnhaus -‐ und
betont Tschirnhaus und dies
dies istist die
die frucht‑
frucht-
barste Einsicht,
barste Einsicht, die die er gewinnt -‐ unablässig
er gewinnt unablässig die die strenge
strenge K orre‑
Korre-
llation zwischen dem
a t i o n zwischen dem „apriorischen* u n d dem
„apriorischen" und dem „aposteriorischen"„aposteriorischen*
Wege
We g e der Begründung. „Induktion“
der Begründung. „Induktion" und „Deduktion" sind
und „Deduktion“ nicht
sind nicht
zzu u trennen,
trennen, sondern sondern sie bedürfen und
sie bedürfen ergänzen einander wechsel‑
und ergänzen wechsel-
seitig. Das
seitig. Das Experiment
Experiment ist nichts anderes
ist nichts anderes als eine Hilfe
als eine Hilfe undund
ein Regulativ der Begriffsbildung,
ein Regulativ Begriffsbildung, wie anderseits der echte
wie anderseits
Begriff
Begriff vor vor allemallem der der Schlüssel
Schlüssel zu zu neuen tatsächlichen Be‑
neuen tatsächlichen Be-
obachtungen sein
obachtungen sein will.will. W Wir beginnen damit,
i r beginnen damit, die die „Möglich‑
„Möglich-
keiten“
keiten" der der Erzeugung
Erzeugung einer einer Sache Sache zuerst
zuerst rein abstrakt und
rein abstrakt und h hy-y ‑
p oo t hh eettii sscchh iim m Geiste
Geiste zu z u erwägen
erwägen und und ihnenihnen bis bis iinn ihre
ihre letzten
letzten
Verzweigungen nachzugehen.
Verzweigungen nachzugehen. Wenn Wenn indessen,
indessen, je näher wir dem dem
besonderen
besonderen sinnlichen sinnlichen Sein Sein kommen,.
kommen,, die die Bedingungen
Bedingungen immer immer
komplizierter,
komplizierter, die die Wege
Wege immer schwerer zu
immer schwerer überschauen werden,
zu überschauen werden,
so bedienen
so bedienen w wiri r uns
uns der methodischen Beobachtung,
der methodischen Beobachtung, um um durch
durch
sie unsere
sie allgemeinen gedanklichen
unsere allgemeinen gedanklichenEntwürfe Entwürfe zu begrenzen und
zu begrenzen und
zwischen ihnen
zwischen ihnen eine sichere A u s w aahhll zu
eine sichere treffen. Die
zu treffen. Die Erfahrung
Erfahrung
d eetteerrm miinniieerrtt unseren
unseren Begriff,
Begriff, ohne ohne sich sich ganz ganz und
und ausschliess‑
ausschliess-
l i c h an
lich an seine Stelle zu
seine Stelle zu setzen.
setzen. Erst Erst wenn wenn das das Experiment
Experiment in
dieser Weise Weise aufgefasst
aufgefasst und beurteilt wird,
und beurteilt wird, kannkann es es ffür
ü r unsere
unsere
Einsicht
E i n s i c h t in i n ddieie G r ü n d e ddes
Gründe es G Geschehens w a h r h a f t förderlich
e s c h e h e n s wahrhaft förderlich
werden, kann
werden, kann es es zu zu Ergebnissen
Ergebnissen gelangen, gelangen, die den den blossen
blossen
Empirikern,
E m p i r i k e r n , diedie ihre
ihre Versuche
Versuche oohne Leitung der Ve
h n e Leitung Ve rr nn uunnfftt an‑
an-
stellen, ffür
stellen, versagt bleiben.)
immer versagt
ü r immer bleiben.') Es Es istist auch
auch hier
hier nnur u r die
die Er-
Er- :
fahrungslehre Descartes',
fahrungslehre Descartes’, die die Tschirnhaus
Tschirnhaus annimmt annimmt und und weiter
weiter
ausbaut (($.
ausbaut. S. Bd.Bd. I,I, S S. 405 ff.)
. 405 Aber er
ff.) Aber er hathat iihr durch die
h r durch d i eK la r‑
'Klar-
heit,
beit, m der er
miti t der entwickelt und
sie entwickelt
er sie durch die
und durch die prinzipielle
prinzipielle Schärfe,
Schärfe,
106 Tschirnhaus.

m i t der er sie von allem Metaphysischen loslöst, eine weitere


geschichtliche Wirksamkeit gesichert, als sie zunächst innerhalb
des engeren Kreises der Cartesischen Schule entfalten konnte.
Insbesondere die deutsche vorkantische Philosophie knüpft ir
ihren bedeutendsten Vertretern, wie vor allem in L a m b e r t , er‑
sichtlich an Tschirnhaus an, um die Grundsätze seiner Er‑
fahrungstheorie für die Methodik der Einzelwissenschaften
fruchtbar zu machen. ‑
Die Aufstellung der allgemeinen Forderung einer kritischen
Erfahrungslehre bei Tschirnhaus ist freilich m i t der E r f ü l l u n g
dieser Forderung nicht gleichbedeutend. Die inneren Schwierig‑
keiten, die der Ausbildung dieser Lehre entgegenstanden, treten
an Tschirnhaus’ Beispiel k l a r hervor. Sie sind vor allem darin
begründet, dass das Objekt, um das es sich handelt, dass der
Begriff der R e a l i t ä t selbst noch nicht zur Klärung und unzwei‑
deutigen Bestimmung gelangt ist. Der Inbegriff des Denkbaren
wird in drei Klassen zerlegt: in die sinnlich-anschaulichen, in
die rationalen oder mathematischen und in die physischen oder
realen Dinge. Während die Vorstellungen der ersten Klasse, die
Inhalte der Sinnlichkeit, sich dem Geiste wider seinen Willen
und o h n e sein Zutun von aussen aufdrängen, sind die der
zweiten reine Schöpfungen des Geistes selbst, die keines äusseren
Originals bedürfen. Es ist lediglich ein Akt der genetischen
Konstruktion, der sie hervorbringt und der ihnen alle Bestimmt‑
beit ihres Inhalts verleiht. Die Gebilde, die auf diese A r t ent‑
stehen, lassen indessen stets eine M e h r h e i t v o n E r z e u g u n g s ‑
weisen zu, die sämtlich untereinander äquivalent sind und z u m
gleichen Ergebnis führen. Ob w i r den Kreis durch die Be‑
wegung einer Geraden um einen festen Endpunkt, oder aber
durch einen Kegelschnitt erzeugt denken, ist f ü r seinen reinen
mathematischen Begriff gleichbedeutend. Diese V i e l d e u t i g k e i t
nicht sowohl des Inhalts, als der A r t seiner Hervorbringung, i s t
bei der dritten Gruppe v o n Wesenheiten, bei den „Entia Realia
seu Physica“ überwunden. Was sie v o n den blossen „Gedanken‑
dingen“ trennt, ist eben dies, dass w i r sie n u r auf eine e i n z i g e
Art und aus einer einzigen Ursache entstanden denken können.
Die Begriffe, die wir von ihnen entwerfen, hängen daher in keiner
Weise von unserer Willkür, sondern lediglich „ v o n der eigenen
Die drei Klassen des Denkbaren. 107

Natur der Gegenstände selbst ab“, es sind Begriffe, die nicht so‑
w o h l d u r c h u n s zu bilden, als vielmehr n u r m i t unserer M i t ‑
w i r k u n g und Hilfe gebildet sind.5) „Von dieser Art ist z. B.
alles das, was w i r als m a t e r i e l l denken, d . h . alles, was nicht
eine reine oder durchdringbare Ausdehnung, wie es die mathe‑
matische ist, sondern eine undurchdringliche Ausdehnung, w i e
es die aller Körper ist, voraussetzt.“ Deutlich lässt sich erkennen,
wie in dieser Unterscheidung zwei verschiedene gedankliche
Tendenzen in einander verwoben sind. A u f der einen Seite
steht das r a t i o n a l i s t i s c h e Interesse, das die Wirklichkeit als
ein P r o d u k t des Denkens begreifen und ableiten will. Die
fortschreitende Besonderung der reinen gedanklichen Methoden,
ihre wechselseitige Bestimmung zu einem e i n d e u t i g e n und
einzigartigen Ergebnis ist es, die das charakteristische Merkmal
des „Realen“ ausmacben soll. Auf der anderen Seite aber muss
die Wirklichkeit an sich bestehender Dinge als absolute Ursache
der Sinnesempfindungen in uns schlechthin vorausgesetzt werden.
Hier bricht der stetige Gang der Methode ab, den Tschirnhaus
v o r allem anstrebt; hier ist ein dogmatischer Anfangspunkt
gesetzt, der aller Prüfung vorausliegt und der die grundlegenden
Unterscheidungen der Prinzipienlehre erst ermöglichen soll.
Tschirnhaus unterscheidet scharf zwischen der Fähigkeit des
I n t e i l e k t s und der E i n b i l d u n g s k r a f t , zwischen demjenigen
w a s v o n uns wahrhaft „konzipiert“ und dem, was v o n uns n u r
sinnlich „perzipiert“ werden kann. Jeder Inhalt bietet u n s Merk‑
male dar, die einer rein begrifflichen Fixierung fähig sind,
während andere sich dem Versuche einer derartigen Be‑
stimmung entziehen. So besitzen w i r von Ausdehnung, Gestalt
u n d Bewegung distinkte und klare Einsichten, während die rote
Farbe eines Gegenstands, wenngleich aufs klarste perzipiert, doch
niemals ein Objekt wirklichen wissenschaftlichen Begreifens
werden kann, da sie in jedem empfindenden Individuum ver‑
schieden ist und somit keinerlei a l l g e m e i n g ü l t i g e Erkenntnis
zulässt.6) Und e s gibt eine U n e n d l i c h k e i t v o n Inhalten, von
welchen das Gleiche gilt, bei welchen w i r also von Anfang an
darauf verzichten müssen, sie begrifflich durchsichtig und fassbar
zu machen. Ist aber dieses Ergebnis zutreffend und zwingend,
so w i r d dadurch, wie m a n sieht, Tschirnhaus’ eigener Plan einer
108 Tschirnhaus.

streng e i n h e i t l i c h e n allumfassenden Methodik des Wissens


hinfällig. Der Dualismus des denkbaren und des bloss em‑
pfindbaren S e i n s muss wiederum einem unaufheblichen Dualis‑
m u s der Erkenntnisweisen Raum geben. Es fehlt bei Tschirnhaus
der tiefe Gedanke, von dem L e i b n i z in seinem Entwurf der
„Scientia generalis“ geleitet w a r : der Gedanke, dass die beson‑
deren „Tatsachenwahrheiten* nicht den absoluten Gegensatz zu
den rationalen Erkenntnissen, sondern vielmehr das Material u n d
die Aufgabe für die ins Unendliche fortschreitende Betätigung
der allgemeinen Methoden bilden (S. ob. S. 55f.). So bleibt i h m
ein Gebiet zurück, das aus dem Kreise, den seine logische Theorie
zieht, prinzipiell berausfällt, und das sich doch i m m e r deutlicher
als der eigentliche Bereich des „ w i r k l i c h e n “ , des empirisch‑
pbysikalischen Seins ausweist.
Aus diesem Grundmangel, der für Tschirnbaus selbst, je
weiter er schritt, um so fühlbarer werden musste, erklären sich
die mannigfachen Vermittlungsversuche, die er unternimmt, um
die beiden getrennten Sphären, um Vernunft und Erfahrung
wiederum zu einer sachlichen Einheit zusammenzuschliessen.
Und da eine vollständige logische Auflösung des „Tatsäch‑
lichen nicht gelingt, so muss nunmehr der umgekehrte Weg be‑
schritten werden, indem die Prinzipien, auf denen alle Deduktion
ruht, selbst wiederum als Ergebnisse der „inneren Erfahrung“
behauptet werden. So sind es zuletzt vier grundlegende Tatsachen
der Selbstbeobachtung, auf welche Tschirnhaus seinen ge‑
samten Aufbau stützt. Dass sich mannigfache Inhalte des Be‑
wusstseins in u n s finden, dass die einen von ihnen uns lustvoll,
die anderen uns schmerzlich berühren; dass bestimmte Ver‑
knüpfungen für unser Denken sich als möglich, andere als u n ‑
möglich erweisen, und dass es schliesslich sinnliche Vorstellungen
in uns gibt, die nicht aus u n s selbst stammen, sondern „von
aussen“ in uns gewirkt werden: dies alles bedarf keines begriff‑
lichen Beweises, da es in sich eine unmittelbare Evidenz besitzt,
die durch abstrakte Gründe weder widerlegt, noch überboten
werden kann. Die „Deduktion“ vermag nichts anderes, als a l l
unser Wissen auf diese Grunderfahrungen zurückzuführen; sie
vermag deren eigentlichem I n h a l t nichts hinzuzufügen. Es k a n n
kein höheres Kriterium der Wahrheit geben, als den inneren
Erfahrung und Denken. 109

psychologischen Zwang, der uns dazu nötigt, ein bestimmtes Sub‑


jekt immer m i t einem bestimmten Prädikat zusammenzudenken,
oder der uns irgendwelche geforderte Vorstellungsverbindung als
unmöglich und widerstreitend erscheinen lässt. Solange w i r uns
einzig auf diese Grundlage stützen, sind w i r jeder Gefahr der
Täuschung überhoben. „Hieraus ist denn auch offenbar, dass
jeder Begriff oder, wie andere es nennen, jede Idee nicht etwas
S t u m m e s ist, wie ein Bild auf einer Tafel, sondern dass sie not‑
wendig stets eine Bejahung oder Verneinung einschliesst. Denn
Bejahen und Verneinen sind nichts anderes als der Ausdruck,
kraft dessen w i r kundtun, dass wir innerlich in unserem Geiste
etwas denken können oder nicht denken können: Zwischen Sein
und Nicht-Sein besteht also kein anderer Unterschied, als
zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit oder zwischen dem,
was sich denken und nicht denken lässt.“ So bezeichnen die
obersten logischen Regeln, wie z. B. der Satz des Widerspruchs,
nicht sowohl ein Gesetz der Dinge, als vielmehr ein Gesetz
unseres Begreifens: sie stellen fest, welche Gedanken sich tat‑
sächlich in unserem aktuellen Denken vollziehen lassen und
welche anderen unvollziehbar bleiben.?)
Dass m i t dieser Konsequenz, streng genommen, der Be‑
g r i ff der Wahrheit r e l a t i v i e r t wird, dass e s nunmehr von
der empirischen Beschaffenheit des „Denkvermögens“ abhängt,
was als „wahr“ und „falsch“ zu gelten habe: diesen Schluss,
der freilich seinem Ausgangspunkt unmittelbar zuwider gewesen
wäre, hat Tschirnhaus nicht gezogen. Um die Lücke zu füllen,
d i e zwischen dem logischen und dem psychologischen Wahr‑
heitskriterium bestehen bleibt, tritt jetzt eine metaphysische Be‑
hauptung ein. Was immer wir nicht n u r sinnlich perzipieren,
sondern k l a r und deutlich begreifen, dessen Geltung dürfen wir
auch a u f alle anderen denkenden Wesen erstrecken: besteht doch
alle individuelle Verschiedenheit unter den Menschen n u r in dem
Vermögen der Sinnlichkeit und der Einbildungskraft, während
d e r „Intellekt“ in ihnen n u r einer ist und stets denselben Be‑
dingungen gehorcht.?) Man sieht, wie die unverbrüchliche Identität
u n d Unwandelbarkeit der reinen „Vernunftregeln* h i e r nicht er‑
wiesen, sondern erschlichen wird. Tschirnbaus betrachtet es als
den wesentlichen Fortschritt, den er über Descartes hinaus ge‑
110 Tschirnhaus.

wonnen habe, dass er die Kennzeichen der „wahren Vorstellung“


nicht n u r abstrakt bezeichnet, sondern auch den Weg gewiesen
habe, wie m a n im e i n z e l n e n F a l l e sich vergewissern könne, ob
irgend ein Satz, der den Schein der Evidenz besitzt, auch objektiv
allgemeingültig sei.) Es genügt nicht, wenn m a n u n s sagt, dass a l l
das, was w i r „klar und deutlich“ begreifen, wahr sei: w i r müssen
auch ein sicheres Unterscheidungsmerkmal dafür besitzen, ob ein
Inhalt, der sich uns m i t dem Anspruch der Klarheit und Notwendig‑
keit aufdrängt, auch wahrhaft „gedacht“, nicht n u r sinnlich vorge‑
stelltund „imaginiert“ ist. UnddiesesMerkmalkann nirgends anders,
als i n der allgemeinen M i t t e i l b a r k e i t gefunden werden. Jede
e c h t e begriffliche Einsicht muss sich, da sie aus dem allen gemein‑
samen Quell des reinen Verstandes herstammt,jedem anderen eben‑
so deutlich machen lassen. als sie es u n s selber ist. Wo diese Probe
versagt, da dürfen wir sicher sein, dass trotz alles subjektiven
Zutrauens, das wir zu unserer Vorstellung hegen mögen, eine
sachliche Gewähr ihrer Notwendigkeit nicht besteht.!%) Aber man
erkennt leicht, dass sich gegen diesen Versuch einer Umbildung
des Cartesischen Wahrheitsprinzips alsbald die gleichen Bedenken
erheben müssen. Ist die „allgemeine Mitteilbarkeit“ eines ge‑
danklichen Inhalts n u r durch I n d u k t i o n festzustellen, fordert
sie somit, dass wir die einzelnen Individuen gesondert betrachten
und abzählen? Oder genügt ein einzelnes Beispiel, um uns
alsbald der G e s a m t h e i t aller Fälle z u versichern und jede
widerstreitende Instanz f ü r immer auszuschliessen? Gilt das erste,
so ist niemals jene unbedingte und abschliessende Gewissheit zu e r ‑
reichen, die Tschirnhaus fordert und voraussetzt; gilt das zweite, so
ist damit wiederum die Wahrheit allgemeiner M a x i m e n d e r I n ‑
d u k t i o n erwiesen, deren Grund nicht in der Aufreihung einzelner
Beobachtungen zu suchen ist. Tschirnhaus hat derartige Maximen
nicht geleugnet; aber er hat sich der Forderung entzogen, sie
l o g i s c h im einzelnen darzulegen und zu begründen, da sie f ü r
i h n selber durch das metaphysische A x i o m v o n der durch‑
gängigen Gleichartigkeit der „Vernunft“ ersetzt und entbehrlich
gemacht werden. ‑
So ist denn bei i h m die Harmonie, die er zwischen Vernunft
und Erfahrung herzustellen sucht, lediglich ein P o s t u l a t ge‑
blieben. Seine Leistung besteht darin, dass er die wissenschaft‑
Logik und Physik. 111

liche Erfahrung als das zentrale Problem heraushebt und hin‑


stellt, auf welches auch alle „apriorischen® Methoden dauernd
gerichtet sein müssen. Die P h y s i k gilt i h m als der Inbegriff
aller echten Erkenntnis; sie ist es, die all das, was Logik und
Mathematik, ja was Metaphysik und Theologie n u r jemals erstrebt
haben, erfüllt und z u m iunern Abschluss bringt. Alle anderen
Wissenschaften sind menschlicher Art und Herkunft; sie ent‑
wickeln n u r Gesetze, die von unserem eigenen Intellekt geformt
sind und die daher nicht sowohl für die Gegenstände, als f ü r
u n s allein Geltung besitzen. „ I n i b r allein dagegen enthüllen
sich uns die Gesetze, die Gott seinen Werken einverleibt hat und
die somit nicht v o n unserem Verstande, sondern v o n Gott selbst
u n d seinem realen Sein abhängen, so dass die Betrachtung der
Werke der Physik nichts anderes als die Betrachtung der W i r k ‑
samkeiten Gottes ist.*!) Eine solche Schätzung, eine solche Aus‑
nahmestellung der Physik musste innerhalb des Rationalismus
selbst erkämpft werden, wenn er seinen eigensten, modernen
Aufgaben gerecht werden wollte Tschirnhaus selbst indessen ist
zu keiner eindeutigen Lösung gelangt: es fehlt bei ihm zuletzt
an der Klarheit darüber, ob und wie weit die „Erfahrung“, die
das letzte Z i e l der abstrakten Methodenlehre zu bilden hatte,
auch als ihr Grund und U r s p r u n g gelten darf. Mit dieser
Frage aber sind w i r bereits in einen anderen geschichtlichen
Problemkreis eingetreten, dessen Entstehung und Ausbildung w i r
nunmcehr zu betrachten haben.
Fünftes Buch:

Das Erkenntnisproblem im System des


Empirismus.
Erstes Kapitel.

Bacon.
I.
D i e K r i t i k des Verstandes.
Wenn man von der philosophischen und wissenschaftlichen
Renaissance, wie sie sich in Italien, Deutschland und Frank‑
reich gestaltet, zu Bacons Lehre hinüberblickt, so ist es zu‑
nächst die veränderte subjektive Stimmung des Philosonbis‑
rens und Forschens, die sich vor allem fühlbar macht. Es ist
eine neue geistige Atmosphäre, in die wir eintreten; es ist ein
anderer persönlicher Alfekt, der hier zum Ausdruck drängt.
Der_Begriff des Selbstbewusstseins bildet den Mittelpunkt
f ü r das geistige Leben der Renaissance. An ihm, an seiner
Neugestaltung und Vertiefung arbeiten nicht n u r die Logiker
u n d die psychologischen Analytiker; auch. die empirischen
Forscher können ihre rein objektive Aufgabe nicht erfüllen, ohne
sie in Beziehung zu diesem zentralen Problem zu setzen. Sie
alle sind v o n einer neuen Auffassung über das V e r h ä l t n i s des
G e zur i sNafur t erfüllt,
e s die sich bei den einen n u r in
poetischen Bildern und Gleichnissen ausspricht, während sie bei
d e n anderen bereits strengere begriffliche Fassung anzunehmen
beginnt. Die „Harmonie“ zwischen den Denkgesetzen und den
realen G e g e n s t ä n d e n bleibt ihnen die unbestrittene Voraussetzung.
Immer herrscht hier die Ueberzeugung, dass w i r uns den reinen |
Begriffen unseres Geistes getrost überlassen dürfen, dass w i r uns /
insbesondere n u r in die Struktur der mathematischen Ideen zu |
vertiefen brauchen, um das Grundschema für die Erkenntnis des \
walırhaften, gegenständlichen Universums zu gewinnen.
g*
116 Bacon.

An diesem Punkte setzt die Rolle und die Leistung Bacons


ein; hier ist es, wo er die Eigenart, wie die Mängel seiner Phi‑
losophie am deutlichsten blosslegt. Die Natur ist
ihm nicht, wie
dem wissenschaftlichen Theoretiker, ein Gegenstand für die
ruhende Betrachtung; sondern sie ist das widerstrebende M a f e r i a t ,
das w i r zu bewältigen und zu unterwerfen haben. Dieser tech‑
n i s c h e Ausgangspunkt Bacons ist es, der auch seinen logischen
Gesichtskreis durchaus bestimmt und beherrscht. Das „ Wissen“
bedeuteti hm, sei ü nde‑
res, als eineArt der praktischen Betätigung, kraft deren w i r die
Dinge zwingen"und sie„unserem |Herrscherwillen _ g e f ü g i gmachen.
Wahre E i n s i c h tin einen Gegenstand besitzen w i r erst dann,
wenn wir i h n gleichsam unter den Händen haben, um m i t ihm
nach Belieben schalten und wirken zu können. Was uns aber
"immer wieder an dieser unmittelbaren Erfassung der W i r k ‑
lichkeit hindert, das sind die Gebilde des eigenen Geistes, die
sich stets von neuem zwischen uns, die handelnden Subjekie,
und die realen Tatsachen und Mächte der Natur eindrängen.,
Gelänge es diese unwillkommene Beimischung ganz zu entfernen
gelänge es die „Wesenbheiten“ der Objekte in ihrer unverfälschten
Dinglichkeit zu erfassen, so wäre der Zauber gebrochen und das
Reich des Menschen, das „Regnum hominis“, begründet.
Wenn Bacon sich daher m i t derselben Energie, wie die
grossen empirischen Forscher, auf das E x p e r i m e n t beruft
und seine Bedeutung rühmt: so kann doch n u r eine äusserliche
und flüchtige Betrachtung den tiefen Unterschied übersehen, der
hier obwaltet. Einem Leonardo oder Kepler ist die Natur
‚monische Ordnung, die
selbst nichts anderes, denn eine harmonische der
es_ist_der
„Vernunli“ __gleichsiimmig enigegenkommt. Und
wissenschaftliche Versuch, der diesen Zusammenhang verkörp
verkörpert
u n d damit - zum
d echten
e r „Vermittler zwischen Subjekt und
Objekt“ wird. Diehöchste und endgiltige L e i sdes t Experi‑
u n g
ments besteht darin,dass es die „notwendigen Verknüpfungen“
innerhalbder "empirischen Erscheinungenblosslegt und damit die
„Verhunfigründe“ mitten in der E r f selhst r u macht.
a h sichtbar n g
( V g l . Bd. I, S. 251, 261, 291 ff.) Für_Bacon dagegen bedeutet
die> objektive.Wirklichkeit eine fremde Macht, die s i c h uns zu
entziehen _trachtet, und die wir erst mittels immerernenter
Natur und Begriff. 117

„Folterungen* durch die Kunst zwingen können, uns Redeund


Anvort zu stehen.Er spricht auch hier die Sprache des Krimi‑
der einen Schuldigen zu überführen und ihms e i n w
Geheimnis abzudringen sucht. ergeben San Bun, Einer ‑
begrifflichen Geamiansicht, in einer geistigen Ueberschau uns
anze urchsichtig zu machen; w i r dürfen n u r
erwarten, i h r nz en Insttrumenten und Walfen der Technik
Stück-für-Stück-Hıre-Rrätser zu enlreissen. Und in diesem pper- _
s ö n t i c h e n Unterschied der Anschauungsart ist bereits der “ı
Gegensatz der sachlichen Ergebnisse beschlossen und vorgebildet. ‑
Denn eben dies ist es, was Bacon aller bisherigen Philosophie
und Wissenschaft vorhält: dass sie, indem sie das künstliche
Gewebe unserer B e g r i f f e n u r immer vermehrte und verfeinerte,
die Schranke, die uns von dem wahrhaften Sein der O b j e k t e |
trennt, n u r um so schroffer aufgerichtet hat.!) Alle Versuche, *
die man unternommen hat, die Kräfte des Geistes zu erhöhen,
waren n u r ebensoviele Mittel, i h n innerhalb seiner eigenen
Sphäre festzubannen. P l a t o n vor allem ist für Bacon, in dem‑
jenigen Werk, das sein Urteil über die Vorgänger am rückhalt‑
losesten ausspricht, n u r der „schwülstige, Poet* und der „tolle
Theologe“, der durch seine grundfalsche Lehre, dass die Wahr‑
heit dem Geiste „eingeboren“ sei und nicht von aussen in i h n
hineinwandere, die Philosophie von der rechten Erfassung der
Dinge abgelenkt und in ein Netzwerk blinder Idole verstrickt
habe.?) Und wie er die Naturlehre durch die T h e o l o g i e , so
h a t Aristoteles sie durch die D i a l e k t i k , Proklus durch die
M a t h e m a t i k entstellt und u m ihren wahren Ertrag gebracht. ® )
A l l das, was bisher als die höchste Leistung des Intellekts ge‑
priesen wurde, bedeutet in Wahrheit seine Verführung und sein
Verbängnis.
Unter diesem Gesichtspunkt erst versteht m a n die eigentliche
Tendenz von Bacons Ve r s t a n d e s k r i t i k . F ü r i h n handelt e s
sich nicht, wie f ü r die grossen produktiven Denker der Renais‑
sance, in erster Linie darum, die schöpferischen Kräfte des Ver‑
siandes frei zu machen und ihre Wirksamkeit im Aufbau der
Erfahrung aufzuweisen, sondern vielmehr um die E i n s c h r ä n ‑
k u n g dieser Kräfte und ihrer Betätigung. Das Ziel der Philoso‑
phie soll fürderhin nicht darauf gerichtet sein, den menschlichen
118 Bacon.

Geist zu beflügeln, sondern i h m ein Bleigewicht anzuhängen, da‑


m i t er um so fester am Boden der gegebenen Tatsachen hafte. %
Nicht der inhaltliche Grund der W a h r h e i t , sondern die psy‑
[0@]
chologischen Quellen des I r r t u m s sind es somit, denen Bacon
nachspürt. Was er positiv leistet, ist nicht ein Aufbau der
wissenschaftlichen Erkenntnis aus-ihren ersten Voraussetzungen,
sondern eine Pathologie des menschlichen Vorstellens und U r ‑
teilens. Die Lehre von den „Idolen‘, die Erörterung der mannig‑
faltigen subjektiven Vorurteile und Hemmnisse, die dem Erwerb
des Wissens entgegenstehen, bildet den ergiebigsten und frucht‑
barsten Teil seiner philosophischen Gesamtarbeit. Hier, wo er
als psychologischer Essayist spricht, kommen die eigentliche
Richtung seines Talents und die Vorzüge seines Stils am reich‑
sten zur Entfaltung. Es ist, bei aller aphoristischen Behandlung
des Gegenstandes, dennoch ein wichtiges und spezifisch modernes
Problem, das hier gestellt wird. Von den zufälligen Irrungen,
denen der einzelne vermöge seiner individuellen Beschränkung
unterliegt, erhebt sich die Betrachtung zu den notwendigen und
allgemeinen Täuschungen, die dem menschlichen Verstande als
solchem und nach seinem Gattungscharakter anhaften. Die me‑
taphysische Ansicht, dass die Beschaffenheit und die Regel unse‑
res Intellekts uns zu einem Urteil über das absolute Wesen der
Dinge befähige, wird nunmehr als ein naives Vorurteil entbüllt.
Der menschliche Geist gleicht einem Zauberspiegel, der die Dinge
nicht rein und nach ihrer tatsächlichen Beschaffenheit, sondern
vermischt m i t den eigenen Phantasmen wiedergibt.°) Nur eine
strenge kritische Sonderung kann daher den Wahrheitswert der
einzelnen Bilder und Vorstellungen in uns bestimmen. Die all‑
. gemeine Aufgabe, den „subjektiven“ und den „objektiven*
Faktor in unserer Erkenntnis zu scheiden und beide in ihrer
wechselseitigen Bedingtheit zu begreifen, ist damit erfasst; ‑
gleichviel wie Bacon selbst i h r in seiner eigenen philosophischen
Leistung genügt haben mag. ‑
Und die Kritik, die hier geübt wird, trifft nicht allein den
Ve r s t a n d und seine abstrakten Begriffe, sondern ‐ wie gegen‑
über der herkömmlichen Deutung v o n Bacons Lehre betont
werden muss ‐ nicht minder die sinnliche Empfindung. Erst
in diesem Zuge gewinnt sie ihre universelle Bedeutung. Nicht
Die Kritik der Erfahrung. 119

minder energisch als die grossen Rationalisten betont Bacon jetzt,


dass der Sinn, soweit er sich selbst und seiner eigenen Leitung
überlassen bleibt, ein schwankender und ungenauer Maassstab
ist. Das Zeugnis und die Belehrung des Sinnes gilt n u r „ i n
Bezug a u f d e n Menschen, n i c h t in B e z u g a u f das U n i ‑
versum“.®) Immer v o n neuem kommt Bacon auf diesen Haupt‑
und Lieblingssatz seiner Philosophie zurück. M i t der gleichen
Schärfe, wie gegen die „kahlen Abstraktionen* der Dialektik
wendet er sich gegen die voreiligen „Empiriker“, die auf zu- ‑
fälligen und nicht völlig analysierten Beobachtungen das System
der wissenschaftlichen Axiome und Grundsätze zu errichten
suchen.) Die „Erfahrung“, die Bacon anruft, ist i h m daher m i t
dem unmittelbaren sinnlichen Eindruck der Wirklichkeit keines‑
wegs gleichbedeutend. „Was m a n gemeinhin „Erfahrung“ nennt,
das ist nichts anderes, als ein unsicheres Tasten, wie der Mensch
es bei Nacht macht, wenn er versucht, sich durch Befühlen der
Gegenstände auf den rechten Weg zu bringen, während es doch
besser und geratener wäre, den Anbruch des Tages zu erwarten
oder ein Licht anzuzünden. Eben dies letztere aber ist das Ver‑
fahren und die Weise der echten Erfahrung: sie steckt zuerst
ein Licht an und weist sodann m i t ihm den Weg, indem sie mit
völlig geordneten und durchdachten, nicht aber mit vorschnellen
und irrigen Beobachtungen beginnt und aus ihnen allgemeine
Sätze zieht, die ihrerseits wiederum den Zugang zu neuen Ex‑
perimenten erschliessen.*) Die theoretische O r d n u n g der
Einzelbeobachtungen entscheidet somit erst über ihren Wert und
ihre objektive Bedeutung. Bis hierher ist es nicht anders, als
höre m a n Descartes oder G a l i l e i sprechen; wie es denn Bacon
als den eigentlichen Vorzug seines Verfahrens rühmt, dass da‑
durch endlich die „wahre und rechtsgültige Ehe“ zwischen dem
empirischen und dem rationalen Vermögen des Geistes geschlossen
werde?) Die Bahn der Erfahrung soll, v o n den ersten sinn‑
lichen Wahrnehmungen angefangen, durch eine sichere rationelle
Methode befestigt und gangbar gemacht werden. (omnisque via
a primis ipsis sensuum perceptionibus c e r t a r a t i o n e m u ‑
nienda.)!) E i n fester logischer Stufengang wird vorgezeichnet,
kraft dessen w i r u n s erst allmählich z u r objektiven Erkenntnis
erheben können. „Wie der Sinn für sich schwach und unsicher
120 Bacon.

ist, so helfen auch die Instrumente, die seine Wahrnehmungs‑


fähigkeit erweitern und schärfen sollen, nicht weiter; vielmehr
w i r d jede wahrhafte Auslegung der Natur erst durch geeignete
und richtig angewandte Experimente erreicht; denn der Sinn
urteilt n u r über das Experiment, das Experiment aber über die
Natur und die Sache selbst.“"!)
Io dieser Unterscheidung einer doppelten Bedeutung der
„Erfahrung“ selbst, in diesem Hinweis auf den Gegensatz zwischen
zufälliger, passiver Wahrnehmung und dem bewusst und m e ‑
thodisch geübten Experiment liegt dasjenige, was Bacon für die
Kritik der Erkenntnis geleistet hat; liegt ein Verdienst, das
durch alle die offensichtlichen Mängel und Schwächen in der
A u s f ü h r u n g seiner Theorie nicht beseitigt wird. Zwar dass e r
die Forschung überhaupt wieder auf die empirische Betrachtung
verwiesen hat, kann ihm nicht als originale Leistung zuge‑
rechnet werden. In seinem Kampfe gegen das Schulsystem hat
er den Argumenten, die von den Vorgängern, von V i v e s und
Ramus, von Va l l a und Francesco P i c o geprägt worden waren,
sachlich nichts hinzugefügt, wenngleich er ihnen in der epi‑
grammatischen Kraft seines Stils die blendende äussere Form
gegeben hat, kraft deren sie sich im Bewusstsein der Nachwelt
behauptet haben. Der eigentlich fruchtbare Grundzug seiner
Lehre aber besteht darin, dass sie bei der blossen Feststellung
des Einzelnen nicht stehen zu bleiben gedenkt. I h r ganzes
Streben ist darauf gerichtet, v o n den ersten und rohen Anfängen
der Empfindung z u r wissenschaftlichen Erfahrung, zur „ex‑
perientia litterata* durchzudringen. Im Hinblick auf dieses ein‑
heitliche Ziel) wird die Rolle der Wahrnehmung sowohl, wie die
des Denkens abzuschätzen gesucht. „Wahrheit“ ist ‐ nach der
ursprünglichen Konzeption Bacons ‐ weder in den Sinnen, noch
im Verstand allein, sondern einzig in der Durchdringung u n d
Wechselbeziehung dieser beiden Momente zu suchen.
Und dennoch enthält dieser so wichtige und wegweisende
Gedanke, wenn w i r i h n in seiner besonderen Nuancierung inner‑
halb des Baconischen Systems betrachten, eine innere Schwierig‑
keit in sich. Von welcher Art ist jenes Sein und jene Wirklich- _
keit, die uns durch das Experiment erschlossen werden soll?
Kann darunter, nach den sachlichen Konsequenzen aus Bacons
D i e methodische Bedeutung des Experiments. 121

Anfangssätzen, etwas anderes verstanden sein, als die Regel


der empirischen Wiederkehr, die w i r i n n e r h a l b d e r E r s c h e i ‑
n u n g e n selbst festhalten und aufzeigen können? Diese Fol‑
gerung aber steht m i t der tatsächlichen geschichtlichen Gestalt
von Bacons P h y s i k in unmittelbarem Widerstreit. Die Natur
ist f ü r Bacon nicht ein geordnetes Ganze gesetzlicher Verände‑
rungen, sondern ein Inbegriff an sich bestehender „Wesenheiten*.
Das empirische Dasein bildet nicht ein selbstgenügsames, in
sich geschlossenes Gebiet, sondern es weist beständig auf ein
Reich metaphysischer „Formen“ und Qualitäten, als seinen eigent‑
lichen objektiven Hintergrund, zurück. Wo aber ‐ so muss
nunmehr gefragt werden ‐ finden w i r die Mittel, die uns in
diesen Bereich der absoluten Dinge und Eigenschaften hinaus‑
zuführen vermöchten? Des Denkens Faden ist hier, nach Bacons
eigenen Voraussetzungen, zerrissen. Bleibt doch jede Setzung des
Verstandes nicht minder, als der Empfindung in den Umkreis
der E r s c h e i n u n g e n gebannt, statt zu ihren substantiellen Ur‑
gründen hinzuleiten: „Omnes perceptiones t a m sensus,
quam mentis s u n t ex analogia hominis, n o n ex anal ogi a
u n i v e r s i . “ 1 ) S o zeigt sich schon hier, dass die Kraft der
„Methode“, da sie in nichts anderem bestehen kann, als in ge‑
d a n k l i c h e n Weisurgen und Vorschriften, nicht hinreichen
wird, um uns in dasjenige Gebiet des Seins Eingang zu ver‑
schaffen, das Bacon als Physiker und Metaphysiker voraussetzt.
Die Methodenlehre muss eine Wendung erfahren, die ihrer a n ‑
fänglichen Konzeption widerstreitet, damit sie den Aufgaben zu
genügen vermag, die i h r durch Bacons F o r m e n l e h r e gestellt
werden.

I.
D i e Formenlehre.
In seinem methodischen Erstlingswerk geht Descartes von
einer Forderung aus, die in ihrer äusseren Fassung durchaus an
die Aufgabe erinnert, die B a c o n seiner Metaphysik gestellt hat.
Es gilt, die zusammengesetzten Dinge durch fortschreitende Ana‑
Iyse in die „einfachen Naluren* zu zerlegen, aus denen sie be‑
stehen und sich die Regel deutlich zu machen, nach welcher sie
122 j Bacon.

sich aus ihnen aufbauen. Sogleich aber tritt zu diesem Satze


eine wichtige Einschränkung hinzu: die Dinge sollen in Klassen
geteilt werden, „nicht sofern sie sich auf irgend eine Art des
Seins beziehen, wie die Philosophen es in ihren Kategorien
unterschieden haben, sondern sofern die einen aus den anderen
e r k a n n t w e r d e n können“. Die Grundbegriffe, auf die das Car‑
tesische Verfahren hinführt, sind somit Begriffe, wie die des
G l e i c h e n und U n g l e i c h e n , des Geraden und K r u m m e n ,
der U r s a c h e und der W i r k u n g : e s sind, m i t einem Worte,
durchweg mathematische oder physikalische B e z i e h u n g s - u n d
Verhbältnisbegriffe.123) Bei Bacon dagegen nimmt die Analyse
einen anderen Weg. Was die Natur uns darhietet, das ist eine
Mannjgfaltigkeit von E i n z e l d i n g e n und ihren konkreten sinn‑
lichen Eigenschaften. W i r können diese Zusammenfassung
von Merkmalen nicht versteben, wenn wir nicht jedes einzelne
zuvor in seiner eigentümlichen Wesenheit erforscht haben. Jeder
besondere Gegenstand ist n u r eine Vereinigung und Anhäufung
verschiedener einfacher Naturen, ‐ wie sich z. B. im Gold die
Eigenschaften des „Gelbseins* und der Schwere, der Dehnbarkeit
und der Härte u. s. f. zusammenfinden. Erst derjenige, der die
innere Beschaffenheit jeder dieser Naturen erfasst, der verstanden
hat, welche allgemeine Qualität einen Körper gelb oder hart,
schwer oder dehnbar macht, wird imstande sein, das Gold wahr‑
haft zu begreifen und ‐ hervorzubringen.!t) Der Mangel der
scholastischen Denkweise besteht somit, nach Bacon, nicht darin,
dass sie derartige allgemeine Qualitäten überhaupt setzt und a n ‑
nimmi; sondern darin, dass sie sogleich auf die Wesenheit
empirischer Einzelobjekte ausgeht, dass sie v o n der Form des
Löwen, des Adlers, der Rose spricht, ehe sie die verschiedenen
Bestandstücke, die in i h r vereint sind, berausgesondert und f ü r
sich untersucht hat.5) Das Innerste der Natur, die „viscera
naturae“ erschliessen sich uns, w e n n w i r die Grundqualitäten,
die im Stofle wirksam sind, nicht bloss in den besonderen K ö r ‑
pern aufsuchen, wo sie immer m i t fremden und zufälligen Be‑
schaffenheiten untermischt sind, sondern sie als solche und los‑
gelöst erkennen.!d) Wenn bei Descartes die Zerlegung in Be‑
griffen, wie Zahl und Gestalt, Gleiches und Ungleiches endet, so
führt sie hier auf fundamentale dingliche Eigenschaften, auf
Die Form der Wärme. 128

Gegensätze, wie das „Warme“ und das „Kalte“, das „Dichte“ und
das „Dünne“ zurück.
Die bekannte Untersuchung, die Bacon im „Neuen Organon‘
durchführt, um die Natur der W ä r m e zu bestimmen, liefert das
deutlichste und markanteste Beispiel f ü r diese Grundanschauung.
We n n wir, vom Standpunkt der modernen physikalischen Auf‑
fassung, erwarten würden, dass Bacon, um sein Problem zu lösen,
v o r allem den Bedingungen nachginge, unter denen Wärme ent‑
s t e h t : so sehen wir, dass seine erste Bemühung vielmehr darauf
gerichtet ist, sich aller Fälle zu versichern, in denen die Wärme,
als eine konstante Eigenschaft, v o r h a n d e n i s t . Die „Form“ der
Wärme ist cin feststehendes dinglichesEtwas, das bier instärkerem,
dort in geringerem Masse, hier versteckter, dort deutlicher in
einer bestimmten Einzelerscheinung hervortrit:. Aus diesem
logischen Gesichtspunkte folgt das Verfahren, das Bacons Natur‑
philosophie einschlägt, mit zwingender Konsequenz. Wenn bier
-- wie L i e b i g es drastisch geschildert hat!’) ‐ unter die „affir‑
mativen Instanzen“ der Wärme die Sonnenstrahlen, das Vitriolöl
und frische Pferdeäpfel eingereiht werden, während auf der anderen
Seite als Fälle der Abwesenheit von Wärme die Mondstrahlen,
die kalten Blitze und das St. Elmsfeuer notiert werden: so ent‑
springt ein derartiges Verfahren, so seltsam es uns erscheinen
will, doch aus der ersten Voraussetzung der Baconischen In‑
duktion. Was Wärme ist, das können w i r danach in der Tat
nicht anders ermitteln, als indem w i r sämtliche ‐ w a r m e n
D i n g e zusammenstellen und das gemeinsame Merkmal, das
ibnen anhaftet, durch „Abstraktion“ herausziehen. Wenngleich
daher die „Formen“ v o n Bacon auch als die Gesetze der Dinge be‑
zeichnet und somit scheinbar in die Nähe des Grundbegriffs der
modernen Naturwissenschaft gerückt werden, so offenbart sich
doch gerade an diesem Punkte der unüberbrückbare Gegensatz
der Betrachtungsweisen. Wollte m a n nach Baconischer Methode
daran gehen, etwa die Natur der Fallbewegung zu ergründen, so
müsste m a n damit beginnen, alle fallenden K ö r p e r iin verschiedene
Klassen zu teilen, um diese dann gesondert zu beobachten und
die Eigenschaft, in der sie übereinstimmen, für sich herauszu‑
heben. W i r erinnern uns, dass i n der Ta t die A r i s t o t e l i s c h e n
Gegner Galileis diesen Weg vorschlugen und forderten. Nicht
124 Bacon.

von einer allgemeinen mathematischen Beziehung ‐ so verlangten


sie ‐ solle ausgegangen werden, sondern von den inneren sub‑
stantiellen Unterschieden der „Subjekte“, die in Bewegung be‑
griffen sind. (Vgl. Bd. I, S. 292 f.) Bacon wurzelt, wie sehr er
sich von den einzelnen Ergebnissen der Aristotelischen Physik
entfernt haben mag, dennoch noch durchaus in dieser selben
Grundanschauung. Er kennt nichts anderes, als Dinge und i h r e
Eigenschaften: und diese Einengung des logischen Horizonts ist
es, die jede freie und originale Entwicklung seiner Naturlehre
von Anfang an ausschliesst. ‑
F ü r die Einsicht in die gedanklichen Grundmotive der
Geschichte des Erkenntnisproblems bildet daher. Bacons Lehre
an dieser Stelle eine geradezu unschätzbare „negative Instanz“.
Hier wird es unmittelbar deutlich, dass aller Fortschritt im
E i n z e l n e n nicht genügen konnte, ehe nicht eine fundamentale
Umwandlung der D e n k a r t erreicht war. Alle Mängel und
Irrtümer, die selbst die überzeugtesten Anhänger der Baconi‑
schen Philosophie seiner Methode von jeher vorgehalten
haben, quellen aus diesem einen Punkt: aus seinem Verbarren
in der substantiellen Weltansicht. Noch einmal vertritt er alle
diejenigen philosophischen Voraussetzungen, in deren Bekämpfung
die moderne Wissenschaft sich selber und ihre eigene Aufgabe
entdeckt hatte. W i r erinnern uns, wie der erste Schritt f ü r
G a l i l e i und K e p l e r darin bestand, die absoluten Gegensätze
der Ontologie in quantitative Unterschiede, in ein „Mehr u n d
Weniger“ aufzulösen (Vgl. I, 268 f. u. 334). F ü r Bacon dagegen
gelten das W a r m e und Kalte, das F e u c h t e und T r o c k e n e
noch durchaus als selbständige „Naturen“, zwischen denen keine
Vermittlung und Gradabstufung statthat. Wie es Körper gibt,
die an sich warm, so gibt es andere, die an sich kalt sind. D i e
r e l a t i v e n Differenzen, die die Empfindung uns anzeigt, werden
zu inneren unbedingten Unterschieden der Sachen umgedeutet;
die verschiedene Fähigkeit der W ä r m e l e i t u n g , die den Körpern
eignet, gibt Anlass, zwei entgegengesetzte absolute Qualitäten in
ihnen anzunehmen.!?) Wenn es ferner e i n Hauptzug der maihe‑
matisch-naturwissenschaftlichen Theorie ist, dass in i b r zuerst
die Unendlichkeit und die prinzipielle Unabschliessbarkeit
alles Erfahrungswissens entdeckt wird, so bleibt Bacon auch h i e r
Formbegriff und Gesetzesbegriff. 125

in der mittelalterlichen Anschauung befangen. Nicht nur, dass


eine beschränkte, geringfügige Anzahl von Formen genügen soll,
durch Mischung und Kombination die gesamte Fülle der Er‑
scheinungen aus sich zu entwickeln; sondern auch das Ganze der
Phänomene selbst gilt überall als ein begrenzter Inbegriff, der
sich dereinst durch fortgesetzte Beobachtung werde erschöpfen
lassen. In dieser Ansicht liegt das Charakteristische und Unter‑
scheidende für Bacons Begriff der Induktion. Dass die „Induktion“
zu den schlechthin a l l g e m e i n e n Eigenschaften der Dinge, dass
sie z u r Entdeckung ihrer letzten Wesenheiten fortschreiten könne:
das ist i h m kein Widerspruch, weil er die Natur und die Gegen‑
stände der Natur von vornherein als ein in sich abgeschlossenes
Gebiet betrachtet, das sich vollkommen überblicken und in seinen
einzelnen Gliedern abzäblen lässt.!9)
M i t dieser Ansicht hängt weiterhin der andere Grundzug der
Baconischen Erfahrungslehre: die völlige Tr e n n u n g v o n Be‑
o b a c h t u n g u n d T h e o r i e innerlich zusammen. Die Geschichte
der Phänomene geht, dem allgemeinen Entwurf der Metbode
nach, voraus; erst wenn sie vollendet ist, beginnt die Aufgabe
der theoretischen Zergliederung. So gilt als das Fundament
jeglicher Pbilosopbie eine Disziplin, die lediglich die Einzel‑
beobachtungen r e g i s t r i e r t , sich aber jeden Versuchs, sie be‑
grifflich zu deuten und zu ordnen, noch völlig enthält. In
der Ta t : w e n n die Erscheinungen ein endliches Ganze bilden, das
sich durch einfache Aufreihung u n d Nebeneinanderstellung der
Elemente erschöpfen lässt, so scheint jede leitende M a x i m e der
Induktion, jede Ueber- und Unterordnung nach logischen Ge‑
sichtspunkten entbehrlich zu werden. Der eigentlichen em‑
pirischen W i s s e n s c h a f t dagegen ist e s wesentlich, dass sie den
Inbegriff ihrer gedanklichen Grundmittel nicht etwa n u r zur
Bearbeitung f e r t i g e r Tatsachen verwendet, sondern’ dass sie i h n
bereits zur F e s t s t e l l u n g des Einzelfaktums braucht. Was als
„Tatsache“ zu gelten hat, das steht i h r nicht v o n Anfang an fest,
sondern muss erst auf Grund theoretischer Kriterien ermittelt und
entschieden werden. Bacon dagegen kennt auf der einen Seite
n u r die einfache Konstatierung des Phänomens; auf der anderen
und völlig losgelöst davon, dessen philosophisch-spekulative
Deutung und Verwertung. Die Art, in der er in seinem natur‑
126 Bacon.

philosophischen Hauptwerk, der „Sylva sylvarum“* das M a t e r i a l


zu seinen Induktionen herbeischafft, muss auf den ersten Blick
völlig unbegreiflich scheinen. Von überallher trägt er es zu‑
sammen: bald ist es eine eigene gelegentliche Beobachtung, bald
eine Bemerkung in einem naturwissenschaftlichen Werk oder
einer Reisebeschreibung, bald eine Behauptung, die er v o m
Hörensagen kennt, die alle er ohne nähere Kontrolle hinnimmt.
Sein eigenes Interesse haftet nicht an der Feststellung und B e ‑
w ä h r u n g aller dieser angeblichen „Tatsachen’, sondern es be‑
ginnt erst, wo es sich um i h r e „Erklärung“ handelt. So konnte
es Bacon begegnen, nach den physischen G r ü n d e n einer E r ‑
scheinung zu forschen, die ‐ wie der Stillstand oder Rückgang
der Planeten ‐ gar keine objektive W i r k l i c h k e i t besitzt,
sondern sich bei schärferer Analyse in einen blossen optischen
Schein auflöst.?) Erst nachdem die Fakta gesammelt und auf‑
gereiht sind, setzt die Arbeit der Tbeorie ein. Bacons Induktion
stellt sich lediglich die Aufgabe, aus Phänomenen, die als fest‑
stehend und gegeben betrachtet werden, die reinen Formen und
Wesenheiten herauszudestillieren: die Methode dagegen, kraft
deren die Wirklichkeit der einzelnen Erscheinung selbst ver‑
bürgt und erwiesen werden kann, fällt ausserhalb ihres Gesichts‑
kreises. Dieser Zug v o r allem mag es gewesen sein, der die
grossen empirischen Forscher, die in Bacons nächster Umgebung
lebten, so völlig von ihm getrennt hielt. Sie alle mochten gegen‑
über seiner schnellfertigen Art, die Tatsachen zusammenzuraffen,
die Empfindung haben, die Harvey in einem scharfen und witzigen
Wort ausgesprochen hat: „ e r betreibt die Naturlehre, wie ein
Lordkanzler.“2&)
Wiederum aber gilt es hier, die Mängel des Baconischen
Verfahrens nicht lediglich im einzelnen zu betrachten, sondern
sie aus der G r u n d k o n z e p t i o n , von der Bacon seinen Ausgang °
nimmt, zu begreifen. Der Weg, den Bacons Denken durch‑
messen hat, lässt sich jetzt bereits in seinen verschiedenen Phasen
überschauen. Die Notwendigkeit einer Verstandeskritik: das
w a r die moderne und fruchtbare Forderung, v o n der er seinen
Ausgang nahm. Aber m i t dieser Forderung des Logikers t r a f
jener andere Gesichtspunkt zusammen, der, wie w i r sahen, vor
allem aus dem technischen Interesse an der Unterwerfung und
Der Charakter der Baconischen Induktion. 127

Beberrschung der Natur entsprang. Was der Sinn, was das reine
Denken zu unserem objektiven Bilde der Wirklichkeit beiträgt,
das sollte nicht lediglich kritisch herausgelöst und e r k a n n t ,
sondern es sollte zugleich aufgehoben und vernichtet werden,
wenn anders w i r die Natur in ihrem innersten unbedingten Sein
besitzen wollten. Die metaphysischen Grundkräfte des Wirk‑
lichen können w i r ‐ so scheint es ‐ nicht anders gewinnen,
als dadurch, dass w i r in unserem Denken alles auslöschen, was
i h m selber und seiner eigentümlichen Gesetzlichkeit angehört.
Aber indem Bacon auf diese Weise der echten, positiven Leistung
des „Intellekts“ widerstrebte, ‐ indem er sie, statt sie in ihrer
Bedingtheit zu verstehen und anzuerkennen, vielmehr auszutilgen
suchte, ist cr damit n u r um so mehr der unbewussten Illusion
des Begriffs erlegen. W i r sahen bereits, wie sich i h m die rela‑
tiven Gradunterschiede der E m p fi n d u n g zu absoluten Gegen‑
sätzen in den Körpern verwandelten. Und einer analogen Wand‑
lung und Umdeutung verdanken alle die „reinen Formen“, die
für Bacon die Summe der echten Wirklichkeit ausmachen, ihre
Entstehung. W i r gelangen zu ihnen, indem wir eine bestimmte
Qualität, die uns in den Erscheinungen in wechselnder Stärke
und untermischt mit anderen Merkmalen entgegentritt, für sich
herausgreifen und gesondert betrachten. Die Form des Lichtes
oder der Wärme ist dasjenige, was allen leuchtenden oder warmen
Körpern, so sehr sie sich sonst von einander unterscheiden
mögen, gemeinsam ist. Dass die Fixierung, dass die Setzung
jeder solchen Gemeinsamkeit selbst nichts anderes, als das E r ‑
gebnis eines l o g i s c h e n Prozesses ist: diese Einsicht bleibt
Bacon versagt. Der abstrakte Gattungsbegriff einer Erscheinung
wird i h m z u m Urgrund und Quell der Sache selbst: die „diffe‑
rentia vera“ ist zugleich die „natura naturans“ und der „fons
emanationis“.%) So ist der Formbegriff selbst nichts anderes,
als das Produkt einer falschen Projektion, vermöge deren w i r
das „Innere“ z u m „Aeusseren“ machen. Er ist, wenn irgend‑
einer, ein I d o l des Geistes, das sich an die Stelle der Objekte
schiebt. Bacon selbst sucht einen sicheren Unterschied zwischen
„Idolen“ u n d „Ideen“ zu gewinnen, indem er jene als Schöpfungen
des menschlichen, diese als Erzeugnisse des göttlichen Geistes
betrachtet. „Jene sind nichts anderes, als willkürliche Abstrak‑
1128
28 Bacon.
Bacon .

tionen,
tionen, diesediese dagegen
dagegen die die wahren Siegel, die der Schöpfer
wahren Siegel, Schöpfer seinen seinen
Werken aufdrückt, und
Werken aufdrückt, die in der Materie
und die Materie durch durch wahre wahre und und
scharf
scharf bestimmte
bestimmte Linien ausgeprägt und
Linien ausgeprägt und bezeichnet sind.“?) s i n d .«28) W i e
aber vermöchten wir
aber vermöchten einen Weg
wir einen Weg zu diesen produktiven
zu diesen produktiven U r‑
Ur-
gedanken zu
gedanken zu finden,
finden, wenn wenn dochdoch aalle Inhalte unseres
l l e Inhalte unseres Denkens Denkens
n u r für uns
nur selbst, nicht
uns selbst, ü r das U
nicht ffür n i v e r s u m Wert
Universum Wert und und Bedeu‑Bedeu-
tung haben sollen?
tung haben sollen? Bacon Bacon hat hat sich
sich der Notwendigkeit, das „All‑
der Notwendigkeit, „All-
gemeine“ auf
gemeine" auf irgend
irgend einem einem WegeWege wiederum einzuführen und
wiederum einzuführen und
anzuerkennen,
anzuerkennen, nicht nicht entziehen können; aber da
entziehen können; da er das Bewusst‑
er das Bewusst-
sein zur „leeren
sein „leeren Tafel“ gemacht hatte,
Tafel" gemacht hatte, so so vermochte er er iihmh m nnur ur
ddurch die transzendente
u r c h die transzendente göttliche Substanz Halt
göttliche Substanz Halt und und Bestand
Bestand zu zu
geben.
geben
Alle Schwierigkeit, alle
Alle Schwierigkeit, innere Zwiespältigkeit der Baconi‑
alle innere Baconi-
schen Philosophie
schen Philosophie tritt an a n diesem
diesem einen P u n k t e : an
einen Punkte: a n demd e m Ver‑ Ver-
hältnis,
hältais, in in welches
welches sie sie das
das „Allgemeine“
„Allgemeine" und und das „Besondere*
„Besondere"
setzt, deutlich
setzt, deutlich hervor.hervor. Die Die erste
erste zunächst
zunächst allein allein sichtliche
sichtliche Ten‑ Ten-
denz geht
denz geht darauf,
darauf, das das mittelalterliche
mittelalterliche System System der abstraktenabstrakten Be‑ Be-
griffe zu
griffe stürzen: die
zu stürzen: die Natur soll nicht
Natur soll länger „abstrabiert“,
nicht länger „abstrahiert", sondern sondern
„seziert*
„seziert d. d. h.
h. in ihre realen
in ihre realen Elemente
Elemente und und Kräfte zerlegt werden.t)
Kräfte zerlegt werden.2)
wollen nicht,
Wiri r wollen
W nicht, wie wie es es bisher geschehen, die Welt
bisher geschehen, Welt in die Enge Enge
des Verstandes
des einzwängen, sondern
Verstandes einzwängen, sondern den Verstand in die freien
den Verstand freien
Weiten der
Weiten Wirklichkeit hinausführen.2)
der Wirklichkeit hinausführen.2) \Wenn We n n indessen
indessen damit
die Beobachtung und
die Beobachtung und Beschreibung
Beschreibung des des E i n z e l n e n als die
Einzelnen die wahre
wahre
Aufgabe
Aufgabe der der Forschung
Forschung proklamiert
proklamiert erscheint,
erscheint, so so werden
werden w wirir
durch den
durch den Fortgang
Fortgang der der Methode
Methode eines e i n e s anderen
a n d e r e n belehrt.
b e l e h r t . DasDas
Einzelne
Einzelne lässt lässt sich nicht erkennen,
sich nicht erkennen, wenn wenn nicht zuvor die
nicht zuvor die „allge‑
„allge-
meinen"
meinen“ Naturen begriffen sind.
Naturen begriffen sind. Es Es istist vergebliche
vergebliche Mühe, Mühe, nach nach
der F o r m des Löwen,
der Form des Löwen, der Eiche, des Goldes,
der Eiche, des Goldes, ja auch des Was-
auch des Was‑
sers oder
sers oder der der LLuft u f t fragen,
fragen, wennwenn m man a n nicht zuvor die
nicht zuvor die Formen
Formen
Dichten und
des Dichten und Dünnen,
Dünnen, des Warmen und
des Warmen und Kalten,
Kalten, des des Schweren
Schweren
und Leichten, des
und Leichten, Festen und
des Festen Flüssigen erforscht
und Flüssigen erforscht hhat.°) a t . ) Nicht Nicht
tatsächlich Einzelgegenstände, sondern
tatsächlich vorhandene Einzelgegenstände, sondern diese abstrak‑ abstrak-
Qualitäten sind
ten Qualitäten
ten sind es es somit,
somit, mii tt denen
denen die wissenschaft-
die echte wissenschaft‑
Physik es
liche Physik
liche es zuzu tunt u n hat.
hat. DerDer Widerstreit aber, aber, der sich sich bier bier
gegen den
gegen den ersten Ansatz ergibt,
ersten Ansatz ergibt, ist ü r Bacon
ist ffür dadurch verdeckt,
Bacon dadurch verdeckt,
dass er
dass er dieses
dieses „Allgemeine“
„Allgemeine" alsbald alsbald selbst selbst wiederum
wiederum zu zu einemeinem
D ii n g l i c h eenn undund K Ko n k r e t eenn macht.
macht. Die Die obersten Bestimmun-
obersten Bestimmun‑
gen, zu
gen, denen seine
zu denen seine Physik
Physik aufsteigt,
aufsteigt, sind sind - ‐ wie er von von ihnen ihnen
Die Ermittlung der Grundbegriffe. 129

r ü h m t ‐ zwar höchst „allgemein“, dennoch aber nicht b e g r i f f ‑


l i c h e r Natur, sondern durchaus bestimmt und somit ein v o n
N a t u r F r ü b e r e s : „ea y e r o generalissima evadunt n o n notiona‑
l i a , sed bene terminata et talia quae natura ut revera sibi noti‑
ora agnoscat quaeque rebus haereant in medullis.* ®”) Aber m a n
erkennt zugleich, dass die Gegensätze, die Bacon hier ins innerste
Mark der Dinge verlegt, ihre wahre Stelle vielmehr in der Sprache
u n d ihren populären Abgrenzungen u n d Unterscheidungen besitzen.
Die sprachlich getrennten Eigenschaften, wie das „Schwere“ und
„Leichte“, sind zu widerstreitenden Kräftewesen geworden. So
verfällt Bacons Metaphysik demselben Irrtum, den seine Er‑
kenntnislehre unter dem allgemeinen Titel der „idola fori“ kri‑
tisiert hatte. Die B e g r i f f s b e s t i m m u n g der „einfachen Natu‑
ren“, die Auswahl der Gesichtspunkte, kraft welcher w i r die
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen unter bestimmte Einheiten
fassen und ordnen, entbehrt selbst jeglicher festen, wissenschaft‑
lichen Regel. Und es scheint, als sei Bacon sich dieser gefähr‑
lichsten Klippe, die seiner „Methode“ drohte, hie und da selbst
bewusst geworden. W i r können ‐ wie er ausdrücklich betont
‐ der Gültigkeit eines Induktionsschlusses, so viele Fälle er
auch durchlaufen haben mag, doch niemals sicher sein, solange
wir nicht „gute und wahre Begriffe von allen einfachen Naturen
besitzen“; gerade diese aber können nicht den Anfang, sondern
allenfalls das Ende und das Schlussergebniss des empirischen
Verfahrens bilden. „Daher wollen wir, die w i r uns der Grösse
unseres Unternehmens, den menschlichen Verstand den Dingen
und der Natur völlig gewachsen zu machen, bewusst sind, a u f
keine Weise bei den bisher entwickelten Vorschriften stehen
bleiben, sondern die Frage weiter führen und auf stärkere Hilfs‑
mittel des Verstandes sinnen.“ 2°) Eben dieser Aufgabe aber hat sich
Bacons Philosophie als Ganzes nicht gewachsen gezeigt: es fehlt
i h r an einem Mittel, das uns in den Stand setzte, Begriffe, statt
sie lediglich aufzugreifen und zu combinieren, im echten theo‑
retischen Sinne erst z u b e g r ü n d e n und f e s t z u s t e l l e n . 2°)
Und noch an einem anderen wichtigen Punkte zeigt es sich,
dass das Verhältnis zwischen dem „Allgemeinen“ und „Besonde‑
r e n “ in Bacons Lehre nicht zur Klarheit gelangt ist. Auch Ba‑
c o n fordert eine allgemeine Grundwissenschaft, die nicht v o n
8
180 - . Bacon.

den inneren Gründen des Seins, sondern v o n den relativen Be‑


dingungen, unter denen die Gegenstände v o n uns e r k a n n t wer‑
den, handeln soll. Diese „erste Philosophie* erstreckt sich so‑
m i t nicht auf die fundamentalen Eigenschaften der Dinge, sondern
auf correlative Begriffsgegensätze, wie Viel und Wenig, Iden‑
tität und Verschiedenheit, Möglichkeit undUnmöglichkeit. Weiter‑
h i n aber soll sie diejenigen A x i o m e enthalten, die nicht irgend
einer Einzelwissenschaft eigentümlich zugehören, sondern v o n
mehreren verschiedenen Disciplinen gemeinsam g e l t e n . ) So
gilt z. B. der Satz, dass zwei Grössen, die einer dritten gleich
sind, untereinander gleich sind, in der Mathematik so gut
wie in der Logik; so bewährt sich die Tatsache, dass eine a n ‑
steckende Krankheit leichter übertragbar ist, wenn sie noch im
Zunehmen begriffen ist, als wenn sie ihren Höhepunkt bereits
erreicht hat, in der Medicin sowohl, wie in der Moral. Dass
die Kraft jedes tätigen Wesens sich im Widerstreit gegen seinen
Gegensatz verstärkt, ist eine Regel, die sowohl für jedes physi‑
kalische Gescheben, wie für den politischen Kampf der Parteien
gilt; ‐ dass eine aufgelöste Dissonanz uns lustvoll berührt, zeigt
sich sowohl in der Musik, wie im Spiel unserer Affekte und
Leidenschaften. 3) Selbst ein so unbedingter und kritikloser
Bewunderer von Bacons Lehre, wie Macaulay, ist vor diesen
Sätzen stutzig geworden. Die Vergleiche, die hier angeführt
werden ‐ so urteilt er ‐ sind sehr glückliche Vergleiche; aber
dass ein Mann wie Bacon sie f ü r etwas mehr, als ein Spiel des
‚Witzes, dass e r sie für einen wichtigen Te i l der P h i l o s o p h i e
halten konnte: das w i l l i h m als „eine der sonderbarsten Tat‑
sachen der Geistesgeschichte“ erscheinen.?2) Und dennoch
lässt sich auch dieser Zug aus der logischen Struktur des Ge‑
samtsystems verstehen. Der Platz, der dem „Allgemeinen“ im
Ganzen der Erkenntnis zukommt, ist durch die dinglichen
„Qualitäten* ausgefüllt: wenn das Denken es jetzt unternimmt,
allgemeine W a h r h e i t e n und A x i o m e zu entwerfen, so sind
diese von Anfang an i h r e r eigentümlichen Bedeutung beraubt
und müssen zu rhetorischen Gemeinplätzen verkümmern.
So zeigt der Entwurf der „Philosophia prima“ noch einmal
den Widerstreit im hellsten Licht, der zwischen dem Z i e l , das
Bacons Lehre sich steckt und den M i t t e l n besteht, m i t denen
Die „Philosophia prima“. 181

sie es zu erreichen gedenkt. Man wird gegen Bacon ungerecht,


wenn m a n die Mängel seiner P h y s i k n u r im Einzelnen ver‑
folgt und bezeichnet, statt sie aus diesem Grundgegensatz zu
begreifen. In der ersteren Hinsicht, in der Formulierung der
neuen, wissenschaftlichen Aufgabe ist Bacon in der Tat der
„Herold“ seiner Zeit geworden. Er hat, was sie ersehnte und
woran sie m i t stiller Beharrlichkeit arbeitete, z u m energischen
und wirkungsvollen Ausdruck gebracht. Die n e u e W e r t ‑
schätzung des p h y s i s c h e n u n d e m p i r i s c h e n Seins ist es,
die seinen Worten Gewicht und Pathos verleiht. Kein Objekt,
so geringfügig und niedrig es uns erscheinen mag, kann für
die Aufgabe des Wissens zu klein sein: erleuchtet doch die
Sonne, so gut wie die Paläste, auch die Kloaken, ohne dadurch
etwas v o n ihrer eigenen Helle und Reinheit zu verlieren. Die
echte Philosophie strebt nicht danach, einen Prunkbau von Gold
und Edelsteinen aufzuführen, sondern sie w i l l einen Tempel im
menschlichen Geiste errichten, der in allen Stücken dem Vor‑
bilde des Universums äbnlich ist. Was immer des Seins ge‑
würdigt worden ist, ist daher auch wert, gewusst zu werden:
da das Wissen nicht mehr ist, als ein Bild des Seins. ®) In der
Grundtendenz, die sich in diesen Worten ausspricht, in der
Hinwendung und Liebe zu der Besonderung des empirischen
Seins, erweist sich Bacon den grossen wissenschaftlichen Den‑
kern der Renaissance verwandt. Den Weg aber, der zu der ge‑
danklichen Beherrschung des Einzelnen hinführt, muss er ver‑
fehlen, da sein Denken noch völlig in dem allgemeinen B e g r i ff s ‑
system der Scholastik befangen ist. So nahe er sich in den
Zielen, die er seiner Forschung stellt, m i t der modernen Wissen‑
schaft berührt, so fremd bleiben i h m die neuen gedanklichen
Instrumente, m i t denen sie arbeitet.
Deutlich t r i t t diese Mittelstellung bereits in seiner B e g r i f f s ‑
b e s t i m m u n g d e r P h y s i k zutage. E r vertritt u n d begründet
den Gedanken, dass w i r die Dinge nicht in ihrem Sein, sondern
in ihrem W e r d e n erfassen müssen, dass nicht ihre Substanz,
sondern ihre Bewegung daseigentliche Objekt der Untersuchung
bildet. Als der Grundfehler der gewöhnlichen Betrachtungsweise
gilt es ihm, dass sie die Gegenstände n u r oberflächlich in einzelnen
bestimmten Phasen ihres konkreten Daseins ergreift, statt sie
gr
182 Bacon.

stetig durch alle Stufen ihrer Entwicklung zu verfolgen. Sie


zerlegt die Natur in isolierte Stücke, sie seziert sie, wie einen
Leichnam, statt in ihre lebendigen bewegenden Kräfte einzu‑
dringen.%) Im Gegensatz zu dieser Auffassung soll die Materie
i n dem ‘bunten W e c h s e l i h r e r G e s t a l t u n g , i n ihren „sche‑
matismi“ und „metaschematismi“ den realen Vorwurf der Physik
bilden. Alle „Formen“, die sich nicht in der Materie selbst auf‑
zeigen lassen, die sich nicht durch ihre Wirksamkeit innerhalb
dieser Welt der stofflichen Veränderungen bekunden, sind als
leere Fiktionen zu verwerfen.®#) W i r d somit hier alle Wirklich‑
keit der Natur in Bewegung aufgelöst, so ist doch der Stand‑
punkt der wissenschaftlichen M e c h a n i k damit keineswegs er‑
reicht: denn eben in der Deutung der Bewegungserscheinungen
selber hat Bacon noch nirgends die Auffassung überwunden, die
die Aristoteliker und mystischen Naturphilosophen der Zeit gegen
Kepler und Galilei einnahmen. Auch i h m ist die Bewegung
durchaus eine innerliche absolute Eigenschaft der Dinge und
wird von qualitativen Gegensätzen beherrscht und geleitet.
Hass und Liebe, Sympathie und Antipathie sind es, die i h r Art
und Richtung vorschreiben. So ist i h m die allgemeine begriff‑
liche Fixierung, geschweige die mathematische Behandlung der
Bewegung als O r t s v e r ä n d e r u n g noch völlig fremd. J e nach
der Art des innerlichen Antriebs, v o n dem sie ausgehen, unter‑
scheidet er neunzehn verschiedene Klassen v o n Bewegungen,
deren jede einem andern Prinzip untersteht. Neben dem „Motus
Antitypiae“, der aus dem Streben der Materie, ihren Ort zu be‑
haupten, hervorgeht, kennt er einen „Motus fugae“, der dann
entsteht, w e n n zwei entgegengesetzte und feindliche Körper sich
v o n einander zu entfernen trachten. Weiter w i r d dann v o n der
„Bewegung der grösseren Ansammlung“ (motus congregationis
majoris), kraft deren die Teile der schweren Massen zueinander‑
streben, die „Bewegung der kleineren Ansammlung‘ (motuscon‑
gregationis minoris) unterschieden, infolge deren der Rahm sich
auf der Oberfläche der Milch, die Hefe auf dem Wein sich
sammelt: „denn auch dies geschieht nicht lediglich dadurch,
dass die einen Teile infolge ihrer Leichtigkeit in die Höhe streben,
die andern infolge ihrer Schwere sich nach unten neigen, sondern
es beruht weit mehr auf dem Wunsch des Gleichartigen, sich
Physik und Astronomie. 133°

miteinander zu verbinden.‘‘%®) W i r sind den gleichen Sätzen bei


Männern, wie F r a c a s t o r o oder Te l e s i o begegnet, m i t deren
Denkweise Bacon hier in einem allgemeinen Zuge zusammen‑
trifft. W i e sie, strebt er danach, den Zweckbegriff aus der Natur‑
betrachtung auszuscheiden und die „Formen“ zu bewegungs‑
erzeugenden K r ä f t e n zu wandeln; aber noch weniger als sie
vermag er in der speziellen Erklärung der Erscheinungen blossen
a n t h r o p o m o r p h i s t i s c h e n Vergleichen z u entgehen.)
Es ist vor allem. die Astronomie, an der diese Stellung
sich deutlich bekundet. Nicht dass Bacon das Copernikanische
Weltsystem verworfen, sondern seine Beurteilung des m e t h o ‑
d i s c h e n Ve r f a b r e n s der neueren Astronomie ist hier ent‑
scheidend. Als die erste Forderung der „lebendigen“ Himmels‑
kunde, die sich nicht damit begnügen darf, die Bewegungen der
Gestirne zu beschreiben, sondern die ihre ersten physischen
Gründe aufdecken soll, wird von i h m der Satz aufgestellt, dass
wir die Pbänomene am Himmel überall auf „primäre und uni‑
verselle Axiome über die einfachen Naturen‘“ (ad primaria illa
et catholica axiomata de naturis simplicibus) zurückführen sollen.
„Niemand darf hoffen, die Frage, ob der Himmel oder die Erde
in täglicher Umdrehung begriffen ist, zu lösen, wenn er nicht
zuvor die N a t u r der spontanen Kreisbewegung begriffen hat.‘ 3)
Diesen Sätzen des „Novum Organon“ liesse sich ein Sinn geben,
der sie den Anschauungen der modernen Forschung verwandt
erscheinen liesse: hatte doch auch K e p l e r die Entscheidung
über die Frage der Erdbewegung zuletzt in allgemeinen p h y ‑
s i k a l i s c h e n P r i n z i p i e n gesucht. (Vgl. Bd. I , S . 263 f.) Aber
es ist bezeichnend, welche Aufklärung m a n schliesslich bei Bacon
über das Wesen der spontanen Rotation erhält. Er versteht
darunter ‐ wie er an einer späteren Stelle erklärt ‐ eine Be‑
wegung, kraft deren Körper, die an der Bewegung ihre Freude
haben und die sich an ibrem gehörigen Orte befinden, i h r e
eigene N a t u r geniessen, eine Bewegung, m i t der sie n u r sich
selbst, nicht einem anderen folgen und in der sie gleichsam sich
selber zu umfassen trachten. Denn die Körper ruhen entweder,
oder sie streben einem bestimmten Ziel zu, oder endlich sie
schreiten ohne ein festes Ziel fort. „Was sich n u n an seinem
rechten Platze befindet, das bewegt sich, sofern es an der Be‑
184 Bacon.

wegung seine Freude hat, im Kreise, weil dies allein eine ewige
und unendliche Bewegung ist. Was sich an seinem rechten
Platze befindet, zugleich aber die Bewegung verabscheut, ver‑
harrt in Ruhe, während schliesslich das, was nicht an seinem
gehörigen Orte ist, sich in gerader Linie zu seinen Genossen
hinbewegt.‘“®) Als den Grundmangel der bisherigen Astronomie
sieht Bacon es daher an, dass sie n u r äusserlich die „Maasse und
Perioden“ der Himmelsbewegungen, nicht aber ihre „wahren
Differenzen“ bestimmt habe,‘) die f ü r i h n in den verschieden‑
artigen inneren Strebungen und Neigungen der bewegten Sub‑
jekte bestehen. Wer in dieser Fragestellung verharrte, der
musste den Weg zur exakten W i s s e n s c h a f t der Natur not‑
wendig verfehlen. Bacon ist einer Gefahr erlegen, die er selbst
klar genug bezeichnet hat. Er selbst ist es, der fort und fort
betont, dass nicht die „fruchtbringenden“, sondern die „licht‑
bringenden“ Experimente es sind, die vorerst und vor allen
andern zu suchen sind. Wer statt auf die theoretische Aufliellung
eines Gebiets von Naturerscheinungen stets n u r auf den nächsten
Nutzen ausgeht, dem geht es, wie der Atalante, die um den Sieg
im Wettlauf betrogen wurde, weil sie sich bückte, um die
goldenen Aepfel zu ihren Füssen aufzusammeln. Dieser Vergleich
trifft auf seine eigene Lehre zu: er griff nach den Früchten der
Erfahrung, ehe die echten P r i n z i p i e n des Wissens gewonnen
waren, aus denen allein die Erfahrung im neuen Sinne gestaltet
und erarbeitet werden konnte.
Zweites Kapitel.

Gassendi und Hobbes.


I.
So wenig das traditionelle Vorurteil, das in Bacon den Be‑
gründer der neueren Philosophie ieht, sich bei schärferer
Analyse behauptet, so wenig lässt sich auch n u r der be‑
schränktere Anspruch festhalten, dass in seiner Lehre der Grund
des modernen „ E m p i r i s m u s “ gelegt sei. Die Zergliederung der
Erfahrungserkenntnis, die Rückführung alles Wissens auf
seinen psychologischen Ursprung ist bei i h m über apho‑
ristische Anfänge nicht hinausgediehen. Auch diese Aufgabe,
so sehr sie zunächst von dem Gange der mathematisch-physi‑
kalischen Forschung abliegt, konnte erst bei denjenigen Denkern,
die m i t ihren Ergebnissen und ihren Mitteln innerlich vertraut
waren, festere Gestalt und Fügung annehmen. Der Zusammen‑
hang m i t den Problemen der neueren W i s s e n s c h a f t bildet
das einheitliche Band, das die widerstreitenden philosophischen
Gesichtspunkte und Interessen eint, das Descartes und L e i b n i z
m i t Gassendi und Hobbes verknüpft. Die beiden gegen‑
sätzlichen Denkweisen, von denen die Entwicklung der neueren
Philosophie bestimmt wird, konnten erst auf diesem gemeinsamen
GrundundBoden erwachsen und z u r vollen Entfaltung kommen. ‑
In diesen ersten geschichtlichen Anfängen aber wird es
freilich zugleich deutlich, dass die psychologischeZergliederung der
sinnlichen Erkenntnis, die m a n als ein Vorrecht und eine Eigen‑
a r t des m o d e r n e n Denkens zu betrachten gewohnt ist, in Wahr‑
beit von antiken Vorbildern abhängig bleibt. Das begriffliche
Rüstzeug des modernen Sensualismus, das im wesentlichen be‑
reits bei Gassendi fertig vorliegt, wird bei i h m unmittelbar
136 Gassendi.

aus der Betrachtung und Diskussion der E p i k u r e i s c h e n


P h i l o s o p h i e gewonnen. Zu den Beweisgründen, die das „Syn‑
tagma Philosophiae Epicuri“ enthält, h a t die Folgezeit kaum
einen von entscheidender Bedeutung hinzugefügt; alles, was sie
getan hat, bestand darin,'sie weiter auszuspinnen und genauer in
ihre Konsequenzen zu verfolgen. Hier kann m a n sich denn auch
die prinzipiellen Schwierigkeiten und Zweideutigkeiten, m i t denen
die sensualistischbe Theorie v o n Anfang an behaftet ist, am deut‑
lichsten vergegenwärtigen. Gassendis Theorie der Wahrnehmung
setzt seine A t o m i s t i k , setzt also eine bestimmte P h y s i k und
Metaphysik notwendig. voraus. Das Dasein der Atomwelt
steht fest; es gilt lediglich verständlich zu machen, wie es u n s
zum B e w u s s t s e i n kommt. Und die Antwort hierauf kann nicht
fraglich sein: w i r gelangen zu der Erkenntnis der Dinge, indem
wir e i n e n Te i l i h r e s s t o f fl i c h e n Seins unmittelbar i n u n s
aufnehmen. Von den Dingen lösen sich beständig kleine materielle
Bilder ab, die in unser Ich eindringen und es verschiedenartig
affizieren. Nicht die Gegenstände selbst sind es, die auf uns ein‑
wirken, sondern ihre „Idole“, nachdem diese auf dem Wege z u m
Ich bereits mannigfache Wandlungen und Umformungen erfahren
haben. Von diesem Standpunkt der Betrachtung aus lösen sich
für Gassendi wie für Epikur alle Widersprüche, die zwischen
den verschiedenartigen Daten, die die Sinne uns liefern, zu be‑
stehen scheinen. Wenn ein und dasselbe Objekt uns je nach
den besonderen Umständen, unter denen w i r es erblicken, b a l d
grösser, bald kleiner, bald in dieser, bald in jener Gestalt erscheint,
so sind alle diese verschiedenen sinnlichen Aussagen gleich‑
mässig wahr und unbezweifelbar, da sie die Beschaffenheit des
stofflichen Bildes, das allein den u n m i t t e l b a r e n Gegenstand
unserer Empfindung ausmacht, sämtlich zutreffend wiedergeben.
Alles, was in u n s irgend eine Wahrnehmung zurücklässt, m u s s
in derselben Art, in der es sich in u n s e r m Bewusstsein spiegelt,
auch „draussen“ irgendwie vorhanden sein; denn n u r das W i r k ‑
liche kann wirken und eine Kraft ausüben. Nicht die Sinne
trügen somit, da sie stets n u r einen realen Einfluss, der v o n aussen
auf sie geübt wird, z u m Ausdruck bringen: der I r r t u m entsteht
erst in dem U r t e i l des Verstandes, das eine momentane
Eigentümlichkeit des dargebotenen: Bildes, die durch seine E n t ‑
Verstand und Sinnlichkeit. 137

fernung vom Ursprungsort, sowie durch mancherlei äussere


Umstände bestimmt wird, auf das Objekt selber als dauerndes
Merkmal überträgt. Der Turm, den w i r erblicken, erscheint
nicht nur, sondern er ist bald rund, bald viereckig, je nachdem
w i r i h n v o n grösserer oder geringerer Entfernung sehen; ein
Widerspruch zwischen diesen beiden Bestimmungen tritt n u r
dann ein, wenn wir, von allen besonderen Bedingungen des
Wahrnehmungsaktes absehend, dem Turme „ a n sich“ diese beiden
Beschaffenheiten beilegen. Keine Wahrnehmung kann einer
anderen i h r Recht bestreiten oder den Anspruch erheben, sie zu
korrigieren, da zwei verschiedene Eindrücke sich niemals auf
einen und denselben objektiven Inhalt beziehen. Ebensowenig
aber kann irgend ein Vernunftgrund einen Vorrang über die u n ‑
mittelbare Wahrnehmung behaupten: muss sich doch jeder ver‑
standesmässige Schluss vielmehr auf die sinnliche Empfindung
stützen und somit deren Gültigkeit bereits voraussetzen. Die
‘Wahrheit der Sinne in irgend einer ihrer Aussagen bezweifeln,
hiesse auf jedes K r i t e r i u m der Erkenntnis überhaupt Verzicht
leisten ‐ hiesse einen Skeptizismus verkünden, aus dem kein
logisches Mittel uns jemals wieder erretten könnte. Wahrheit
und Falschheit gehört gänzlich dem Gebiet des Verstandes an;
wir nennen jede Meinung wahr, der die sinnlichen Erscheinungen
entsprechen oder zum mindesten nicht widersprechen, während
sie u n s falsch heisst, wenn sie dieser Prüfung nicht standhält.!) ‑
Um uns in den wahren Mittelpunkt dieser Theorie zu ver‑
setzen, müssen w i r u n s vor allem e i n Moment gegenwärtig halten,
das in der geschichtlichen Darsteliung gewöhnlich nicht zu voller
Klarheit gelangt. Der sensualistischen Lehre ist in ihrer consequen‑
ten Durchbildung und Vollendung, wie sie sich in der neuen Pbilo‑
sophie insbesondere bei B e r k e l e y findet, ein idealistisches Mo‑
t i v eigen: indem der S i n n als höchster Zeuge der Wahrheit an‑
gerufen wird, w i r d damit mittelbar das Bewusstsein als oberster
Richter über alle Naturwirklichkeit anerkannt. Die Untersuchung
w i l l den Uebergang v o n der einfachen Sinnesempfindung zu der
complexen Vorstellung einer äusseren, gegenständlichen Welt
begreiflich machen; sie w i l l nicht umgekehrt die Grundtatsache
der Empfindung selbst aus einer physikalischen Theorie erklären.
Erst allmählich indessen gelangt der moderne Sensualismus auch
138 Gassendi.

n u r zu dieser strengen und prägnanten Fassung seiner eigentlichen


Grundfrage. Nirgends sehen w i r bei Gassendi den Versuch unter‑
nommen, das Problem der Erkenntnis bei der Wurzel anzugreifen
und von i h m aus die Gesamtanschauung der Wirklichkeit erst
zu begründen; vielmehr ist es eine feststehende Ansicht über die
innere Struktur des Seins, von der aus das Wissen gedeutet
und begriffen werden soll. Um die Möglichkeit der sinnlichen
Wahrnehmung einzusehen, müssen w i r neben der We i t der Atome
eine neue Welt v o n Mittelwesen eigens erschaffen, müssen w i r
jeder Empfindung, die w i r als psychischen Zustand in uns erleben,
ein o b j e k t i v vorhandenes B i l d entsprechen lassen. Diese
Bilder unterscheiden sich v o n den sicht- und tastbaren Körpern
zwar in ihren Dimensionen, stimmen aber im Uebrigen m i t
ihnen in der allgemeinen s t o f fl i c h e n Beschaffenheit, sowie
in allen besonderen Beziehungen und Merkmalen überein. „Es
enthält keinen Widerspruch ‐ so beschreibt Gassendi diese Ansicht
‐ dass von der Oberfläche der Körper beständig gewisse Ausflüsse
von Atomen stattfinden, in denen dieselbe Lage und Ordnung,
wie sie in den Körpern und Flächen selbst bestand, erhalten bleibt.
Solche Ausflüsse sind somit gleichsam die Formen oder die
Schemen der Körper, von denen sie ausgehen und besitzen die
gleichen Umrisse wie diese; wenngleich sie an Feinheit älle sinnlich
wahrnehmbaren Objekte weit übertreffen. Von solcher Art sind
jene Formen und Abdrücke, die w i r gewöhnlich als Idole u n d
Bilder (Idola seu Simulacra) zu bezeichnen pflegen.“?) Die „Species“
im Sinne Gassendis e n t s t e h t somit nicht erst im Akte der Wa h r ‑
nebhmung, sondern geht diesem als notwendige Bedingung voraus:
die Unterschiede der Empfindungen lassen sich nicht anders als
durch die Setzung einer unabsehbaren Mannigfaltigkeit konkreter,
dinglicher Idole verstehen. Man sieht, wie die gedanklichen
Motive, die der Atomistik ursprünglich zu Grunde liegen, hier
bereits eine eigentümliche Ablenkung erfahren haben. Der
Atombegriff wird von Demokrit erdacht, um entgegen den Wider‑
sprüchen, in die die naive sinnliche Anschauung uns allenthalben
verstrickt, eine streng einheitliche und r a t i o n a l e Auffassung
der Wirklichkeit zu gewinnen. Der Gedanke strebt aus dem
Dunkel der „unebenbürtigen“ sinnlichen Erkenntnis zu einer
mathematischen Welt reiner Gestalten und Bewegungen auf.
Die. Tdolenlehre. 139

Die Wahrnehmung bildet somit zwar das Objekt, auf das alles
Denken abzielt und dem sie Genüge leisten muss, aber sie ist
nicht der Ursprung und das Prinzip, aus dem das echte Wissen
quillt. (Vgl. Bd. I, S.31 ff.) Schon die antike Spekulation endet
indessen m i t derAbwendung von diesem Grund- und Leitgedanken;
schon sie versucht die Atomistik als Ergebnis festzuhalten,
während sie ihren eigentlichen prinzipiellen Unterbau preisgibt.
So erscheint das System, das bei seinem Urheber ein Muster streng
deduktiver Verknüpfung ist, bei Epikur bereits in zwei Hälften
gespalten, die n u r noch künstlich ineinandergefügt werden können.
Die Atome werden jetzt, da ihre logischen G r ü n d e vergessen
sind, dogmatisch als losgelöste und unbedingte Existenzen
behauptet.
Wenn es indessen scheint, als könne damit allen Problemen
der P h y s i k genügt werden, so tritt das psychologische Problem
jetzt n u r um so dringender hervor. Yon dem absoluten Sein
der Materie führt kein Weg zu der Tatsache des Bewusstseins
zurück. Die beiden Gebiete stehen sich fremdartig und unver‑
einbar gegenüber: hier ein Ganzes geometrischer Gestalten, die
niemals unmittelbar sinnlich erfasst werden können ‐ dort ein
Inbegriff von Gedanken und Vorstellungen, deren gesamter Inhalt
sich zuletzt auf die Daten der Wahrnehmung reduziert. Um die
Brücke zwischen den beiden getrennten Reichen des Seins zu
schlagen, muss jetzt ein mittleres Sein ersonnen, muss ein Reich
v o n „ I d o l e n “ eingeschoben werden. Damit aber sind die Wesen‑
heiten der Dinge, die durch die atomistische Theorie auf wenige
einfache Grundgestalten zusammengezogen werden sollten, ins
Unermessliche vermehrt. Jeder vorübergehenden Zuständlichkeit
des I c h entspricht jetzt ein objektives Substrat. Der Prozess der
Erkenntnis w i r d nicht dadurch erklärt, dass die Tätigkeit, die
das D e n k e n an den Wahrnehmungsdaten ausübt, aufgewiesen
u n d zergliedert wird, sondern dadurch, dass ebensoviele f ü r sich
bestehende D i n g e angenommen werden, als es verschiedene Be‑
stimmungen des Bewusstseins gibt. In Gassendis Darstellung der
Epikureischen Lehre tritt dieser Zug besonders stark hervor.
D i e „Wirklichkeit“ eines Gegenstands zerfällt jetzt in unendlich
viele und unendlich verschiedene Einzeldaten, die völlig gleich‑
berechtigt neben einander stehen. Es fehlt jedes Mittel, zwischen
140 Gassendi.

ihnen eine feste Gliederung und R a n g o r d n u n g z u vollziehen


und ihnen das Mass i b r e r „objektiven“ Gültigkeit zuzumessen.
Damit aber ist auch der Begriff des A t o m s seines eigentlichen
Halts beraubt. Um der Sinnenerkenntnis ihre unbedingte
Geltung zu sichern, muss Gassendi sie jeglicher Allgemeinheit
entkleiden und sie auf die Wiedergabe bestimmter, momentan
gegebener Einzelobjekte einschränken; v o n einer derartigen
Sinnlichkeit aber lässt sich kein Uebergang zu der Abstrak‑
tion des Atoms und des Mechanismus finden. Die Erkenntnis‑
lehre Gassendis ist ausser Stande, das Fundament zu sichern,
auf dem seine Physik ruht. ‑
Diese Schranke seines Denkens ist es denn auch, die i h n
v o n Descartes und von der Tendenz seiner Erneuerung der
Philosopbie scheidet. So scharfsinnig und treffend häufig die
Einwände sind, die Gassendi gegen die Form der Cartesischen
‘ B e w e i s f ü b r u n g richtet, s o sehr versagen sie gegenüber dem
neuen methodischen P r i n z i p , das hier übaall zu Grunde
liegt. Die Grenzscheide zwischen derjenigen Wirklichkeit, die
als Inbalt der Empfindung unmittelbar gegeben und dem echten
wissenschaftlichen Sein, das erst im Fortschritt des Denkens zu
erarbeiten ist, hatte Descartes am schärfsten in jener bekannten
Gegenüberstellung der sinnlichen und der astronomischen „Idee“
der Sonne gezogen. Wenn jene uns die Sonne n u r als kleinen
leuchtenden Kreis am Himmel erscheinen lässt, so lehrt u n s
diese, die aus Vernunftschlüssen und somit aus den „eingeborenen
Begriffen“ unseres Geistes stammt, erst ihre wahre Gestalt u n d
Grösse kennen. Was Gassendi hiergegen einwendet, verfehlt
durchaus das eigentliche Thema des Beweises. Er begnügt sich
m i t dem selbstverständlichen Hinweis, dass auch der exakte
wissenschaftliche Begriff der Sonne kein losgelöstes und willkür‑
liches Erzeugnis des Denkens ist, sondern erst durch eine fort‑
schreitende Umbildung u n d Erweiterung des ursprünglichen
sinnlichen Eindrucks zustande komme.) A u f die Frage aber,
woher dem Geiste. die Kraft dieser Formung und Erweiterung
der Empfindungsdaten komme, hat seine Theorie keine A n t w o r t
mehr; denn sie lehrt u n s das Bewusstsein n u r als die Reaktion
auf einen vereinzelten äusseren Reiz, nicht als eigene u n d
schöpferische Tätigkeit kennen. Zwar spricht auch Gassendi dem
Das Problem des Selbstbewusstseins. 141

Denken die Fähigkeit der „Zusammensetzung“ der Sinneseindrücke


zu; aber er übersieht, dass damit bereits ein neues, aktives
Moment zugelassen und anerkannt i s t , Das U r t e i l erscheint bei
ibm, verglichen m i t der Empfindung, n u r wie ein fremder Ein‑
dringling, auf den er die Schuld des - I r r t u m s abwälzt; es
eröffnet keine neuen und eigenen Quellen der Gewissheit. Der
Abstand, der zwischen dem anfänglichen ungeformten Eindruck
und zwischen der Vorstellung des konstanten, „wirklichen“ Gegen‑
standes besteht, wird nicht geleugnet; aber der Weg, der uns
v o m einen z u m andern überführen könnte, ist nirgends gebahnt.
In der Gegenüberstellung und Vergleichung der Wahrnehmungen
scheint das Denken dem Zufall preisgegeben, nicht von eigenen
und notwendigen Gesetzen bestimmt und geleitet. ‑
Und so sieht sich Gassendi zuletzt in einen Zirkel eingeschlossen,
dem sich nicht entgehen lässt. Er erkennt, m i t Epikur, an, dass
jede F r a g e , die w i r n u r immer stellen mögen, bestimmte „Anti‑
cipationen des Geistes“ bereits notwendig enthält und voraussetzt.
Ohne derartige Prinzipien könnte unsere Forschung niemals
einen Anfang finden: „anticipatio est ipsa rei notio et quasi
definitio, s i n e qua quidquam quaerere, dubitare, o p i n a r i ,
i m o e t n o m i n a r e n o n l i c e t . “ ) Und dennoch sollen auf der
andern Seite diese ursprünglichen Begriffe selbst Produkte der
E r f a h r u n g und mittelbar oder unmittelbar aus der sinnlichen
Empfindung geschöpft sein. W i e aber -- so muss hiergegen
gefragt werden ‐ liesse sich irgend eine Erfahrung machen,
b e v o r noch dem Geiste die Funktion der Unterscheidung, der
Vergleichung und Besennung innewohnt? Hierfür hat Gassendi
n u r die Antwort in Bereitschaft, die seine „Bildertheorie“ i h m
darbietet: die Erfahrung entsteht, indem das f ü r sich bestehende
Objekt m i t einem Teile seines Wesens in das I c h „eindringt“
(incurrit).5) Selbst wenn m a n indessen die seltsame „Verwandlung“
des stofflichen Bildes in ein geistiges zugesteht ‐ eine Verwand‑
lung, die Gassendi selbst offen als unbegreiflich bezeichnet?) ‑
so bliebe doch immer noch, was auf diese Weise in den Geist
übertragen wird, n u r ein völlig isolierter Eindruck, der nirgends
diejenige Verknüpfung und Beziehung zu anderen Inhalten auf‑
weist, die die Bedingung alles Bewusstseins ist. Die Wahr‑
nehmungen würden, nach dem Platonischen Worte, in u n s „wie
142 Gassendi und Hobbes.

in hölzernen Pferden“ nebeneinanderliegen, ohne jemals zur Ein‑


heit eines Begriffs zusammenzustreben. An dem Kontrast, den
Gassendis Lehre bietet, kann m a n sich daher von neuem die Bedeu‑
tung und Originalität des Cartesischen Ausgangspunkts deutlich
machen. Die Tatsache desSelbstbewusstseins wird unverstand‑
lich, wenn m a n sie, auf welche Weise dies immer geschehen
mag, als ein a b g e l e i t e t e s E r g e b n i s z u erklären unternimmt,
statt in i h r den A n f a n g und die B e d i n g u n g alles gegenständ‑
lichen Wissens zu erkennen. In der Tat muss Gassendi den
Cartesischen Begriff des „ I c h “ notwendig bestreiten: von unserm
Selbst besitzen w i r keine Idee und keine Erkenntnis, weil v o n
ihm, das w i r n u r unmiltelbar erfassen können, niemals ein ‑
„Abbild“ in uns entstehen kann. (Vgl. Bd. I, S. 417.) ‑
An dieser Stelle wird es von neuem sichtbar, wie wenig die
herkömmlichen schematischen Formeln, nach denen man die ge‑
schichtlichen Erscheinungen zu beurteilen pflegt, die wahren
gedanklichen Gegensätze, aus denen die neuere Philosophie er‑
wächst, ans Licht bringen. Der „Rationalist“ Descartes ist es,
der hier die Forderung der reinen und vorurteilslosen Analyse
der Inhalte des Bewusstseins vertritt, während Gassendi die
Möglichkeit der „inneren Erfahrung“ an einem feststehenden
metaphysischen Maassstab misst. Die Erfahrung soll dieRätsel
des Wissens lösen; aber sie ist das eigentliche Grundrätsel, da
sie nicht weniger als den Uebergang eines draussen existierenden
absoluten „Objekts“ in ein nicht minder unabhängiges für sich
bestehendes „Ich“ bedeuten will. Gassendis System ist geschicht‑
lich ausserordentlich lehrreich, weil in i h m diese d o g m a t i s c h e
Voraussetzung, die sich in den späteren Theorien erst durch
eine eindringende Analyse aufweisen lässt, offen zu Tage liegt.
Der Widerspruch, an dessen Auflösung die gesamte folgende E n t ‑
wicklung des Empirismus arbeiten sollte und den sie doch
nirgends endgültig zu bewältigen vermochte: hier t r i t t er u n s
unverhüllt und greifbar entgegen. Um den Wahrbheitswert
einer Erkenntnis festzustellen, gibt es, auf diesem Standpunkt,
kein anderes Mittel, als sie an einer konkreten und tatsächlichen
E x i s t e n z zu messen; um die unbedingte G e w i s s h e i t der sinn‑
lichen Wahrnehmung zu behaupten, muss sie überall als die
“ Widerspiegelung einer vorhandenen objektiven Wirklichkeit a n ‑
Das Ich und der Gegenstand. 143

gesehen werden. N u r scheinbar löst dieser Empirismus die


„Dinge“ in die Empfindungen auf; vielmehr.sind es umgekehrt
die Empfindungen, die i h m zu Dingen werden. Gassendis Idolen‑
lehre ist das deutlichste Beispiel dieser Umbildung, aber noch
weit bis in die neuere Zeit hinein lassen sich ihre Spuren ver‑
folgen. Auch die Aristotelische Grundanschauung ist hier trotz
aller Energie der Polemik keineswegs endgültig überwunden.
Gassendi glaubt der Scholastik entwachsen zu sein, wenn er an
Stelle der Aristotelischen Formen die m a t e r i e l l e n Spezies z u r
Erklärung des Prozesses der Wahrnehmung braucht; aber er hat
damit gleichsam n u r die physische Erklärung geändert, während
der logische Gesichtspunkt, unter dem er alle Erkenntnis be‑
trachtet, der gleiche geblieben ist. So steht er zu G a l i l e i in
einem ähnlichen Verhältnis, wie Epikur zu Demokrit: so lebhaft
er f ü r die Resultate seiner Forschung eintritt, so bleibt er
doch dem neuen methodischen Grundgedanken, der hier
berrschend ist, innerlich fremd.

II.
Es ist daber ein entscheidender Fortschritt, den Hobbes
innerhalb der weiteren Entwickelung vollzieht: denn m i t i h m
erst tritt der Erfahrungsbegriff der exakten Wissenschaft in den
Gesichtskreis des Empirismus ein. Die Prinzipien Galileis
haben das Musterbild abgegeben, nach dem er den Gesamtinhalt
seiner Philosophie, nach dem er sowohl seine Logik und Physik,
w i e seine Rechts- und Staatslehre zu gestalten sucht. So paradox
u n d widerspruchsvoll häufig die letzten F o l g e r u n g e n sind, zu
denen er fortschreitet, so klar und entschieden heben sich bei
i h m die Grundzüge des neuen wissenschaftlichen Ve r f a h r e n s
heraus. Man gewinnt daher ein völlig falsches Bild seiner Lehre,
w e n n m a n n u r die fertigen Dogmen seiner Philosophie zusammen‑
stellt, ohne auf den W e g zu achten, auf welchem sie abgeleitet
und erarbeitet werden. Die üblichen philosopbischen Parteinamen
versagen bier noch mehr als überall sonst ihren Dienst; sie
führen, auf die Charakteristik v o n Hobbes’ System und Geistesart
angewandt, zu völlig unklaren, ja unvereinbaren Bestimmungen.
144 Hobbes.

N u r eine genaue Analyse des einheitlichen und eigentümlichen


Z i e l e s , das seine Philosophie sich steckt, kann ein Verständnis
ihrer einzelnen Lehrsätze ermöglichen.
Hobbes’ Verhältnis zu B a c o n t r i t t ‐ in positiver, wie
negativer Hinsicht ‐ schon in den Anfängen seiner Lehre m i t
voller Klarheit hervor. Wahres Wissen ‐ so hatte Bacon gelehrt
‐ ist Wissen aus den Ursachen. Erst wenn wir das „Warum“
eines Dinges oder einer Erscheinung erkannt und weiterhin
gelernt haben, sie aus ihren letzten Gründen aufzubauen u n d
nach freier Willkür vor uns e n t s t e h e n z u lassen, haben w i r
sie wahrhaft begriffen. So gilt es eine „Auflösung“ a l l der festen
Erfahrungsobjekte, die uns umgeben, zu suchen: eine Zerlegung,
die „nicht durch das Feuer, sondern durch den Geist, der gleichsam
ein göttliches Feuer ist,“ zu leisten i s t ) Hobbes scheint noch
durchaus unter dem Banne dieser Begriffsbestimmung zu stehen,
wenn .er die Philosophie im allgemeinsten Sinne als die durch
vernünftigeSchlussfolgerung gewonneneErkenntnis der Wirkungen
oder Phänomene aus dem „Begriff ihrer Ursachen“ oder umgekehrt
als „die Erkenntnis der möglichen Ursachen aus den gegebenen
Wirkungen“ definiert. Die Erläuterung, die er von diesem Satze
gibt, bewegt sich in der Tat ganz innerhalb der Baconischen
Vorstellungsart. Da die Ursachen aller Einzeldinge s i c h a u s
den Ursachen d e r a l l g e m e i n e n oder e i n f a c h e n N a t u r e n
zusammensetzen, so ist es notwendig, v o r allem diese letzteren
zu erkennen und zu beherrschen. Handelt es sich z. B. um den
Begriff des Goldes, so kann m a n aus i h m die Bestimmungen der
Schwere, der Sichtbarkeit, der Körperlichkeit, die sämtlich
a l l g e m e i n e r und somit b e k a n n t e r sind, als das Gold selbst
heraussondern und weiterhin wieder diese Merkmale fortschreitend
zerlegen, bis m a n zu gewissen höchsten und einfachsten Elementen
gelangt. Die Kenntnis dieser Elemente in ihrer Gesamtheit ergibt
sodann die Erkenntnis des empirischen Körpers, den w i r m i t
dem Namen „Gold“ bezeichnen.) Schon die nächsten Sätze indes,
die Hobbes hinzufügt, weisen in eine neue Richtung. Die allge‑
meinen Bestimmungen, auf die w i r die konkreten Gegenstände
zurückführen, sind, wie er ausführt, an und für sich deutlich u n d
evident, da sie sich sämtlich auf die Bewegung als ihre oberste
Ursache zurückleiten lassen. Die Bewegung selbst aber denkt
Verhältnis su Bacon und Galilei. 145

Hobbes nicht mehr als eine i n n e r e Qualität und Beschaffenheit


der Körper, sondern als eine reine mathematische Beziehung,
die w i r selbständig k o n s t r u i e r e n und somit völlig begreifen
können. M i t diesem einen Schritte ist der Uebergang von Bacon
zu Galilei vollzogen.) Die Analyse der Naturobjekte endet nicht
in abstrakten „Wesenheiten“, sondern in den Gesetzen des
Mechanismus, die wiederum nichts anderes, als der konkrete
Ausdruck der Gesetze der G e o m e t r i e sind. Denn unter der
„Ursache“ verstehen w i r jetzt nicht länger eine innere wirkende
Kraft, die ein Ding oder Ereignis aus sich hervortreibt, sondern
einen I n b e g r i f f v o n Bedingungen, m i t deren Setzung zugleich
ein bestimmter Erfolg notwendig gegeben ist. Die Ursache ‑
so definiert Hobbes ‐ ist die Summe oder das Ganze aller der‑
jenigen Umstände, bei deren Vorhandensein ein bestimmter Effekt
als existierend gedacht werden m u s s und bei deren auch n u r
teilweiser Abwesenheit er nicht als bestehend gedacht werden
k a n n : „causa est aggregatum accidentium omnium .. ad propo‑
situm effectum concurrentium, quibus omnibus existentibus
effectum non existere, vel quolibet eorum uno absente existere
intelligi non potest.“'%) Mit diesen Sätzen hat er zuerst der
Galileischen Auffassung und Begriffsbestimmung der Ursache
Bürgerrecht in der Philosophie verliehen. Nicht die substantielle
Form des Geschehens soll gesucht!!), sondern innerhalb der Er‑
scheinungen und „Accidentien“ selbst sollen solche Zusammen‑
hänge entdeckt und aufgewiesen werden, die w i r aus rationalen
und mathematischen Gründen als n o t w e n d i g begreifen. ‑
Es ist Hobbes’ eigentümliche u n d originale Leistung, dass
er diesen Grundgedanken, der bei Galilei auf die Physik be‑
schränkt geblieben war, nunmehr auf das Ganze des Wissens
überträgt. Er erkennt in den Leistungen der mathematischen
Physik die Metbode als treibende Kraft und begreift zugleich,
dass i h r Werk und ihre Leistung nicht auf dasjenige Sonder‑
gebiet empirischer Objekte beschränkt sein könne, in welchem
sie zuerst z u r vollendeten Anwendung kam. Wo immer es u n s
gelingt, eine streng deduktive Verknüpfung zwischen Elementen
zu stiften, so dass die Setzung des einen die des anderen als ein‑
deutige Folge nach sich zieht, da ist damit die Möglichkeit
echten „apriorischen* Wissens gewährleistet. Es gibt kein
10
146
146 Hobbes.
Hobbes.

anderes Mittel,
anderes Mittel, einen Inbalt zu
einen Inhalt zu verstehen,
verstehen, als als iihn aus seinen
h n aus seinen
erzeugenden
erzeugenden Bedingungen n t s t e h e n zu
uns eentstehen
Bedingungen vor uns zu lassen.
lassen. Aus
diesem Gesichtspunkt
diesem fordert Hobbes
Gesichtspunkt fordert zunächst eine durchgreifende
Hobbes zunächst durchgreifende
Reform elementaren Geometrie.
Reform der elementaren Geometrie. Es genügt nicht,
Es genügt nicht, die
d i egeome‑
geome-
trischen Begriffe
trischen Begriffe fertig uns hinzustellen,
o r uns
fertig vvor hinzustellen, so dass wir sie nnur
so dass ur
als r u h e n d e Gebilde
als ruhende Gebilde zu erfassen und
zu erfassen u n d in uns aufzunehmen haben.
uns aufzunehmen baben.
Solange wir sie
Solange sie nicht
nicht aus
aus ihren
ihren Elementen
Elementen aufgebaut, aufgebaut, solange
solange
w
wiri r das ihres Werdens
Gesetz ihres
das Gesetz W e r d e n s nicht d u r c h s c h a u t haben,
nicht durchschaut haben, habenhaben
wir keinekeine unbedingte
unbedingte Bürgschaft
Bürgschaft ihrer Wahrheit gewonnen.
ihrer Wahrheit gewonnen.
Ausdrücklich wird
Ausdrücklich betont, dass wir,
wird betont, wir, um zu zu denden mathematischen
mathematischen
Grundgestalten zu
Grundgestalten gelangen, nicht
zu gelangen, nicht etwaetwa auf auf die empirischen
empirischen
K ö r pp eerr hinzublicken
hinzublicken und und sie von ihnen
sie von ihnen als als ihre
ihre Eigenschaften
Eigenschaften
abzulesen haben,
abzulesen haben, sondern
sondern dass dass w hierzu lediglich
wiri r hierzu lediglich die die Genesis
Genesis
d ederr Ideen
I d e e n iinn unserem
unserem eigenen Geiste zu
eigenen Geiste zu befragen
befragen haben.1)
h a b e n . ) Die
Die
Euklidische
Euklidische Definition
Definition des Kreises oder der Parallelen
des Kreises Parallelen sagt sagt uns
uns
nichts über
• nichts über die „Möglichkeit" dieser Gebilde:
die „Möglichkeit“ Gebilde: denn es liesse
denn es liesse sich
sich
an sich
an sich wohlwohl denken, dass eine
denken, dass ebene Linie,
eine ebene Linie, deren
deren Punkte
Punkte gleich
gleich
weit von
von ein ein und demselben Zentrum
und demselben entfernt wären,
Zentrum entiernt wären, oder dass
zwei Gerade, die
zwei Gerade, niemals schneiden,
sich niemals
die sich schneiden, einen inneren Wider‑
einen inneren Wider-
spruch in sich
spruch schlössen. Erst
sich schlössen. indem ich
Erst indem ich derartige
derartige Gebilde
Gebilde
kkonstruiere,
o n s t r u i e r e , werde ich mir ihrer
ich mir ibrer Vereinbarkeit
Vereinbarkeit m miti t den
den Ge‑
Ge-
unserer räumlichen
setzen unserer
setzen räumlichen Anschauung und inneren
ihrer inneren
und damit ihrer
Wahrheit und und Notwendigkeit bewusst.18) So
Notwendigkeit bewusst.') So erweist
erweist sich
sich schon
schon
innerhalb Geometrie die
innerbalb der Geometrie die kausale Definition als die
kausale Definition d i e Vor‑
Vo r -
bedingung und
bedingung Werkzeug jeder
und das Werkzeug wahrhaften Erkenntnis.
jeder wahrhaften Erkenntnis.
„Da
„Da diedie Ursachen
Ursachen für für alle Eigenschaften der einzelnen
alle Eigenschaften einzelnen Figuren
Figuren
den Linien
in den Linien enthalten
enthalten sind,
sind, die
die w wir selbst ziehen,
i r selbst zieben, und und da
die Erzeugung
die Erzeugung der der Figuren
Figuren von unserer Willkür abhängt,
von unserer abhängt, so so be‑
be-
darf
darf es, um irgend
es, um eine beliebige
irgend eine Beschaffenheit einer Gestalt
beliebige Beschaffenheit Gestalt zuzu
erkennen, nichts weiter,
erkennen, nichts als dass w
weiter, als wir Folgen betrachten,
i r alle Folgen betrachten, diedie
sich
sich ausaus unserer eigenen Konstruktion
unserer eigenen Konstruktion ergeben. ergeben. Aus diesem diesem
Grunde allein, weil
Grunde allein, nämlich wir selbst
weil nämlich selbst die Figuren erschaffen,
die Figuren erschaffen,
gibt es
gibt Geometrie und
eine Geometrie
es eine ist sie eine
und ist beweisbare Wissenschaft.“
eine beweisbare Wissenschaft. "14)14)
Und selbst
Und wenn w
selbst wenn wiri r uuns
n s zur NaturNatur hinüberwenden,
hinüberwenden, die die
n s wie
uns
u ein fremder,
wie ein fremder, von unserer W
von unserer i l l k ü r unabhängiger
Willkür unabhängiger Stoff
gegenübersteht, so
gegenübersteht, so bleibt
bleibt uns auch hier
uns auch hier kein kein anderer Weg Weg des
Wissens übrig,
Wissens als jenes
übrig, als allgemeine Verfahren,
jenes allgemeine Verfahren, das sich sich in der
Mathematik bewährte, wenigstens analogisch
Mathematik bewährte, analogisch nachzuabmen.
nachzuabmen.
Die genchische Definition. 147

Zwar können wir nicht von Anfang a n i n die w i r k l i c h e n


konkreten Ursachen der empirischen Vorgänge eindringen; wohl
aber müssen w i r auch hier die gegebene Erscheinung aus ihren
m ö g l i c h e n Ursachen, die w i r zunächst hypothetisch ansetzen,
in strenger Folge abzuleiten suchen. Auf diese Weise entwerfen
w i r zunächst, indem w i r wiederum aus dem Kreise unserer
Ideen nirgends heraustreten, eine abstrakte Bewegungslehre, die
u n s fortan gleichsam als Vorzeichnung und als allgemeines
Schema dient, in das all unsere Kenntnis von den besonderen
Ursachen eines bestimmten Phänomens sich einfügen muss.
So r u h t auch die Physik zuletzt nicht minder als die Mathematik
auf „apriorischen‘, d. b. von uns selbst geschaffenen Grundlagen.®)
Denn der Charakter des Denkens ist der gleiche auf allen Ge‑
bieten, auf denen es sich betätigt; er beruht überall darauf, dass wir
zunächst eine feste ideelle E i n h e i t fixieren, um sodann die
komplexen Inhalte aus i h r hervorgehen zu lassen. Dieses Ver-‑
fahren beschränkt sich keineswegs auf die Zahl, in der es aller‑
dings zu vollendeter Darstellung kommt, sondern gilt nicht
minder für die Verknüpfung von Grössen und K ö r p e r n , von
Qualitäten und Bewegungen, von Zeiten und Geschwindig‑
k e i t e n , von B e g r i ff e n und Namen.®) Wo immer sich ein
Ganzes in seine Teile zerlegen und aus ihnen wiederum auf‑
bauen lässt, da ist die Herrschaft des Denkens begründet,
während auf der anderen Seite alles dasjenige, was sich dieser
Grundregel des Begreifens entzieht, auch niemals zum I n h a l t
sicherer Erkenntnis werden kann: „ u b i generatio nulla, aut nulla
proprietas, i b i nulla Philosophia intelligitur.“ Die „unerzeugten
Substanzen“ der scholastischen Theologie scheiden daher aus
der Betrachtung aus: sie sind unbegreiflich, weil ungeworden.!)
Wo es kein „Mehr“ und „Weniger“ gibt, da besitzt der Gedanke
v o n Anfang an keine Handhabe, kraft deren er sich den Stoff
unterwerfen könnte; wo er nicht selbsttätig zusammenfügt, da
gibt es, für i h n selber wenigstens, keinen Bestand und kein Sein.
In diesem Zusammenhange gewinnt der Satz, dass alles Denken
ein „Rechnen“ ist, seine festumschriebene Bedeutung. Das Rechnen
selbst ist über den Umkreis der gewöhnlichen Arithmetik hier
bereits hinausgehoben: es hat überall dort statt, wo eine Mannig‑
faltigkeit von Inhalten aus festen Grundeinheiten nach einer be‑
100
148 Hobbes.

stimmten O r d n u n g und Ve r k n ü p f u n g erwächst. Man hat e s


auffällig gefunden, dass Hobbes, wenngleich er alle vernünftige
Schiussfolgerung in die elementaren arithmetischen Operationen
auflöst, dennoch die Algebra derart der G e o m e t r i e unterordnet,
dass für sie kaum mehr eine selbständige Stellung im allgemeinen
System der Wissenschaften übrig bleibt.) Der Widerstreit löst
sich indes, wenn m a n die allgemeine logische Grundabsicht
seiner Philosophie betrachtet. Das „Rechnen“, auf das er hin‑
zielt, ist durchaus als ein freies anschauliches K o n s t r u i e r e n
gedacht: es bezieht sich auf die Verknüpfung von Elementen,
die w i r zuvor durch die kausale Definition, für die die Geo‑
metrie das ständige Vorbild abgibt, gewonnen und festgestellt
baben. ‑
Fasst m a n das Ganze dieser Entwicklungen, die in Hobbes’
eigenen Erklärungen unzweideutig vorliegen, z u s a m m e n , so be‑
greift man erst damit das T h e m a , auf welches er die philo‑
sophische Forschung einschränkt. Sein Verhältnis zur modernen
Naturwissenschaft tritt jetzt klar hervor: was in dieser als das
t a t s ä c h l i c h e Objekt der Forschung hingestellt wird, das soll
bei ihm, aus allgemeinen logischen Gründen, als der n o t ‑
wendige und einzige Gegenstand des Wissens erwiesen werden.
Das „Subjekt“ der Philosophie ist der K ö r p e r ; denn n u r in
i h m findet sich jenes exakte „Mehr und Weniger“, das die Vor‑
bedingung f ü r alle wahrhafte Einsicht ist. Die Eigenschaften
und Beschaffenheiten dieses Subjekts müssen w i r zuletzt a u f
Bewegung zurückleiten; denn n u r sie schliesst sich in all ihren
objektiven Merkmalen genau und vollständig dem Ve r f a h r e n
an, das wir überall verfolgen müssen, um z u m Verständnis irgend
eines Inhalts zu gelangen. Die eigentlich originelle Wendung
in Hobbes’ Philosophie besteht darin, dass sie den e m p i r i s c h e n
Inhalt, den die exakte Wissenschaft festgestellt hat, in einen
r a t i o n a l e n Inhalt z u verwandeln und als solchen z u begründen
unternimmt. Alle Einzelsätze der Lehre müssen als Stufen inner‑
halb dieses Versuches gedeutet und gewürdigt werden. Das
Erkenntnisideal, v o n dem Hobbes durchaus beherrscht wird,
ist die strenge und eindeutige D e d u k t i o n . Die lediglich e m ‑
pirische Kenntnis v o n Tatsachen ohne Einsicht in ihre notwendige
Verknüpfung fällt i h m ausserhalb des Begriffs der Philosophie
Das Erkenninisideal der Deduktion. 149

und der Wissenschaft.'%) Sollen somit die Sätze der neuen Mechanik
und Physik echten Wahrheitswert gewinnen, so müssen sie aus
einem Zusammenhang allgemeiner theoretischer Gründe abgeleitet
werden. Diese Gründe aber können w i r nicht in der überlieferten
Logik suchen; denn diese bleibt, als die Logik der „Formen“, den
B e z i e h u n g e n und Gesetzen fremd, von denen die neue Natur‑
wissenschaft spricht. So muss denn hier eine neue Vermittlung
gesucht werden, die das Reich des Gedankens m i t dem Reich
der Naturwirklichkeit verknüpft. Dass beides sachlich streng
getrennte und unabhängige Gebiete sind, steht für Hobbes
freilich v o n Anfang an fest. Nirgends findet sich bei i h m ein
Versuch, das Sein im idealistischen Sinne unmittelbar in das
Denken aufzuheben. Aber nicht minder beharrt er darum auf
der Gemeinsamkeit und Uebereinstimmung in der Grundverfassung
beider, durch die ihm strenge Wissenschaft erst als möglich gilt.
Die Bewegung erweist sich hier als der echte Mittelbegriff: denn
wie sie auf der einen Seite die Substanz und der Urgrund alles
wirklichen Geschehens ist, so ist sie andererseits ein Grund‑
b e g r i f f unseres Geistes, den wir bereits im Aufbau der rein
idealen Erkenntnisse, die von aller tatsächlichen Existenz absehen,
betätigen. Sie ist das einzige wahrhaft verständliche Objekt
des Denkens, ist sie doch bereits m i t der F u n k t i o n des
Denkens gesetzt und gegeben. So wird sie nicht länger als ein
fremder und äusserer Inhalt betrachtet, den w i r n u r empirisch
erfassen können, während die L o g i k i h n verschmäht und liegen
lässt, sondern sie wird in ihren Bereich aufgenommen. Freilich
vermag Hobbes den neuen Gedanken, der hierin liegt, n u r all‑
“ gemein hinzustellen und als Forderung auszusprechen, nicht
aber i h n im Einzelnen zu bewähren und zu rechtfertigen. Die
Gründe bierfür lassen sich leicht erkennen. Hohbbes ist, so
sehr sein pbilosophisches Interesse der Mathematik zugewandt
war, ihrer modernen Entwicklung fremd geblieben. Der Fortgang
v o n der elementaren Geometrie und Algebra zu dem neuen Begriff
der Analysis ist bei i h m nicht vollzogen. Eben hier aber liegt
die wahrhafte Erfüllung der Forderung, die er im Sinne trug;
erst h i e r ist das W e r d e n und die Veränderung in Wahrheit
z u m r a t i o n a l e n Grundbegriff erhoben. Nicht die Geometrie,
sondern erst die Analysis des Unendlichen zeigl u n s in wissen‑
150 Hobbes.

schaftlicher Bestimmtheit und Deutlichkeit jene genetische Ent‑


stehung eines Gebildes aus seinen Grundelementen, die Hobbes’
Methodenlehre allgemein für jeden wissenschaftlichen Inhalt ver‑
langt. Und noch ein weiterer Mangel von Hobbes’ Lehre, der
f ü r ihre gesamte Entwicklung entscheidend geworden ist, lässt
sich unmittelbar daraus begreifen, dass i h r der freie Ausblick
i n das G e s a m t g e b i e t der neuen Mathematik versagt w a r. Die
Funktion des Denkens geht i h m wesentlich im T r e n n e n und
Zusammensetzen v o n Inhalten auf. Sehen w i r etwa ‐ so f ü h r t
er selbst aus ‐ von ferne einen Menschen auf uns zukommen,
so werden w i r ihn, solange w i r i h n n u r undeutlich wahrnehmen,
n u r m i t dem Gattungsnamen des K ö r p e r s bezeichnen, während
w i r i h m , in dem Maasse, als er sich u n s näbert und schärfer von
uns erfasst wird, nach und nach die weiteren Bestimmungen der
„Beseeltheit“ und der „Vernünftigkeit“ zusprechen und erst damit
seinen wahren Artcharakter bestimmen.?), Der Begriff des Men‑
schen setzt sich also aus diesen drei verschiedenen Merkmalen
wie ein Ganzes aus seinen Teilen zusammen und lässt sich auf
gleiche Weise in sie wiederum auflösen. Dass es A r t e n der Ve r ‑
knüpfung geben könne, die über die blosse Summenbildung
hinausgehen, dass in dem Aufbau eines Begriffs die einzelnen
Momente nicht einfach nebeneinander treten, sondern in kom‑
plizierten Verhältnissen der Ueber- und Unterordnung stehen:
darüber kommt es nirgends z u r Klarheit. Das „Rechnen“ m i t
Begriffen erschöpft sich f ü r Hobbes in der elementaren Addition
und Subtraktion. Hobbes hat in seiner P h y s i k , indem er an
die Grundgedanken Galileis anknüpfte, die Begriffe des „Unend‑
l i c h e n “ u n d des „ U n e n d l i c h k l e i n e n “ weiter ausgebaut und
entschieden zurGeltung gebracht. In seiner Definition des „conatus“
als der Bewegung über eine Raumstrecke und eine Zeitdauer, die
k l e i n e r a l s j e d e r gegebene R a u m u n d Z e i t t e i l ist, arbeitet
er unmittelbar den Gedanken und der Begriffssprache der
D i f f e r e n t i a l r e c h n u n g v o r. Die spezielle Ausführung seiner
Lehre aber nimmt an dieser Entwicklung keinen Anteil mehr,
da sie ihre Orientierung noch durchweg einer Auffassung der
Mathematik entnimmt, die die gleichzeitige Wissenschaft zu über‑
winden im Begriffe steht. Der harte und erbitterte Kampf, den
Hobbes gegen W a l l i s ’ Versuch einer neuen algebraischen Grund‑
Verhältnis s u r Mathematik. 151

legung des Infinitesimalbegriffs geführt hat, ist seiner eigenen


L o g i k z u m Verhängnis geworden.)

I.
Eine zweite nicht minder wichtige Schranke für den folge‑
rechten Ausbau der Grundgedanken der Methodenlehre scheint
sich zu ergeben, wenn wir Hobbes’ Anschauung v o m Ve r h ä l t n i s
des B e g r i f f s z u m W o r t betrachten. Hier scheint zuletzt der
Zusammenhang mit den Prinzipien der E r f a h r u n g s w i s s e n ‑
s c h a f t völlig verleugnet: die Logik steht wiederum im Begriff,
sich unmittelbar in die G r a m m a t i k aufzulösen. Wenn die
Philosopb:ie anfangs als die apriorische Erkenntnis der Wirkun‑
gen und „Erzeugungen* der Natur galt, so soll sie jetzt nichts
anderes, als die Lehre von der richtigen Zusammensetzung der
„Zeichen“ sein, die wir in unserem Denken erschaffen. Die Wahl
dieser Zeichen aber und die Art ihrer Verknüpfung ist völlig
willkürlich und hängt von dem Gutdünken desjenigen ab,
der sie zuerst festgestellt hat. So scheinen alle Grundregeln des
Denkens zu verfliessen; so scheint alle Sicherheit und Constanz,
die w i r für irgend eine „Wahrheit“ in Anspruch nehmen, nichts
anderes zu sein, als das Pochen auf eine einmal festgesetzte
Convention, die dereinst durch eine neue Setzung abgelöst und
verdrängt werden kann.
In der Ta t hat Hobbes diese Folgerung in aller Entschieden‑
heit und Deutlichkeit gezogen. Die Wahrheit haftet nicht an den
S a c h e n , sondern an den Namen und an der Vergleichung der
Namen, die w i r im Satze vollziehen: veritas in dicto, n o n in
re consistit.%) Dass beim gegenwärtigen Stand der Dinge der
Einzelne in seinem Urteil m i t den Inhalten des Denkens nicht
frei schalten kann, sondern an bestimmte Regeln gebunden ist,
besagt nichts anderes, als dass er die Bezeichnungen der Dinge
n i c h t in jedem Augenblick nach Belieben ersinnen kann, sondern
sich dem herrschenden S p r a c h g e b r a u c h anzubequemen hat.
Der Schöpfer dieses Sprachgebrauchs indes war durch keiner‑
l e i Schranke gebunden, die aus den Dingen oder aus der Natur
unseres Geistes stammte; ihın stand es frei, beliebige Namen zu
152 Hobbes.

verknüpfen und damit beliebige Prinzipien und Axiome des


Denkens z u schaffen. Die l o g i s c h e n und m a t h e m a t i s c h e n
Gesetze lösen sich damit i n ‐ j u r i s t i s c h e Gesetze auf; a n die
Stelle von notwendigen und unaufheblichen Relationen zwischen
unseren Ideen treten praktische N o r m e n , die die Benennung
regeln. Man sieht, e s ist das s t a a t s r e c h t l i c h e Ideal des
Hobbes, das hier einen Einbruch in seine Logik vollzogen h a t :
der absolute Souverän wäre nicht n u r Herr über unsere Hand‑
lungen, sondern auch über unsere Gedanken und die Wahrheit
und Falschheit ihrer Verknüpfung.
Die Paradoxie, ja den offenen Widerspruch dieser Konse‑
quenz kann keine Darstellung wegzudeuten suchen. Dennoch
gilt es, wenn w i r das System als ein Ganzes verstehen wollen,
zum mindesten die sachlichen Motive zu begreifen, die zu dieser
Lehre hingedrängt haben. Dass die Wahrheit in den Namen
gegründet ist: das ist n u r der schroffe und einseitige Ausdruck
der Grundansicht, dass sie lediglich im U r t e i l ihren Ursprungs‑
ort hat. Der Geist vermag n u r dasjenige zu verstehen, was er
selbsttätig hervorgebracht und verknüpft hat®); er findet die
ersten Grundsätze nicht indem er an die D i n g e herantritt und
sie an ihnen als allgemeine Merkmale unmittelbar wahrnimmt,
sondern er bringt sie in ursprünglichen und eigenen Setzungen
hervor. „Beweiskräftige Wissenschaft gibt es für den Menschen
n u r von solchen Dingen, deren Erzeugung von seiner W i l l k ü r
abhängt.‘%) So wird das Moment der W i l l k ü r v o r allem des‑
halb betont, um die methodische F r e i h e i t , um die Unabhängig‑
keit der Grundsätze von der z u f ä l l i g e n e m p i r i s c h e n B e o b ‑
a c h t u n g hervorzuheben. Das Wissen soll sich selbständig ent‑
‚ f a l t e n dürfen; aber um es v o m Zwang der äusseren Sachen zu
befreien, muss Hobbes zugleich die unverbrüchliche Notwendig‑
keit seiner Grundsätze preisgeben. Es ist den besten Kennern
von Hobbes’ Lehre immer auffallend und anstössig erschienen,
dass zwischen der Wissenschaft, wie er sie definiert, und der
empirischen Welt der K ö r p e r, die i h m doch als die eigentliche
‘. Realität gilt, streng genommen aller Zusammenhang abgebrochen
ist. Die Wahrheit ist die willkürliche Schöpfung des Menschen,
sofern er m i t W o r t und Sprache begabt i s t ; sie besteht in der
Verknüpfung von Namen, nicht in der Feststellung von Objekten
Begriff und Wort. 153

und Vorgängen innerhalb der existierenden Wirklichkeit.2) Das


Reich des Begriffes bleibt somit v o n dem Bereich der „Tat‑
sachen“ völlig gelrennt; der Begriff verbleibt durchaus inner‑
halb seiner selbstgesteckten Grenzen, obne Anspruch darauf zu
erheben, das objektive Dasein „abzubilden.“ Eben diese Schwierig‑
keit aber lässt die tiefere Tendenz von Hobbes’ Grundgedanken
deutlich hervortreten. Wäre es die Aufgabe des Wissens, die :
bestehenden äusseren Gegensiände nachzuahmen, so gäbe es
nach Hobbes’ eigenen Voraussetzungen kein anderes Mittel hier‑
für, als sich der unmittelbaren Empfindung und ihrer associativen
Verknüpfung zu überlassen. In der direkten Aussage der Sinne
und in deren Fixierung durch das Gedächtnis wäre alsdann alle
Möglichkeit des Wissens beschlossen. Damit aber wäre zugleich
das l o g i s c h e I d e a l vereitelt, das Hobbes selber aufgestellt hatte,
damit wäre eine bloss historische Tatsachenkenntnis an die
Stelle der deduktiven und prinzipiellen E i n s i c h t gesetzt. (S.
ob. S. 145ff.)%) Um dieser Folgerung zu entgehen, muss die Defi‑
nition der Erkenntnis von jeder unmittelbaren Beziehung auf
die objektive Existenz absehen, muss sie, statt von den Dingen,
n u r von den Vorstellungen und Namen der Dinge handeln. So
w i r d der „Nominalismus“ für Hobbes zum Halt und zur Schutz‑
wehr gegen den drohenden „Empirismus“:. die Prinzipien ge‑
winnen ihre A l l g e m e i n h e i t u n d N o t w e n d i g k e i t wieder, in‑
dem sie dafür auf jede Entsprechung innerhalb des konkreten
Seins der Dinge verzichten. ‑
Eine Ergänzung und Vertiefung findet diese allgemeine An‑
sicht in der Anschauung, die Hobbes v o m Wesen und Wert der
M a t h e m a t i k besitzt. Hier batte er, wie wir sahen, die Zwei‑
deutigkeit des Nominalismus bereits überwunden; hier hatte er
ebensosehr die rein ideale Bedeutung der Grundbegriffe betont,
w i e er andererseits im Begriff der kausalen Definition eine ein‑
schränkende Bedingung ihrer Gültigkeit gewonnen hatte. Die
„Freiheit“ der Konstruktion, die w i r in der Geometrie betätigen,
bedeutet nicht Willkür, sondern strenge Bindung an bestimmte
dauernde Gesetzlichkeiten, Nicht jede beliebige Wortverbindung,
die w i r schaffen, bedeutet hier eine mögliche, d. h. m i t den Ge‑
setzen unserer räumlichen Anschauung vereinbare Idee. (S. ob.
S. 146.) Nicht minder deutlich t r i t i die tiefere sachliche Bedeu‑
154 Hobbes.

tung der „Namengebung“, wie Hobbes sie versteht, im Gebiete


der Arithmetik hervor. Es ist charakteristisch, dass er als
erste und wissenschaftlich grundlegende Leistung, die durch die
Sprache ermöglicht wird, die S c h ö p f u n g d e r Z a h l z e i c h e n
nennt. Erst nach der Entstehung der Zahlworte vermochte der
Mensch die Vielheit der Erscheinungen in feste Grenzen zu
bannen; erst durch sie wurde er in den Stand gesetzt, die empi‑
rischen Objekte, gleichviel in welcher Form sie i h m gegeben
wurden, der Herrschaft des Begriffs zu unterwerfen. Jede noch
so verwickelte Rechnung, sie möge sich n u n auf Zeiten oder
Räume, auf den Umlauf der Himmelskörper oder auf die Auf‑
führung eines Gebäudes oder einer Maschine beziehen, ist n u r
ein Produkt und eine Weiterführung jenes ursprünglichen geistigen
Aktes der Zählung: „haec omnia a Numeratione proficiscuntur,
a Sermone autem Numeratio“#). Hier wird, wie m a n sieht, der
Nachdruck nicht sowobl auf die blosse Benennung, als auf das
r e i n e g e d a n k l i c h e Ve r f a h r e n gelegt, kraft dessen wir durch
die wiederholte Setzung einer willkürlich angenommenen Einheit
die Mehrheit erschaffen; ein Verfahren, das sich freilich nicht
ausbilden und vervollkommnen könnte, wenn nicht jeder Ein‑
zelschritt durch ein bestimmtes siunliches Zahlzeichen fixiert
und damit für das Gedächtnis aufbewahrt würde. Dieser Zu‑
sammenhang tritt vor allem in der Darstellung des „Leviathan“
hervor, in der von Anfang an die Bedeutung und der Zweck der
Namengebung darauf eingeschränkt wird, die „Umwandlung einer
geistigen Schlussfolge in eine sprachliche“ zu vollziehen. Die
Folge und der gesetzliche Ablauf unserer Gedanken kann erst
in der Verknüpfung der Worte zu fester Ausprägung und zu
a l l g e m e i n g ü l t i g e r Darstellung gelangen.) We r jedes Ge‑
brauchs der Rede bar wäre, der könnte zwar, wenn i h m ein
einzelnes Dreieck vorgelegt würde, zu der Einsicht geführt werden,
dass seine Winkelsumme zwei Rechte beträgt; aber er vermöchte
sich niemals zu der Erkenntnis zu erheben, dass dieser Umstand
f ü r jedes beliebige D r e i e c k g i l t . Erst wenn w i r nicht mehr
von der Betrachtung der sinnlich einzelnen Gestalt, sondern von
dem sprachlich fixierten B e g r i f f des Dreiecks ausgehen, ‐ wenn
w i r u n s bewusst werden, dass der Zusammenhang, von dem hier
die Rede ist, von der absoluten Seitenlänge, sowie v o n anderen
Die Möglichkeit allgemeingültiger Erkenntnis. 155

zufälligen Merkmalen der gegebenen einzelnen Figur gänzlich


unabhängig ist und allein aus denjenigen Bestimmungen quillt,
kraft deren w i r eine empirisch vorhandene Gestalt überhaupt
erst als Dreieck bezeichnen und anerkennen: erst dann haben
w i r das Recht zu dem „kühnen und universellen“ Schluss, dass
in jedem Dreieck das gleiche Verhältnis, das wir hier entdeckt
haben, sich wiederfinden muss. „Auf diese Weise wird die Fol‑
gerung, die w i r an einem besonderen Falle aufgefunden haben,
dem Gedächtnis als allgemeine Regel überliefert, die den Geist
v o n a l l e r B e t r a c h t u n g des Raumes u n d d e r Z e i t b e f r e i t
und bewirkt, dass das, was h i e r und j e t z t als wahr erfunden
wurde, auch für alle Orte und alle Zeiten als wahr anerkannt
wird.“®) Wiederum bestätigt es sich in dieser ganzen Entwicke‑
lung, dass der „Nominalismus“ des Hobbes nicht ‐ wie es zu‑
nächst scheinen konnte ‐ einen Gegensatz zum „Rationalismus“
bilden, sondern zu seiner Bestätigung und Begründung dienen
will. Das Wort ist die Stütze und das Vehikel der Ve r n u n f t ‑
erkenntnis, deren allgemeine Geltung es erst zum Bewusstsein
und zur Anerkennung bringt. So fügt sich die Grundanschau‑
ung über das Verhältnis von Begriff und Wort, die anfangs das
Denken all seines realen Gehalts zu berauben schien, zuletzt
dennoch der allgemeinen philosophischen Tendenz des Systems
ein. Die wichligste Frage, die nunmehr noch zurückbleibt, ist,
wie weit diese Tendenz sich weiterhin auch im Aufbau der
N a t u r p h i l o s o p h i e betätigt und bewährt.

I V.
Es ist ein originaler und fruchtbarer Gedanke, m i t welchem
Hobbes die Darlegung seiner Naturphilosophie beginnt. Er geht
v o n der Vorstellung aus, dass das gesamte Universum m i t Aus‑
nahme eines einzigen Menschen vernichtet würde und knüpft
hieran die Frage, weiche Inhalte alsdann f ü r das denkende Sub‑
jekt, dessen Fortbestand w i r annehmen, noch als Gegenstände
der Betrachtung und Schlussfolgerung zurückbleiben würden.
Von der A n t w o r t , die e r auf dieses Problem gewinnt, hängt alle
fernere Entscheidung über das Gefüge und über die reale Ver‑
156 Hobbes.

fassung der Wirklichkeit ab. Diejenigen Momente, die völlig


unabhängig von der Existenz einer realen Körperwelt in uns be‑
stehen können, müssen zuvor rein herausgelöst werden, ehe wir,
auf dieser Grundlage weiterbauend, einen Einblick in das Ganze
der objektiven Wirklichkeit erlangen können.
Es ist kein vereinzelter geistreicher Einfall, es ist kein bloss
willkürliches „Gedankenexperiment“, von dem Hobbes hier seinen
Ausgang nimmt. Der Gedanke, den er an die Spitze stellt, steht
in innerlicher und notwendiger Beziehung zu der Grundansicht,
von der seine M e t h o d e n l e h r e beherrscht ist. Das Denken ‑
so sahen wir hier ‐ kann nichts begreifen, was es nicht v o r
sich erstehen lässt; es kann keinen Inhalt als den seinigen an‑
erkennen, wenn es i h n nicht in einem selbsttätigen Prozess
sich zu eigen macht. Die Körperwelt mag an sich noch so
sicheren und festen Bestand besitzen: für das Wissen besteht
sie dennoch erst, sobald wir sie aus den Elementen unserer
Vo r s t e l l u n g erschaffen haben. Wie wir einen vollkommenen
Kreis, der uns zufällig in der empirischen Wahrnehmung be‑
gegnen würde, doch niemals als solchen zu erkennen ver‑
möchten, wie wir vielmehr, um über das „Sein“ einer bestimmten
Figur eine Entscheidung zu treffen, immer auf den Akt ihrer
Konstruktion zurückgehen müssen,®) so müssen wir bier m i t
bewusster Absicht von der existierenden Welt, die uns als ein
festes unbewegliches Sein umfängt, absehen. Die f e r t i g e Welt
bietet dem Gedanken keinen Ansatzpunkt; er muss sie kraft der
Freiheit seiner Abstraktion negieren, um sie desto gewisser
zurückzugewinnen.
Verfolgen w i r diesen Weg, fragen w i r also, was u n s nach
Aufhebung aller äusseren Gegenstände als notwendiger Besitz
des Geistes zurückbleibt, so t r i t t uns hier zunächst der Grund‑
begriff des Raumes entgegen. Selbst wenn w i r alle sinnlichen
Empfindungen, die von den Körpern zu uns hinüberdringen, in
uns vernichtet denken, so blieben doch die reinen räumlichen
Beziehungen unverändert in u n s erhalten. Indem das Ich den
A k t des Denkens von seinem I n h a l t unterscheidet und sich
diesem letzteren gleichsam gegenüberstellt, entsteht i h m damit
die reine Vorstellung des „Aussen“, die das Grundmoment des
Raumbewusstseins ausmacht. Der Raum ist in diesem Sinne
Die Naturphilosophie. ‐ Raum und Zeit. 157

nichts anderes, als eineSchöpfung unserer subjektiven „Phantasie“,


er ist das Phantasma einer existierenden Sache, sofern w i r an
i h r nichts anderes, als eben diesen Umstand, dass sie als äusser‑
l i c h vorgestellt wird, beachten und von allen ihren sonstigen
Beschaffenheiten absehen.3!) In analoger Weise entsteht uns der
Gedanke der Z e i t , wenn w i r die Vorgänge und Veränderungen,
die sich vor u n s abspielen, nicht nach ihrem Sonderinhalt be‑
trachten, sondern lediglich das Moment des „Nacheinander“ an
ihnen herausheben; die Zeit ist das Phantasma der Bewegung,
sofern w i r uns in dieser eines „Früher“ oder „Später“ oder einer
bestimmten Reihenfolge bewusst werden. So sind denn auch
ihre Teile ‐ wie die Stunde, der Ta g oder das Jahr ‐ nichts
objektiv Vorhandenes, sondern n u r die abgekürzten Zeichen f ü r
Vergleiche und R e c h n u n g e n , die w i r i n unserem Geiste an‑
stellen: i h r ganzer Gehalt liegt begründet in einem A k t e der
Z ä h l u n g , der nichts anderes als eine reine T ä t i g k e i t des
Bewusstseins, ein „actus animi“ ist. In dieser Erkenntnis
liegt zugleich die Lösung für alle metaphysischen Schwierig‑
keiten, die man in den Begriffen des Raumes und der Zeit von
jeber gefunden bat. Die unendliche Teilbarkeit, wie die unend‑
liche Erstreckung beider birgt jetzt keinen inneren Widerspruch
mehr; ist es doch nunmehr klar, dass sie nicht in den Dingen,
sondern in unserem Urteil über die Dinge gegründet ist. Jegliche
Teilung und Zusammensetzung ist ein Werk des Intellekts. Die
einzelnen Zeit- und Raum-Abschnitte haben keine andere Existenz,
als diejenige, die sie i n unserer B e t r a c h t u n g besitzen.®) Und
so sehr jedes gegebene Ganze des Raumes und der Zeit notwendig
b e g r e n z t sein muss, so ist doch dem Verfahren, kraft dessen
w i r willkürlich immer neue Teile unterscheiden und setzen
können, keine Schranke gesetzt.
Wenn Hobbes auf Grund dieser Entwicklungen nunmehr
z u r Begriffsbestimmung des Körpers übergelit, so bleibt auch
h i e r die Continuität seiner allgemeinen gedanklichen Voraus‑
setzungen z u n ä c h s t durchaus erhalten. Die Definition des
Körpers fügt zu den Bestimmungen, die wir bisher kennen gelernt
haben, keine einzige i n h a l t l i c h e Eigentümlichkeit n e u hinzu;
sie unterscheidet sich von der Vorstellung des Raumes in keinem
einzigen b e g r i f fl i c h e n M e r k m a l , sondern lediglich durch
158 Hoöbes.

das veränderte Ve r h ä l t n i s z u m erkennenden Subjekt, das in


i h r festgesetzt wird. Unter dem Körper verstehen w i r einen
begrenzten Te i l der Ausdehnung selbst, sofern diese nicht als
blosses Gebilde unserer Phantasie, sondern als feste E x i s t e n z
angesehen wird, die unabhängig von unsererVorstellung i h r Sein
besitzt und behauptet. Wodurch aber ‐ so müssen w i r in diesem
Zusammenhang notwendig fragen ‐ erwirbt denn der physische
Körper diesen Charakter der Unabhängigkeit, der i h n vor den
blossen Erzeugnissen der Geometrie auszeichnet? Ist es nicht eben
eine veränderte A r t , in welcher er dem Bewusstsein gegeben
ist, die i h m diesen Wert und diese Selbständigkeit verleiht?
Die blosse E m p fi n d u n g aber kann hierfür nicht ausreichen,
da gerade sie, nach den Voraussetzungen von Hobbes’ Pbaeno‑
menalismus, dauernd in den Kreis der „Subjektivität“ einge‑
schlossen bleibt. Die Annahme.der selbstgenügsamen, für sich
bestehenden Materie kann demnach, wie es scheint, nichts an‑
deres bedeuten. als ein logisches Postulat, als eine Forderung,
die der Gedanke stellt, um die Vielheit der Eindrücke zu
wissenschaftlicher Einheit zu verknüpfen. In der Tat ist
es genau diese Folgerung. die Hobbes zunächst zieht: wenn
wir den physischen Stoff der Ausdehnung gleichsam unter‑
breiten und zu Grunde legen, so ist der Inhalt, der auf diese
Weise entsteht, lediglich’durch die V e r n u n f t , nicht durch die
‚ S i n n e zu erfassen.) Daher liegt denn auch im B e g r i f f e der
“ Materie, wie er hier abgeleitet wird, ihre unveränderliche E r ‑
haltung unmittelbar eingeschlossen: wenn die zufälligen
„Accidentien“, die w i r an den Körpern wahrnehmen, entstanden,
aber keine Dinge sind, so sind die Körper Dinge, aber nicht
entstanden.)
Nachdem w i r aber einmal bis zu diesem Punkte fortgeschritten
sind, wendet sich nunmehr unvermittelt die Richtung der Unter‑
suchung. Ist einmal das Dasein und die Substantialilät des Körpers
rational erwiesen, so können w i r fortan ‐ wie es scheint ‐ m i t
beiden wie m i t einem festen F a k t u m rechnen. Die vielfachen
gedanklichen Vermittlungen, durch welche diese Schlussfolge‑
rung gewonnen wurde, treten nunmehr zurück ; sie scheinen jetzt,
nachdem das Ziel erreicht ist, entbehrlich geworden. So t r i t t n u n ‑
mehr dieselbe U m k e h r u n g der F r a g e s t e l l u n g ein, die w i r
Die Substantialität des Körpers. 158

bei G a s s e n d i beobachten konnten. Die Körper und ihre re‑


alen Bewegungen sind das Erste und Absolute, die Empfindungen
und Gedanken das abgeleitete Ergebnis, das aus ihnen zu er‑
klären ist. Wurde z u v o r der Begriff der Materie als Endglied
einer Entwicklung erreicht, in die der Begriff des Raumes als
Vo r a u s s e t z u n g einging, s o wird jetzt die reale Ausdehnung
z u r physischen Ursache der idealen. Die Begriffe des „Orts“ und
der „Grösse“, die anfangs als verschiedene S t u f e n innerhalb
ein und desselben gedanklichen Prozesses gefasst wurden, treten
einander nunmehr schroff gegenüber: der Ort ist die fingierte,
die Grösse die wahre Ausdehnung der Körper, der Ort ist nichts
ausserhalb, die Grösse nichts innerhalb des Geistes.) In dieser
klaren Entgegenstellung tritt die eigentliche Schwierigkeit, m i t
der Hobbes’ Lehre behaftet bleibt, unverkennbar hervor. Dass
all unsere Wissenschaft es nicht m i t den Gegenständen selbst,
sondern n u r mit deren „Merkzeichen® im Geiste zu tun hat,
daran wird beständig festgehalten. „Wenn w i r auf dasjenige,
was w i r in all unseren Schlussfolgerungen tun, genau Acht
haben, so sehen wir, dass wir ‐ selbst wenn wir die Existenz
der Dinge voraussetzen ‐ doch immer n u r mit unseren eigenen
Phantasmen rechnen.“®) Immer ist es somit der ideale Raum, .
den wir zu Grunde legen, immer ist es eine rein abstrakte und
gedankliche Bewegungsliehre, die w i r entwerfen. Wie aus
dieser deduktiven Entwicklung etwas über die a b s o l u t e n
Gegenstände gefolgert werden soll, bleibt durchaus im Dunkel.
W i e sollen wir es uns denken, dass der an sich bestehende
Körper mit einem Teile unseres Anschauungsraumes, der ein
rein imaginäres Gebilde ist, „zusammenfällt“ und sich .„mit i h m
zusammen ausdehnt“ (coincidit et coextenditur)? Und wie kann
die Bewegung ein unabhängiges und unbedingtes Sein darstellen,
da doch ihre beiden Grundmomente, da Raum und Zeit lediglich
Gebilde des Geistes sein sollen?%) So birgt Hobbes’ Natur‑
begriff, so fest er gefügt scheint, bereits den Keim der Skepsis
in sich. Zwischen der Wahrheit der Dinge u n d ihrer Wirklich‑
k e i t besteht eine Kluft, die sich n i c h t überbrücken lässt. Denn
die Wahrheit gehört ‐ wie unzweideutig erklärt wurde ‐ allein
dem U r t e i l an, löst sich somit zuletzt in reine gedankliche
B e z i e h u n g e n auf, während der Körper eine absolute Substanz
160 Hobbes.

bedeuten soll, die allen Eigenschaften und Relationen voran‑


geht. ‑
Der Gegensatz, der hier bestehen bleibt, erhält seine schärfste
Ausprägung i n Hobbes’ T h e o r i e d e r Wa h r n e h m u n g . Hier
wird zunächst die Tatsache, dass überhaupt E r s c h e i n u n g e n
stattfinden, dass also bestimmte Subjekte m i t Empfindung
und bewusster Vorstellung begabt sind, als das Urphänomen be‑
zeichnet, dem die philosophische Untersuchung sich vor allen
anderen Fragen zuwenden muss. Wenn die Phänomene die
Erkenntnisprinzipien für alles übrige bilden, so ist die Sinnes‑
empfindung das „Prinzip der Prinzipien“, da sie allein alles
Wissen um irgendwelche Erscheinungen überhaupt erst ermög‑
licht. Was sich u n s n u n bier zunächst darbietet, ist nichts
anderes, als ein beständiges Kommen und Gehen, ein Auftauchen
und Verschwinden von Bewusstseinsiuhalten. Da wir indes
jede Veränderung, die w i r an irgend einem Subjekte beobachten
aus allgemeinen logischen Gründen auf eine Bewegung seiner
inneren Teile zurückführen müssen, so folgt, dass die sinnliche
Wahrnehmung nichts anderes als der Reflex der Bewegung be‑
stimmter körperlicher Organe ist. Jede Bewegung in den Organen
aber weist weiterhin auf ein äusseres Objekt als Ursache zurück;
so ist es zuletzt der D r u c k der äusseren, uns umgebenden Körper,
der, indem er sich bis zu unseren Sinneswerkzeugen fortpflanzt,
in ihnen ein Gegenstreben wachruft und damit die bewusste
Empfindung zustande bringt. Man sieht, wie in dieser Dar‑
stellung zwei völlig verschiedene Tendenzen m i t einander ringen.
A u f der einen Seite steht es für Hobbes fest, dass wir, um irgend
eine Entscheidung über unsere „Phantasmen“ zu gewinnen, den
Standpunkt der Betrachtung niemals ausser oder über ihnen,
sondern immer n u r i n n e r h a l b i h r e r selbst wählen können,
dass also Gedächtnis und innere Erfahrung die einzigen Zeugen
; sind, die w i r zu befragen haben.®) Aber unmittelbar danach
sehen w i r, wie er von neuem über diese so klar bezeichnete
Grenze hinausgetrieben wird. Was zuvor als das „Prinzip der
Prinzipien“ galt, das soll jetzt aus einem weiter zurückliegenden
Anfang begriffen werden; was der Grund für alle S e t z u n g
objektiver Gegenstände sein sollte, das wird jetzt n u r noch als
die Rückwirkung und die Antwort auf einen an sich bestehenden
Die Theorie der Wahrnehmung. 161

objektiven Reiz gedacht.®) Damit aber lenkt Hobbes wiederum


in die Bahnen Gassendis ein; damit ist auch seine Erfabrungs‑
lehre wieder der Metaphysik verfallen. Hobbes’ „Materialismus“
ist der eigentümliche und paradoxe Versuch, m i t den reinen
Mitteln des Denkens und der Logik eine transzendente Wirk‑
lichkeit der Körper aufzubauen. ‑
Und diese Vorherrschaft der Logik ist es denn auch, die selbst
noch seiner sensualistischen Psychologie das charakteristische
Gepräge gibt. Auch hier ist es der Grundgedanke der Metlıode,
der sich von Anfang an geltend macht: w i r begreifen die psychischen
Inhalte nur, wenn w i r sie aus ihren E l e m e n t e n e n t w i c k e l n .
Der Bestand des Bewusstseins muss rein und vollständig aus dem
Prozess des Bewusstseins abgeleitet werden; die festen Einzeldaten
müssen in ibrer durchgängigen Ve r k n ü p f u n g erkannt und dar‑
gestellt werden. Die psychologische Theorie der Assoziation,
die Hobbes entwickelt und die er bereits zu voller Bestimmtbeit
und Deutlickkeit b r i n g t , ‘ ist freilich keineswegs ‐ wie man
zumeist annimmt ‐ die eigentlich fruchtbare und o r i g i n a l e
Leistung seiner Philosophie. Gerade an diesem Punkte setzt er
n u r gegebene Anregungen fort, greift er besonders auf Gedanken
der Naturphilosophie der Renaissance zurück. (Vgl. Bd. I,
S. 209, 214f., 220.) Auch hier indes gewinnt seine Darstellung
eine neue und vertiefte Bedeutung durch den Zusammenhang, in
welchem sie m i t seiner allgemeinen Prinzipienlehre steht. Aus
dieser erklären sich ihre Vorzüge, wie i h r Grundmangel; da
Hobbes das Denken n u r als ein Zusammensetzen kennl, so
muss i h m der Begriff z u r S u m m e der einzelnen Eindrücke
werden. Dass es ursprüngliche und notwendige Formen der
Beziehung gibt, die sich in die blosse elementare Addition und
Subtraktion nicht auflösen lassen: diese Einsicht mangelt seiner
Psychologie, weil sie seiner Logik versagt blieb. (Vgl. ob. S. 150.) ‑
Der Widerstreit, der sich durch alle Teile v o n Hobbes’
System hindurchzieht, wurzelt in einem eigentümlichen Grundzug
seiner Geistesart. Ueberall ist es das Recht und die Selbstgesetz‑
gebung der Vernunft, die er verficht und die er gegen alle fremden
und äusserlichen Autoritäten behauptet. D e r G e d a n k e wirdautonom;
er beugt sich nicht länger den Forderungen und den „Tatsachen“,
die die Ueberlieferung i h m entgegenhält, sondern sucht in allen
1
162p obbes‑

Gebieten, dasjenige, was ihm als Sein und als Wahrheit gelten
soll, von sich selbst aus erst zu erschaffen. So leitet er die realen
politischen Herrschaftsverhältnisse aus einer ursprünglichen freien
Willenssatzung der Einzelnen ab; so fliesst ibm im theoretischen
Gebiete alles Wissen zuletzt aus selbstgeschaffenen Prinzipien.
Und dennoch besitzt, was auf diese Weise entstanden ist, f ü r
Hobbes fortan uneingeschränkte und unaufhebliche Geltung.
Unsere freien Setzungen sind es, die uns für immer und unlöslich
binden. Der Wille, wie der Verstand unterwerfen sich rückhaltlos
und ohne Vorbehalt den Mächten, die ihnen selber i h r Dasein
verdanken. Das Produkt der Vernunft löst sich für immer v o n
den Bedingungen los, aus denen es erwachsen ist: es wird z u r
absoluten Wirklichkeit, die uns fortan m i t unerbittlichem
Zwange umfasst und uns das Gesetz des Tuns und des Denkens
vorschreibt.
D r i t t e s Kapitel.

Locke.
So sehr das schliessliche Ergebnis von Hobbes’ Philosophie
d u r c h den Charakter und die Eigenart seiner Methode mitbe‑
s t i m m t wird, so wenig bildet i h m diese den Gegenstand geson‑
d e r t e r Betrachtung. Das Ziel, auf das er hinblickt, ist die ob‑
jektive Ordnung und Verknüpfung der Dinge; die Logik ist ihm
n u r das Mitel zum Verständnis der natürlichen und politischen
„Körperwelt“. Auch die psychologische Analyse der Empfindungen
und Affekte will keiner anderen Aufgabe dienen; sie ist ein not‑
wendiges Werkzeug, nicht der Selbstzweck der Untersuchung.
In der Entwicklung der englischen Philosophie bildet daher
die Lehre L o c k e s in der Tat einen prinzipiellen Wendepunkt.
Die Frage, die sie an die Spitze stellt, muss innerhalb der näheren
historischen Umgebung und mitten in den metaphysischen und
naturphilosophischen Spekulationen der Zeit wie ein völlig neues
Problem erscheinen. Nicht die Dinge einer sinnlichen oder über‑
sinnlichen Weltgilt eszu erforschen, sondern denUrsprung und den
Umfang unserer E r k e n n t n i s ; nicht eine naturwissenschaftliche
Theorie der „Seele“ und ihrer mannigfachen „Vermögen“ soll ge‑
sucht, sondern ein Maassstab f ü r die Sicherheit unseres Wissens
u n d für die Gründe unserer Ueberzeugung gewonnen werden.
Nach der E n t s t e h u n g unserer Vorstellungen wird n u r gefragt,
um zu einer sicheren Entscheidung über ihren objektiven W e r t
und über das berechtigte Gebiet ihrer Anwendung zu gelangen.
„Wenn i c h durch diese Untersuchung der Natur des Verstan‑
des entdecke, welches seine Fähigkeiten sind und wie weit sie
reichen, welchen Gegenständen sie einigermassen angemessen sind
und bei welchen sie versagen, so wird dies den geschäftigen Geist
11
164 Locke.

der Menschen vielleicht zu grösserer Vorsicht in der Beschäfti‑


gung m i t Dingen bewegen, die seine Fassungskraft übersteigen
und wird i h n dazu bestimmen, einzuhalten, sobald er an den
äussersten Grenzen seiner Fähigkeiten angelangt ist. Vielleicht
wird man alsdann weniger dazu neigen, m i t dem Anspruch eines
allumfassenden Wissens, Fragen zu erheben und sich und andere
in Streitigkeiten über Gegenstände zu verwickeln, für die unser
Verstand nicht geschaffen ist und von denen unser Geist sich
keinen klaren und deutlichen Begriff zu bilden vermag. Wenn
w i r ausfindig machen können, wie weit der Verstand seinen Blick
auszudehnen vermag, wie weit er Gewissheit zu erreichen i m ‑
stande ist und i n welchen Fällen e r n u r meinen und v e r m u t e n
kann, so werden wir lernen, uns m i t dem zu begnügen, was u n s
in diesem unserem Zustand erreichbar ist.“')
Wie immer man über die Methode und das Ergebnis von
Lockes Untersuchung urteilen mag: man sieht, dass er in der
Tat von der echten kritischen Grundfrage nach dem objektiven
Gehalt und nach den Grenzen der Erkenntnis seinen Ausgang
nimmt. Dass er diese Frage entdeckt, dass er sie innerhalb der
G e s a m t e n t w i c k l u n g des modernen Denkens als Erster i n voller
Schärfe formuliert habe, kann freilich nicht mit geschichtlichem
Rechte behauptet werden. Sind doch seine Sätze, gerade an
diesem entscheidenden Anfangspunkt, n u r eine einfache Um‑
schreibung und Wiederholung der Aufgabe, die Descartes, in
unvergleichlicher Klarheit, der neuerenPhilosophie gestellt hatte.?)
Die Allheit der Dinge umspannen u n d ausmessen zu wollen,
wäre ein vergebliches Beginnen; ‐ wohl aber muss es möglich
sein, die G r e n z e n des Intellekts, deren wir u n s in u n s selber
bewusst werden, genau und sicher zu bestimmen. (S. Bd. I,
S. 378.) Eben diese Grundanschauung war es, die die einzelnen
metaphysischen Behauptungen des Systems selber überdauerle
und die in der Fortbildung des Cartesianismus dauernd als leben‑
diges Motiv weiterwirkte. Die Forderung einer unabhängigen
und umfassenden Ve r s t a n d e s k r i t i k wird insbesondere v o n
G e u l i n c x m i t einer Schärfe die Locke kaum erreicht hat, a n
die Spitze aller philosophischen Untersuchungen gestellt; sie i s t
es, von deren Erfüllung er das Ende aller bisherigen Metaphysik
und aller Scholastik erwartet. (Bd. I, S. 458 f f ) U n d dieser
D i e Grensbestimmung des Verstandes. 185

Gedanke blieb fortan nicht auf den engen Umkreis der Schule
beschränkt, sondern w i r sahen, wie er bereits in R i c h a r d B u r ‑
t h o g g e in der englischen Philosophie selber zu entscheidender
Geltung gelangte. (Bd- I, S. 465 fl.) Ueberblickt man das Ganze
dieses Fortschritts, so kann es nicht zweifelhaft sein, dass Locke,
in der Tendenz seines Denkens und seines Werkes, n u r an einer
allgemeinen gedanklichen Bewegung teilnimmt und i h r zum präg‑
nanten Ausdruck verhilft. Zwar sind die „Regeln“, in denen der k r i ‑
t i s c h e G r u n d g e d a n k e Descartes’ sich a m deutlichsten ausspricht und
entfaltet, erst gegen Anfang des 18ten Jahrhunderts vollständig ver‑
öffentlicht worden, aber es wäre irrig zu glauben, dass ihre ge‑
schichtliche Wirkung erst von diesem Zeitpunkt an datiert. Lange
v o r ihrem Erscheinen war die Schrift ‐ wie B a i l l e t , Descartes’
Biograplı, bezeugt ‐ in der Pariser philosophischen Kreisen be‑
kannt und benutzt. Die Logik von Port Royal entnimmt i h r
wichtige Abschnitte und Malebranches Recherche de la verite
stimmt in den Ausführungen zur Methodenlehre m i t i h r oft
wörtlich überein. Gleichviel, ob Locke ‐ der während der
ersten Konzeption und Ausarbeitung des „Essay“ in Frankreich
lebte ‐ Descartes’ Schrift gekannt hat oder nicht: in jedem Falle
steht auch er unter dem Einfluss der geistigen Atmosphäre, die
durch sie geschaffen war. Das Problem der Methode, das nach
Descartes die Grundlage der modernen theoretischen Philosophie
bildet, ergreift auch ihn, um bei i h m allerdings sogleich neue
u n d eigentümliche Züge anzunehmen. _
Denn der Gedanke, dass alle Begriffe, ehe über ihren Gehalt _
u n d ihre Bedeutung entschieden werden kann, in den Prozess
ihrer E n t s t e h u n g aufgelöst werden müssen, tritt i n der Tat erst
jetzt bestimmend hervor. Zwar w a r das genetische Interesse der
Psychologie auch den vorangehenden Lehren keineswegs fremd.
Selbst wenn m a n von Gassendi und H o b b e s absieht, wurde es,
innerhalb der Cartesischen Schule selbst, durch M a l e b r a n c h e
vertreten und zu einem Grundbestandteil des philosophischen
Systems gemacht. (Vgl. Bd. I, 474ff, 487£.) Aber die Psychologie
bedeutete in ihrer engen Verbindung m i t der Physiologie doch
auch hier im wesentlichen einen einzelnen Zweig empirischer
Wissenschaft, der nicht z u r Norm und z u m Maass f ü r das Ganze
dienen konnte. Sie vermochte die Zuständlichkeiten und „Modi‑
186 Locke.

fikationen“ des individuellen Bewusstseins zu beschreiben, nicht


aber die Geltung unserer objektiven Ideenerkenntnis zu begrün‑
den: und gerade diese ihre innere Schranke war es, die Malebranche
von neuem zur M e t a p h y s i k zurücktrieb. (Vgl. I, 495ff.) Jetzt
erst eröffnet sich der psychologischen Betrachtungsweise ein
selbständiges und unbeschränktes Gebiet ihrer Betätigung. Was
Locke anstrebt, ist keine „physikalische“ Erklärung des Geistes
und seiner Empfindungen und Regungen. „Die Untersuchungen,
worin das Wesen unserer Seele besteht, oder durch welche Be‑
wegungen in unseren Lebensgeistern und durch welche Verände‑
rungen in unseren Körpern w i r dazu gelangen, Empfindungen
und Vorstellungen zu haben; ob endlich diese Vorstellungen in
ihrer Bildung ganz oder z u m Teil v o n der Materie abhängen
oder n i c h t : das alles sind Spekulationen, die, so anziehend und
unterhaltend sie sein mögen, für jetzt ganz ausserhalb meines
Weges liegen. Für meine jetzige Aufgabe genügt es, die ver‑
schiedenen Fähigkeiten des menschlichen Geistes unmittelbar in
ihrer Funktion kennen zu lernen; und ich werde glauben, meine
Mühe nicht verschwendet zu haben, wenn ich k r a f t dieser
schlichten erzählenden Methode (in this historical plain
meihod) einige Rechenschaft von den Wegen geben kann,
auf denen der Geist zu seinen Begriffen der Dinge gelangt u n d
einige Kriterien über die Gewissheit unserer Erkenntnis aufzu‑
stellen vermag.“®) Die Beobachtung und Zergliederung der
psychischen Phänomene ohne Rücksicht auf den physischen
oder metaphysischen Urgrund, dem sie etwa entstammen mögen,
ist also das bewusste Ziel von Lockes Philosophie. Von diesem
Ausgangspunkt aus lässt sich i h r Verfahren und ihre syste‑
matische Gliederung alsbald übersehen; sie hat ihre Aufgabe
verfehlt oder erfüllt, je nachdem es i h r gelingt, das Ganze des
Wissens aus den Inhalten der „reinen Erfahrung“ und m i t Aus‑
schluss jeder metaphysischen Hypotbese aufzubauen. ‑
Der Kampf gegen die „angeborenen Ideen‘, m i t dem der
Essay beginnt, erscheint v o n hier aus sogleich in seinem richtigen
Lichte. Er bildet nicht, wie m a n häufig angenommen hat, das
wesentliche E r g e b n i s von Lockes Philosophie, sondern er be‑
zeichnet nur, in veränderter Wendung, noch einmal die A u f ‑
g a b e , die sie sich stellt. Das „Angeborene“ als Erklärungs‑
D e r Kampf gegen das „Angeborene“. 167

grund zulassen, hiesse die psychischen Ta t s a c h e n , die uns


als solche unmittelbar bekannt und gegeben sind, auf fiktive
Begriffselemente zurückführen, die sich jeder Bestätigung durch
direkte Erfahrung und Beobachtung prinzipiell entziehen. Erst
wenn diese Annahme völlig entwurzelt ist, kann es daher ge‑
lingen, auch n u r das Gebiet, auf dem die F r a g e s t e l l u n g
sich fortan einzig zu bewegen hat, m i t Sicherheit abzugrenzen.
Aus dieser Notwendigkeit, sein eigentliches Problem erst einmal
allgemein zu b e z e i c h n e n und zu rechtfertigen, mag sich die
Umständlichkeit erklären, m i t der Locke bei diesen vorbereiten‑
den Fragen verweilt. Man hat immer wieder nach dem Gegner
gefragt, auf den alle diese Angriffe abzielen; m a n hat geglaubt,
dass Locke die Lehre, die hier bestritten wird, in seiner nächsten
geschichtlichen Umgebung in irgend einer konkreten Ausprägung
vor sich gehabt haben müsse. Denn dass der Kampf, falls er
gegen Descartes gerichtet sein sollte, einen ‚wahren Wind‑
mühlenkampt bedeutet hätte, dies musste sich jedem historischen
Beurteiler, der die Cartesische Lehre von den „eingeborenen
Ideen“ i n ihrer rein l o g i s c h e n Tendenz und Bedeutung erfasst
hatte, unmittelbar aufdrängen. Das System der „angeborenen
Ideen“, das Locke vor Augen hat, ist indessen keine geschicht‑
liche Realität, sondern eine polemische Konstruktion, die er als
Erläuterung und als Gegenbild der eigenen Anschauung braucht.
Es ist im Grunde nicht der theoretische Philosoph, sondern der
E r z i e h e r, der i m ersten Buche des Essay das Wo r t führt: nicht
eine erkenntniskritische, sondern eine pädagogische Einführung
in Lockes Reformwerk ist es, die beabsichtigt wird. Der Glaube
an das „Angeborene“ birgt eine innere Gefahr, weil er der freien
wissenschaftlichen Prüfung eine willkürliche Schranke zu setzen
sucht, weil er die Evidenz und die Autorität letzter unbeweis‑
barer Grundsätze an die Stelle kritischer Begründung setzt. Man
verschliesst sich den Weg zu wahrer Einsicht, wenn m a n „blind‑
lings und gläubig Grundsätze annimmt und herunterwürgt, stalt
in eigener Arbeit klare distinkte und vollständige Begriffe zu
g e w i n n e n und zu fixieren.“*) Man sieht sogleich, dass es die
a l l g e m e i n e Tendenz der Aufklärungsphilosophie, dass es die
Ueberzeugung von dem unumschränkten Recht der Ve r n u n f t ‑
f o r s c h u n g ist, die auch die „empiristische* Kritik des An‑
168 . Locke.
m

geborenen bestimmt. Auch die psychologische Methode Lockes


w i l l zunächst das Werkzeug sein, m i t dem er diese seine
r a t i o n a l e Grundabsicht erreicht. Dass all unserem Wissen
Prinzipien v o n a l l g e m e i n e r u n d n o t w e n d i g e r G e l t u n g
zu Grunde liegen: dies wird von Locke an k e i n e r S t e l l e
bestritten.) Aber m a n darf nicht glauben, dass diese Prin‑
zipien dem Geiste als ein fertiger Wissensschatz mitgegeben
wären, nach dem er n u r zu greifen brauchte, um i h n f ü r immer
und in voller Sicherheit sein eigen zu nennen. Die Einsicht
in die A r t des E r w e r b e s ist die Bedingung f ü r alle Ge‑
wissheit im B e s i t z unserer Erkenntnis. Erst wenn wir den
Inbalt jedes Begriffs in dieser Weise zeitlich auseinanderlegen,
gelangen w i r zum klaren Bewusstsein über die einzelnen Momente,
aus denen er sich konstituiert. Die genetische Ableitung ist das
unentbehrliche Hilfsmittel der logischen Analyse. In diesem
Sinne hat Locke, am Schluss des ersten Buches, seine allgemeine
Frage gestellt und präzisiert. Die Annahme der „angeborenen
Wahrheiten“ war bisher n u r ein bequemer Vorwand für den
Trägen, der hierdurch aller Mühe des Suchens und der Prüfung
‘durch eigene Vernunft -und eigenes Urteil überboben wurde.
Statt dessen gilt es nunmehr, in dem weiteren Verlauf der Unter‑
suchung, ein Gebäude zu errichten, „das in all seinen Teilen
gleichförmig und harmonisch ist und das sich auf einer Basis
erhebt, die keiner Stützen und Pfeiler bedarf, welche auf er‑
borgtem oder erbetteltem Grunde ruhen.“®) In diesen Worten
hat Locke selber den gültigen Maassstab angegeben, nach dem
sein Werk zuletzt zu beurteilen i s t : die gesamte Betrachtung
konzentriert sich v o n n u n ab auf die Frage, wie weit es i h m
gelungen ist, gemäss der eigenen Forderung, das. Ganze der E r ‑
kenntnis aus den Grundlagen und dem Material des Geistes selber
erstehen zu lassen.

1.
S e n s a t i o n u n d R e fl e x i o n .
Wenn w i r den Stoff, aus dem all unsere Erkenntnis gewoben
ist, unbefangen betrachten, wenn wir, ohne nach seiner Herkunft
Sensation und Reflexion. 169

und Abstammung zu fragen, lediglich seinen I n h a l t ins Auge


fassen, so zerlegt er sich uns sogleich von selbst in zwei deutlich
geschiedene Gruppen von Elementen. Von den Vorstellungen
der Sinne, die der „Seele“ wie ein objektives Sein entgegentreten,
heben sich die Empfindungen ab, die sich n u r auf ihren eigenen
inneren Zustand beziehen. Wenn w i r also von Anfang an als die
methodische Voraussetzung der ganzen folgenden Untersuchung
den Satz aufstellen können, dass all unser Wissen a u s d e r E r ‑
f a h r u n g stammt, so darf u n s doch die Erfahrung selber h i e r b e. i
nicht als ein einheitlicher und überall glieichförmiger Prozess
gelten. Sie spaltet sich schon für die erste Analyse in zwei ver‑
schiedene Grundmomente, die, wenngleich sie im Aufbau unserer
Erscheinungswelt beständig zusammenwirken, darum doch in
ihrem Wesen und ihrer Eigenart geschieden sind. Wenn der
erste Schritt darin besteht, dass „die Sinne uns mit einzelnen
Vorstellungen versehen und damit das noch leere Kabinett ein‑
richten“,’) so entsteht uns aus der Beobachtung der eigentümlichen
Reaktion, die in der Seele durch diese äusseren Reize hervor‑
gerufen wird, eine neue Klasse von Inhalten. So bilden Sensation
und Reflexion, Sinnes- und Selbstwahrnehmung, den Quell und
die Materie all unserer Erkenntnis: „alle jene erhabenen Gedanken,
die sich über die Wolken erheben und zum Himmel selber auf‑
reichen, haben hier ihren Ursprung und ihren Boden; in all den
weiten Räumen, die der Geist durchwandert, in all den hoch‑
strebenden Gedankenbauten, zu denen er sich aufschwingt, fügt
er nicht das geringste Stück zu jenen Vorstellungen hinzu, die
die Sinne oder die innere Wahrnehmung i b m zur Betrachtung '
darbieten.“®)
Alle Schwierigkeiten, die Lockes Essay dem geschichtlichen
Verständnis bietet, liegen schon in diesen ersten Anfangssätzen
heschlossen. Dass all unser Wissen in „Sensation“ und „Reflexion“
besteht: dieser Satz ist in seiner Allgemeinheit so unbestimmt und
vieldeutig, dass jede philosophische Lehre und jede erkenntnis‑
theoretisehe Richtung i h n sich ohne Unterschied aneignen könnte‑
Je nach dem Ve r h ä l t n i s , in das m a n die beiden Grundelemente
setzt, je nach der Deutung, die m a n insbesondere dem schwierigen
Terminus der „Reflexion“ gibt, muss m a n somit zu völlig ver‑
schielenen Auffassungen v o m Sinn und von der Absicht der
170
170 Locke.
Locke.

Lockeschen
Lockeschen Lehre gelangen. Kein
Lebre gelangen. Kein WunderWunder daher, daher, dass sie bald bald
als „Eimpirismus“
als „Empirismus" und und „Materialismus“,
„Materialismus", bald bald als als reiner „Intellek‑
„Intellek-
tualismus“ bezeichnet
lualismus" worden ist,
bezeichnet worden ist, dass m man sie auf der einen
a n sie einen
Seite als
Seite den Anfang
als den Anfang derder kritischen Philosophie betrachten
kritischen Philosophie betrachten konnte,konnte,
während m
während man auf der
a n auf der andern
andern Seite Seite in in ihr den Typus des
i h r den
psychologischen Dogmatismus
psychologischen Dogmatismus erblickt.") e r b l i c k t ) Um
U m h i e r zu
hier z u einer
einer
sicheren Entscheidung zu
sicheren Entscheidung zu gelangen, muss versucht werden, den
gelangen, muss versucht werden, den
proteusartigen
proteusartigen Begriff Begriff der „Reflexion",
„Reflexion“, der der sich allen Wendungen
sich allen Wendungen
und Wandlungen
und Wandlungen von von Lockes
Lockes Gedanken gleichmässig anbequemt,
Gedanken gleichmässig anbequemt,
in seiner
seiner Entstehung
Entstehung und und in denden einzelnen
einzelnen Phasen Phasen seiner Bedeu‑ Bedeu-
tung im einzelnen
tung einzelnen zu zu verfolgen.
verfolgen. Die „Reflexion" besagt
Die „Reflexion“ besagt ursprüng‑
ursprüng-
lich
lich für Locke nichts anderes,
Locke nichts anderes, als als was iihr Wortsinn nahelegt:
h r Wortsinn nahelegt:
sie ist,
sie nach der
ist, nach Analogie der
der Analogie der optischen Verhältnisse, jene eigen‑
optischen Verhältnisse, eigen-
tümliche Spiegelung, in
tümliche Spiegelung, der die Vorgänge
in der Vorgänge des inneren inneren Lebens
Lebens
sich
sich unsuns darstellen.
darstellen. So So bezeichnet
bezeichnet sie sie eineeine merkwürdige
merkwürdige Ve Ver-r ‑
doppelung: wie die
d o p p e l u n g : wie die Empfindung
Empfindung das das A b bbii ll dd der der äusseren
äusseren DingeDinge
ist, so muss
ist, so muss auch jeder psychische
auch jeder psychische Vorgang Vorgang erst erst eine Nachah‑Nachah-
mung und
mung einen Abdruck
und einen Abdruck seiner selbst selbst in uns uns bewirken,
bewirken, ehe ebe erer
zu klarem
zu klarem Bewusstsein erhoben werden
Bewusstsein erhoben werden kann. kann. Man Man sieht,sieht, dass
in dieser
in Grundauffassung die
dieser Grundauffassung die Ideen
Ideen der Sensation Sensation und und der
Reflexion völlig auf derselben logischen
Reflexion völlig auf derselben logischen und erkenntnistheoreti- und erkenntnistheoreti‑
schen Stufe
schen Stufe stehen; beiden handelt
stehen; in beiden handelt es sich um
es sich um ein ein lediglich
lediglich
p a s s i v e s Verhalten
passives Verhalten des Geistes, der bestimmte
des Geistes, bestimmte Inhalte, Inhalte, die die iihm
hm
gegenüberstehen,
gegenüberstehen, nnur u r zu empfangen und
zu empfangen und wiederzugeben
wiederzugeben hat. hat.
diesem Teile
„ I n diesem
»In Teile verhält sich der
verhält sich der Verstand
Verstand rein rein leidend
leidend und und eses
steht nicht
steht seiner Macht,
nicht in seiner Macht, ob er zu zu diesen Anfängen und
diesen Anfängen und diesem
diesem
Grundstoff
Grundstoff alles alles Wissens
Wissens gelangt oder oder nicht.
nicht. Denn Denn die die Gegen‑
Gegen-
stände
stände der der Sinne drängen dem
Sinne drängen dem Geiste Geiste die die verschiedenartigen
verschiedenartigen
Ideen,
Ideen, die die ihnen entsprechen, wider seinen
ihnen entsprechen, seinen WillenWillen auf, auf, undund auch
auch
die Tätigkeiten
die Tätigkeiten der Seele lassen
der Seele lassen uns nicht ganz ohne einige
uns nicht einige dunkle
dunkle
Vorstellungen
Vorstellungen von Wenn
s i c h . . . We
von sich n n diese einfachen Ideen
diese einfachen Ideen dem dem
Geiste entgegengebracht werden,
Geiste entgegengebracht werden, so kann er sich
so kann sich gegen
gegen sie sie weder
verschliessen,
verschliessen, noch sie, wenn
noch sie, wenn siesie iihm eingedrückt sind,
h m eingedrückt sind, verändern
verändern
‘oder sie und sich selbst
oder sie vertilgen und sich selbst neue schaffen; so
vertilgen neue schaffen; so wenig
wenig eein in
Spiegel die Bilder abweisen, verändern
Spiegel die Bilder abweisen, verändern oder auslöschen kann, oder auslöschen kann,
die die
die die äusseren
äusseren Gegenstände
Gegenstände in in iihm
h m bewirken.“10)
bewirken. "10)
Wenn „Tätigkeiten“
Wenn hier von „Tätigkeiten" der Seele
hier v o n Seele die Rede ist,
die Rede ist, die
die in
unseren Vorstellungen
unseren Vorstellungen nachgebildet
nachgebildet werden werden sollen, sollen, so so bedeuten
bedeuten
Die Vieldeutigkeit des Reflexionsbegriffs. 171

doch auch sie nicht mehr, als eine einfache Reaktion, vermöge
deren ‐ ähnlich wie in Hobbes’ Lehre ‐ der äussere Reiz n u r
bemerkt, nicht aber in irgend einer Weise bearbeitet und u m ‑
gestaltet wird. Es ist daher bereits eine zweite Stufe der Betrach‑
tung, es ist ein neuer Inhalt, den der Begriff der „Reflexion“
gewinnt, wenn er weiterbin dazu verwandt wird, die Funktion
der „Verbindung“, die w i r zwischen den einzelnen Vorstellungen
vollziehen, zu bezeichnen. Alle Tätigkeiten, die der Geist an
dem sinnlichen Stoffe vollzieht, gehen zuletzt auf ein Zusammen‑
fügen und Trennen der einzelnen Bestandteile zurück, kraft dessen
sich verschiedene, willkürlich abgesonderte Gruppen von Em‑
pfindungsinhalten für uns ergeben. Alle abstrakte Begriffsbildung,
und somit im Grunde alle Wissenschaft, wurzelt in diesem Ver‑
mögen der Vergleichung, sowie der Verknüpfung und Lösung der
primitiven Wahrnehmungselemente.!!) Aber es darf nicht ver‑
gessen werden, dass es sich in diesem Verfahren um einen völlig
w i l l k ü r l i c h e n Akt des Denkens handelt, der nach Belieben voll‑
zogen oder unterlassen werden kann. Die Vorstellungsgebilde,
die sich auf diese Weise ergeben, haben daher keinerlei objek‑
tiven Bestand und Halt: sie sind flüchtige Geschöpfe unserer sub‑
jektiven Phantasie, die in derselben Weise, wie sie entstanden
sind, wieder verschwinden können. Echte und tatsächliche Wirk‑
lichkeit kommt n u r den einfachen Empfindungen selber zu, nicht
den „gemischten Zuständen“ (mixed modes), die w i r aus ihnen
bilden. Diese bleiben vielmehr „fliessende und vorübergehende
Zusammenstellungen einfacher Ideen, die n u r irgendwo im Geiste
der Menschen ein kurzes Dasein fristen und die n u r so lange
bestehen, als man tatsächlich an sie denkt, ja, die in der Seele
selbst, in der sie doch ihren eigentlichen Sitz haben sollen, n u r
eine sehr ungewisse Wirklichkeit besitzen.'!2) Mag somit der Geist
immerhin Jie einzelnen Daten der Sinne mannigfach umformen,
mag er sie ‐ nach Lockes Ausdruck ‐ in Bündel zusammen‑
binden und in Arten sondern'%): er gewinnt hierdurch für sich
n u r ein Mittel, sie bequemer zu überschauen, ohne selbständig
irgend einen neuen Inhalt zu erschaffen. So bleibt der Verstand
nach wie vor „ein dunkler Raum“, in den n u r kraft der Sinnes‑
und Selbstwahrnehmung bie und da ein spärliches Licht fällt;
die Bilder, die auf diese Weise in i h n eingelassen werden, können
172 Locke.

sich in i h m wie in einem Kaleidoskop vielfältig verschieben und


umordnen, aber sie können keine neue Bestimmung ihrer F o r m
und Wesenbeit erfahren.!!) -‑
Ueber diese Begrifisbestimmung der Reflexion und i h r Ver‑
hältnis zur sinnlichen Wahrnehmung ist Locke in den G r u n d ‑
lagen seines Werkes nirgends hinausgelangt. Erst die A n w e n ‑
d u n g , die er von seinem psychologischen Schema z u r Erklärung
der wissenschaftlichen Prinzipien macht, zwingt i h n immer mehr
zu einer fortschreitenden Umformung, die sich indes n u r u n ‑
bewusst und gleichsam wider Willen vollzieht. Unter den „ein‑
fachen Ideen‘, die ihren Ursprung der Sensation und Reflexion
zugleich verdanken, werden zunächst nicht n u r Lust und Unlust,
Freude und Schmerz, sondern auch die Vorstellungen der K r a f t ,
der E i n h e i t und des Daseins genannt. Sie alle gelten somit,
nach der ursprünglichen Erklärung, lediglich als Abdrücke irgend
eines objektiven Seins, das sich ausser uns oder ip uns, in fer‑
tiger Gegebenheit vorfindet. Jeder äussere Gegenstand und jede
innere Vorstellung zwingt dem Geist ohne weiteres die Begriffe
der Existenz und der Einheit auf, und in gleicher Weise gehört
der Begriff der Kraft und der Verursachung zu denen, deren
„Original“ unmittelbar in der Sinnen- und Selbstwahrnehmung
gegeben ist.!5) Die Naivetät dieser Anschauung, die, wie bekannt,
den Anstoss und den kritischen Ansatzpunkt für die gesamte
künftige Entwicklung der englischen Pbilosophie gebildet hat,
macht erst dort, w o Locke z u r Betrachtung des U n e n d l i c h k e i t s ‑
problems fortschreitet, einer schärferen Analyse Platz. Hier erst
bilden Sensation und Reflexion nicht mehr gleichwertige Elemente,
die in dem schliesslichen Ergebnis n u r in unbestimmter Weise
miteinander verschmolzen sind, sondern sie treten als selbständige
Faktoren von eigentümlichem logischen Charakter und Geltungs‑
wert einander entgegen. Die Gegensätzlichkeit dieser beiden psy‑
chologischen Momente gilt als der tiefere Grund des inneren sach‑
lichen Widerstreites, den Philosophie und Wissenschaft seit jeher
im Begriff des Unendlichen gefunden haben. Betrachtet m a n die
Reihe der einzelnen gedanklichen Schritte, kraft deren die Idee der
Unendlichkeit sich im Geiste erzeugt, so lässt sich hier zunächst
ein sicherer und positiver Grundbestand aussondern, der v o n
Anfang an in voller sinnlicher Klarbeit vor uns liegt. Immer
Die Kritik des Unendlichkeitsbegriffs. 173

ist es zunächst eine einzelne begrenzte Grösse, eine endliche


Strecke des Raumes oder der Zeit, v o n deren Betrachtung w i r
ausgehen. Auch wenn w i r weiterhin darauf achten, dass diese
Grösse einer unbestimmten Ve r m e h r u n g fähig ist, dass wir sie
etwa in Gedanken verdoppeln und auf das Resultat dieser Ver‑
vielfältigung immer v o n neuem wieder die gleiche Operation
anwenden können, haben w i r die Grenzen dessen, ‚ w a s sich u n ‑
mittelbar erfahren oder beobachten lässt, noch nirgends über‑
schritten. Denn was sich aus diesem Gedanken der fortschrei‑
tenden Hinzufügung v o n Teilen ergiebt, ist kein neuer Vorstellungs‑
i n h a l t , der gleichartig und gleichberechtigt neben die früheren
t r i t t : es ist n u r das Bewusstsein eines möglichen Vorstellungs‑
prozesses, von dem w i r gewiss sind, dass i h m auf keiner be‑
stimmten Einzelstufe ein plötzlicher Stillstand geboten werden
kann. Woahrhafte Existenz können wir somit immer n u r dem
endlichen Stücke zuschreiben, das in der Vorstellung unmittel‑
bar realisiert und durch sie verbürgt ist, während das Bewusst‑
sein, auch über diesen gegebenen Inhalt wieder hinausgehen zu
können, n u r eine subjektive Eigentümlichkeit unseres Geistes zum
Ausdruck bringt, die für irgendwelche Schlussfolgerungen auf
die gegenständliche Welt nicht bindend und nicht beweiskräftig
ist. So ist denn auch hier, wie es scheint, die „Reflexion“ über
ihren willkürlichen und somit negativen Charakter noch nirgend
hinausgewachsen. „Eine Vorstellung, in der der grösste Te i l v o n
dem, was i c h unter sie befassen möchte, ausgelassen und n u r
durch die unbestimmte Andeutung eines „noch grösser“ ersetzt
ist, kann wohl nicht den Anspruch erheben, positiv und vollendet
zu heissen.“!%) Das Vermögen des Geistes, zu immer neuen
Grössensetzungen fortzuschreiten, spiegelt uns zuletzt n u r einen
Scheininhalt vor, der sich bei dem geringsten Versuch, i h n fassen
und greifen zu wollen, in Nichts auflöst. Nachdem der Gedanke
sich damit ermüdet hat, so viele Millionen bekannter Raum- und
Zeitgrössen, als es i h m immer beliebt, zusammenzuhäufen, ist die
klarste Vorstellung, die er von der Unendlichkeit erreichen kann,
doch nichts anderes, als „der verworrene unbegreifliche Rest ins
Endlose weiter addierbarer Zahlen, bei denen sich nirgend eine
Aussicht auf einen Halt oder eine Grenze bietet.“17)
W i r fragen an dieser Stelle, an der w i r es lediglich m i t der
174 Locke.

D a r s t e l l u n g und i m m a n e n t e n Kritik der Lockeschen Lehre


zu tun haben, nicht, ob diese Auffassung des Unendlichkeits‑
begriffs seinem logischen Gehalt, ob sie seiner positiven E r ‑
k e n n t n i s f u n k t i o n in Mathematik und Naturwissenschaft gerecht
wird. Aber selbst wenn w i r uns einzig auf den Standpunkt stellen,
den Lockes psychologische Erklärung und Zergliederung u n s
anweist, so ergiebt sich auch hier alsbald ein schwieriges Problem.
Was w i r bisher kennen gelernt, das waren die sinnlichen Ein‑
drücke und das Vermögen des Geistes, sie beliebig zu verknüpfen
und zu trennen. Diese letztere Fähigkeit aber bedeutete u n s
wiederum nichts anderes, als einen reinen Willkürakt: keine
objektive Regel, sondern lediglich das subjektive Belieben des
Denkens entschied darüber, in welcher Richtung und zu welchen
Verbindungen es fortschreiten wollte. Woher also ‐ so müssen
wir fragen ‐ stammt jene innere N ö t i g u n g des Denkens, über
jede gegebene Grenze fortzuschreiten, woraus erklärt sich der
psychische Zwang, der uns über jeden Abschluss in unserer
Vorstellung der Zahl, des Raumes und der Zeit immer von neuem
hinaustreibt? Die Grenzenlosigkeit der Zahlenreihe, die für
Locke als das eigentliche Prototyp und Vorbild gilt, an dem sich
zu einer sicheren Entscheidung über alle Probleme des Unend‑
lichen gelangen lässt, bedeutet nicht lediglich, dass es in unsere
Macht gegeben ist, von jeder Zahl zu einer höheren fortzugehen;
sondern sie besagt, dass diese Fortsetzbarkeit durch den B e g r i f f
d e r Z a h l selbst gesetzt und g e f o r d e r t wird. Nicht was aus
psychologischen Gründen m ö g l i c h , sondern was aus logischen
Gründen n o t w e n d i g ist, ist hier das Entscheidende. Diese
"Notwendigkeit aber wird durch Lockes Analyse nirgends erklärt,
„Keine körperliche Schranke“ ‐ so führt er aus ‐, „kein dia‑
mantener Wall vermag die Seele in ihrem Fortschritt innerhalb
der Ausdehnung und des Raumes aufzuhalten, vielmehr würde
beides n u r dazu dienen, diesen Fortgang zu erleichtern und an‑
zuspornen: denn so weit der Körper reicht, so weit muss zweifellos
auch die Ausdehnung reichen. Und was könnte uns, nachdem
wir einmal zu der äussersten Grenze der körperlichen Welt gelangt
sind, hier einen Halt gebieten oder die Seele glauben machen,
dass sie am Ende des Raumes angelangt ist, da sie doch bemerkt,
dass dies nicht der Fall ist, und dass auch jenseit dieser Grenze
Psychologische und logische Analyse der Unendlichkeitsvorstellung. 175

d i e Möglichkeit der Bewegung des Körpers fortbesteht ... Wohin


s i c h die Seele also auch immer in Gedanken stellen und ob sie
innerhalb der Körper oder entfernt v o n ihnen ihren Standort
w ä h l e n mag, s o kann sie doch i n d e r g l e i c h f ö r m i g e n Vo r ‑
s t e l l u n g des Raumes nirgends eine Schranke entdecken und
m u s s somit notwendig schliessen, dass er vermöge der Natur und
d e r Vorstellung jedes Teiles wirklich unendlich (actually infinite)
ist.“'5) Aber die blosse Abwesenheit des Hindernisses vermag den
positiven Antrieb, der den Geist z u m Fortgang ins Unendliche
drängt, nicht zu erklären; die blosse Tatsache, dass dem I c h auf
seinem bisherigen eng umsrenzten Wege kein. Hemmnis entgegen‑
getreten ist, gibt i h m keine Gewissheit darüber, dass ein solches
Hemmnis unmöglich und widersprechend wäre. Wenn wirklich
-- wie Locke in einem bekannten Beispiel ausführt ‐ der Geist
in seiner Vorstellung der Unendlichkeit dem Matrosen zu ver‑
gleichen ist, der von der „unermesslichen“ Tiefe des Meeres spricht,
weil in allen Versuchen, die er auch angestellt hat, sein Senkblei
niemals den Grund erreicht hat: so ist der Begriff des Unend‑
lichen nicht n u r ein „negativer“, sondern ein fehlerhafter und
grundloser Begriff, so schliesst er eine Behauptung ein, die sich
in keiner Weise rechtfertigen lässt.
Locke mag immerhin die „potentielle“ und die „aktuelle“
Unendlichkeit unterscheiden, er mag die Unendlichkeit aus der
Wirklichkeit verbannen, um sie dem Geist als Eigentum zuzu‑
sprechen: v o n seinem ursprünglichen Standpunkt aus bleibt das
eine nicht minder wie das andere rätselhaft und problematisch.
Denn welche induktive B e o b a c h t u n g versicherte uns wenn nicht
eines grenzenlosen Seins, so auch n u r eines wahrhaft unbe‑
schränkten- geistigen „Vermögens“? Wenn die „Reflexion“ nichts
anderes bedeuten soll, als den „Abdruck“, den die Seele v o n
ihren eigenen inneren Zuständen erhält, so kann sie das seelische
Geschehen zwar a u f e i n e begrenzte S t r e c k e h i n begleiten
u n d v e r f o l g e n , aber sie kann niemals ein allgemeines Urteil
begründen, das über die Grenzen dieser unmittelbaren empirischen
Beobachtung hinauszinge So stehen w i r hier v o r einem unent‑
rinnbaren Gegensatz: w i r müssen den Begriff der Reflexion, wie
er sich u n s bisher dargeboten hat, preisgeben oder aber auf jeden
Gehalt des Unendlichkeitsbegriffs verzichten. Denn wo immer
176 Locke.

in der Wissenschaft, insbesondere in der Mathematik, vom Un‑


endlichen gesprochen wird, da soll damit niemals ein Prozess
bezeichnet sein, bei dem keine Grenzen bemerkbar, sondern
bei dem sie aus positiven Gründen ausgeschlossen sind; da
wird also implicit stets eine allgemeine Regel und Methode v o r ‑
ausgesetzt, die es uns ermöglicht, uns die einzelnen Schritte nicht
n u r nacheinander bis zu einem bestimmten Punkte empirisch zu
vergegenwärtigen, sondern sie in ihrer Gesamtheit zu überblicken
und sie trotz ihrer sinnlichen Unabschliessbarkeit begrifflich zu
beherrschen. Locke selbst sieht sich gedrängt, diesen Tatbestand,
den die wissenschaftliche Erkenntnis i h m darbietet, je weiter
seine Analyse fortschreitet, mehr und mehr anzuerkennen. Wenn
das Unendliche i h m anfangs n u r eine vereinzelte „Idee“, n u r ein
einfaches Vorstellungsbild bedeutet, das aber im Gegensatz zu den
völlig scharfen Bildern der endlichen Dinge, verschwommen und
unbestimmt ist, so wird er, je mehr er sich bemüht, seinen Ur‑
sprung aufzudecken, dazu geführt, es als eine charakteristische
psychische F u n k t i o n zu fassen und in i h m somit eine
notwendige Betätigung des Geistes anzuerkennen. Der Be‑
griff des „Selbst und der „Selbstwahrnehmung“ erfährt da‑
m i t abermals eine innere Umgestaltung. Denn jetzt ist es nicht
mehr das subjektive Belieben, das uns in den „Verknüpfungen“
der sinnlichen Einzeldaten leitet, sondern es spricht sich bierin
eine feste Regel und eine allgemeine Gesetzlichkeit aus, der w i r
u n s nicht zu entziehen vermögen; jetzt ist es daher auch kein
bloss flüchtiges und jederzeit wieder aufhebbares Beisammen v o n
Vorstellungen, das hierdurch geschaffen wird, sondern ein neuer
Inhalt, der ‐ wie immer m a n über sein Anrecht urteilen mag
‐ m i t unserem Bilde von der „objektiven“ Wirklichkeit unlöslich
verschmilzt und aus i h m fortan nicht wieder fortzudeuten ist. ‑
Der gleiche Fortgang, der hier hervortritt, zeigt sich über‑
all, wo Locke sich der schärferen Betrachtung der wissenschaft‑
lichen Begriffe zuwendet; er lässt sich bei seiner Analyse des
Raumes, wie der Zeit, der Zahl, wie der Kraft deutlich verfolgen.
Alle diese Bestimmungen werden nicht n u r schlechthin in den
Dingen angetroffen, sondern sie weisen Bestandteile auf, die der
Geist „ i n sich selbst ohne die Hilfe äusserer Objekte und ohne
fremde Einflüsterung zu erzeugen vermag. '®) Zwar w i r d auch
Das Raumproblem. 177

in der Zergliederung der Raumvorstellung, die Locke m i t diesen


Worten einleitet, der Nachdruck v o r allem auf das sinnliche
Moment gelegt: der A b s t a n d zweier Körper v o n einander
lässt sich durch Gesichts- und Tastsinn ebenso unmittelbar
wahrnehmen, wie w i r die verschiedene Färbung der Körper
direkt erfassen. Das Grundmoment der Raumanschauung, das
in all ihre komplexen Gebilde als Bedingung eingeht, ist also
einer weiteren begrifflichen Ableitung und Zerlegung weder fähig,
noch bedürftig; es ist durch die blosse Empfindung hinreichend
verbürgt. Die „einfache“ Vorstellung des Ortes ist, wie jedes
andre Element unseres Bewusstseins der äusseren Wirklichkeit,
den sinnlichen Dingen entlehnt: i h r Unterschied gegen die übrigen
Qualitäten besteht lediglich darin, dass sie auf zwei verschiedene
Sinnessphären, die bei i h r e r Bildung mitwirken, zurückgeht.?”)
Es ist klar, dass auf dieser Grundlage sich, streng genommen,
n u r eine empiristische Raumlehre hätte aufbauen lassen, wie
sie später insbesondere von Berkeley folgerichtig entwickelt
worden ist. Ist der Raum lediglich ein Produkt der Wahrneh‑
mung, so kann er uns n u r zugleich m i t den Körpern und als ein
einzelnes sinnliches Merkmal an ihnen gegeben werden; so muss
daher jeder Versuch, ihn als ein besonderes und abtrennbares
Sein zu denken, lediglich eine metaphysische Verirrung scheinen.
Auch an diesem Punkte indessen sucht Locke der Konsequenz
seines Gedankens, die i h n nicht n u r m i t der Naturphilosophie,
sondern auch m i t der wissenschaftlichen Physik seiner Zeit
in Widerstreit zu bringen droht, aus dem Wege zu gehen.
E r b e g i n n t m i t dem Satz der R e l a t i v i t ä t des Ortes und der
Bewegung, der zunächst ohne jegliche Einschränkung behauptet
wird. Der Ort eines Dinges ist nichts anderes als die B e z i e h u n g ,
in der es zu bestimmten Körpern, die w i r als fest ansehen, steht;
er verliert somit alle Bedeutung, sobald w i r v o n jedem materiellen
Bezugssystem, von jeder Grundlage der Vergleichung und Messung
absehen.?) Es sind insbesondere die frühen Schriften Lockes,
‐ v o r allem sein auch in anderer Hinsicht wichtiges und inter‑
essantes Reisetagebuch ‐ die diese Anschauung in aller Klarheit
enthalten und ausführen. Der Abstand zweier Objekte wird hier
als eine R e l a t i o n definiert, der ausserhalb der Elemente,
zwischen denen sie besteht, keinerlei Bedeutung zukommt. Es
12
178 Locke.

ist n u r eine psychologische Selbsttäuschung, wenn w i r dem


Raum irgend eine unabhängige, für sich bestehende Realität
zuschreiben und i h n als ein positives Etwas betrachten, das ohne
die Dinge zu existieren vermag. Diese Loslösung und Verding‑
lichung einer abstrakten Beziehung ist es, die uns alsbald in alle
die bekannten Schwierigkeiten der theologischen u n d meta‑
physischen Raumtheorien verwickelt, die die unlösbaren Fragen,
ob der Raum „Etwas“ oder „Nichts“, ob er „geschaffen“ oder
„ewig“, ob er eine Eigenschaft der Körper oder ein Attribut
Gottes sei, heraufbeschwört.2) In der Entwicklung dieser Ge‑
danken tritt der Einfluss v o n Hobbes’ phänomenalistischer
Raumlehre unverkennbar hervor. (Vgl. ob. S. 156f.) „Wenn die
ganze Welt vernichtet würde und n u r ein Mensch und seine
Seele zurückbliebe, so wäre diese imstande, sich in ihrer E i n ‑
bildung die Welt und die Ausdehnung, die sie hatte, d. h. den
Raum, den sie erfüllte, zu vergegenwärtigen. Aber dies beweist
uicht, dass der gedachte Raum (imaginary space) ein wirkliches
Ding, ein Etwas ist. Denn Raum oder Ausdehnung besitzen, los‑
gelöst v o n den Körpern und der Materie, nicht mehr reale
Existenz, als sie der Zahl ohne irgend einen gezählten Inhalt zu‑
kommt; ebensogut also könnte m a n sagen, dass die Zahl des
Sandes am Meere wirklich existiere und auch nach der Ver‑
nichtung des Universums noch fortbestände, wie dass der Raum
oder die Ausdehnung des Meeres f ü r sich existiere und nach
der Vernichtung noch etwas sein würde.“2) Der Begriff des
„ r e i n e n Raumes“ ist also nichts anderes, als die Hypostasiernng
einer Eigenschaft, die w i r beständig an den Körpern beobachten,
zu einer selbständigen Wesenheit, die ihnen vorausgehen soll; er
greift ein vereinzeltes, sinnliches Merkmal heraus, um es zu einer
f ü r sich bestehenden Wirklichkeit zu machen.?%)
Dieser Auffassung, die v o n Lockes empiristischem Aus‑
gangspunkt aus in der Tat notwendig ist, ist der „Essay“
nicht treu geblieben. So wenig er eine letzte positive
Eutscheidung über die Existenz des „leeren Raumes“ ver‑
sucht, so deutlich ist doch jetzt Lockes Interesse auf eine
A u f h e b u n g der untrennbaren Korrelation gerichtet, die er zu‑
v o r zwischen Raum und Körper behauptet hatte. Die innere E r ‑
fahrung ‐ so wird bier betont ‐ lehrt u n s unmittelbar den Unter‑
Verhältnis von Raum und Körper. 179

schied zwischen der blossen Idee der Ausdehnung und der Vor‑
stellung der Materie kennen, in welcher zugleich die Bestimmun‑
gen der Dichtigkeit und des Widerstands mitgesetzt sind. Jeder
Versuch, dieses Ergebnis der direkten Beobachtung zugunsten
irgend einer begrifflichen Theorie umstürzen zu wollen, muss
notwendig scheitern: beweist doch schon die Möglichkeit, v o n
einem leeren Raume sprechen und i b n der Welt der Körper
entgegensetzen zu können, dass hier z u m wmindesten eine
grundlegende psychologische Differenz vorliegt, die sich
durch abstrakte Argumente nicht wegdeuten lässt. Ueber
das Dasein des Leeren und seine Unterscheidung v o n der
Materie könnte nicht gestritten werden, w e n n w i r nicht beides
wenigstens in Gedanken deutlich auseinanderhalten und f ü r sich
begreifen könnten.%2) M i t dieser Beweisführung macht der
empiristische Kritiker freilich der Ontologie ein bedenkliches
Zugeständnis: denn wenn jeder Inhalt, der n u r durch irgend ein
W o r t bezeichnet und herausgehoben wird, an sich schon sein
Recht und seine psychische „Realität“ erwiesen hätte, so gäbe es
kein Mittel, irgend welche willkürliche Fiktionen von psycho‑
logisch begründeten Annahmen und Begriffen zu unterscheiden.
Bleibt somit Locke hier an formaler Folgerichtigkeit des Denkens
hinter seiner früheren Auffassung zurück, so wäre es dennoch
irrig, in seinem sachlichen Ergebnis lediglich einen Rückschritt
zu seben. Man erkennt zum mindesten, dass es neue P r o b l e m e
sind, die jetzt in i h m lebendig geworden und die in i h m nach
begrifflicher Anerkennung ringen. Diese Probleme gehören
z u n ä c h s t zweifellos dem metaphysischen Gedankenkreis a n :
denn wie Newton, so steht auch Locke der Lehre H e n r y Mores
nabe, in der die Raumlehre m i t der spekulativen Gotteslehre
verschmilzt. (Näheres hierüber: Buch VI, Cap. 2)%) Daneben aber
ist es die Sorge um die Grundlegung der empirischen Physik
selber, die i h n zu einer veränderten Fassung seines Raumbegriffs
hintreibt: das P h ä n o m e n der Bewegung selbst ist, wie er aus‑
spricht, ohne die Behauptung und Setzung des reinen, vom
Körper unterschiedenen Raumes nicht zu begreifen und zu
„reiten“.7) Die Schwierigkeiten und Dunkelheiten in Lockes
Raumlehre, die m a n v o n jeher empfunden und betont hat,
klären sich somit, wenn m a n die Bewegung, die sein Denken
12*
180 Locke.

hier vollzieht, in ihren einzelnen Phasen verfolgt. Er geht v o n


den metaphysischen Problemen der Raumlehre aus, die er in
seiner geschichtlichen Umgebung vorfindet, um sie fortschreitend
auf psychologische zurückzuleiten. Aber seine eigenen psycho‑
logischen Bestimmungen, nach denen die Raumanschauung n u r
einen Sonderfall der sinnlichen Empfindung bedeutet, erweisen
sich i h m alsbald als ungenügend, um das Ganze der w i s s e n ‑
s c h a f t l i c h e n Fragen zu bewältigen, um die Gleichförmigkeit, d i e
Stetigkeit und die Unveränderlichkeit, die w i r dem reinen Raum
im Unterschied v o n dem wahrnehmbaren Stoffe zuschreiben, zu
begründen.8) Seine Analyse führt bis hart an die Grenze der
methodischen und erkenntniskritischen Probleme, die der Raum‑
begriff einschliesst; aber sie bietet kein Mittel zu ihrer Lösung
und Bewältigung.
Auch die Zergliederung des Zeitbegriffs weist im ganzen d i e
gleichen begrifflichen Abstufungen auf und führt zu einem ana‑
logen Endergebnis. Die Zeitvorstellung ist, im spezifischen u n d
ausgezeichneten Sinne, ein Produkt der „Reflexion“, da sie zu
ihrer Entstehung nicht der Wahrnehmung äusserer Bewegungen
bedarf, sondern lediglich aus der Beobachtung der inneren Wand‑
lungen des Bewusstseins q u i l l . W i r brauchen n u r dem Zuge
unserer Vorstellungen zu folgen, um in ihnen eine bestimmte
Folge des Nacheinander und einen zeitlichen Abstand der ein‑
zelnen Elemente unmittelbar gewahr zu werden. So ist die Zeit
im Sinne von H o b b e s als reiner „ A k t des Geistes“ begriffen: die
„Idee“ der Dauer ist ohne jede sinnliche Wahrnehmung materi‑
eller Vorgänge und Veränderungen zu gewinnen.) Es sind da‑
her nicht die empirischen Bewegungen, die das eigentliche Maass
der Dauer abgeben, sondern umgekehrt ist es die stetige u n d
regelmässige F o l g e d e r Gedanken, die uns erst in den Stand
setzt, den Ablauf des äusseren Geschehens in bestimmte, gleich‑
mässige Intervalle zu gliedern und abzuteilen. Wenn w i r prak‑
tisch für die Bedürfnisse der Zeitmessung stets irgendwelche körper‑
licheBewegungen, wie insbesonderedieUmdrehungender H i m m e l s ‑
körper zugrunde legen, so kommt diesem Verfahren doch keine
innere logische Notwendigkeit zu; vielmehr benulzen w i r diese
sinnlichen und wahrnehmbaren Vorgänge nur, weil w i r in ihnen
jene Gleichförmigkeit und Stetigkeit, die w i r in unserenGedanken
Der Begriff der Zeit. 181

beobachten, äusserlich am reinsten ausgeprägt finden. „Wir


müssen daher sorgfältig zwischen der D a u e r selbst und den
Maassen, nach denen w i r ihre Länge beurteilen, unterscheiden.
D i e Dauer selbst wird als etwas angesehen, was in konstanter,
regelmässiger und gleichförmiger Weise verläuft. Aber v o n keinem
d e r Maasse, die m a n für sie benutzt, kann m a n das Gleiche m i t
Sicherheit behaupten, da m a n hier niemals gewiss sein kann,
dass irgendwelche Einzelabschnitte oder Perioden einander an
Dauer völlig gleich s i n d . . . Die Bewegung der Sonne, die
m a n so lange und so zuversichtlich als ein exaktes Maass der
Dauer ansah, hat sich in ihren einzelnen Teilen als ungleich‑
förmig ergeben, und w e n n m a n auch neuerdings das Pendel als
eine regelmässigere und genauere Bewegung z u r Zeitmessung be‑
nutzt hat, so würde uns doch, w e n n w i r gefragt würden, woher
w i r denn m i t Sicherheit wissen, dass zwei aufeinanderfolgende
Pendelschwingungen wirklich g l e i c h seien, die Antwort schwer
fallen. Denn da wir nicht wissen, ob die uns unbekannte Ursache
der Pendelbewegung immer gleichmässig wirkt, ja, da w i r gewiss
sind, dass das Medium, in dem das Pendel schwingt, nicht immer
genau dasselbe bleibt, so kann jede Veränderung hierin ersicht‑
l i c h die Gleichheit der Perioden aufheben und somit die unbe‑
dingte Zuverlässigkeit und Exaktheit dieses Zeitmaasses ebenso‑
gut, wie die jedes anderen, zunichte machen. Nichtsdesto‑
w e n i g e r b l e i b t d e r B e g r i f f d e r D a u e r i m m e r k l a r, obwohl
m a n v o n keinem ihrer Maasse beweisen kann, dass es wirklich
genau i s t . . . Alles, was w i r bier tun können, besteht darin, dass
w i r solche kontinuierlichen und successiven Erscheinungen zu‑
grunde legen, die in scheinbar gleichmässigen Perioden verlaufen,
f ü r welche scheinbare Gleichheit w i r aber kein anderes Maass be‑
sitzen, als den Zug unserer eigenen Ideen, der sich unserem Ge‑
dächtnis eingeprägt hat und den w i r, auch aus anderen wahrschein‑
lichen Gründen, als gleichförmig ansehen.“%)
So erkennt Locke auch hier, dass alle Behauptungen über
irgendwelche Konstanz der äusseren Wirklichkeit zuletzt auf rein
gedankliche Bestimmungen zurückgehen; aber es kommt freilich
zu keiner Klarbeit darüber, dass auch die Gleichförmigkeit des
„inneren“ Geschehens nicht unmittelbar gegeben ist, sondern
eine begriffliche D e u t u n g der Erscheinungen und eine Forde‑
182 Loche.

r u n g , die w i r an sie stellen, in sich schliesst. Immerhin ist h i e r


die „Reflexion“, wie m a n sieht, über ihre anfängliche, eng be‑
grenzte Bedeutung wiederum weit hinausgehoben: ist sie es doch,
die nunmehr d a s K r i t e r i u m und die K o n t r o l l e der „Sensation“
enthält. Die Idee der Zeit, die w i r in u n s selbst und „ohne
fremde Einflüsterung“ gewinnen, ist jetzt das Vorbild, nach dem
w i r die Veränderungen der sinnlichen Wirklichkeit bemessen
und beurteilen. Der Grundsatz, von dem Locke ausging, dass die
Tätigkeit des Denkens n u r gegebene Elemente zusammenzufügen,
nicht aber ihren Inbalt zu bestimmen und umzuwandeln vermöge,
ist daher hier in der Ta t durchbrochen ;#!) die Reflexion ist n u n ‑
mehr nicht n u r ein Vermögen der willkürlichen Verbindung,
sondern der Gestaltung der sinnlichen Empfindungen.
Noch deutlicher müsste sich dieses Verhältnis bei der E r ‑
örterung des Zahlbegriffs ergeben, bei der sich indessen wiederum
die Unbestimmtheit im Verhältnis der beiden psychologischen
Grundfaktoren geltend macht. Von allen Ideen, die wir besitzen,
soll keine auf mebrerlei Weisen und auf mehreren Wegen dem
Geiste „aufgedrängt“ werden, als die der Zahl-und Einheit: denn
jeder Gegenstand, auf den unsere Sinne sich richten, jede Vor‑
stellung in unserem Verstand, jeder Gedanke in unserer Seele
bringt diese Idee m i t sich (brings this idea along with it), sodass
sie die allgemeinste ist, die w i r n u r zu fassen vermögen. Vor den
übrigen Vorstellungen ist ferner die Zahl dadurch ausgezeichnet,
dass alle ihre besonderen Bestimmungen und „Modi“ sich völlig
scharf v o n einander unterscheiden, sodass hier niemals, wie im
Gebiet der Sinnesempfindungen, zwei Elemente, die einander sehr
nahe stehen, m i t einander verschwimmen und nicht mehr aus‑
einander gehalten werden können. In dieser ihrer Eigentümlich‑
keit wurzelt i h r Erkenntniswert: die klare Unterscheidung jeder
einzelnen Zahlbestimmung von allen anderen, so nahe sie i h r
auch stehen mögen, ist der Grund dafür, dass zahlenmässige
Beweise, wenn nicht evidenter und genauer als die geometrischen,
doch v o n allgemeinerer Anwendung als diese sind. „Die ein‑
fachen Modi der Zahl sind unter allen die distinktesten, da die
geringste Aenderung, auch n u r um eine Einheit, jede zusammen‑
gesetzte Zahl ebenso verschieden v o n ihrer nächsten, wie v o n
ihrer entferntesten macht: deshalb ist die 2 von der 1 ebensosehr
D e r Begriff der Zahl. 183

unterschieden, wie die 100, und unterscheidet sich ihrerseits v o n


der 3 ebensosehr, wie die ganze Erde v o n einer Milbe.*®) In
dieser Ausnahmestellung der reinen Zahl liegt f ü r Lockes psycho‑
logische Fragestellung in der Ta t ein. ernstbaftes Problem. I h r
sind alle wahrhaften „Ideen“ zuletzt bestimmte und einzelne
Vo r s t e l l u n g s b i l d e r, die somit, u m unterschieden werden z u
können, einander als konkrete Inhalte gegenübergestelit werden
müssen. Und es erscheint als ein merkwürdiges Phänomen, dass
diese Fähigkeit der Sonderung ‐ kraft der Tatsache der Unter‑
schiedsschwelle ‐ bei den sinnlichen Qualitäten eine bestimmte
Grenze hat, während sie innerhalb des Gebietes der Zahl
unbeschränkt gültig und wirksam ist. In Wahrheit liegt in der
Anerkennung dieses Sachverhalts implizit das Zugeständnis,
dass die Zahl einer völlig anderen logischen Kategorie angehört,
als die Wahrnehmungsdaten, m i t denen sie hier zunächst noch
ganz in eine Reihe gestellt wird. Die „Zwei“ und die „Drei“
werden ‐ soweit sie Zahlen und nicht gezählte Dinge bedeuten ‑
gar nicht „vorgestellt“, sondern rein begrifflich d e fi n i e r t : sie
bezeichnen keine Bewusstseinsinhalte, die miteinander „ver‑
schmelzen“ könnten, sondern sind der Ausdruck für gedank‑
liche Operationen, deren eine die andere voraussetzt und die
somit l o g i s c h in eindeutiger Weise von einander geschieden
sind. ‐
W i r stehen hier vor einer Frage, zu der Lockes Analyse der
wissenschaftlichen und metaphysischen Begriffe uns zuletzt immer
wieder m i t Notwendigkeit hinführt. Die „einfachen“ Elemente,
die sie aussondert, sollen der Grundstoff sein, aus dem a l l unsere
Erkenntnis sich aufbaut. „Es kann nicht wundernehmen, dass
wenige einfache Ideen genügen, das schnellste Denken und
die weiteste Fassungskraft ganz auszufüllen und das Material
zu all den mannigfaltigen Kenntnissen und noch mannigfalti‑
geren Einbildungen und Meinungen d e r Menschen zu liefern,
wenn m a n bedenkt, wie viele Worte aus der verschiedenartigen
Verbindung der 24 Buchstaben gebildet werden können.“ %)
Die Vorstellung eines „Gedankenalphabets“, die hier zu Grunde
liegt, teilt Locke m i t all den grossen rationalistischen Syste‑
matikern; in i h r stimmt er m i t Descartes und insbesondere m i t
Leibniz völlig überein. Aber auch der charakteristische Unter‑
184 Locke.

schied t r i t t sogleich hervor. Wenn den Klassikern des Ratio‑


nalismus eine reine „Formenlehre“* der Erkenntnis als Ideal
vorschwebt, so ist es hier der materiale Gehalt der „einfachen“
Sinnesempfindungen, der den Halt und den Baugrund für das
Ganze unserer Erkenntnis bilden soll. Hier ist der Punkt, an
dem Sein und Denken zu wahrhafter Deckung gelangen; denn
jede einfache Vorstellung trägt die Bürgschaft f ü r die objektive
E x i s t e n z ihres Gegenstandes unmittelbar in sich. An dieser
Ueberzeugung hält Lockes Erkenntnislehre als an einem u n ‑
bezweifelbaren Dogma fest. Jede elementare Wahrnehmung
macht uns nicht n u r m i t ihrem eigenen Inhalt vertraut, sondern
sie liefert u n s in sich selbst und ohne dass es hierfür weiterer
gedanklicher Vermittlungen bedürfte, den vollgültigen Beweis
für die Existenz eines äusseren, dinglichen „Originals“, dem
sie entspricht.%) Diese Grundansicht wird für Locke auch durch
die Kritik, die er an den „sekundären Qualitäten“ übt, nirgends
erschüttert; sie bildet vielmehr die selbstverständliche Voraus‑
setzung, auf der eben jene Kritik in ihrer ganzen Ausführung
ruht. Dass die Empfindungen der einzelnen Sinnesgebiete
das Sein nicht in unbedingter Treue wiedergeben, dass die
„Bilder“, die von diesem Sein in uns entstehen, durch mannig‑
fache subjektive Bedingungen bestimmt und spezifisch gefärbt
sind: diese Einsicht bildet n u r die negative Kehrseite der Auf‑
fassung, dass alles wahrhafte Erkennen auf ein „Abbilden“ einer
absoluten Existenz gerichtet sein muss. „Ein Stück Manna v o n
wahrnehmbarer Grösse kann in u n s die Vorstellung einer runden
oder viereckigen Gestalt, und w e n n es v o n einem O r t nach
einem anderen bewegt wird, die Vorstellung der Bewegung e r ‑
wecken. Diese Vorstellung der Bewegung gibt i h r Objekt so
wieder, wie es in dem bewegten Körper selbst enthalten; ist, ein
Kreis und ein Viereck sind dieselben in der Vorstellung wie
in der Wirklichkeit, in der Seele, wie im Manna“. In dieser
I d e n t i t ä t liegt für Lockes Erkenntnislehre kein Problem:
„Jedermann erkennt sie bereitwillig an“.®) So zeigt sich b i e r
deutlich die Schranke v o n Lockes K r i t i k : wenn sie allen
geistigen Inhalt zuletzt in Empfindungen auflöst, so ge‑
schieht es nur, weil die Empfindung selbst, in ihrer psycho‑
logischen „Einfachheit“, zugleich an einer metaphysischen
Empfindung und Wirklichkeit. 185

Gewissheit teilbat; weil in i h r Sein und Bewusstsein sich u n ‑


mittelbar berühren und in einander übergehen. N u r scheinbar
führt Lockes Zergliederung a l l unser Wissen auf Sinnes- und
Selbstwahrnehmung zurück; denn neben diesen beiden Grund‑
vermögen bleibt die We l t der körperlich ausgedehnten „Dinge“
in i h r e r ganzen Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit, als u n ‑
entbehrliche Voraussetzung zurück. Sensation und Reflexion
erscheinen jetzt n u r als die Mittler zwischen „Subjekt“ u n d
„Objekt“, während der eigentliche Realgrund des Wissens
in den für sich bestehenden Substanzen und den realen Wirkun‑
gen, die sie auf u n s ausüben, zu suchen ist. Die „Wirklichkeit“
dieser Substanzen und ihrer Kräfte bleibt als das eigentliche
Rätsel stehen, als ein unbegriffener und unbegreiflicher Rest,
den keine psychologische Analyse weiter aufzuklären vermag.

I.
Der B e g r i f f d e r Wa h r h e i t .
W i r haben bisher ’die Erkenntnislehre Lockes n u r nach ihrer
allgemeinen Grundform betrachtet, in der sie sich in den beiden
ersten Büchern des Essay konstituiert. Zu einer völlig neuen
Ansicht indessen werden wir geführt, wenn Locke sich nunmehr,
im vierten Buch, der speziellen Aufgabe zuwendet, die Mittel,
über die die Erkenntnis verfügt, im einzelnen zu mustern u n d
ihnen ihren eigentümlichen Geltungswert und Geltungsumkreis
zu bestimmen. Schon der Ausgangspunkt der Betrachtung ist jetzt
ein anderer geworden: denn wenn in der psychologischen Be‑
trachtung die Einzelempfindung überall als das eigentliche Grund‑
ımaass des Wissens erschien, wenn jede „allgemeine“ Erkenntnis
sich als eine Summe besonderer Wahrnehmungsinhalte zu be‑
glaubigen hatte, so sind es jetzt ‐ in der logischen Schätzung
u n d Weriordnung ‐ die universellen und aligemeingültigen
Beziehungen, die an den Anfang treten. Die höchste Gewissheit,
deren die Seele teilhaft werden kann, erfasst sie nicht in der
Vergleichung und Zusammenstellung der einzelnen Empfindungs‑
daten, da diese i h r stets n u r ihren augenblicklichen, v o n Moment
zu Moment wandelbaren Zustand widerspiegeln. Es muss, wenn
186 Locke.

anders auf irgend einem Gebiete Evidenz und unverbrüchliche


Sicherheit erreicht werden soll, ein Mittel geben, kraft dessen w i r
über diesen Strom des bloss z e i t l i c h e n Geschehens hinauszu‑
blicken und uns einen dauernden u n d zeitlos gültigen B e s t a n d
ideeller Wahrheiten anzueignen vermögen. Gäbe es keine u r ‑
sprünglichen und notwendigen Beziehungen zwischen Ideen, die
für alle Zeiten feststehen und deren w i r uns ein für allemal v e r ‑
sichern können, so wären w i r der Skepsis rettungslos anheimge‑
geben. In der Tat, wenn alles Wissen auf unseren Vorstellungen
beruht und w i r u n s den Inhalt dieser Vorstellungen niemals anders
als i n der e m p i r i s c h e n B e o b a c h t u n g ihres zeitlichen Ablaufs
z u m Bewusstsein bringen können, so kann es, in keinem Bereich
der Erkenntnis, andere als relative Gewissheit geben. Vo n den
geometrischen Urteilen etwa bliebe alsdann nichts anderes übrig,
als Aussagen über bestimmte, hier und jetzt gegebene Einzel‑
figuren m i t all ihren zufälligen und äusserlichen Beschaffenheiten.
Dass damit aber der Sinn und Wert der mathematischen Sätze
nicht getroffen wird, muss schon die unbefangene phänomeno‑
logische Zergliederung des mathematischen Erkennens u n s
lehren. Nirgends bildet das einzelne sinnliche Bild, von dem
hier immerhin ausgegangen werden mag, den eigentlichen Gegen‑
stand, auf den der Geometer abzielt und den er in seiner Beweis‑
führung meint; und ebensowenig vermag eine unbeschränkte
Anhäufung derartiger besonderer Vorstellungsinhalte ‐ wie Locke
klar erkennt und ausspricht ‐ den eigentümlichen Gehalt dieser
Beweise jemals zu erklären und zu erschöpfen. Die Vermehrung
der Instanzen könnte u n s niemals zu wahrhaft allgemeiner Er‑
kenntnis führen, wenn nicht schon dem Einzelfall die Funktion
innewohnte, u n s ein universelles Gesetz unmittelbar zu be‑
g l a u b i g e 30)
n . A n dieser Stelle trennt sich Locke v o n Hobbes und
seiner n o m i n a l i s t i s c h e n Begriffstheorie, der e r überall sonst
getreulich folgt: die Symbole und Zeichen der Mathematik sind
i h m zwar notwendige Hilfsmittel des Gedächtnisses, nicht aber
der logische G r u n d f ü r die Allgemeinheit der mathematischen
‚Urteile. Die Zeichen verdanken ihren sachlichen Wert lediglich
den Ideen, für die sie einstehen und die sie vertreten wollen;
die Bürgschaft für die Gewissheit der Erkenntnis ist also schliess‑
l i c h immer n u r in diesen letzteren und in den notwendigen
D i e Intuition als Grundmittel der Erkenntnis. 187

Verknüpfungen, die zwiscben ihnen obwalten, zu suchen.) Um


dieses ursprüngliche Geltungsverhältnis zu bezeichnen, muss ein
neues psychologisches „Vermögen“ eingeführt werden: Sen‑
sation und Reflexion treten zurück gegenüber der „ I n t u i t i o n “ ,
die fortan als das eigentliche Fundament des Wissens erscheint.
I h r gegenüber muss jeder Zweifel und jeder Einwand, wie er
sich gegen die sinnliche Empfindung immer wieder hervorwagen
kann, verstummen. „Hier braucht sich der Geist nicht m i t Be‑
weisen und Prüfen zu bemühen, sondern er bemerkt die Wa h r ‑
heit, wie das Auge das L i c h t bloss dadurch, ‚dass er sich auf sie
richtet. In dieser Weise erkennt er, dass Schwarz nicht Weiss,
dass ein Kreis kein Viereck, dass drei mehr als zwei und gleich
1 + 2 ist. Wahrheiten dieser Art erfasst er beim ersten Anblick
der Ideen und ohne die Vermittlung irgend einer anderen Idee,
durch reine Intuition. Dieser Teil des Wissens ist unwiderstehlich
und drängt sich, gleich dem hellen Sonnenschein, unmittelbar
auf, sobald einmal der Geist sich i h m zuwendet. Auf einer der‑
artigen Intuition ruht alle Gewissheit und Evidenz unseres Wissens,
wer eine höhere verlangt, der weiss nicht, was er will; er möchte
wohl ein Skeptiker sein, aber er ist keiner.*®)
Dass in diesen Sätzen ein völlig n e u e r Typus des
Wissens eingeführt und anerkannt ist, ist ersichtlich. Auf der
einen Seite ein induktorisches Sammeln und Vergleichen ein‑
zelner Tatsachen, auf der andern ein ideeller Zusammenhang,
den w i r m i t einem einzigen Blicke des Geistes erfassen, um i h n
fortan als unverbrüchliche Regel festzuhalten, in der w i r den
Gapg und die Ordnung alles künftigen Geschehens antizipieren.
Wenn zuvor die Materie der „einfachen“ Empfindungen zwar
gegeben sein musste, die Verknüpfung und Zusammenstellung
der Wahrnehmungsinhalte aber in das willkürliche Belieben
des Geistes gestellt war, s o zeigt sich jetzt, dass die R e l a t i o n e n
zwischen den Ideen einer festen Norm unterstehen und einen
eigenen Bereich objektiver Geltung ausmachen, der dem i n ‑
dividuellen Denken des Einzelsubjekts wie eine eigene, fest‑
gegründete Realität gegenübersteht. Zwar tritt der Gegensatz
der Betrachtungsweisen nicht sogleich an die Oberfläche; die
neue Ansicht, die sich im vierten Buche ausspricht, hebt die
frühere Auffassung nicht schlechtbin auf, sondern duldet sie
188 Locke.

neben sich und sucht sich m i t i h r in Einklang zu setzen. Die


Differenz wird dadurch zu schlichten gesucht, dass die beiden
Grundanschauungen, statt in ihrem gegensätzlichen f o r m a l e n
Charakter begriffen und hingestellt zu werden, n u r auf ver‑
schiedene Klassen v o n Wissensobjekten, als das Gebiet i h r e r
Betätigung, verwiesen und verteilt werden. In dem Kampf der
Motive aber, der sich hierdurch entspinnt, behauptet die
„Intuition“ zuletzt durchaus ihren Vorrang und ihre Selbst‑
ständigkeit. Nur dort, wo es sich nicht um die Existenz der
Dinge, sondern ‐ wie in der Mathematik und Moral ‐ um die
notwendige Verknüpfung der Begriffe handelt, ist echtes Wissen
erreichbar. Sobald w i r über dieses Gebiet hinausgehen, sobald
w i r irgend eine Aussage über die wirklichen Gegenstände jenseit
des Bewusstseins wagen, sind w i r damit der blossen Wahr‑
scheinlichkeit überliefert. Denn alles, was wir von der Welt
der Körper wissen, beschränkt sich auf die sinnlichen Eindrücke,
die sie in uns hervorruft; jeder dieser Eindrücke ist aber n u r
so lange evident und gewiss, als w i r unmittelbar von i h m er‑
füllt sind und ihn gegenwärtig erleben. Alles, was w i r vom
Sein der Dinge aussagen können, kann sich in Wahrheit immer
n u r auf unser momentanes „Affiziertsein“ von ihnen beziehen.
So bleiben w i r hier in die engsten, räumlichen und zeitlichen
Grenzen eingeschlossen; sobald die E m p fi n d u n g , die ein
Objekt in uns hervorrief, aus dem aktuellen Bewusstsein ge‑
schwunden ist, ist das eigentliche Wissen um seine Existenz
dahin und kein Mittel des Denkens, keine mittelbare Beweis‑
führung und Schlussfolgerung, vermag es uns jemals zurück‑
zubringen.8®)
Und nicht anders als m i t unserer Erkenntnis des S e i n s
der Einzeldinge, stebt es m i t unserer Einsicht in ‘die Ver‑
knüpfung, die zwischen ihren einzelnen Merkmalen besteht.
Auch hier können w i r zwar empirisch das Zusammenbestehen
verschiedener Eigenschaften an ein und demselben Objekt fest‑
stellen; der G r u n d ihrer Zusammengehörigkeit aber bleibt
u n s verborgen. Nur wenn es gelänge, aus irgend einer Be‑
schaffenheit eines Körpers, die w i r als bekannt zu Grunde legen,
alle seine übrigen Eigentümlichkeiten streng d e d u k t i v ab‑
zuleiten, könnte das Ziel der Erkenntnis als erreicht gelten.
Intuition und Erfahrung. 189

Wenn wir, statt das regelmässige Auftreten bestimmter Merkmals‑


komplexe n u r sinnlich zu beobachten, die Sache „ a m andern
Ende anfassen“ könnten; wenn w i r klare Einsicht in die inneren
Strukturverhältnisse der Körper besässen und daraus folgern
könnten, welche sinnliche Qualitäten sie notwendig besitzen
m ü s s e n : dann erst wäre unsere Kenntnis z u m Range der
Wissenschaft erhoben. „Könnten w i r entdecken, worin die
Farbe eigentlich besteht, was es ist, das einen Körper leichter
oder schwerer macht, welches Gewebe seiner Teile i h n biegsam,
schmelzbar oder feuerbeständig macht und seine Löslichkeit
in einer bestimmten Art von Flüssigkeit bewirkt, hätten wir,
sage ich, eine solche Idee v o n den Körpern und könnten w i r be‑
greifen, w o r i n alle sinnlichen Eigenschaften ursprünglich be‑
stehen und wie sie hervorgebracht werden: so könnten w i r v o n
ihnen abstrakte Begriffe bilden, die als Grundlage universeller
Sätze von allgemeiner Gewissheit und Wahrheit dienen könn‑
ten.“4) In Wirklichkeit aber bleiben w i r von dieser Forderung
dauernd entfernt; und keine noch so grosse Ansammlung physi‑
kalischer Ta t s a c h e n kann uns darüber hinwegtäusehen, dass
das eigentliche gesetzliche Band, das sie n o t w e n d i g miteinander
verknüpft, von uns nirgends erfasst werden kann. So bleibt
alle unsere „Erfahrung“ nicht n u r Fragment und Stückwerk,
sondern sie liegt auch nicht einmal auf dem Wege, der uns zum
echten, „intuitiven“ Wissen geleiten könnte.
Erst im Zusammenhang dieser Ausführungen fällt a u f die
Eigenart und die Tendenz des Lockeschen „Empirismus* volles
Licht. Man muss Locke m i t seinen sensualistischen Vorgängern,
m a n muss i h n etwa m i t Bacon vergleichen, um sich des Gegen‑
satzes in der Grundstimmung des Philosophierens ganz bewusst
zu werden. F ü r Bacon ist die Erfahrung die „Mutter aller
Wissenschaft“; sie enthält die Antwort auf alle Fragen und
Zweifel, die bisher die Menschheit bedrückt haben. Indem sie
zur Ermittlung der „reinen Formen“ hinführt und u n s in ihnen
die innere Wesenheit der Dinge enthüllt, beschliesst sie das Ziel
jeglicher Erkenntnis. Kein berechtigter Wunsch kann über sie
hinausfragen und hinausverlangen: ist sie es doch, die die höchste
denkbare Erfüllung aller Wünsche v o n Anfang an in sich birgt
und die das „regnum hominis“ in intellektueller, wie in prak‑
190 Locke.

tischer Hinsicht begründet. Vo n solcher Wertschätzung u n d


solcher Zuversicht ist Locke weit entfernt. Er kennt einen
Wahrheitsbegriff, der über alle „Induktion“ erhaben ist, u n d
er sieht i h n in der Mathematik und Moral unmittelbar erfüllt.
Die P h y s i k aber zeigt sich diesem strengen Maassstab nirgends
gewachsen: sie bleibt auf die empirische und somit jederzeit
unvollkommene Ansammlung erscheinender Merkmale a n ‑
gewiesen, ohne jemals ihren begrifflichen Zusammenbang wahr‑
haft z u v e r s t e h e n . Nicht dies ist die Meinung, dass die Physik,
um strenge Wissenschaft zu werden, sich lediglich auf Erfahrung
stützen und aufbauen müsse; ‐ vielmehr ist i h r eben darum,
weil sie Erfahrung ist und bleiben muss, der h ö c h s t e E r ‑
kenntniswert für immer versagt. Eine W i s s e n s c h a f t der Natur‑
u n d der Körperwelt ist unmöglich; was uns bleibt sind n u r
mehr oder minder wahrscheinliche Vermutungen, die durch jedes
neue Faktum umgestossen werden können.) So ist Locke, im
Gebiete der Naturwissenschaften, Empirist aus Resignation, aus
einem notgedrungenen Verzicht. Die D e d u k t i o n erscheint in
den Ausführungen des vierten Buches durchweg als das eigent‑
liche methodische Ideal, während das E x p e r i m e n t n u r nebenher
als ein Notbehelf des Wissens gewürdigt wird.2) „Da unsere
Sinne nicht scharf genug sind, um die kleinsten Teile des
Körpers zu entdecken und uns eine Vorstellung ihrer mecha‑
nischen Wirkung zu verschaffen, so müssen w i r u n s damit
abfinden, dass w i r über ihre Eigenschaften und Wirkungsarten
im Ungewissen bleiben und dass w i r bier nicht über das hinaus‑
kommen, was einzelne Versuche u n s lehren. Ob diese Versuche
in einem anderen Falle wieder den gleichen Erfolg haben werden,
dessen können w i r niemals gewiss sein: und so gelangen w i r nie
z u sicherer Erkenntnis a l l g e m e i n e r Wahrheiten über die Natur‑
körper und unsere V e r n u n f t vermag u n s n u r sehr wenig über
den besonderen Tatbestand hinauszuführen.“*)
Zwischen intuitivem und empirischem Wissen, zwischen
Mathematik und Naturbetrachtung besteht somit eine strenge
und unaufhebliche Scheidung. Keine Brücke führt nunmehr
v o n dem einen z u m andern Gebiet hinüber. Der Gedanke, dass
die mathematische T h e o r i e sich der Tatsachen selbst bemäch‑
tigen, dass sie es unternehmen könne, sie zu formen und zu
D e r logische Charakter von Lockes „Empirismus“. 191

beherrschen: dieser Gedanke bleibt Locke völlig fremd. Deduk‑


tion u n d Beobachtung gehören zwei völlig getrennten Gebieten an;
ein Eingriff der einen in die Sphäre der anderen ist unmöglich.
So energisch Locke das Recht und die Bedeutung der Intuition
verficht, so sehr sie i h m das alleinige Muster des echten Wissens
ist, so sehr bleibt ihre Leistung auf den engen Bereich unserer
„Vorstellungen“ beschränkt. Das reale Naturgeschehen bleibt
ihr entzogen; jeder Versuch, auch in i h m e x a k t e Verknüpfungen
und Gesetzlichkeiten festzustellen zu wollen, würde Locke als
eine Verkennung des eigentlichen Gewissheitscharakters gelten,
der h i e r allein zu fordern und zu erreichen ist. So treten, nach
allen kritischen Bemühungen Lockes, S e i n und Wissen doch
wiederum als getrennte Welten auseinander. Wahrbhafte Er‑
kenntnis gibt es n u r v o m ‐ Nicht-Wirklichen,*) während uns
über die Wirklichkeit der Dinge n u r der flüchtige nnd wechselnde
Sinneneindruck belehrt, der sich nirgends fassen und in strenge
allgemeingültige Regeln bannen lässt. So mannigfach indessen
die Schwierigkeiten sind, in die diese Auffassung uns verwickelt,
so kann m a n dennoch sagen, dass erst an diesem Punkte Lockes
philosophische Frage sich zu wahrhafter Schärfe und Bestimmt‑
heit erhebt. Die logische K r i t i k d e r E r f a h r u n g setzt erst
hier ein. Nirgends wird versucht, den Gegensatz, der zwischen
der Erfahrung und den strengen und unabweislichen Forderungen
der Erkenntnis besteht, zu leugnen; nirgends wird der logische
Unterschied der Methoden durch die Einführung unbestimmter
psychologischer Allgemeinbegriffe zu verwischen gesucht. Die
Ve r n u n f t vermag von ihrem notwendigen Ideal nicht abzustehen,
gleichviel ob sie jemals hoffen darf, esim konkreten empirischen
Wissen erfüllt und verwirklicht zu sehen. So hat Locke die
Aufgabe einer philosophischen Erfahrungstheorie gerade hier,
wo er an ihrer L ö s u n g verzweifelt, am schärfsten und eindring‑
lichsten formuliert. ‑
Blickt m a n v o n dem Wahrheitsbegriff, der jetzt festgestellt
ist, auf Lockes frühere Untersuchungen zurück, so ergiebt sich
freilich ein merkwürdiges Bild. Wenn all unser Wissen v o n
E x i s t e n z sich auf den Inhalt der gegenwärtigen Wahrnehmung
bezieht, wenn w i r niemals über den jeweiligen Augenblick, in
dem ein bestimmter Reiz auf uns einwirkt, hinauszublicken ver‑
192 Locke.

mögen, so löst sich uns alles Sein in einen chaotischen Wechsel


v o n Eindrücken auf, die je nach der besonderen Verfassung des
Subjekts ins Unendliche wandelbar und vieldeutig sind. W i r
wüssten n u r um ein Kommen und Gehen, um ein Auftauchen
und Verschwinden v o n Einzelempfindungen, ohne dass es jemals
gelingen könnte, diesen Wandel an irgend einem Punkte z u m
Stehen zu bringen und damit z u m Begriff constanter und ein‑
heitlicher D i n g e zu gelangen. Ist alle Erfahrung auf die u n ‑
mittelbare Sinneswahrnehmung als ihre einzige Quelle verwiesen,
ist sie von allen gedanklichen Funktionen principiell entblösst,
so bleibt der Zusammenschluss verschiedener Qualitäten zu e i n e m
Objekt, sowie die Zuordnung der zeitlich wechselnden Zustände
zu einem i d e n t i s c h e n Gegenstand in der Ta t unverständlich.
Was aber wird, w e n n w i r an dieser Consequenz festhalten, aus
jenem allgemeinen Bilde des Seins, das Locke selbst an die Spitze
gestellt hatte und das, wie w i r gesehen haben, als notwendige
Voraussetzung in seine psychologische Analyse der Erkenntnis
einging? Unverkennbar sind in dieses Bild Züge verwoben, die
ihre Gewähr dem flüchtigen und vereinzelten Sinneseindruck
nicht entnehmen können; unverkennbar wirkt in i h m die Ueber‑
zeugung von einer bestimmten, feststehenden und unabänderlichen
Verfassung der äusseren Wirklichkeit, die ‐ wie Locke so
eindringlich gezeigt hatte ‐ auf dem Wege der blossen Induktion
niemals völlig zu erreichen und zu begründen ist. Wo v o n einer
Welt der „primären Qualitäten“, wo von einer festen mecha‑
nischen Struktur der Dinge gesprochen wird, da ist der Schritt, den
Locke dem Denken verwehren möchte, bereits getan; da ist das
Gebiet dessen, was in der Empfindung unmittelbar gegeben ist,
bereits überschritten. Und noch schärfere F o r m gewinnt dieser
Einwand, sobald w i r v o m Gebiete der äusseren auf dasjenige der
„inneren“ Erfahrung hinüberblicken. Denn auch sie muss n u n ‑
mehr ersichtlich der gleichen logischen Kategorie sich einfügen:
sie vermag nichts anderes, als die vereinzeiten momentanen Zu‑
stände des Ich, wie sie jeweilig im Bewusstsein gegeben sind,
aufzufassen und sie allenfalls vergleichend aneinanderzureihen.
Ist dies aber der Fall, so ist wiederum aus Lockes eigener Grund‑
anschauung klar, dass auch sie in den Bereich blosser Wahr‑
scheinlichkeit gebannt bleibt, ohne jemals zu wahrbaften und all‑
Die
D i e Umformung
Umformung des psychologischen Grundschemas.
des psychologischen Grundschemas. 193
193

gemeinen Gesetzen über


gemeinen Gesetzen das psychologische
über das Geschehen gelangen
psychologische Geschehen gelangen
zu können.
zu können. W Wie aber vermöchte
i e aber vermöchte sie alsdann, da
sie alsdann, da sie selbst nnur
sie selbst ur
ein besonderer und
ein besonderer und in eingeschränktem
eingeschränktem Maasse Maasse gültiger A us‑
Aus-
sschmitt
c h n i t t der Erkenntnis ist,
der Erkenntnis Ganze der
ist, das Ganze der Erkenntnis
Erkenntnis zu zu
erschöpfen
erschöpfen und und seine Grenzen zu
seine Grenzen zu bestimmen;
bestimmen; wie wie könnte
könnte sie
sie uns
uns
zu irgend
zu irgend einem abschliessenden, objekliven
einem abschliessenden, objektiven UrteilUrteil über
über denden
We r t und
Wert die sachliche
und die Rangordnung der einzelnen
sachliche Rangordnung einzelnen Wissensinhalte
Wissensinhalte
berechtigen? So
berechtigen? So führt
führt die Anerkennung der „Intuition“
die Anerkennung „Intuition" und ihres
und ihres
Wahrheitsgehalts nicht
eigentümlichen Wahrheitsgehalts
eigentümlichen nicht zu zu einer Erweiterung,
sondern zu
sondern Sprengung des
einer Sprengung
zu einer des psychologischen
psychologischen SchemasSchemas vvon on
„Sensation" und
„Sensation* und „Reflexion“.
„Reflexion«. Und Und wie hier hier der Begriff
Begriff der
der
Wahhrrhheeiitt sich sich der Einfügung
Einfügung in dieses Schema entzieht,
dieses Schema entzieht, so
so ist
ist
es auf
es auf der der anderen Begriff des Seins,
Seite der Begriff
anderen Seite S e i n s , der in der
der genaueren
genaueren
Entwicklung, die
Entwicklung, die er nunmehr erfährt,
er nunmehr erfährt, immer deutlicher über über
ddasselbe
a s s e l b e binausweist.
binausweist.

II.
D eerr B eeggrri iffff des
d e s Seins.
Seins.
Die K
Die r i t i k des Substanzbegriffs
Kritik Substanzbegriffs gehört zu den
gehört zu den popu‑
popu-
lärsten und
lärsten wirksamsten Leistungen
geschichtlich wirksamsten
und geschichtlich Leistungen der Lockeschen
Lockeschen
Philosophie. In
Philosopbie. In iihr scheint in der
h r scheint der Tat
Tat dasdas letzie Ziel erreicht,
letzte Ziel erreicht,
zu
zu dem
dem die die psychologische
psychologische Analyse Analyse aufstreben
aufstreben kann. kann. Der Der Begriff
der
der Substanz
Substanz bildetbildet nicht nicht nnuru r seit Aristoteles den
seit Aristoteles den Mittelpunkt
Mittelpunkt
aller Metaphysik, eer
aller Metaphysik, erwies sich
r erwies auch in seiner
sich auch seiner traditionellen
traditionellen
Fassung als
Fassung als die
die eigentliche Schranke, die der Ausbildung des
eigentliche Schranke, des
e u e n , wissenschaftlichen
neuen,
n wissenschaftlichen Ideals der E r k e n nnttnniiss entgegenstand.
Ideals der entgegenstand.
Noch
Noch bei bei Descartes
D e s c a r t e s liess sich bemerken,
liess sich bemerken, wie wie der Begriff
Begriff der
substantiellen F o r m ,
substantiellen Form, der aus der N ader aus der N a t u r b e t r a c h t u n g
c h t u n g verwiesen
verwiesen
ward,
ward, im Gebiet der Psychologie seinen
im Gebiet der Psychologie seinen Vorrang und Vorrang seine alte
und seine alte
Kraft behaupten
Kraft behaupten konnte. konnte. (Vgl. Bd. I, S
(Vgl. Bd. S.
. 431
431 fff.) wenn es
Erst wenn
f ) Erst es
gelungen ist,
gelungen ist, dieses
dieses letzte Hemmnis zu
letzte Hemmnis zu besiegen,
besiegen, ist ist der WegWeg ffürür
die
die echte Methode des
echte Methode Erfahrungswissens frei.
des Erfahrungswissens frei. Wie i m m e r die
Wi e immer
Entscheidung ausfallen
Entscheidung ausfallen und und obob sie psychologischen Recht‑
sie zur psychologischen Recht-
ferligung
fertigung oder oder zzur Selbstauflösung des
u r Selbstauflösung des Substanzgedankens
Substanzgedankens führen führen
mag:
mag: sie sie bildet einen notwendigen
bildet einen Schritt in dem
notwendigen Schritt dem Versuch,
Versuch, dasdas
Wissen zum
Wissen z u m Bewusstsein
Bewusstsein seiner selbst zu
seiner selbst zu erheben.
erheben.
‚ 38 13
194 Locke.

Und auch das allgemeine Verfahren, v o n dem allein d i e


endgültige Aufklärung zu erhoffen ist, ist uns in festen und be‑
stimmten Umrissen vorgezeichnet. Soll der Substanzbegriff seine
Realität in der Erkenntnis behaupten, so muss er sich in irgend
einer unmittelbaren Wahrnehmung des äusseren oder inneren
Sinnes aufzeigen und beglaubigen lassen. Entbehrt er diese
Unterlage, so ist damit erwiesen, dass er eine willkürliche E r ‑
dichtung, eine grundlose Zutat des Geistes ist, die sich uns, unter
dem Zwange metaphysischer Denkgewohnbeiten, unwidersteblich
aufdrängen mag, die aber keine Geltung f ü r die Verfassung des
objektiven Seins besitzt. Wo aber liesse sich ein gesonderter
I n h a l t der A n s c h a u u n g aufweisen, der dem allgemeinen Be‑
griff der Substanz entspräche und i h n zu konkreter Erfüllung
brächte? Was die Beobachtung der Natur u n s darbietet, ist, wie
w i r sahen, immer n u r das empirische B e i s a m m e n einer Mehrheit
wabrnehmbarer Merkmale, während der innere Grund, der sie
verknüpft und zu einander zwingt, uns verborgen bleibt. Und
nicht minder bleibt die innere Erfahrung auf unsere Frage stumm:
lehrt doch auch sie uns n u r die einzelnen Zuständlichkeiten des
Bewusstseins und ihre Aufeinanderfolge kennen, ohne uns jenes
„Ich“, an dem sie „haften“, für sich allein blosszulegen. So bleibt
uns bei schärferer Zergliederung der Substanzvorstellung n u r ein
unvollziehbarer und widerspruchsvoller Gedanke, so bleibt uns
zuletzt ein blosses W o r t übrig, das in dem tatsächlichen Vollzug
unserer Erkenntnis niemals zu wirklichem Leben erweckt werden
kann. „ W i r sprechen gleich Kindern, die auf die Frage, was ein
bestimmter, ihnen unbekannter Gegenstand sei, n u r die eine
Antwort „Etwas“ zur Hand haben. Dies aber bedeutet bei Kindern,
wie bei Erwachsenen nicht anderes, als das sie nicht wissen,
womit sie es zu t u n haben, und dass sie v o n dem Dinge, das sie
zu kennen und v o n dem sie zu sprechen vorgeben, keinerlei
deutliche Vorstellung besitzen, vielmehr hinsichtlich seiner gänz‑
l i c h unwissend sind und im Dunkel tappen. Die Idee, die w i r
m i t dem allgemeinen Namen „Substanz“ verbinden, ist somit
nichts anderes, als der vorausgesetzte, aber unbekannte Träger
existierender Eigenschaften, v o n denen w i r annehmen, dass sie
sine re substante d. h. ohne etwas, was sie stützt und hält, nicht b e ‑
stehen können.“ #%)
Die K r i t i k des Substanzbegriffs. 195

So ist in dieser ersten Argumentation, zu der Locke immer


wieder zurückkehrt und an deren Ausführung er, wie bekannt,
alle Mittel des Stils und des Witzes wendet, die Substanz,
Baconisch gesprochen, als ein sdolon fori entlarvt. Es scheint,
als müsste damit das Problem, das sie uns aufgab, endgültig
z u m Schweigen gebracht sein; als müssten die Zweifel und
Fragen, die sich an sie knüpften, nunmehr für alle Zeiten
verstummen. Und doch kehren sie f ü r Locke selbst alsbald
v o n einer neuen Seite h e r zurück. Das Verlangen, den letzten
absoluten Träger der sinnlichen Einzelmerkmale statt dieser
selbst zu greifen, bewahrt, auch nachdem es völlig durchschaut
u n d in seinem subjektiven Ursprung aufgedeckt ist, die alte
Kraft. Die F o r d e r u n g , die sich i m Begriff der Substanz aus‑
spricht, drängt sich uns m i t einem dunklen und unwidersteh‑
lichen Zwange auf, um freilich sogleich in Nichts zu zerrinnen,
sobald w i r den Versuch machen, sie ins helle Licht der Er‑
kenntnis zu rücken. So steht der Gedanke hier an einem Punkte,
an dem es für ihn weder ein Vorwärts noch ein Zurück gibt,
an dem Verzicht und Erfüllung gleich unmöglich sind. Die
psychologischen Tatsachen scheinen des Ergebnisses der psycho‑
logischen Analyse zu spotten; sie behaupten ihren Bestand, auch
nachdem sie in ihrer Grundlosigkeit erkannt sind. Das wirk‑
liche Denken erweist sich der empiristischen Aufklärung gegen‑
über als unbelehrbar; es hält unablässig an einem Inhalt fest,
f ü r den es, in Sensation und Reflexion, kein Beispiel und keinen
Beleg findet. F ü r die metaphysische Frage, deren w i r nunmehr
enthoben zu sein scheinen, haben w i r somit n u r eine um so selt‑
samere psychologische Paradoxie eingetauscht. Woher stammt
jenes Trugbild, m i t dem w i r notwendig behaftet sind und das
w i r i m m e r wieder in unsere Auffassung der objektiven W i r k ‑
lichkeit hineintragen? Denn daran besteht für Locke kein
Zweifel: die Empfindungen würden sich uns nicht zu Gegen‑
ständen ordnen, sie würden uns nicht z u m Gedanken einer
selbstgenügsamen und eigenen Gesetzen gehorchenden N a t u r
der Dinge hinführen, wenn w i r ihnen nicht eben jene verworrene
und unklare Vorstellung eines „Etwas“, das sie stützt und z u ‑
sammenbhält, beständig hinzufügen würden. Das blosse Zu‑
sammen sinnlicher Einzeleigenschaften macht nicht den Sinn
13*
196 Locke.

des. Objektsbegriffs aus; dieser entsteht erst, sobald w i r alle be‑


sonderen Merkmale irgendwie geeint und auf einen gemeinsamen,
wenngleich unbekannten Träger bezogen denken.#) So wird
denn jenes „ i c h weiss nicht, was“ zur B e d i n g u n g a l l unseres
gegenständlichen Wissens; so würde m i t dem Verzicht auf
jenen „dunklen* und unanalysierbaren Rest die Erscheinungs‑
welt selbst, die u n s klar v o r Augen liegt, ihres Halts und ihres
Seins beraubt. ‐ .
Immer deutlicher zeigt es sich jetzt, dass nicht etwa n u r
die populäre Weltansicht, sondern auch die wissenschaftliche
Gesamtanschauung des Begriffs der Substanz nicht entraten kann.
Ein wahrhaftes und vollkommenes Wissen von irgend einem
empirischen Körper ‐ daran hält Locke durchaus fest ‐ wäre
erst dann erreicht, wenn es gelänge, u n s seiner inneren Wesen‑
heit derart zu bemächtigen, dass w i r aus i h r all seine Eigen‑
schaften unmittelbar ablesen könnten. Zwei verschiedene Weisen
der Betrachtung sind es, die hier zusammenfliessen und ohne
klare Sonderung nebeneinander gebraucht werden. Wiederum
ist es das deduktive Ideal des Wissens, das Locke als Maasstab
vor Augen steht: eigentliche E i n s i c h t in den Zusammenhang
der Erkenntnisobjekte ist n u r dort vorhanden, wo w i r ihre Ver‑
knüpfung als notwendig und unabänderlich begreifen. Diese For‑
derung aber scheint i h m nicht anders erfüllt werden zu können,
als indem w i r aus dem Kreis der Phaenomene heraustreten,
um zu den absoluten Grundnaturen der Körper zu gelangen, aus
denen w i r alsdann, als den wahrhaften und identischen Ein‑
heiten, die Manpigfaltigkeit ihrer sinnlichen Bestimmungen und
Veränderungen abzuleiten vermöchten. Der Gedanke, dass
i n n e r h a l b d e r E r f a h r u n g selbst jemals eine deduktive Ver‑
knüpfung zwischen einzelnen ihrer Teile, dass eine strenge und
exakte Theorie des empirischen Geschehens selbst möglich sei, liegt
Locke, wie w i r sahen, völlig fern; ‐ so kann i h m vollkommenes
und adaequates Wissen nichts anderes, als ein Wissen aus den
„Ursachen“, aus den inneren absoluten Urgründen des Seins be‑
d e u t e n . ) Und s o sehr e r betont, dass ein solches Wissen uns
tatsächlich versagt ist, so wenig hat der theoretische N o r m ‑
b e g r i f f einer derartigen Erkenntnis bei i h m seine Kraft einge‑
büsst. E r misst das m e n s c h l i c h e Erkennen a n diesem voraus‑
Die positive Bedeutung der Substanzfunktion. 197

geseizten Musterbild, das nach i h m um so mehr als innerlich mög‑


l i c h und berechtigt gelten muss, als es vielleicht in der Erkenntnis‑
weise der höheren „geistigen Naturen“ erfüllt und verwirklicht
ist. „Sicherlich können die Geister, die nicht an den Stoff ge‑
fesselt und in i h n versenkt sind, ebenso klare Ideen von der
wurzelhaften Verfassung der Substanzen haben, als w i r sie v o n
einem Dreieck besitzen und können somit begreifen, wie all
deren Eigenschaften und Wirkungen aus ihnen abfliessen: die
A r t aber, wie sie zu diesem Verständnis gelangen, übersteigt
unsere Fassungsgabe.“1%) Subjekt und Objekt dieser Sätze wider‑
streiten gleich sehr der skeptiscben Stimmung, die anfangs gegen
den Substanzbegriff vorwaltete: denn nicht n u r w i r d hier ‐ wie
an zahlreichen anderen Stellen des Essay*) ‐ ein Stufenreich
reiner geistiger „Formen“ und Intelligenzen als wirklich voraus‑
gesetzt, sondern eswird ein substantielles Innere der Körperwelt, als
Correlat und möglicher Gegenstand überempirischen Wissens an‑
genommen. Die höchste Erkenntnis ‐ dies tritt jetzt deutlich
hervor ‐ würde nicht, wie es zuerst scheinen konnte, den Be‑
griff der Substanz z u m Verschwinden bringen und in seiner
Nichtigkeit erweisen, sondern i h n m i t positivem Gehalt erfüllen
und i h n zum Werkzeug des Begreifens der Phaenomene machen.
Dass wir ein solches Wissen nicht unser Eigen nennen, dass
wir die innere Wesenheit des Körpers, so wenig wie die der
Seele kennen, und v o n der Einwirkung beider auf einander so
wenig einen deutlichen Begriff besitzen, wie v o n der Mitteilung
der Bewegung durch Druck und Stoss, ‐ „dies darf nicht Wunder
nehmen, d a w i r n u r die wenigen o b e r fl ä c h l i c h e n Vorstellungen
der Dinge besitzen, die uns durch dieSinne v o n aussen kommen
oder uns durch die Reflexion des Geistes auf dasjenige, was er
in sich selbst erfährt, bekannt werden.“%) Man sieht, wie völlig
d e r Standpunkt der Betrachtung sich verkehrt hat: wenn an‑
fangs Sensation und Reflexion als die eigentlichen K r i t e r i e n
aller Erkenntnis galten und der Substanzbegriff, weil er sich
v o r ihnen nicht ausweisen und beglaubigen konnte, als dunkel
u n d unklar verworfen wurde, so gelten jetzt die Substanzen
als das eigentliche und wahrhafte Sein, zu dem w i r nur wegen
der Mängel unser subjektiven Fähigkeiten nicht durchdringen
können.5l) Wiederum zeigt sich, dass was anfangs v o n Locke
198 Locke.

als ein „Werk des Verstandes“ charakterisiert war, das i h m „ i m


gewöhnlichen Gebrauch seiner eigenen Vermögen“ erwächst,#)
nunmehr dem Verstand selbst als unabhängige Realität gegen‑
übertritt, die seinem Wissen Schranken setzt.
Der innere Grund aller Schwierigkeiten, die der Substanz‑
begriff für Lockes Analyse bietet, tritt jetzt deutlich hervor. Soll
die Substanz wahrhafte Bedeutung und Geltung besitzen, so muss
sie ‐ dies ist die unbestrittene Grundannahme ‐ sich als ein
„Etwas“ im Bewusstsein aufzeigen lassen, so muss sie in der Art
eines abgeschlossenenVorstellungsbildes sinnlich und
greifbar vor das Erkennen hintreten. In der blossen Aussprache
dieser Forderung aber liegt schon ihre Unerfüllbarkeit: was der
Substanzbegriff m e i n t , das lässt sick in keinem Einzelinhalt der
inneren und äusseren Wahrnehmung z u m adaequaten Ausdruck
bringen. Es ist indessen nicht ein sachlicher Mangel des Sub‑
stauzbegriffs selbst, sondern ein Mangel der Lockeschen F r a g e ‑
stellung, der hier zu Tage tritt. Wenn die Substanz, statt in
ihrer notwendigen Funktion für das System des Wissens begriffen
zu werden, als ein abgesondertes, physisches oder psychisches,
Sein gesucht wird, so bleibt von i h r freilich nicht mehr als ein
blasses und gestaltloses Schemen zurück. Was Locke als eine
Kritik des Inhalts der Erkenntnis erscheint, das wird somit u n ‑
vermerkt zu einer Selbstkritik seiner psychologischen Voraus‑
setzungen. Seine Behandlung des Substanzbegriffs steht h i e r
völlig auf einer Stufe m i t derjenigen des Unendlichkeitsbegriffs:
indem er die gedanklichen Operationen unmittelbar a b z u b i l d e n
sucht, behält er von ihnen notwendiger Weise n u r unvollkom‑
mene und verworrene „Vorstellungsreste“ übrig. (Vgl. ob. S. 176f.)
Dennoch ist seine Analyse scharf und ehrlich genug, um zu
erkennen, dass wie immer m a n über die E n t s t e h u n g des
Substanzbegriffs urteilen mag, sein G e h a l t sich aus dem Ganzen
der Erkenntnis nicht wegdenken lässt. Aber da diesem Gehalt
im Haushalt des Geistes keine sichere Stelle angewiesen werden
kann, so kehrt er immer von neuem in dinglicher Form zurück
u n d verlangt und erzwingt zuletzt, trotz all seiner eingestandenen
„Dunkelheit“, seine Anerkennung. Und doch gibt es, in Lockes
eigener Erkenntnislehre, eine Kategorie, unter die sich der Sub‑
stanzbegriff ohne Zwang hätte einordnen lassen: spricht er selbst
D e r Begriff des „Einfachen‘'. 199

es doch aus, dass das Wissen v o n den Beziehungen zumeist


klarer und sicherer ist, als dasjenige von den sinnlichen Vor‑
stellungen, die ihre Fundamente abgeben.) Jede angeblich
„einfache“ Idee schliesst ‐ wie sich bei näherer Betrachtung
zeigt ‐ eine Beziehung ein, v o n der sie nicht abtrennbar ist,
ohne ihres eigenen Gehalts verlustig zu geben.) Ist dem aber
so, so können die schlechthin „einfachen“ Empfindungen nicht
m e h r als ein unangreifbares psychologisches F a k t u m , sondern
immer n u r als eine, vielleicht unentbehrliche, psychologische
Abstraktion gelten. Sie selbst wären alsdann, sowenig wie die E r ‑
gebnisse der reinen gedanklichen Verknüpfungsweisen, absolut und
unmittelbar gegeben. Wenn aber die „einfachen Ideen“ bei Locke
‐ wie manche Geschichtsschreiber und Kritiker zu ihrer Recht‑
fertigung ausgeführt haben ‐ ® ) nicht reale geistige Vorkommnisse,
sondern n u r Mittel der logischen Analyse bedeuten sollen; wie
könnten sie selbst alsdann das Recht des Logischen überhaupt
erst begründen und seine Ansprüche einzuschränken suchen? ‑
Locke hat ‐ wie sich nunmehr allgemein zeigt ‐ weder
den Begriff des Seins, noch den Begriff der Wahrheit, der
seiner Auffassung vom Ursprung der Erkenntnis allein entsprechen
würde, durchzuführen vermocht. Das Ergebnis seiner Kritik
steht im Widerstreit m i t ihrem Ausgangspunkt. Wurde das
psychologische Fundament, auf dem sie ruht, festgehalten, so
w a r somit jetzt der weitere gedankliche Fortschritt klar vorge‑
zeichnet. Soll die Methode der Analysis der Ideen zu u n u m ‑
schränkter Anwendung und Anerkennung gelangen, so müssen
zunächst die A u f g a b e n , die i h r gesetzt sind, eine neue Formu‑
lierung erbalten: so muss der Begriff der Wirklichkeit, wie der
des Wissens sich von Grund aus umgestalten. Diese beiden
Forderungen sind es, aus d e n e n in, strenger Folgerichtigkeit, die
Philosophie Berkeleys und Humes erwächst.
Viertes Kapitel.
Berkeley.
I.
D i e T h e o r i e d e r Wa h r n e h m u n g .
Die Philosophie Lockes enthält, wenn sie schärfer analysiert
und auf ihre letzten Voraussetzungen zurückgeführt wird, ein
skeptisches Moment in sich. Das Endziel, das Locke der E r ‑
kenntnis weist, ist m i t den Mitteln, die er i h r zugesteht, nicht zu
erreichen. Indem das Bewusstsein sich auf seine Grundprinzipien
besinnt, indem es sich in die Welt der Sensation und Reflexion
eingeschlossen sieht, empfindet es darin zugleich das Dasein einer
positiven und unüberwindlichen Schranke. Die Einsicht in die
absoluten Gegenstände bleibt i h m versagt. Und doch erweist es
sich unmöglich, auf das Sein dieser Gegenstände zu verzichten;
wäre doch damit die Empfindung selbst ihrer objektiven Bedeutung
und der Mannigfaltigkeit ihres Inhalts beraubt. Der Begriff der
„Aussenwelt“ kann v o n Locke nicht als P r o d u k t der Erfahrung
abgeleitet werden, da er vielmehr als Bedingung und U r s p r u n g
der Erfahrung gilt. Hier ist somit ein letzter, den Mitteln der
psychologischen Zergliederung unzugänglicher und undurch‑
dringlicher Rest schon im ersten Ansatz der Untersuchung aner‑
kannt. Soll die empirische Methode der Forschung zu wahrhaft
folgerechter und durchgreifender Anwendung gelangen, so muss
v o r allem dieser Anstoss beseitigt werden. Eine erneute und
schärfere K r i t i k des D i n g b e g r i f f s bildet das nächste, zwingende
Problem. Jede Analyse, die v o r diesem Begriff Halt macht, w i r d
damit um die Frucht aller ihrer Bemühungen gebracht. Der
Dingbegriff kann für die Erkerfntnis keine prinzipielle und u n ‑
lösliche Schwierigkeit bilden, da sie selbst es ist, die ihn setzt
Die Theorie der Wahrnehmung. 201

und erschafft. Der Weg des Wissens ‐ dies muss immer v o n


neuem betont werden ‐ geht v o n den E m p fi n d u n g e n , die
w i r in u n s selber erleben, z u m S e i n der Gegenstände, v o n den
„Ideen“ zur „Natur“. Dass w i r reale „Objekte* annehmen und
sie unserem ' I c h gegenüberstellen, dass w i r diese Scheidung
unserer Erfahrungsweit in ein „Aussen“ und „Innen“ vollziehen:
dies gehört nicht z u den tatsächlichen Vo r a u s s e t z u n g e n der
Psychologie, die sie hinzunehmen hat, sondern es bildet ihre
erste und entscheidende Frage. Die „äusseren“ Gegenstände
selbst müssen als das Ergebnis und Endglied eines notwendigen
psychologischen Prozesses erkannt und abgeleitet werden.
Bleiben w i r bei dem stehen, was uns im I n h a l t der Wahr‑
nebmung zunächst unmittelbar gegeben ist, so muss allerdings
diese Schöpfung wie ein Rätsel erscheinen. Die Eindrücke
der Sinne bieten uns Nichts, was das Hinausgehen über die
Spbäre des eigenen Ich erklären und rechtfertigen könnte. Der
Gesichtssinn insbesondere, der dem populären Bewusstsein als
der sicherste Zeuge einer objektiven Naturwirklichkeit gilt, ent‑
hält, in sich selbst, keinen derartigen Anspruch. Was er uns
gibt, sind lediglich Empfindungen v o n Licht und Farben, die
sich in mannigfachen Abstufungen, in verschiedenen Graden der
Intensität und Qualität aneinanderreihen. So weit man auch die
Zergliederung dieser Eindrücke treiben mag, nirgends ent‑
deckt m a n in ihnen die Gewähr f ü r äussere Dinge, die ihnen
entsprechen. So wenig Lust und Schmerz ein eigenes Dasein
ausserhalb des Aktes der Empfindung besitzen, so wenig gilt
dies f ü r die Daten, die uns im A k t des Sehens zum Bewusstsein
kommen. Es ist lediglich die Wirkung eines traditionellen Vor‑
urteils, wenn w i r den Bestand einer v o n uns gesonderten Welt
bier direkt und ohne weitere Vermittlung zu erfassen glauben.
Denn gerade dasjenige Moment, das die notwendige Bedingung aller
Objektivierung bildet, gerade die feste r ä u m l i c h e Gliederung
der Empfindungen ist u n s niemals m i t ihnen selber fertig mit‑
gegeben. Das w i r die Dinge i n eine feste S t e l l e n o r d n u n g ein‑
fügen, in der ihre Beziehungen u n d Abstände bestimmt sind, dies
bedeutet eine völlig neue f o r m a l e Gesetzlichkeit, die über den
blossen I n h a l t der Einzelempfindung, sowie über jede blosse
S u m m i e r u n g von Tast- und Gesichtseindrücken hinausgeht. Der
202 Berkeley.

Raum, der ein wesentliches und notwendiges Glied in der Welt


der Vo r s t e l l u n g ist, die das entwickelte Bewusstsein als fertiges
Ergebnis vorfindet, entzieht sich prinzipiell der Möglichkeit der
unmittelbaren Wa h r n e h m u n g .
Von dem Paradoxon, das hierin für die Methode der empiri‑
schen Psychologie liegt, nimmt Berkeley seinen Ausgang. Schon
seine früheste theoretische Schrift, der Versuch über eine neue
Theorie des Sehens, formuliert die Frage in aller Prägnanz und
Klarheit. Der A b s t a n d zwischen den einzelnen Objekten, den
w i r nicht aufgehoben denken können, ohne sie in ihrem sinn‑
lichen Bestand zu vernichten, ist selbst kein Gegenstand der
Sinnesempfindung. In die sichtbare Welt, die uns wie etwas
Fertiges und Selbstverständliches umgiebt, ist ein Moment ver‑
woben, das seiner Natur nach ‐ unsichtbar ist. „Distance is in its
o w n nature imperceptible and yet it isperceived by sight.“")
In diesem Problem grenzt das Jugendwerk bereits das Gebiet ab,
auf dem die künftigen erkenntnistheoretischen Untersuchungen
Berkeleys sich bewegen sollen. Und schon in der Fassung der Auf‑
gabe kündigt sich die Hauptrichtung der künftigen Untersuchung
an. Es ist eine Kritik des Begriffs der „Perception“, mit der
Berkeley einsetzt. Verstehen wir unter der Perception nichts
anderes, als einen isolierten Empfindungsinhalt, so zeigt es sich
alsbald, dass die Welt der Perceptionen und die der O b j e k t e
keineswegs zusammenfallen. Die gegenständliche Wirklichkeit
entsteht uns erst auf Grund einer D e u t u n g , die w i r an den
sinnlichen „Zeichen“, die uns zunächst allein gegeben sind, voll‑
ziehen. Erst indem w i r zwischen den verschiedenen Klassen sinn‑
licher Eindrücke einen bestimmten Z u s a m m e n h a n g stiften,
indem w i r sie in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit v o n ein‑
ander erfassen, ist der erste Schritt z u m Aufbau des Seins getan.
Bevor w i r nicht gelernt haben, die an sich unräumlichen Quali‑
täten des Gesichtssinnes als S y m b o l e für die räumlichen Ver‑
hältnisse des Tastsinnes zu verstehen und zu verwerten, besitzen
w i r keinerlei Hinweis, der uns zur Annahme der Tiefen‑
dimension, sowie zur Abgrenzung bestimmter Gestalten und
Formen hinführen könnte. Der Gegenstand der räumlichen
Anschauung löst sich somit, schärfer betrachtet, in eine psychi‑
sche Synthese auf: w i r gelangen zu i h m nicht anders, als durch
D i e Objektivierung der Sinneseindrücke. 203

die feste und eindeutige Korrelation, die w i r zwischen den


Daten verschiedener Sinnesgebiete herstellen und durch den Akt,
kraft dessen w i r alle jene Daten selbst samt ihren mannigfachen
wechselseitigen Beziehungen in Eins fassen.
Jede Aussage über dieLageverhältnisse der Objekte, sowie jede
Schätzung ihrer Grösse und Entfernung ist demnach ‐ wie gleich
zu Beginn der Theorie des Sehens ausgesprochen wird ‐ eher eine
Leistung des U r te i l s , als des Sinnes.2) Was der Sinn uns gibt,
das ist n u r dem einzelnen, für sich allein bedeutungslosen, Laute zu
vergleichen, während die artikulierte und gegliederte Sprache
der Erfahrung erst im Urteil erschaffen wird. So gelangt hier
innerhalb des Sensualismus ein neues Kriterium zur Anerken‑
nung. Zwar sollen „Sensation“ und „Reflexion“ nach wie vor
die Richter über alles Sein und alle Wahrheit bleiben, aber sie
sind nunmehr in ein neues, schärfer bestimmtes Verbältnis ge‑
treten. Bei Locke herrscht ‐ trotz einzelnen gelegentlichen
Selbstkorrekturen ‐ im ganzen durchaus die Anschauung vor,
dass die beiden fundamentalen Erkenntnisquellen sich auf die
beiden „Hälften“ des Seins verteilen: der Sinneswahrnehmung
fällt das gesamte Gebiet der äusseren Existenz, der Selbst‑
wahrnehmung das Gebiet der „inneren“ Zustände anheim. Diese
schematische Trennung wird von Berkeley von Anfang an mit
Entschiedenheit verworfen. Welche Ansicht immer man über
den Dualismus zweier Welten, der physischen und der psychi‑
schen, begen mag: die E r k e n n t n i s wenigstens wirkt n u r als
Einheit und kann n u r als Einheit begriffen werden. Es gibt
nicht zwei verschiedene Methoden, die einander m i t selbst‑
ständigem Machtbereich gegenüberständen; vielmehr ist es über‑
all das Ineinandergreifen a l l e r Faktoren, das das Wissen erst
zu Stande bringt. Die oberflächliche Ansicht, dass uns durch
die Sinne irgendwelche Objekte zugeführt werden, die alsdann
durch die Tätigkeit der Reflexion n u r „bearbeitet“ und in be‑
stimmte Ordnungen gefasst werden, ist somit v o n Grund aus zu
berichtigen: Das empirische Objekt tritt nicht fertig vor das
Bewusstsein hin, um von i h m empfangen und beurteilt zu werden;
vielmehr besitzt es erst kraft des Urteils ein eigenes Sein, weil
erst i n i h m die Ve r k n ü p f u n g der heterogenen sinnlichen
Einzeldaten zu einem Ganzen zu Stande kommt. Somit erscheint
204 Berkeley.

fortan auch die Wahrnehmung in einem neuen Licht; denn so


sehr i h r der Wert als Anfangs- und Ausgangspunkt alles Wissens
gewahrt bleiben soll, so zeigt sich doch, dass die „Urwahr‑
nehmungen“ selbst nicht direkt zutage liegen. Die schlechthin
„einfachen“ Empfindungen lassen sich nicht unmittelbar aus
dem gewöhnlichen populären Weltbilde ablesen, sondern es be‑
darf zu ihrer Feststellung einer eigenen erkenntnistheoretischen
Methodik. Die „reine“ Wahrnehmung ergibt sich erst, w e n n w i r
aus dem komplizierten, fertigen Produkt unserer Vorstellungs‑
welt alles abscheiden, was Erfahrungs- und Gewohnheitsschlüsse,
Urteil und Vorurteil zu den blossen Eindrücken der Sinne hinzu‑
getan haben; ‐ was die naive Ansicht der Dinge m i t Händen
zu greifen glaubt, das muss vielmehr die wissenschaftliche und
philosophische Analyse erst gewinnen und sicherstellen.
Bis hierher scheint Berkeley durchaus dem geschichtlichen
Wege zu folgen, der der modernen Theorie der Wahrnehmung
durch Descartes gewiesen war. Seine Fragestellung erinrert
unmittelbar an den Versuch der „Meditationen“, den Begriff des
„Gegenstandes“ aus seiner logischen und psychologischen Quelle
abzuleiten. Das „Sein“ des Wachses ‐ so war hier ausgeführt
worden ‐ kann nicht gesehen, noch durch irgend einen andern
Sinn direkt bezeugt werden, sondern es entsteht uns erst aut
Grund eines eigenen und selbständigen Akts des Geistes. Die
gesamte Optik Descartes’ war der wissenschaftlichen Ausführung
und Befestigung dieses Gedankens gewidmet. Die sinnlichen
Eindrücke sind nicht Abbilder der Dinge, die sich von ihnen
loslösen, um in das Bewusstsein hinüberzuwandern, sondern sie
sind umgekehrt Zeichen, aus deren Interpretation wir erst zum
Begriff einer objektiven logischen Verfassung der Dinge fort‑
schreiten. (Vgl. Bd. I, S. 414 f f ) Eine derartige Beurteilung des
Stoffes der Sinneswahrnehmung ist es insbesondere, auf die all
unser Wissen über die wechselseitige Lage und Entfernung der
Dinge zurückgeht. Mit dieser Grundansicht ‐ die insbesondere
in Mälebranches physiologischer Optik ihre schärfere Aus‑
bildung erhalten hatte ‐ stimmt Berkeley seinen ersten Voraus‑
setzungen nach überein: der Cartesische Satz, dass nicht das
Auge, sondern der Geist es ist, der sieht,?) bildet auch f ü r seine
Untersuchung die Richtschnur.
Psychologische und mathematische Methode. 205

Aber der Begriff des Geistes selbst hat nunmehr eine Um‑
prägung erfahren. F ü r Descartes bedeutet der Intellekt zuletzt
nichts anderes als die Einheit und den Inbegriff der r a t i o n a l e n
Prinzipien, auf denen unsere Erkenntnis ruht, und unter diesen
waren e s wiederum die Grundsätze der M a t h e m a t i k , die das
Fundament für alle übrigen abgaben. Jede echte und wahrhafte
Betätigung des Geistes musste daher nach diesem Vorbild gestaltet,
musste zuletzt nach der Analogie des m a t h e m a t i s c h e n S c h l u s s ‑
v e r f a h r e n s begriffen werden. Die verstandesmässige Deutung
der Sinneseindrücke gilt als das Werk einer u n b e w u s s t e n
G e o m e t r i e , die w i r i m Akte des Sehens ausüben. Die Erkenntnis
der Grösse und des Abstands der Objekte erfolgt auf Grund eines
„Raisonnements“, das Descartes selbst dem Verfahren, das w i r
bei trigenometrischen Messungen anwenden, vergleicht. Gegen
diesen Begriff der „unbewussten Schlüsse“ wendet sich Berkeleys
Kritik. Jeder Erklärungsgrund f ü r irgend einen Inhalt oder
Vorgang des Bewusstseins muss v o r allem die Bedingung erfüllen,
dem Gebiet, das er aufhellen will und seiner Gerichtsbarkeit
selber anzugehören. Was nicht im Bewusstsein selbst entdeckt
und aufgewiesen werden kann, ist daher als Prinzip oder Mittel‑
glied jeder wahrhaft psychologischen Ableitung von Anfang
an zu verwerfen.‘) An diesem Kriterium ergiebt sich sogleich
die Unhaltbarkeit der bisherigen Theorie. Die Linien und Winkel,
nach deren Verschiedenheit wir, wie hier angenommen wird, den
Abstand der Dinge vergleichend abschätzen sollen, sind n u r für
einen äusseren Beobachter, der den Wahrnehmungsakt nachträg‑
l i c h beschreibt, nicht aber für das empfindende Subjekt selbst
vorhanden. Sie können daher nicht in Frage kommen, wenn
es sich darum handelt, zu verstehen, wie im Bewusstsein selber
eine bestimmte Annahme über Grössen und Entfernungen entsteht
und auf welche psychischen Beweggründe sie zurückgeht. Die
mathematischen Begriffe sind lediglich Hypothesen und Ab‑
straktionen, die w i r anwenden, um die Phänomene abgekürzt zu
beschreiben; n u r ein naiver Begriffsrealismus kann in ihnen
zugleich die Hebel sehen, die den Mechanismus des Bewusstseins
beherrschen) Die „Grille den Menschen durch Geometrie sehend
zu ınachen“‘) hat den wahren Standpunkt der Untersuchung
verrückt. Berkeley grenzt zuerst den streng p s y c h o l o g i s c h e n
206 Berkeley.

Gesichtspunkt der Betrachtung ‐ der i h m der „philosophische“


heisst ‐ gegen alle anderen Methoden ab, m i t denen Physik und
Physiologie an das Wahrnehmungsproblem herantreten. „ Z u
erklären, wie der Geist und die Seele des Menschen dazu gelangt,
zu sehen, ist das e i n e Problem und gehört z u r Aufgabe der
Philosophie. Die Bewegung bestimmter Partikeln in einer
gegebenen Richtung, die Brechung und Zurückwerfung der Licht‑
strahlen ist ein hiervon gänzlich verschiedener Gegenstand, der
der Geometrie zugehört; die Erklärung der Gesichtsempfindung
aus dem Mechanismus des Auges endlich ist ein Drittes, worüber
die experimentelle Anatomie zu entscheiden hat. Die beiden
letzten Betrachtungsweisen mögen praktisch von Wichtigkeit sein,
um Mängel des Sehens abzustellen; aber n u r die erstere Theorie
verschafft uns einen wahren Einblick in die Natur des Sehens,
sofern w i r es als einen seelischen Akt betrachten. Im Ganzen
aber lässt sich diese Theorie auf eine einzige Frage zurückführen:
wie kommt es, das eine Reihe von sinnlichen Eindrücken, die
von den Vorstellungen des Tastsinns gänzlich verschieden sind,
u n d m i t i h n e n in k e i n e r l e i notwendiger Ve r k n ü p f u n g
stehen, uns diese Vorstellungen nichtsdestoweniger ins Bewusst‑
sein rufen und uns alle Beziehungen undVerbältnisse, die zwischen
ihnen obwalten, mittelbar darstellen können”) Wie kann m i t
anderen Worten eine bestimmte „Perception“ etwas bedeuten,
was sie nicht i s t ; wie kann ihr, über ihren unmittelbaren I n h a l t
hinaus, eine F u n k t i o n zuwachsen, vermöge deren sie u n s völlig
anders geartete Beschaffenheiten und Verhältnisse repräsentiert?
Dass die L o g i k es nicht ist, die diesen neuen und eigen‑
tümlichen Wert erschafft und die für i h n einzustehen vermag,
ist sogleich ersichtlich. Denn i h r Reich reicht n u r soweit, als
es sich um einen streng n o t w e n d i g e n Zusammenhang zwischen
Inhalten handelt, als das eine der Elemente, die in Beziehung
treten, i n dem anderen e n t h a l t e n u n d aus ihm, kraft des Satzes
der Identität abzuleiten ist. Nun aber entsteht die Aufgabe,
einen Zusammenhang zwischen zwei völlig disparaten Gruppen
von Erscheinungen zu entdecken und den Uebergang, den das
Bewusstsein zwischen ihnen vollzieht, zu erklären. Das Band,
das Gesichtseindrücke und Tasteindrücke zusammenhält, liegt
nicht in der eigenen Natur dieser Ideen. Im fertigen Weltbild
Die symbolische Function der Empfindung. 207

freilich scheinen beide unlöslich verschmolzen: esbesteht zwischen


ihnen eine durchgreifende funktionale Abhängigkeit, so dass w i r
jedem Inhalt des einen Gebiets einen Inhalt des anderen u n ‑
mittelbar zugeordnet denken. Die erkenntnistheoretische Reflexion
indessen lehrt u n s sogleich, dass diese Beziehung weder ursprüng‑
lich, noch unaufheblich ist. Berkeley knüpft, um dies zu erweisen,
an die bekannte Frage an, die Molyneux in seiner Optik gestellt
hatte und die bereits v o n Locke diskutiert worden war: wird ein
Blindgeborener, der durch eine glückliche Operation die Gabe
des Sehens plötzlich gewonnen hat, imstande sein, die Umrisse
und Formen, die i h m nunmehr durch das Auge vermittelt werden,
als diejenigen w i e d e r z u e r k e n n e n , die i h m zuvor der Tastsinn
geliefert hat; wird er also z. B. die sichtbare Gestalt eines Würfels
unmittelbar m i t der tastbaren verknüpfen und beide auf e i n e n
Gegenstand beziehen? Es ist klar, dass diese Frage verneint
werden muss: denn welche Aehnlichkeit besteht zwischen Licht
und Farbe auf der einen und Druck- und Widerstandsempfindung
auf der anderen S e i t e ) Beide stehen in keiner inneren und
sachlichen Gemeinschaft; n u r die E r f a h r u n g lehrt uns durch
das beständige Beisammen, in dem sie sie uns zeigt, den Fort‑
gang von den einen zu den andern zu vollziehen. Das Bewusst‑
sein ist in diesem Prozess nicht von rationalen Gesetzen beherrscht,
sondern lediglich dem Zuge der Association hingegeben; nicht die
deduktive Schlussfolgerung, sondern U e b u n g u n d G e w o h n b e i t
( h a b i t and custom) sind die Triebkräfte, die es leiten. Berkeley
schafft einen neuen bezeichnenden Ausdruck für dieses Verhältnis:
die Verbindung zwischen den Inhalten wird nicht erschlossen,
sondern „suggeriert“ (suggested). Dieser Begriff übernimmt n u n ‑
mehr die kritische Ergänzung der einfachen „Perception“. Er
zeigt, dass nicht die blosse Materie des Sinneseindrucks, sondern
erst ihre Formung und Verknüpfung durch die „Seele“ Jie
„Dinge“ in ihrer endgültigen Gestalt erschafft;) aber er weist
nicht minder darauf h i n , dass der Geist in dieser Gestaltung keine
selbstbewusste und selbsttätige Leistung vollzieht. Es ist keine
eigentümliche logische Funktion, sondern gleichsam ein durch
Erfahrung geregelter Naturtrieb des Bewusstseins, der uns über
die Grösse und Entfernungen der Objekte u n d damit über i h r
Sein und ihre Ordnung belehrt ‑
208 ‚Berkeley.

IE.
D i e B e g r ü n d u n g des Idealismus.
W i r verfolgen die einzelnen Phasen nicht, in denen dieser Ge‑
danke sich entwickelt und begründet. So wichtig sie für die Ge‑
schichte der Psychologie sind: für die Erkenntniskritik bedeuten
sie n u r mannigfache Variationen des einen Grundthemas und
der einen Grundfrage, wie es möglich ist, dass die Empfindungen
zu Gegenständen, das „Innere“ z u m „Aeusseren* wird. In der
Theorie des Sehens zwar vermeidet es Berkeley noch, die dialek‑
tischen Schwierigkeiten dieses Gegensatzes vollständig zu erörtern
und zu eniwirren. Er begnügt sich hier m i t der Gegenüberstellung,
bei der die populäre Weltansicht sich beruhigt: die Empfin‑
dungen des Gesichtssinnes sind die Zeichen, durch die w i r u n s
die Objekte ausser u n s mittelbar vergegenwärtigen; neben dieser
symbolischen F o r m der Erkenntnis aber besitzen wir im Tast‑
sinn einen selbständigen Zeugen, der uns von der Existenz der
Dinge direkte und zweifellose Kunde gibt. Die „tastbare Ausdeh‑
nung“ wird der „realen Ausdehnung“, die ausserhalb des Bewusst‑
seins eineigenesDasein besitzt, gleichgesetzt.!%) Wäre indessen diese
Lösung als endgültig anzusehen, so wäre damit zugleich der
theoretische Hauptzweck Berkeleys, wie er sich uns anfangs er‑
gab, verfehlt. Wenn die beiden Enden, die die „Neue Theorie
des Sehens“ zu verknüpfen strebt, wenn die Perception in u n s
und das absolute Dasein ausser uns sich an irgend einer Stelle
von selbst zusammenfügten: so hätte es der gesamten gedank‑
lichen Zurüstung der Schrift nicht bedurft. Berkeley selbst be‑
lehrt u n s jedoch, dass es sich h i e r lediglich um eine Be‑
schränkung handelt, die er sich m i t Rücksicht auf die D a r ‑
s t e l l u n g auferlegt habe. Indem er in seinem folgenden Werk:
der „Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen E r ‑
kenntnis“, die Frage von neuem und in einem weiteren gedank‑
lichen Zusammenhange aufnimmt, bezeichnet er als den Zweck
des vorangehenden Versuches den Nachweis, dass die eigentlichen
Objekte des Seliens weder ausserhalb des Geistes existieren, n o c h
die Kopien äusserer Dinge sind. „Was die Eindrücke des Tast‑
sinns betrifft ‐ so fährt er fort ‐ so wurde von ihnen in dieser
Schrift freilich das Gegenteil angenommen: nicht als ob es z u r
D i n g und Vorstellung. 209

Begründung meiner Anschauung notwendig gewesen wäre, diesen


allgemein verbreiteten Irrtum vorauszusetzen, sondern weil es
ausser meiner Absicht lag, i h n in einem Traktat über dasSehen
zu widerlegen.“!!) Hier erst gelangt somit die Frage, die bisher
auf einen speziellen Gegenstand eingeschränkt blieb, zu wahrer
Schärfe und Allgemeinheit. Die verschiedenen Gebiete von Sinnes‑
eindrücken haben, soweit das allgemeine Problem der Objek‑
tivität in Betracht kommt, v o r einander keinen Vorrang: wie
sie auf der einen Seite den e c h t e n Begriff des Gegenstandes n u r
in ihrer Gesamtheit erfüllen können, so ist umgekehrt jedes von
ihnen unzureichend, die falsche Forderung einer Wirklichkeit,
die ausserhalb jeder Korrelation z u m Bewustsein stände, zu be‑
friedigen. Der Physiker mag die Farben und Töne auf Gestalt
und Bewegung zurückführen und sie kraft dieser geometrischen
Bestimmungen zu „erklären“ suchen, aber gänzlich i r r i g wäre
es, diese Beziehung und Unterordnung, die w i r zum Zweck einer
Gliederung des Wissens vornehmen, als einen Gegensatz im Sein
zu deuten und der Ausdehnung eine andere Art der Existenz, als
d e r Farbe zuzuschreiben. Beide sind unmittelbar n u r als Zu‑
stände eines Subjekts bekannt und gegeben; beide sind weiterhin
gleich notwendige Grundlagen, um zu der empirischen Welt
der „Dinge“, d. h. zu der Vorstellung einer gesetzlich geregelten
und somit „objektiven“ Ordnung der Erscheinungen zu ge‑
langen. Die unbedingte Scheidung zwischen primären und
sekundären Qualitäten und zwischen der Daseinsform, die beiden
zuzusprechen ist, beruht im Grunde auf derselben Verwechslung
v o n Erkenntnisinstanzen, die den I r r t u m in der Wahrnehmungs‑
theorie verschuldete: eine methodische Abstraktion, die als
solche brauchbar und förderlich sein mag, wird z u m Range
einer metaphysischen Wirklichkeit erhöht. ‑
So ist es wiederum dieselbe Schranke, die hier wie überall
der adaequaten Erfassung der „Urwahrnehmungen“ entgegen‑
tritt. Soll dieser Grundbestand a l l unseres Wissens aus den
mannigfachen Vermischungen und Verdunkelungen, in denen
die gewöhnliche „Erfahrung“ i h n uns darbietet, herausgelöst,
soll die „reine“ Wahrnehmung, frei v o n allen täuschenden Zu‑
taten ergriffen werden, so gilt es vor allem, diese ständige Fehler‑
quelle zu beseitigen, indem w i r das psychologische Grundmotiv
14
210 Berkeley.

des Irrtums aufbellen. Und der Weg zu dieser K r i t i k des


a b s t r a k t e n B e g r i f f s ist durch die Methode, die Berkeley z u
Grunde legt und die er in seiner Theorie der Wahrnehmung
bewährt hat, bereits eindeutig vorgezeichnet. Wenn w i r u n s
hier die Aufgabe stellten, eine „Perception* aufzuweisen, die f ü r
sich allein den dıeidimensionalen Rauın enthalten und a b b i l d e n
sollte, so mussten wir erkennen, dass diese Forderung falsch
gestellt und unerfüllbar war. Es gibt keine einfache sinnliche
Vorstellung, die als unmittelbare K o p i e der Lageverhältnisse
der Objekte gelten könnte. Wollten w i r für diese objektiven
Verhältnisse das echte psychologische Korrelat aufsuchen, so‑
mussten w i r vielmehr stets auf den Prozess der Ve r k n ü p f u n g
der Vorstellungen, der sich in keinem einzelnen sinnlichen Bilde
ausprägt, zurückgehen, so mussten w i r in der einzelnen E m ‑
pfindung, ausser ihrem unmittelbaren Inhalt, eine F u n k t i o n
anerkennen, kraft deren sie andere darzustellen und zu vertreten
vermag. W i r brauchen dieses Ergebnis n u r zu erweitern und
in seiner allgemeinen Bedeutung auszusprechen, um die wahre
logische und psychologische Schätzung des b e g r i f fl i c h e n
Denkens zu gewinnen. Die abstrakten Begriffe sind keine
besonderen psychischen W i r k l i c h k e i t e n , die sich abgelöst i m
Bewusstsein vorfinden. Wer sie in dieser Weise auffasst u n d
unter diesem Gesichtspunkt sucht, der sieht sich damit alsbald
in handgreifliche Absurditäten verwickelt; der muss m i t Locke
v o n einem „abstrakten Dreieck“ sprechen, das weder spitz- noch
rechtwinklig, weder gleichseitig noch ungleichseitig ist, das keins
v o n diesen Einzelmerkmalen und zugleich sie alle in ihrer Ge‑
samtheit besitzt.) Wenn indess jegliche, metaphysische oder
psychologischeExistenz, diewirdem abstrakten Begriffzusprechen,
in sich selbst widerspruchsvoll ist ‐ da Existenz nichts anderes.
besagt. als eben jene durchgängige individuelle Bestimmtheit,
die der Allgemeinbegriff v o n sich abweist ‐, so brauchen w i r
damit doch auf seine G e l t u n g im Ganzen der Erkenntnis keines‑
wegs zu verzichten. Diese Geltung wurzelt in der Fähigkeit des.
Geistes, an einer Einzelvorstellung nicht n u r ihre besonderen
Eigentümlichkeiten zu ergreifen, sondern über sie hinaussehend,,.
die ganze Gruppe verwandter Vorstellungen, die irgend ein
charakterisches Merkmal m i t ihr teilen, in e i n e m Blicke zu
Die Polemik gegen die abstrakten Begriffe. 2il

befassen. Auch hier ist es somit nicht sowohl der Inhalt, wie
die F u n k t i o n der Vorstellung, die ihren Erkenntnisgehalt aus‑
macht. „Betrachten w i r dasVerfahren, das ein Geometer anwendet,
um zu zeigen, wie eine Linie sich in zwei gleiche Teile zerlegen
lässt, so sehen wir, dass er etwa damit beginnt, eine schwarze
Linie v o n einem Zoll Länge hinzuzeichnen. Diese Linie, die an
und f ü r sich eine einzelne Linie ist, ist nichtsdestoweniger in
i h r e r Bedeutung allgemein, da sie in der Art, wie sie hier gebraucht
wird, alle beliebigen besondern Linien r e p r ä s e n t i e r t , sodass,
was v o n i h r bewiesen ist, von a l l e n , oder m i t anderen Worten
v o n der L i n i e im Allgemeinen gilt.“ Diese Allgemeinheit gründet
sich also nicht darauf, dass eine abstrakte Linie existiert, sondern
darauf, dass der Einzelfall, den w i r herausgreifen, die Kraft besitzt,
d i e gesamte Mannigfaltigkeit besonderer Linien unterschiedslos zu
bezeichnen und für sie einzustehen.') Die Vorstellung als solche
ist und bleibt individuell: ihre „Allgemeinheit“ bedeutet keinen
Zuwachs an Inhalt, sondern eine eigentümliche neue Qualität und
Färbung, die sie durch die Betrachtung des Geistes gewinnt.
Fasst m a n nur den Inhalt dieser Lehre ins Auge, so scheint sie
sich von der Theorie des mittelalterlichen „Terminismus*“, die
auch in der neueren Zeit in mannigfachen Formen wieder hervor‑
getreten war,!‘) kaum in irgend einem Zuge zu unterscheiden.
Ihre Originalität und ihre spezifische Bedeutung erhält sie erst
durch die Stellung, die sie im Gesamtsystem Berkeleys einnimmt.
Die „repräsentative Funktion“, die Berkeley dem Begriff zu‑
spricht, tritt bei i h m nicht als etwas völlig neues und unver‑
mitteltes auf, vielmehr mussten w i r sie bereits in der sinnlichen
Empfindung selbst anerkennen, wenn w i r v o n i h r z u r Anschau‑
u n g räumlich ausgedehnter, empirischer Objekte gelangen wollten.
Jetzt erst scheint daher der Begriff völlig erklärt und abgeleitet,
da w i r in i h m n u r dieselbe Leistung, die sich bereits in der
Wahrnehmung wirksam erwies, auf einer anderen Stufe wieder‑
finden. Die „Perception“ scheint nunmehr in der Ta t den Ge‑
samtinhalt des psychischen Seins zu erschöpfen, sofern w i r sie
‐ gemäss der kritisch berichtigten Auffassung, die w i r von i h r
gewonnen haben ‐ nicht n u r durch ihren eigenen unmittelbaren
Inhalt, sondern auch durch ihre mannigfachen associativen Ver‑
bindungen und Beziehungen charakterisiert denken. ‑
14%
212 Berkeley.

So sehr indessen Berkeley den Kampf gegen die abstrakten


Begriffe in den Vordergrund rückt und so sehr er die ganze
Kraft seiner Dialektik auf i h n konzentriert, so bedeutet er im
systematischen Ganzen seiner Philosophie doch n u r eine Vor‑
bereitung und ein Mittelglied. Es ist ein bestimmter Einzel‑
begriff, e i n e verhängnisvolle Abstraktion, die v o r allem getroffen
werden soll. Die gesamte Metaphysik des Erkenntnisproblems
ist in diesem einen Begriff des D a s e i n s enthalten und be‑
schlossen. Der Inhalt der Betrachtung vertieft sich nunmehr,
indem i h r Umkreis sich verengt und auf eine Einzelfrage kon‑
zentriert. Die neue Auffassung, die w i r v o m Charakter des
Bewusstseins gewonnen haben, fordert eine neue Bestimmung
d e r Realität des Naturgegenstands. Wo immer m a n in der
Analyse des Bewusstseins bei der „einfachen“ Empfindung als
dem echten Grundinhalt stehen blieb, da erschien zugleich m i t
i h r, die selbst in der Art eines s t a r r e n unveränderlichen Seins
angesehen wurde, auch das äussere absolute Objekt gesetzt. Der
reine „Phänomenalismus“ wandelte sich ‐ wie wir insbesondere
am Beispiel v o n Hobbes verfolgen konnten ‐ immer wieder
in einen naiven Realismus: die Wahrnehmung, die als das
Prinzip und die notwendige Basis des systematischen Aufbaus
anerkannt war, wurde wiederum z u m P r o d u k t einer unab‑
hängigen Körperwelt, die i h r vorangeht. ($. oben S. 160f.) F ü r
Berkeley indes ist die Voraussetzung, die immer von neuem
zu diesem Schlusse hinleitete, hinfällig geworden. Der Inhalt des
Bewusstseins erschöpft sich i h m nicht in den einzelnen D a t e n
der Empfindung und Vorstellung, sondern er entsteht erst in
ihrer wechselseitigen Ve r k n ü p f u n g : das Bewusstsein ist seiner
Natur nach kein ruhender und geschlossener Bestand, sondern
ein ständig sich erneuernder Prozess. Wie aber vermöchten
unsere Ideen, die in stetem Wandel einander ablösen und die
somit selbst nichts anderes als ein ununterbrochenes z e i t l i c h e s
Geschehen darstellen, u n s eine unbedingte und beharrliche
äussere Wirklichkeit abzubilden?) Das Idol der „absoluten
M a t e r i e ‘ muss sich zugleich m i t dem der absoluten Vorstellung
in Nichts auflösen. Ist einmal erkannt, dass die einzelne Vo r ‑
stellung ihren Sinn und ihren Erkenntnisgehalt erst den B e ‑
z i e h u n g e n verdankt, die sie in sich darstellt und verkörpert,
D i e Umformung des Seinsbegriffs. 218

so sind alle weiteren Folgerungen zwingend gegeben. Denn alle


Beziehungen schliessen ‐ wie Berkeley scharf hervorhebt ‑
e i n e n A k t des Geistes ein!®) und können v o n i h m n i c h t los‑
gelöst gedacht werden. Der blosse Inhalt der Einzelwahrnehmung
drängt immer v o n neuem dazu, i h n in ein transscendentes
„Jenseits“ hinauszuprojicieren u n d i h n an ein für sich bestehendes
Urbild z u heften; der A k t d e r Ve r k n ü p f u n g dagegen erfüllt
und erschöpft sich völlig im Ich und findet in i h m sein
einziges „Original“. Die „Wirklichkeit“ eines Inhalts wird u n s
n u r durch die Art, in der er uns in der Vorstellung gegeben ist,
vermittelt; es ist der prinzipielle Grundirrtum, der alle übrigen
verschuldet, wenn m a n versucht, durch eine willkürliche Tren‑
nung diesen Zusammenhang aufzubeben, wenn m a n also die
G e g e n s t ä n d e des Bewusstseins v o n den B e d i n g u n g e n des
Bewusstseins, unter denen allein sie uns bekannt werden, loslöst.
Das denkende Ich und der gedachte Inhalt sind aufeinander
notwendig angewiesen; wer es unternimmt, diese beiden Gegen‑
pole von einander zu scheiden und in abstrakter Sonderung
festzuhalten, der zerstört m i t diesem Einschnitt den Organismus
und das Leben des Geistes selber. „So unmöglich es ist, ohne
eine tatsächliche Empfindung ein Etwas zu sehen und zu
fühlen, so unmöglich ist es, in Gedanken irgend ein sinnliches
Objekt oder Ding gesondert von seiner Wahrnehmung oder
Perception zu setzen.‘ 17)
Die Grundansicht, v o n der Berkeleys „Theorie des Sehens“
ausgegangen war, erfährt hier eine neue Vertiefung. W i e dort
gezeigt werden sollte, durch welche wechselseitige associative
Verbindung von Gesichts- und Tasteindrücken das objektive
Raumbild entsteht, so gilt es nunmehr zu begreifen, dass
der gesamte Bestand dessen, was w i r die objektive Natur
der Dinge nennen, sicb auf einen analogen Prozess zurück‑
f ü h r t und in i h m seine endgültige Begründung findet. Nicht
der Zusammenhang m i t einer Welt körperlicher Substanzen,
sondern die Beständigkeit und Geschlossenheit, die ein Vor‑
stellungskomplex in sich selbst aufweist, ist es, die i h m den
W e r t der Realität verleiht. „Wirklich“ heissen uns solche
Gruppen v o n Empfindungen, die im Unterschiede zu den vagen
und wandelbaren Bildungen der Phantasie ein unveränderliches
214 Berkeley.

Gefüge, eine konstante Zusammengehörigkeit und Wiederkehr


aufweisen. An Stelle des dinglichen Massstabes tritt ein rein
ideeller; was die Erscheinungen zu „Gegenständen“ macht, ist
die Ordnung und Gesetzlichkeit, die sich in ihnen ausprägt.
In dieser Erklärung trifft Berkeley, bis auf den Wortlaut genau,
m i t L e i b n i z ’ Begriffsbestimmung des „Phänomens“ u n d seiner
Wirklichkeit zusammen.') Eben diese Uebereinstimmung aber
beleuchtet scharf den Gegensatz der Methoden: denn wenn bei
Leibniz die Verknüpfung der Phänomene, die die Gewähr ihrer
Realität enthält, in den „idealen Regeln der Arithmetik, der
Geometrie und der Dynamik“ gegründet ist, wenn sie also zuletzt
auf r a t i o n a l e Normen v o n notwendiger und allgemeiner Geltung
zurückgeht, so ist es h i e r wiederum n u r die erfahrungsgemässe
Association der Vorstellungen, die uns über ihren Zusammenhang
belehren soll. „Wirklich“ ist somit nicht n u r der Inhalt der
aktuellen Wahrnehmung, sondern auch was immer m i t i h m nach
einer empirischen Regel zusammenhängt. W i r behaupten m i t
vollem Rechte, dass die Gegenstände, auch ausserhalb des jewei‑
ligen Wahrnehmungsaktes, existieren; aber w i r setzen sie damit
nicht ausser jegliche Beziehung zum Bewusstsein, sondern sprechen
damit n u r die E r w a r t u n g m ö g l i c h e r Perceptionen aus, die
sich unter bestimmten Bedingungen für uns realisieren können.
„Die Bäume s i n d im Garten, ob ich es will oder nicht, ob i c h
sie vorstelle oder nicht; aber dies heisst nichts anderes, als dass
i c h n u r hinzugehen und die Augen zu Ö f f n e n brauche, um sie
notwendig zu erblicken.“!) So darf die idealistische Lehre sich
hier die Ausdrucksweise der gewöhnlichen Weltansicht zu Eigen
machen. Auch für sie erschöpfen die jedesmal im Bewusstsein
vorhandenen Inhalte keineswegs das Sein; auch f ü r sie bilden
die direkt gegebenen Empfindungen n u r die unvollständigen
„Symbole“ der Wirklichkeit. Aber was in diesen Inhalten sym‑
bolisiert ist, das sind keine absoluten Dinge ausserhalb des Geistes,
sondern der Inbegriff und der geregelte Zusammenhang unserer
geistigen G e s a m t e r f a h r u n g . Die gegenwärtigen Perceptionen
bleiben nicht isoliert, sondern sie bringen, kraft der gesetzlichen
Verknüpfung, in der sie m i t anderen stehen, diese selbst z u m
Ausdruck, so dass w i r in ihnen m i t t e l b a r das Ganze der mög‑
lichen empirischen Inhalte und somit das All der Dinge besitzen.??)
D e r Begriff der Perceßtion. 215

Die Grundgleichung esse = percipi gewinnt ihren wahren Sinn erst


dann, wenn w i r die Perception in ihrer kritisch berichtigten
Bedeutung verstehen, wenn w i r in i h r somit die Funktion mit‑
denken, den empirischen Zusammenbang, in den sie hinein‑
gestellt ist, zu repräsentieren.
Blickt m a n v o n hier aus auf den A n f a n g der Untersuchung
zurück, so erkennt man, in wie strenger und lückenloser Folge‑
richtigkeit die Hauptsätze Berkeleys aus einander folgen. Der
„Idealismus“, wie er hier verstanden und verkündet wird, ist
keine willkürliche spekulative These; sondern er ist, als not‑
wendiges Ergebnis, bereits in dem ursprünglichen Gesichtspunkt
enthalten, durch den Berkeleys Analyse geleitet wurde. Der
I n h a l t dieser Philosophie geht rein und ohne Rest in ihrer
M e t h o d e auf. Nachdem w i r uns einmal auf den Standpunkt der
„reinen Erfahrung“ gestellt, nachdem w i r alles, was durch sie
nicht beglaubigt werden konnte. prinzipiell verworfen haben,
gibt es für uns keine Wa h l mehr. Die Begriffsbestimmung
der Wirklichkeit, zu der w i r vorgedrungen sind, i s t nichts
anderes als die vollständige Aufhellung und die analytische
Darlegung des methodischen Grundgedankens. So kann sie
freilich nicht im gewöhnlichen Sinne durch syllogistische Mittel‑
glieder bewiesen werden; n u r der Weg kann angezeigt werden,
auf welchem w i r sie in fortschreitender Selbstbesinnung in uns
selbst entdecken müssen, sofern es u n s n u r gelingt, den gegebenen
Inhalt des Bewusstseins, frei v o n allen fremden Zutaten, heraus‑
zustellen. „Vergeblich breiten w i r unseren Blick in die himm‑
lischen Räume aus und suchen in die Tiefen der Erde zu drin‑
gen, vergeblich befragen wir die Schriften der Gelehrten und
gehen den dunklen Spuren des Altertums nach: w i r brauchen
n u r den Vorhang v o n Worten wegzuziehen, um den Baum der
Erkenntnis, dessen Frucht vortrefflich u n d unserer Hand er‑
reichbar ist, in aller Schönheit v o r u n s zu erblicken.“?!) Die
schlichte Sprache des Selbstbewusstseins widerlegt f ü r jeden, der
einmal auf sie zu hören gelernt hat, die dogmatischen Theorien
über ein zwiefaches und in selbst gespaltenes Sein; wird doch
in allen diesen Theorien notwendig eine dogmatische Voraus‑
setzung eingeführt, die durch die E r k e n n t n i s niemals zu be‑
währen u n d zu rechtfertigen ist. Dass die Vorstellungen in uns
216 j Berkeley.

die A b b i l d e r äusserer Substanzen sind, und sie kraft der


A e h n l i c h k e i t , die sie m i t ihnen besitzen, repräsentieren: dies
ist keineswegs die Aussage der unbefangenen inneren Erfahrung,
sondern eine scholastische Behauptung, die Berkeley freilich
auch in der exakten Wissenschaft seiner Zeit noch in voller K r a f t
fand. Kein Geringerer als N e w t o n w a r es, der diese Lehre
noch eben ‐ im Anhang seiner Optik ‐ zu neuem Leben er‑
weckt h a t t e . ) Wenn die „neue Theorie des Sehens“ e s unter‑
nommen hatte, diese Auffassung durch die Berufung auf die
.psychologischen Tatsachen zu entwurzeln, so geht Berkeley n u n ‑
mehr daran, sie als unvereinbar m i t den ersten l o g i s c h e n
Postulaten z u erweisen. I n der Tat sind die W i d e r s p r ü c h e ,
in die jede Annahme eines transscendenten Erkenntnismaassstabes
uns verwickelt, nirgends schärfer aufgedeckt und eindringlicher
dargelegt worden, als in Berkeleys „Dialogen zwischen Hylas
und Philonous“, die damit f ü r immer z u r logischen Rüstkammer
des Idealismus geworden sind. Die Argumente dieser Schrift
konnten fortan weder überboten, noch mit Grund bestritten
werden. Entbielte Kants Vernunftkritik nichts anderes, als den
negativen Gedanken, dass die Wahrheit unserer Erkenntnis nicht
in ihrer Uebereinstimmung m i t den „Dingen an sich“ zu suchen
ist, so dürfte i h r Ergebnis hier in der Tat als vollständig anti‑
zipiert gelten. In alle Formen und Verkleidungen hinein, in
die er sich zu verstecken pflegt, in alle Folgerungen hinein,
in denen er, bewusst oder unbewusst, nachwirkt, wird hier der
Gedanke des „absoluten Seins“ der Dinge verfolgt.8) Dieser
Gedanke, der die Festigung und Verankerung der Vorstellungs‑
welt in einem Urgrund v o n unbedingter Gewissheit bedeuten
will, würde in Wahrheit alle Sicherbeit des Vorstellens u n d
Denkens zunichte machen. Denn jedes Wissen in u n s müsste
alsdann, ehe w i r uns seiner Gültigkeit versichert halten dürften,
auf seine Uebereinstimmung m i t den jenseitigen „Urbildern“ ge‑
prüft und a n ihnen bewährt sein. Jede Ve r g l e i c h u n g zweier
Inhalte aber, wie sie hier gefordert wird, ist selbst ein Akt des
Bewusstseins und als solcher auf die Grenzen des Bewusstseins
eingeschränkt: w i r können n u r Vorstellungsinhalt m i t Vor‑
stellungsinhalt, n u r eine [ d e e m i t einer anderen zusammen‑
h a l t e n . ) Der Vorwurf, dass der Idealismus das Sein z u r I l l u ‑
Die Aufhebung
Die Aufhebung der absoluter Materie.
der absoluten Materie. 217
217

fällt also
herabsetzt, fällt
ssii oonn herabsetzt, also auf
auf diedie Gegner zurück: zurück: sie sind es,
sie sind es,
die unserer empirischen
die unserer Erkenntnis jeden
empirischen Erkenntnis jeden Wert Wert rauben,
rauben, indem indem
sie ein falsches und
sie i bhrr ein unerreichbares Ideal
und unerreichbares Ideal vorhalten.
vorhalten. W ee r
die Realität der Vorstellung darin
die Realität der Vorstellung darin sieht, dass sie ein sieht, dass sie ein Unvorstell‑
Unvorstell-
bares wiedergibt, wer somit
bares wiedergibt, wer somit die Schätzung die Schätzung des unmittelbar
unmittelbar Be‑ Be-
kannten
kannten vvon o n einem schlechthin Unerkennbaren
einem schlechthin Unerkennbaren abhängig abhängig macht, macht,
der hat
der damit das
bat damit das Wissen
Wissen aus aus seinen
seinen Angeln gehoben.25) D
Angeln gehoben.®) Die
ie
Aufgabe der Philosophie,
Aufgabe Philosophie, wie wie der Idealismus
Idealismus sie sie versteht,
versteht, besteht
besteht
nicht darin, vvon
nicht darin, einer im voraus
o n einer festgestellten metaphysischen
voraus festgestellten metaphysischen
Annahme
Annahme aus die Wahrheit
aus die Wahrheit des empirischen Welibildes
des empirischen Weltbildes zu zu kkriti-
riti‑
sieren und
sieren und zuzu bestreiten, vielmehr kennt
bestreiten, vielmehr kennt er er kein anderes Ziel,
kein anderes Ziel,
als den
als den Inhalt
Inhalt dieses Weltbildes selbst
dieses Weltbildes selbst zzur u r Klarheit
Klarheit und und Selbst‑
Selbst-
gewissheit zu
gewissheit zu erheben.
erheben. Nicht Nicht uum m die die Leugnung
Leugnung der der Existenz
Existenz
der Sinnendinge
der Sinnendinge handelthandelt es sich, sondern
es sich, umgekehrt um die
sondern umgekehrt die voll‑
voll-
ständige Aufhellung
ständige Aufhellung des Sinnes, den
des Sinnes, den w i r, innerhalb
wir, unseres E
innerhalb unseres r‑
Er-
fahrungsgebrauches,
fahrungsgebrauches, m miti t dem
dem Begriff
Begriff derder Existenz
Existenz verbinden.?%)
verbinden.26)
Hier aber
Hier aber hathat sich
sich uns
uns das entscheidende Merkmal,
das entscheidende Merkmal, das in der
Konstanz und
Konstanz und regelmässigen Verknüpfung der Vorstellungsinhalte
regelmässigen Verknüpfung
liegt, bereits
liegt, ergeben. Der
bereits ergeben. Der Unterschied
Unterschied zwischen Chimäre und
zwischen Chimäre und
Wirklichkeit bleibt somit in
bleibt somit in voller Kraft:
Kraft: es es gibt eine „Natur ‑
gibt eine
der
der Dinge“, sofern die
Dinge", sofern Ideen in
die Ideen uns nicht
in uns nicht willkürlich
willkürlich auftreten
auftreten
und
und verschwinden,
verschwinden, sondern
sondern in ihrem
ihrem Fortgang
Fortgang eine eindeutige
eine
objektive Bestimmtheit
objektive Bestimmtheit aufweisen.°)
aufweisen.?)
Somit bildet
Somit bildet derder Begriff
Begriff des des Naturgesetzes
N a t u r g e s e t z e s das
das echteechte
und unentbehrliche Korrelat
und unentbehrliche Korrelat ffür ü r den
den neuen Begriff der
neuen Begriff der Wirk‑
Wirk-
lichkeit,
lichkeit, der hier hier geprägt
geprägt ist. ist. Die Bürgschaft
Die Bürgschaft des des Seins liegt liegt
n i c h t lediglich
nicht lediglich in dem Stoffe der
dem Stoffe sinnlichen Empfindung,
der sinnlichen Empfindung, son‑ son-
dern in dem
dern dem gesetzlichen
gesetzlichen Zusammenhang,
Zusammenhang, den den dieser Stoff in der
Betrachtung der W
Betrachtung Wissenschaft gewinnt. Der
i s s e n s c h a f t gewinnt. Der Wert,
Wert, der hier hier
der Wissenschaft zugesprochen wird,
Wissenschaft zugesprochen wird, ist zugleich an
freilich zugleich
ist freilich an die
Bedingung geknüpft, dass
Bedingung geknüpft, dass siesie sich
sich damit begnügt, die
damit begnügt, die Phänomene
Phänomene
ihrem Beisammen
in ihrem Beisammen und und in der Regelmässigkeit
Regelmässigkeit ihrer ibrer Abfolge
Abfolge
zu beschreiben, statt
zu beschreiben, sie aus
statt sie aus höchsten
höchsten metaphysischen
metaphysischen WesenheitenWesenheiten
ableiten zu
ableiten wollen. Nicht
zu wollen. Nicht der substantielle
substantielle Untergrund,
Untergrund, sondernsondern
lediglich der unmittelbare Inhalt der Erscheinung selbst und
lediglich der unmittelbare Inhalt der Erscheinung selbst und
seine exakte
seine exakte Wiedergabe
Wiedergabe ist ist es,
es, worauf ihre ihre Aufgabe
Aufgabe sich sich richtet.
richtet.
Die „Erklärung“ eines
Die „Erklärung" Faktums kann
eines Faktums kann demnach
demnach nichts nichts anderes
anderes
bedeuten,
bedeuten, als als den Nachweis seiner
den Nachweis seiner Uebereinstimmung
Uebereinstimmung m miti t zuvor
zuvor
218 Berkeley.

bekannten Tatsachen: ein Phänomen ist vollständig begriffen,


wenn w i r es m i t der Gesamtheit der empirischen Tatbestände in
Einklang gesetzt haben.?2) Die Zusammenhänge, die die Natur‑
wissenschaft stiftet, stehen demnach nicht im Verhältnis des
logischen Grundes u n d der logischen Folge. Die Elemente können
z w a r vermöge der konstanten Verbindung, in der sie stehen, z u m
„Zeichen“ für einander dienen, sodass sich beim Auftreten des
einen das andere m i t Sicherheit voraussehen und vorhersagen
lässt; immer aber lässt sich die Verbindung, die zwischen ihnen
besteht, n u r erfahrungsmässig erfassen, nicht aber begrifflich
einsehen und als notwendig erweisen.) Die „Kräfte“, die die
mathematische Naturphilosopbie einführt, sind somit n u r metho‑
dische Hülfsgrössen, die u n s Gesamtgruppen von Phänomenen
in abgekürzter Form bezeichnen; nicht aber reale Potenzen, die
die Erscheinungen aus sich hervorbringen.®) Mit dieser Grund‑
anschauung fühlt sich Berkeley in prinzipieller Uebereinstimmung
m i t der Wissenschaft seiner Zeit: hatte doch Newton selbst unab‑
lässig betont, dass seine Forschung lediglich auf die Gesetzlichkeit
der Naturerscheinungen, nicht auf die Erkenntnis ihrer absoluten
„Ursachen“ gerichtet sei. Wenn Newton trotzdem diesen Grund‑
satz nicht durchgehend zur Geltung gebracht, wenn er in die Er‑
klärung der Tatsachen Elemente eingemischt hat, die sich prin‑
zipiell jeder Bestätigung durch die Erfahrung entziehen, so braucht
m a n sich also n u r auf seine ursprüngliche und eigene Maxime z u ‑
rückzubesinnen, um seine Wissenschaft in sich selbst einstimmig
zu machen. Die Polemik, die Berkeley gegen die Newtonischen Be‑
griffe des absoluten Raumes und der absoluten Zeit richtet, w i l l
daher als immanente Kritik gelten, die die methodische Einheit des
Systems wiederherstellt.®) So stimmt die Analyse des objektiven
Gehalts der wissenschaftlichen Prinzipien m i t dem Ergebnis der
psychologischen Analyse Punkt f ü r Punkt überein. Die psychi‑
schen. wie die physischen Grundtatsachen haben eine neue Gestalt
angenommen, seit die Schranke, die eine falsche Metaphysik
zwischen ihnen aufgerichtet hatte, beseitigt ist und sie unter
einem gemeinsamen methodischen Gesichtspunkt begriffen sind.
Erscheinung und Naturgesetz. 219

II.
K r i t i k d e r Berkeleyschen B e g r i f f s t h e o r i e .
Die K r i t i k der Berkeleyschen Lehre ist in der Geschichte
der Philosophie fast durchgehend von einem Standpunkt aus erfolgt,
der i h r selbst innerlich fremd ist. Immer wieder wurden gegen
sie Einwände erhoben, die gerade das was sie bezweifelt, fraglos
voraussetzten,; immer wieder wurden ihre Ergebnisse aus dem
Zusammenhang m i t der originalen Fragestellung, von der Berkeley
seinen Ausgang nimmt, gelöst, um f ü r sich allein betrachtet und
beurteilt zu werden. Jede derartige Beurteilung aber verfehlt ‑
nicht minder unter dem systematischen, als unter dem geschicht‑
lichen Gesichtspunkt ‐ i h r Ziel. Alle Einwände, die von aussen
h e r an das System herangebracht werden, verlieren an diesem
unvergleichlich geschlossenen Gedankengefüge alsbald ihre Kraft.
Die Ergebnisse Berkeleys können nirgends anders als an seiner
eigenen Methode gemessen werden. Hat diese Methode ‐ so
muss die Frage lauten ‐ die Aufgabe, die sie sich gestellt
h a t , wirklich erfüllt; ist es i h r gelungen, die reine Erfahrung,
abgesondert von jeglicher „metaphysischen“ Beimischung, auf
sich selbst zu stellen und besitzt sie die Mittel, die Verfassung
der Erfahrung selbst vollständig zu begreifen und durchsichtig
zu machen? ‑
Beginnen w i r m i t dieser zweiten Frage, so führt sie uns
zunächst wiederum in den Mittelpunkt v o n Berkeleys logischer
Theorie: zu der Verhältnisbestimmung von Empfindung und Ur‑
teil, v o n Perception und Begriff zurück. Berkeleys Polemik gegen
die „abstrakten Begriffe hat i h r Thema keineswegs erschöpft.
Denn sie hielt ihren Blick lediglich auf ein einzelnes geschicht‑
liches Vorbild gerichtet; sie wandte sich einzig gegen die be‑
stimmte Form, die L o c k e der Lehre v o n der Abstraktion ge‑
geben hatte. So berechtigt und treffend sie daher erscheint,
wenn m a n diese ihre eingeschränkte Absicht festhält, so wenig
vermögen ihre Argumente etwas gegen die tiefere Fassung und
Begründung, die die Klassiker des Rationalismus, die insbesondere
Leibniz der Theorie des Begriffs gegeben hatten. Denn hier
handelte es sich nirgends darum, das Allgemeine selbst in die
Form der „Vorstellung“ zu zwängen. Die B e d e u t u n g des Be‑
220 Berkeley.

griffs wurde nicht dadurch zu sichern gesucht, dass i h m ein u n ‑


bestimmtes „Gattungsbild“ als psychisches Korrelat zur Seite t r a t ,
sondern dadurch, dass e r als die notwendige Vo r a u s s e t z u n g
für jegliche Verknüpfung v o n Bewusstseinsinhalten und somit f ü r
jegliche „Wahrheit“, die w i r v o n ihnen aussagen können, auf‑
gewiesen wurde. Ueberall dort, wo die moderne Mathematik als
Vorbild der Methodenlebre galt, w a r an die Stelle des scholasti‑
schen Abstraktionsverfahrens das Verfahren der Analysis ge‑
treten, das im Gebiete der Logik zu fundamentalen D e fi n i t i o n e n
und U r t e i l e n , im Gebiete der Tatsachen zu umfassenden Ge‑
setzen hinleitet. Nicht fertige und starre Gebilde, sondern die
Operationen und Verknüpfungsweisen des Geistes waren es somit,
in denen der Gehalt des Begriffes begründet wurde. Vergleicht
m a n Berkeleys Anschauung hiermit, so zeigt sich in i h r zweifel‑
los ein verwandter Zug. Hebt doch auch er beständig hervor,
dass die begriffliche Allgemeinheit, die wir einer Vorstellung
zusprechen, kein „absolutes, positives Merkmal“ ist, das i h r an‑
haftet, sondern lediglich in ihrer Fähigkeit wurzelt, eine u n ‑
bestimmte Mehrheit anderer Inhalte, zu denen sie in Beziehung
steht, dem Geiste zu repräsentieren.®) Der Begriff der „Re‑
präsentation‘“ indessen, der hier als die endgültige L ö s u n g der
Schwierigkeit auftritt, bildet vielmehr n u r den schärfsten Aus‑
druck des eigentlichen Problems. Denn dieser Begriff, der uns
in gleicher Bedeutung wie hier, bereits in der Entwicklung der
Berkeleyschen Wahrnehmungstheorie, sowie in der Definition
des empirischen Gegenstands entgegenträt und der somit im
Mittelpunkt des Systems steht, ist: v o n Anfang an m i t einer Zwei‑
deutigkeit behaftet. Dass Vorstellungen einander ausdrücken
und sich wechselseitig „vertreten“ können, dies w i l l nach der
allgemeinen Grundauffassung Berkeleys zunächst nichts anderes
besagen, als dass m i t dem Auftreten der einen auch die andere
associativ erweckt und angeregt wird. Dass ein einzelnes Dreieck
im geometrischen Beweisverfabren für alle anderen einstehen
kann, beruht zuletzt einfach darauf, dass jeder Inhalt des Be‑
wusstseins die Tendenz besitzt, alle i h m ähnlichen Einzelinhalte
gleichzeitig anklingen zu lassen und sie somit, wenngleich in
mittelbarer und abgeschwächter Form, dem Geiste darzubieten.
Was immer w i r vom Dreieck alssolchen aussagen und beweisen
D i e Rolle der Association im Process der Begriffsbildung. 221

können, das w i l l somit im letzten Grunde immer n u r f ü r die


A l l h e i t d e r E i n z e l e x e m p l a r e gelten, die w i r m i t einem
raschen Blicke überschauen. Dass aber damit die eigentliche
Funktion des Begriffs nicht erklärt, ja nicht beschrieben ist, ist
leicht ersichtlich. Das Durchlaufen des U m f a n g s eines Begriffs ist
f ü r die Erfassung seines I n h a l t s zufällig und nebensächlich.
Denn ganz abgesehen davon, dass unter einen allgemeinen
Begriff u n e n d l i c h viele und verschiedene Exemplare fallen
können, die sich somit niemals in der wirklichen Vorstellung
des Einzelnen erschöpfen lassen, so setzt doch bereits die V e r ‑
g l e i c h u n g des Einzelfalles m i t anderen voraus, dass zuvor ein
allgemeiner G e s i c h t s p u n k t fixiert ist, unter dem sie erfolgt.
Das blosse Zusammennehmen „ähnlicher“ Vorstellungen kann für
sich allein niemals genügen, um eben jenes Grundmoment, in
welchem sie übereinstimmen, zu gesondertem Bewusstsein zu
bringen und es als eine konstante E i n h e i t dem Wechsel der
verschiedenartigen Einzelinhalte entgegenzustellen. Dass die ein‑
zeinen Ideen irgendwie „gleichartig“ sind, ist unzureichend, so‑
lange sie nicht als gleichartig b e m e r k t und b e u r t e i l t werden.
Hierfür aber wird eine besondere geistige Leistung erfordert,
die v o n der sinnlichen Auflassung prinzipiell geschieden ist.
We n n in der unmittelbaren Wahrnehmung der Inhalt n u r als
ein unterschiedsloses Ganze erscheint, so tritt jetzt eine gedank‑
liche G l i e d e r u n g , eine Ueber- und Unterordnung ein, kraft
deren w i r die besonderen u n d zufälligen Beschaffenheiten, die
die individuelle Vorstellung mit sich führt, loslösen, um in i h r
n u r den Ausdruck und die Verkörperung eines allgemeinen und
gleichbleibenden gedanklichen Zusammenhangs zu sehen. Diese
Wandlung, die der Eindruck, ohne eine stoffliche Aenderung zu
erleiden, durch die Eigenart unserer Weise der Auffassung erfährt,
vermag die blosse Association niemals zu erklären. Denn in i h r
handelt e s sich immer n u r u m eine A u f r e i h u n g v o n Vor‑
stellungen, bei der dieTeile doch stets nebeneinander und gleichsam
in einer Ebene liegen bleiben, bei der also jene charakteristische
Differenzierung der B e d e u t u n g der einzelnen Elemente, in der
die Wurzel des Begrifis liegt, niemals erreicht werden kann. Die
blosse Anhäufung der Vorstellungen kann ihnen keinen neuen
f o r m a l e n S i n n geben, den sie nicht schon zuvor besitzen; es
222 Berkeley.

bleibt hier immer bei dem einfachen gleichmässigen Ablauf der


Vorstellungsmassen, ohne dass in ihnen selber eine Unterscheidung
und rhytbmische Abhebung zu Stande kommt.
Berkeley selbst sieht sich daher schon in den ersten Aus‑
führungen der „Prinzipien“ zu Berichtigungen und positiven E r ‑
gänzungen der ursprünglichen Ansicht gedrängt. E i n bestimmtes
geometrisches Gebilde, etwa ein rechtwinkliges gleichschenkliges
Dreieck v o n fester Seitenlänge kann, wie er ausführt, im gegebenen
Falle als Repräsentant des Dreiecks überhaupt gelten, sofern von a l l
den besonderen Bestimmungen, die die Vo r s t e l l u n g nicht ent‑
behren kann, i m exakten B e w e i s v e r f a h r e n keinerlei Gebrauch
gemacht wird, sofern also unser W i s s e n nicht auf jenen zufälligen
Eigenheiten beruht, sondern lediglich die überall gemeinsamen u n d
unveränderlichen Bestandteile ins Auge fasst. „Es muss somit z u ‑
gestanden werden, dass man eine Figur lediglich als Dreieck
betrachten kann, ohne auf die besondere Beschaffenheit der
Winkel oder die Grössenverhältnisse der Seiten zu achten und dass
m a n insofern allerdings abstrahieren kann: aber dies beweist
nie und nimmer, dass m a n eine abstrakte, allgemeine Idee des
Dreiecks, die in sich selbst widerspruchsvoll ist, bilden kann.“®)
Eben das Recht dieser B e t r a c h t u n g aber, kraft deren wir i n
einem Individuellen ein Typisches erschauen, kraft deren w i r
von den variablen Eigentümlichkeiten der einzelnen Gestalt ab‑
sehen, um lediglich ihre D e fi n i t i o n und in dieser i h r allgemeines
Bildungsgesetz ins Auge zu fassen, bildet das eigentliche sachliche
Problem, dem Berkeleys psychologische Schematik nicht gerecht
zu werden vermag.#) Denn die Tatsache, dass es in unsere
Macht gegeben ist, unsere Aufmerksamkeit v o n einzelnen Bestim‑
mungen eines gegebenen Inhaltes willkürlich abzulenken, macht
offenbar n u r eine negative Vorbedingung der „Abstraktion“ kennt‑
lich. Dass dieser ‐ Mangel unserer Auffassung, der das Vo r ‑
stellungsgebilde als solches auflöst und zerstört, uns dennoch
einen festen Kern und Inhalt des Wissens zurücklässt, der m i t
dem Anspruch auftritt, die allgemeingültige Regel für die Er‑
kenntnis der Einzelfälle in sich zu enthalten, ‐ dies bleibt nach
wie vor unbegreiflich.
Wenn daher Berkeleys Theorie in der Kritik der empirischen
Physik hie und da ihre Bestätigung zu finden scheint ‐ wie
D i e Polemik gegen die mathematischen Begriffe. 223

denn die Polemik gegen die Newtonischen Begrifte des absoluten


Raumes und der absoluten Bewegung in der Tat klärend u n d
fruchtbar gewirkt hat ‐ so stellt sie in der Betrachtung der Prin‑
zipien der M a t h e m a t i k alsbald all ihre inneren Mängel blos.
Hier geht Berkeley ersichtlich noch hinter seine eigene logische
Grundansicht zurück. Denn wenn zuvor die Operationen und
Ve r k n ü p f u n g s w e i s e n des Geistes i n ihrer unaufheblichen
Eigenart anerkannt und den sinnlichen Eindrücken als selbst‑
ständige Faktoren z u r Seite gestellt wurden, so ist esjetzt wiederum
die blosse „Impression“, die das eigentliche Kriterium abgeben
muss. S o muss der Begriff des U n e n d l i c h k l e i n e n , weil e r i n
der Empfindung keine Stütze und keinen unmittelbaren Beleg
findet, von Anfang an und ohne Einschränkung verworfen w e r d e n . )
Die Tatsache, dass es eine psychologische Grenze der Wahrnehm‑
barkeit gibt, ist der gültige Beweis für die Grenze der möglichen
Teilung. Die gleiche Betrachtung gilt, nach der Gegenseite hin,
f ü r das Problem der unbeschränkten Vermehrung: die einfache
Erwägung, dass jeder Teil der Ausdehnung, den unsere „Imagi‑
nation“ als Einheit festhalten soll, von bestimmter konstanter Länge
sein muss, reicht hin, um den Begriff einer Grösse, die „grösser
als jede gegebene“ wäre, aufzuheben. &) „ W i e es unseren Sinnen
Anstrengung und Verlegenheit bereitet, ausserordentlich kleine
Objekte zu erfassen, so verwirrt sich auch unsere Einbildungs‑
kraft, die ja v o n den Sinnen herstammt, w e n n sie versucht, sich
klare Ideen von den letzten Teilen der Zeit oder den Zuwüchsen,
die i n ihnen erzeugt werden, z u b i l d e n . . . J e mehr der Geist
die flüchtigen Ideen analysiert und verfolgt, um so mehr verliert
und verwickelt er sich: die D i n g e erscheinen i h m zerfliessend
u n d winzig, um i h m schliesslich gänzlich aus dem Gesicht zu
entschwinden.‘#) Um Einwände dieser A r t zu widerlegen, bedarf
es kaum der tieferen sachlichen Zergliederung des Unendlichkeils‑
begriffs: es genügt, sich auf Berkeleys eigne Begriffsbestimmungen
zu berufen. Er selbst hat es ‐ in einem Zusatz zur zweiten
Auflage der „Prinzipien“ ‐ gelegentlich ausgesprochen, dass,
wenn die Einzeldinge n u r eine Sammlung v o n Ideen ausmachen,
doch die Beziehungen zwischen ihnen nicht in gleicher Weise
erfasst werden können: v o n den R e l a t i o n e n gibt es, d a sie
sämtlich einen Akt des Geistes einschliessen, keine sinnliche,
224 Berkeley.

sondern n u r eine rein begriflliche, aber darum nicht minder ge‑


sicherte Erkenntnis.®) Dieser Gedanke, der freilich bei Berkeley
auf den Umkreis metaphysischer Erwägungen beschränkt
bleibt,8”) reicht hin, um all seinen Einwendungen gegen die neue
Wissenschaft des Unendlichen den Grund zu entziehen. Die
Widersprüche, die er in i h r vereinigt findet, entstehen erst in
seiner eigenen Deutung. die den reinen Operationen und Rela‑
tionen des mathematischen Denkens überall einen d i n g l i c h e n
Sinn unterschieht und die danach freilich erwarten muss, sie in
„einfachen“ Eindrücken abgebildet zu finden. Hier, in der wissen‑
schaftlichen Prinzipienlehre, bleibt Berkeley trotz all der ein‑
dringenden Kritik, die er an Locke geübt hatie, noch völlig im
Banne seiner Ansicht: gerade hier, wo er die mathematische
Abstraktion am wirksamsten zu bekämpfen glaubt, ist er selbst
der psychologischen Abstraktion des „Einfachen“ unmittelbar ver‑
fallen. (Vgl. hrz. ob. S. 198 £.)
So entsteht nunmehr eine rein atomistische Auffassung:
jeder echte Inhalt der Erkenntnis muss sich in diskrete Elemente
auflösen und auf letzte sinnliche Eindrücke zurückführen lassen,
aus denen .eer sich zusammensetzt. Die Mängel, die dieser An‑
sicht anhaften, müssen am charakteristischsten gegenüber dem
Problem der Stetigkeit hervortreten. Die stetig ausgedehnte
Linie ist für Berkeley nichts anderes als eine Summe von „Punkten“
d . h . v o n kleinsten, noch wahrnehmbaren räumlichen Elementen.
Von dieser psychologischen Definition aus unternimmt er es, die
wissenschaftlichen Begriffe der Mathematik. insbesondere den Be‑
g r i ff des Irrationalen zu widerlegen. Da die Zerfällung jeder
gegebenen Grösse notwendig einmal i h r Ende erreicht, so m u s s
die Menge der Punkte, aus denen die Grösse besteht, sich jeder‑
zeit durch eine endliche g a n z e Z a h l wiedergeben lassen. Der
Begriff des „Inkommensurablen“ und m i t i h m alle Sätze, in die
er als Bestandteil eingeht, gehört somit in das Gebiet der grund‑
losen und trügerischen Abstraktionen; d e r P y t h a g o r e i s c h e
L e h r s a t z i s t f a l s c h . ) Allgemein muss jetzt selbst der r e i n e n
Mathematik die E x a k t h e i t abgesprochen werden: i h r Verfahren
ist auf „Versuche und Induktionen“ gestützt und muss sich daher
m i t einer für die Praxis zureichenden Annäherung begnügen!)
Diese Konsequenz, die an Giordano Brunos Minimumlehre er‑
Stetigkeit und Unendlichkeit. 925

innert,#2) entscheidet über den Wert des Ausgangspunktes. „Ich


kann den Kreis quadrieren, sie (die Geometer) können es nicht;
w e r von u n s stützt sich auf bessere Prinzipien“? ‐ ruft Berkeley in
dem philosophischen Tagebuch seiner Jugendjahre triumphierend
a u s . ) Dieses Wo r t wendet sich unmittelbar gegen ihn selbst
zurück: es ist in der Ta t eine logische Quadratur des Zirkeis, die
er m i t seiner Ableitung des Kontinuums aus den einzelnen Atomen
der Sinneswahrnehmung versucht hat.
Wenn indessen Berkeleys Begriffstheorie vor der Mathe‑
. m a l i k versagt, s o scheint sich i h r innerhalb der E r f a h r u n g s ‑
w i s s e n s c h a f t ein umso fruchtbareres Gebiet zu eröffnen, in dem
sie sich unmittelbar bewähren kann. Die empirischen Begriffe
z u m mindesten scheinen keine andere Deutung und Erklärung
zuzulassen, als sie die Theorie der Association der Vorstellungen
enthält. Sie bedeuten nichts anderes als eine Sammlung von
Merkmalen, die nicht durch eine logische Notwendigkeit zu‑
sammengehalten werden, sondern lediglich durch die beständige
erfahrungsmässige Verknüpfung, in der sie aufiraten, f ü r das Be‑
wusstsein zu einer Einheit zusammengewachsen sind. Besinnen
w i r uns indessen auf die Grundlagen von Berkeleys Lehre zurück,
so erhebt sich hier alsbald ein neues Problem. Die r e a l i ‑
s t i s c h e Weltansicht mag getrost die Erfahrung zum Führer und
z u m alleinigen Bürgen unseres Wissens machen; denn f ü r sie
handelt es sich n u r darum, die einmal vorhandene, objektive
Verfassung der Dinge, deren Bestand f ü r sie keinem Zweifel
unterliegt, im Erkennen nachzubilden. Die Gegenstände stehen
u n s unabhängig in festen unveränderlichen Ordnungen gegen‑
über: die Erfahrung hat n u r das Wissen von ihnen, nicht i h r
S e i n zu vertreten und zu erklären. F ü r den Idealismus Berke‑
leys hingegen ist diese Lösung hinfällig geworden. Hier bedeutet
die Erfahrung nicht das Produkt, sondern die Schöpferin der
äusseren Wirklichkeit. Die empirische Verknüpfung der Vor‑
stellungen w i l l kein blosser Widerschein an sich bestehender
Verhältnisse der Dinge sein, sondern sie ist es, kraft deren sich
die einzelnen Eindrücke erst zu Objekten formen. (Vgl. ob. S.207.)
Diese neue Aufgabe aber verlangt zu ihrer Lösung neue Mittel.
Wenn w i r von Gegenständen der Natur sprechen, so m e i n e n
w i r damit ‐ gleichviel wie diese Meinung sich begründen und
15
226 Berkeley.

r e c h t f e r t i g e n lassen mag ‐ eine in sich unveränderliche u n d


notwendige Ordnung, die durch keine subjektive W i l l k ü r ange‑
tastet werden kann. Wie aber kann die Gewissheit einer solchen
unverbrüchlichen Konstanz auf dem Boden der blossen Erfah‑
rung entstehen und erwiesen werden? Die empirische Association
stiftet keine anderen als relative und jederzeit wieder aufhebbare
Zusammenhänge, die v o r jeder neu beobachteten Tatsache in
Nichts zergehen können. Die Grundüberzeugung von einer in
sich selbst unveränderlichen, ein f ü r allemal feststehenden Ver‑
fassung der Erscheinungswirklichkeit vermag sie somit niemals
ausreichend zu begründen: vielmehr muss diese Ueberzeugung
auf dem Standpunkt der Betrachtung, auf dem w i r hier stehen,
wie ein blosses, willkürlich angenommenes Dogma erscheinen.
W i r mögen immerhin subjektiv unter bestimmten Bedingungen
das Auftreten bestimmter Vorstellungsgruppen erwarten; aber w i r
besitzen keinerlei Gewähr dafür, dass die Verbindungen, die sich
uns auf Grund früherer Erfahrungen geknüpft haben, auch in
Zukunft S t a n d h a l t e n werden, dass somit in diesem gesamten
zeitlichen Ablauf der Empfindungen irgendwelche zeitlos gültigen
Beziehungen und Regeln sich herausheben und festhalten lassen.
Ist dies aber der Fall, dann ist nicht n u r die Wahrheit des ab‑
soluten, sondern auch die des empirischen Gegenstandes, wie
Berkeley sie verstanden und formuliert hatte, zu Nichte geworden.
Jedes einzelne empfindende Subjekt bliebe nunmehr in der Ta t
in den Umkreis seiner eigenen „Perzeptionen“ gebannt, ohne dass
der Gedanke einer einheitlichen, allen denkenden Individuen ge‑
meinsamen W e l t der Phänomene sich m i t sachlichem Rechte
bilden könnte.
Die Schwierigkeit, die hierin liegt, hat Berkeley deutlich
empfunden. Er selbst stellt die Frage, wie das Bewusstsein
dazu gelange, mannigfach verschiedene Wahrnehmungsinhalte,
die an sich völlig getrennt, ja disparat sein können, dennoch
auf E i n e n Gegenstand zu beziehen. Was veranlasst uns dazu,
die beiden Gesichtsbilder, die etwa die unmittelbare sinnliche
Wahrnehmung u n d die Beobachtung durch das Mikroskop u n s
darbieten in Eins zu fassen und sie als verschiedene „Zeichen“ eines
identischen Objekts zu deuten? Die Antwort, die die „Dialoge
zwischen Hylas und Philonous“ auf diese Frage erteilen, macht
Die Identität des Gegenstandes. 227

indessen n u r die Schranke v o n Berkeleys Erkenntnislehre v o n


neuem fühlbar. Im strengen Sinne ist es nicht dasselbe Objekt,
das w i r sehen und tasten, noch ist es ein u n d derselbe Gegen‑
stand, der durch das Mikroskop und durch das blosse Auge wahr‑
genommen wird. Lediglich das Bedürfnis des sprachlichen Aus‑
drucks ist es, das uns zwingt, die unübersehbare Mannigfaltigkeit,
die die einzelnen Empfindungen der verschiedenen Sinnesgebiete
zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen
darstellen, nicht durch ebensoviele besondere N a m e n zu be‑
zeichnen, sondern eine Mehrheit empirisch verknüpfter Inhalte
unter einer Benennung und somit unter einem „Begriff“ zu be‑
fassen. Der Akt dieser Zusammenfassung beruht nicht aufeinem
objektiven logischen Grunde, sondern stellt eine willkürliche
Umformung des Erfahrungsinhalts d a r, die w i r m i t Rücksicht
auf die praktischen Zwecke der Mitteilung vornebmen. Wer ein
festeres Band der Identität verlangt, der wird hierbei n u r
durch das Vorurteil einer unwandelbaren, unwahrnehmbaren
wirklichen Natur, die jedem Namen entsprechen soll, getäuscht.)
Mit dieser Kritik wird indessen nicht n u r dem transscendenten
Objekt „hinter“ den Erscheinungen, sondern auch dem Er‑
fahrungsobjekt selbst das Fundament entzogen. Nicht n u r die
Metaphysik, sondern auch die theoretische Naturwissenschaft
wird durch sie getroffen: muss doch auch sie die veränderlichen
Einzelwahrnehmungen, um sie einer festen Regel zu unterwerfen,
auf beharrende G r u n d e i n h e i t e n zurückbeziehen, die sie ge‑
danklich erschafft und fixiert. In dem Streben, die unwandel‑
baren metaphysischen Substanzen zu beseitigen, hat Berkeley
auch die begriffliche F u n k t i o n d e r I d e n t i t ä t s s e t z u n g und
i h r e Notwendigkeit preisgegeben. Der eigentliche methodische
Charakter der t h e o r e t i s c h e n P h y s i k wird daher nicht minder
als der der reinen Mathematik verkannt: weil zwischen den
„primären“ und „sekundären“ Qualitäten kein absoluter, ding‑
licher Unterschied besteht, darum w i r d auch jede begriffliche
Zurückführung der einen auf die anderen, jeder Versuch einer
durchgehenden mechanischen Erklärung der Naturerscheinungen
als eitles und nutzloses Bemühen verspottet.‘5)
Auch die allgemeine phänomenologische Analyse des Be‑
griffs der Bewegung enthält in sich die gleiche Zweideutigkeit.
15*
228 Berkeley.

Die Bewegung bedeutet, wie hier ausgeführt wird, wenn w i r


lediglich ihre. unmittelbare Erscheinung ins Auge fassen, ohne
ihrem vorgeblichen „abstrakten“ Begriff nachzujagen, nichts
anderes als die räumliche Verschiedenheit bestimmter sinnlicher
Qualitäten innerhalb unseres Vorstellungsbildes.. So wenig der
„reine* Raum, losgelöst v o n aller Farben- u n d Tastempfindung
ein Gegenstand der Erfahrung und der Wissenschaft sein kann,
so wenig bedeutet der Stellenwechsel in i h m etwas Objektives,
das v o n der jeweiligen Beschaffenheit des wahrnehmenden Sub‑
jekts unabhängig wäre. Die Natur der Bewegung können w i r
nicht abgetrennt von unseren „Ideen“, somit nicht losgelöst v o n
individuellen psychologischen Bedingungen und Dispositionen
bestimmen: je nach der Beschleunigung oder Verzögerung des
Vo r s t e l l u n g s a b l a u f s muss auch das Urteil über die körper‑
lichen Bewegungen bei verschiedenen Beurteilern verschieden
ausfallen.#) Diese Betrachtung aber hebt wiederum nicht n u r
die Bewegung als absolutes Objekt auf, sondern sie lässt es auch
völlig im Dunkeln, wie, innerhalb der Erfahrung selbst, zu einer
wissenschaftlichen Objektivierung und zu einer exakten Gesetz‑
lichkeit, der Bewegungsphänomene zu gelangen ist. Die E r ‑
kenntnislehre Berkeleys besitzt kein Mittel, um diesen Fortschritt
zu erklären, weil i h r die „Ideen“ lediglich die Vorstellungsbilder
selbst, nicht aber allgemeine begriffliche Prinzipien ihrer Formung
und Gestaltung bilden.
Dieser Mangel eines objektiv-begrifflichen „Grundes“ der
Erscheinungsrealität kann für Berkeley selbst freilich nicht f ü h l ‑
bar werden, da er eine Gewähr für die Konstanz und Einheit‑
lichkeit des Naturganzen kennt, die alles rein logische Wissen
hinter sich lässt. Die Gleichförmigkeit des Naturlaufs ist durch
den unwandelbaren Willen seines Schöpfers und Erhalters
unmittelbar verbürgt. Die Erfahrung, die uns bisher als das
Prinzip alles Begreifens galt, wäre in sich selbst unbegreiflich,
wenn sie nicht aus einem „intelligiblen“ Sein herstammte, das
i b r Halt und Zusammenhang gibt. Dass die Objekte nicht, z u ‑
gleich m i t dem Wechsel unserer Vorstellungen, selbst dahin‑
schwinden, dass sie ein festgefügtes und abgeschlossenes Reich
bilden, das der W i l l k ü r des Individuums entzogen ist: dies be‑
deutet nichts anderes, als dass sie i n einem höchsten, g ö t t l i c h e n
Die metaphysische Begründung des Objektbegriffs. 229

Verstande geeint sind und hier ihren dauernden Bestand be‑


sitzen. Der Gedanke, dass alle unsere Vorstellungen, um als
„real“ gelten zu können, auf eine letzte absolute Ursache zurück‑
geführt werden müssen, wird somit von Berkeley unverändert
festgehalten: n u r dies ist erreicht, dass das Absolute dem Geiste
n i c h t mehr als eine i h m wesensfremde Macht gegenübertritt,
sondern m i t i h m v o n derselben Natur ist und n u r den höchsten
Typus und die Vollendung des Bewusstseins selbst darstellt.)
Um u n s des göttlichen Seins zu versichern, brauchen w i r nicht
über die Welt der Phänomene hinauszugehen, brauchen w i r nicht
die Natur zu verlassen, um zu einem „unbewegten Beweger“
jenseit ihrer selbst zu gelangen: es genügt, den Inhalt jeder Einzel‑
wahrnehmung vollständig und bis zu Ende zu analysieren, um
a u f ihrem Grunde den Begriff Gottes unmittelbar zu entdecken.®)
Die Zeichensprache der Natur, die wir in der Wahrnehmungs‑
theorie als den eigentlichen Grund aller unserer Erfahrungs‑
schlüsse kennen lernten, lernen wir nunmehr als die Zeichen‑
sprache Gottes begreifen: Gott ist es, der unserem Geiste die
mannigfachen sinnlichen Impressionen in bestimmter Ordnung
u n d Folge einprägt und der dadurch das Bild der empirischen
Wirklichkeit in i h m erstehen lässt.”) So ist auch für Berkeley,
trotz seines sensualistischen Ausgangspunkts, d i e Vernunft das
n o t w e n d i g e K o r r e l a t des Seins; aber dies bedeutet i h m nicht,
dass die Erfahrung auf notwendige rationale P r i n z i p i e n zurück‑
geht, sondern dass sie das Werk und die Kundgebung eines
höchsten, vernünftigen S c h ö p f e r w i l l e n s ist.

I V.
D e r B e g r i f f der Substanz.
Mit diesem Gedanken, der für den Abschluss von Berkeleys
Erfahrungstheorie unentbehrlich ist, haben w i r indessen i h r
eigentliches Gebiet bereits endgültig überschritten. Und diese
Ausdehnung des Erkenntnisinhalts muss m i t innerer Notwendigkeit
zugleich eine Umgestaltung der E r k e n n t n i s m i t t e l nach sich
ziehen, die den bisherigen systematischen Aufbau beherrschten.
In den Eindrücken, die die Sinne uns darbieten und in den
230 Berkeley.

assoziativen Verknüpfungen, die w i r an ihnen vollziehen, schien


sich bisher aller I n h a l t des Bewusstseins zu erschöpfen. Der
Gegenstand wurde zu einem Komplex sinnlicher Ideen, ‐ die
„Idee“ selbst aber galt als ein in sich ruhender, durchaus passiver
Tatbestand, den w i r rezeptiv hinzunehmen haben. Dieses Ergebnis
aber enthält implicit bereits die Aufforderung und das Motiv zu
einem weiteren Fortschritt in sich. Jedes psychische Phänomen
bietet sich der philosophischen Reflexion unter einem doppelten
Gesichtspunkt dar: es stellt nicht n u r objektiv einen Gegenstand,
als einen Inbegriff v o n Perzeptionen dar, sondern ist zugleich
der Ausdruck einer Funktion und B e t ä t i g u n g des Geistes. W i e
die Wirklichkeit der Sinnendinge direkt in ihrem Wahrgenom‑
menwerden besteht und nicht erst durch mittelbare Folgerungen
erschlossen zu werden braucht, so ist die Gewissheit eines
aktiven Prinzips, eines „Ich“, dem alle diese Objekte erscheinen,
nicht minder ursprünglich gegeben. „Neben der endlosen Man‑
nigfaltigkeit der Ideen oder der Gegenstände der Erkenntnis gibt
es in gleicher Weise Etwas, das sie erkennt oder wahrnimmt
und das an ihnen verschiedene O p e r a t i o n e n ausübt, indem es
sie begehrt, sie in der Vorstellung verknüpft und trennt oder sie
in der Erinnerung hervorruft. Dieses erkennende tätige Wesen
ist es, was ich Geist, Seele, Bewusstsein oder Ich nenne: alles
Ausdrücke, durch die ich nicht eine von meinen Ideen, sondern
ein von ihnen durchaus verschiedenes Ding, w o r i n sie existieren
oder wahrgenommen werden, bezeichne.*50)
Der neue Gegenstand verlangt somit, um in seiner Eigenart
fassbar und darstellbar zu werden, eine neue Kategorie der E r ‑
kenntnis. Der B e g r i f f , der in der Analyse des wissenschaftlichen
Denkens nirgends in der vollen Kraft und Selbständigkeit seiner
Geltung erfasst worden war, behauptet an diesem Problem sein
uneingeschränktes Recht. Dass damit der systematische Mittel‑
punkt von Berkeleys Lehre allmählich von seiner Stelle rückt,
dies t r i t t schon in seinen Versuchen einer Umgestaltung seiner
Te r m i n o l o g i e deutlich hervor. Die „Idee“ erweist sich, i n
ihrer bisherigen Definition, unzureichend; da sie lediglich ein
einzelnes, fest umgrenztes Wahrnehmungsbild bedeutet, so kann
sie weder die mannigfachen B e z i e h u n g e n zwischen den I n ‑
halten des Bewusstseins wiedergeben, noch zur Bezeichnung
Idee und Begriff. 231

seimer inneren Tätigkeiten verwendet werden. Die späteren Be‑


arbeitungen der „Prinzipien“ und der „Dialoge“ geben dieser
Einsicht klaren Ausdruck. „Man darf sagen ‐ heisst es hier ‑
dass w i r eine A r t Wissen oder einen Begriff (some knowledge or
notion) v o n unserer eigenen Seele und von geistigen und tätigen
Wesen haben, dass w i r dagegen im strengen Sinne v o n ihnen
keine I d e e n besitzen. Ebenso wissen w i r u m die R e l a t i o n e n
zwischen den Dingen oder Ideen und haben v o n ihnen einen
Begriff, während doch diese Relationen von den aufeinander
bezogenen Dingen oder Ideen selber verschieden sind, sofern
die letzteren von u n s ohne die ersteren erfasst werden können.
E s scheint m i r demnach, dass Ideen, Geister und R e l a t i o n e n
in ihren mannigfachen Arten den Inbegriff der menschlichen
Erkenntnis und den Gegenstand jeglicher Untersuchung aus‑
wachen, und dass es ein ungenauer Gebrauch des Wortes „Idee“
ist, wenn m a n es auf alles anwendet, was ein Objekt unseres
Wissens ist oder wovon wir irgend einen Begriff haben.“51) ‑
Ist somit der Besitz der Idee keine unentbehrliche Be‑
dingung der E r k e n n t n i s mehr, so bleibt doch das begriffliche
Wissen, das hier anerkannt wird, von der „abstrakten“ Allge‑
meinvorstellung, die vielmehr nach wie vor als ein unmögliches
Zwitterding zwischen Denken und sinnlicher Empfindung er‑
kannt wird, deutlich geschieden. Die neue i n t u i t i v e Gewiss‑
h e i t , die sich uns hier eröffnet, steht gleich weit ab von der
Art, in der w i r irgend ein empirisches Ding erfassen, wie von
jeder mittelbaren Einsicht, die erst durch ein logisches Schluss‑
verfahren gewonnen und begründet werden muss. Wie bei
Descartes, so wird bei Berkeley die Gewissheit von der Realität
des I c h in einem inneren „Schauen“ erlangt, das aller syllo‑
gistischen Zwischenglieder entraten kann. Und die gleiche u r ‑
sprüngliche Einsicht, die u n s der Existenz des I c h versichert,
gibt uns auch die Erkenntnis seiner Wesenheit als eines unteil‑
baren und unausgedehnten Dinges, welches denkt, handelt und
wahrnimmt.52) Gegen diese Folgerung müssen sich freilich
alsbald die altbekannten Einwände erheben: denn wie ver‑
möchte der geistige A k t , kraft dessen die Mannigfaltigkeit der
Eindrücke sich zur Einheit und zu einer gemeinsamen Beziehung
zusammenschliesst, uns ein einfaches und identisches Sub‑
232 Berkeley.

s t r a t des Bewusstseins zu verbürgen? Die „reine Erfahrung“


zum mindesten, die Berkeley selbst als Richterin aufgerufen
und anerkannt hatte, muss sich jedem derartigen Schluss ver‑
sagen: es ist völlig konsequent, wenn die frühesten Begriffsbe‑
stimmungen Berkeleys, wie sie in dem philosophischen Tagebuch
seiner Jugendjahre erhalten sind, den Geist n u r als einen „Haufen
von Vorstellungsinhalten“ (a congeries of perceptions) kennen.®)
Wie ein bestimmtes äusseres Objekt nichts anderes ist als ein
Beisammen verschiedener sinnlicher Qualitäten, so geht hier das
I c h völlig in der Summe seiner Wahrnehmungen auf. Die end‑
gültige Ausgabe der „Dialoge“ ‐ die von jenen ersten Aufzeich‑
nungen fast durch drei Jahrzehnte getrennt ist ‐ erinnert sich
dieser Auffassung: aber es ist charakteristisch, dass es nunmehr
Berkeleys G e g n e r ist, der sie aussprechen und vertreten muss.
Was wir unser Selbst nennen ‐ so argumentiert dieser ‐ i s t i n
Wahrheit n u r ein Inbegriff fliessender Ideen, ohne ein dauerndes
Sein, das sie stützt und trägt: die geistige Substanz ist nicht min‑
der, wie die körperliche ein bedeutungsleeres Wort.54) Berkeley
sucht diesen Einwand zu entkräften, indem er die Frage vom
theoretischen Bewusstsein in das praktische verlegt. Der W i l l e
ist i h m das eigentliche Urpbänomen, das uns vom Dasein des
-individuellen Geistes zwingend überzeugt. Die geistige T ä t i g ‑
k e i t , die wir an dem sinnlichen Stoffe ausüben, die Freiheit, in
der wir m i t i h m schalten, gibt uns erst den wahren Begriff des
I c h und seine endgültige Unterscheidung von den passiven und
„trägen“ Wahrnehmungsinhalten. In dieser Richtung des Willens
auf sein Objekt ist uns der eigentliche Ursprung und das Wesen
aller echten Kausalität enträtselt. Wenn von Berkeley der Begriff
der K r a f t aus der N a t u r w i s s e n s c h a f t verwiesen wurde, s o ge‑
schah es nur, um i h n einem „höheren“ geistigen Gebiet ausschliess‑
lich vorzubehalten. Der Begriff des Wirkens kommt einzig im gei‑
stigen Geschehen zu wahrhafter Erfüllung und Geltung; es ist eine
falsche und irreführende Metapher, die i h n auf die Beziehungen
innerhalb der Körperwelt zu übertragen sucht.
Wenn Berkeley die Kategorien der „Ursache“ und der „ W i r ‑
kung“ aus unserer Erfahrungserkenntnis ausgeschaltet, wenn er
sie durch den Begriff des assoziativen „Zeichens“ ersetzt hatte, so
betraf also diese Kritik nicht den I n h a l t , sondern nur die An‑
D e r Geist als tätiges Princip. 233

w e n d u n g des Kausalprinzips. Das Prinzip selbst bleibt in voller


Kraft: ausdrücklich w i r d es als das r a t i o n a l e Mittel anerkannt,
das uns die Existenz anderer geistigen Wesenheiten, ausserhalb des
eigenen I c h und ihren gemeinsamen Ursprung in der allumfassen‑
d e n göttlichen Substanz kennen lehrt.%) Das Schlussverfahren, in
dem w i r zu diesem höchsten Ergebnis hingeleitet werden, ist von
völlig anderer Art und r u h t auf völlig anderem Grunde, als alle
unsere empirischen Folgerungen, die n u r eine Häufigkeit im Bei‑
sammen verschiedener Ideen aussprechen, ohne uns zwischen
ihnen einen logischen und deduktiven Zusammenhang erkennen
zu lassen. Wenn in ihnen der blosse Trieb der Gewohnheit uns
leitet, soist eshier das U r t e i l und der Verstandesschluss, der
jeden unserer Schritte beherrscht und rechtfertigt. Erst in der
Metaphysik und in der spekulativen Theologie ergreifen wir die
„notwendige Verknüpfung“, die uns innerhalb der Erfahrung und
der mathematischen Physik versagt b l i e b . )
An dieser Stelle hat sich das System am weitesten von seinen
sensualistischen Anfängen entfernt. Schon in den „Prinzipien“
wird der Gegensatz zwischen der Begriffstheorie, m i t der das
Werk beginnt und der spiritualistischen Metaphysik, m i t der es
abschliesst, deutlich fühlbar; und die Weiterführung der Berkeley‑
schen Philosophie dient n u r dazu, i h n zu vertiefen und unaus‑
gleichbar zu machen. Fortan kann kein Kompromiss, keine Um‑
formung der Terminologie und Begriffssprache mehr über die
Spannung und den Widerstreit zwischen den beiden Enden des
Systems hinwegtäuschen. Soll die Einheit der Lehre wahrhaft
hergestellt werden, so bedarf es einer radikalen Umgestaltung
ihrer ersten Prinzipien und Voraussetzungen. Dieser Schritt ist
es, den Berkeley in der letzten Epoche seiner Philosophie m i t
unvergleichlicher Energie und Kühnbeit vollzieht. Und wenn‑
gleich diese Revision vor allem im metaphysischen Interesse
unternommen wird, so wird sie doch mittelbar von entscheidender
Bedeutung f ü r die Logik und Erkenntnislehre, die jetzt auf einem
völlig neuen Grunde errichtet werden.
234 Berkeley.

V.
D i e Umgestaltung d e r B e r k e l e y s c h e n E r k e n n t n i s l e h r e .
I n der Geschichte der R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e bildet die
Lehre Berkeleys eine der eigentümlichsten und originalsten
Erscheinungen. In völlig unvergleichlicher Art wird hier das
sinnliche und das geistige Sein in einander verwoben, wird die
E r f a h r u n g , ohne durch einen fremden Zusatz verfälscht und
ihrer selbständigen Eigenart beraubt zu werden, unmittelbar an
Sein
ein „ i n t e l l i g i b l e s “ geknüpft. W o immer von der r e a l i s t i s c h e n
Weltansicht ausgegangen wird, da setzt sich der Dualismus,
der i h r zu Grunde liegt, auch ins Gebiet der Religion fort. Besitzt
die Materie ein absolutes Dasein, so kann das Göttliche fortan
n u r noch als eine jenseitige Macht gedacht werden, die i h r gegen‑
übersteht. Diese Trennung und dieser Gegensatz ist für Berkeleys
Philosophie von Anfang an aufgehoben. Was das „Sein“ der
empirischen Dinge bedeutet, dies liess sich nicht einmal verstehen
und aussprechen, ohne dass wir, in dieser Erklärung selbst, auf
das unendliche Bewusstsein Gottes zurückgingen. „So sicher
‘daher die sinnliche Welt wirklichen Bestand hat, so sicher
existiert ein unendliches allgegenwärtiges geistiges Wesen, das
sie in sich enthält und trägt.“”)
Die religiöse Anschauung erwächst somit nicht mehr im
Widerstreit z u r Welt der Erfahrung und in der Abwendung v o n
i h r ; sondern sie bedeutet nichts anderes als das Ganze der Er‑
fahrung selbst, sofern w i r esselbständig und systematisch begreifen.
Stellen w i r u n s auf den Standpunkt der unmittelbaren Empfindung,
so zerfällt uns die Realität in eine Reihe v o n sinnlichen Einzel‑
inhalten, die einander in völliger Isolierung gegenüberstehen.
W i r könnten diese unübersehbare Mannigfaltigkeit v o n Empfin‑
dungen niemals zu Objekten zusammenschliessen, w i r könnten
nicht versuchen, sie als einen einheitlichen Text der Erfahrung
zu lesen, wenn w i r nicht den Gedanken zugrunde legten, dass in
diesem scheinbaren Chaos eine latente Regel enthalten ist, dass
es eine höchste Intelligenz ist, die sich uns hier mittels willkür‑
lich gewählter, sinnlicher Zeichen kundgibt. Der Gottesbegriff
ist eine notwendige und konstitutive Bedingung des Erfahrungs‑
begriffs. (Vgl. ob. S.228f.) „Es ist nicht genug, von den gegenwärtigen
Vernunft und
Vernunft und Erfahrung.
Erfahrung. 285
235

Phänomenen und
Phänomenen und Wirkungen,
Wirkungen, durch durch eine eine Kette
Kette natürlicher
natürlicher Ur‑ Ur-
sachen hindurch,
sachen hindurch, zu zu einem göttlichen Verstand
einem göttlichen Verstand als als der entfernten
entfernten
und ursprünglichen
und ursprünglichen Ursache fortzugehen, die
Ursache fortzugehen, die Welt
die die Welt zuerst
zuerst
erschaffen und
erschaffen und iihr dann ihren
h r dann ihren LLauf gelassen hat.
a u f gelassen hat. Vielmehr
können wir,
können wenn w
wir, wenn wiri r Rechenschaft
Rechenschaft von von den Phänomenen geben
den Phänomenen geben
wollen, keinen
wollen, keinen einzigen Schritt tun,
einzigen Schritt ohne die
tun, ohne die unmittelbare
unmittelbare Gegen‑Gegen-
wart und
wart und die die unmittelbare Wirksamkeit eines unkörperlichen,
unmittelbare Wirksamkeit unkörperlichen,
tätigen Wesens anzunehmen, edas
tätigen Wesens a n z u n e h m n , alle
das alle Dinge
Dinge nach nach bestimmten
bestimmten
Gesetzen und
Gesetzen und Zwecken
Zwecken verknüpft, bewegt und
verknüpft, bewegt und ordnet.“38)
ordnet. "68)
Ist es
Ist somit die
es somit die Ve r nnuunnfftt des Weltganzen, die sich
des Weltganzen, sich uunsns
jeder scheinbar
auch in jeder scheinbar vereinzelten Empfindung enthüllt, so
auch in vereinzelten Empfindung enthüllt, so
müssen w
müssen i r erwarten,
wir erwarten, dass dass die neue m e t a p h y s i s c h ee Rang‑
die neue Rang-
ordnung, die
ordnung, die damit geschaffen ist,
damit geschaffen auch innerhalb
ist, auch innerhalb der E Er-r ‑
k e n n t n i s t h ee oo rr ii ee allmählich
allmählich zzum u m Ausdruck gelangt. gelangt. Die Die
Wahrnehmung
Wahrnehmung kann kann fortan nicht mehr
fortan nicht mehr schlechthin
schlechthin als das
sachliche
sachliche PriusPrius des des Denkens
Denkens gelten,gelten, da da vielmehr iihr h r ganzer
Sinn und
Sinn und Wert darin besteht,
Wert darin einen ursprünglichen
besteht, einen ursprünglichen gedanken‑ gedanken-
mässigen Zusammenhang symbolisch
mässigen Zusammenhang symbolis ch wiederzugeben.
wiederzugeben. So So beginnt
beginnt
schon in den
schon den Schriften
Schriften der der mittleren Periode der Schwerpunkt
mittleren Periode Schwerpunkt
erkenntnistheoretischen Systems
des erkenntnistheoretischen
des Systems sich sich zu verschieben. Wenn
zu verschieben. Wenn
den „Dialogen“
in den „Dialogen" die die Prinzipien
Prinzipien und und Theoreme der d e rWissenschaften
Wissenschaften
allgemeine, intellektuelle
als allgemeine,
als intellektuelle Erkenntnisse
Erkenntnisse bezeichnet bezeichnet werden,
werden,
deren Geltung
deren Geltung somit somit vvom o m Sein
Sein oder Nicht-Sein der M a t eerrii ee nicht
oder Nicht-Sein nicht
berührt werde?)
berührt werde) -‐ so so ist dies vorerst
ist dies vorerst nnur ein vereinzeltes Apercu,
u r ein Aperçu,
das in
das in dem Zusammenhang der
dem Zusammenhang Schrift keine
der Schrift keine Ausführung
Ausführung und und
Stütze findet.
keine Stütze
keine findet. Das Das folgende systematische Hauptwerk
folgende systematische Hauptwerk aber, aber,
der
der „Alciphron“.
„Alciphron". vvom Jahre 1723,
o m Jahre führt den
1723, führt Gedanken sogleich
den Gedanken sogleich
um einen Schritt
u m einen Schritt weiter.
weiter. Die Die universellen Regeln und
u n i v e r s e l l e n Regeln und G Grund-
rund‑
sätze, der Geist notwendig bedarf,
sätze, deren der Geist notwendig bedarf, um innerhalb der Welt
deren um innerhalb der Welt
der Erscheinungen irgend
der Erscheinungen irgend eine eine dauernde
dauernde Ordnung Ordnung und und eine
eine feste
Richtschnur
Richtschnur des des Handelns
Handelns zu zu gewinnen,
gewinnen, können können iihm h m - ‐ wie
wie bier
hier
ausgeführt wird
ausgeführt wird -‐ - nicht
nicht aus aus der Anschauung
Anschauung konkreter konkreter Einzel‑
Einzel-
dinge erwachsen. „Nicht
dinge erwachsen. „Nicht durchdurch die blosse Betrachtung
die blosse Betrachtung besonderer
Dinge, noch weniger
Dinge, noch weniger aber aber durch
durch die die Betrachtung abstrakter all-.
Betrachtung abstrakter all-.
gemeiner Ideen,
gemeiner vollzieht sich
Ideen, vollzieht sich der Fortschritt des Geistes,
der Fortschritt Geistes, sondern
sondern
einzig u
einzig und allein durch
n d allein durch eine eine geeignete
geeignete Wahl Wahl und und durch
durch metho‑
metho-
dische Handhabung
dische Handhabung von Z e i c h e n ..... So
von Zeichen. So ist,ist, w e r die
wer Bezeich-
die Bezeich‑
nung der
nung der Zahlen versteht, dadurch
Zahlen versteht, dadurch imstande, imstande, die gesamte
236 Berkeley.

Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Zahlen kurz und distinkt


auszudrücken und alle arithmetischen Operationen an ihnen m i t
Hilfe allgemeiner Gesetze kurz und rasch zu vollziehen.“®%) Dem
„Zeichen“ eignet somit jene F u n k t i o n der A l l g e m e i n h e i t ,
die der sinnlichen Vorstellung f ü r immer versagt bleibt. Alle
Wissenschaft, sofern sie allgemeingültig und streng rational er‑
weislich ist, hat es unmittelbar lediglich m i t Symbolen zu tun,
obwohl diese nachträglich, in der Anwendung, auf Dinge bezogen
werden.®)
Diese „nominalistische* Ansicht enthält indessen, wie m a n
sich gegenwärtig halten muss, keine der skeptischen Folge‑
rungen in sich, die sonst m i t i h r verbunden zu sein pflegen.
Die Zeichen, die das Material und das Grundmittel aller wissen‑
schaftlichen Erkenntnis ausmachen, sind für Berkeley keine
bloss willkürlichen Gebilde, keine äusserlichen Marken und
Benennungen, die den Ideen nach Belieben aufgeheftet werden
können. Die „Stellvertretung“, auf der sie beruhen, macht viel‑
mehr den G r u n d u n d d i e M ö g l i c h k e i t u n s e r e r objektiven
E r f a h r u n g selbst aus. Ohne die Möglichkeit, ein Einzelbild
als Symbol eines allgemeinen Zusammenbangs zu deuten und zu
verstehen, wäre uns nicht n u r die abstrakte wissenschaftliche Er‑
kenntnis, sondern jede Anschauung der Dinge und ihrer räum‑
lichen Gestaltung und Gliederung versagt. Der Begriff der „Re‑
präsentation“ besitzt somit hier einen reicheren und tieferen
Gehalt, als in seinen sonstigen geschichtlichen Ausprägungen.
Gegenüber der ersten Fassung, in welcher er im System Ber‑
keleys auftrat, hat er jetzt v o r allem e i n e wichtige Klärung er‑
fahren. Dass ein Inhalt eine Gesamtgruppe von Vorstellungen
darstellt und vertritt, dies bedeutet jetzt nicht mehr, dass diese
Vorstellungen irgendwie selber, als wirkliche psychische Inhalte
in uns vorhanden wären und v o m Bewusstsein durchlaufen
würden. (S. hrz. ob. S. 220f.) Vielmehr kann auch dort, wo jede
derartige sinnliche Vergegenwärtigung prinzipiell ausgeschlossen
ist, eine allgemeine Erkenntnis erreicht werden. Begriffe können
ibren Wert und i h r Recht besitzen, selbst wenn es ‐ wie im
Falle der imaginären Wurzeln der Algebra ‐ unmöglich ist, für
sie irgend eine unmittelbar korrespondierende Vo r s t e l l u n g auf‑
zuweisen.) Denn i h r eigentliches Korrelat liegt nicht in den
Begriff und Zeichen. 237

einzelnen Ideen als solchen, sondern in den Beziehungen und


Ve r k n ü p f u n g e n , die zwischen ihnen bestehen. Die Gültigkeit
solcher gesetzlichen Beziehungen, nicht das Sein irgendwelcher
besonderer oder allgemeiner sinnlicher Bilder ist es, die uns
durch die Zeichen der Wissenschaft repräsentiert w i r d . ) So
haben wir von der K r a f t . die einen Körper bewegt, keine be‑
stimmte „Idee“, während w i r nichtsdestoweniger evidente Sätze
und Theoreme über sie besitzen, die wertvolle W a h r h e i t e n i n
sich enthalten und uns, für die spekulative Erkenntnis, wie f ü r
das praktische Handeln gleich unentbehrlich s i n d . ) Allgemein
gefasst ist es somit nicht der blosse nominale Gehalt der Sym‑
bole, sondern die Bedeutung, die der Gedanke m i t ihnen ver‑
knüpft, was ihren Erkenntniswert ausmacht: die Zeichen be‑
g r ü n d e n nicht die Wahrheit der idealen Relationen, sondern
sie sagen sie lediglich aus. Der objektive gesetzliche Zusammen‑
hang der Ideen, auf dem alle Wissenschaft beruht, wird durch
sie nicht erschaffen, sondern n u r für das Bewusstsein fixiert.
Wenn indessen im „Alciphron* die neue Problemstellung
n u r im Zusammenhange tbeologischer Fragen entsteht und hinter
diesen alsbald gänzlich zurücktritt,so gewinnt sie ihre vollkommene
und selbständige Entwicklung in der letzten und merkwürdigsten
Schrift Berkeleys. Die „Siris, ‐ die m i t der Aufzählung der
mannigfaltigen Heilwirkungen des Teerwassers beginnt und von
hier aus, in stefigem und fast unmerklichem Fortgang zu den
höchsten metaphysischen Fragen fortleitet, um damit die göttliche
Verfassung und Verkettung des Alls, kraft deren das Kleinste m i t
dem Grössten zusammenbängt, ersichtlich zu machen ‐ sie w i l l
auch erst die wahrhafte innere Verkettung des Systems selber
herstellen, indem sie Anfang und Ende, Erkenntnislehre und
Metaphysik in einer neuen Gesamtanschauung verknüpft und
e i n . Der „Anstieg* v o m Sinnlichen z u m Intellektuellen t r i i t
nunmehr in seinen einzelnen Phasen klar heraus. „Die Sinne
sind es, die zuerst den Geist unterjochen und gefangen nehmen.
Die sinnlichen Erscheinungen sind uns alles in allem: all unsere
Schlüsse haben es n u r m i t ihnen zu tun; all unser Streben findet
in ihnen sein Ziel. W i r fragen nicht weiter nach Realitäten oder
Ursachen, bis der Verstand zu dämmern beginnt und einen
Strahl auf dieses Schattenspiel fallen lässt. Dann erst erkennen
238 Berkeley.

w i r das wahre Prinzip der E i n h e i t , der I d e n t i t ä t und der


Existenz. Die Dinge, die zuvor für u n s den ganzen Inbegriff
des Seins auszumachen schienen, werden uns zu zerfliessenden
Phantomen, sobald w i r sie m i t dem Auge des Intellekts be‑
trachten.“®) Nur der „gemeinen Ansicht“ sind demnach „sinnlich“
und „wirklich“, Empfindung und Erkenntnis dasselbe, während
alle echte Philosophie darauf gerichtet ist, zu zeigen, dass die
Prinzipien der Wissenschaft weder Gegenstände des Sinnes, noch
der Einbildungskraft sind, und dass Ve r s t a n d und V e r n u n f t
allein die sicheren Führer z u r Wahrheit sind.%) So ist der Geist,
der f ü r die ganze vorangehende Entwicklung bereits als das
höchste O b j e k t des Wissens galt, nunmehr ausdrücklich auch
in seiner selbsttätigen und schöpferischen F u n k t i o n anerkannt.
„Seine Vermögen und seine Betätigungen bilden eine n e u e u n d
d i s t i n k t e Klasse v o n Inhalten, aus deren Betrachtung uns
Begriffe, Grundsätze und Wahrheiten erwachsen, die so fern von
jenen ersten Vorurteilen liegen, in die die sinnliche Betrachtung
uns verstrickt, ja ihnen so entgegen sind, dass sie aus den gewöhn‑
lichen Schriften und Reden ausgeschlossen werden, und, als ab‑
gesondert von allem Sinnlichen (abstract from sensible matters)
der spekulativen Mühe Weniger überlassen bleiben.“") Die Ge‑
schichte der Philosophie enthält kein zweites Beispiel einer derart
offenen und schonungslosen S e l b s t k r i t i k , wie Berkeley sie hier
vollzieht. Man muss, um sich den Abstand ganz zu Bewusstsein
zu bringen, der zwischen Ziel und Ausgangspunkt liegt, v o r
allem die frühesten Aufzeichnungen des „Commonplace Book*
z u m Vergleiche heranziehen. Hier war es m i t der ganzen radi‑
kalen Schroffheit, die diese jugendlichen Versuche kennzeichnet,
ausgesprochen: „wir müssen, m i t d e m Pöbel, die Gewissheit in
die Sinne setzen“. „Es ist Narrheit sie zu verachten; denn wären
sie nicht, so gäbe es überhaupt weder Erkenntnis, noch Denken.“
E i n „reiner Verstand“ ist n u r ein bedeutungsleeres Wort.®) So
hat Berkeley den gesamten Weg durchmessen, der zwischen der
Lockeschen Auffassung der „Idee“ und ihrer Platonischen Urbe‑
deutung liegt. ‑
Denn P l a t o n ist es, zu dem er sich nunmehr bekennt und
zu dessen reiner Grundlehre er vorzudringen sirebt. „Aristoteles
und seine Nachfolger haben eine monströse D a r s t e l l u n g der
D i e Ueberwindung der sensualistischen Er kenninisichre. 239

Platonischen Ideen gegeben und auch in der eigenen Schule


Platos sind gar seltsame Dinge über sie vorgebracht worden.
Würde indes dieser Philosoph nicht n u r gelesen, sondern auch
eindringlich studiert und zu s e i n e m eigenen Ausleger ge‑
m a c h t , so würde das Vorurteil, das jetzt gegen i h n besteht, bald
schwinden und sich in die höchste Achtung für die erhabenen
Begriffe und die schönen Fingerzeige wandeln, die u n s in all
seinen Schriften entgegenleuchten.“ Denn in der Sprache Platons
bedeutet die Idee „kein träges und untätiges O b j e k t des Denkens,
sondern sie ist i h m m i t aftıov und apyr, m i t Ursache und Prinzip
gleichbedeutend. Güte, Schönheit, Tugend und dergleichen sind
nach i h m nicht leere Erdichtungen des Geistes, noch blosse will‑
e n , schliesslich abstrakte
k ü r l i c h gebildete K o l l e k t i v v o r s t e l l u n gnoch
Begriffe im Sinne der Modernen; sondern sie bilden das höchste
intellektuelle und unwandelbare Sein, das an Realität den
fliessenden und vergänglichen Sinnendingen, die niemals Bestand
haben und daher keinen Gegenstand des Wissens bilden können,
überlegen ist.“®) Die Forderung, „Platon zu seinem eigenen
Ausleger zu machen“, begegnet hier nicht z u m ersten Male. Sie
ist, m i t den gleichen Worten, von L e i b n i z erhoben worden”);
wie sie denn überhaupt bei allen grossen idealistischen Denkern
in typischer Weise wiederkehrt. Gegen Lockes Kritik des „Ange‑
borenen* wird die Platonische Grundansicht von Berkeley jetzt
ausdrücklich verteidigt. Die „Ideen“, wie Locke und die Neueren
sie fassen, die trägen und passiven Vorstellungsobjekte leiten sich
allerdings sämtlich von den Sinnen her; neben ihnen aber
müssen w i r ursprüngliche geistige Akte und Tätigkeiten anerkennen
‐ und v o n dieser Art sind alle reinen B e g r i f f e , wie das Sein
und das Gute, das Gleiche und das Aehnliche.!) „Wie der Ver‑
stand nicht wahrnimmt, d. h. nicht hört und nicht sieht und
nicht tastet, so vermag der Sinn nicht zu erkennen. Wenn
daher der Geist die Sinne und die Einbildungskraft auch als
M i t t e l brauchen kann, um zur Erkenntnis zu gelangen, so gibt
doch der Sinn f ü r sich allein niemals ein Wissen. Denn, wie
Platon im Theaetet richtig bemerkt: Wissen besteht nicht in
passiven Wahrnehmungen, sondern entsteht erst in ihrer Bear‑
beitung durch die Vernunft; es ist nicht in den Inhalten der Em‑
pfindung, sondern &vxy rept Exeivuv ouAkoyionp gegründet.“) Die
240 Berkeley.

charakteristische Wendung, die Berkeleys Denken von den I m ‑


pressionen zu den idealen Prinzipien, v o m Psychologismus zur
Idee der „reinen Logik“ vollzogen hat, kommt hier in aller
Schärfe z u m Ausdruck.
An einem Punkte indessen bleibt trotz allem der Zusammen‑
hang m i t der früheren Grundanschauung fortbestehen: die ver‑
änderte Wertschätzung betrifft die logischen und metaphysischen,
nicht aber die mathematischen und physikalischen Begriffe. Die
rationale Erhöhung der Erkenntnis lässt das E r f a h r u n g s ‑
wissen unberührt. Die Wissenschaft des körperlichen Seins
steht, wie dieses Sein selbst, im Kontrast und Widerstreit zur
Welt des Reinen und Gedanklichen. Die spiritualistische Ge‑
ringschätzung des O b j e k t s der Physik erstreckt sich auch
auf ihre begrifflichen Methoden. Dieser Zug, der schon in den
Anfängen von Berkeleys Philosophie deutlich hervortritt, hat
sich durch all ihre inneren Umbildungen hindurch unver‑
ändert erhalten. Gegen seine sensualistische Kritik der mathe‑
matischen Begriffe erbebt er in seinem philosophischen Tage‑
buch gelegentlich selbst den Einwand, dass das Urteil über
diese Begriffe nicht den Sinnen, sondern dem reinen Verstande
zukomme. Aber er weist dieses Bedenken alsbald zurück: „Linien
und Dreiecke sind keine Operationen des Geistes.“#) Die Torheit
der Mathematiker besteht eben darin, dass sie zur Entscheidung
über s i n n l i c h e I n h a l t e , wie Ausdehnung und Gestalt, eine
andere Instanz als die sinnliche Wahrnehmung anrufen, dass sie
die Objekte der Empfindung m i t dem Maassstabe der Vernunft
messen wollen. „Die Vernunft ward u n s für edlere Zwecke
gegeben ;“’*) sie kann n u r dort in Wirksamkeit treten, wo essich
um geistige und unausgedehnte Wesenheiten handelt, wie unsere
Seele und ihre Vermögen und Beschaffenheiten es s i n d . ) So wird
Berkeley dazu geführt, selbst den subtilen scholastischen Streitig‑
keiten, trotz all ihrer inneren Leere und Verworrenvheit, noch
den Vorrang v o r den modernen mathematischen Diskussionen
über das Unendliche und das Unendlichkleine zuzugestehen:
hatten doch jene es wenigstens m i t grossen u n d erhabenen
Gegenständen zu tun, während diese z u m grössten Te i l auf
gänzlich nichtige und unbedeutende Dinge g e h e n ! ) In dieser
Zuweisung der Mathematik und mathematischen Physik zu einer
Mathematik und „transsendentale“ Philosophie. 241

„niederen“Sphäre des Wissens aber ist Berkeley selbst Scholastiker


geblieben. Er wiederholt hier n u r ein Motiv, das für die mittel‑
alterliche Weltansicht typisch ist, und das die moderne Philo‑
sophie und Wissenschaft, um ihrem neuen Erkenntnisideal
Eingang zu verschaffen, v o n Anfang an ständig zu bekämpfen
h a t t e , (Vgl. Bd. I, 250, 267 f., u. ö.) Und dieses Motiv beherrscht
auch noch die letzte Phase seines Systems: sofern es über die
sensualistischen Anfänge hinausschreitet, sofern es ein eignes
Gebiet und eine eigene Gerichtsbarkeit des Intellekts abgrenzt,
geschieht es, um den Geist in seiner metaphysischen Natur und
seinem metaphysischen Ursprung, nicht aber um ihn in seinen
wissenschaftlichen Betätigungen zu begreifen und in diesen
seine wahre Wesenheit zu begründen. Die Polemik gegen New‑
ton u n d die mathematische Naturphilosophie kann daher die
„Siris“ ungeschmälert aufrecht erhalten. Berkeley stellt der
Mathematik und der theoretischen Physik eine höhere, „trans‑
scendentale“ Wissenschaft entgegen, der die Aufgabe zufällt, die
Prinzipien dieser Disziplinen aufzudecken und ihnen ihre
„Grenzen“ zu bestimmen.) Aber die Grenzbestimmung erfolgt
nicht in fundamentaleren logischen Grundsätzen, sondern wird
durch den Ausblick in ein absolutes Reich stoffloser Wesen‑
h e i t e n gewonnen. „ I n der Physik überlassen wir uns den
Sinnen und der Erfahrung, die uns lediglich die erscheinenden
Wirkungen kennen lehren; in der Mechanik stützen w i r u n s auf
abstrakte mathematische Begriffe. In der ersten Philosophie oder
Metaphysik aber handeln w i r von immateriellen Objekten und
Ursachen und v o n der Wahrheit und Existenz der Dinge. Der
Physiker betrachtet die Aufeinanderfolge der Sinnendinge und die
Gesetze, durch welche sie verknüpft sind, indem er, was v o r a n ‑
geht, als Ursache, was folgt, als Wirkung ansieht. In dieser
Weise müssen die sekundären körperlichen Ursachen aufgefasst
werden, die uns doch v o n den wirklichen tätigen Kräften u n d
von der realen Ursache, in der sie gegründet sind, keine Rechen‑
schaft geben. Die wahrhaften tätigen Ursachen können n u r durch
r e i n e Ve r n u n f t e r w ä g u n g aus den Schattenbildern, i n die
sie eingeschlossen sind, herausgelöst und zur Erkenntnis gebracht
werden. Sie bilden den Bereich und Gegenstand der ersten
Pbilosophie oder Metaphysik. Erst wenn in dieser Weise jeder
16
242 i . Berkeiey.

‚Wissenschaft i h r eigenes Gebiet zugewiesen und dessen Grenzen


bestimmt sind und weiterhin ihre Objekte und Prinzipien deut‑
l i c h gesondert sind, lassen sich die Probleme, die zu jeder ein‑
zelnen gehören, m i t Klarheit b e h a n d e l n . ) E s kann keinen
schärferen Gegensatz geben, als zwischen der „iranszendentalen“
Wissenschaft Berkeleys, die über dem Erfahrungswissen ein neues
S e i n zu erbauen unternimmt und dem transzendentalen Idealismus
Kants, der die logischen Grundlagen der Erfahrungserkenntnis
selbst zu begreifen und zu sichern s u c h t . ) ‑
Die letzte Phase des Systems lässt zugleich die inneren
Triebkräfte seiner Entwicklung deutlich hervortreten. Indem
Berkeley das methodische Prinzip der „reinen Erfahrung“ p r o ‑
klamierte, w a r seine Grundabsicht darauf gerichtet, das B e ‑
wusstsein auf sich selbst zu stellen u n d es von dem Zwange
.der äusseren, absoluten Materie zu befreien. In der Durch‑
führung dieses Gedankens aber sieht er sich zunächst auf die
E r k e n n t n i s m i t t e l hingewiesen und eingeschränkt, die L o c k e s
Philosophie geschaffen hatte. Indem er jedoch Lockes psycho‑
logisches Schema ungeprüft herübernimmt, w a r damit zugleich
unvermerkt das metaphysische Grundmotiv des „Essay“ geduldet
und anerkannt. Lockes Begriffsbestimmung der „Idee“ ist der
Ausdruck seiner Gesamtansicht von der Funktion und Stellung
des Geistes: der Gedanke der passiven Natur des Bewusstseins
‚ u n d seiner Abhängigkeit von den Aussendingen bildet i h r n o t ‑
wendiges Korrelat. DasInstrument, das Berkeley hier ergreift, ent‑
stammt somit einer Grundanschauung und dient einem Zwecke, der
dem seinen unmittelbar entgegengerichtet ist. Diese Inkongruenz
zwischen Ziel und Mittel bildet den dialektischen Anstoss für die
Fortbildung des Systems. Aber vergebens ringt Berkeley nach
einer völligen Loslösung v o n den ersten Voraussetzungen. Sein
Weg führt i h n v o n Locke zu dem Platonischen Begriff des Geistes
zurück: aber der Zusammenhang m i t der M a t h e m a t i k , der
diesem Begriff erst Leben und Inhalt gab, wird nicht wieder zu‑
rückgewonnen. Sosiehtsich das Bewusstseinzuletzt dennoch v o n
allem selbständigen und ursprünglichen Gehalt entblösst und an
ein höheres göttliches Sein geknüpft, aus dem i h m alle Wahrheit
und alle Erkenntnis fliesst. ‑
Eine letzte charakteristische Ausprägung findet dieses Ver‑
D i e ethischen Grundprobleme. 243

hältnis in der Entwicklung der ethischen Grundprobleme. Berke‑


leys Moralphilosophie ist v o r allem auf die Abwehr der empirisch‑
psychologischen Ableitung des Sittengesetzes gerichtet. Nicht der
A f f e k t des Wohlwollens und der Sympathie, der ein subjektiver
und zweideutiger Gradmesser ist, sondern lediglich ein objektives
und allgemeingültiges Gesetz darf die Regel des Handelns bilden.
M i t diesem Gedanken tritt Berkeley Shaftesburys Wertprinzip
des „sittlichen Gefühls“ scharf und energisch entgegen.®) Das
„Gesetz“ selbst aber, das er als oberste Norm behauptet, stammt
nicht aus dem eigenen Grunde des Bewusstseins, sondern es geht,
wie das Naturgesetz, auf den göttlichen Gesetzgeber zurück und
empfängt v o n i h m erst seine Sanktion.S!) Von dieser Anschauung
aus bekämpft Berkeley insbesondere den modernen Begriff des
Staates, dem er das eigene t h e o k r a t i s c h e Ideal gegenüberstellt.
W i e alle grossen idealistischen Denker, so ist auch er durch
Kraft und Tiefe der sozialen Gesinnung ausgezeichnet, die er
gleich sehr in seinen Schriften, wie in seiner praktischen W i r k ‑
samkeit bekundet. Gegenüber der herrschenden Doktrin der Zeit,
die im wirtschaftlichen Egoismus die Norm und die gültige
Triebfeder alles Handelns sieht, tritt er unablässig für die
Forderung des „public spirit“ e i n . ) Die Entwicklung seiner
politischen Doktrin aber bleibt gleichfalls durch theologische
Motive bestimmt. Das Recht des Souveräns ist nicht vom Willen
des Volkes abgeleitet und übertragen, sondern fliesst unmittelbar
aus göttlicher Satzung her. Der unbedingte „passive Gehorsam‘
gegen die höchste staatliche Gewalt bildet das letzte Wo r t dieser
Theorie;3) wie im Logischen, so bleibt im Ethischen die A u t o ‑
n o m i e des Geistes durch eine äussere Schranke eingeengt.

16%
F ü n f t e s Kapitel.

Hume.
Der Begriff der E r f a h r u n g , der für die naive Auffassung
eine unmittelbare Einheit darstellt, hat sich für die philosophische
Kritik Berkeleys in zwei ungleichartige Bestandteile zerlegt. Nicht
der einfache Inhalt der Wahrnehmung, sondern der Akt der
Verknüpfung der Einzelempfindungen ist es, der das primitive
sinnliche Weltbild erschafft. Was w i r die empirische Wirklich‑
keit nennen, das kommt erst durch eine eigentümliche Deutung
und Umbildung der unmittelbaren „Perceptionen“ zustande: ein
und dasselbe Material v o n Sinneseindrücken kann je nach der
Verschiedenheit der assoziativen Verbindungen, die es auslöst, zu
entgegengesetzten psychologischen Endergebnissen weitergeführt
werden.!) Der neue Faktor, der hier in die Betrachtung eintritt,
aber enthält zugleich ein neues Problem. Wenn es möglich sein
soll, zwischen zwei Inhalten, die an und für sich keinerlei n o t ‑
wendige und logische Beziehung aufweisen, dennoch einen
festen Vorstellungszusammenhang zu stiften, so ist die erste Be‑
dingung hierfür, dass die Elemente u n s wenigstens in d e r
E r f a h r u n g in regelmässiger und gleichartiger W i e d e r h o l u n g
gegeben seien. Ohne eine solche regelmässige Abfolge des Vo r ‑
stellungsstoffes fände die psychische Funktion der Verknüpfung
nirgends einen Gegenstand, an dem sie sich betätigen könnte.
W i r könnten ‐ in Berkeleys Sprache ausgedrückt ‐ die „Zeichen“,
die uns in den einzelnen Eindrücken gegeben sind, nicht v e r ‑
stehen u n d lesen, sie nicht zu einem einheitlichen Text zusammen‑
schliessen, wenn w i r nicht v o n Anfang an sicher wären, dass sie
eine Bedeutung in sich bergen, die w i r n u r zu entdecken u n d
zu entwickeln haben. Wäre das Ganze der Erscheinungen e i n
Das Postulat der Gleichförmigkeit des Naturlaufs. 245

ungeordnetes Gewirr v o n Wahrnehmungen, die durch keine


ursprüngliche Regel der Wiederkehr m i t einander verbunden
wären, so wäre das Kryptogramm der Natur nicht zu entziffern.
Alle jene Erfahrungsschlüsse, vermöge deren w i r erst Eindrücke
zu Gegenständen umbilden, beruhen somit auf dem gedank‑
lichen P o s t u l a t einer i n n e r e n G l e i c h f ö r m i g k e i t des
N a t u r l a u f s . „ W i r können durch sorgfältige Beobachtung der
Phänomene, die in unseren Gesichtskreis fallen, zwar die allge‑
meinen Gesetze der Natur erkennen und aus ihnen die besonderen
Erscheinungen ableiten, nicht aber sie als notwendig erweisen.
Denn alle Deduktionen dieser A r t sind abhängig von der Voraus‑
setzung, dass der Urheber der Natur stets gleichmässig handelt
und die Regeln, die w i r als Prinzipien zugrunde gelegt haben,
beständig befolgt: eben dies aber können wir niemals m i t Evi‑
denz erkennen.“?)
So sehen wir, wie nicht n u r das Verfahren der empirischen
P h y s i k , sondern auch dasjenige der Psychologie ‐ wie nicht
n u r unser Wissen von der Körperwelt, sondern auch die Er‑
kenntnis der „Natur“ unseres Geistes auf hypothetischem
Grunde ruht. Bei Berkeley selbst zwar kann die Frage, die
hiermit gestellt ist, sich nicht zu voller Schärfe und Klarheit
entwickeln. Denn die Gewissheit, die die L o g i k nicht zu ge‑
währen vermag, ist i h m durch seine religiöse Grundanschauung
verbürgt: die göttliche Wirksamkeit, aus der die Einzeldinge
hervorgehen, ist zugleich die Gewähr f ü r ihren innern Vernunft‑
zusammenhang. In einer Welt, die das Werk eines höchsten
Verstandes ist, muss eine feste methodische Ordnung herrschen.
Die Beziehung auf den gemeinsamen intelligiblen Urgrund sichert
den Erscheinungen jene Verwandtschaft und Gleichartigkeit, die
die Bedingung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis ist. Man hebe .
diese Wesenseinheit der Dinge auf: und das empirische Sein löst
sich wiederum in ein Chaos auf. Betrachten w i r die Erfahrung
n u r in ihrem eigenen Gehalt, so bietet sie uns keinerlei Beweis f ü r
eine dauernde Gesetzlichkeit, die in den Erscheinungen waltet und
sie den Forderungen der Vernunft zugänglich und gefügig macht.
Soführt die blosse Aufhellung der Bedingungen, auf denen
Berkeleys Lehre ruhte, unmittelbar bis an die Schwelle von
Humes Philosophie.
246 Hume.

Der Vergleich zwischen Berkeley und Hume zeigt in charak‑


teristischer Deutlichkeit, zu welch verschiedenartigen Ergebnissen
ein und dieselbe methodische Betrachtungsweise binführen kann,
wenn sie vonGeistern v o n verschiedener intellektueller Prägung und.
verschiedenartiger persönlicher Grundtendenz ergriffen wird. D i e ‑
selben Tatsachen, die für Berkeley den Grund und Ansporn ent‑
hielten, über das Gebiet der blossen Sinnenwahrnehmung hinauszu‑
gehen, dienen nunmehr dazu, um uns für immer in dieses Gebiet
festzubannen. So unbefriedigend die Antwort sein mag, die die
E r f a h r u n g auf die Zweifel and Fragen der Vernunft z u erteilen
vermag, sounausweichlich bleiben w i r an diese Antwort gebunden.
Der Gegensatz, der zwischen unseren gedanklichen F o r d e r u n g e n
und den Mitteln zu ihrer Erfüllung besteht, soll in seiner ganzen
Schärfe aufgedeckt werden; nicht um i h n in einer „höheren“
metaphysischen Konzeption zu beseitigen, sondern um ihn als
unaufheblich zu begreifen. Der Weg nach vorwärts ist uns
verschlossen: so bleibt kein anderes Mittel, als die gesamte Arbeit,
die das „Denken“ am Stoff der Empfindung vollzieht, wieder
zurückzutun. Es gilt z u m mindesten den psychologischen Zwang
zu verstehen, der uns immer von, neuem zu dieser Umdeutung
der einfachen Perceptionen verleitet und der damit unser natür‑
liches Weltbild entstellt. Das „wahre“ Sein geht in der Aussage
der Empfindung auf: diese selbst aber ist uns von Anfang an
nicht in ihrer eigenen unverfälschten Natur, sondern in einer
bestimmten Formung durch das Urteil gegeben. Gelingt es, diese
Leistung kraft der psychologischen Analyse wieder aufzuheben,
so stehen w i r damit erst v o r der Substanz aller Erkenntnis u n d
aller Wirklichkeit. So hält Hume an der Grundeinsicht fest, dass
das empirische Sein, welches der naiven Betrachtung als etwas
Letztes und Unzerlegbares erscheint, ein Werk der Verknüpfung
der Vorstellungen ist; aber er fordert zugleich, dass jene Ver‑
knüpfung, sofern i h r irgend ein R e c h t und eine Bedeutung
erwachsen soll, sich in einem unmittelbaren Eindruck, der i h r
z u r Seite steht, zu beglaubigen habe. Gleichviel ob diese F o r ‑
derung sich im Ganzen unserer Erkenntnis als e r f ü l l b a r e r ‑
weisen wird, oder nicht; sie ist es, die zuletzt über die Schätzung
unseres Wissens entscheide. Humes „Empirismus“ darf u n s
nicht darüber täuschen, dass auch er die „Tatsachen“ der E r ‑
Impression und-Begrif. 247

kenntnis nicht einfach registrieren, sondern sie einer Prüfung und


Beurteilung unterziehen will. Das Kriterium der „reinen Em‑
pfindung“, das er hierbei anwendet, mag seinem I n h a l t nach
noch s o weit v o n allen l o g i s c h e n Kriterien abstehen, a n denen
sonst das Wissen gemessen wurde: es teilt m i t ihnen dennoch
die allgemeine formale Eigentümlichkeit, dass es einen metho‑
dischen Maassstab abgeben will, kraft dessen w i r jedem Begriff
seinen Rang und seine relative „Wahrheit“ zuweisen können. ‑
.Der Kampf gegen jegliche Form u n d Abart der „Abstraktion“
gewinnt daher jetzt eine neue und radikalere Bedeutung. Hume
selbst siebt die entscheidende Leistung von Berkeleys Philosophie
in der endgültigen Klärung der Frage nach der Natur unserer
„allgemeinen Vorstellungen“. „ E i n grosser Philosoph hat die her‑
kömmliche Meinung in diesem Punkte bekämpft und behauptet,
alle allgemeinen Vorstellungen seien nichts als individuelle Vor‑
stellungen, verknüpft m i t einem bestimmten N a m e n , der ihnen
eine umfassendere Bedeutung gebe und bewirke, dass im ge‑
gebenen Falle andere ähnliche Eiuzelvorstellungen in die Er‑
innerung gerufen werden. Ich sehe in dieser Einsicht eine der
grössten und schätzenswertesten Entdeckungen, die in den letzten
Jahren im Reiche der Wissenschaften gemacht worden sind. Ich
w i l l aber versuchen, sie noch durch einige Argumente zu be‑
stätigen, die sie, wie ich hoffe, über jeden Zweifel und jede An‑
fehdung erheben sollen.“) Die Art, in der Hume h i e r Berkeleys
Lehre wiedergibt, bedeutet indessen ‐ wie m i t Recht hervor‑
gehoben worden ist‘) ‐ bereits eine Verschärfung und Weiter‑
führung ihrer Grundtendenz. Denn so sehr Berkeley jegliche
Fixierung des „Allgemeinen“ in einem abstrakten Vorstellungs‑
bilde abwies, s o wenig suchte e r die generelle B e d e u t u n g ,
die einem Einzelinhalt im Ganzen unserer Erkenntnis z u ‑
wachsen kann, lediglich auf den N a m e n zurückzuführen, den
w i r zufällig und äusserlich m i t i h m verbinden. Dass ein psy‑
chischer Inhalt andere zu „repräsentieren‘ vermag, galt vielmehr
als eine unabileitbare Eigentümlichkeit des Vorstellens selbst.
Das sinnliche „Zeichen“ wurde hier n u r als die Darstellung eines
Sachverhalts angesehen, der zwischen den Ideen selber besteht;
eswar nicht der Träger, sondern n u r der Ausdruck der allgemeinen
Bedeutung. (S.ob.S.211.u.236.) Erst in Humes Theorie ist auch
248 Hume.

diese letzte Schranke gefallen. Die „general idea“, die Berkeley aus‑
drücklich anerkannt und zugelassen hatte,°) wird jetzt m i t der‑
selben Entschiedenheit, wie die „abstrakte“ Gattungsvorstellung
verworfen. „Allgemeinheit“ ist keine psychologische Eigen‑
tümlichkeit, die ein Vo r s t e l l u n g s i n h a l t unmittelbar besässe
oder im Laufe der Erfahrung erwerben könnte, sondern sie kommt
“ einzig dem Worte zu, das i n seiner U n b e s t i m m t h e i t nicht alle
Einzelzüge des Wahrnehmungsbildes in sich zu fassen und
wiederzugeben vermag. Das Ziel der E r k e n n t n i s steht zu dem
Verfahren, das die Sprache notgedrungen einschlagen muss, in
direktem Gegensatz: wenn es sich hier darum handelt, z u m Zweck
der allgemeinen Verständigung die psychischen Erlebnisse n u r
in ihren groben und äusseren Umrissen nachzuzeichnen, so soll
dort die konkrete F ü l l e des Bewusstseins ausgeschöpft werden.
So lange in unserem angeblichen „Wissen“ noch irgend ein Rest
zurückbleibt, der nicht in individuelle Empfindungen und
Empfindungsgruppen aufgelöst ist, so lange dürfen w i r sicher sein,
dass w i r in den Kreis der echten Tatsachen der Erkenntnis
noch nicht vorgedrungen sind. Die Aufgabe ist jetzt sicher und
unzweideutig vorgezeichnet: es bleibt übrig, nunmehr im einzelnen
zu bestimmen, wie weit die verschiedenen Wissenszweige in ihrer
herkömmlichen Form und Behandlung i h r gerecht zu werden
vermögen.

I
D i e K r i t i k der m a t h e m a t i s c h e n E r k e n n t n i s .
Zwischen dem System der mathematischen Wahrheiten und
dem allgemeinen Erkenntnisideal, v o n dem Hume seinen Aus‑
gang nimmt, scheint auf den ersten Blick kein Gegensatz zu be‑
stehen. Galt es doch v o n jeher als der eigentümliche Vorzug der
Mathematik, dass sie es nicht m i t der E x i s t e n z der Dinge,
sondern n u r m i t ihrer Vorstellung, dass sie es nicht m i t dem
Dasein der Objekte, sondern n u r m i t der Beschaffenheit der
„Ideen“ selber zu t u n habe. Diese Bestimmung, die vom Streite
der Schulen unberührt geblieben war und die sich in gleicher
Weise bei Descartes, wie bei L o c k e findet, bildet auch den
ersten Ansatzpunkt f ü r Humes Untersuchung. Die Gebilde des
D i e psychologische Kritik der mathematischen Begriffe. 249
v

mathematischen Denkens unterstehen keinem anderen Gesetz, als


demjenigen, das unsere eigene, psychische Natur ihnen vorschreibt.
H i e r ist also-jede Spannung und jeder Gegensatz ausgeschlossen:
w a s die Grenze unserer „Eindrücke* überschreitet, das liegt eben
d a m i t ausserhalb der Grenze der mathematischen Betrachtung
u n d Beurteilung. Da die Vorstellung jeder geometrischen Figur
i h r selber völlig adaequat ist, und sie ohne jeglichen Rest in sich
enthält, so muss jede Uebereinstimmung oder jeder Widerstreit,
d e r u n s in den Ideen entgegentritt, auch unmittelbar auf ihre
Objekte übertragbar sein.®) So wahr sie es lediglich m i t Inhalten
des B e w u s s t s e i n s z u t u n hat, s o wahr hat die Mathematik die
Psychologie als Richterin über sich anzuerkennen. ‑
Tritt m a n indessen m i t diesem Prinzip, das Hume das
„Fundament aller menschlichen Erkenntnis“ nennt, an die
k o n k r e t e wissenschaftliche Gestalt der Mathematik heran, so
sieht man sich sogleich aufs schwerste enttäuscht. Scheint es
doch, als wäre man hier der einfachen Selbstbesinnung auf den
fraglosen Inhalt unserer einfachen Vorstellungen wie mit Absicht
aus dem Wege gegangen, um sich in die Betrachtung rein fiktiver
Gebilde zu verlieren. W i r mögen alle Daten des Bewusstseins
noch so sehr zergliedern, w i r mögen alle Erkenntnisquellen, die
u n s gegeben sind, befragen: nirgends entdecken wir das Bild der
stetigen, ins Unendliche teilbaren Ausdehnung, m i t deren Setzung
die Geometrie beginnt. Die fortschreitende Verminderung einer
räumlichen Strecke hebt i h r sinnliches Bild, hebt also die einzige
geistige Daseinsweise, die sie besitzt, zuletzt gänzlich auf. Jenseits
des Minimums unserer Wahrnehmungsfäbigkeit ist jeder ferneren
Grössenunterscheidung der Grund und die Möglichkeit entzogen;
der Versuch einer weiteren Sonderung kommt der psychischen
Vernichtung des Inhalts gleich. Da ferner jeder kleinste Te i l
der Ausdehnung, um für uns erfassbar zu sein, eine b e s t i m m t e
Grösse besitzen muss, die sich nicht willkürlich verschieben
lässt, sondern durch die Natur des Vorstellens selbst ein f ü r alle‑
m a l gegeben ist, so müsste eine unendliche Anhäufung dieser
konstanten Elemente auch eine unendliche Grösse erzeugen: die
Behauptung der schrankenlosen Teilbarkeit hebt also, unter dem
Vorwand einer e x a k t e n Erfassung und Beurteilung, vielmehr
alle festen Grenzen und damit alle Unterscheidbarkeit der Einzel‑
250 Hume.

gebilde auf. Die Annahme des Minimums erst schafft die Mög‑
lichkeit der E i n h e i t und des Maasses. In der Frage nach der
Natur und der Zusammensetzung des Raumes handelt es sich
somit ‐ wie Hume scharf betont ‐ nicht um die Aufwerfung
skeptischer Schwierigkeiten, bei denen die Entscheidung in-der
Schwebe bleiben könnte, sondern um zwingende psychologische
Demonstrationen, die alle anderen Instanzen, welchen Schein sie
auch für sich haben mögen, v o n Anfang an ausschliessen.) Hier
haben w i r es nicht m i t einem dialektischen F ü r und Wider,
sondern mit dem schlichten Ausspruch der einfachen Selbst‑
beobachtung zu tun. In der Ta t sind Humes Sätze innerhalb des
Zusammenhangs, in ( e m sie auftreten, völlig unwiderleglich.
Wenn die Geometrie wirklich die Wissenschaft von unseren
„Raumvorstellungen“ sein will, w e n n sie die Art beschreiben will,
wie die einzelnen räumlichen Ideen im Geiste entstehen und sich
zu bestimmten Zusammenhängen verknüpfen ‐ so stehen Prin‑
zipien, wie das der unendlichen Teilbarkeit, im unmittelbaren
Widerstreit zu dem Objekt, das es zu beschreiben gilt. Da
aber andererseits die Wahl der Prinzipien in unserer Macht
steht, während die Objekte uns als etwas Festes und Unwandel‑
bares gegenübertreten, so ist uns kein anderer Ausgleich ge‑
lassen, als die mathematische M e t h o d i k von Grund aus umzu‑
gestalten. „Da unser letzter Maassstab für die geometrischen
Gebilde n u r aus den Sinnen und aus der Einbildungskraft
stammen kann, so ist es absurd, von einer Vollkommenbeit zu
sprechen, die über das hinausgehen soll, was diese Vermögen
beurteilen können; besteht doch die wahre Vollkommenbeit
jedes Dinges darin, dass es seinem Muster und Richtmaass ent‑
s p r i c h t . “ s‑ )
Die innere Uebereinstimmung und Geschlossenheit. der
Mathematik w i r d daher in Wahrheit erst m i t dem Verzicht auf
die absoluten, rationalistischen Normen erreicht. Diegeometrischen
Beweise können, sofern sie ins Kleine gehen, nicht e i g e n t l i cals‑
h:
Beweise gelten, da sie auf Ideen aufgebaut sind, die nicht genau
und auf Grundsätzen, die nicht völlig wahr sind. „Wenn die
Geometrie irgend ein Urteil über quantitative Verhältnisse fällt,
so dürfen wir niemals v o n i h r die äusserste Präzision und Ex‑
aktheit verlangen. Keiner ihrer ‚Beweise geht so weit.‘ Sie be‑
Sinnliche und mathematische „Ideen“. 251

stimmt die Dimensionen u n d Verhältnisse der Figuren wohl


richtig, aber n u r im Rohen und innerhalb eines gewissen Spiel‑
r a u m s (roughly and w i t h some liberty). Ihre F e h l e r sind
freilich niemals bedeutend und sie würde überhaupt nicht irren,
wenn sie nicht einer so absoluten Vollkommenheit zustrebte.* '
Die echte und erreichbare Vollendung der Mathematik kann
also n u r darin liegen, dass sie das induktive Verfahren der
Naturwissenschaft nachahmt; dass sie sich begnügt, über die
jeweiligen sinnlich-gegebenen Einzelfälle ihre Aussagen zu machen,
ohne eine unbedingte Allgemeinheit des Urteils für sich in
Anspruch zu nehmen. So mag etwa der Satz, dass zwei gerade
Linien sich n u r in einem Punkte schneiden, f ü r den Fall, dass
sie untereinander einen hinreichend grossen Winkel bilden, voll‑
kommen zutreffend sein; während er, sobald die beiden Linien
vor ihrem Zusammentreffen eine Zeitlang in sehr geringer Ent‑
fernung neben einander herlaufen, ersichtlich seine Geltung
verliert. Denn für unsere Wa h r n e h m u n g wenigstens ist das
Gebilde, das im letzteren Falle aus dem Schnitt der beiden Geraden
entsteht, in Nichts von dem Eindruck verschieden, den eine sehr
kleine Strecke auf uns macht: um über die „Wesenheit“ von
Punkten und Strecken und ihre Identität und Verschiedenheit
zu urteilen, gibt es aber keinen andern Anhalt und keinen andern
Maassstab, als dass w i r auf die allgemeine A r t ihrer „Erscheinung“
im Bewusstsein achten.)
Führen w i r dieses Kriterium allseitig durch, so tritt erst
der Sinn der mathematischen Grundbegriffe in voller Klarheit
heraus. E i n Begriff, wie der der G l e i c h h e i t z . B . scheint,
w e n n w i r n u r dem üblichen mathematischen Verfahren folgen,
jeder genauen Erklärung und Bestimmung zu spotten. Die
Gleichheit zweier Sirecken kann nicht bedeuten, dass die An‑
zahl ihrer P u n k t e genau identisch ist: fehlt uns doch jedes
Mittel, um die Menge der mathematischen Punkte, d. h. der
kleinsten noch eben wahrnehmbaren Ausdehnungsgrössen in
einer Geraden wirklich abzuschätzen und damit eine feste
Norm der Vergleichung zu gewinnen. Ebensowenig aber bietet
das Verfahren der Congruenz ein sicheres Mittel dar, um zu
einem Urteil über die Grössenübereinstimmung zweier Raum‑
gebilde zu gelangen; denn jede genaue Feststellung würde auch
252 Hume.

hier voraussetzen, dass w i r die Gebilde, nach deren Verhältnis


“ w i r fragen, bis in ihre letzten Teile verfolgen und sie Punkt für
Punkt zur Deckung kommen lassen ‐ was.auf dieselbe unaus‑
führbare Zerlegung eines Ganzen in seine einfachen Elemente
f ü h r t . So ist uns denn auch hier keine andere Wahl gelassen,
als u n s bei dem unmittelbaren Ausspruch der Sinne zu begnügen:
zwei Grössen heissen gleich, wenn uns, den vorstellenden Sub‑
jekten, in ihrer Betrachtung gleichartig zumute ist. Man mag
diese Berufung auf die blosse „allgemeine Gesamterscheinung“
der Gegenstände vage und oberflächlich finden; genug, dass sich
kein Weg angeben lässt, um jemals über sie wahrhaft hinaus‑
zukommen. Alle Verbesserung und Verfeinerung unserer Instru‑
mente stellt doch das Verfahren selbst auf keinen neuen logischen
Grund: das völlig „exakte“ Maass, nach dem w i r suchen, ist ledig‑
lich ein imaginäres Gebilde, das sogleich verschwindet, wenn
wir uns streng an die besondere, konkrete Erscheinung der Dinge
halten. Die Täuschung, der wir immer wieder verfallen, ist
freilich natürlich; denn nichts ist gewöhnlicher, als dass unsere
geistigen Tätigkeiten einen Weg, den sie einmal eingeschlagen
haben, weiter verfolgen, auch nachdem der berechtigte Grund
und Anlass, der zu i h m hintrieb, zu bestehen aufgehört hat.
Aber diese psychologische Erklärung vermag an der Entscheidung
über das Recht der mathematischen Idealbegriffe nichts zu
ändern: sie bleiben blosse F i k t i o n e n , die ebenso nutzlos, wie
unverständlich sind. :
Wie immer das sachliche Urteil über diese Ausführungen
lauten mag: m a n muss anerkennen, dass sie auf dem Standpunkt,
auf dem Hume steht, in sich konsequent und notwendig sind.
Besteht alles psychische Sein in einer Ansammlung verschieden‑
artiger Empfindungen, ‐ ist das Bewusstsein nichts anderes, als
der Schauplatz besonderer und wechselnder Sinneseindrücke,
so sind die mathematischen Urteile in der Tat völlig willkür‑
liche Erdichtungen. Die Gegenstände, von denen sie sprechen,
besitzen weder in uns, noch ausser u n s irgend eine wahrhaftes
Sein; i h r Gehalt geht bei schärferer psychologischer Analyse in
ein blosses W o r t auf. Es ist nicht zutreffend, wenn m a n z u r
Verteidigung v o n Humes Standpunkt anführt, dass seine Kritik
sich n u r auf die angewandte, nicht auf die reine Mathematik
Reine und angewandte Mathematik. 253

beziehe: nicht die Wa h r h e i t der mathematischen Sätze, sondern


n u r die Uebertragung dessen, was aus den mathematischen Ideen
gefolgert ist, auf die konkreten empirischen Dinge werde bestritten.
Die Beweisführung Humes stützt sich freilich zunächst auf
die Tatsache, dass uns nirgends absolut gleiche Gegenstände
gegeben sind: der Schluss aber, den er hieraus zieht, wendet sich
unmittelbar gegen den reinen geometrischen B e g r i f f der Gleich‑
heit, der i h m eine blosse Fälschung der Wahrnehmungsdaten
ist. In der Tat: welche Wahrheit könnten w i r Aussagen zusprechen,
die von völlig leeren und inhaltslosen Subjekten handeln? Zwar
versucht Hume selbst in der späteren Fassung, die er seiner
Lehre im Enquiry gegeben hat, eine Einschränkung seiner u r ‑
sprünglichen Darstellung. Der Erkenntnis von Tatsachen, die
n u r durch Erfahrung undGewöhnung erreicht werden kann, werden
nunmehr die reinen R e l a t i o n e n z w i s c h e n I d e e n gegenüber‑
gestellt, die kraft der blossen Operation des Denkens entdeckt
werden können, ohne von irgendetwas, was im Universum existiert,
abhängig zu sein.) Diese Trennung indessen mochte in Lockes
Essay, dem Hume sie entlehnt, ihren Sinn und i h r gutes Recht
haben; für ilın selber ist sie hinfällig geworden und bedeutet
n u r ein ungerechtfertigtes Zugeständnis an die traditionelle An‑
schauung. Dass die Beziehungen, die wir in den mathematischen
Urteilen fixieren, in den Ideen eingeschlossen sind und aus ihnen
analytisch gefolgert werden können: diese Auskunft versagt für
eine Ansicht, die eben diese Ideen selber leugnen und verwerfen
muss. Die Linien, Dreiecke und Winkel, v o n denen der Geo‑
meter spricht, gehören nicht dem Bereich und Ta t b e s t a n d
unserer Impressionen an, der nach Hume die ausschliessliche
Grundlage aller gültigen Urteile zu bilden hat. Sie sind uns
nirgends in den Eindrücken selbst gegeben, sondern durch eine
phantastische Zutat, durch ein Hinausgreifen über jegliches sinn‑
liche Datum willkürlich erschaffen. In den ersten geometrischen
D e fi n i t i o n e n bereits verlassen w i r den Umkreis der sichern
und selbstgewissen Empfindung, um in ein Land unbekannter
Wesenheiten hinauszuschweifen. Die Geometrie ist vom Stand‑
punkt Humes ‐ der die „Idee“ n u r als eine vereinzelte, v o n |
Moment zu Moment veränderliche Modifikation des individuellen
Bewusstseins kennt ‐ nicht minder „transzendent“, als es die
254 Hume. j

Metaphysik ist. Ihre Ideale stehen auf einer Stufe m i t den


absoluten Formen und Substanzen der scholastischen Ontologie:
‚beide wurzeln in demselben zügellosen Trieb unserer Einbildungs‑
kraft, über der empirischen Wirklichkeit eine begriffliche Schein‑
welt konstruktiv zu erbauen. Indem der „Treatise* diese Fol‑
gerung rückhaltlos zieht, schafft er damit ‐ unbekümmert um
alle Konsequenzen, die in i h r liegen mögen ‐ erst den einbeit‑
lichen Unterbau des Systems.
Nur e i n e Frage bleibt allerdings zurück, die bisher keine
Aufklärung gefunden hat. Die A r t und die subjektive Not‑
wendigkeit des Prozesses, der zur Bildung der mathematischen
Abstrakta hinführt, vermögen w i r einstweilen nicht zu begreifen.
Es mag sein, dass diesen Gebilden jeglicher logische We r t ab‑
zusprechen ist: wie aber vermögen sie auch n u r als psychologische
Täuschungen zu entstehen und sich zu behaupten? Solange dieses
Problem nicht gelöst ist, ist die P h ä n o m e n o l o g i e des Bewusst‑
seins nicht z u m Abschluss gelangt. Ist es n u r ein seltsamer
Eigensinn, der den Geometer vom Bekannten zum Unbekannten
hinaustreibt oder ist er hierbei von einer allgemeinen psychologi‑
schen Tendenz beherrscht, die sich auch auf anderen Gebieten be‑
kundet? Dringlicher noch muss diese Frage sich gegenüber Humes
Analyse des Raum- und Zeitbegriffs erheben. Er folgt auch hier
seinem allgemeinen Schema: was Raum und Zeit sind, das können
w i r n u r dadurch entdecken, dass w i r die Empfindungen, aus denen
sie sich zusammensetzen, im einzelnen aufweisen und vor‑
führen. Befolgen w i r diese Vorschrift, so löst sich u n s die stetige
Ausdehnung in eine Summe farbiger und tastbarer Punkte, die
gleichförmige Dauer in eine Folge innerer oder äusserer Wahr‑
nehmungen auf. Beide sind k e i n e besonderen I n h a l t e der
Vo r s t e l l u n g , die w i r irgendwie n e b e n den Empfindungen, die
w i r räumlich und zeitlich verknüpfen, vorfinden könnten, sondern
sie bezeichnen lediglich eine eigentümliche „Art und Weise“ in
der diese Empfindungen sich dem Geiste darstellen. „Fünf Töne,
die auf einer Flöte gespielt werden, geben u n s den Eindruck
und die Idee der Zeit; dabei ist aber die Zeit kein sechster Eindruck
welcher sich dem Gehör oder einem anderen Sinne darböte.
Sie ist auch nicht etwa ein sechster Eindruck, den der Geist
kraft der Reflexion in sich selbst auffände. Die fünf Töne, die
Raum und Zeit. 255

in dieser bestimmten Art auftreten, rufen keine bestimmte Er‑


regung im Geiste hervor, die zur Bildung einer neuen Idee Anlass
geben könnte... Tritt somit die Zeit nicht als ein primärer und
gesonderter Eindruck in die Erscheinung, so kann sie offenbar
nichts anderes sein, als eine Mehrheit verschiedener Ideen, Ein‑
drücke oder Objekte, die in einer bestimmten Weise angeordnet
sind, d. h. die einander folgen.“!?) Aber selbst wenn m a n dieser
Erklärung vollkommen beistimmt, wenn m a n somit m i t Hume
‚die Folgerung zieht, dass die abgesonderte, v o n jeglichem Em‑
pfindungsinhalt entblösste Vorstellung der Zeit‘ und des Raumes
in sich unmöglich ist: so bleibt doch stets die Tatsache bestehen,
dass die Empfindungen in uns nicht unterschiedslos beisammen‑
liegen, sondern bestimmte spezifische Ve r k n ü p f u n g e n ein‑
gehen. Es gäbe somit Vorstellungen in uns, die, ohne dass ihnen
ein unmittelbarer Eindruck der Sinnes- oder Selbstwahrnehmung
entspräche, doch nicht jeglichen Gehaltes bar sind, in denen uns
vielmehr die A r t und Ordnung, in der Eindrücke existieren (the
manner or order, in which objects exist) zum Bewusstsein gelangt.
So wenig diese Ordnung eine selbstgenügsame absolute Existenz
ausserhalb aller Inhalte der Wahrnehmung hätte, so wenig
ginge sie doch in der blossen Summe dieser Inhalte auf, sondern
brächte zu i h r eine neue und eigenarlige We i s e der Beziehung
hinzu. Die frühere Schwierigkeit hat sich somit verschärft und
vertieft. Der Vorwurf, der sich zuvor gegen die Wissenschaft
kehrte, richtet sich nunmehr gegen das gewöhnliche populäre
Bewusstsein, das ebenfalls beharrlich daran festhält, Inhalte zu
setzen und zu behaupten, die über alles, was die direkte Wahr‑
nehmung u n s bietet, hinausgehen.
Denn der Versuch, den Hume unternimmt, die Beziehungen
des räumlichen Beisammen wie der zeitlichen Folge als einen
direkten Bestandteil unserer „Perceptionen“ selber nachzuweisen,
muss notwendig scheitern. Immer wenn uns zwei Gesichts- oder
Tasteindrücke gegeben s i n d ‐ so führt er aus ‐ sind w i r i m ‑
stande, nicht n u r sie selbst in ihrer bestimmten Qualität zu
erfassen, sondern auch ihren A b s t a n d v o n einander unmittelbar
wahrzunehmen. Der völlig leere Raum ist freilich an und für
sich kein möglicher Gegenstand der Vorstellung, wohl aber
stellen wir, wenn u n s zwei konkrete, sicht- oder tastbare Raum‑
256 Hume.

elemente gegeben sind, an denen das Bewusstsein ein festes


sinnliches Substrat besitzt, zugleich m i t ihnen auch i h r Lage‑
verhältnis und ihre E n t f e r n u n g v o r. Denn um dies zu tun,
brauchen wir .uns nicht die gesamte Zwischenstrecke, die sie
trennt, in all ihren Teilen einzeln zu vergegenwärtigen und sie
m i t wirklichen Empfindungen auszufüllen, sondern es genügt
der Gedanke, dass dort, wo w i r jetzt ein blosses Nichts, wo w i r
die Abwesenheit jeglichen Wahrnehmungsinhalts bemerken,
eine neue Empfindung auftreten und ihren Platz finden k ö n n t e .
Dass indessen diese Bemerkungen die Anschauung des Raumes
voraussetzen, statt sie zu erklären, ist ersichtlich.) An diesem
Punkte geht Hume ‐ um nicht entweder die Vorstellungen des
Raumes und der Zeit verwerfen oder aber auf den Grundsatz der
ausnahmslosen Entsprechung der „Ideen* und „Impressionen“
verzichten zu müssen ‐ noch hinter Berkeleys psychologische
Analyse zurück. Denn in dieser war es völlig klar geworden,
dass keine direkte Wahrnehmung, sondern n u r ein komplizierter
geistiger Prozess der Verknüpfung der Sinneseindrücke uns von
ihrer Lage und ihrem gegenseitigen Abstand Kunde verschafft.
Es ist bezeichnend, dass diese Einsicht sich Hume selber nach‑
träglich aufdrängt und dass er ‐ im Anhang z u m Treatise ‐ die
frühere Behauptung, nach welcher w i r in der blossen sinnlichen
Erscheinung zweier getrennter Objekte ein genügendes Mittel z u r
Abschätzung ihrer D i s t a n z besitzen, ausdrücklich zurücknimmt.!t)
Immer deutlicher zeigt es sich nunmehr, dass die Em‑
pfindung sich den Ansprüchen, die hier an sie gestellt werden,
versagt. Wenn gegen die Zusammensetzung des Raumes aus
diskreten „mathematischen Punkten“ der Einwand erhoben zu
werden pflegt, dass der Punkt nichts anderes als die N e g a t i o n
der Ausdehnung sei, dass aber die Summierung von „Nichtsen“
niemals ein reales Ergebnis liefern könne, so entgegnet Hume,
dass die Elemente, die er zu Grunde legt, v o n diesem Bedenken
nicht getroffen werden könnten, da er ihnen F a r b e u n d Festig‑
k e i t beilege und sie somit, kraft völlig unzweideutiger sinnlicher
Bestimmungen, v o m blossen Nichts unterscheide. Der gleiche
Umstand macht auch den Einwurf hinfällig, dass unteilbare
Punkte, falls sie sich berührten, vollständig ineinanderfallen
müssen und somit z u r Erzeugung einer S t r e c k e untauglich sind.
D i e mathematischen und die sinnlichen „Punkte“. 257

Denn w a r u m sollten nicht zwei durch ihre sichtbare und tast‑


bare Qualität deutlich unterschiedene Bestandteile, auch wenn
sie einander noch so nahe kommen, diese ihre charakteristische
Eigenart bewahren? „Lässt sich irgend eine Notwendigkeit dafür
einsehen, dass ein farbiger oder tastbarer Punkt bei der An‑
näherung eines anderen farbigen oder tastbaren Punktes v e r ‑
n i c h t e t werde? Erhellt nicht im Gegenteil deutlich, dass a u s
d e r Ve r e i n i g u n g dieser P u n k t e e i n n e u e r Gegenstand
h e r v o r g e h e n muss, der zusammengesetzt und teilbar ist; der,
genauer gesagt, in zwei Teile zerlegt werden kann, von denen
jeder, trotz seiner Berührung m i t dem anderen seine selbständige
u n d gesonderte Existenz bewahrt? Man komme der Einbildungs‑
k r a f t zu Hilfe, stelle sich diese Punkte, um ihre Vereinigung und
Vermischung sicherer zu verhindern, verschiedenfarbig v o r.
Gewiss können doch ein blauer u n d ein roter Punkt sich be‑
rühren ohne Durchdringung und Vernichtung. Denn was sollte
aus ihnen werden, wenn sie es nicht könnten? Soll der rote
oder der blaue Punkt vernichtet werden? Oder was für eine
neue Farbe sollen ihre Farben hervorrufen, wenn sie sich zu
einer vereinigen ?“!5)
Die eigentliche Schwäche von Humes Beweisführung tritt
hier deutlich hervor. Aus der „Vereinigung“ zweier Elemente,
die durch nichts als ihre Farbe charakterisiert und unterschieden
sind, kann so wenig ein r ä u m l i c h e r „Gegenstand“ hervorgehen,
als etwa aus der Verschmelzung v o n Tönen eine Farbe sich bilden
könnte. Betrachtet m a n die „Punkte“ n u r nach ihrem sinnlichen
Inhalt und i h r e r sinnlichen Beschaffenheit, so ist eben jene „Be‑
rührung“, aus der Hume die Ausdehnung hervorgehen lässt,
unverständlich. Um zu einem Ganzen des Raumes zu gelangen,
müssen w i r die räumliche C h a r a k t e r i s t i k der „Lage“ bereits
den Elementen zusprechen. Ist aber die „Lage“ im gleichen
Sinne wie Farbe oder Härte unmittelbar wahrzunehmen? Den
Raum aus Punkten zusarmmenzusetzen: dies mag einen guten
Sinn haben, solange m a n den Punkt selbst nicht als a b s o l u t e s
Element, sondern lediglich als Subjekt bestimmter räumlicher
R e l a t i o n e n auffasst, sofern m a n also in i h m n u r den einfachsten
Ausdruck der ursprünglichen Grundbeziehung und G r u n d ‑
f u n k t i o n sieht, aus deren Anwendung die Vorstellung des ferti‑
17
258, Hume.

gen Raumes sich entfaltet. Bei Hume indessen bedeutet die O r d ‑


n u n g unter den Elementen, bedeutet i h r eigentümliches Bei‑
sammen und Nebeneinander eine völlige Schöpfung aus Nichts:
ein Vorstellungsprodukt, das er ebensowenig entbehren kann,
als er es, nach seinen Prinzipien, dulden dürfte. ‑
Auch Humes Auffassung und Begriffsbestimmung der Z a h l
unterliegt dem gleichen prinzipiellen Einwand. Hier scheint seine
skeptische Methode sich v o n Anfang an zu bescheiden: Algebra und
Arithmetik gelten als die einzigen Wissenschaften, iu denen eine
Kette v o n Schlussfolgerungen bis zu einem beliebig verwickelten
Grade fortgeführt werden kann, ohne dass dabei die vollkommene
Exaktheit und Sicherheit verloren ginge.!2) Wenn wir, um zwei
räumliche S t r e c k e n m i t einander zu vergleichen, auf das vage
sinnliche Gesamtbild, das sie uns darbieten, angewiesen sind und
daher hier niemals zu völliger Genauigkeit vordringen können,
so besitzen wir nach i h m innerhalb der Zahlenlehre in der Tat
einen unbedingten und durchaus unfehlbaren Maassstab. Zwei
Zahlen heissen gleich, wenn sie einander derart zugeordnet werden
können, dass immer eine Einheit der einen einer Einheit der andern
entspricht. In dieser Art der Zuordnung ist keinerlei Irrtum mög‑
lich; denn an die Stelle der oberflächlichen Totalanschauung, m i t
der wir uns in der Geometrie begnügen mussten, tritt hier die
Zerlegung in die konstituierenden Elemente, deren jegliches m i t
voller Präzision erfasst werden kann. Verfolgt man indessen diesen
Gedanken, so führt er ‐ w e n n m a n an der Grundvoraussetzung
v o n Humes Erkenntnislehre festhält ‐ alsbald in neue Schwierig‑
keiten. Um die „Idee“ einer Zahl zu bilden, um sie m i t einer
andern vergleichen zu können, müssten w i r sie uns notwendig
zuvor in allen ihren Bestandteilen e i n z e l n vergegenwärtigen
können. Die Gleichheit zwischen Zahlen wäre nicht anders fest‑
stellbar, als dass w i r ihre sämtlichen Einheiten gesondert „per‑
zipierten“ und einander gegenüberstellten. Aber ganz abgesehen
davon, dass ein derartiges Verfahren v o n Anfang an auf ganze
Zahlen eingesehränkt wäre und somit für die allgemeine wissen‑
schaftliche Form der Algebra völlig unzureichend bliebe: so
müsste hier bei jeder Betrachtung grösserer Zahlenkomplexe sich
alsbald die gleiche Ungenauigkeit u n d Verwirrung ergeben. Die
Bestimmtheit der Zahl könnte nicht weiter reichen, als diejenige
Der Begriff der Zahl. 259

des empirischen Aktes der Abzählung der Einheiten. Oder würde


Hume, um dieser Konsequenz zu entgehen, darauf hinweisen,
dass es zum Verständnis eines Zahlbegriffs nicht erforderlich ist,
die Einheiten, die in seine Bildung eingehen, tatsächlich zu durch- °
laufen, sondern dass w i r uns seine Bedeutung in einem einzigen
und einheitlichen Akte des Geistes vergegenwärtigen können?
Damit aber wäre die Kritik der Mathematik, die Hume durch‑
geführt hatte, um ihre Frucht und um i h r eigentliches Ergebnis
gebracht. Denn die Grundabsicht dieser K r i t i k bestand darin,
den Wahn zu zerstören, als habe die Mathematik es m i t Ideen
von so verfeinerter und geistiger Natur zu tun, dass sie einer be‑
sonderen logischen Gerichtsbarkeit angehöre und an dem Urteil
der Sinne in keiner Weise zu messen sei. Der Zahlbegriff hin‑
gegen eröffnet v o n neuem einen Ausblick in das Gebiet jener
‚reinen intellektuellen Perceptionen“, die Hume als das asylum
ignorantiae aller bisherigen Philosophie bekämpft,!”) die exakte
Geltung, die ihm zugestanden wird, muss, wie es scheint, alle
Schwierigkeiten und Unklarheiten der „metaphysischen“ Logik
von neuem heraufbeschwören.

u.
D i e K r i t i k des K a u s a l b e g r i ff s .
Die Analyse der mathematischen Erkenntnis bildet für Hume
n u r das Vorspiel seiner eigentlichen Lehre; sie w i l l n u r der
tieferen und weiterreichenden Aufgabe der kritischen Zergliederung
des Ursachenbegriffs den Boden bereiten. M i t vollem Rechte sieht
Hume selbst hierin die entscheidende und originale Leistung seiner
Philosophie. Das Problem, das u n s bisher in mannigfachen For‑
m e n und Ansätzen beschäftigt hat, gewinnt erst an diesem Punkte
seine wahre Schärfe. Durch alle Phasen der bisherigen Ent‑
wicklung hindurch konnten w i r den Trieb des Bewusstseins ver‑
folgen, über den Stoff der unmittelbar gegebenen Wahrnehmung
h i n a u s z u g e h e n ; aber e r beschränkte sich zunächst auf den I n ‑
halt der Einzelimpressionen selbst, den er in einer bestimmten
Richtung und unter einem gewissen Gesichtspunkt umzuformen
strebte. Immer schien es daher, als könne diesem Triebe Einhalt
7
260 . Hume.

geboten werden, als genüge es, den Eigengehalt jeglicher Vor‑


stellung scharf und bewusst ins Auge zu fassen, um der fremden
und nachträglichen Zutaten ledig zu werden. Sobald es sich i n ‑
dessen nicht mehr um die Zergliederung unserer Ideen, sondern
um einen Schluss auf das reale Sein der D i n g e handelt, erhält
die Frage eine veränderte Gestalt: Das Gebiet, zu dem hier h i n ‑
ausgegangen wird, behauptet nicht n u r gegenüber aller philoso‑
phischen Kritik sein Recht und seinen Bestand, sondern es macht
selbst dem Reich der Perzeptionen, in dem es wurzelt, den Rang
streitig, so dass es der ganzen Kraft der psychologischen Analyse
bedarf, um sich, vorübergehend und künstlich, auf den Stand‑
punkt der „reinen Wahrnehmung“ zurückzuversetzen. ‑
F ü r die gesamte empiristische Kritik war bisher der Kausal‑
begriff in unangefochtener metaphysischer Geltung geblieben:
wenn er bei L o c k e zwischen der absoluten Welt der Dinge und
der Welt unserer Vorstellungen die Brücke schlug, so war er für
Berkeley das gedankliche Mittel, kraft dessen das Einzelsubjekt
über seine eigene Sphäre hinausgriff und sich in seiner Abhängig‑
keit von dem göttlichen Urheber alles Seins erfasste. Es ist Humes
entscheidendes Verdienst, dass er, all diesen transzendenten An‑
wendungen gegenüber, die Frage rein auf das Gebiet der Er‑
fabrung und des Wissens konzentriert. Nicht welche äussere
Macht zwei D i n g e aneinanderfesselt und beständig zueinander
zwingt, sondern welcher Grund unsere U r t e i l e über die kausale
Verknüpfung bestimmt und regelt, bildet fortan das Problem.
Wenn w i r v o n Ursache und Wirkung, v o n Kraft und Notwendig‑
keit sprechen, so bezeichnen all diese Ausdrücke Nichts, was sich
an den Gegenständen selbst vorfände, sondern sie gewinnen erst
i n der B e t r a c h t u n g des Geistes ihren Sinn. „Wie die Not‑
wendigkeit, dass zwei mal zwei vier ist oder dass die drei Winkel
eines Dreiecks gleich zwei Rechten sind, n u r an dem A k t e u n ‑
seres Ve r s t a n d e s haftet, vermöge dessen. wir diese Ideen be‑
trachten und vergleichen, so hat auch die Notwendigkeit oder
Kraft, die Ursachen und Wirkungen verbindet, einzig in der‑
jenigen Bestimmung des Geistes, die i h n von den einen zu den
andern übergehen lässt, i h r Dasein. Die Wirksamkeit oder
Energie der Ursachen liegt weder in den Ursachen selbst, noch
in der Gottheit, noch im Zusammenwirken dieser beiden Faktoren,
Das Problem der „notwendigen Verknüpfung“. 261

sondern sie i s t einzig und allein der Seele eigen, die die: Ver‑
bindung zweier oder mehrerer Objekte in den‘ früheren .Fällen
sich vergegenwärtigt. Hier wurzelt die reale Kraft der Ursachen
samt ihrer Verknüpfung und ihrer Notwendigkeit“.!3) Die Be‑
griffe der Wirksamkeit und der T ä t i g k e i t , der K r a f t und
der E n e r g i e , der produktiven Qualitäten und Vermögen: sie alle
werden auf den einen Problemausdruck der N o t w e n d i g k e i t
d e r Ve r k n ü p f u n g zusammengezogen. In dieser Art der F r a g e ‑
s t e l l u n g stimmt Hume ‐ so merkwürdig dies auf den ersten
Blick erscheinen mag ‐ m i t den r a t i o n a l i s t i s c h e n Kritikern
des Kausalbegriffs durchaus überein. Die Fragen, die sich an
den Begriff der Ursache knüpfen, waren unbeantwortbar, solange
sie v o n ihrem eigentlichen Ursprung gelöst wurden und dem
Geiste als etwas Fremdes gegenübertraten; um sie zu lösen,
brauchen w i r sie nach Hume n u r auf ihren eigenen Boden, auf
das Gebiet der „Vorstellung“ und Vorstellungsverknüpfung zu‑
rückzuversetzen.
Der Gang, den Humes Kritik einschlägt, um zu dieser
Lösung fortzuschreiten, ist bekannt und bedarf keiner ausführ‑
lichen Darstellung. W i r erinnern uns n u r kurz der Hauptzüge
der Entwicklung, sofern durch sie das allgemeine Problem zu
schärferer und bestimmterer Fassung gelangt. Es ist zunächst
deutlich, dass es kein l o g i s c h e r Verstandesschluss ist, der uns
v o n der Kenntnis der Ursache zu der der W i r k u n g hinüberführt.
Denn alles syllogistische Schliessen r u h t völlig auf dem Satze der
I d e n t i t ä t : es bringt n u r dasjenige, was in den Vordersätzen voll‑
ständig enthalten war, zu bewusstem u n d gesondertem Ausdruck.
Keine Analyse aber vermag jemals den B e g r i f f einer einzelnen
konkreten W i r k u n g im Begriff ihrer Ursache zu entdecken und
aufzuweisen. Alle Sätze der Naturwissenschaft bestehen darin, an
einen bestimmten Komplex von Bedingungen einen v o n ihnen v e r ‑
schiedenen Erfolg zu knüpfen, der somit aus keiner blossen
Betrachtung des Vorstellungsmaterials und einer Umlagerung
seiner einzelnen Elemente eingesehen werden kann. Vom logischen
Standpunkt aus wäre die Verbindung jeder einzelnen Ursache
m i t jeder beliebigen Wirkung gleich berechtigt und zulässig:
n u r die E r f a h r u n g ist es, die u n s eine feste Schranke z u setzen
vermag. Der Zwang der empirischen Gewöhnung schafft jenen
262 Hume.

Zusammenhang, den keine Notwendigkeit des Denkens hervorzu‑


bringen und zu verbürgen vermag. ‑
Bis hierher bewegt sich Hume n u r in bekannten und ge‑
wohnten Gleisen: wäre dies der Kern und Inhalt seiner Lehre,
so wäre er in der Ta t an keinem Punkte über die antike Skepsis
hinausgelangt. Dass Ursache und Wirkung durch kein b e g r i f f ‑
l i c h e s Band geeint sind, dass vielmehr beide n u r durch die regel‑
mässige Verbindung, in welcher sie in der Erfahrung stehen,
einander in der Vorstellung associativ hervorzurufen vermögen,
dieser Gedanke w a r hier nicht n u r gelegentlich gestreift, sondern
zu einer vollständigen und in sich zusammenhängenden Theorie
entwickelt worden. A l l unser Wissen von einer angeblichen
Wirksamkeit beruht einzig u n d allein auf der Erinnerung daran,
welcher Vorgang m i t welchem anderen zusammen auftrat und
welcher von beiden voranging oder folgte. Erkenntnis gibt es
nicht vom Zusammenhang der Dinge, sondern der Zeichen: sie
bedeutet nichts anderes, als die Fähigkeit, verschiedene Eindrücke,
die häufig zusammen gegeben waren, im Gedächtnis aufzube‑
wahren und sie als Merkzeichen und Hinweis für einander zu
brauchen. ( p i n tüv roAAdxız gunrapatepndevrov.)®) An die Stelle
der begrifflichen Einsicht tritt die empirische E r w a r t u n g , die
indes für die Voraussicht des Künftigen und somit für alle
Ziele der praktischen Lebensführung völlig zureichend ist. An
diesem Punkte, an dem die Skepsis endet, aber beginut erst Humes
tieferes Problem. Wie lässt es sich begreifen, dass die E r w a r t u n g ,
die gänzlich auf subjektivem Grunde ruht, m i t dem Lauf, den die
Natur in ihren Erscheinungen befolgt, zusammenstimmt und
sich in i h m immer aufs neue bestätigt findet? „Wenn w i r unter‑
suchen, was die Natur aller unserer Schlüsse über Tatsachen ist,
so erkennen w i r, dass sie zuletzt sämtlich auf die Relation v o n
Ursache und Wirkung zurückgehen; w e n n w i r weiter forschen,
was uns die Kenntnis dieser Relation selbst verschafft, so mag
das eine Wo r t „Erfahrung“ als hinreichende Antwort erscheinen.
Lassen w i r indessen unserer Forschungslaune die Zügel schiessen
und fragen w i r : w a s i s t d e r G r u n d a l l e r u n s e r e r E r f a h ‑
r u n g s s c h l ü s s e , s o schliesst dies eine neue Frage ein, deren
Lösung und Aufhellung noch schwieriger sein mag.“
In der Ta t löst sich Hume hier von der gesamten Ver‑
Verhältnis zur antiken Skepsis. 268

gangenheit des Empirismus los und erfasst eine neue und ori‑
ginale Aufgabe. Die Erfahrung, die bisher als das Allheilmittel
galt, bei dem die Untersuchung sich beruhigte, ist jetzt zum u n ‑
auflöslichen P r o b l e m geworden. Ihre Geltung w i r d nicht länger
naiv vorausgesetzt, sondern sie bildet das eigentliche Rätsel. So
wenig wie in der logischen Schlussfolgerung, so wenig kann in
der Erfahrung die R e c h t f e r t i g u n g unserer kausalen Schlüsse
gesucht werden. Erfahrung kann Nichts begründen; ist es doch
vielmehr i h r eigener Grund, der in Frage steht. Es lässt sich
verstehen, dass w i r uns kraft der Erinnerung die vergangenen
Fälle, die u n s in der Wahrnehmung gegeben waren, v o n neuem
zurückrufen und sie registrierend beschreiben können; völlig u n ‑
begreiflich aber bleibt es, wie w i r von unseren bisherigen be‑
grenzten Einzelbeobachtungen aus das Ganze der k ü n f t i g e n Er‑
eignisse sollten übersehen und bestimmen können. Um hier
irgend einen notwendigen Zusammenhang aufzuweisen, müsste
irgend ein „Medium“, müsste ein Mittelbegriff aufgewiesen werden,
der sie m i t einander verbindet. Wie aber wäre dies möglich, da
beide Urteile sich auf völlig verschiedene Subjekte, da sie sich
auf räumlich und zeitlich g e t r e n n t e Erscheinungen beziehen?
Der blosse Begriff eines „Erfahrungsschlusses* (experimental in‑
ference) schliesst daher ‐ wie Hume unablässig betont ‐ eine
grobe petitio principii ein: er setzt eben das, was zu beweisen
wäre, als gültig voraus. Die Induktion verdankt alle „Beweis‑
kraft“, die m a n i h r zugestehen mag, einzig dem Postulat, dass
die Zukunft der Vergangenheit gleichen werde; sie enthält
nichts, was dieses Postulat selber zu stützen vermöchte. Kein
deduktiver oder induktiver Beweis vermag uns gegen die An‑
nahme zu schützen, dass alle „Naturen“ der Dinge, die w i r
empirisch festgestellt haben, v o n einem bestimmten Zeitpunkt
an eine Wandlung erfahren und somit alle unsere noch so
scheinbaren Vermutungen hinfällig werden könnten. „Die Praxis,
sagt Ihr, widerlegt meine Zweifel. Aber I h r verkennt den
Sinn meiner Frage. Als Handelnder fühle i c h mich in dem
Punkt vollkommen befriedigt; als P h i l o s o p h aber, der seinen
Te i l Wissbegierde, i c h w i l l nicht sagen Skeptizismus, besitzt,
wünsche i c h die Grundlage dieser Folgerung kennen zu lernen.
Keine Lektüre, kein Forschen ist jemals imstande gewesen, meinen
264 - Hume.

Skrupel zu beseitigen und mich in einer Frage v o n solcher Wich‑


tigkeit wahrhaft zufriedenzustellen. Kann i c h etwas besseres tun,
als die Schwierigkeit dem Publikum vorzulegen, selbst wenn i c h
vielleicht n u r geringe Hoffnung hege, eine Lösung zu erhalten?*®)
-Es ist keine bloss äusserliche skeptische Haltung, die sich
in diesen Sätzen kundgibt; sondern sie bezeichnen den Grundge‑
danken v o n Humes Lehre in seiner reifsten Gestalt. Nur dort,
wo Hume in seinem Zweifel v e r h a r r t , wo er jede Möglichkeit
einer Abschwächung oder Beschwichtigung seiner Argumente
v o n sich weist, vermag er seine neue Stellung in der Geschichte
des Erkenntnisproblems zu behaupten. Die positive und frucht‑
bare Substanz seines Denkens liegt einzig u n d allein in seiner
Skepsis; ‐ während er dort, wo er eine, wenngleich n u r bedingte
L ö s u n g seiner Bedenken versucht, alsbald wieder in die traditio‑
nelle Ansicht zurückfällt. Man hat seine Lehre häufig so gedeutet,
dass sie die demonstrative Gewissheit unserer kausalen Urteile be‑
streite und ihnen n u r den Rang blosser w a h r s c h e i n l i c h e r Ver‑
mutungen lasse; aber man verfehlt damit völlig ihren Sinn und ihre
Grundabsicht. Eine derartige, allerdings eingeschränkte, aber
immerhin logische Schätzung der Erfahrungsschlüsse mochte in
Lockes System ihre Stelle haben: für Hume würde sie das Fun‑
dament, auf dem seine Betrachtung ruht, zunichte machen. Um
ein Ereignis als „wahrscheinlich“ zu bezeichnen, müssen w i r uns
die einzelnen Bedingungen, v o n denen es abhängig ist, vergegen‑
wärtigen und sie m i t anderen Umständen, die einen andern
Erfolg bestimmen, in Gedanken zusammenhalten. W i r können
indessen augenscheinlich diesen Vergleich nicht vollziehen, noch
irgend einen Vo r r a n g eines Ereignisses v o r seinem Gegenteil
feststellen, wenn w i r nicht eine feststehende und g l e i c h ‑
b l e i b e n d e Ordnung des Geschehens schon zu Grunde legen:
Wenn wir etwa erwarten, dass die Ziffern, die sich auf den
Seitenflächen eines und desselben Wüäürfels befinden, bei einer
hinreichend grossen Anzahl v o n Würfen in annähernd gleicher
Häufigkeit herauskommen werden, so müssen w i r voraussetzen,
dass die Bedingungen, v o n denen der Fall des Würfels abhängt,
sich k o n s t a n t erhalten und nicht beliebige willkürliche und
unvorhergesehene Aenderungen in der A r t ihrer Wirksamkeit
erleiden. Die Behauptung der „Wahrscheinlichkeit* schliesst
D e r Begriff der „Wahrscheinlichkeit‘‘. 265

somit jene o b j e k t i v e Gewissheit ein, deren Recht und Mög‑


lichkeit Hume in Zweifel zieht. Wenn daher der „Treatise* an
diesem Punkte noch eine Unklarheit zurückgelassen hatte, so
weist der Enquiry, der sich allgemein durch eine wesentlich
schärfere Fassung des Ursachenproblems auszeichnet, auch diesen
letzten Versuch der Begründung des Causalaxioms ausdrücklich
ab. „Wenn es Argumente gäbe, die uns dazu veranlassen würden,
der vergangenen Erfahrung zu trauen und sie zur Richtschnur
f ü r unser Urteil über die Zukunft zu machen, so könnten diese
Argumente zweifellos n u r wahrscheinliche sein, da sie sich nicht
auf den logischen Zusammenhang der Ideen, sondern auf Tat‑
sachen und Existenz beziehen würden. Dass es aber keinen
Beweisgrund dieser A r t gibt, ist offenbar, sofern m a n n u r unsere
Erklärung dieser A r t v o n Schlussfolgerung festhält und zu Recht
bestehen lässt. W i r haben gesagt, dass alle Behauptungen über
Existenz sich auf die Relation von Ursache und Wirkung
gründen, dass unsere Kenntnis dieser Beziehung lediglich aus
der Erfahrung stammt und dass unsere Erfahrungsschlüsse auf
der Annahme beruhen, dass die Zukunft m i t der Vergangenheit
übereinstimmen werde. Den Beweis dieser letzteren Behauptung
m i t Wahrscheinlichkeitsgründen führen zu wollen hiesse also
augenscheinlich sich im Kreise bewegen und das für erwiesen
halten, was gerade in Frage steht.“?!) Dass die Sonne morgen
v o n neuem aufgehen wird: dies ist wahrscheinlich in dem Sinne,
dass es den psychologischen Schein der Wahrheit f ü r sich hat;
objektiv betrachtet aber spricht f ü r diese Annahme nicht: das
Geringste mehr, als f ü r die Behauptung des Gegenteils. ‑
So wird von Locke und Hume am Begriff und logischen
Wert der Erfahrung von entgegengesetzten Gesichtspunkten aus
K r i t i k geübt. Wenn Locke in der Erfahrung n u r eine einge‑
schränkte und unvollkommene Erkenntnisweise sieht, die niemals
z u m Range echter Wissenschaft erhoben werden kann, so ge‑
schieht es, weil sie, die für i h n n u r ein Beisammen und eine
Anhäufung vereinzeiter sinnlicher Wahrnehmungen ist, dem
Ideal strenger d e d u k t i v e r N o t w e n d i g k e i t nicht gewachsen ist.
(Vgl. ob. $S.189 ff.) F ü r Hume hingegen gilt die umgekehrte Be‑
urteilung: unser empirisches Weltbild kann keine Gewissheit
f ü r sich in Anspruch nehmen, weil es, statt bei den einzelnen
266 Hume.

„Impressionen“ zu verweilen, beständig über sie hinausgreift und


ihnen Annahmen hinzufügt, die sich durch keinen Eindruck
belegen lassen. Dennoch vermag Hume bei diesem Ergebnis,
das den notwendigen und folgerechten Abschluss seiner Unter‑
suchung bilden würde, nicht dauernd stehen zu bleiben. Seine
Skepsis richtet sich, wenn sie in ihre letzten Folgerungen ent‑
wickelt wird, nicht n u r gegen die Erfahrungserkenntnis, sondern
gegen das Grundaxiom seiner eigenen Philosophie. Gibt es kein
Mittel, dieses Axiom wenigstens indirekt aufrecht zu erhalten,
indem w i r i h m eine veränderte Deutung und Anwendung geben?
Dass die Sicherheit der wissenschaftlichen Physik uns entschwindet,
mag hingehen: aber eine „starke Leichtfertigkeit und Inkon‑
sequenz“ würde es bedeuten, wenn w i r das Prinzip aller psycho‑
logischen Erkenntnis aufgeben wollten, indem w i r von dem
Satze, dass jeder Idee ein gleichartiger Eindruck vorangehen
muss, eine Ausnahme duldeten. „Dieser Grundsatz ist bereits
so unbedingt sichergestellt, dass seine Anwendbarkeit auch
auf unseren Fall k e i n e m Z w e i f e l m e h r u n t e r l i e g e n kann.“®)
Hier also trifft Humes Skepsis auf festen Grund und Boden; sie
findet ihre Grenze an der Schwelle der Psychologie. Damit aber
wird das Problem, das zuvor in unerbittlicher Klarheit bloss‑
gelegt worden war, wiederum preisgegeben. Von n u n an verfällt
Hume demselben Zirkel, den er seinen metaphysischen und ra‑
tionalistischen Gegnern beständig vorgeworfen hatte. In der Tat:
welche A r t der Gewissheit ist es, die seinem obersten Prinzip
selber zukommt? Lässt es sich rein logisch nach dem Satze der
Identität erweisen; liegt es im blossen B e g r i f f der „Vorstellung“,
dass sie jederzeit notwendig m i t einer Impression zusammen‑
hängen muss? Zweifellos kann dies nicht die Meinung sein:
handelt es sich doch auch hier um zwei Inhalte, die ihrer
psychischen Qualität nach verschieden und ihrem zeitlichen
Auftreten nach g e t r e n n t sind. Somit kann der Satz keine
andere, als tatsächliche Wahrheit beanspruchen, kann er ledig‑
l i c h eine Ve r a l l g e m e i n e r u n g psychologischer Beobachtungen
aussprechen wollen. Damit aber würde Hume der Wissenschaft
v o n unserem geistigen Sein dasjenige zugestehen, was er der
Naturwissenschaft verwehrt. Die Frage richtete sich auf die
l o g i s c h e M ö g l i c h k e i t d e r I n d u k t i o n überhaupt: sie kann
Die Schranken der psychologischen Erklärung. 267

durch keine noch so umfassende tatsächliche Induktion, die in


einem Einzelgebiet geübt wird, zur Ruhe kommen. Die Kausa‑
‚ Jität wird von Hume auf die „Gewohnheit“ zurückgeführt; die
Gewohnheit selbst aber ist i h m ein „Prinzip“ und eine wirkende
K r a f t unserer geistigen Natur. So kehren denn jetzt überall in
der Beschreibung und Erklärung der p s y c h i s c h e n Erschei‑
nungen völlig unbefangen die Begriffe und Ausdrücke wieder,
deren reale Geltung und Anwendbarkeit Humes Erkenntniskritik
bezweifelt. Jede einzelne Beobachtung übt auf den Geist, je nach den
besonderen Verbindungen, in denen sie steht, einen verschieden‑
artigen E i n fl u s s aus; jede neue Wahrnehmung „strebt“ danach,
die Einbildungskraft in eine bestimmte Richtung zu zwingen.
E s gibt eine psychische D y n a m i k d e r Vo r s t e l l u n g e n : die Vo r ‑
stellungen rufen sich hervor oder verdrängen einander und be‑
stimmen sich gegenseitig in diesem Wechselspiel das Maass ihrer
Wirksamkeit.?) Man kann versuchen, alle diese Bezeichnungen
lediglich als B i l d e r des wahren Sachverhalts hinzustellen; immer
aber bliebe doch dies bestehen, dass im Ablauf des „inneren*
Geschehens eine bestimmte objektive Verknüpfung und Regel‑
mässigkeit herrscht, die von uns nicht willkürlich in dasselbe
hineingedeutet wird, sondern ihm an und für sich und seiner
eigenen „Natur“ nach zukommt.%)
Und diese relative Anerkennung, die der Kausalbegriff sich,
freilich zufolge einer Inkonsequenz, erringt, muss unvermerkt auch
die Beurteilung seiner Bedeutung f ü r die Erkenntnis der äusseren
Wirklichkeit beeinflussen. Immer deutlicher tritt nunmehr das
Bestreben heraus, die „unphilosophische“ A r t des Wahrschein‑
lichkeitsschlusses, gemäss der w i r v o n der Beobachtung weniger
und verstreuter Fälle sogleich zur Bildung allgemeiner Regeln
des Geschehens übergehen, von der bewussten philosophischen
und wissenschaftlichen M e t h o d i k zu scheiden, die überall das
Ganze der in Betracht kommenden Tatsachen ins Auge fasst
und die die „wesentlichen“ Bedingungen eines Ereignisses von
den unwesentlichen Umständen, die m i t i h m verbunden waren,
abzusondern sucht. F ü r das Denken der Menge ist es, damit der
Eintritt eines bestimmten Ereignisses erwartet werde, nicht er‑
forderlich, dass die Umstände, unter denen es zuerst beobachtet
wurde, sich völlig gleichartig wiederholen; es genügt, wenn sie
268 Hume.

n ü r irgend eine oberflächliche A e h n l i c h k e i t m i t den früher


gegebenen Bedingungen aufweisen. Die Wissenschaft indessen
begnügt sich nicht m i t derlei vagen Analogieschlüssen; ‘sondern
sie sucht, bevor sie ihren Ausspruch fällt, den komplexen F a l i
in seine einfachen Faktoren zu zerlegen und jeden einzelnen
Faktor wiederum n u r m i t den genau übereinstimmenden Inhalten
und: ihrer gewohnten „Wirkungsweise“ zu vergleichen.%) Dass
i h r indessen aus diesem Verfahren irgend ein s a c h l i c h e r
W e r t v o r z u g erwachsen sollte, ist aus Humes Prinzipien
nicht zu begreifen: enthält doch auch der Wiedereintritt völlig
identischer Bedingungen nicht die geringste o b j e k t i v e Gewähr
dafür, dass der Erfolg, der einmal an sie geknüpft war, sich
erneuern werde. Gleichviel daher, ob w i r uns zufällig und will‑
kürlich herausgegriffenen Einzeibeobachtungen überlassen oder
uns dem methodischen Gange der Wissenschaft anvertrauen: die
l o g i s c h e Charakteristik unserer Aussagen erfährt dadurch keine
Aenderung. Die Gemeinplätze der alltäglichen Erfahrung treten
mit den allgemeinen „Maximen“, zu denen die wissenschaftliche
Forschung uns hinleitet, in Widerspruch, ohne dass eine der
beiden Parteien eine alleingültige, beweisbare „Wahrheit“ für
sich in Anspruch nehmen könnte. Der skeptische Philosoph
geniesst das Schauspiel dieses Kampfes als unparteiischer Zu‑
schauer: „er mag sich freuen, hier einem neuen und bedeutsamen
Widerspruch in unserer Vernunft zu begegnen und zu sehen,
wie unsere Philosophie so leicht jetzt durch ein Prinzip der
menschlichen Natur umgestossen, dann wiederum durch eine
neue Anwendung eben desselben Prinzips gerettet wird. Wenn
w i r allgemeinen Regeln trauen, so leitet u n s hierin eine sehr
unphilosophische A r t v o n Wahrscheinlichkeitsschluss; und doch
können w i r n u r durch solche Schlüsse die hier in Rede stehenden
und alle anderen unphilosophischen Wahrscheinlichkeitsurteile
berichtigen.“
Wenn trotzdem, auch in Humes eigener Darstellung, die
wissenschaftliche Technik v o r der populären Beobachtung all‑
mählich den Vorrang gewinnt, so ist hierfür kein innerer logischer
Grund, sondern der praktische Erfolg bestimmend. Die Erfahrung
zeigt uns, dass unsere Voraussagen durch die wirklichen Ereig‑
nisse um so eher bestätigt wurden, als sie sich auf umfassendere
D e r Wertunterschied in den Erfahrungsurteilen. 269.

Kenntnis und schärfere Zergliederung v o n Tatsachen stützten;


und die Gewohnheit leitet uns an, diesen Zusammenhang auch
f ü r die Zukunft vorauszusetzen. So können nunmehr verschiedene
aufsteigende G r a d e d e r G e w i s s h e i t unterschieden, so kann ein.
Maassstab geschaffen werden, der es gestattet, zwischen wider‑
streitenden Aussagen der Einbildungskraft eine Entscheidung zu
treffen.@) Jetzt begnügen w i r uns nicht mehr damit, jedem
beliebigen Antrieb der Einbildungskraft willenlos zu folgen,
sondern w i r wägen all ihre mannigfachen Motive gegeneinander.
ab. W i r s u c h e n in den Erscheinungen eine grössere Konstanz
u n d Cohärenz, als die u n m i t t e l b a r e Wahrnehmung sie uns
darbietet und bemühen uns, sie, wo sie u n s nicht direkt gegeben
ist, durch Auffindung von Mittelgliedern künstlich h e r z u s t e l l e n .
W i e sehr Hume sich zuletzt dazu gedrängt sieht, diesen aktiven
u n d konstruktiven Teil unserer Erfahrungswissenschaft anzu-.
erkennen, dies geht m i t charakteristischer Deutlichkeit aus seinem
Kapitel „über die Wunder“ hervor. Ausdrücklich wird’ h i e r
davon ausgegangen, dass die Erfahrung, wenngleich sie unsere
einzige Führerin in allen Urteilen über Tatsachen ist, dennoch
nicht in allen Fällen gleich unfehlbar ist, sondern uns häufig
genug zu Irrtümern verleitet. W i r haben indessen kein Recht,
u n s über sie zu beklagen: ist sie es doch selbst, die uns über:
ihre eigene Unsicherheit belehrt, sofern sie uns entgegengesetzte
Instanzen vorführt und u n s dadurch Gelegenheit gibt, unser.
Urteil zu prüfen und zu berichtigen. „Nicht alle W i r k u n g e n
folgen m i t gleicher Sicherheit aus ihren angeblichen Ursachen.
Vo n bestimmten Vorgängen hat es sich gezeigt, dass sie, in allen
Ländern und zu allen Zeiten, beständig m i t einander verbunden.
sind; während andere eine losere und schwankendere Verknüpfung
zeigen und daher bisweilen unsere Erwartungen täuschen, so
dass e s i n unseren Urteilen über Tatsachen a l l e e r d e n k l i c h e n
Grade d e r S i c h e r h e i t , v o n der höchsten Gewissheit bis z u r
niedrigsten Art der Wahrscheinlichkeit (moral evidence) gibt.“”?)
Die Widerlegung der Wunder erfolgt durch den Nachweis, dass.
ihre Ueberzeugungskraft über diese letzte, unterste Stufe niemals
hinauswachsen kann, denn auf welche Autoritäten und Zeugnisse
sie sich stützen mögen, so widerspricht doch, was sie berichten,
so sehr dem konstanten Laufe der Dinge, den eine feste u n d
270 Hume.

u n a b ä n d e r l i c h e E r f a h r u n g uns kennen gelehrt hat, dass alle


Einzelbeweise, gegenüber der Gesamtmasse der Tatsachen und
Beobachtungen, die hier verkörpert sind, verstummen müssen.
M i t dieser Argumentation hat Hume indessen das Gebiet, auf
dem seine sonstige Untersuchung sich bewegt, bereits verlassen.
Wenn ‐ wie er unablässig betont ‐ die „Objektivität“, die w i r
bestimmten Tatsachen und ibrer Verknüpfung zusprechen, nie‑
mals logisch zu begründen ist, sondern lediglich auf der E n e r g i e
u n d L e b h a f t i g k e i t beruht, m i t der der Geist sich getrieben
fühlt, diese Inhalte in der Vorstellung zu verwirklichen: so haben
alle Motive, die imstande sind, diese Energie des Vorstellens zu
steigern, prinzipiell die gleiche Bedeutung für unser Urteil über
die Realität. „Nicht allein in Poesie und Musik müssen w i r
unserem Geschmack und G e f ü h l folgen, sondern auch in der
Philosophie. Wenn ich von irgend einem Satz überzeugt bin,
so heisst dies n u r , dass eine Vorstellung stärker auf mich ein‑
w i r k t ; wenn ich einer Beweisführung den Vorzug vor einer
andern gebe, so besteht, was ich tue, einzig darin, dass ich mein
G e f ü h l befrage und nach ihm darüber entscheide, welche Beweis‑
führung in ihrer Wirkung auf mich der andern überlegen ist.“2&)
Die Lebhaftigkeit des Vorstellens ruft nicht bloss den Glauben an
die Realität des vorgestellten Inhalts hervor, sondern dieser Glaube
i s t seinem ganzen Wesen nach nichts anderes, als eben dieser
innere Zwang und Trieb der Einbildungskraft%2) Warum sollte
aber dieser Trieb lediglich v o n der Quantität übereinstimmender
Beobachtungen abhängig sein, statt zugleich durch die eigen‑
tümliche B e s c h a ff e n h e i t der Vorstellungen -und durch die
Umstände, unter denen sie uns dargeboten werden, bestimmt zu
werden? Der Bericht über ein Wunder mag daher noch so sehr
bekannten Tatsachen widerstreiten: wenn er die Imagination
anregt und zu energischer Tätigkeit aufruft, wenn er das Bewusst‑
sein völlig ausfüllt und in Anspruch nimmt, so haben wir, nach
Humes eigenen psychologischen Kriterien, kein Mittel mehr, i h m
die Glaubwürdigkeit zu versagen. Denn n u r um das, was ge‑
schieht, nicht um das, was berechtigterweise geschehen sollte,
kann es sich handeln. Weist die „menschliche Natur“ einen
ebenso konstanten Hang z u m Wunderbaren und zur Ausnahme
auf, wie sie ihn andererseits für das Gewohnte und Bekannte
D e r Begriff des Wunders. 271

zeigt, so haben wir, auf dem Standpunkt der beobachtenden und


zergliedernden Psychologie, auf dem w i r hier stehen, diese Ta t ‑
sache schlechthin anzuerkennen und hinzunehmen. Ueber den
künftigen o b j e k t i v e n Verlauf des Geschehens aber ist beiden
Tendenzen die Entscheidung versagt. Wenn Hume diese rück‑
sichtslose Konsequenz seiner Grundansicht zuletzt dennoch abzu‑
schwächen sucht, so treten die Motive hierfür jetzt deutlich
hervor. Was das Interesse der abstrakten Wissenschaft nicht
vermochte, das vermag über ihn das Interesse der religiösen und
moralischen A u f k l ä r u n g . Die Ziele dieser Aufklärung sind n u r
zu erreichen, wenn an dem Grundsatz der durchgängigen Be‑
stimmtheit und Gesetzlichkeit des Naturgeschehens in aller
Strenge festgehalten wird. So ergibt sich jetzt eine eigentümliche
Divergenz der tbeoretischen Ueberzeugung und der praktisch
sittlichen Forderungen. Es entsteht eine Mittelstellung der Er‑
kenntnis: wenngleich wir niemals m i t Sicherheit wissen können,
ob die wirklichen Erscheinungen uns künftig in fester gesetzlicher
Fügung oder als blosses Chaos gegeben sein werden, so müssen
w i r doch unser Denken und Handeln so gestalten, als ob das
Erstere der Fall wäre; als ob die methodische Erforschung der
Natur uns im Gegensatz zur populären Auffassung auch einer
höheren „Wahrheit“ der Dinge versicherte. Indem der Geist
dieser Weisung folgt, reiht er die einzelnen Eindrücke, die sich
i h m darbieten, nicht lediglich nebeneinander, sondern sucht sie
in einer Weise zu verknüpfen, dass sich daraus die grösstmögliche
Einheit und Regelmässigkeit des Geschehens ergibt. ‑
Ueberblicken w i r nunmehr das Ergebnis der kritischen
Analyse des Kausalbegriffs und stellen w i r es der K r i t i k , die
H u m e an der Mathematik geübt hatte, gegenüber, so tritt der
Fortschritt in der philosophischen Fragestellung deutlich hervor.
Hier wie dort hat sich die Eigentümlichkeit des Bewusstseins
gezeigt, bei dem Stoff der unmittelbar gegebenen Perceptionen
nicht stehen zu bleiben, sondern über i h n hinauszufragen, ‑
h i e r wie dort w i r d die Geltung und das objektive Recht dieses
Triebes bestritten. Aber der Ausgleich, der im Gebiet der
Mathematik noch möglich schien, ist uns nunmehr versagt.
Gegenüber der „Transzendenz“, deren sich das mathematische
Denken schuldig macht, mochte der Hinweis auf das naive Bild
272 Hume.

der Wirklichkeit genügen. Es konnte die Forderung gestellt


werden, auf die geometrischen Ideale zu v e r z i c h t e n und sich
lediglich. im Kreise des Sinnlich-Wahrnehmbaren zu halten;
es konnte versucht werden, eine neue Mathematik zu ersinnen,
die die Vorstellungsinhalte, statt sie durch abstrakte Deutungen
zu verfälschen, in ihrer konkreten Wahrheit ergreif. An dem
Punkte dagegen, an dem w i r jetzt stehen, ist eine derartige U m ‑
kehr unmöglich. So wenig w i r das kausale Schliessen wahrhaft
begründen können, so wenig können w i r uns seiner begeben:
geht es doch als ein Faktor in unsere empirische A n s c h a u u n g
der Dinge selbst ein und verschmilzt m i t ihnen zu einer u n ‑
trennbaren Einheit. Dem Denken schien innerhalb der reinen
Mathematik eine rein negative Leisting zuzukommen: seine
Kraft bestand darin, dass es über die Einzelbestimmungen der
individuellen Vorstellung hinwegsah und sie unbeachtet liess.
Hier dagegen handelt es sich nicht um eine derartige Verarmung,
sondern um eine, wenngleich unbegreifliche, Bereicherung des
Wahrnehmungsinhalts: nicht ein Akt der Abstraktion,
sondern der K o n s t r u k t i o n ist es, der i n Frage steht. Gleich‑
viel woher dieser rätselhafte Zuwachs stammt, den die blossen
Empfindungsdaten durch den Gedanken der notwendigen
Ve r k n ü p f u n g erfahren: die Meinung, dass e r selbst sich auf
eine einzelne „Impression“ zurückführen lasse, ist nunmehr end‑
gültig überwunden. Das Korrelat, das die psychologische Analyse
f ü r i h n zu entdecken vermag, besteht nicht in einem besonderen
sinnlichen Bilde, sondern in einer konstanten und regelmässigen
F u n k t i o n der Einbildungskraft. Ist diese Funktion lediglich
in der G e w o h n h e i t gegründet; ‐ vermag sie n u r Verknüpfungen,
die in der Erfahrung gegeben waren, einfach zu wiederholen
oder wohnt ihr, darüber hinaus, eine eigene schöpferische Be‑
deutung inne? Die Antwort auf diese Frage bildet die Grenz‑
scheide zwische H u m e s und K a n t s Philosophie; aber es lässt
sich zeigen, dass das Problem selbst wenigstens an e i n e r Stelle
noch in den Gesichtskreis von Humes Erkenntnislehre getreten
ist, die damit einen neuen charakteristischen Zug gewinnt.
Der Begriff der Existens. 278

HI.
D e r B e g r i f f d e r Existenz.
Der Begriff der Ursache wurzelt, wenn w i r i h n psycho‑
logisch betrachten und erklären, in einer Nötigung unseres Vor‑
stellens; aber er geht, wenn wir lediglich seinen Gehalt und seine
eigene Meinung ins Auge fassen, über das Gebiet der Vorstellungs‑
inbalte beständig hinaus. W i r behaupten eine notwendige
kausale Verknüpfung nicht sowohl zwischen unseren Empfin‑
dungen, als zwischen den realen Dingen, die w i r unsern wech‑
selnden Wahrnehmungen als dauernde reale Existenzen gegen‑
überstellen. Welches Recht immer dieser Behauptung zukommen
mag: w i r müssen sie zu verstehen und in sich selber aufzuklären
suchen, sofern wir uns auch n u r den tatsächlichen Befund, den
unser Bewusstsein uns darbietet, ganz zu eigen machen wollen.
Die Kritik des S u b s t a n z b e g r i ff s ist v o n der des Kausalbe‑
g r i f f s nicht zu scheiden: beide vereint vermögen erst das Gebiet
der Erkenntnis und des empirischen Seins zu begrenzen.
W i r beginnen hier m i t der gleichen n e g a t i v e n Feststellung,
m i t der die Erörterung des Kausalproblems abschloss: der Be‑
griff des „Seins“ ist uns ebensowenig wie der der Ursache durch
eine einzelne Perzeption bekannt oder gegeben. Dass dieser oder
jener Inhalt „existiert“, dies bedeutet kein vorstellbares M e r k ‑
m a l , das er, neben anderen Bestimmungen, an sich trüge. Die
„Wirklichkeit“, die w i r i h m zusprechen, ist keine besondere
ablösbare Eigenschaft, die an i h m etwa in derselben Weise, wie
die Farbe am farbigen Körper haftet; vielmehr besagt das „Da‑
s e i n “ eines Objekts nichts anderes, als den I n b e g r i f f aller seiner
erscheinenden Merkmale selbst. „ A n etwas einfach denken
und es als existierend denken, dies sind nicht zwei verschiedene
Dinge. Die Vorstellung der Existenz fügt, wenn sie m i t der Vo r ‑
stellung eines beliebigen Gegenstandes verbunden ist, nichts zu
i h r h i p z u . Was immer w i r vorstellen, stellen w i r als existierend
vor. Jede Vorstellung, die es uns beliebt zu vollziehen, ist die
Vorstellung von etwas Seiendem; u n d die Vorstellung v o n etwas
Seiendem ist nichts anderes, als eben eine beliebige v o n uns voll‑
zogene Vorstellung. W e r dies bestreitet, der müsste notwendig
die bestimmte I m p r e s s i o n aufzeigen können, v o n der die Idee
18
274 Hume.

des Seins sich ableitet, und den Nachweis führen, dass diese I m ‑
pression v o n allem, was w i r als existierend betrachten, untrennbar
ist; dies aber ist, wie wir unbedenklich behaupten dürfen, völlig
unmöglich.*%)
Der metaphysische Gedanke einer doppelten Wirklich‑
keit der Dinge: eines Seins, das sie in unserem Bewusstsein und
eines anderen, das sie ausserhalb jeglicher Beziehung zu i h m be‑
sitzen, ist daher von Anfang an zu verwerfen. Berkeleys idea‑
listischer Hauptsatz bedarf keiner weiteren Begründung mehr; er
bildet fortan die selbstverständliche Grundlage jeglicher Analyse
des Erkenntnisprozesses. Die Skepsis Humes steht somit gc‑
schichtlich auf einem völlig neuen Boden. Wenn sonst der
Zweifel an der „Realität“ unserer Erkenntnis aus einem dogma‑
tischen Grundmotiv entsprang; wenn er darauf beruhte, dass die
Vorstellungen in uns an absoluten Originalen gemessen wurden,
die sie abbilden sollten: so ist diese Anschauung von Hume klar
und sicher beseitigt. Der Widerspruch, den er aufdeckt, geht
tiefer und ist schwerer zu beheben, eben weil er ganz innerhalb
des Gebietes der Erkenntnis verbleibt; weil er in dem Gegensatz
zwischen den notwendigen Forderungen und den möglichen
Leistungen des Wissens selber wurzelt. Der Gedanke dagegen,
dass unsere Ideen ihren dinglichen Urbildern niemals gleichzu‑
kommen vermögen, braucht uns nicht länger zu bekümmern,
da er lediglich auf einer fiktiven Spaltung des Seins beruht. Die
„Erscheinung“ der empirischen Dinge gibt u n s zugleich i h r letztes
und höchstes Sein. „Da alle Vorgänge und alle sinnlichen Wa h r ‑
nehmungen u n s n u r durch das Bewusstsein bekannt sind, so
müssen sie notwendig in jeder H i n s i c h t als das erscheinen,
was sie sind und das sein, als was sie erscheinen. Alles was ins
Bewusstsein tritt, ist i n W i r k l i c h k e i t nichts als eine Perzeption;
es kann daher unmöglich als etwas anderes von uns e r l e b t
werden: wenn w i r nicht annehmen wollen, dass w i r u n s auch in
dem, dessen w i r u n s am unmittelbarsten bewusst sind, täuschen
können.“3!) Insbesondere muss es nunmehr klar sein, dass kein
Schluss v o n der Wirkung a u f die Ursache uns jemals aus dem
Bereich des Bewusstseins herausführen kann: bedeutet doch die
kausale Verknüpfung selbst nichts anderes, als einen Zusammen‑
hang, der zwischen verschiedenen Perzeptionen besteht, nie aber
Bewusstsein und Wirklichkeit. 275

einen solchen zwischen Perzeptionen und Gegenständen ®) Die


Wahrnehmung sowohl, wie die vernünftige Schlussfolgerung bleibt
ihrem Gehalt und ihrer gesamten Leistung nach im „Universum
der Einbildungskraft‘“‘ beschlossen.®%)
Das eigentliche kritische Grundproblem aber ist m i t dieser
Einsicht nicht erledigt,ja noch nicht einmal in Angriff genommen.
Wenn w i r die Illusion der „absoluten“ Gegenstände durchschauen,
so sind w i r damit doch der Frage nicht überhoben, auf welche
A r t der Begriff des e m p i r i s c h e n Gegenstands zustande kommt.
Wenn w i r jeden Gedanken an ein Sein „hinter“ den Erscheinungen
abweisen, so tritt damit n u r um so deutlicher die Forderung v o r
u n s hin, zu erklären, wie w i r, in der Betrachtung der Phänomene
selbst, dazu gelangen, von einem „Sein“ und einer F o r t d a u e r
des Objekts ü b e r den A k t der unmittelbaren sinnlichen
Wa h r n e h m u n g hinaus z u sprechen. Was uns wirklich
gegeben ist, sind Komplexe von Empfindungsqualitäten, die sich
vielfach kreuzen und verdrängen, die jetzt aus unserm Bewusst‑
sein schwinden, um nach einer gewissen Zeit wieder aufzutauchen.
Was veranlasst uns, diesen momentanen Bildern einen Zu‑
sammenhang zuzuschreiben, den sie für die direkte Wahrnehmung
jedenfalls nicht besitzen, was berechtigt und was zwingt uns, sie
die uns doch stets n u r in lückenhafter und unstetiger Folge
gegeben sind, zu einem kontinuierlichen Ganzen zusammen‑
zufassen und ihnen ein und denselben „Gegenstand“ entsprechen
zu lassen? Fragen dieser Art sind nicht neu, sondern hatten
seit Descartes’ kritischer Analyse des Dingbegriffs die moderne
Philosophie dauernd beschäftigt. Humes Verdienst ist somit
nicht die Entdeckung des Problems, wohl aber seine scharfe und
bewusste Herauslösung aus den metaphysischen Zusammenhängen,
in die es bisher gestellt w a r. Was w i r darunter verstehen, wenn
w i r den Objekten ein losgelöstes Sein „ausserhalb“ des Bewusst‑
seins zusprechen: dies w i r d sich, wie er hervorhebt, erst dann
wahrhaft beantworten lassen, wenn z u v o r eingesehen ist, was
die zeitliche K o n s t a n z bedeutet, die w i r ihnen beizulegen
pflegen. Das Substanzproblem wird gleichsam aus der Sprache
des Raumes in die der Zeit übertragen: nicht eine, irgendwie
örtlich zu verstehende „Transzendenz“ der Dinge, sondern ihre
empirische B e h a r r l i c h k e i t bildet die eigentliche erkenntnis‑
18*
276 Hume.

theoretische Grundfrage.%) Sie w a r bereits bei Berkeley auf‑


getaucht, um jedoch sogleich durch die Berufung auf den
Gottesbegriff erledigt zu werden: w i r haben trotz aller Unter‑
brechung, die unsere Wahrnehmungen erfahren, das Recht, von
bleibenden identischen Gegenständen zu sprechen, weil die Perzep‑
tionen, die f ü r das einzelne individuelle Subjekt entschwinden,
im göttlichen Bewusstsein ihren Fortbestand behaupten.®) Jetzt
indessen, nachdem dieser letzte Hort und Bürge der Objektivität
geschwunden ist, stehen w i r v o r einer völlig neuen Aufgabe.
Der Gedanke der dauernden Existenz der Gegenstände kann, wie
w i r sahen, nicht den Sinnen entstammen, da deren Aussage sich
immer n u r auf den augenblicklichen Zustand des Subjekts er‑
strecken, nicht aber in eine zeitliche Ferne übergreifen kann.
Noch weniger aber können w i r diesen Gedanken als ein Produkt
der vernünftigen Schlussfolgerung begreifen: ist doch alles
logische Schliessen, wie Hume immer von neuem einschärft,
lediglich auf den Satz der Identität gestellt, während es sich hier,
wie bei der Behauptung über die ursächliche Verknüpfung,
darum handelt, zu einem von dem Inhalt der gegebenen Perzep‑
tionen verschiedenen Sein hinauszugehen. So führt denn auch
‘ d i e rein logische Erwägung nicht sowohl zu einer Begründung,
wie zu einer Bestreitung der Setzungen, die das gewöhnliche
Bewusstsein hier naiv u n d unbekümmert vollzieht. „Die Annahmen
der Menge und die Forderungen, die sich aus der Philosophie
ergeben, sind an diesem Punkie einander direkt entgegengesetzt.
Die Philosophie lehrt uns, dass alles, was sich dem Geist darstellt,
lediglich eine Perzeption, also in seinem Dasein unterbrochen
und vom Geist abhängig ist, während die Menge Wahrnehmungen
und Gegenstände zusammenwirft und eben den Dingen, die e m ‑
pfunden oder gesehen werden, eine gesonderte dauernde Existenz
beilegt. Dadiese Anschauung v o l l k o m m e n unvernünftig i s t ,
so muss sie aus einem anderen Vermögen, als dem Verstande
stammen.“ Und w i r brauchen nach dem Ergebnis der Analyse
des Kausalbegriffs nach diesem Vermögen nicht weiter zu suchen:
e s ist die E i n b i l d u n g s k r a f t , die i n derselben Weise, wie sie
den Glauben an die objektiv notwendige Verknüpfung der E r ‑
scheinungen in u n s hervorruft, auch die Illusion der konstanten
Gegenstände in u n s erweckt und in Wirksamkeit erhält.
D i e Konstans der Wahrnehmungsinhalte. 277

In der Ausführung, die Hume diesem Gedanken gibt, gilt


es wiederum zweierlei zu unterscheiden. W i r müssen die Auf‑
deckung und Zergliederung des psychologischen Tatbestandes
v o n der E r k l ä r u n g , die Hume für i h n versucht, völlig absondern.
So unzureichend die leiztere Leistung bleibt, so sehr hat sich
die erstere für den Fortschritt der Probleme fruchtbar erwiesen.
Welche inhaltliche Bestimmtbeit, welche phänomenologische
Beschaffenheit ist es, die w i r meinen, wenn w i r unseren Ideen
ein „objektives* Sein zusprechen? Es genügt ‐ wie nunmehr
im Gegensatz zu früheren Ausführungen klar hervorgehoben
wird ‐ keineswegs, wenn m a n hier auf ihre besondere Stärke
und Lebbhaftigkeit und auf die Unwillkürlichkeit, m i t der sie sich
unserem Bewusstsein aufdrängen, verweist, kommen doch alle
diese Eigenschaften in nicht geringerem Maasse unseren Lust‑
und Unlustgefühlen, unseren Affekten und Leidenschaften zu,
die w i r doch niemals aus dem Umkreis des eigenen I c h heraus‑
zuversetzen versucht sind. Es müssen somit Merkmale sein, die
den sachlichen Inhalt und die Verknüpfung der Vorstellungen
selbst, nicht aber die blosse Reaktion des empfindenden Subjekts
angehen, welche uns dazu veranlassen, bestimmten Gruppen und
Folgen von Erscheinungen jene eigenartige „Realität“ zuzuer‑
kennen. Nun scheint eszunächst, als ob die blosse Konstanz der
Eindrücke ihnen diesen Wert und Anspruch verieihen könnte.
„Jene Berge, Häuser, Bäume, die sich jetzt eben meinen Blicken
zeigen, sind m i r stets in derselben Ordnung entgegengetreten,
u n d wenn ich die Augen schliesse oder den Kopf wende und sie
dadurch aus dem Gesicht verliere, so sehe i c h sie doch gleich
darauf ohne die geringste Veränderung von neuem vor m i r. Mein
Bett, mein Tisch, meine Bücher und Papiere zeigen dieselbe
Gleichförmigkeit des Daseins; sie ändern sich nicht, wenn die
Tätigkeit des Sehens oder Wahrnehmens eine Unterbrechung er‑
leidet. Und dies ist bei allen Eindrücken der Fall, deren Objekte
i c h als ausser m i r existierend betrachte, es ist bei allen anderen
Eindrücken, mögen sie n u n geringe oder grosse Aufdringlichkeit
besitzen, willkürlich oder unwillkürlich sein, nicht der Fall.“
Aber auch dieses erste Merkmal ist offenbar für sich allein unzu‑
reichend; denn wäre es entscheidend und ausschlaggebend, so
würde die Realität eines Eindrucks an seine Unwandelbarkeit ge‑
278 Hume.

bunden sein, so wäre m i t anderen Worten keine objektive Fest‑


stellung von Veränderungen möglich. Gerade hier aber liegt der
eigentliche Schwerpunkt des Problems: Erscheinungen heissen
„wirklich“, wenn sie ‐ welchen Wechsel ihrer Beschaffenheiten
und ihrer gegenseitigen Beziehungen sie immer erleiden mögen
‐ doch niemals völlig unvermittelte und sprunghafte Aenderungen
erfahren, sondern in all ihren einzelnen Phasen einen bestimmten
und geregelten Uebergang aufweisen. Diese K o h ä r e n z der Ein‑
drücke, dieses e i n h e i t l i c h e Gesetz, das sie i n ihrer Abwandlung
befolgen, ist es erst, was uns von einem stetigen und lückenlosen
„Sein“ sprechen lässt. Damit w i r den Inhalt einer Perzeption
über eine bestimmte Zeitstrecke ausbreiten, müssen w i r i h n
gleichsam m i t dem geistigen Blick verfolgen können; hierzu aber
ist nicht erforderlich, dass völlig gleichartige Empfindungen sich
aneinander reihen, sondern n u r, dass die verschiedenen Momente
durch die Abhängigkeit, die zwischen ihnen bestelhıt, zu einer
ideellen Einheit zusammengefasst sind. ‑
Jetzt erst, nachdem der Sinn des Problems in dieser Weise
geklärt ist, kann die psychologische Lösung einsetzen. Die dauernde
Existenz hat sich uns in die Gesetzmässigkeit eines Prozesses
aufgelöst; der Grund und Ursprung dieses Prozesses selbst aber
kann nirgend anders als im Bewusstsein gesucht werden. Wiederum
ist e s die E i n b i l d u n g s k r a f t , die dadurch, dass sie den ein‑
zelnen Eindrücken folgt und, auf Grund der A e h n l i c h k e i t
zwischen ihnen, v o m einen z u m andern ü b e r g e h t , ein geistiges
Band zwischen ihnen schafft, das sodann v o n uns fälschlich als
ein substantielles Band in den Dingen selber gedeutet wird. W i r
reden von einem identischen Objekt, wo in Wahrheit n u r zeitlich
getrennte, jedoch durch assoziative Beziehungen verknüpfte
Gruppen von Vorstellungen vorhanden sind. „Wenn die Ein‑
bildungskraft leicht an den Vorstellungen der verschiedenen und
unterbrochenen Wahrnehmungen hingleitet oder leicht v o n der
einen z u r anderen fortschreitet, so schliesst dies fast dieselbe
Tätigkeitsweise des Geistes in sich, wie sie stattfindet, wenn w i r
einer gleichmässigen und ununterbrochenenWahrnehmung folgen.
E s i s t uns daher die Ve r w e c h s l u n g des einen und des andern
Tatbestandes eine sehr natürliche Sache.“ So ist es zuletzt ein
und derselbe Trugschluss, der u n s z u r Annahme eines realen
D i e Ueberuindung des „Gewohnheitsprinzißs“. 279

dauernden Seins, wie zur Seizung einer objektiv notwendigen


Verknüpfung der Dinge verleitet. Und dennoch gewinnt Humes
allgemeiner Gedanke hier, wenn m a n ihn schärfer ins Auge fasst,
eine neue Nuance. Wenn der Kausalschluss über den Bereich
des Gegebenen hinausging, so beschränkte sich doch seine Leistung
darauf, eine Verknüpfung, die die vergangene Erfahrung u n s
kennen gelehrt hatte, auf das zukünftige Geschehen zu übertragen.
Er stiftete somit im Grunde keinen neuen Inhalt, sondern ver‑
folgte n u r einen empirisch bekannten Tatbestand über das Ge‑
biet hinaus, auf dem er der Wahrnehmung zuerst entgegentrat.
Jetzt dagegen handelt es sich um einen weitaus schwierigeren
und fragwürdigeren Prozess. Indem die Einbildungskraft, allen
Lücken der aktuellen Wahrnehmung z u m Trotz, die einheitliche
Fortdauer des Gegenstandes behauptet, sagt sie damit einen Zu‑
sammenhang aus, der prinzipiell alle Grenzen der sinnlichen
Beobachtung überschreitet. Sie setzt den Bestand von Inhalten
dort voraus, wo er empirisch niemals erweisbar isl; sie erschafft
. an den Stellen, die die direkte Empfindung leer lässt, eigene
Gebilde, die ihrerseits den wahrgenommenen Tatsachen erst Halt
und Zusammenhang geben. Hier stehen wir also nicht mehr
vor einer blossen Wiederholung, sondern vor einer echten
Schöpfung; nicht vor einer gewohnheitsmässigen Reproduktion,
sondern ‐ so paradox dies auch sein mag ‐ vor einer Produktion
von Inhalten. Und es ist Hume selbst, der diesen Unterschied
nunmehr energisch hervorhebt. Der Schluss auf die Stetigkeit
und Kohärenz der Erscheinungen ist, wie sich bei näherer Be‑
trachtung ergibt, von allen Folgerungen, die w i r auf Grund des
Kausalbegriffs ziehen, wesentlich verschieden: w i l l man auch i h n
ausderGewohnheitableiten,so kann dies doch n u r in mittelbarer
und uneigentlicher Weise (in an indirect and oblique m a n n e r )
geschehen. „Denn es w i r d ohne weiteres zugegeben werden, dass, da
dem Geiste doch nichts anderes, als seine eigenen Perzeptionen
gegenwärtig ist, eine Gewohnheit sich n u r auf Grund der regel‑
mässigen Verknüpfung eben dieser Perzeptionen bilden kann,
und dass sie demnach auch ü b e r d e n G r a d d i e s e r Regel‑
m ä s s i g k e i t n i e m a l s h i n a u s g e h e n k a n n . E i n bestimmter
Grad der Regelmässigkeit in unseren Wahrnehmungen kann
daher f ü r u n s niemals der Grund sein, auf einen h ö h e r e n Grad
280 Hume.

v o n Regelmässigkeit in anderen Objekten, die sich unserer Wahr‑


nehmung entziehen, zu schliessen. Dies schliesst vielmehr einen
Widerspruch ein: nämlich eine Gewohnheit, die auf Grund von
etwas, was dem Geiste niemals gegenwärtig war, entstanden wäre.
Nun wollen wir.aber offenbar, wenn w i r aus der Kohärenz der
Sinnesobjekte oder der Häufigkeit ihrer Verbindung auf ihre
dauernde Existenz schliessen, diesen Gegenständen eben damit
e i n e grössere R e g e l m ä s s i g k e i t s i c h e r n , a l s w i r i n u n s e ‑
r e n W a h r n e h m u n g e n beobachtet haben. W i r mögen uns
in einem gegebenen Falle davon überzeugt haben, dass zwei
A r t e n v o n Gegenständen, jedesmal wenn sie den Sinnen erschie‑
nen, m i t einander verbunden waren; eine v o l l k o m m e n e Kon‑
stanz dieser Verbindung aber konnten w i r unmöglich beobachten.
Es genügt ja schon eine blosse Wendung des Kopfes oder die
Schliessung der Augen, um diese Konstanz aufzuheben. Gerade
in diesem Falle aber nebmen wir ja an, dass jene Gegenstände,
trotz der anscheinenden Unterbrechung, in ihrer gewöhnlichen
Verbindung beharren und schliessen demnach, dass die Erschei‑
nungen, die sich uns als etwas Regelloses darbieten, dennoch
durch etwas an einander geknüpft seien, das für uns n u r nicht
wahrnehmbar ist. Nun beruhen zwar alle unsere Schlüsse über
Tatsachen einzig auf der Gewohnheit, die ihrerseits wieder n u r
die Wirkung wiederholter Wahrnehmungen sein kann: die A u s ‑
d e h n u n g der Gewohnheit aber über das Gebiet der Wahrneh‑
mung hinaus kann niemals die direkte und natürliche Wirkung
der konstanten Wiederholung u n d Verbindung sein, sondern muss
auf der Mitwirkung anderer Faktoren beruhen.“ 8)
Diese Faktoren aber haben w i r ‐ wie wiederum Hume
selber hervorhebt ‐ bereits kennen gelernt. In der Analyse der
mathematischen Erkenntnis zeigte es sich uns, dass die Gebilde,
von denen hier die Rede ist, niemals der einfache Ausdruck be‑
stimmter Empfindungen sind, sondern dass in ihnen der Inhalt,
den die Wahrnehmung bietet, nach einer bestimmten Richtung
h i n umgebildet und weitergeführt ist. A u f Grund einer unvoll‑
kommenen Gleichheit, die u n s in den sinnlichen Dingen begegnet,
sehen w i r u n s dazu gedrängt, einen vollkommenen und absolut
genauen Maasstab der Vergleichung zu ersinnen, bei dem auch
der geringste I r r t u m und die geringste Wandlung ausgeschlossen
Die idealisierende Leistung der Einbildungskraft. 281

sein soll. Genau der gleiche Fall liegt hier v o r. „Gegenstände


zeigen schon, soweit sie den Sinnen erscheinen, einen gewissen
Zusammenhang, der aber weit fester und gleichförmiger wird,
sobald w i r voraussetzen, dass sie eine kontinuierliche Existenz
besitzen. Da n u n der Geist einmal im Z u g e i s t , eine Gleich‑
förmigkeit in den Objekten zu beobachten, so ist es i h m natür‑
l i c h , damit fortzufahren, bis er diese Gleichförmigkeit in eine
möglichst vollkommene verwandelt hat.“®) M i t diesen Betrach‑
tungen steht Hume an der Schwelle eines Problems von grund‑
legender erkenntniskritischer Bedeutung, Neben dem Substanz‑
begriff und dem Kausalbegriff tritt jeizt der G r e n z b e g r i f f , wenn‑
gleich n u r in unbestimmter und bildlicher Fassung, hervor. Was
w i r die „Wirklichkeit“ der Dinge nennen, das ist nicht lediglich
der ruhende Ausdruck der „Perzeptionen* in unserem Geiste, das
ist nicht die blosse Uebersetzung des gegebenen Empfindungs‑
inhalts in eine andere Sphäre des Seins, sondern es kann erst
d u r c h e i n e n f o r t s c h r e i t e n d e n Prozess d e r I d e a l i s i e r u n g
aus dem, was Beobachtung und Erfahrung uns bieten, gewonnen
und erarbeitet werden. Der Begriff des stetigen und beharrlichen
Seins bedeutet nichts anderes als eine Grenzsetzung des Geistes,
die sich i h m m i t innerer Notwendigkeit ergibt, sobald er das
Material der Sinneswahrnehmungen zu durchgängiger und ge‑
schlossener Einheit zu verknüpfen strebt. Das Objekt geht
gleichsam aus der Integration der Empfindung hervor: eine In‑
tegration, die sich über alle Unstetigkeitsstellen der blossen Wa h r ‑
nehmung hinweg zu erstrecken vermag, sofern diese Stellen durch
die Wirksamkeit der Einbildungskraft ergänzt und ausgefüllt
werden. Hume hat als Psychologe diese eigentümliche Tätigkeit
der‘Interpolation aufgezeigt und geschildert, ‘ohne sie doch
als Philosoph und Erkenntniskritiker begreifen u n d r e c h t f e r t i ‑
gen zu können. "
Auch seine Kritik der mathematischen Erkenntnis erscheint
v o n hier aus gesehen noch fragwürdiger als zuvor. Denn wenn
die geomeirischen Begriffe verworfen wurden, weil sie blosse Ab‑
straktionen seien, die in den sinnlichen Empfindungen keine hin‑
reichende, unmittelbare Stütze besässen, so erweist sich jetzt das
gleiche idealisierende Verfahren, auf dem sie beruhen, als unum‑
gänglich, um auch n u r zu unserem empirischen Begriff der W i r k ‑
282 Hume.

lichkeit zu gelangen. Hume freilich hält auch hier streng an


seiner Alternative fest: er kennt n u r Impressionen und ‐ Fiktionen.
Aber diese Scheidung, die begrifflich so einfach erschien, erweist
‘sich im praktischen Gebrauch und in der praktischen Beurteilung
als undurchführbar: denn so unlöslich sind beide Momente in
einander verwoben und verwirrt, dass die Herauslösung der reinen
Empfindung sich zuletzt als eine unerfüllbare Forderung erweist.
„Ich begann die Erörterung unseres Themas ‐ so spricht Hume
selbst das Ergebnis seiner Untersuchung aus ‐ indem ich be‑
merkte, dass w i r gut täten, unseren Sinnen unbedenklich zu
vertrauen; dies sei der Schluss, der sich aus meiner ganzen Unter‑
suchung ergeben werde. Jetzt denke ich, offen gestanden, ganz
anders: i c h bin weit eher geneigt in meine Sinne oder besser
gesagt in meine Einbildungskraft gar kein Vertrauen zu setzen,
als ihnen so unbedenklich zu vertrauen. I c h k a n n n i c h t v e r ‑
stehen, w i e solche t r i v i a l e Neigungen der E i n b i l d u n g s ‑
k r a f t , v o n solchen falschen A n n a h m e n geleitet, je zu
e i n e r begründeten u n d v e r n ü n f t i g e n Gesamtanschauung
s o l l t e n f ü h r e n k ö n n e n . . . . E s ist eine grobe Täuschung,
anzunehmen, dass die einander ähnlichen Wahrnehmungen n u ‑
merisch identisch seien; und doch ist es diese Täuschung, welche
uns zu dem Glauben führt, die Wahrnehmungen seien ununter‑
brochen und existierten, auch wenn sie denSinnen nichtgegenwärtig
sind. So steht es mit der Anschauung des gewöhnlichen Lebens.
Aber unsere philosophische Anschauung unterliegt schliesslich
denselben Schwierigkeiten; sie ist überdies m i t der Ungereimtheit
behaftet, dass sie die Voraussetzung des gewöhnlichen Lebens zu
gleicher Zeit leugnet und b e s t ä t i g t . . . Was anderes können
w i r wohl von diesem Durcheinander grundloser und sonderbarer
Gedanken erwarten als Fehler und Irrtümer? Und wie können
w i r v o r u n s selbst das Vertrauen rechffertigen, das wir in sie
setzen“
Dieser allgemeine Rückblick bezeichnet in der Ta t aufs
schärfste den Fortschritt v o n Humes Untersuchung. Er geht
von der „Impression“ als sicherem und gültigem Tatbestand
aus, um zu erkennen, dass an diesem Kriterium gemessen
nicht n u r die mathematische, sondern zuletzt auch die em‑
pirische Erkenntnis sich in nichts auflöst. In dieser Konse‑
Anfang und Ende von Humes Kritik. 283

quenz liegt der eigentlich produktive Gewinn seiner Erkenntnis‑


lehre. Der Gedanke, die reinen Verknüpfungsweisen des Geistes
in sinnlichen Eindrücken aufzeigen und begründen zu wollen:
dieser Gedanke, der Humes anfängliche Problemstellung noch
beherrschte, wird durch das Ergebnis seiner Philosophie für
immer beseitigt. Was Hume in sich erlebt, das ist der Zusammen‑
bruch des sensualistischen Grundschemas der Erkenntnis, den
er freilich als Untergang des Wissens überhaupt empfinden und
schildern muss. We i l die Annahme eines unbekannten substan‑
tiellen „Trägers* der Sinneswahrnehmungen willkürlich und
unbeweisbar ist, darum ist auch die begriffliche F u n k t i o n ,
kraft deren w i r die Empfindungen zu gesetzlicher Einheit zu‑
sammenschliessen, recht- und grundlos, wenngleich w i r niemals
daran denken können, sie aufzuheben und entbehrlich zu machen.
W i r durchschauen die Illusion, ohne sie zerstören zu können.
Sorglosigkeit und Unachtsamkeit: das allein kann uns heilen.
In diesem Ende der Erfahrungsphilosophie liegt bereits der Keim
und das Motiv eines neuen Anfangs, der freilich n u r aus einer
völligen Umkehr des bisherigen Wertmaassstabes der Er‑
kenntnis hervorgehen konnte.
Anhang.
Hauptströmungen der englischen
Philosophie ausserhalb des Empirismus.
Die Darstellung der englischen Philosophie pflegt sich m i t
der Wiedergabe und Beurteilung der grossen Systeme des Em‑
pirismus zu begnügen. In der Tat enthalten diese Systeme in
ihrer geschlossenen geschichtlichen Abfolge, in der sich zugleich
ein innerer logischer Zusammenhang unverkennbar offenbart,
die eigentümliche und originale Leistung, durch welche die
englische Philosophie in die allgemeine Gedankenbewegung
eingegriffen hat. So bezeichnend und so prägnant erscheint diese
Leistung, dass alle anderen Lehren der nächsten geschichtlichen
Umgebung schon f ü r das Bewusstsein der Zeitgenossen zurück‑
treten mussten; dass sie ‐ soweit sie nicht in unmittelbarer
Beziehung zu dem Einen beherrschenden Grundinteresse standen
‐ allmählich mehr und mehr verblassten. Und dennoch bergen
gerade diese vergessenen Lehren manche charakteristischen Züge
in sich, die für die Einsicht in die historische G e s a m t e n t ‑
w i c k l u n g des Erkenntnisproblems v o n Bedeutung sind. Vieles
v o n dem, was zeitlich zunächst in seiner unmittelbaren W i r k ‑
samkeit gebunden und gehemmt war, ist dennoch für das
Ganze des systematischen Fortschritts nicht verloren gegangen,
sondern hat sich auf einer späteren Stufe der Betrachtung v o n
neuem in reiferer F o r m dargestellt und entfaltet. Vo r allem sind
es die Grundgedanken des Rationalismus, die hier durch die
Berührung m i t neuen Problemkreisen jene eigentümliche Um‑
prägung erfahren, in welcher sie noch auf lange Zeit hinaus
geschichtlich wirksam geblieben sind. Erst durch die Betrachtung
Herbert von Cherbury. 285

der mannigfachen latenten Strömungen, die neben dem Empirismus


und wider i h n bestanden, gelangt daber die S t e t i g k e i t in der
Ausbildung der Grundgedanken der neueren Philosophie zu
voller Deutlichkeit. W i r verfolgen hier n u r die Hauptrichtungen,
die sich in dieser Gesamtbewegung unterscheiden lassen, um
daraus den Einblick in die neuen sachlichen Ziele zu gewinnen,
die sich aus i h r allmählich immer schärfer und klarer her‑
ausheben.

I.
Die Frage nach den a p r i o r i s c h e n G r u n d l a g e n der Er‑
kenntnis gehört bereits den ersten Anfängen der englischen
Philosophie an; aber es ist bezeichnend, dass sie nicht lediglich
aus abstrakten logischen Erwägungen erwächst, sondern ursprüng‑
lich aufs engste mit ethischen und religiösen Gedanken ver‑
flochten ist. Die Forderung eines festen und allgemeingültigen
Grundes sittlicher Normen ist es, die zu i h r hindrängt und die
i h r Kraft und Nachdruck gibt. In H e r b e r t v. Cherburys
Werk „de Veritate“ (1624) tritt dieser Zusammenhang aufs deut‑
lichste hervor. Das Streben nach der wahrbaften E i n h e i t s ‑
r e l i g i o n , die sich, über alle Besonderheit und Vereinzelung der
verschiedenen Kulte hinweg, erheben soll, bildet das entscheidende
Motiv der Untersuchung. Der sittliche Grundgedanke des H u m a ‑
n i s m u s treibt zu einer neuen theoretischen Begründung des
Wa h r h e i t s b e g r i f f s . E i n e schlechthin allumfassende Gemein‑
schaft, eine wahrhafte universale Kirche soll herrschen, wie es
n u r E i n e Menschheit und E i n e Vernunft gibt. Diese echte
„katholische“ Kirche aber wird nicht konstituiert durch Menschen,
die in Wort oder Schrift ihre eigenen, eingeschränkten Lehr‑
meinungen stürmisch verkünden, noch durch irgendwelche Son‑
dergemeinschaften, die in enge räumliche und zeitliche Grenzen
eingeschlossen, n u r unter einem einzelnen beschränkten Wahr‑
zeichen streiten. Die einzige katholische, die einzige sich selbst
überall gleiche Kirche ist die Erkenntnis jener allgemeinen
Wahrheiten, die an keinen einzelnen Ort und an keine einzelne
Zeit gebunden sind. „Denn sie allein breitet die universelle
286 Herbert von Cherbury.

göttliche Vorsehung, breitet die Weisheit der Natur vor uns aus;
sie allein zeigt, w a r u m Gott unser aller gemeinsamer Vater
genannt wird, ausserhalb dessen kein Heil ist. Alles Lob, dessen
sich die besonderen Kirchen rühmen, gebührt somit in Wahrheit
dieser Lehre. Je weiter man sich von i h r entfernt, um so mehr
verfällt m a n dem Irrtum; m a n entfernt sich aber von i h r, sobald
m a n sich von den sicheren allgemeingültigen Wahrheiten der
göttlichen Vorsehung hinweg zu ungewissen Meinungen verlocken
lässt, die m a n zu neuen Glaubensdogmen umschmiedet.“!) Die
Offenbarung mag der Wahrheit, die sich u n s hier in den rationalen
Begriffen erschliesst, manche besonderen konkreten Züge hin‑
zufügen und dadurch i h r B i l d für die verschiedenen Zeiten und
Völker im einzelnen verschieden gestalten; aber sie vermag i h r
weder zu widersprechen, noch sie zu begründen. Keine Religion
kann eine schlechthin alleingültige, auszeichnende Offenbarung
aufweisen, die nicht auch alle anderen für sich in Anspruch
nehmen könnten; das eigentliche Kriterium der Entscheidung
ist also stets aufs neue in den unwandelbaren Grundsätzen der
Vernunft zu suchen, die stets und überall die gleichen sind.
(S. 208 f.)
Damit indessen dieser l o g i s c h e We r t sich behaupte, müssen
wir ihn bis auf seinen letzten physischen und metaphysischen
Ursprung zurückverfolgen; müssen wir den Gemeinbegriffenihren
Halt und gleichsam ihren substantiellen Untergrund in einem
allgemeinen seelischen „Vermögen“ geben, das seinerseits wieder
im bestimmten Zusammenhang m i t der göttlichen Allnatur zu
denken ist. So w i r d die Vernunft, so wird der Inbegriff der
„notitiae communes“ für Herbert alsbald z u einer N a t u r m a c h t ,
die in allem Sein und in allem Denken wirksam ist. W i e es
eine und dieselbe Kraft ist, die in der Bildung der Mineralien
oder in der der Pflanzen und Tiere wirkt, so ist auch das Denken
der einzelnen Individuen getrieben und geleitet v o n einem ge‑
meinsamen natürlichen I n s t i n k t . Dieser Instinkt, der v o n den
Launen und der subjektiven W i l l k ü r des diskursiven Denkens
unberührt ist und sich daher stets in streng gleichförmiger u n d
notwendiger Weise betätigt, bildet das wahrhafte Siegel der
ewigen Weisheit, die in uns eingeschrieben ist.2, In ihm besitzen
w i r i m p l i c i t bereits all das, was die abstrakte logische Arbeit
D e r Instinkt als Antisipation der Erfahrung. 287

später n u r entwickelt und ans Licht stellt. Schon im Embryo


waltet als dunkle Naturkraft das Vermögen, aus dem sich weiter‑
h i n in stufenweiser Entwicklung alle unsere rationalen Begriffe
erzeugen. Der Instinkt bildet somit, im logischen wie im zeit‑
lichen Sinne, die „Antizipation* der Erfahrung., W i r brauchen
nur alles, was uns von den äusseren sinnlichen Dingen kommt,
abzutrennen, um in demjenigen, was uns alsdann zurückbleibt
und was nicht auf diesem Wege erklärt und abgeleitet werden
kann, ein ursprüngliches geistiges Besitztum zu entdecken. Wer
dies einmal begriffen hat, hat ein wahrhaft Göttliches erlangt.
„Was du m i t d i r selber an die Objekte heranbringst, das ist die
väterliche Mitgift der Natur- und das Wissen des natürlichen
Instinktes. Von dieser Art sind die Kennzeichen, vermöge deren
w i r in der Beurteilung der äusseren Welt Wahr von Falsch und
in der Beurteilung der inneren Gut von Böse unterscheiden.
W i e aber die seelischen Vermögen des Sehens und Hörens, des
Liebens und Hoffens, wenn es an Objekten fehlt, die ihnen ent‑
sprechen, in uns stumm bleiben und sich durch kein Zeichen
nach aussen h i n bekunden: so gilt das Gleiche von den allge‑
meinen Grundwahrheiten (notitiae c o m m u n e s ) , d i e doch so
w e n i g E r f a h r u n g e n sind, dass w i r v i e l m e h r ohne sie
n i c h t s z u e r f a h r e n v e r m ö g e n . “ Die Fähigkeit, nicht n u r
v o n den Dingen zu leiden, sondern wiederuin auf sie zu wirken
u n d ihnen tätig gegenüberzutreten: diese Fähigkeit, deren w i r
u n s bewusst sind, kann nicht selbst wieder in den Dingen ihren
Ursprung haben. Der Geist gleicht nicht einer leeren Tafel,
sondern einem geschlossenen Buch, das sich z w a r n u r auf einen
Anstoss v o n den Gegenständen der Aussenwelt eröffnet, das
aber in sich selbst bereits einen reichen und eigentümlichen
Inhalt des Wissens birgt. (S. 53 f.) Die Grundbegriffe der Er‑
kenntnis, die jedem von uns gemeinsam sind, richilen sich
a u f die Objekte und werden erst v o n ihnen geweckt, aber To r ‑
heit wäre es zu glauben, dass sie m i t den Objekten in u n s ein‑
dringen und von unserem Geiste Besitz ergreifen.')
Man sieht, wie energisch Herbert v o n Cherbury den L e i b ‑
n i z i s c h e n Gedanken des „intellecius ipse* vorbereitet hat. Auch
er geht von der Forderung einer „Harmonie“ des Erkennens und
Seins, des Verstandes und der Dinge aus. Die Wahrheit der „Sache“
288 Herbert von Cherbury.

mag bestehen, worin sie will: sie b i l f t uns nichis und kann uns
nichts bedeuten, wenn sie nicht eine Wahrheit für uns, für unser
Wissen geworden ist. Was immer den Anspruch der Wahrheit
erhebt, muss das Zeugnis irgend eines geistigen „Vermögens* f ü r
sich anführen können und gilt n u r relativ zu diesem Zeugnis.
„Unsere gesamte Lehre von der Wabrheit führt sich also zurück
auf die rechte Festigung und Begründung (confirmatio) dieser
Vermögen, deren Mannigfaltigkeit, entsprechend den Unterschie‑
den in den Objekten, jeder in sich selbst erfährt.“ Die B e d i n ‑
gungen, unter welchen die inneren Kräfte des Geistes m i t den
Aussendingen übereinstimmen, gilt es v o r allem zu erforschen.
(S. 5 f.) „Was durch diese Kräfte nicht als wahr, als adäquat,
als allgemeingiltig und notwendig eingesehen werden kann, das
kann auf keine Weise bewiesen werden: so dass gegenüber dem,
was die Bücher uns darbieten, imıner wieder die Frage zu er‑
heben ist, auf welches Vermögen der Erkenntnis sie ihre Be‑
hauptungen stützen.“ Diese eine Frage gestaltet m i t wunderbarer
Leichtigkeit, alle blossen Erdichtungen und Meinungen abzu‑
scheiden und Wahrscheinlichkeit und Wahrheit von einander
zu sondern. ($. 38.) In all diesen Entwicklungen hat Herbert
zwar der stoischen Lehre von den xowai Evwiiar keinen sachlich
völlig neuen Zug hinzugefügt; aber er hat durch die Energie und
Klarheit, in der er den Wahrheitsbegriff in den M i t t e l p u n k t
all seiner Untersuchungen stellt, dennoch ein echt modernes I n ‑
teresse bekundet und die Fragestellung der künftigen Erkenntnis‑
theorie vorbereitet. ‑
Innerhalb der e n g l i s c h e n Philosophie w i r k t Herberts Lehre
insbesondere in den theologischen Diskussionen nach, für die sich
der Gedanke der „notitiae communes“ als ein kräftiges Ferment
in der Entwicklung der religiösen A u f k l ä r u n g bewährt. Aber
auch auf rein theoretischem Gebiete lässt sich der Einfluss Her‑
berts auf lange Zeit hinaus verfolgen, wenngleich die stoischen
Elemente in der Begründung des Apriorismus allmählich mehr
und mehr zurücktreten u n d v o n Platonischen und Cartesischen
Motiven verdrängt werden. (S. unt. No. II u. I L ) Wie nach‑
haltig dieser Einfluss war, dies geht besonders aus der Tatsache
hervor, dass er alle die grossen Systeme des Empirismus, dass
er die Lehre Lockes, wie diejenige Berkeleys und Humes zeitlich
Die schottische Schule. ‐ Thomas Reid. 289

überdauert hat. Die Reaktion gegen die sensualistische Begrün‑


dung der Erkenntnis, die von der S c h o t t i s c h e n S c h u l e aus‑
geht, bedeutet in der Ta t nichts anderes, als eine Erneuerung
des Apriorismus auf denjenigen psychologischen Grundlagen, die
Herbert i h m geschaffen batte.e Die scharfe Unterscheidung
zwischen dem, was der natürliche eingeborene „Instinkt* und
dem, was das diskursive Denken u n s lehrt, ist die gleiche bei
R e i d , wie sie es bei Herbert gewesen war. Hier wie dort ist es
insbesondere das ä s t h e t i s c h e Urteil, auf welches als das eigent‑
liche Muster und Beispiel verwiesen wird. Wie der gute Ge‑
schmack zwar durch Uebung und Vernunftbetätigung vervoll‑
kommnet werden kann, wie e r aber niemals e r w o r b e n werden
könnte, wenn die ersten Grundlagen und Prinzipien für i h n
nicht in unserem Geiste eingepflanzt wären, so gilt das Gleiche
f ü r jegliches Gebiet des Urteilens überhaupt.) Auch das Erfah‑
rungsurteil wäre tatsächlich unmöglich und logisch in sich halt‑
los, wenn ihm nicht allgemeine Vorbegriffe, deren Inhalt nicht
aus der Erfahrung stammt, zu Grunde lägen. Die blosse Induktion
würde uns niemals eine Gewissheit verschaffen, die über die
einzelnen beobachteten Fälle hinausgeht, sie würde uns niemals
einen Schluss auf irgend ein z u k ü n f t i g e s Ereignis verstatten,
wenn nicht der Satz, dass die Natur überall gleichförmig handelt,
als gesichertes Ergebnis schon voranginge. In diesem Satze
besitzen w i r ein „instinktives Vorauswissen über die Natur“ ( a n
instinctive prescience of nature), das so wenig aus der Beobach‑
tung wie aus begrifflicher Schlussfolgerung stammt, sondern einen
ursprünglichen, nicht weiter ableitbaren Te i l unseres geistigen
Wesens ausmacht. „Man nehme das Licht dieses P r i n z i p s d e r
I n d u k t i o n hinweg, und die Erfahrung ist s o blind wie ein
“ Maulwurf: sie vermag n u r das wahrzunehmen, was tatsächlich
gegenwärtig ist und sie unmittelbar berührt; aber sie sieht nichts,
was v o r oder hinter i h r liegt, was der Zukunft oder Vergangen‑
heit angehört.“ (S. 346 f.) Man erkennt auch hier, wie die Auf‑
fassung des „A priori“ als des psychologischen Prius und der
logischen Bedingung unmerklich in einander übergehen. Die
allgemeine Struktur der Dinge muss in unserem Geiste als fester
Besitz des Wissens v o r aller Erfahrung vorgebildet sein. „Auf
welche Weise und zu welcher Zeit i c h diese ersten Prinzipien,
18
290 Thomas Reid.

auf die i c h all meine Schlüsse stütze, erworben habe, weiss


i c h nicht, ‐ denn i c h besitze sie so lange i c h zurückdenken
kann: aber ich b i n sicher, dass sie einen Te i l meiner Konstitution
bilden und dass i c h mich von ihnen nicht losmachen kann.“
(S. 111.)
Die aligemeine Gültigkeit der Prinzipien besteht also in
nichts anderem, als in ihrer psychologischen Tatsächlichkeit;
in dem Zwange, m i t dem sie sich u n s , ohne dass ein kritischer
Einwurf von unserer Seite möglich und verstattet wäre, unwider‑
steblich aufdrängen. Alle Wahrheit geht ihren letzten inhalt‑
lichen Gründen nach auf einen derartigen Akt der „Suggestion*
zurück. Die Lösung, die hier gegeben ist, aber ist bedenklicher
und problematischer, als sie esin der traditionellen Lehre war, auf
die R e i d sich stützt. Der „Instinkt“*, wie Herbert v. Cherbury
und wie die ältere Ansicht i h n versteht, ist ein Prinzip der
Leitung und Auswahl; er ist der Kompass, der uns auf den Weg
der Erfahrung mitgegeben ist und der uns auf i h m sicher
orientieren soll. Jetzt aber ist es eine neue und schwierigere
Leistung, die dem Apriori zugemutet wird. Es soll nicht ledig‑
lich eine einzelne Direktive innerhalb des fertigen Gebiels der
Objekte bedeuten, sondern es soll die Objektivität, es soll die
Existenz der Aussendinge selbst ieststellen und erweisen.
Somit ist e s eine neue B e w e i s l a s t , die dem Apriorismus
nunmehr nach der Kritik Berkeleys und Humes auferlegt ist.
R e i d aber besitzt für diese Frage gleichfalls n u r das alte psycho‑
logische Schema, das die Lehre v o m „consensus gentium* i h m
darbietet. An die Stelle einer ausgebildeten Tbeorie, die die
begrifflichen Kriterien der Objektivität fortschreitend entwickelt,
tritt bei i h m und seiner Schule n u r die einförmige und i m m e r
erneute Berufung auf das Zeugnis des „gesunden Menschenver‑
standes“. Auch dort, wo sich vereinzelte Anfänge zu schärferer
logischer Unterscheidung finden, gehen sie zuletzt wiederum in
der Unbestimmtheit dieses allgemeinen Losungswortes u n t e r.
Reid betrachtet es als den prinzipieillen Grundmangel aller bis‑
herigen Philosophie, dass sie, in ihrer Fassung der Aufgabe der
Erkenntnis, stets von neuem dem herkömmlichen Vorurteil unter‑
legen sei, dass alles Wissen von den Gegenständen durch Bilder,
die von den Dingen auf u n s übertragen werden, gewirkt u n d
Jdeen und Urteile. 291

vermittelt sein müsse. Eine solche Annahme, eine solche primäre


Scheidung der Erfahrung in ein schlechthin Inneres und ein
schlechthin Aesseres, ist, wie er einwirft, selbst eine unbewiesene
d o g m a t i s c h e Voraussetzung. An die Stelle dieser metaphysischen
Theorie der Objektivität versucht daher Reid ‐ dessen Dar‑
stellung sich an diesem Punkte weit über die flachen Deklama‑
tionen seiner nächsten Nachfolger, insbesondere Oswalds und
B e a t t i e s , erhebt ‐ eine rein psychologische und logische Analyse
zu setzen. „Objektivität“ bedeutet i h m einen Grundcharakter,
n i c h t der einzelnen Vorstellung, sondern des Urteils; sie lässt
s i c h in keinem einzigen inhaltlichen Moment, wie eiwa in der
Stärke und Lebhaftigkeit der Vorstellung, hinlänglich begründen,
sondern beruht aufeinem eigentümlichen geistigen Akt, der zu dem
blossen Sinneneindruck hinzutritt. Das Urteil ist daher, seinem
Wesen und seiner Grundbedeutung nach, mehr als die blosse
Vergleichung gegebener Einzelvorstellungen, zu welcher die sen‑
sualistische Theorie esmacht. Der spezifische Erkenniniswert,
den wir bestimmten „objektivgültigen“ Sätzen zusprechen, berubt
nicht auf der Zusammenstellung einzelner für sich bestehender
Empfindungselemente: vielmehr sind diese angeblich selbstän‑
‚digen „Elemente“ lediglich das Produkt eines Abstraktions‑
prozesses, das Ergebnis einer Analyse, in welcher wir einen
ursprünglichen U r t e i l s a k t in seine einzelnen Bedingungen zer‑
legen. Sobrauchen die Grundrelationen zwischen den Ideen
nicht, wie allgemein angenommen wird, erst nachträglich aus
ciner passiven Aufreihung u n d Vergleichung m e h r e r e r Ein‑
drücke, die als Fundamente der Relation dienen, zu entstehen;
sondern sie sind bereits in dem „einzelnen“ inhalt enthalten und
v o n Anfang an mitgesetzt. (S. 49.) In diesen Darlegungen hat
Reid in der Tat gegenüber der empiristischen Erkenntnistheorie
ein richtiges uud neues P r o b l e m aufgewiesen. Aber dieses
Problem vermochte für i h n selbst nicht fruchtbar zu werden,
da er seine Schärfe alsbald durch die vage Fassung des Apriori
als eines allgemeinen psychologischen „Instinkles“ abstumpft.
Dass w i r bestimmten Inhalten den Wert der „Wirklichkeit“ ver‑
leihen, das erscheint jetzt nicht mehr als ein Umstand, der
der erkenntniskritischen Rechtfertigung bedarf, sondern als ein
schlechthin unauflösliches und selbstverständliches Faktum,
19%
292 Thomas Reid. ‐ Kenelm Digby.

nach dessen B e g r ü n d u n g n u r spekulative W i l l k ü r und skep‑


tischer Starrsinn fragen können. Gerade an diesem Punkte, an dem
Reid sich ‐ in der Anerkennung ursprünglicher „synthetischer“
Urteilsakte ‐ aufs nächste m i t der Kantischen Lehre zu berühren
scheint, t r i t t daher der charakteristische Unterschied, der i b n
v o m kritischen System trennt, scharf hervor. F ü r das System
der Vernunftkritik ist die Wirklichkeit der D i n g e nicht der
selbstgewisse Ausgangspunkt, sondern das Problem, das es in
einer Untersuchung über die Objektivität des Wissens zu be‑
wältigen gilt. Das „Dasein“ ist kein unmittelbarer Besitz der
Erkenntnis, sondern bezeichnet das Ziel, dem sie zustrebt und
das sie kraft ihrer „apriorischen“ Grundmittel zu erreichen u n d
zu befestigen trachtet. Bei Reid dagegen hat das „Apriori* seine
eigentliche Kraft eingebüsst, indem es, statt in seiner logischen
F u n k t i o n beschrieben zu werden, ein fertiges Ergebnis be‑
zeichnet, indem es somit das Resultat der wissenschaftlichen
Arbeit und der wissenschaftlichen Erfahrung in einem falschen
Sinne vorwegnimmt.

II. Pr

In dem Fortgang der neueren Philosophie tritt die k r i t i ‑


sche Analyse des D i n g b e g r i f f s immer mehr i n den eigent‑
lichen Mittelpunkt der Betrachtung. Es gibt kaum ein zweites
Problem, das in so charakteristischer Weise, wie dieses die Ten‑
denz des modernen Denkens bezeichnet und das, über alle Unter‑
schiede der Schulmeinungen hinweg, eine so universelle ge‑
schichtliche Bedeutung gewinnt. Seit der Untersuchung, in der
Descartes in den „Meditationen“ die „Substanz“ des Wachses:
das, was seine eigentliche Wirklichkeit und Dinglichkeit aus‑
macht, zu bestimmen unternahm, wird die Frage von den ver‑
schiedensten Gesichtspunkten und Voraussetzungen her in An‑
griff genommen. Hier greift nicht n u r L e i b n i z ’ Definition der
Erscheinungsrealität, sondern auch Berkeleys und H u m e s Zer‑
gliederung des Existenzialurteils ein; hier begegnen sich die E r ‑
gebnisse abstrakter erkenntnistheoretischer Erwägungen m i t den
Resultaten, zu welchen die Methodik der exakten Wissenschaft
. D e r Begriff der Wahrheit. 293

in selbständiger Entwicklung hinführt. W i r sahen, wie bei ein‑


zelnen Denkern, insbesondere bei G e u l i n c x und R i c h a r d
B u r t h o g g e , die Frage z u einer Prägnanz und Klarheit geführt
. wurde, in der der wesentliche theoretische Grundgedanke der
kritischen Philosophie bisweilen fast erreicht schien; wenn‑
gleich in der Einzelausführung die Nachwirkung scholastischer
Denkart sich zuleizt stets aufs neue geltend machte. (Bd. I, S.
458‐74.) Nirgends aber tritt diese Mischung mittelalterlicher
u n d moderner Züge in so eigentümlicher und so paradoxer Weise
zu Tage, als bei einem englischen Denker des siebzehnten Jahr‑
hunderts, in dessen Physik und Metaphysik sich Aristotelische
Einflüsse und Lehrmeinungen m i t Ergebnissen der neueren
Mechanik und Physik durchdringen. Das Werk S i r K e n e l m
D i g b y s über die Natur und Unsterblichkeit der Seele (1644) w i r d
durch dieses Ineinandergreifen verschiedenartiger Motive zu einem
typischen geschichtlichen Dokument. Digby ist ein persönlicher
Freund Descartes’ und m i t dessen Lehre vertraut: so bietet er
denn auch eines der frühesten Beispiele dar, wie die neue idea‑
listische Denkweise innerhalb der scholastischen Tradition selbst
zur Geltung kommt und zu einer inneren Umgestaltung des
Problems der Erkenntnis führt. ‑
Digby geht von der scholastischen Erklärung aus, nach‘
welcher die W a h r h e i t in der „Uebereinstimmung des Intellektes
m i t den i h m gegenüberstehenden Dingen“ besteht‘); aber er über‑
windet diese Auffassung, indem er sie verschärft und überbietet.
Die gewöhnliche Lehre, dass die Objekte n u r m i t einem Teil
ihres Seins in die Seele eingehen, dass es n u r „Bilder“ v o n ihnen
sind, die dem Geist unmittelbar gegeben und seiner Betrachtung
unterworfen sind, w i r d von i h m entschieden verworfen. W i r
müssen uns zu der vollen Konsequenz verstehen, dass die Sache
selbst ihrer eigensten Natur und ihrer uneingeschränkten realen
Beschaffenheit nach in das erkennende I c h übergeht. Wie dieser
Uebergang sich vollzieht, wie es möglich ist, dass die körper‑
lichen Dinge in ihrer vollen Wesenheit und dennoch auf unkör‑
perliche Weise in u n s existieren, dies ist und bleibt freilich ein
Geheimnis, das sich niemals völlig enträtseln lässen wird; aber
eben dieses „Mysterium“ bildet den latenten Grund und die Vor‑
aussetzung a l l unseres Wissens.) Die herkömmliche Theorie
294 Kenelm Digby.

der „Species“ löst dieses Rätsel nicht, sondern gibt i h m n u r einen


veränderten Ausdruck: denn damit die Species die Sache völlig
und wahrhaft repräsentieren könne, ist es erforderlich, dass sie
i h r in a l l e n S t ü c k e n gleiche, dass also zwischen i h r und
dem Gegenstand nicht n u r ein Verhältnis der „Aehnlichkeit*“,
sondern durchgängige I d e n t i t ä t waltet. (S. 461 f) Wenn
somit zwischen dem Ding, wie es an und für sich besteht,
und unserer geistigen Auffassungsweise durchweg vollkommene
D e c k u n g stattfindet, so genügt es, diese geistige A u ff a s ‑
sungsweise selbst zu betrachten, um in i h r zugleich alle
wesentlichen Momente des W i r k l i c h e n wiederzufinden. Durch
diese eigentümliche und originelle Wendung macht Digby die
dogmatische Grundansicht selbst, v o n der er ausgegangen war,
f ü r die K r i t i k d e r E r k e n n t n i s fruchtbar. Die Analysis des
Erkenntnisprozesses hat es nicht m i t einer blossen Spiegelung,
einem blossen Scheinbild der Wirklichkeit zu tun, sondern sie
erschliesst uns deren absolutes Wesen. Indem wir verfolgen,
wie die B e g r i ff e in unserem Geiste sich wechselweise bedingen,
wie die abgeleiteten aus den ursprünglichen bestehen und ber‑
vorgehen, enthüllt sich vor uns schrittweise die wahrhafte
Struktur des Seins. ‑
" Es genügt somit nicht, bei den sinnlichen Eindrücken, die
stets schon ein vielfältiges und kompliziertes Ganze ausmachen,
steben zu bleiben, sondern w i r müssen dieses Ganze bis auf seine
konstitutiven Elemente, bis auf seine notwendigen und h i n ‑
reichenden B e d i n g u n g e n zurückverfolgen. Die Wahrnehmun‑
gen, die w i r von aussen her erlangen, lösen sich f ü r die denkende
Betrachtung in „einfache“ Bewusstseinsdaten auf, die gleichsam
„die Glieder und Teile sind, aus welchen die ganze und voll‑
kommene Apprehension des Dinges sich bildet.“ (S. 463.) Der letzte,
schlechthin unauflösliche Begriff, bis zu welchem w i r die Unter‑
suchung zurückführen können, ist n u n der B e g r i f f d e r E x i ‑
stenz. Er ist es, der in alle abgeleiteten Begriffe notwendig ein‑
geht, der sie erst bestimmt und ermöglicht. W i r können keinen
Inhalt als irgendwie beschaffen denken, ohne i h n zugleich als
e x i s t i e r e n d zu denken; ohne also den Grundbegriff des Seins
m i t i h m zu verknüpfen und in i h n aufzunehmen. So ist es
dieser Begriff, der am tiefsten im Geiste des Menschen wurzelt,
Das „Sein“ als Grundbegriff der Seele. 295

der sein natürlichstes und einfachstes, sein allgemeinstes und


allumfassendes Denkmiitel b i l d e t ) Alles andere, was für uns
Inhalt des Wissens werden soll, muss an diesem Denkmittel,
das die spezifische Bestimmung des Menschen (propria hominis
affectio) ausmacht, Anteil gewinnen; muss ‐ wie Digby es
ausdrückt ‐ „gleichsam dem Grundstamm des Seins einge‑
fügt werden.“ „So sehen wir, dass w i r nichts sprachlich aus‑
zudrücken vermögen, ohne i h m die Bezeichnung des Seins zu
geben; dass w i r nichts gedanklich zu erfassen vermögen, ohne
es unter den Begriff des Seins zu fassen.“ Alle Betrachtung
des Verstandes geht zuletzt auf diese e i n e Grundfunktion, auf
die Subsumption alles Mannigfaltigen unter den einheitlichen
Gedanken des Seins zurück?) Wenn jeder andere Begriff ein
biosser Vergleichungsbegriff ist, der lediglich eine Beziehung
zwischen Dingen zum Ausdruck bringt, so haben w i r es hier m i t
einer unbedingten Setzung und somit m i t dem absoluten Anfang
des Denkens selbst zu tun. (S. 468.) Eine zweite, komplexere
Stufe wird bereits erreicht, wenn wir vom „Sein“ zum „Seienden‘“,
vom abstrakten Begriff der Existenz zu dem existierenden „Dinge*
übergehen. Der Gedanke des „Dinges“ setzt sich bereits zusammen
aus der Existenz und aus demjenigen, was die Existenz besitzt;
aber er übertrifft andererseits an Einfachheit und logischer
Ursprünglichkeit weitaus alle Inhalte der gewöhnlichen sinnlichen
Anschauung. Denn er selbst kann ohne Hinzunahme der
M a n n i g f a l t i g k e i t der sinnlichen Objekte i m Geiste erzeugt
werden, während umgekehrt jedes empirische Objekt i h n not‑
wendig voraussetzt. W i r können den Gedanken eines Dinges,
losgelöst von all seinen wandelbaren und zufälligen Eigenschaften,
wie Grösse, Gestalt, Farbe u. dergl. fassen; aber w i r können
keinen einzelnen Gegenstand als gestaltet oder gefärbt bezeichnen,
ohne i h n zuerst als ein Etwas oder ein „Seiendes“ zu begreifen.
(S. 465.)
Ein weiterer Fortschritt in der Richtung auf das konkrete
Dasein besteht sodann darin, dass w i r die Objekte nicht mehr
isoliert, sondern in ihren mannigfachen Beziehungen und Ver‑
hältnissen betrachten. Auch hierin offenbart und betätigt sich
eine wahrhafte geistige Grundkraft: ist es doch der Seele eigen‑
tümlich, dass sie eine Fähigkeit des Vergleichens, eine potentia
298 Kenelm Digby.

comparativa ist. (S. 468.) Alle Relationen der Dinge finden in


i h r i h r wahrhaftes Korrelat: sie werden erkannt, nicht indem
sie passiv v o n aussen in uns übergehen, sondern indem sie in
der freien Aktivität des Geistes nacherzeugt werden. Betrachten
w i r Beziehungen, wie Ganzes und Te i l , wie Ursache und
W i r k u n g , s o muss sogleich deutlich werden, dass sich f ü r
sie in der Aussenwelt kein O r i g i n a l aufweisen lässt, welches
ihnen unmittelbar ä h n l i c h wäre. „Die D i n g e , von denen diese
Beziehungen ausgesagt werden, können gleichsam in ihren eigenen
Farben geschildert und nachgezeichnet werden; wie aber liesse
sich i h r Verhältnis selbst abmalen und welches B i l d liesse sich
von der Hälfte, von der Ursache, von der Wirkung entwerfen?
W e r n u r einigermassen zu denken versteht, dem kann es nicht
zweifelhaft sein, dass Begriffe dieser Art von denen, die vermit‑
telst der Sinne in uns eingehen, toto coelo verschieden sind...
Haben w i r die Kraft dieses Beweisgrundes einmal ganz begriffen,
so werden w i r einsehen, dass das Aristotelische Axiom, dass
nichts im Verstande ist, was nicht zuvor in den Sinnen war,
sowenig im strengen Sinne wahr ist, dass vielmehr das Gegenteil
gilt: es ist N i c h t s im Verstande, was zuvor im Sinn w a r “ (S. 516).
Denn wenngleich der Intellekt m i t der Betrachtung sinnlicher
Eindrücke beginnen mag, so nimmt er sie doch niemals in der
Gestalt, in der er sie unmittelbar vorfindet, in sich auf, sondern
vollzieht an ihnen eine Umformung, die ihnen eine neue und
eigentümliche Wesenheit verleiht. Immer wird h i e r eine ursprüng‑
liche E i n h e i t s f u n k t i o n der Seele erfordert, die dasjenige, was
in der äusseren Welt zerstreut ist und auseinanderliegt, zusam‑
menschaut und unter einen einzigen, allgemeinen Begriff fasst.
Betrachten w i r etwa den Begriff der Z a h l , so könnte es bei
oberflächlicher Beurteilung zunächst scheinen, dass er eine blosse
Nachbildung eines Tatbestandes der Empfindung, dass er ein
einzelnes Merkmal der gezählten Dinge und v o n ihnen abstrahiert
ist. Die genauere logische Analyse aber führt uns zu einer
tieferen Unterscheidung. Der Sinn vermag allenfalls die Einzel‑
dinge als solche aufzufassen u n d auseinanderzuhalten; dass aber
die Elemente nicht n u r unterschieden, sondern zugleich auch
verknüpft werden, dass aus dem Durchlaufen der: Mehrheit cine
neue qualitative E i n h e i t sich bildet, dies ist eine spezifische
D i e Synthesen des Bewusstseins. 297

und reine Verstandesleistung. Die Synthese, die z u r Bildung


jedes Zahlbegriffs unumgänglich notwendig ist, gehört nicbt den
Objekten, sondern lediglich der Seele an. Zehn Sinnendinge sind
u n d bleiben, als solche betrachtet, eine Sammlung und Anhäufung
unter einander beziehungsloser Einzelelemente; sie wachsen nie‑
mals zu der streng einheitlichen idealen Bedeutung zusammen,
die der arithmetische B e g r i f f d e r Z e h n fordert und darstellt.
(S. 519£) Und so führt u n s allenthalben die Frage nach dem
Geltungswert unserer logischen Grundbegriffe und Grundurteile
v o n den Objekten zu den Funktionen unseres Geistes zurück.
Wenn w i r etwa die stetige Grösse, um sie wahrhaft zu begreifen,
in P u n k t e , die Zeit und die Bewegung in unteilbare A u g e n ‑
b l i c k e auflösen, so folgen w i r darin nicht der Natur der Objekte,
sondern einem Zuge u n d „Instinkt“ unseres Geistes, der überall
das Zusammengesetzte und Teilbare auf ein qualitativ Einfaches
zurückzuführen und aus ihm zu verstehen strebt. Die „Seele*
ist es, die ein „Unteilbares* fordert, an das sie sich beftet, um
in i h m sich selber zu fixieren. Die „Substantialität“ der Dinge ist
n u r der Widerschein dieser ihrer geistigen Vereinheitlichung.
Dass wir alle Begriffe, die w i r bilden, unter den Gesichtspunkt
der Substanz stellen: dass w i r, wo immer uns irgend eine Be‑
schaffenheit entgegentritt, einen substantiellen „Träger“ für sie
erdenken: dies r ü h r t daher, dass einzig ein für sich bestehendes,
selbständiges Ding d e r Seele e i n geeignetes u n d sicheres
F u n d a m e n t darbietet, auf das sie sich stützen und in dem
sie sich befestigen kann. Die blossen „Accidentien“ wären, für
sich betrachtet, zu flüchtig und schlüpfrig, um der Tätigkeit des
Verstandes einen festen Haltpunkt zu gewähren; w i r müssen
ihnen daher, um v o n ihnen Begriffe zu bilden, die „Bedingungen
der Substanz zusprechen“, wenngleich aus dieser Weise d e r B e ‑
t r a c h t u n g , wenn sie nicht m i t grosser Vorsicht geübt wird,
häufig grosse Irrtümer entstehen.!) ‑
Die gesamte Geschichte der neueren Philosophie enthält
kaum ein zweites Beispiel, dass v o n einem ursprünglich rein
m e t a p h y s i s c h e n Ausgangspunkt aus s o wichtige und weit‑
tragende erkenntniskritische Folgerungen gezogen werden, als es
hier geschieht. Digbys philosophisches Interesse ist keineswegs
in erster Linie auf die Analyse des Wissens, sondern auf den
298 Kenelm Digby.

Beweis der Immaterialität und der Unsterblichkeit der Seele ge‑


richtet. Aber als echter Geistesverwandter Descartes’ erweist er
sich darin, dass sein Spiritualismus sich vor allem auf l o g i s c h e
Erwägungen stützt: dass die „Seele* i h m wesentlich m i t der
Grundfunktion des Bewusstseins, kraft deren der mannigfaltige
sinnliche Inhalt z u r Einheit gestaltet wird, zusammenfällt. Zwar
der D u a l i s m u s zwischen körperlichem und geistigem Sein,
zwischen Bewusstsein und äusserer Wirklichkeit besteht auch bei
Digby ungeschwächt fort. Die Erkenntnis soll auch hier n u r das
„absolute“ Wesen der Dinge, das als feststehend vorausgesetzt
wird, beleuchten und zum Ausdruck bringen. Aber es handelt
sich in diesem Prozess nicht um ein blosses Nachbilden, sondern
um ein reines geistiges Tun; um ein Licht, das der Intellekt auf
die Dinge wirft, nicht das er v o n ihnen erst empfängt. Die Welt
der Objekte liegt, solange sie ausserhalb der geistigen Funktionen
und losgelöst von ihnen gedacht wird, in völligem Dunkel; sie
erhellt sich erst und gewinnt bestimmte Umrisse und Formen,
wenn w i r m i t den Grundbegriffen des Verstandes i h r gegenüber‑
treten. Alle „subjektivistischen‘ Folgerungen liegen dieser Lehre
durchaus fern: die Kategorien des Denkens prägen den realen
Gegenständen keine ihnen fremde Form auf, sondern sie ent‑
wickeln und verdeutlichen nur, was in ihnen selbst liegt. Der
Gegenstand der Erkenntnis büsst seine eigene Natur nicht ein,
indem er in den Bereich des Verstandes eintritt, wenngleich er
hier zu einer neuen „höheren“ Wirklichkeit gelangt. Der Grund‑
stamm der „Existenz“, welchem die Dinge, indem sie ins Be‑
wusstsein erhoben werden, sich einfügen, hegt und bewahrt die
Natur jedes einzelnen Schösslings.!!) So durchdringen sich die
ursprünglichen und die abgeleiteten Begriffe in uns, um in i h r e m
Zusammenschluss die geistige Gesamtauffassung, die „Apprehen‑
sion‘ der Erfahrungswirklichkeit zu erzeugen. Denn was anderes
leistet jedes empirische U r t e i l , als dass es zwei Bestimmungen,
die in der Vorstellung g e t r e n n t erscheinen, durch die Copula
„Ist“ aneinanderbindet und wechselweise auf einander bezieht?
„Dies geschieht indes nicht derart, als würden zwei verschiedene
Dinge in ein Bündel zusammengeschnürt oder als würden ver‑
schiedene Steine zu einem Haufen zusammengeworfen, wobei
doch die einzelnen in der Menge immer als völlig unterscheid‑
Die Theorie des Urteils. 298

bare Individuen enthalten sind und ihre eigenen fest umschrie‑


benen Grenzen besitzen; sondern es erfolgt in der Weise, dass
die beiden Inhalte gleichsam demselben Stamm eingepflanzt
werden, der ihnen nunmehr sozusagen gemeinsames Leben spendet
und sie dadurch m i t einander identisch macht.“ (S. 473 f . ) Die
spezielle T h e o r i e des U r t e i l s , die Digby hieran anknüpft, ist
dadurch besonders interessant, dass sie eine geschichtliche Vor‑
stufe der L e i b n i z i s c h e n Urteilslehre darstellt. Wie Leibniz,
so gebt auch Digby davon aus, dass der Grund der Wahrheit
eines Urteils zuletzt immer in einer Identität zwischen Subjekt
und Prädikat zu suchen ist: einer Identität, die entweder sogleich
auf den ersten Blick ersichtlich ist, oder aber erst durch die
Einschaltung mannigfacher Mittelglieder, oder durch ein fort‑
schreitendes deduktives Verfahren der Umtormung des Subjekts‑
begriffs hergestellt und deutlich gemacht werden muss. (Vgl. ob.
S. 52ff) Dieselbe Grundkraft des Geistes, die in der einfachen
„Apprehension“ eines Inhalts diesem seine Wesenheit und Ein‑
heit verleiht, erzeugt also, auf komplexere begriffliche Gehilde
angewandt, den Zusammenhang und die Systematik des Wissens.!2)
Immer bandelt es sich um ein „Ineinssetzen‘ des Verschiedenen,
kraft dessen die Mannigfaltigkeit der Dinge der Seele erst gemäss
u n d f ü r sie erkennbar wird. ‑

II.
Die Lehre Kenelm Digbys ist ein Beweis für die Frucht‑
barkeit, die die Gedanken des I d e a l i s m u s selbst bei den‑
jenigen Denkern gezeigt haben, die zunächst in ihrer Physik
und Metaphysik noch keineswegs prinzipiell aus dem Kreise
der Aristotelischen Tradition herausgetreten waren. Die Re‑
n a i s s a n c e d e s P l a t o n i s m u s fand somit auch i n der
englischen Philosophie des 17. Jahrhunderts bereits den Boden
bereitet. Sie gewinnt ihren festen Mittelpunkt in der S c h u l e
v o n C a m b r i d g e , die auf lange Zeit hinaus entscheidenden
Einfluss auf das Ganze der gedanklichen Entwicklung geübt hat
und deren Nachwirkung sich seibst bei Denkern entgegengesetzter
Tendenz, wie L o c k e oder N e w t o n , noch deutlich verfolgen
300 Ralph Cudworth.

lässt. Die erkenninistheoretischen Grundanschauungen dieser


Schule haben ihre Verkörperung vor allem in R a l p h C u d w o r t h ’
philosophischem Hauptwerk: „The true Intellectual System of the
Universe“ (1678) gefunden. Cudworth’ Werk löst in der allgemeinen _
geistigen Bildung der modernen Zeit das Werk des M a r s i l i u s
F i e i n u s ab: es gilt fortan als das eigentliche Kompendium und
die authentische Darstellung der Platonischen Gedankenwelt.
Zu i b m wendet m a n sich, um sich, gegenüber dem stetigen Vo r ‑
dringen. der sensualistischen und materialistischen Systeme, der
allgemeinen Beweise f ü r die Unabhängigkeit des „geistigen“ Seins
zu versichern. In der Tat steht die Begründung des S p i r i t u a ‑
l i s m u s für Cudwortb, wie für Digby im Vordergrund des
Interesses; aber wie bei letzterem, so führen auch bei i h m v o n
dieser Frage Fäden zurück, die sie m i t den allgemeinen Grund‑
problemen der Erkenntniskritik verknüpfen. ‑
Denn die eigentliche wissenschaftliche Entscheidung zwischen
Theismus und Atheismus muss nach Cudworth durch die
Analyse des Wissens herbeigeführt werden. Wer es bestreitet,
dass die Dinge aus einer geistigen Ursache stammen, der stützt
sich hierbei vor allem auf die Ansicht, dass alle Erkenntnis, dass
somit alle geistige Auffassung der Wirklichkeit notwendig den
Gegenständen, auf die sie sich bezieht, n a c h f o l g e n müsse.
Die Objekte sind i h m in ihrer konkreten stofflichen Natur vor‑
handen und gewinnen erst nachträglich ein Abbild im denkenden
Bewusstsein. So kann nach dieser Auffassung die Welt nicht a u s
einem höchsten Verstande hervorgehen, weil es, bevor eine We l t
vorhanden war, auch kein Verstehen geben konnte. Dies ist somit
die eigentliche theoretische Grundanschauung des Atheismus: dass
d i e D i n g e d i e E r k e n n t n i s m a c h e n u n d n i c h t die E r k e n n t ‑
n i s d i e D i n g e m a c h t , dass also der Geist nicht der Schöpfer,
sondern das Geschöpf des Universums ist.12) Dieser fundamentale
l o g i s c h e Irrtum muss beseitigt werden. ehe der Zugang zur wahr‑
haften Metaphysik eröffnet werden kann. Unsere Erkenntnis ist k e i n
blosser Tummelplatz sinnlicher Vorstellungen, die v o n äusseren
Gegenständen in uns erregt werden, sondern was i h r ihre F o r m
und Einbeit gibt, ruht gänzlich auf der Kraft und Aktivität des
Geistes selbst. Ohne allgemeine „intelligible Naturen und Wesen‑
heiten“, die w i r in u n s tragen, liesse sich nichts Einzelnes auf‑
Zdee und Wirklichkeit. 801

nehmen und verstehen. W i r müssen das Besondere unter uni‑


verselle gedankliche Gesichtspunkte rücken, w i r müssen es unter
ideale Kategorien von allgemeingültiger Bedeutung stellen, um
es wahrhaft zu begreifen. Insbesondere lehrt uns die mathe‑
matische Erkenntnis, dass der Weg, zur Wahrheit zu gelangen,
nicht darin besteht, von den Einzeldingen zu abstrakten Gattungs‑
begriffen aufzusteigen, sondern umgekehrt eine allgemeine gedank‑
liche Setzung und Definition fortschreitend derart zu b e s t i m m e n ,
dass sie auf das Einzelne anwendbar wird. „Unser Wissen
f o l g t hier nicht den einzelnen Körpern und ist ihnen gegenüber
etwas Abgeleitetes und Sekundäres; sondern es geht ihnen in der
Rangordnung der Natur voraus und verhält sich proleptisch
zu ibnen.*!)
Den Vorwurf, dass es sich hierbei um eine falsche Projektion,
dass es sich um einen naiven Begriffsrealismus handle, wehrt
Cudworth ausdrücklich ab. Die „intelligiblen Wesenheiten*
besitzen kein selbständiges substantielles Dasein ausserhalb des
Verstandes. Sie bedeuten nichts anderes und können nicht
mehr, als I n h a l t e des Geistes, als allgemeingültige Gedanken
bedeuten. Aber freilich muss es, so wahr es ewige, an keine
zeitlichen Grenzen gebundene D e n k i n h a l t e gibt, auch ein
unveränderliches und dauerndes geistiges S u b j e k i geben, in
welchem sie ihre Stütze finden.15)) Dass der' Durchmesser eines
Quadrats m i t der Seite inkommensurabel ist, ist notwendig und
ewig wahr, gleichviel ob es in: den konkreten existierenden
Dingen etwas derartiges wie ein Quadrat gibt, und ob irgend
ein bestimmtes empirisches I n d i v i d u u m existiert, das hier
und jetzt diesen Gedanken tatsächlich denkt. Das „Sein“, das
dieser Wahrheit eignet, verlangt daher einen festeren Untergrund,
als i h n die Welt der empirischen Gegenstände oder die Welt der
subjektiven Vorstellungen in uns darbieten kann: es fordert
einen unendlichen Verstand, in weichem es als Inhalt seines
Denkens besteht und realisiert ist. (S. 736, 835.) Es sind, wie
m a n siebt, im wesentlichen die Gedanken A u g u s t i n s und
F i c i n s , die Cudworth aufnimmt und weiterführt. (Vgl. Bd. I,
S. 104 ff. und 435 ff.) Seine Beweisführung f ü r die Wahrheit der
intellektuellen Welt fügt ‐ so ausführlich sie entwickelt und
ausgesponnen w i r d ‐ doch dem geschichtlichen Bilde des Pla‑
302 Ralph Cudworth. ‐ John Norris.

tonismus kaum einen einzigen völlig neuen Zug hinzu. Nur an


einzelnen Stellen erhalten die Argumente, die bisher hauptsäch‑
lich im metaphysischen Sinne gebraucht wurden, eine schär‑
fere m e t h o d i s c h e Fassung. Der Inhalt und Bestand der
Naturwissenschaft selbst wird gegen den Versuch ihrer sen‑
sualistischen Begründung zum Zeugen angerufen. Indem die
Naturwissenschaft, indem die Erkenntnis der sinnlichen Welt sich
auf Begriffe, wie die des Atoms und des L e e r e n stützt, beweist
sie damit in ihrer G r u n d l e g u n g die Notwendigkeit eben jener
rein „gedanklichen“ Wirklichkeiten, die sie in ihren dogmatischen
Konsequenzen zu beseitigen strebt. (S. 637.)
Wenn bier ein Punkt erreicht war, von dem aus Hobbes’
Lehre, gegen die sich Cudworth’ Angriffe vornebmlich richten,
in der Ta t wirksam bekämpft werden konnte, so schwächt doch
Cudworth selbst die Kraft seiner Beweise alsbald dadurch ab,
dass er in der traditionellen Naturanschauung, in der Lehre v o n
den „plastischen Naturen‘“ verharrt.1%) Die Frage nach dem Ver‑
hältnis des empirischen und des intelligiblen Seins gewinnt erst
dort neue Bedeutung und tritt in eine neue Phase ihrer Entwick‑
lung ein, wo sie den modernen Begriff der Naturgesetzlichkeit
in sich aufgenommen hat, wo sie sich, statt auf Augustin, a u f
Descartes und Malebranche stützt. Die eigentliche geschicht‑
liche Fortwirkung, die Malebranches Lehre geübt hat, vollzieht
sich innerhalb der englischen Philosophie. Hier findet sie in
J o h n N o r r i s ihren eifrigen Vorkämpfer, der sie gegenüber allen
empiristischen Einwänden verteidigt und aufrecht erhält u n d der
i h r zuerst eine streng schulmässige Fassung gibt. Malebranche
ist für Norris „der grosse Galilei der intellektuellen We l t “ : der
erste, der u n s den Zugang zu i h r wahrhaft erschlossen und i h r e
innerste Struktur enthüllt hat. Er hat u n s den wahren Gesichits‑
punkt der Forschung gewiesen, so dass jede fernere Entdeckung
durch das Teleskop, das er uns in die Hände gegeben, zu e r ‑
folgen hat.!'} Wenn demgemäss Norris’ Lehre keinen originalen
philosopbischen I n h a l t darbietet, so gewinnt sie doch einen eigen‑
tümlichen Charakter durch die scholastische Pünktlichkeit, m i t
der sie in strenger logischer Deduktion das Sein des Intelligiblen
zu erweisen und gegen alle Einwände sicher zu stellen sucht.
Diese eingehende formale Zergliederung der Beweisgründe bringt
Die sinnliche und die intelligible Welt. 803

die charakteristische Weise des Schliessens, deren Malebranche


sich bedient, die aber bei i h m selbst oft hinter dem metaphysi‑
schen Endergebnis fast ganz zurücktritt, noch einmal zu voller
Deutlichkeit. Welches „Sein“ ‐ so lautet auch hier die Grund‑
frage ‐ welches Sein eignet den allgemeingiltigen und ewigen
Wahrheiten, die w i r nicht entbehren können, wenn es, über das
Gebiet des blossen individuellen Meinens hinaus, feste und blei‑
bende Wissenschaft geben soll? Irgend eine F o r m des Seins
müssen w i r diesen Wahrheiten notwendig zugestehen, da es
sonst nicht möglich wäre, v o n ihnen sichere Aussagen zu
machen und ihnen irgendwelche unabänderliche B e s t i m m u n ‑
gen zuzuschreiben: denn v o m „Nichts“ kann es keine Eigenschaf‑
ten, geschweige dauernde und unabänderliche Beschaffenheiten
geben. Und was v o n den Axiomen und Grundsätzen der Wissen‑
schaft gilt, das gilt in nicht minderem Maasse von den einfachen
Begriffen, die in diese Axiome eingehen. Wenn „Wahrheit“,
ihrer Definition nach, nichts anderes als eine Uebereinstimmung
zwischen zwei Ideen, also eine reine Relation zwischen verschie‑
denen Termini bedeutet, so ist es für den Bestand der Wahr‑
heit erforderlich, dass der Bestand der Fundamente dieser Re‑
lation gesichert ist. Die Beziehung besitzt, losgelöst von den
Elementen, die durch sie verknüpft und zusammengehalten
werden, keine abgesonderte selbständige Wirklichkeit; die Auf‑
hebung der Elemente würde also gleichzeitig die Aufhebung
i h r e r objektiven Gewissheit besagen. Die Anerkennung der zeit‑
losen G i l t i g k e i t bestimmter Sätze schliesst somit implicit die
Annahme der ewigen E x i s t e n z einfacher intelligibler Wesen‑
heiten in sich. Unser Wissen kann nicht, wie Hiob es von der
Erde sagt, frei auf dem Nichts schweben; es fordert eine sub‑
stantielle Unterlage, die über alle Aenderungen in der sinnlichen
Erscheinungswelt erbaben i s t und in immer gleichbleibendem
Bestande beharrt.i8) ‑
Gegen diese Art der Beweisführung liegt freilich ‐ wie
Norris sich alsbald selber einwendet ‐ der Einwurf nahe, dass
hier das „Sein“ der Copula im Urteil m i t dem Sein eines kon‑
kreten Einzelgegenstandes verwechselt werde. Dass der
Mensch ein Lebewesen „ist“, das bedeutet ‐ wie schon die Scho‑
lastik, wie insbesondere Suarez argumentiert hatte ‐ keines‑
804 John Norris.

wegs, dass der Mensch existiert: es schliesst keinerlei absolute


Setzung und Behauptung ein, sondern w i l l n u r eine bypothetische
Beziehung zwischen zwei Begriffssphären zum Ausdruck brin‑
gen. Nicht die tatsächliche Wirklichkeit der beiden Termini,
sondern lediglich ihre logische Ve r k n ü p f u n g macht den Inhalt
der Aussage aus. So einleuchtend indessen dieses Argument zu
sein scheint, so wenig hält es, nach Norris, der genaueren Prü‑
fung Stich. Die ewigen Wahrheiten begnügen sich niemals damit,
einen Zusammenhang auszusagen, der unter bestimmten Bedin‑
gungen möglicherweise einmal eintreten wird, sondern sie drücken
einen dauernden, zu allen Zeiten vorhandenen Sachverhalt aus.
Wenn die Geometrie die Eigenschaften des Kreises aus seinem
Begriffe herleitet, so w i l l sie damit nicht lediglich sagen, dass,
w e n n i r g e n d e i n m a l ein kreisähnliches Gebilde existieren
werde, es diese und jene Beschaffenheit aufweisen werde. Sie
verzeichnet hierin vielmehr einen ein für allemal giltigen Tatbe‑
stand; sie sagt aus, was i s t , nicht was einmal flüchtig und inner‑
halb eines beschränkten örtlichen und zeitlichen Umkreises sein
könnte. Es ist ein stehendes und unbewegliches „Jetzt“, ein zuxc
. stans, das in derartigen Urteilen fixiert werden soll. Das h y p o ‑
thetische Urteil steht in dieser Hinsicht mit dem k a t e g o r i ‑
schen auf völlig derselben Stufe. Die Bedingung ist n u r die
äussere Form, in die es sich kleidet; aber die Aussage selbst
w i l l ihrem I n h a l t nach schlechterdings unbedingt gelten. Um
sich dies zu verdeutlichen, muss m a n freilich nicht lediglich ein‑
seitig das Subjekt des hypothetischen Urteils, sondern den ge‑
samten Bedingungssatz (that entire conditional) als ein untrenn‑
bares logisches Ganze ins Auge fassen. Die Gesamtheit dieses
Zusammenhangs, nicht ein einzelnes Element. das w i r aus i h m
herauslösen können, ist es, was den eigentlichen Gegenstand der
Aussage ausmacht und was über ihren logischen Charakter ent‑
scheidet. Der Bedingungssatz selbst gilt absolut; die Verknüpfung,
die durch i h n gesetzt wird, hat ein gleich unaufhebliches Sein,
als es in irgend einem kategorischen Urteil gesetzt und festgestellt
wird. Alle denkende Betrachtung setzt somit ein Objekt, setzt
ein Gegenständliches, worauf sie sich richten kann, notwendig
voraus. Dieser Satz gilt f ü r das Gebiet des reinen begrifflichen
Denkens nicht minder, als er für das der Sinnlichkeit gilt. Ein
Das Sein der „ewigen Wahrheiten“. 305

„Etwas“, ein unabhängiger Bestand des Seins muss uns immer


gegenüberstehen, wenn unsere wandelbare Vorstellung sich fixie‑
r e n , sich auf e i n e n Punkt richten soll: „Science is so far from
abstracting from „That“, that it necessarily involves and implies
it.“ Die idealen Wahrheiten wären nichts ohne eine für sich
bestehende Natur und Verfassung idealer Gegenstände: eine Ver‑
fassung, die unsere Vernunft nicht zu erschaffen, sondern n u r
nachzubilden vermag. ($. 91‐105). ‑
Deutlicher noch, als bei dem Meister selbst, tritt hier bei dem
Schüler und Fortbildner das D o p p e l m o t i v hervor, v o n welchem
sich Malebranches Idealismus von Anfang an beherrscht zeigte.
(Vgl. Bd. I, S.495 ff.) Die Grundurteile der Wissenschaft sollen in
ihrer unbedingten Allgemeingiltigkeit verstanden; sie sollen von
allen empirischen Aussagen, die n u r einen vereinzelten und ein‑
maligen Tatbestand bezeichnen, scharf und prinzipiell gesondert
werden. Die geometrischen Sätze lassen sich in keiner Weise auf
derartige Behauptungen über blosse Tatsächlichkeiten reduzieren,
die irgendwo und irgendwann, an einer bestimmten Stelle des
Raumes und der Zeit gegeben wären. Sie sprechen weder von
den konkreten Verhältnissen der Einzeldinge, noch von den
Modifikationen unseres eigenen Bewusstseins, von dem aktuellen
Vollzug der Denkakte in uns selbst. Das wäre eine sonderbare
A r t v o n „Wahrheiten“, die erst dann ihre Erfüllung und Rea‑
l i s i e r u n g fänden, wenn einmal i n der äusseren Welt ein exaktes
geometrisches Gebilde sich fände, oder wenn w i r uns getrieben
fühlten, es zu konzipieren und auf dem Papier vor u n s hinzu‑
zeichnen. (S. 100f.) Soll die Sicherheit des Gedanklichen n i c h t
hinter der des Sinnlichen zurückbleiben, so muss i h r daher ein
sachliches K o r r e l a t gegeben werden; so muss das „bypothe‑
tische“ Sein, das i b m eignet, i n ein kategorisches Sein u m ‑
gedeutet werden. Und der neue Bereich intelligibler Gegen‑
stände, der damit geschaffen ist, erweist sich jetzt als ein festerer
Besitz, als i b n die Sinnendinge uns jemals darzubieten vermögen.
Zwar verwahrt sich Norris gegen die „Extravaganz“, an der ab‑
soluten Wirklichkeit der materiellen Welt zu zweifeln; aber er
spricht es aus, dass sich im ganzen Umkreis des Erkennens
kein demonstrativer B e w e i s finden lässt, der diese Wirklich‑
keit völlig sicher stellt. Jede apriorische Schlussfolgerung aus
20
306 John Norris. ‐ Arthur Collier,

blossen Begriffen ist u n s hier versagt: bildet doch die Sinnen‑


welt das Erzeugnis einer freien göttlichen Schöpfertätigkeit und
ist somit nicht m i t logischer Notwendigkeit aus ihrer „Ursache“
zu begreifen. Aber auch ein bloss empirischer und induktiver
Beweis ist an diesem Punkte, kraft der Eigenart des Problems,
unerreichbar. Der S i n n kann kein sicheres Urteil über das
Dasein der Gegenstände fällen, weil er überhaupt nicht urteilt;
weil er sich auf eine Aussage über den augenblicklichen Zustand
des Subjekts beschränkt, ohne zu den Ursachen dieses Zustands
hinauszugehen.2) „Man müsste wahrlich einen sehr meta‑
physischen „Sinn“ besitzen, um m i t i h m die Existenz w a h r z u ‑
n e b m e n ‐ und einen sehr wenig metaphysischen Verstand, um
zu glauben, dass dies möglich sei. Denn wahrnehmen, dass
e i n D i n g e x i s t i e r t , hiesse e i n U r t e i l wahrnehmen. W i r
fühlen uns stets n u r auf mannigfache Weise bestimmt und
modifiziert, sodass wir niemals eine Empfindung von K ö r p e r n ,
sondern immer n u r eine Empfindung schlechthin besitzen.“ So
löst sich die scheinbar sinnliche Evidenz, die wir von der Realität
der Aussenwelt zu besitzen glauben, soweit sie überhaupt zu
Recht besteht, in einen Akt der intellektuellen B e u r t e i l u n g der
Eindrücke, und somit in eine rein rationale Evidenz auf. „Unsere
Sinne sind hier, wie in allen anderen Fragen, stumm, so klare
Berichte und Erzählungen wir ihnen immer leihen mögen, und
die Vernunft allein ist es, die in u n s und zu u n s spricht.“ (S. 198 ff.)
W i e D i g b y, dessen Einfluss sich h i e r bekundet, so kehrt daher
auch Norris die Aristotelische Maxime der Erkenntnis u m : Nichis,
was wahrhaft im Verstande ist, ist in eigentlicher Bedeutung
jemals in den Sinnen gewesen. (S. 370f.) Auch dort, wo w i r
lediglich auf Grund der Empfindung ein Urteil zu fällen, eine
Wirklichkeit zu konstatieren glauben, sind w i r von allgemeinen
Vernunftgrundsätzen, wie etwa v o m Satze des Widerspruchs
geleitet, ohne welche unsere Aussage keine Kraft und keine all‑
gemeine Geltung besässe. (S. 195.) ‑
Wenn indessen h i e r die absolute Existenz der Körperwelt
zugestanden und n u r ihre F e s t s t e l l u n g der Sinnlichkeit ent‑
zogen und der reinen Vernunfterwägung überantwortet wird, so
ist es ein weilerer und kühnerer Schritt, der im Anschluss an
Norris’ Grundvoraussetzungen von A r t h u r C o l l i e r getan wird.
Die Unmöglichkeit einer „äusseren“ Welt. 307

Das Werk Colliers, das schon in seinem Titel den Beweis für
die Unmöglichkeit einer äusseren Welt ankündigt,%) ist drei
Jahre nach Berkeleys „Principles of human knowledge“ erschienen;
es weist indessen in der Entwicklung und Durchführung des
idealistischen Grundgedankens völlig eigenartige Züge auf, wie
es denn auch, nach dem Zeugnis des Verfassers, unabhängig v o n
Berkeley konzipiert worden ist. Es knüpft geschichtlich an
Malebranche und Norris an; aber nicht minder deutlich ist der
Einfluss, den Bayles „Dictionnaire“, der freilich nirgends aus‑
drücklich erwähnt wird, auf die gesamte Problemstellung geübt
hat. Wie Bayle, so geht auch Collier davon aus, dass alle
Beweise, die für die Subjektivität der sekundären Qualitäten
angeführt werden, volle und uneingeschränkte Geltung auch f ü r
die primären Eigenschaften der Ausdehnung, Gestalt und Be‑
wegung besitzen. (S. 15ff.) Auch diese angeblich absoluten Be‑
schaffenheiten der Dinge sind sinnlich vermittelt und können
ihr Dasein nicht anders, als vermittelst des Zeugnisses der Em‑
pfindung dartun. Dass ihre psychologische Entstehungsart
komplizierter sein mag; ‐ dass sie eine Mitwirkung verschie‑
dener Organe voraussetzt, kann keinen logischen Wertunter‑
schied und keine metaphysische Seinsdifferenz begründen. Alle
Zustände des Bewusstseins, von den Illusionen und Täuschungen
angefangen bis hinauf zu den kompliziertesten Vorstellungen und
Urteilen von Gegenständen bilden eine einzige stetige Reihe,
deren Glieder n u r graduell, nicht prinzipiell verschieden sind.
Eine beliebige Phantasievorstellung unterscheidet sich v o n der
„ w i r k l i c h e n “ sinnlichen Empfindung nicht dadurch, dass die
letztere sich auf eine völlig andere A r t von Gegenstand bezieht,
sondern lediglich in rein psychologischen Qualitäten und Merk‑
malen. Denken w i r uns diese psychologischen Bestimmungen
variiert, denken w i r u n s etwa die „Lebhaftigkeit“ des Phantasie‑
bildes sowie die Bestimmtheit seiner einzelnen Teile stetig ge‑
steigert, so werden w i r dadurch das „subjektive“ Bild in ein
„objektives“ überführen können, ohne i h m doch irgendwelche
anderen Bestimmungen, als solche, die rein dem Gebiet des
B e w u s s t s e i n s angehören, hinzugefügt z u haben. (S. 12£.)
Dass das Objekt der Gesichtswahrnehmung sich von unserem
„Ich“ loszulösen scheint, dass es i h m als ein Selbständiges u n d
ao
308 Arthur Collier.

Aeusseres gegenübertritt, ist freilich richtig und soll, wie Collier


betont, durch seine Theorie nicht bestritten werden: aber es g i l t
einzusehen, dass diese Art „Aeusserlichkeit“ keine absolute, keine
den Dingen an sich selbst anhaftende Beschaffenheit ist, sondern
ihren Grund in den Bedingungen des Sehens besitzt.
Die F u n k t i o n der Wahrnehmung, nicht ein v o n i h r gänzlich
unabhängiger Gegenstand enthält die zureichende Erklärung
dieses Grundphänomens.!) Die Scheidung in eine innere u n d
äussere Welt ist somit selbst eine L e i s t u n g des Bewusstseins,
nicht ein Ta t b e s t a n d , der i h m vorausliegt. Was wir Materie,
was w i r Körper oder Ausdehnung nennen, hat seinen Bestand n u r
im Geiste, d. h. abhängig v o n seinen Gedanken und Vorstel‑
lungen und ist keines Seins ausserhalb dieser Abhängigkeit
fähig.®)
Die Wahrheit dieser Tbese sucht Collier zunächst durch rein
methodische Erwägungen über Aufgabe und Charakter des logi‑
schen Beweises darzutun. Wer einen Gegenstand, losgelöst v o n
allen Beziehungen zur Erkenntnis, annimmt, den trifft ersicht‑
l i c h die Beweislast dafür, dass eine derartige Hypothese irgend
einen Rechtsgrund besitzt. Was für uns in jeder Beziehung u n ‑
bekannt ist und kraft seines Begriffes unbekannt bleiben muss:
das besitzt für unsere Vernunfterwägung keine andere Bedeutung,
als wenn es überhaupt nicht wäre. Es ist eine allgemeingiltige
wissenschaftliche Maxime, dass n u r auf Grund irgendwie gege‑
b e n e r Tatsachen sich ein Urteil fällen lässt: „eadem est ratio
n o n entis et n o n apparentis“. (S.41f.) „Niemand hat das Recht,
Etwas, v o n dem er selbst nicht das Geringste zu wissen bekennt,
z u m Gegenstand einer Frage zu machen, und umgekehrt h a t
‚jeder ein Recht, nicht n u r das Dasein von Etwas, das zugestan‑
denermassen gänzlich unbekannt ist, in Frage zu stellen, sondern
auch sein Nicht-Sein zu behaupten.“ (S. 43.) Aber selbst wenn
w i r v o n dieser Maxime abgehen, wenn wir, ohne den geringsten
positiven Beweisgrund zu besitzen, die absolute Existenz der
Dinge einmal als giltige Hypothese anerkennen wollten: so e r ‑
weist auch diese Stellung sich der tieferen Reflexion alsbald als
unhaltbar. Denn diese Existenz ist kein problematischer Begriff
der als solcher nach subjektivem Ermessen angenommen oder
abgewiesen werden könnte, sondern sie ist, ganz abgesehen v o n
D i e Antinomien des Weltbegriffs. 309

dem metaphysischen Recht, das w i r i h r einräumen, bereits m i t


völlig unlösbaren l o g i s c h e n Widersprüchen behaftet. Von der
V e r n u n f t eine Rechtfertigung des Daseins absoluter Gegenstände
zu verlangen ‐ wie noch N o r r i s es getan hatte ‐ heisst also
das Unmögliche von i h r fordern, heisst i h r die Quadratur des
Zirkels zumuten. Wieder sind e sdie A n t i n o m i e n des Unend‑
l i c h e n , auf die Collier sich, gleich Boyle, zum Erweis dieses
Satzes beruft. Betrachten w i r die Ausdehnung als eine selbstän‑
dige, durch die Eigenart und die Gesetze unseres Denkens nicht
bedingte Wesenheit, so ist es ein Leichtes, v o n i b r gänzlich ent‑
gegengesetzte Thesen zu beweisen: so lässt sich ebensowohl dar‑
tun, dass sie endlich, wie unendlich, dass sie unbegrenzt teilbar
ist, wie dass sie aus letzten einfachen Bestandteilen besteht (vgl.
Bd. I, S. 510 f ) . Die Tatsache dieses Widerstreits zwischen
Sätzen, deren jeder sich auf gleich strenge, logische Argu‑
mente zu stützen vermag, ist durch die Geschichte der Philo‑
sophie unzweideutig bewiesen; sie bildet das eigentliche „oppro‑
brium philosophorum“. (S. 47.) Aber so unfruchtbar dieser
Kampf der Meinungen verbleibt, so lange jeder n u r bei der Ver‑
teidigung der eigenen Ansicht verharrt: ein so wichtiges Ergebnis
birgt er für den unparteiischen philosophischen Z u s c h a u e r.
Der unaufhebliche Widerstreit der Folgerungen, die aus dem
Begriffe einer absoluten Welt gezogen werden können, zeigt i h m
m i t zwingender Deutlichkeit, dass das S u b j e k t , das hier zu‑
grunde gelegt wird, sich selbst aufbebt, dass es im logischen
Sinne Nichts ist. Sind w i r einmal v o n einem derartigen Subjekt
ausgegangen, haben w i r etwa den Begriff eines „dreieckigen
Vierecks“ gebildet, so hält es freilich nicht schwer, aus i h m
verschiedene kontradikiorische Bestimmungen abzuleiten, ohne
dabei die formalen Regeln der Schlussfolgerung im geringsten
zu verletzen; aber w i r werden durch die Aufdeckung dieses Tat‑
bestandes nicht an der Giltigkeit dieser Regeln selbst irre werden,
sondern den Grundmangel i n der falschen Vo r a u s s e t z u n g er‑
kennen, von der aus beide Parteien argumentierten. „Fragt m a n
m i c h somit, ob es eine ausgedehnte Materie (unabhängig v o n
Bewusstsein und Denken) gibt, so antworte i c h m i t Nein: denn
sie weist diese und jene Widersprüche auf, die i h r Dasein ver‑
nichten und unmöglich machen. Was kann ein Gegner hierauf
310 Arthur Collier.

erwidern? Er kann die bezeichneten Widersprüche nicht leugnen:


denn alle Philosophen stimmen in diesem Punkte überein. Oder
wird er den Schlusssatz bestreiten, während er die Prämissen
zugibt? Gewiss nicht ‐ denn dies wäre offenbarer Skeptizismus
und eine Verleugnung aller Wahrheit, aller Vernunft und alles
Denkens und Schliessens überbaupt. Was also bleibt übrig, als
dass w i r alle den Schluss ziehen, dass eine absolute äussere Ma‑
terie ein gänzlich unmögliches Ding ist?“ (S. 52.) Sinnenschein
und gemeiner Verstand vermögen dieses Ergebnis, das nunmehr
aus allgemeinen rationalen Gründen feststeht, nicht mehr in Frage
zu stellen. Ihnen w i r d das typische Beispiel entgegengehalten,
das sich, wie m i t innerer sachlicher Notwendigkeit, allen idea‑
listischen Denkern der neueren Zeit immer von neuem aufdrängt.
W i e die Copernikanische Weltansicht die unmittelbare An‑
schauung kritisch berichtigt und überwunden hat, so sollen
w i r uns, wenngleich wir fortfahren mögen, die Sprache des
täglichen Lebens zu sprechen, doch in Gedanken und U r t e i l
zu einer höheren Auffassung erheben. (S. 82.) So quillt uns jetzt
aus dem, was anfangs eine unlösliche Schwierigkeit schien, eine
unerwartete neue Klarheit; so dient der Widerspruch, der die
Vernunft zu vernichten drohte, dazu, sie in sich selbst zu festi‑
gen, indem er beweist, dass alles Sein n u r relativ zu i h r und zu
irgend einem Vermögen unserer „Perzeption‘“ sich feststellen und
behaupten lässt.2)
F ü r C o l l i e r freilich handelt es sich nicht lediglich darum,
die Sicherheit und Selbständigkeit der Ve r n u n f t , sondern v o r
allem auch die Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit Gottes
zu wahren. We r der Materie ein unabhängiges Dasein zugestehit,
der muss folgerichtig auch den R a u m , in welchem sie sich be‑
findet, als eine f ü r sich bestehende Wesenbeit ansehen. Damit
aber wäre ein u n e n d l i c h e s und notwendiges Dasein gesetzt,
das ausserhalb Gottes und gleichsam neben i h m bestünde; damit
wären der „Creatur“ alle Rechte eingeräumt und alle Prädikate
zugestanden, die einzig und allein dem Schöpfer zugehören.
Sie wäre es jetzt, der die Bestimmungen der Allgegenwart u n d
der strengen Einheit und Gleichförmigkeit, der die Eigenschaft
der Unbegrenztheit und der Unabhängigkeit v o n allem körper‑
lichen Dasein zukäme. (S. 68f£.) So würde das göttliche Sein
Raumbegriff und Gottesbegriff. al

n u n nicht mehr alles Sein überhaupt ausfüllen; so würde es


durch sein eigenes Werk gehemmt und beschränkt. Und wenn
man, um dieser Gefahr zu entgehen, die Ausdehnung selbst zum
Te i l des göttlichen Wesens macht, wenn m a n den Raum als
ein A t t r i b u t der göttlichen Substanz ansieht, so kehrt auch
damit die Schwierigkeit n u r v o n neuem und in verstärktem
Maasse zurück. Denn sollen Gott und Welt nicht in eine
pantheistische All-Einheit aufgehen; soll jedes v o n ihnen sein
eigenes und gesondertes Sein bewahren, so würden w i r wieder‑
um zwei verschiedene, unendliche Räume erhalten, v o n denen
nicht einzusehen ist, wie sie neben einander sollen bestehen
können. (S. 70f) Der absolute R a u m erweist sich somit,
sobald er in seine logischen Bedingungen zerlegt wird, als ein
blosses „ I d o l u n s e r e r E i n b i l d u n g s k r a f t “ : und das gleiche
Verdikt muss denn auch die absolute Materie treffen, deren Vor‑
aussetzung er ist. Collier hat hier bereits aufs schärfste die all‑
gemeinen metaphysischen und erkenntnistheoretischen Probleme
bezeichnet, die den kritischen Kampf zwischen L e i b n iz und New‑
t o n , der kurz darauf zum literarischen Austrag kam, beherrschen.%)
Dieser Umstand erklärt es, dass ‐ s o gering die u n m i t t e l b a r e
geschichtliche Wirkung war, die von Colliers Schrift ausging, ‑
die entscheidenden sachlichen Motive, die in ihr enthalten waren,
dennoch nicht verloren gingen: sie gelangen im Briefwechsel
zwischen Leibniz und Clarke, in dem sie völlig selbständig und
unter einem allgemeinen logischen Gesichtspunkt erörtert werden,
zu neuer Bedeutung und greifen nunmehr entscheidend in die
philosophische Gedankenbewegung der Zeit ein. (S.BuchVI,Kap.2.)
We n n Colliers eigener Lehre diese Fortdauer versagt blieb, so
lässt sich dies aus der Einschränkung verstehen, in welcher sie
v o n Anfang an die Aufgabe des Idealismus fasst. Sie beschränkt
sich auf die kritische Aufweisung der Widersprüche des gemeinen
Weltbegriffs; aber sie gibt keine Erläuterung, wie diese Wider‑
sprüche sich v o m Standpunkt der neuen Denkart lösen. Zwar ver‑
spricht Collier, dereinst, wenn erst das Fundament seiner Philoso‑
phie sichergestellt und anerkannt sei, diese Lösung nachzuholen;®)
aber da dieses Versprechen nicht z u r Ausführung gelangt ist, so
feblt seiner Lehre die eigentliche p o s i t i v e E r f ü l l u n g , die i h r
allein geschichtlichen Bestand hätte sichern können.
812 Robert Boyle.

I V.
Die Lehre Colliers hat uns bereits unmittelbar in die Nähe
der Probleme geführt, die in der Naturwissenschaft Newtons
ihre einheitliche systematische Formung erhalten haben. F ü r
die philosophische K r i t i k der Erkenntnis boten diese Probleme
zunächst ein völlig neues M a t e r i a l dar, das die Fragestellung
fortan in einer eindeutig bestimmten Richtung erhielt und das
i h r eine klare Begrenzung gab. Aber nicht lediglich in diesem
positiven Sinne ist die Physik Newtons für die Gesamtentwicklung
der Philosophie wichtig und förderlich geworden. Auch die meta‑
pbysischen Schwierigkeiten, die sie barg und die sie selber in
ihrer konkreten geschichtlichen Gestalt nicht völlig zu bewältigen
vermochte, haben der kritischen Analyse als immer erneuter
Antrieb gedient. Die Lehre K a n t s bildet n u r den letzten Ab‑
schluss dieses geistigen Gesamtprozesses. Bevor w i r uns indessen
dieser Entwicklung zuwenden, müssen wir kurz die logischen
Motive berühren, die auch ausserhalb der Lehre und der Per‑
sönlichkeit Newtons im allgemeinen Fortgang der Naturwissen‑
schaft der Epoche zu Tage treten. Hier ist es vor allem Robert
Boyle, der, als der eigentliche Repräsentant der empirischen
Forschung der Zeit, auch ihre philosophische Denkweise z u m
charakteristischen Ausdruck bringt. Boyles Schriften halten sich
durchaus ausserhalb des Umkreises der eigentlich metaphysi‑
schen Fragen; aber sie zielen dennoch m i t vollem Bewusstsein
auf eine Berichtigung und Umgestaltung des herkömmlichen
N a t u r b e g r i ff s hin, durch welche dieser einer neuen theoreti‑
schen Auffassung und Behandlung zugänglich gemacht wird. ‑
Boyles Schrift „De ipsa Natura“, die alle seine kritischen
Bestrebungen zusammenfasst, beginnt m i t der Verwunderung
darüber, dass m a n bisher über allgemeinen Lobeserhebungen,
m i t denen m a n die Natur bedacht, versäumt habe, eine klare
und eindeutige logische D e fi n i t i o n v o n i h r zu gewinnen. Man
spricht völlig unbefangen von der Natur, als einem einheitlichen,
für sich bestehenden Urwesen und übersieht darüber, dass der
Sprachgebrauch des gemeinen Lebens, wie der Wissenschaft das
Wort in einer Weite und Unbestimmtbeit gebraucht, die es
schliesslich um allen klaren logischen Sinn bringt. Die Natur
Die Kritik des Naturbegriffs. 313

einer Sache bedeutet uns bald die geheime Grundkraft, der alle
ihren einzelnen Beschaffenheiten und Wirkungen entströmen,
bald n u r die geordnete Verfassung ihrer einzelnen Teile; sie
erscheint u n s bald als eine Art geistiger Macht, die nach be‑
stimmten Zielen h i n und gemäss bestimmten Zwecken tätig ist,
bald als ein Inbegriff bloys mechanischer Antriebe und Wirk‑
samkeiten.®) So wird zu einem einzelnen und einfachen D i n g e
gemacht, was doch n u r der Ausdruck und Reflex verschieden‑
artiger, einander mannigfach kreuzender und widerstreitender
gedanklicher Betrachtungsweisen ist. Dem gegenüber gesteht
Boyle, soweit von der gewohnten Heerstrasse des Denkens abge‑
wichen zu sein, dass er häulig das Paradoxon h i n und her
erwogen habe: ob überhaupt die Natur ein Gegenstand oder
vielmehr ein blosser N a m e ; ob sie ein r e a l e s existierendes
E t w a s oder n u r ein Begriffsiwesen sei, das die Menschen
erdacht haben, um eine Mannigfultigkeit von Erscheinungen in
einem einzigen abgekürzten Auscruck zu bezeichnen. Wenn
etwa ‐ um ein Beispiel anzuführen ‐ von dem tierischen Ver‑
dauungsvermögen die Rede ist, so werden diejenigen, die ihre
Worte sorgsam prüfen und abwägen, darunter keine v o m mensch‑
lichen Körper losgelöste Wesenheit, verstehen, sondern n u r
das Ganze der chemischen und physiologischen Bedingungen,
die für den Prozess der Verdauung bestin:mend und erforderlich
s i n d . ) Folgen w i r diesem Vorbild, so warden w i r allgemein in
der Natur nicht länger eine selbständige. kraftbegabte Potenz
sehen, sondern in i h r lediglich eine „ideah:“ Begriffsschöpfung
erkennen. Boyle vollendet hier in einem spharfen Ausdruck,
was K e p l e r u n d G a l i l e i in ihrem Kampfe gegen Aristoteles
begonnen hatten; er entkleidet die Natur ihres innerlichen „sub‑
stantiellen“ Daseins, um sie lediglich als das geordnete Ganze
der E r s c h e i n u n g e n selbst z u denken. (Vgl. B a . I , S . 2 6f8.
u.310£f.) Freilich ist selbst diese entscheidende U m f o r m u r g v o n
t h e o l o g i s c h e n Motiven und Zusammenhängen noch nicht geıöst;
noch wird die absolute Macht der Natur bekämpft und einge‑
schränkt, um damit alles Sein und Wirken auf Gott allein zurück‑
zuführen. Aber der idealistische Zug, der der gesamten modernen
Wissenschaft v o n ihren ersten Anfängen an innewohnt, tritt
selbst in dieser Verkleidung noch deutlich zu Tage. „Wenn w i r
Robert Boyle. ‐ Joseph Q5lanvill.

sagen, dass die Natur handelt, so m e i n g n w i r damit nicht sowohl,


dass ein Vorgang k r a f t der Natur, als vielmehr, dass er gemäss
der Natur v o n Statten geht. Die Natur ist hier also nicht als
eine distinkte und abgesonderte Tätigkleit, sondern gleichsam als
die Regel oder v i e l m e h r a l s das!/System d e r Regeln zu
betrachten, gemäss welchen die tätigen Kräfte und die Körper,
auf welche sie wirken, v o n dem grossen Urheber der Dinge zum
Handeln und Leiden bestimmt werden.“®) Der m a t e r i a l e
Begriff der Natur ist damit i n den‘ f o r m a l e n , die Natur als
Sache in die Natur als Inbegriff der Regeln aufgehoben. ‑
Die theoretische Grundansicht, v o n der Boyles empirische
Forschung geleitet wird, hat ihre explicite Darstellung und nähere
Ausführung in den Schriften Joseph G l a n v i l l s gefunden. Es
ist durchaus irrig, wenn m a n Glanvill ‐ durch den Titel seines
"Hauptwerks, der „Scepsis scientifica“, getäuscht ‐ allgemein als
„Skeptiker“ betrachtet und beurteilt hat. Seine Skepsis richtet
sich ‐ wie er selbst gegenüber falschen Deutungen, die sie schon
bei den Zeitgenossen erfuhr, nachdrücklich hervorhebt®) ‐ ledig‑
lich gegen die überlieferte Schulphilosophie. I h r stellt er die
echte Methode der induktiven Forschung gegenüber, als deren
eigentlichen Meister er Boyle verehrt.®) Der Kontrast zwischen
der scholastischen Ansicht der Natur, die die Welt mit blossen
Wortwesen bevölkert, und dem echten empirischen Verfahren, das
lediglich auf die exakte Feststellung der Phänomene selbst geht,
bildet das durchgängige Thema v o n Glanvills Schriften. Immer
von neuem w i r d h’er auf die Londoner Royal Society, als auf die
wahrhafte Verkörnerung eines neuen W i s s e n s i d e a l s hingewie‑
sen, das einen »nermesslichen Fortschritt eröffne, während der
blosse „Begriffsweg“ (the Notional way) zu ewiger Unfruchtbarkeit
verurteilt ble’ve81) „ E i n Kursus der Philosophie ist f ü r m i c h
n u r eine Warrhbeit in F o l i o und sein Studium n u r ein anstren‑
gender Müssiggang. Die Dinge werden hier in Begriffsatome zer‑
bröckelt und ihre Substanz in einen Aether der Einbildung ver‑
flüchtigt. Der Verstand, der in dieser Luft zu leben vermag, ist
ein Chamäleon, eine biosse aufgeblasene Hülse.“ Im Gegensatz
hierzu geht das Ziel, das die freie Forschung der neueren Zeit
sich gestellt hat, nicht darauf, neue Theorien und Begriffe in die
Philosophie einzuführen, sondern als ihre erste und vornehmliche
Aristotelische und moderne Naturansicht. 815

Aufgabe betrachtet sie es, sorgsam zu untersuchen und genau zu


berichten, wie die Dinge sich de f a c t o verhalten. I h r Ge‑
schäft besteht nicht im Disputieren, sondern im Handeln; i h r
Endzweck geht darauf, die Philosophie von leeren Bildern und
Schöpfungen der Phantasie zu befreien und sie auf die offen‑
kundigen Gegenstände der Sinne einzuschränken.) Die dogma‑
tische Schulphilosophie ist es, die u n s im eigentlichen Sinne zur
Skepsis verurteilt, da sie die Erscheinungen zuletzt in „dunkle
Qualitäten“ auflöst,8) während die empirische Naturbetrachtung
das Gebiet des Bekannten und Gegebenen nirgend verlässt. „Wenn
diese Methode in der Weise fortschreitet, wie sie begonnen hat,
so wird sie die Welt m i t Wundern erfüllen. I c h zweifele nicht,
dass sich für die Nachwelt manche Dinge, die jetzt blosse
Gerüchte sind, in praktische Wirklichkeiten gewandelt haben
werden, dass in wenigen Menschenaltern eine Reise nach dem
Monde nicht seltsamer sein wird, als heute eine Reise nach
A m e r i k a . . . Diejenigen, die n u r nach der Enge früherer Prin‑
zipien und Grundsätze urteilen, werden freilich über diese para‑
doxen Erwartungen lächeln: aber unzweifelhaft waren die grossen
Entdeckungen, die in den letzten Jahrzehnten der Welt eine
neue Gestalt gegeben haben, früheren Epochen nicht minder
lächerlich. Und wie wir heute die Ungläubigkeit der Alten ver‑
dammen, so w i r d auch die Nachwelt Ursache genug haben, mit‑
leidig auf die unsere herabzusehen. Es gibt, trotz aller Be‑
schränktbeit oberflächlicher Beobachter, Seelen v o n weiterem
Gesichtskreis, die eine grössere vernünftige Gläubigkeit besitzen.
We r m i t der Fruchtbarkeit der C a r t e s i s c h e n Prinzipien und
den unermüdlichen u n d scharfsinnigen Bemühungen so vieler
wahrer Philosophen vertraut ist, w i r d an nichts verzweifeln.“®)
Man sieht: dies ist nicht die Sprache des „Skeptikers“; es ist die
Glaubenserklärung der Erfahrungswissenschaft, die fortan, inner‑
halb ihres eigentümlichen Gebiets, keine Schranken und Hemm‑
nisse m e h r anerkennt. ‑
Diese Fruchtbarkeit wird freilich damit erkauft, dass w i r
auf die Frage nach den metaphysischen „Gründen* der Phäno‑
mene endgiltig verzichten lernen. Die „Ursächlichkeit* kann
und därf u n s nichts anderes bedeuten, als das empirische Bei‑
sammen und die empirische Succession der Erscheinungen. Jeder
816 Joseph Glanvill.

Schritt, der hierüber hinausführt, würde uns ins Dunkle und


Unbekannte, in das Gebiet der blossen fiktiven Begriffswesen zu‑
rückleiten. A u f welche Weise die Wirkung in der Ursache ent‑
halten und durch sie gesetzt ist: dies lässt sich auf keine Weise
l o g i s c h deutlich machen. Dass die Seele, dass ein rein geistiges
Wesen den Körper zu bewegen vermag: dies ist ebenso schwer
zu begreifen, wie dass ein blosser Wunsch Berge versetzen sollte.
Weder die innere, noch die äussere Wahrnehmung, die für u n s
die einzigen Quellen der Erkenntnis sind, vermag uns hier einen
einzigen Schritt vorwärts zu bringen. „Wenn jemand anderer
Meinung ist, so lasst i b n n u r sorgsam seine Vorstellungen prüfen:
und wenn er alsdann irgend ein bestimmtes Verständnis von den
Beschaffenheiten des Seins in sich findet, das er weder aus dem
äusseren, noch aus dem inneren S i n n geschöpft hat, so w i l l i c h
glauben, dass ein Solcher Chimären zu Wirklichkeiten machen
kann.“8) So leitet Glanvill, der ursprünglich von Descartes aus‑
gegangen war und der in ihm, trotz mancher Abweichungen im
Einzelnen, noch immer den eigentlichen „Grosssiegelbewahrer der
Natur“ erblickt,%&) auf der anderen Seite unmittelbar zu der Pro‑
blemstellung Lockes und Humes über. Aber sein Beispiel lehrt
zugleich, dass die blosse Hingabe an die empirische Erforschung
der Tatsachen ohne die tiefere Kritik des Verstandes gegen die
Gefahren der Transzendenz nicht dauernd zu schützen vermag.
G l a n v i l l selbst ist, so energisch und unablässig er die Rechte
der Erfahrung verficht, durch eine merkwürdige Paradoxie der
Geschichte, gleichzeitig zu einem der eifrigsten Verteidiger des
H e x e n g l a u b e n s geworden, den e r noch einmal i m Bewusstsein
der Zeitgenossen zu befestigen und m i t neuen „tatsächlichen“
Beweisen zu stützen versucht hat.3”) An diesem Punkte ist seine
wissenschaftlicbe „Skepsis“ erlahmt. Nichts zeigt deutlicher, als
U dieses Zusammentreffen, dass die blosse empirische Beobachtung,
s o lange sie sich noch nicht ihrer letzten P r i n z i p i e n u n d
G r ü n d e versichert hat, f ü r die wabrbaft philosophische u n d
wissenschaftlicbe Aufklärung unzureichend bleibt. Das Ver‑
ständnis dieser Prinzipien aber konnte erst gewonnen werden,
nachdem die Wissenschaft selbst, in der Lehre Newtons, sich
ihre einheitliche systematische Verfassung erarbeitet hatte.
Sechstes Buch:

Von Newton zu Kant.


Wenn man, dem Gange der philosophischen Systeme fol‑
gend, v o n der Erkenntnislehre L e i b n i z e n s und der E n g l ä n ‑
d e r zu den Anfängen des kritischen Systems gelangt, so muss
alsbald die Empfindung einer Lücke der geschichtlichen Erklä‑
rung sich fühlbar machen. Es ist ein veränderter gedanklicher
Horizont, in den man sich bier unvermittelt versetzt sieht. Der
Schwerpunkt der Betrachtung hat sich verschoben; die syste‑
matische Stellung der einzelnen Probleme und das dynamische
Verhältnis ihrer Abhängigkeit ist ein anderes geworden. Und
dennoch deutet, in Kants eigener Darstellung, kein äusseres
Zeichen auf diese Wandlung hin. Völlig abgeschlossen treten
die Grundfragen vor uns hin; nichts zeigt mehr den Weg oder
die inneren Motive an, die zu ihnen hingeführt haben. Diese
Lösung der geschichtlichen Continuität, diese Heraushebung der
Lehre aus allen historischen Zusammenhängen ist es, die auch
ihrem systematischen Verständnis immer von neuem Schwierig‑
keiten bereitet.
Je tiefer m a n indessen in die Voraussetzungen der kritischen
Philosopbie eindringt, um so deutlicher zeigt es sich, dass die
Isolierung, in der m a n sie zunächst erblickt, n u r Schein ist. Die
Originalität der Vernunftkritik besteht nicht darin, dass sie cin
vereinzeltes neues Grundprinzip „entdeckt“, sondern darin, dass sie
die G e s a m t h e i t der Erkenntnisprobleme auf eine andere Stufe
der Betrachtung erhebt und in eine völlig neue logische Dimen‑
sion versetzt. Dieser i h r Wert und diese ihre Eigenart ‐ die
sie einzig und allein m i t der Platonischen Ideenlehre teilt ‑
w i r d somit nicht verringert, wenn m a n erkennt, dass die M a t e r i e
der besonderen Fragen, die sie zugrunde gelegt, bis ins Einzelne
durch die philosophische und wissenschaftliche Arbeit des acht‑
820 Von Newton zu Kant.

zehnten Jahrhunderts vorbereitet ist. Der Einblick in diesen


Zusammenhang wird freilich durch die Vielgestaltigkeit der in‑
tellektuellen Interessen des Zeitalters, die sich zunächst nirgend
zu einer festen Einheit zusammenzufassen scheinen, erschwert.
Die mannigfachen gedanklichen Bewegungen der Epoche treten
anfangs in schärfstem Widerstreit einander entgegen. Leibniz’
philosophisches Erbe w a r alsbald nach seinem Tode verstreut
worden; was v o n i h m übrig blieb, lebt jetzt n u r noch in ver‑
einzelten Anregungen fort, die sich nicht mehr um einen gemein‑
samen systematischen Mittelpunkt sammeln. Und auch die m a ‑
thematische Naturwissenschaft bietet, so sehr sie in sich selber
ein Muster strenger deduktiver Geschlossenheit ist, dem philo‑
sophischen Einheitsstreben keine endgiltige Befriedigung. Zwar
scheint m i t der Lehre C h r i s t i a n Wo l ff s die Herrschaft der
mathematischen Methode auch für die Philosophie angebrochen
zu sein; und der Eklekticismus der Zeit stützt sich in der Tat
fort und fort auf diesen Zusammenhang, um i h n als die echte
und dauernde „Versöhnung“ von Metaphysik und empirischer
Forschung zu feiern.!) Den tieferen logischen Geistern aber wird
gerade diese angebliche I d e n t i t ä t der Methoden zum Anstoss
und zum schwierigsten Problem. An die Stelle der naiven Gleich‑
setzung tritt bei ihnen die Aufgabe einer exakten Grenzbestim‑
mung v o n Mathematik und Metaphysik. Es ist ein neues Ver‑
hältnis der einzelnen Wissenssphären, es ist damit ein n e u e r
B e g r i f f d e r E r k e n n t n i s selbst, der jetzt in fortschreitenden
Versuchen erarbeitet wird. Dass diese Entwicklung sich zunächst
an keinen einzelnen grossen Namen knüpft, darf nicht dazu
führen, ihren allgemeinen Kulturwert zu verkennen. W i e auf
moralischem und religiösem Gebiet, so ist es auch hier, innerhalb
des rein theoretischen Bereichs, eine unschätzbare intellektuelle
Aufklärungsarbeit, die das achtzehnte Jahrhundert vollzieht. Um
sich der einheitlichen Tendenz dieser Bewegung zu versichern,
muss freilich v o n allen üblichen Trennungslinien der philoso‑
phischen Geschichtsschreibung abgesehen werden. Wenn m a n
die einzelnen Gruppen abgelöst v o n einander ins Auge fasst,
w e n n m a n den deutschen Rationalismus oder die Lehre der En‑
cyclopädisten, wenn m a n die Naturphilosophie oder die Reli‑
gionsphilosophie der Zeit gesondert betrachtet, so gerät m a n
Wechselwirkung zwischen Philosophie und Wissenschaft. 321

damit in Gefahr, über der Erkenntnis des Einzelnen die gemein‑


samen Züge zu verlieren, die hier das Entscheidende und W e ‑
sentliche bilden” Was der Zeit i h r einheitliches Gepräge
gibt, das fällt gleichsam zwischen all diese historischen Sonder‑
erscheinungen und tritt erst in den B e z i e h u n g e n , die sich
zwischen den verschiedenen Problemgebieten knüpfen, deutlich
heraus. Die innere Gemeinsamkeit der Richtungen erweist sich
zunächst in der Aufhebung der nationalen Schranken: in dem
Zusammenhang, der jetzt, enger als je zuvor, die einzelnen Völker
u n d ihre geistigen Bestrebungen verbindet. Die drei grossen
Kulturkreise in England, Frankreich und Deutschland treten
nunmehr in so nahe Berübrung und Wechselwirkung, dass es
unmöglich ist, auch n u r die Geschichte eines einzelnen Begriffs zu
verfolgen, ohne beständig v o n einem z u m andern überzugreifen.
N i c h t minder schwinden jetzt alle festen, fachlichen Einteilungen
und Abgrenzungen. Philosophie und Wissenschaft bilden n u r
ein einziges, in sich zusammenhängendes Gebiet, in dem es keine
losgelösten und festumschränkten Sonderbezirke gibt. Und es
bleibt keineswegs bei der bloss encyclopädischen Sammlung des
Wissensstoffes, sondern es ist eine neue methodische Grundan‑
sicht, die i n den führenden Denkern, i n d ’ A l e m b e r t und M a u ‑
p e r t u i s , i n E u l e r und L a m b e r t zur Klarheit drängt. W i r
versuchen zu schildern, wie diese Anschauung sich bildet u n d
wie sie allmählich immer weitere und konkretere Probleme in
ihren Kreis zieht. Hierbei überlassen w i r uns zunächst lediglich
dem Fortgang der geschichtlichen Entwicklung selbst, ohne nach
dem Ziele zu fragen, dem sie zustrebt: aber eben diese imma‑
nente Betrachtung w i r d u n s v o n selber zu den Begriffen und
Fragen hinleiten, von denen die kritische Philosophie ihren Aus‑
gang nimmt. ‑


Erstes Kapitel.

Das Problem der Methode.


I.
Die Frage nach der Methode, m i t der die moderne Philo‑
sophie begonnen hatte, scheint in der Newtonischen Wissenschaft
z u r Ruhe und zum sichern Abschluss gelangt. Was die abstrakte
Spekulation vergeblich gesucht und ersehnt hatte, das schien
bier die empirische Forschung in ihrem stetigen Gange errungen
zu haben. Die Fundamente des Erfahrungswissens scheinen in
den mathematischen Prinzipien der Naturlehre für immer gelegt:
der Folgezeit bleibt n u r übrig, die allgemeinen Grundsätze auf
immer ausgedehntere Gebiete von Phänomenen anzuwenden und
sie zu immer reicheren Folgerungen zu entfalten. In der Tat
fassen Newtons nächste Schüler und Anhänger seine Leistung
durchaus in diesem Sinne auf. Ihnen ist Newton nicht in erster
Linie der Entdecker des Gravitalionsgesetses, sondern der Be‑
gründer einer neuen Forschungsart. Sein Werx bedeutet ihnen
v o r allem eine p h i l o s o p h i s c h e Tat, sofern i n i h m das induktive
Verfahren nicht n u r zu seinen höchsten Ergebnissen, sondern
überhaupt z u r ersten logischen Aussprache und Fixierung gelangt
ist. Die Einsicht in die Grundformel des kosmischen Geschehens
musste gering erscheinen gegenüber dem grossen prinzipiellen
Vorbild, das hier f ü r alle künftige „Experimentalphilosophie*
geschaffen w a r. ) Newton selbst hatte, am Schluss seiner Optik,
das Ziel und den Leitgedanken seiner physikalischen Forschung
m i t der Klarheit des Entdeckers und des Meisters gezeichnet.
Die Frage, was die Schwere ihrem Wesen nach sei und welchen
„inneren“ Eigenschaften sie ihre Wirksamkeit verdanke, wird
hier m i t voller Bestimmtheit abgewiesen. Denn wie immer m a n
diese Frage auch beantworten mag, so trägt sie doch nichts zu
Newtons Grundlegung der Induktion. 323

unserer Erkenntnis der Schwerephänomene bei, m i t deren


Darstellung und wechselseitiger funktionaler Verknüpfung die
mathematische Physik es allein zu tun hat. Die Prinzipien und
Kräfte, die hier angenommen werden, wollen keine verborgenen
Eigenschaften bedeuten, deren Ursprung in erdichteten „spezifi‑
schen Formen“ der Dinge zu suchen wäre, sondern sie wollen
lediglich der Ausdruck f ü r die a l l g e m e i n e n Naturgesetze
sein, die f ü r alle Formung und Gestaltung der Dinge die Vor‑
aussetzung bilden. „Dass es derartige Prinzipien tatsächlich gibt,
lehren die Erscheinungen der Natur, mag auch ihre Ursache
noch nicht erkundet sein. Die Eigenschaften, von denen w i r
sprechen, sind also offenbar, und n u r die Ursachen sind es, die
m a n dunkel nennen kann. Die Aristoteliker und Scholastiker
haben dagegen als dunkle Qualitäten nicht irgendwelche offen‑
kundigen Eigenschaften bezeichnet, sondern lediglich solche,
v o n denen sie annahmen, dass sie im Körper verborgen seien
und den unbekannten Grund der sichtbaren Wirkungen aus‑
machen. Von dieser Art wären aber die Gravitation, wie die elek‑
trische und magnetische Kraft n u r dann, wenn wir voraussetzten,
dass sie aus inneren, uns unbekannten Beschaffenheiten der
Dinge stammien, die unausdenkbar und unerforschlich sind.
Derartige „Qualitäten“ sind freilich ein Hemmnis jedes wissen‑
schaftlichen Fortschritts und werden daber von der modernen
Forschung m i t Recht verworfen. D i e Annahme spezifischer
Wesenheiten der Dinge, die m i t spezifischen verborgenen Kräften
begabt und dadurch z u r Erzeugung bestimmter sinnlicher Wir‑
kungen befähigt sein sollen, ist gänzlich leer und nichtssagend.
Aus den Phänomenen dagegen zwei oder drei allgemeine B e ‑
wegungsprinzipien abzuleiten und sodann zu erklären, wie
aus ihnen als klaren und offen zu Tage liegenden Voraussetzungen,
die Eigenschaften und Wirkungsweisen aller körperlichen Dinge
folgen: dies wäre selbst dann ein gewaltiger Fortschritt wissen‑
schaftlicher Einsicht, wenn die U r s a c h e n dieser Prinzipien uns
unbekannt blieben. Ich stelle daher unbedenklich die angegebenen
Prinzipien der Bewegung auf, da sie sich u n s in der gesamten
Natur überall sichtlich darbieten, während i c h die Erforschung
ihrer Ursachen gänzlich dahingestellt sein lasse.“ ‑
Diese fundamentalen Sätze bilden den Ausgangspunkt, zu
21°
824 Newton und seine Schule. ‐ K e i l und Freind,

dem der Streit der Methoden im achtzehnten Jahrhundert fortan


immer von neuem zurückkehrt. In der Tat sind hier die Haupt‑
fragen der philosophischen Prinzipienlehre wie in einem Brenn‑
punkt vereinigt. Wie verhalten sich P r i n z i p und Tatsache,
Gesetze und D i n g e , P h ä n o m e n und Ursache? Und die
Antwort, die hier erteilt wird, ist vor allem in einem Punkte
wichtig: in der entschiedenen und bewussten T r e n n u n g , die
jetzt zwischen den Prinzipien und den Ursachen eintritt. Worauf
alle Wissenschaft abzielt, das ist die Feststellung allgemeinster
und oberster Gesetze, durch die die Erscheinungen einer be‑
stimmten Regel und Ordnung unterworfen werden und durch
die w i r daher erst zu wahrhbaften Erkenntnisobjekten gelangen.
Der Seinsgrund dieser Gesetze bleibt uns verschlossen; ja die
Prage nach i h m fällt bereits aus den Grenzen des Wissens heraus.
Ein derartiger Seinsgrund mag immerhin existieren: für die
empirische Forschung aber und ihren Wa h r h e i t s w e r t ist e r
nichtsdestoweniger ohne Belang. Denn dieser Wert wird i h r
nicht von aussen verliehen, sondern sie muss i h n aus sich selber
und ihren eigenen Prinzipien gewinnen: aus der strengen 'deduk‑
tiven Verknüpfung, die sie zwischen den einzelnen Phänomenen
auf Grund ihrer mathematischen Erkenntnismittel herstellt.
Der Gegensatz, der hierdurch geschaffen ist, spricht sich von
n u n ab in vielfältiger Form aus. Er findet seine konkrete Ent‑
wicklung vor allem in dem Kampf der Newtonischen und
Wolffischen Schule, wie er in den Abhandlungen der Londoner
Royal Society einerseits, in den Leipziger „Acta Eruditorum“
andererseits geführt wird: einem Kampfe, der sich weiterhin bis
über die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts h i n fortsetzt und
der sich somit unmittelbar v o r den Augen des jungen Kant ab‑
spielt. In der Ta t spürt m a n in Kants vorkritischen Schriften
noch überall deutlich den Nachklang dieses methodischen Streites.
Insbesondere sind es die Argumente der jüngeren radikaleren
Mitglieder der Newtonischen Schule, wie K e i l l oder Freind,
die auf ihn ersichtlich nachhaltigen Einfluss geübt haben. Die
Grenzscheide zwischen empirischer und metaphysischer Natur‑
betrachtung war hier bereits scharf und unerbittlich gezogen.
Wenn m a n bisher das absolute Wesen der Wirklichkeit in
Definitionen, die nach Genus und spezifischer Differenz gebildet
Die Forderung der „Beschreibung“ der Tatsachen. 825

sind, zu fassen und festzuhalten wähnte, so gesteht die Erfahrungs‑


wissenschaft an diesem Punkte frei ihre Unwissenheit. „Die
innersten Naturen und Gründe der Dinge ‐ so schreibt K e i l l
in seiner „Einführung in die wahre Physik“ ‐ sind m i r unbe‑
kannt; was ich dagegen von den Körpern und ihren Wirkungen
weiss, das verdanke i c h entweder dem unmittelbaren Zeugnis
der Sinne oder habe es aus einer Eigenschaft, die die Sinne m i r
darboten, erschlossen. Es mag also genügen, wenn wir an Stelle
von Definitionen, wie sie die Logiker beibringen, eine blosse
Beschreibung anwenden, durch die jedoch der Gegenstand,
um den es sich handelt, klar und distinkt erfasst und von jedem
andern unterschieden werden kann. W i r werden also die Dinge
durch ihre Eigenschaften erklären, indem wir irgend ein einzelnes
Merkmal, oder eine Anzahl von Merkmalen, die die Erfahrung
uns an ihnen zweifellos zeigt, zu Grunde legen und aus
ihnen wiederum andere Bestimmungen nach geometrischer
Methode ableiten. Gegen diese Regel fehlen zumeist die Lehrer
einer neuen Philosophie, indem sie die Dinge nicht nach den‑
jenigen Eigenschaften betrachten, die ihnen m i t Sicherheit zu‑
kommen, sondern nach den Wesenheiten und Naturen forschen,
die sie ihnen innewohnend denken.“?) Das empiristische Losungs‑
wort der „Beschreibung“ der Phänomene ist somit keine moderne
Entdeckung, sondern geht, wie m a n sieht, bis auf die Anfänge
der „Experimentalphilosophie* zurück. Einen Naturvorgang
„erklären“ kann nichts anderes bedeuten, als i h n in all seinen
Einzelmomenten, sowie in der Abhängigkeit, in der er v o n
anderen Ereignissen und Umständen steht, zu erfassen. Dieses
Ziel ist erreicht, sobald w i r ihn, kraft der mathematischen
Rechnung, in Zusammenhang m i t irgend einer bekannten
Tatsache gesetzt haben. Alles Wissen ist daher, wenn man es
auf seine letzten Elemente zurückführt, schliesslich v o n rein
f a k t i s c h e r Geltung. Die Einsicht i n die Gewissheit unserer
wissenschaftlichen Prinzipien gewinnen w i r nicht dadurch, dass
w i r sie aus einem höheren metaphysischen Grunde ableiten,
sondern dadurch, dass w i r sie, nach vorwärts, in ihre Folgerungen
entwickeln und sie in ihnen mittelbar bewähren. Zum Beweise
für diese Grundanschauung wird jetzt neben dem System der
Physik auch ihre G e s c h i c h t e aufgerufen. „Der göttliche
326 dAlembert.

Archimedes forschte nach den Gesetzen der Mechanik und Hy‑


drostatik, ohne sich dabei aufzuhalten, die Ursache der Schwere
oder des flüssigen Zustandes zu erkunden. Indem er vielmehr
n u r das zugrunde legte, was die unmittelbare. Wahrnehmung
uns lehrt, drang er von hier aus m i t dem grössten Scharfsinn in
die Geheimnisse dieser beiden Wissenschaften ein. So brachte
auch G a l i l e i keinerlei Hypothese über die Ursache der Schwere
vor, sondern stellte lediglich die Geschwindigkeit fest, die
schwere Körper im F a l l erlangen, womit er das Fundament
legte, auf dem die grössten Meister in der Physik ihre schönsten
Entdeckungen aufgebaut haben.“ ®)
Hatte sich diese Auffassung in dem Kreise der empirischen
Forscher durchgreifende Anerkennung erworben, so bestand die
nächste Aufgabe darin, i n n e r h a l b d e r Philosophie selbst
i h r Recht zu begründen und ihre Geltung zu sichern. An diesem
Punkte setzt die Aufklärungsarbeit der französischen Encyklo‑
pädisten ein: und es ist besonders d’Alembert, der, als der be‑
deutendste Mathematiker und Logiker dieser Richtung, das
Problem in voller Klarheit in Angriff nimmt. Bei ihm zuerst
erbält die Frage ihre scharfe grundsätzliche Formulierung. Das
Abbängigkeits- und Wertverhältnis, das bisher zwischen den
beiden Gegenpolen der wissenschaftlichen Betrachtung: zwischen
den Tatsachen und den Axiomen stillschweigend angenommen
wurde, ist umzukehren. Die Axiome sind nicht der Quell der
Wahrheit, da sie sich vielmehr bei näherer Prüfung als leere
i d e n t i s c h e Sätze erweisen, d a somit derselbe Umstand, der:
ihnen ibre notwendige Geltung sichert, sie zugleich zu dauernder
Unfruchtbarkeit verurteilt.) Der Wissensgehalt, den w i r ihnen
trotzdem zuzusprechen geneigt sind, wurzelt nicht in der gedank‑
lichen Verknüpfung, die sie vollziehen, sondern in den D e fi n i ‑
tionen, die sie als Materie und Inhalt der Aussage zugrunde
legen. Die Definition selbst aber besitzt keine schöpferische
Kraft; sie vermag ‚ k e i n e neuen Wahrheiten zu erzeugen, sondern
kann n u r gewissen allgemeinen Tatsachen des Vorstellens z u m
Ausdruck und z u r Fixierung verhelfen. Die echten Anfangs‑
gründe müssen somit überall bestimmte psychische Tatbestände
bilden, für die es keine andere Ableitung und keinen Beweis
geben kann, als dass w i r sie unmittelbar in äusserer oder innerer
Tatsachen und Definitionen. 327

Erfahrung vorfinden. Einen derartigen zweifellosen Ausgangs‑


punkt besitzen w i r für die Physik in den alltäglichen Phänome‑
nen der Beobachtung, für die Geometrie in den sinnlichen Merk‑
malen der Ausdehnung, für die Metaphysik in dem Inbegriff
unserer Wahrnehmungen, f ü r die Moral in den ursprünglichen,
allen Menschen gemeinsamen Neigungen. „Die Philosophie ist
nicht dazu bestimmt, sich in die allgemeinen Eigenschaften des
Seins und der Substanz, in unnütze Fragen über abstrakte Be‑
griffe, in willkürliche Einteilungen und ewige Nomenklaturen
zu verlieren; sie ist die Wissenschaft der Tatsachen oder die der
Chimären.“®) So sehen wir, wie der rationalistischen Methodik
hier i h r eigenstes und stärkstes Instrument, m i t dem sie den
Stoff der Erfahrung zu meistern gedenkt, entwunden werden
soll. Das Besondere sollte durch das Mittel der Definition dem
Allgemeinen eingefügt und unterworfen werden; jetzt ergibt sich
umgekehrt, dass die Definition selbst, der scheinbare Typus des
Allgemeinen, n u r eine Einzeltatsache bestimmter Art ist. Sie
begnügt sich damit, Vorstellungsinhalte aufzusuchen und festzu‑
stellen, die sich in allen Subjekten gleichartig wiederfinden, und
sie w i l l hierin lediglich ein nicht weiter erklärbares anihropo‑
logisches Faktum einfach registrieren. Eine Auflösung der zu‑
sammengesetzten „Ideen“ in ihre Elementarbestandteile ist daher
die einzige Leistung, die f ü r die Logik zurückbleibt. Der Anspruch
der logischen Definition, die wirkliche Natur der Sache wieder‑
zugeben, bleibt dagegen unerfüllbar: „denn nicht n u r ist u n s
die Natur jedes Einzelwesens. unbekannt, sondern wir können
nicht einmal k l a r angeben, was unter der Natur eines Dinges
an sich selbst überhaupt zu verstehen sein soll. Die Natur eines
Dinges besteht, v o n u n s aus betrachtet, in nichts anderem, als
in der Entwicklung der einfachen Vorstellungen, die in seinem
Begriff enthalten sind.“ Die übliche Scheidung in Real- und
Nominaldefinitionen ist daher müssig. Unsere wissenschaftlichen
Erklärungen sind weder das eine noeh das andere: denn so
wenig sie blosse Bezeichnungen sein wollen, die w i r den Objekten
anheften, so wenig geben sie uns Kunde von ihrer inneren
Wesenbeit. Sie erklären die Natur des Gegenstandes, so wie w i r
i h n begreifen, nicht so wie er an sich selbst ist.?) Die eigent‑
liche fruchtbare Einsicht in die Bedeutung eines Begriffes ge‑
328 d’Alembert.

winnen w i r daher nicht dadurch, dass w i r seine M e r k m a l e ein‑


zeln aufzählen und durchgehen, sondern dadurch, dass w i r uns
die Art vergegenwärtigen, in der er aus einfacheren Vorstellungen
entstanden ist. Was die Philosophie zu leisten vermag u n d was
sie bisher über angeblich höheren, in Wahrheit aber wider‑
spruchsvollen Aufgaben versäumt hat, das ist die A u f s t e l l u n g
einer genau gegliederten Ta f e l der letzten unerweislichen Grund‑
begriffe, aus welcher sich die Art ihrer möglichen Verknüpfung
und Zusammensetzung sogleich übersichtlich ergeben w ü r d e . ' ı
Wie d’Alembert diese Grundanschauung vor allem in seiner
Entscheidung des Streites zwischen Cartesianern und Leibnizianera
über das wahre Kraftmaass bewährt hat, ist bekannt. Dieser Streit
wurzelt nach i h m in dem rationalistischen Grundirrtum, den beide
Gegner teilen: in der Ueberschätzung der Definition und ihrer ob‑
jektiv realen Bedeutung. Sobald einmal erkannt ist, dass a l l unsere
Begriffe nichts anderes, als abgekürzte Bezeichnungen f ü r be‑
stimmte Erfahrungstatsachen sein können, ist die Frage für
immer entschieden. Die Leibnizische wie die Cartesische Maass‑
bestimmung sind als Formeln unserer empirischen Erkenntnis
gleich wertvoll, wie sie als metaphysische Bestimmungen gleich
nichtig sind. Dieses Urteil indessen, das man von jeber als einen
Triumph der positivistischen Aufklärung rühmt, lässt dennoch
zugleich die Schranken von d’Alemberts Kritik deutlich hervor‑
treten. Der Streit um das Kraftmaass war, z u m mindesten auf
Leibniz’ Seite, keineswegs ein blosser Wortstreit gewesen: denn
nicht darum handelte es sich hier, welchem willkürlich be‑
stimmten analytischen Ausdruck m a n den N a m e n der Kraft
beilegen sollte, sondern welche unter allen empirisch bekannten
Grössen dem P o s t u l a t d e r E r h a l t u n g gerecht würde, das
Leibniz als obersten logischen Grundsatz der Physik verkündet
hatte. Dieses Postulat aber bezog sich, wie Leibniz unzweideutig
ausgesprochen hatte, nicht auf die Welt der Monaden, sondern
es wollte lediglich die Grundgesetzlichkeit, die unter den Phä‑
nomenen selbst herrscht und die erst ihre mathematische Er‑
kenntnis ermöglicht, z u m Ausdruck bringen.!!) Fasst man diese
Ansicht ins Auge, so gewahrt m a n sogleich die Lücke in d’Alem‑
berts Beweisführung. Die Tatsache, dass dem allgemeinen Begriff
der Einblick in die absoluten Wesenheiten der Dinge versagt

mn
Der Doppelcharakter von d’Alemberts Erfahrungsiehre. 829

bleibt, führt hier unmittelbar dazu, auch die Funktion, die er


innerhalb der empirischen Erkenntnis selbst ausübt, herabzu‑
setzen und zu bestreiten. Das Verdikt, das zunächst n u r Aussagen
. über ein Sein jenseit der Erfahrung treffen sollte, erstreckt sich
. nunmehr auf die rationalen Grundlagen der Erfahrungserkenntnis
. selbst. Das Recht dieses Schrittes aber konnte nicht erwiesen
werden, und so verliert d’Alemberts positivistische Kritik an
diesem Punkte in der Tat ihre Schärfe und Kraft. Solange die
metaphysischen und die wissenschaftlichen „Hypothesen“ noch
auf e i n e r Stufe standen, solange konnte die O n t o l o g i e , gegen
die d’Alemberts Kampf sich wendet, noch ungeschwächt ihre
Macht behaupten: musste doch die Analyse der Erfahrung selbst,
sofern sie auf notwendige und aligemeine E r k e n n t n i s g r ü n d e
führte, zugleich die ontologischen Behauptungen zu stärken und zu
schützen scheinen. Der Gegensatz, den d’Alembert zwischen
Logik und empirischer Wissenschaft, zwischen den Definitionen
und den Tatsachen aufrichtet, kann nicht als das letzte Wort der
Entscheidung gelten wollen: denn bedarf es für die schlichte Be‑
schreibung der Tatsachen selbst, bedarf es für die Feststellung
und Sicherung des rein phänomenologischen Weltbildes nicht
selbst wiederum allgemeiner b e g r i f fl i c h e r Gesichtspunkte,
kraft deren wir die Empfindungen in feste Ordnungen fügen? ‑
Fragen dieser A r t sind d’Alembert nicht fremd geblieben;
vielmehr hat er sie m i t all der Klarheit und Aufrichtigkeit, die
i h n auszeichnet, selbst hervorgehoben. Der Empirismus L o c k e s
und Newtons, die beide seinen Ausgangspunkt gleichmässig
bestimmen, drängen in i h m zu immer schärferer Unter‑
scheidung. Der Begriff der E r f a h r u n g selbst ist zweideulig
und bedarf der näheren Bestimmung. Von der „Beobachtung“
im gewöhnlichen Sinne, die n u r die zufällige Auffassung eines
gegebenen Objektes ist, muss das Verfahren der empirischen
Wissenschaft geschieden werden, das sich nicht m i t passiv
hingenommenen Wahrnehmungen begnügt, sondern m i t eigenen,
vom Geiste selbst gestellten Fragen vor die Natur hintritt.!2)
Wenn sich bis hierher n u r die alte Baconische Forderung der
„experientia litterata“ ausspricht, so wird sie doch jetzt in völlig
neuem Sinne gestellt, d a die M a t h e m a t i k nunmehr als eigent‑
licher Ausdruck jener Aktivität des Geistes erkannt ist, in der
330 d’Alembert.

auch der Wert und die Kraft des naturwissenschaftlichen Expe‑


r i m e n t s wurzelt. D’Alemberts sensualistische Kritik macht v o r
den mathematischen Grundbegriffen Halt. Wenn er in dem ein‑
leitenden Diskurs zur Encyclopädie von dem Satze ausgegangen
war, dass alle unsere Erkenntnisse sich auf diejenigen redu‑
zieren, die w i r durch die Sinne empfangen,'3) so erfährt dieser
Satz in der Entwicklung der algebraischen und geometrischen
Prinzipien alsbald eine wesentliche Einschränkung. Die Gewiss‑
heit der Algebra beruht darauf, dass sie es lediglich m i t r e i n
i n t e l l e k t u e l l e n B e g r i f f e n und somit m i t Ideen, die wir selbst
uns durch Abstraktion bilden, zu tun hat. Ihre Prinzipien sind
allem Zweifel und aller Dunkelheit enthoben, weil sie unser
eigenes Werk sind und n u r das enthalten, was w i r in sie gelegt
haben.!+) Wenn hier der Terminus der „Abstraktion“ noch an die
empiristischen Begriffstheorien erinnert, so hat er doch, wie die
schärfere Betrachtung zeigt, selber bereits eine wichtige Wand‑
lung erfahren. Denn unter dem „abstrakten“ Begriff wird nun‑
mehr nicht mehr der unvolikommene Abdruck bestimmter indi‑
vidueller Wahrnehmungsinhalte verstanden, sondern das Ergeb‑
nis eines reinen Denkverfahrens, kraft dessen w i r neue und selb‑
ständige Inhalte erschaffen, die über alle Daten der Empfindung
hinausgehen. So wird insbesondere an den geometrischen
Begriffen dargetan, dass i h r Sinn sich niemals in irgend einer
einzelnen „Impression* verkörpert, noch an i h r zu messen ist.
So gewiss wir, um zu ihnen zu gelangen, v o n sinnlichen Ein‑
drücken den Anfang machen müssen: so wenig vermögen diese
allein ihren Gehalt und ihre Bildung zu erklären. Denn jede
geometrische Aussage greift prinzipiell über alles, was der direkten
psychologischen Erfahrung gegeben ist, hinweg, sie bezieht sich
nicht auf irgendwelche einzelne Vo r s t e l l u n g s b i l d e r, sondern
auf die i n t e l l e k t u e l l e n Grenzen, die w i r einer i n sich selbst
unabgeschlossenen und unendlichen Reihe solcher Bilder kraft
einer Setzung des Denkens hinzufügen.!5) Diese Leistung der
ideelilen Grenzseizung w i r d nunmehr als die eigentliche Funktion
des B e g r i f f s erkannt u n d beschrieben. Man versteht es in
diesem Zusammenhange, dass d’Alembert zu einer Rechtfertigung
und Wertschätzung der „Abstraktion“ gelangt, die den A n f ä n g e n
seiner Erkenntnislehre unmittelbar widerstreitet. Je „abstrakter‑
Die Analyse der mathematischen. Begriffe. 331

die Grundlagen einer Wissenschaft sind, um so sicherer ist die


Erkenntnis, die sie verstattet; je mehr dagegen i h r Gegenstand
sich dem Sinnlichen näbert, um so ungewisser und dunkler wird
das Wissen v o n ihm.!®)
Eine wichtige prinzipielle Anwendung der neuen Grund‑
anschauung, die er hier gewinnt, hat d’Alembert in seiner k r i t i ‑
schen Erörterung des Z e i t b e g r i ff s gemacht. Hier zeigt e s
sich, dass die Bedeutung der Grenzbegriffe sich nicht auf die
Matheınatik einschränken lässt, sondern dass sie überall in
unsere Erkenntnis der konkreten physischen Wirklichkeit ein‑
greift, die somit gleichfalls ein „ideales“ Moment in sich schliesst.
Die Idee der Zeit gewinnen wir sicherlich n u r aus der Succession
unserer Vorstellungen; aber die Frage nach der Natur und dem
Gehalt des Begriffes ist m i t dieser psychologischen Aufklärung
nicht erschöpft. Denn der Fluss unserer Vorstellungen zeigt uns
niemals jene exakte G l e i c h f ö r m i g k e i t , die wir m i t dem Be‑
griff der Zeit verbinden und kraft deren sie uns zum Grundmaass
f ü r alle empirischen Veränderungen wird. Ebensowenig aber
kann man sich, zur Ableitung des Begriffs der streng gleich‑
förmigen Bewegung, einfach auf die äussere Erfahrung berufen:
denn wie liesse sich irgendwelche physikalische Erfahrung an‑
stellen, ohne dass wir ein festes und bestimmtes Zeilmaass bereits
zu Grunde legten?!)
Hatten daher d’Alemberts „Elemente der Philosophie“ jed‑
weden „metaphysischen“ Bestandteil aus der empirischen Wissen‑
schaft schlechthin verwiesen, so geben die Erläuterungen, die
später diesem Werke hinzugefügt werden, der positivistischen
Grundanschauung eine veränderte Wendung. „Die Metaphysik
ist je nach dem Gesichtspunkt, unter dem m a n sie betrachtet,
die befriedigendste oder die nichtigste aller menschlichen Er‑
kenntnisse: die befriedigendste, so lange sie sich auf die Gegen‑
stände beschränkt, die ihren Horizont nicht übersteigen, so lange
sie sie m i t Schärfe und Genauigkeit analysiert und sich in ihrer
Zergliederung nicht über dasjenige, was sie an eben diesen Gegen‑
ständen k l a r erkennt, forttreiben lässt; die nichtigste, wenn sie
sich, zugleich vermessen und dunkel, in ein Gebiet versenkt, das
i h r e n Blicken entzogen ist, wenn sie über die Attribute Gottes,
über die Natur der Seele, über die Freiheit und andere Fragen
832 d’ Alembert und Maupertuis.

dieser Art streitet, in denen die gesamte philosophische Vorzeit


sich verloren hat und in denen auch die moderne Philosophie
nicht hoffen darf, glücklicher zu sein. ... Was w i r an die Stelle
all jener nebelhaften Spekulation setzen müssen, ist eine Meta‑
physik, die mehr f ü r uns geschaffen ist und die sich näher und
unmittelbarer an der Erde hält: eine Metaphysik, deren Anwen‑
dungen sich i n die N a t u r w i s s e n s c h a f t e n u n d vor allem i n
die Geometrie und in die verschiedenen Zweige der M a t h e m a t i k
hinein erstrecken. Denn es gibt im strengen Sinne keine Wissen‑
schaft, die nicht ihre Metaphysik hätte, wenn man darunter
die a l l g e m e i n e n P r i n z i p i e n versteht, auf denen eine be‑
stimmte Lehre sich aufbaut und die gleichsam der Keim aller
besonderen Wahrheiten sind, die sie enthält und darlegt.“
So sehr: man daher die Hypostasierung der mathematischen
Methodenbegriffe zu einer für sich bestehenden unabhängigen
W i r k l i c h k e i t verwerfen wird ‐ s o sehr muss man andrerseits
die ebenso feine, als wahre Metaphysik anerkennen, die bei der
Entdeckung der Algebra, der analytischen Geometrie und ins‑
besondere der Infinitesimalrechnung am Werke war; wie man
nicht minder in der Zergliederung der Grundbegriffe der allge‑
meinen Physik, in der „Metaphysique de la Physique generale“
eine notwendige und fruchtbare philosophische Aufgabe zu er‑
kennen hat.!®) Diese Arbeit an den Prinzipien der Mathematik
und der empirischen Wissenschaft bildet die echte und unent‑
behrliche Leistung des esprit systematique, der von d’Alemberi
v o n dem verpönten esprit de systöme ausdrücklich geschieden
wird.19) So hat d’Alemberts Denken eine doppelte Bewegung
vollzogen, in der auf der einen Seite der Begriff der E r f a h r u n g ,
auf der anderen der der Metaphysik einer neuen Bedeutung
entgegengeführt wurde. Beide Begriffe gehen nunmehr eine neue
Beziehung ein und weisen wechselseitig auf einander hin. So
klar er indessen das Ziel bezeichnet und so wirksam er es in
seinen Untersuchungen über die Grundbegriffe der Mechanik im
Einzelnen gefördert hat: so musste ihm, dem die Philosophie
zuletzt dennoch in die „Experimentalphysik der Seele* aufgeht,?)
die allgemeine Lösung der Aufgabe versagt bleiben. Und hierin
spiegelt d’Alembert n u r die Denkart und das Schicksal des Zeit‑
alters wieder, dessen philosophischer Wortführer er ist. Der
Das Problem der Fernkraft. 333

Versuch, alles Denken in der Erfahrung zu binden und an i h r


festzuhalten, konnte nicht gelingen, bevor nicht eine schärfere
kritische Trennung die verschiedenartigen logischen Bestandteile,
d i e in den Begriff der Erfahrung eingehen, gesondert und zu
klarem Bewusstsein erhoben hatte.

II.
Die methodische Grundansicht, nach welcher all unser
Wissen sich lediglich auf die Verhältnisse der Phänomene selbst,
n i c h t auf ihre unbekannten „Ursachen“ erstreckt, findet ihren
deutlichsten Ausdruck in der Gestaltung, die der Grundbegriff
der Newtonischen Theorie, die der B e g r i f f der K r a f t selbst in.
der allgemeinen wissenschaftlichen Litteratur des achtzehnten
Jahrhunderts erhält. In der Tat bildet das Attraktionsproblem
den eigentlichen Mittelpunkt und das konkrete Musterbeispiel,
an dem fortan jede allgemeine Erörterung des Causalproblems
einsetzt. Wenn Newton, bei aller Zurückhaltung, die er sich
auferlegte, mit der Frage nach der „Erklärung“ der Schwerkraft
innerlich noch dauernd gerungen hatte,?i) so ist bei seinen philo‑
sophischen Erklärern und Nachfolgern die Schwierigkeit bereits
kurzer Hand beseitigt. Dass die Wirkung in die Ferne „unbe‑
greiflich“ ist, ist freilich wahr: aber dieser Mangel fällt nicht
dem speziellen ursächlichen Verhältnis, das hier bebauptet wird,
z u r Last, sondern er haftet an dem allgemeinen Begriff der u r ‑
sächlichen Verknüpfung überhaupt. Der Zusammenhang v o n
Ursache und Wirkung ist in keinem Falle l o g i s c h zu verstehen,
sondern stets n u r durch die Erfahrung zu erlernen; ist dies aber
einmal eingesehen, so bietet u n s die Fernkraft kein grösseres
Rätsel dar, als es auch in der angeblich unmittelbar gewissen
u n d „verständlichen“ Mitteilung der Bewegung durch Berührung
und Stoss enthalten ist.2) Wo immer w i r daher von „Kräften“
der Materie sprechen, da maassen w i r u n s nicht an, damit den
wahrhaften inneren Grund des Geschehens aufdecken zu wollen,
sondern w i r brauchen diesen Begriff n u r als eine kurze Bezeich‑
nung für wahrnehmbare und messbare empirische Verhältnisse.
Die Gravitation, wie die Elektrizität oder der Magnetismus spielen
334 Maupertuis.

in unserer Fassung der Naturgesetze keine andere Rolle, als


die U n b e k a n n t e n einer algebraischen Gleichung: i h r ganzer
Sinn und ihre alleinige Bedeutung besteht in der Relation,
die sie aussagen und in der mathematischen Proportion, die sie
z u m Ausdruck bringen.2®) Diese treffende und glückliche For‑
mulierung, die sich ia K e i l l s „Einführung in die wahre Physik“
v o m Jahre 1702 findet, ist besonders charakteristisch dafür, wie
sehr Humes Kampf gegen den populären Kraftbegriff, sofern er
zugleich die Anschauungen der exakten Wissenschaft treffen
wollte, verspätet kam und n u r noch einen Anachronismus be‑
deutete. Selbst die N a t u r p h i l o s o p h i e der Zeit, die auf eine
dynamische Konstruktion der Materie ausgeht, hält sich hierbei
doch streng innerhalb der allgemeinen „positivistischen* An‑
schauung: unter der Kraft zweier Körper haben wir, wieBoscovich
erklärt, nichts anderes als die numerische B e s t i m m u n g zu ver‑
stehen, die das Grössenverhältnis der Beschleunigung regelt, welche
sie sich wechselweise erteilen.) ‑
Die erste Reception und Weiterführung der Humeschen
Gedanken findet sich unter den Mathematikern sodann bei Mau‑
pertuis, der zugleich ‐ da seine Schriften in den Abhandlungen
der B e r l i n e r Akademie erscheinen ‐ das Humesche Problem
zuerst in den Gesichtskreis der deutschen Philosophie rückt.
Der Einfluss Humes bekundet sich hier vor allem darin, dass
‐ im Gegensatz zu d’Alembert ‐ nunmehr auch die Sätze der
r e i n e n Mathematik in den Kreis der empirischen Ableitung
hineingezogen werden. Der Satz, dass die mathematischen Ge‑
bilde Erzeugnisse des Geistes selbst sind, wird v o n Maupertuis
ausdrücklich bekämpft: der Geist vermag kein neues Objekt zu
schaffen, sondern n u r die Impressionen, die er von den Sinnen
empfängt, zu verknüpfen und zu trennen. Der eigentümliche
logische Vorzug, den w i r den Begriffen der Matbematik zuzu‑
sprechen pflegen, wurzelt daher gleichfalls einzig in der Materie
der Eindrücke, auf die sie zurückgehen: er beruht darauf, dass
in ihnen durchaus g l e i c h a r t i g e Sensationen zusammengefasst
sind und dass somit jedes Ganze, das uns hier entgegentritt,
aus der einfachen W i e d e r h o l u n g einer Grundeinheit hervor‑
geht und durch sie genau messbar ist. Wenn w i r der Ausdeh‑
nung eine andere Art der Gewissheit und eine höhere Form des
Die „Wiederholbarkeit“ als Merkmal der mathematischen Ideen. 885

„Seins“ zuschreiben, als der Farbe oder irgend einer sonstigen


sekundären Qualität, so hat diese Unterscheidung keinerlei reale
Bedeutung. Sie ist vielmehr lediglich der Ausdruck dafür, dass
die Ausdehnung unserer E r k e n n t n i s einen bequemeren An‑
griffspunkt darbietet, sofern sich jeder ihrer Teile aus der gleich‑
mässigen Addition einer Strecke, die w i r zugrunde legen, ge‑
winnen lässt; während in keinem andern Gebiet eine gleich
leichte und sinnfällige Vergleichung der verschiedenen Gebilde
und Qualitäten erreichbar ist. Der Grund der Sicherheit der
Mathematik ist also nicht die höhere „Objektivität“, sondern die
„Wiederholbarkeit“ (replicabilite) der sinnlichen Ideen, von
welchen sie ausgeht; er liegt nicht darin, dass ihre Begriffe von
höberem als empirischen Ursprung sind, sondern darin, dass sie
die Ergebnisse einer früheren und „einfacheren“ Erfahrung sind.?)
Der gleiche Schluss gilt in noch höherem Maasse für die Prin‑
zipien der Mechanik, die sämtlich nicht mehr als verallgemei‑
nerte Beobachtungen sind, wenngleich die lange Vertrautheit, die
w i r m i t diesen Beobachtungen besitzen, uns immer von neuem
eine innere logische N o t w e n d i g k e i t an ihnen vortäuscht.2%) Dass
indessen jede angeblich rationale Einsicht in die Gesetze über die
Mitteilung der Bewegung n u r Schein ist, vermag die einfachste
psychologische Reflexion zu lehren. Denken w i r uns jemand, der
niemals irgend eine Berührungswahrnehmung gehabt hätte, der
dagegen aus einer Anzahi v o n Beobachtungen die Kenntnis von
den Gesetzen der Farbenmischung gewonnen hätte, und stellen
w i r i h m die Frage, was bei der immer grösseren Annäherung
u n d schliesslichen Begegnung zweier Körper, v o n denen der eine
blau, der andere gelb ist, geschehen werde? Er w i r d voraus‑
sichtlich antworten, dass aus den beiden Körpern, sobald sie zu‑
sammentreffen, ein neuer Körper m i t der Mischfarbe Grün her‑
vorgeben werde: niemals aber könnte er dazu gelangen, vorauszu‑
sagen, dass beide sich nach der Begegnung m i t einer gemeinsamen
Geschwindigkeit weiter bewegen werden, oder dass der eine einen
Te i l seiner Geschwindigkeit an den anderen abgeben oder auch
v o n i h m zurückprallen werde.2?) Erst die Eindrücke und Erfah‑
rungen des Tastsinns sind es, die uns den Begriff der „Undurch‑
dringlichkeit“ vermitteln und u n s damit in den Stand setzen,
die Gesetze des Stosses aufzustellen, ohne dass w i r doch in das
836 Maupertuis.

innere Geschehen, das i h m zugrunde liegt, den geringsten Ein‑


blick besässen. Der Begriff der K r a f t ist daher n u r ein Deck‑
mantel unserer Unwissenheit. „Es gibt in der gesamten moder‑
nen Philosopbie kein Wort, das häufiger wiederholt worden ist,
als dies, und keines, m i t dem m a n einen so wenig bestimmten
Sinn verbunden hat.“ Die Vorstellung der Kraft wurzelt zuletzt
lediglich in der Anstrengung, die wir bei der Ueberwindung von
Widerständen, wie etwa bei der Fortbewegung unseres Körpers,
verspüren; sie ist somit in ihrem Ursprung nichts anderes, als
eine verworrene Empfindung, von der w i r schon zu viel sagen,
wenn w i r i h r auch n u r den Namen einer „Idee“ zugestehen.
W i r mögen immerhin, da w i r uns v o n dem Gedanken einer
wechselseitigen Beeinflussung der Körper nicht ganz frei machen
können, fortfahren, das W o r t „Kraft“ zu gebrauchen: aber w i r
müssen uns beständig erinnern, dass w i r damit nichts anderes,
als bestimmte erscheinende Wirkungen bezeichnen und bezeich‑
nen k ö n n e n . ) Selbst Newton ist, bei all seiner kritischen Vor‑
sicht, dieser Vorschrift nicht dauernd treu geblieben: denn indem
er in seinem zweiten Gesetz ausspricht, dass die Aenderung der
Bewegung eines Körpers der auf ihn einwirkenden Kraft propor‑
tional sei, hat er damit einen leeren identischen Satz, der n u r
unsere D e fi n i t i o n des Kraftbegriffs feststellt, zum Range eines
Naturgesetzes erhoben. Der Begriff der „Ursache der Beschleu‑
nigung* muss aus der Mechanik schwinden; an seine Stelle
haben lediglich die M a a s s b e s t i m m u n g e n der Beschleunigung
zu treten.) 5
So radikal indessen diese Sätze klingen und so sehr sie die
letzten Konsequenzen zu ziehen scheinen, so dienen sie doch bei
Maupertuis selbst einer unverhohlen metaphysischen Grundab‑
sicht. Dass w i r den Zusammenhang der U r s a c h e n nicht zu durch‑
schauen vermögen: dies w i r d n u r darum eingeschärft, damit w i r
die Natur als einen Zusammenhang der Z w e c k e erkennen und
beurteilen lernen. Die echte Philosophie hat den Mittelweg zu
gehen zwischen denen, die allentbalben Ursachen sehen und
denen, die, wie Hume, jegliche Kausalität leugnen: ‐ „denn es
hiesse der Vo r s e h u n g weigern, was i h r gebührt, wenn m a n die
Ursachen leugnete, und es hiesse wiederum u n s etwas anmaassen,
was u n s nicht zukommt, wenn w i r u n s stets fähig glaubten, sie zu
D i e teleologische Naturerklärung u.das Prinzip des kleinstenKraftımasses, 337

erkennen.*®) Der Grundplan der göttlichen Verfassung des Uni‑


versums aber ist uns durch die Prinzipien der Mechanik selbst ver‑
bürgt. Die „Zufälligkeit“ der. Naturgesetze, die u n s i h r rein logi‑
sches Verständnis verwehrte, erschliesst uns zugleich eine wichtige
positive Einsicht, sofern sie uns ihren t e l e o l o g i s c h e n Charakter
und Ursprung enthüllt. Das Prinzip der kleinsten Wirkung muss
als oberster Grundsatz der Mechanik proklamiert werden, weil
in i h m diese Beziehung und diese Bedingtheit am deutlichsten
zu Tage tritt: die Bewegungsgesetze, denen die Herleitung aus
Begriffen des Denkens versagt war, werden jetzt aus den Attri‑
buten der höchsten, verstandesbegabten Ursache deduciert.3!)
So ist bei aller Relativierung unseres Erfahrungswissens der Ge‑
danke des A b s o l u t e n noch i n voller Kraft geblieben und be‑
herrscht, wie bisher, das Gesamtsystem der Erkenntnis.
Und die Schranke, auf die wir hier stossen, ist wiederum
nicht der Problemstellung eines einzelnen Denkers eigentümlich,
sondern sie bezeichnet scharf die allgemeine Grenze, über die
die wissenschaftliche Gesamtanschauung der Epoche nirgends
hinausgeht. Nicht die Existenz, sondern lediglich die E r k e n n ‑
b a r k e i t der absoluten Ursachen ist es, die bestritten wird. So
ist es ein unbekannter und unerforschlicher Grund, auf dem
zuletzt all unser Wissen ruht. Der Gedanke, dass jenseit aller
unserer empirisch-phänomenalen Erkenntnis eine Welt uner‑
kennbarer „Dinge an sich“ sich verbirgt: dieser Gedanke, den
m a n so häufig als die Substanz der Kantischen Lehre angesehen
hat, ist in Wahrheit nichts anderes, als die herrschende Ueber‑
zeugung der gesamten Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts.
Man kann kaum ein naturwissenschaftliches oder erkenntnis‑
theoretisches Werk der Zeit aufschlagen, ohne i h m allenthalben
zu begegnen.#%) Kant hat diese Anschauung nicht „erfunden“,
sondern sie aufgenommen, um sie zu vertiefen und i h r einen
neuen Sinn abzugewinnen. Dass indessen v o n diesem Stand‑
punkt aus sich auch die E r f a h r u u g z u keinem i n sich
selbst ruhenden System abzuschliessen vermag, ist klar ersicht‑
lich: erfassen w i r doch an i h r immer n u r die eine, dem den‑
kenden Subjekt zugekehrte, Seite, während i h r Ursprung in den
absoluten Dingen uns entgeht. Die eifrigsten Parteigänger des
„Empirismus“ empfinden diesen Mangel und sprechen i h n m i t
023
8338 Die „absoluten Ursachen“ der Ercheinungswelt.

aller Schärfe aus. Auch unsere sinnliche Erkenntnis bleibt uns,


ihren Anfängen u n d ihrer ersten Entstehung nach, in Dunkel
gehüllt. „Die eingeborenen Ideen sind eine Chimäre, die durch
die Erfahrung widerlegt wird; die A r t aber, in der w i r zu unseren
Sensationen und von ihnen zu Vorstellungen der Reflexion ge‑
langen, ist, wenngleich sie durch dieselbe Erfahrung bewiesen
wird, darum doch nicht minder u n b e g r e i fl i c h . Ueber all diese
Dinge hat der höchste Verstand f ü r unseren schwachen Blick
einen Schleier gebreitet, den w i r vergeblich wegzuziehen streben.
Ein trauriges Los f ü r unsere Wissbegierde und Eigenliebe; ‑
aber es ist das Los der Menschheit.“®) Und diese Grundstimmung
behält schliesslich auch gegenüber den reinen wissenschaftlichen
Prinzipien das letzte Wort: was Raum und Zeit, Materie und
Bewegung, Kraft und Geschwindigkeit ihrem eigentlichen inneren
Wesen nach sind, vermögen w i r nicht zu durchschauen. %) In
dieser Skepsis verrät sich das Scheitern aller Versuche, das
Wissen allein auf dem sichern Grunde der „Tatsachen“ zu er‑
richten. Je mehr der Einfluss der „metaphysischen“ Begriffe
i n n e r h a l b der empirischen Wissenschaft beschränkt wurde,
um so mehr drängen sie sich gleichsam im Hintergrunde der
Erfahrung zusammen und bilden eine feste und unübersteigliche
Schranke des Erkennens.
Zweites Kapitel.

Raum und Zeit.


l. Das Raum- und Zeitproblem in der Naturwissenschaft.
a ) N e w t o n u n d seine K r i t i k e r .
In ehernen festen Zügen hat Newton zu Beginn seines
Werkes den allgemeinen Grundriss des Gebäudes der empirischen
Wissenschaft verzeichnet. Die einzelnen Begriffe, auf denen die
mathematische Physik ruht, werden nicht in abstrakter logischer
Erörterung gewonnen und begründet, sondern sie werden von
Anfang an als sichere und fraglose Voraussetzungen hingestellt,
die sich einzig in ihren Folgerungen zu bewähren haben. Fast
dogmatisch folgen die einzelnen Sätze auf einander; in notwendiger
deduktiver Verknüpfung reiht sich Definition an Definition,
Theorem an Theorem. In dieser Strenge und Abgeschlossenheit,
die jede Kritik von Anfang an v o n sich zu weisen scheint, treten
u n s auch die Begriffe des Raumes und der Z e i t bei Newton
zuerst entgegen. „Der absolute Raum bleibt vermöge seiner
Natur und ohne Beziehung auf einen äusseren Gegenstand stets
gleich und unbeweglich; der relative dagegen ist ein Maass oder
ein beweglicher Te i l des ersteren, welcher von unseren Sinnen
durch seine Lage gegen andere Körper bezeichnet und gewöhnlich
fälschlich f ü r den unbeweglichen Raum selbst genommen wird. .
_ We i l die Teile dieses letzteren weder gesehen, noch überhaupt
sinnlich unterschieden werden können, nehmen w i r statt ihrer
wahrnehmbare Maasse an und bestimmen alle Orte nach ihrer
Lage und Entfernung v o n einem gegebenen Körper, den w i r als
unbeweglich ansehen. So bedienen w i r uns statt der absoluten
Orte und Bewegungen der relativen, was auch für praktische
ar
840 Raum und Zeit.

Zwecke ausreicht: in der wissenschaftlichen Theorie aber müssen


w i r von den Sinnen absehen“ ( i n Philosophicis autem abstrahen‑
dum est a sensibus).!) Somit beginnt die Grundlegung des Systems
der I n d u k t i o n m i t der Setzung eines Seins, das der Bestätigung
und Nachprüfung durch die unmittelbare W a h r n e h m u n g prin‑
zipiell entzogen ist. So wichtig und folgenreich sich dieser Zu‑
sammenhang f ü r die künftige Entwicklung der Philosophie e r ‑
weisen sollte, so unlösbare Schwierigkeiten bietet er uns auf dem
Standpunkt dar, a u f dem w i r hier stehen. In der Tat, was
bedeuten Raum, Z e i t und Bewegung, wenn m a n die Forderung
der reinen „Beschreibung“ der Tatsachen, wie sie von Newton
und seiner Schule gestellt worden w a r, in aller Strenge aufrecht
zu erhalten sucht? Was die Beobachtung uns darbietet, sind
niemals Punkte oder Abstände des r e i n e n Raumes oder der
r e i n e n Zeit, sondern n u r irgendwelche physische Inhalte,
die in räumlichen und zeitlichen Verhältnissen stehen. So löst
sich alles Wissen von den örtlichen und zeitlichen Bestimmt‑
heiten des Seins durchweg in Relationen auf. Nach einem Sein
des Raumes ausserhalb dieser wahrnehmbaren Beziehungen der
Körper scheint jede Frage verwehrt. Wenn dennoch der absolute
Raum, obgleich er uns niemals in irgend welcher Weise gegeben
werden kann, als unentbehrliches Prinzip der Mechanik bezeichnet
wird: s o ist e s also irrig, dass die E r f a h r u n g die Grenze f ü r
den Inhalt all unseres Wissens bildet; ‐ so ist in die Fundamente
der mathematischen Physik selbst ein „metaphysischer“ Begriff
eingesenkt. Damit aber wäre die Kraft der reinen Induktion,
wie Newton sie verstanden und verkündet hatte, bereits gebrochen.
Von den methodischen Regeln, die er der Forschung vorhält,
verlangt die erste, keine anderen als „wahren Ursachen“ zuzu‑
lassen, d. h. solche, die sich in der Erklärung der Phänomene
betätigen und bewähren.?) Die Existenz des absoluten Raumes
und der absoluten Zeit aber i s t i n diesem Sinne keine „vera causa“:
keine Naturerscheinung kann uns von i h r sichere Kunde ver‑
schaffen, keine Erfahrung kann sie rechtfertigen oder widerlegen.
In diesem Widerstreit liegt die Krise der Newtonischen Er‑
fahrungstheorie: u n d hier setzen denn auch die Einwände der
Gegner immer von neuem ein. Man begreift es, dass Berkeley
sich berufen glaubte, die empirische Grundlegung der Wissen‑
Newtons Begriffe des absoluten Raumes und der absoluten Zeit. 341

schaften, die er hier bedroht sah, wiederherzustellen und v o n


neuem in ihrer Einheit und Geschlossenheit aufzurichten, Die
Kritik der Raumlehre wurzelt bei ihm, gleich der der höheren
Analysis, in der Polemik gegen die abstrakten Begriffe. Der Be‑
g r i ff des absoluten Raumes entsteht uns, indem w i r eine einfache
Eigenschaft, die die Wahrnehmung uns an den Körpern darbietet,
v o n den besonderen sinnlichen Bedingungen, unter denen sie
u n s jederzeit entgegentritt, loslösen und m i t i h r wie m i t einem
losgelösten und selbständigen Inhalt schalten. Ist einmal die
natürliche E i n h e i t der Erfahrung in dieser Weise zerschnitten,
so vermag freilich keine logische Bemühung mehr, die scheinbar
heterogenen Bestandteile wiederum zu verknüpfen und ihr gegen‑
seitiges Verhältnis widerspruchslos zu bestimmen. Was in Wahr‑
h e i t n u r ein Einzelmoment ist, das w i r aus dem empirischen
Objekt willkürlich herausgreifen, das wächst nunmehr zu einem
unbedingten Sein heran, das den Erfahrungsgegenständen in tat‑
sächlicher Wirklichkeit v o r a n g e h t und das ihnen mit der
Geltung einer „höheren“ und notwendigen Existenz gegenüber‑
tritt. Die „existierenden Undinge“ des „leeren Raumes“ und der
„leeren Zeit“ aber müssen vor der psychologischen Analyse, die
die Entstehung dieser Vorstellungen blosslegt, alsbald in nichts
zerfallen. „Stellen wir uns vor, dass alle Körper zerstört und
vernichtet werden: so wird das, was alsdann zurückbleibt und
worin, zugleich m i t den Körpern selber, auch jede B e z i e h u n g
der Lage und Entfernung der Körper aufgehoben ist, der abso‑
l u t e R a u m genannt. Nun ist dieser Raum unendlich, unbeweg‑
lich, unteilbar und, da jede Möglichkeit der Beziehung und Unter‑
scheidung in i h m aufgehört hat, kein Gegenstand der Wahrneh‑
mung. Alle seine Attribute sind, m i t anderen Worten, privativ
oder negativ; er scheint somit: ein blosses Nichts zu bedeuten.
Die einzige Schwierigkeit besteht darin, dass er ausgedehnt ist
und dass die Ausdehnung doch eine positive Beschaffenheit dar‑
stellt. Aber welch eine Art Ausdehnung ist es auch, die weder
geteilt noch gemessen werden kann und von der kein Teil sich
sinnlich wahrnehmen oder in der Vorstellung erfassen l ä s s t ! . . .
-Prüft m a n eine derartige Idee genau ‐ w e n n anders m a n sie
eine Idee nennen kann ‐ so sieht man, dass sie die vollkom‑
menste Vorstellung des Nichts ist, die man sich denken kann.“
842 Raum und Zeit.

Und auch die psychologische Illusion, die uns immer wieder an


diesen Scheininhalten festhält, lässt sich nunmehr leicht durch‑
schauen. Das wahrnehmende Subjekt glaubt in seiner Abstrak‑
tionstätigkeit von a l l e n materiellen Inhalten überhaupt abge‑
sehen zu haben: und es hat in Wahrheit n u r die Aussendinge
aufgehoben, während sein eigener Leib, in seinem stofflichen
Dasein, i h m zurückgeblieben ist. So schleicht sich auch dort,
wo w i r meinen, die gesamte Körperwelt h i n t e r, u n s gelassen zu
haben, doch immer wiederum ein sinnlich-empirisches Datum
ein, auf das w i r uns unbewusst stützen, wenn w i r fernerhin die
Möglichkeit räumlicher Vergleichung und Unterscheidung be‑
haupten. Unser Körper bietet uns in der Lage und Gliederung
seiner Teile den unentbehrlichen Anhaltspunkt und das notwen‑
dige Bezugssystem, das w i r zugrunde legen müssen, um v o n
örtlichen Bestimmungen und Veränderungen zu sprechen.) Auch
die Betrachtung der dynamischen Beziehungen und Grundge‑
setze vermag an der allgemeinen Entscheidung nichts zu ändern:
bedeuten doch die obersten Regeln der Mechanik, wie etwa das
Trägheitsprinzip, nichts anderes, als die Verallgemeinerungen be‑
stimmter tatsächlicher Beobachtungen und können als solche
kein Moment in sich enthalten, das nicht mittelbar oder unmittel‑
bar in der Erfahrung wurzelt und sich in i h r belegen lässt. Die
Behauptung, dass jeder sich selbst überlassene Körper in seinem
Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewe‑
gung verharre, verliert nichts von ihrer Geltung, wenn w i r die
Fortbewegung des Körpers, statt sie auf den „absoluten Raum*® zu
beziehen, a n seiner Lage gegen den F i x s t e r n h i m m e l messen.‘
Als ein Mangel kann diese Annahme eines besonderen, mate‑
riellen Coordinatensystems, dessen w i r u n s z u r Formulierung der
"Bewegungsgesetze bedienen, n u r dann erscheinen, wenn m a n die
jederzeit bedingte und empirische Giltigkeit, die diesen Gesetzen
selbst zukommt, noch nicht durchschaut hat und von ihnen fälsch‑
lich eine unbedingte l o g i s c h e Notwendigkeit verlangt. So wenig
Berkeley hier den tieferen rationalen Motiven der Newtonischen
Begriffe gerecht geworden ist, so hat er doch in diesen letzten
Sätzen wiederum ein allgemeines philosophisches P r o b l e m ge‑
stellt, das fortan der Lösung durch die wissenschaftliche Mechanik
harrte. Die Fortbildung, die die Lehre Newtons innerhalb seiner
Berkeleys K r i t i k der Newtonischen Grundbegriffe. 843

Schule, und insbesondere durch seinen bedeutendsten und ori‑


ginalsten Schüler, durch L e o n h a r d E u l e r erfährt, nimmt auf
Berkeleys Einwände überall stillschweigend Bezug und gelangt
erst kraft dieses Gegensatzes zur eigenen Reife und Sicherheit. ‑
Und noch ein anderer Zug, der f ü r die Weiterentwicklung
des Problems bedeutsam werden sollte, tritt in Berkeleys K r i t i k
charakteristisch hervor. Er selbst hält seinen Ausführungen ent‑
gegen, dass der reine Raum und die reine Zeit, wenngleich sie
keine Objekte der S i n n e s e m p fi n d u n g u n d der E i n b i l d u n g s ‑
k r a f t sind, darum doch nicht auf ursprüngliche und notwendige
Geltung zu verzichten brauchten, sofern sie als Gebilde und
Erzeugnisse des „ r e i n e n Verstandes“ aufgefasst und gerecht‑
fertigt werden könnten. Aber er zieht diese Möglichkeit n u r in
Erwägung, um sie alsbald v o n sich zu weisen. Der reine Verstand
hat es lediglich mit geistigen und unausgedehnten Dingen zu tun;
sein Gebiet liegt somit gänzlich jenseit der Spbäre, an die
Raum und Zeit kraft ihrer Natur gebunden bleiben.) Der Ort
sowohl, wie die Dauer und die Bewegung haften den materiellen
Körpern an und nehmen an all ihren Bestimmungen Teil; sie
gehören somit ihrem ganzen Inhalt nach der Welt des Stoffes
an, die wir nur sinnlich zu erfassen vermögen, während der
reine Gedanke sie verschmäbt und sich von i h r abwendet. Die
Schrift „de Motu“, die die Polemik gegen Newtons Raum- und
Zeitlehre enthält, bedeutet für die eigene philosophische Ent‑
wicklung Berkeleys einen entscheidenden Wendepunkt. Sie steht
genau an der Grenzscheide zwischen der ersten Epoche, die auf
die sensualistische Ableitung des Wissens ausging und der
späteren Fortbildung der Lehre, die rein auf den Ausbau einer
spiritualistischen Metaphysik gerichtet ist. Beide Tendenzen
müssen sich nunmehr z u r Bekämpfung der Grundbegriffe der
mathematischen Physik vereinen. Wenn es sich zuvor gezeigt
hatle, dass diese Begriffe in keiner sinnlichen „Perception“
wurzeln, ‐ so erweist es sich andererseits, dass sie m i t der
Welt des Sinnlichen dennoch zu eng verflochten sind, als dass
es gelingen könnte, sie jemals z u m Inhalte einer rein „geistigen“
Betrachtung und Erwägung zu machen. Raum u n d Zeit b e z i e h e n
sich, samt allen übrigen „matbematischen“ Prinzipien, lediglich
auf jenen Umkreis empirisch-wahrnehmbarer Erscheinungen.
344 u Raum und Zeit. ‐ Leibniz.

den Berkeleys Spiritualismus zu verlassen und zu überfliegen


strebt; sie können somit nicht an der höchsten: „intellektuellen“
Gewissheit teilhaben, die vielmehr n u r den metapbysischen
Begriffen, den Begriffen der Substanz und der Ursache vorhe‑
halten bleibt. (S. hrz. ob. S. 240 ff.) ‑
An diesem Punkte zeigt sich der ganze Gegensatz von Ber‑
keleys und L e i b n i z ’ K r i t i k der Newtonischen Prinzipienlehre.
So sehr beide, auf den ersten Blick, auf das gleiche sachliche
Ziel gerichtet scheinen, so sehr werden sie in ihrer Prüfung u n d
Untersuchung v o n verschiedenen m e t h o d i s c h e n Gesichtspunkten
beherrscht. Die „Abstraktion“, die für Berkeley der Quell des
Irrtums ist, bedeutet für Leibniz den Grund aller rationalen und
wissenschaftlichen Einsicht. Indem der. reine Raum und die
reine Zeit somit als a b s t r a k t e Begriffe bezeichnet werden, in‑
dem ihnen also jede gesonderte dingliche Existenz abge‑
sprochen wird, wird ihnen doch eben damit im System der
E r k e n n t n i s der höchste Rang zugewiesen. Jetzt erst, nachdem
w i r sie von den konkreten Einzelgegenständen, die uns durch
die Empfindung gegeben werden, deutlich gesondert haben,
erkennen wir ihre begriffliche Allgemeinheit und Notwendigkeit.
Der Begriff der unendlichen und stetigen Ausdehnung, wie der
streng gleichförmig verfliessenden Dauer entsteht uns nicht,
indem w i r i h n a u s vereinzelten Beobachtungen zusammenlesen,
sondern er bedeutet eine ursprüngliche g e d a n k l i c h e N o r m ,
die w i r aus „ u n s selbst* schöpfen, um sie den Tatsachen ent‑
gegenzuhalten. So gewinnen Raum und Zeit, was sie an aktuellem
gegenständlichen Sein eingebüsst haben, an idealer Wahrheit
zurück. Sie bilden, in Gemeinschaft m i t den mathematischen
Folgebegriffen,' die sich aus ihnen ergeben, die „ewigen Wahr‑
heiten“, die v o n keinem empirischen Phänomene jemals verletzt
werden können, ‐ die vielmehr die Regeln sind, nach denen w i r ein
bestimmtes Phänomen, das uns sinnlich gegeben ist, als „ w i r k l i c h “
bezeichnen oder aber als blossen Schein verwerfen. (S. ob. S. 88ff.)
Die Bezeichnung des Raumes und der Zeit als der O r d n u n g e n
des Neben- und Nacheinander gibt das Doppelverhältnis, in dem
sie zu den Empfindungen stehen, charakteristisch wieder. Denn
so wenig die „Ordnung“ an sich etwas neben und ausserhalb
der Inhalte ist, auf die sie sich bezieht: so sehr sind doch diese
Der „absolute“ und der „intelligible“ Raum, 345

letzteren selbst für unsere Erkenntnis lediglich dadurch bestimmt,


dass sie nicht chaotisch durcheinanderliegen, sondern eine allge‑
meine gesetzliche Gliederung in sich darstellen und verkörpern.
:So scharf und unablässig Leibniz daher das absolute selbständige
Dasein von Raum und Zeit bestreitet, so wenig verkennt er die
l o g i s c h e Sonderstellung, die beide Begriffe einnehmen. „Eine
Folge von Vorstellungen“ ‐ so führt er speziell für den Begriff
der Zeit in den „Nouveaux Essais“ aus ‐ e r w e c k t in uns die
Idee der Dauer, aber sie macht nicht das Wesen dieser Idee aus.
Unsere Vorstellungen besitzen niemals eine hinreichend konstante
und gleichförmige Folge, um dem Begriff der Z e i t zu entsprechen,
die, gleich der geraden Linie, ein einfaches und gleichförmiges
kontinuierliches Gebilde i s . Der Wechsel der Vorstellungen .
bietet uns Anlass, den Gedanken der Zeit zu fassen und w i r
messen sie durch gleichförmige Veränderungen; aber selbst
wenn es keinerlei gleichförmiges Geschehen in der Natur gäbe,
so würde nichtsdestoweniger die Zeitfolge der Ereignisse bestimmt
bleiben, wie auch der O r t bestimmt bliebe, selbst wenn es
keinen festen und unbeweglichen Körper gäbe. Denn da man
die Regeln der ungleichförmigen Bewegungen kennt, so kann
man sie immer a u f i n t e l l i g i b l e g l e i c h f ö r m i g e Bewegungen
beziehen und dadurch das Ergebnis der Verknüpfung ver‑
schiedener Bewegungen vorausbestimmen. In diesem Sinne ist
denn auch die Zeit das Maass der Bewegung, das heisst die
gleichförmige Bewegung ist das Maass der ungleichförmigen.*
Der Kernpunkt der Leibnizischen Kritik tritt in diesen Worten
deutlich hervor: was Newton als ein Absolutes ansah, das ver‑
wandelt er in ein „Intelligibles“. Raum und Zeit sind „Ideen
des reinen Verstandes“, die als solcbe die Grundlagen exakter
Definitionen und streng deduktiver Beweise bilden können, aber
trotz dieses ihres rein gedanklichen U r s p r u n g s bleiben sie in
ihrer A n w e n d u n g auf den Bereich der empirischen Wirklich‑
keit beschränkt. Sie über dieses Gebiet hinauszutreiben, sie als
Attribute Gottes oder irgendwelcher immaterieller Substanzen
denken, heisst ihnen all ihren realen Erkenntniswert rauben und
sie zum Herd unlösbarer Widersprüche machen. ‑
Die Einwände, die L e i b n i z u n d B e r k e l e y gegen Newtons
Raum- und Zeitlehre und i h r e metaphysischen Folgerungen
346 Raum und Zeit. ‐ Leonhard Euler.

richten, messen ‐ gerade wegen des weiten Abstandes, der


zwischen ihnen selber besteht ‐ das Gesamtgebiet des Problems
aus u n d stecken das Feld, auf dem die Diskussion sich fortan
bewegen sollte, bereits in allgemeinen Umrissen ab. Der Kampf
dauert fort und bestimmt immer mehr das literarische und wissen‑
schaftliche Gepräge der Zeit. Die Streitschriften zwischen Leibniz
u n d Clarke ‐ v o n denen Vo l t a i r e urteilt, dass sie vielleicht
das schönste Monument sind, das w i r v o n einem literarischen
Kampfe besitzen?) ‐ sind, nach dem Zeugnis eines Zeitgenossen,
„ i n jedermanns H ä n d e n “ ) Und es handelt sich jetzt um keinen
peısönlichen Zwist der Parteien mehr, sondern um eine Schranke,
die die sachlichen Hauptgebiete und -Richtungen der wissen‑
schaftlichen Kultur v o n einander scheidet. Innerhalb der mathe‑
matischen Naturwissenschaft bleiben die Newtonischen Begriffe
herrschend und erringen sich, m i t dem endgültigen Siege von
Newtons physikalischen Theorien, ebenfalls unbestrittene Geltung.
Die Lehrbücher der Mechanik setzen diese Begriffe nunmehr als
notwendig und unbezweifelbar voraus: es ist charakteristisch,
dass selbst die Phoronomie Herrmanns, die überall sonst
Leibniz nahe steht und die ihm insbesondere im Kampf um das
wahre Kraftmaass verbündet ist, hiervon keine Ausnahme macht.?)
Auf der anderen Seite vereint sich die Philosophie in ihren
extremsten Gegensätzen, vereinen sich der Rationalismus der
Wolffischen Schule und die französische Aufklärung zur Abwei‑
sung der absoluten Realität des Raumes und der Z e i t . ! ) Die
Lösung dieser Divergenz konnte erst erfolgen, nachdem sie zu
scharfer und bewusster Aussprache gelangt war. Es ist L e o n ‑
h a r d E u l e r, der diese Leistung vollzieht und m i t dem daher
das allgemeine Problem in eine neue Phase eintritt.

b) D i e F o r t b i l d u n g d e r Newtonischen Lehre. ‑
L e o n h a r d E u l e r.
Die beiden Bestrebungen, die im Titel des Newtonischen
Hauptwerks nebeneinander stehen, finden in E u l e r ihre typische
‚Verkörperung: er ist der eigentliche und klassische Zeuge des
Geistes der m a t h e m a t i s c h e n N a t u r p h i l o s o p h i e . Das Wort
eines neueren Geschichtschreibers der Mathematik, dass „das
Das methodische Postulat des reinen Raumes. 347

wissenschaftliche Bewusstsein in der Mitte des achtzehnten Jahr‑


hunderts am vollständigsten durch Euler vertreten wird“, gilt mehr
noch als für den Inhalt der sachlichen Probleme, die sich bei i h m
finden, f ü r die methodische A r t ihrer Auffassung und Bearbeitung.
Die Magisterrede Eulers behandelt bereits die naturphilosophische
Grundfrage der Zeit, indem sie die Prinzipien der Cartesischen
und der Newtonischen Physik m i t einander vergleicht. Indem
Euler weiterhin im Streit der Differential- und Fluxionsmethode
den Sieg der Leibnizischen Rechnung entscheidet, siebt er sich
hier auf eine prinzipielle Erörterung des U n e n d l i c h k e i t s b e ‑
g r i f f s hingedrängt, die f ü r dessen tiefere logische Charakteristik
unmittelbar fruchtbar wird. So steht denn auch seine Raum‑
und Zeitlehre in der allgemeinen philosophischen Diskussion
mitten inne und führt uns, indem sie in ihrem allmählichen
Fortschritt die verschiedenen systematischen Gesichtspunkte nach
einander zu Worte kommen lässt, durch alle einzelnen Entwick‑
lungsstufen des Problems hindurch. ‑
Das erste umfassende Werk über die Mechanik vom Jahre
1736 setzt bereits m i t der entscheidenden Frage ein, die fortan
von Euler durch dreissig Jahre hindurch festgehalten und von
immer neuen Seiten her angegriffen wird. Die Bewegung zeigt
uns, wollen w i r sie in der Art auffassen, in der sie sich der
ersten unbefangenen Betrachtung darbietet, lediglich einen Prozess
der O r t s v e r ä n d e r u n g : der „Ort“ selbst aber kann nicht anders,
denn als Teil des unermesslichen, unendlichen Raumes bestimmt
werden, in dem die Körperwelt enthalten ist. „Da w i r u n s in‑
dessen von diesem unermesslichen Raume und den Begrenzungen
i n i h m k e i n e b e s t i m m t e Idee z u b i l d e n vermögen, s o
pflegt m a n statt seiner einen endlichen Raum und körperliche
Grenzen zu betrachten und nach ihnen die Bewegung und Rube
der Körper zu beurteilen. So sagen wir, dass ein Körper, der
in Bezug auf diese Grenzen seine Lage beibebält, ruht, derjenige
dagegen sich bewegt, der seine Lage hinsichtlich ihrer verändert.
Dabei muss jedoch, was w i r über den unendlichen Raum und
die Begrenzungen in i h m gesagt haben, so gefasst werden, dass
m a n beide Bestimmungen n u r i m Sinne reiner m a t h e m a t i s c h e r
Begriffe nimmt. Mögen diese Vorstellungen immerhin m i t meta‑
physischen Spekulationen scheinbar in Widerspruch stehen, so
348 Raum und Zeit. ‐ Euler. _

können w i r sie doch m i t Recht zu unserem Zwecke anwenden.


W i r behaupten nämlich gar nicht, dass es einen derartigen u n ‑
endlichen Raum und feste und unbewegliche Abgrenzungen in
ihm gebe, sondern, unbekümmert'um sein Dasein oder Nichtsein,
postulieren wir nur, dass derjenige, der die absolute Ruhe oder
Bewegung betrachten will, sich einen solchen Raum v o r s t e l l e
und darnach über den Zustand der Ruhe oder Bewegung eines
Körpers u r t e i l e . Diese Erwägung stellen w i r nämlich a m
bequemsten in der Weise an, dass w i r v o n der Welt ganz ab‑
sehen (animum a mundo abstrahentes) und uns ‘einen unend‑
lichen leeren Raum denken, in dem die Körper sich befinden.“!1)
Das Problematische, das diesen Erklärungen anhaftet, tritt in
“ dem zwiespältigen und vieldeutigen Ausdruck der „Idee“ deutlich
zutage. Der reine Raum soll nicht die Setzung eines für sich
bestehenden selbständigen D i n g e s bedeuten, sondern er w i l l
nicht mehr sein als ein Vorstellungspostulat. Auf der an‑
deren Seite aber wird deutlich, dass w i r mit allem, was Sinne
und Einbildungskraft uns darbieten, der eigenartigen Forderung,
die hier an uns gestellt wird, nicht zu genügen vermögen: w i r
sind gänzlich ausser Stande, den Inbalt, um den es sich handelt,
in ein einzelnes Wahrnehmungsbild zu fassen. Welches psycho‑
logische Mittel bleibt uns somit, um diese Forderung zu reali‑
sieren? Betrachten w i r den absoluten Raum m i t Rücksicht auf
die gewöhnliche metaphysische Grundunterscheidung des p h y s i ‑
s c h e n oder psychischen Seins, so sehen w i r i h n alsbald in
eine unhaltbare Mittelstellung versetzt: die Sphäre des „Subjekts“
wie die des „Objekts“ scheint i h n in gleicher Weise auszu‑
schliessen. Und noch ein stärkeres Bedenken allgemein metho‑
discher Art muss sich gegen ihn geltend .machen. Der absolute
Raum und die absolute Zeit werden von Newton und nach i h m
v o n der gesamten mathematischen Physik fort und fort als der
w a h r e mathematische Raum und die w a b r e mathematische Zeit
bezeichnet, während allen unseren Aussagen über relative Räume
und Zeiten n u r eingeschränkte und bedingte Gewissheit zugespro‑
chen wird. Damit aber ergibt sich, wie esscheint, eine völlige Um‑
kehr aller logischen Wertverhältnisse. M i t welchem Rechte machen
w i r eine Fiktion, von der w i r gänzlich dahingestellt sein lassen,
ob i h r irgend etwas Objektives entspricht, z u m Maassstab für
D i e Analyse der mechanischen Grundsätze. 349

unsere empirischen Urteile, die doch den Inbegriff dessen aus‑


machen, was uns bekannt und zugänglich ist? Ist damit nicht
das Grundübel aller bisherigen Philosophie, ist damit nicht die
o n t o l o g i s c h e D e n k a r t wiederum i n die Physik eingedrungen
u n d wird nicht die unmittelbare Sicherheit unserer Erfahrungs‑
erkenntnis zugunsten einer „Hypothese“ verdunkelt und herab‑
gesetzt? Oder sollte es eine tiefere Rechtfertigung der Begriffe
des absoluten Raumes und der absoluten Zeit, sollte es ein
anderes logisches K r i t e r i u m geben, das ihnen ihre unbedingte
Gültigkeit sichert?
Indem w i r diese Fragen stellen, sehen w i r uns damit unmittel‑
bar zu dem Punkte hingeführt, an dem Eulers spätere Unter‑
suchungen einsetzen. Die „Reflexions sur l’espace et le temps“,
die im Jahre 1748 in den Schriften der Berliner Akademie er‑
scheinen, geben der Frage sogleich eine allgemeinere prinzipielle
Wendung. Ehe das besondere Problem in Angriff genommen
werden kann, handelt es sich vor allem darum, zwischen dem
metaphysischen und dem m a t h e m a t i s c h e n Wahrheitsbegriff
eine Entscheidung zu treffen. Der Prüfstein hierfür aber kann
nirgends anders, als in den Prinzipien der wissenschaftlichen
M e c h a n i k liegen und in den Bewegungsgesetzen, die sie’an
die Spitze stellt. Diese Gesetze sind so fest gegründet und von
so unumstösslicher Sicherheit, dass sie das alleinige Fundament
für alle unsere Urteile über die Körperwelt bilden müssen; und
sie behaupten diesen Wert, gleichviel ob es gelingt, sie aus
angeblich höheren Sätzen der Metaphysik abzuleiten, oder nicht.
„Die Gewissbeit der mechanischen Grundsätze muss u n s in den
dornigen Untersuchungen der Metaphysik über das Wesen und
die Eigenschaften der Körper z u m Führer dienen. Jede Schluss‑
folgerung, Jie i h r widerstreitet, wird man, so gegründet sie auch
erscheinen mag, m i t Recht verwerfen. :Die ersten Vorstellungen,
die w i r u n s von den Dingen ausser u n s bilden, sind gewöhnlich
so dunkel und unbestimmt, dass es äusserst gefährlich ist, aus
ihnen sichere Schlüsse ziehen zu wollen. Es ist daher schon
ein grosser Fortschritt, w e n n m a n v o n anderer Seite her E r ‑
gebnisse kennt, auf die auch die Sätze der Metaphysik zuletzt
hinauskommen müssen, und diese F o l g e r u n g e n sind es sodann,
nach denen m a n die metaphysischen Grundideen richten und
350 Raum und Zeit. ‐ Euler.

denen gemäss m a n sie bestimmen muss.“') In der Frage nach


der Natur des Raumes und der Zeit gewinnen w i r daher sogleich
ein festes Richtmaass, wenn w i r diese Begriffe nicht für sich
und in abstrakter Isolierung erfassen, sondern sie in der Ver‑
hältnisstellung u n d Verknüpfung betrachten, die sie miteinander
i m P r i n z i p der B e h a r r u n g eingeben. Die Wahrheit dieses
Prinzips steht ausser Frage u n d ist dem Streit der Schulen ent‑
rückt: die verschiedenen philosophischen Parteien bemühen sich
gleichmässig, sie zu erweisen und sie von den eigenen Voraus‑
setzungen aus verständlich zu machen. Nicht was Raum und
Zeit an und f ü r sich s i n d , sondern als was sie in der Aussprache
und Formulierung des Trägheitsgesetzes g e b r a u c h t werden,
bildet also die entscheidende Frage. Genügt die Betrachtung der
relativen Orte und relativen Bewegungen, um den Inhalt des
Gesetzes verständlich zu machen, so mögen wir bei ihnen stehen
bleiben; zeigt es sich dagegen umgekehrt, dass das Gesetz seinen
vollen und klaren Sinn erst erhält, wenn wir über diese Be‑
trachtungsweise fort zu einem absoluten Raume und einer abso‑
luten Zeit hinausgehen, so ist die Notwendigkeit dieser Begriffe
erwiesen. Der Einwand, dass wir in ihnen n u r unsere eigenen Vor‑
stellungen h y p o s t a s i e rwird
e n , alsdann hinfällig: „dennesistoffenbar
eine absurde Behauptung, dass reine Einbildungen den r e a l e n
P r i n z i p i e n der Mechanik als Grundlage dienen könnten.“ !)
Bevor w i r Eulers eigene positive Entscheidung betrachten, gilt
esvor allem,den charakteristischen A u s g a n g s p u n k t seiner Unter‑
suchung ins Auge zu fassen. Es ist ein neuer Weg, der uns hier ge‑
wiesen wird, um z u r Klarheit über die R e a l i t ä t unseres Wissens zu
gelangen. Die wirkliche Natur des Raumes und der Zeit erschliesst
uns nicht die unmittelbare sinnliche Beobachtung; ‐ aber auch die
psychologische Zergliederung der Vorstellungen kann uns nicht
z u m Ziele führen. Das We s e n beider ist vielmehr einzig und
allein nach der F u n k t i o n zu bestimmen, die sie im System der
mathematischen Physik erfüllen. Der Inbegriff der mechanischen
Grundsätze bildet, da er die Voraussetzung f ü r alle exakte Er‑
klärung der Phänomene ist, den Archimedischen Punkt unseres
Wissens. Den vagen spekulativen Bestrebungen steht h i e r ein
festes F a k t u m entgegen, das sich nicht beiseite schieben oder
wegdeuten lässt. Eulers Lehre ist die philosophische Mündig‑
Der neue Begriff der Realität. 851

keitserklärung der neuen mathematischen Wissenschaft, die es


fortan unternimmt, aus sich selbst heraus den echten Maassstab
der „Objektivität“ aufzustellen, statt i h n sich durch irgend ein
fremdes Interesse aufdrängen zu lassen. Die Philosophie hat ‑
wie nunmehr scharf und unzweideutig ausgesprochen wird ‑
die Erfahrung nicht zu meistern, sondern lediglich sie zu ver‑
stehen und ihre Fundamente blosszulegen. Erweisen sich unsere
psychologischen oder metaphysischen Begriffe zu eng, um den
Inhalt, den die physikalische Wissenschaft uns bietet, unter sich
zu fassen, so liegt die Schuld lediglich an diesen Begriffen selbst;
so müssen w i r sie so lange berichtigen und umgestalten, bis sie
der Aufgabe, für die allein sie zuletzt bestimmt sind, volles Ge‑
nüge tun. In dieser Auffassung fixiert Euler n u r das allgemeine
Ideal, das der exakten Forschung der Zeit beständig vorgeschwebt
hatte; ‐ es ist bezeichnend, dass die gleiche Forderung, die er
hier stellt, wenngleich in geringerer Prägnanz und Bestimmtheit
zur selben Zeit von Maclaurin, nach Newtons Tode dem be‑
deutendsten englischen Mathematiker, erhoben w i r d . )
Halten wir nunmehr an dem allgemeinen Kriterium fest,
so ist das Urteil über die besondere Frage, die uns bier beschäf‑
tigt, mittelbar bereits gegeben. Der Metaphysiker, der die Be‑
griffe des absoluten Raumes und der absoluten Zeit leugnet, hat
die Aufgabe, sie im Aufbau des Systems der Mechanik durch
andere und triftigere zu ersetzen. Er möge somit seine eigenen
Definitionen des Ortes und der Dauer einsetzen, um zu sehen,
wie weit sie sich dem deduktiven Gefüge der mechanischen
Grundsätze und Theoreme widerspruchslos einordnen. Aber m a n
braucht n u r ein einziges Mal diesen Versuch zu unternehmen,
um alsbald f ü r immer v o n seiner Undurchführbarkeit überzeugt
zu werden. Betrachten w i r etwa die Cartesische Definition, nach
der der O r t eines Körpers durch die Beziehung zu den K ö r p e r n
s e i n e r N a c h b a r s c h a f t bestimmt wird, und versuchen wir
unter dieser Voraussetzung das Trägheitsgesetz zu formulieren:
so werden w i r also behaupten müssen, dass ein Körper, auf den
keine äussere Kraft einwirkt, seine Lage gegenüber den i h m zu‑
nächst stehenden und i h n unmittelbar berührenden Stoffteilen
nicht zu ändern vermöge. Dass indessen diese Folgerung absurd
wäre, ist leicht zu sehen: genügt es doch, die Einwirkung der
8352 Raum und Zeit. ‐ Euler.

Kraft, ohne dass w i r den ‚Körper selber durch sie betroffen denken,
auf seine materielle Nachbarschaft zu richten, um sogleich das
konstante wechselseitige Lageverbältnis zwischen beiden aufge‑
hoben zu sehen. Allgemein zeigt es sich, dass das Bezugs‑
system, das w i r stillschweigend voraussetzen, wenn w i r einem
sich selbst überlassenen Körper eine Bewegung v o n gleichförmi‑
ger Geschwindigkeit u p d Richtung zuschreiben, u n s niemals im.
Bereich des empirisch wahrnehmbaren Seins unmittelbar gege‑
ben werden kann. Die Beobachtung bietet uns nirgends irgend‑
welche Massen dar, die als völlig rubend anzusehen wären u n d
die somit, in aller Strenge, z u m Bezugspunkt für jegliche Fest‑
stellung von Bewegungserscheinungen tauglich wären. Jeder
Versuch, das Trägheitsprinzip seines allgemeinen Charakters zu
entkleiden und es ‐ wie Berkeley es getan hatte ‐ als einen
empirischen Einzelsatz zu fassen, der für die irdischen Körper
gilt, sofern w i r ihre Bewegungen im Verhältnis z u m Fixstern‑
himmel betrachten: jeder derartige Versuch würde den eigent‑
lichen Sinn und die besondere logische Geltungsari des Gesetzes
verdunkeln.ld) W i r haben es in i h m nicht m i t der Feststellung
einer Einzeltatsache, sondern m i t einer idealen N o r m zu tun, nach
der wir alles Naturgeschehen beurteilen. Zum mindesten ist es
deutlich, dass die wissenschaftliche M e c h a n i k in ihrer Auf‑
stellung und Begründung des Beharrungsgesetzes auf das Sein
oder Nichtsein der Fixsterne nicht die geringste Rücksicht ge‑
nommen hat; ‐ dass w i r also, da w i r gemäss unserer anfäng‑
lichen allgemeinen Forderung den Inhalt der exakten Wissen‑
schaft lediglich aufweisen u n d erklären, nicht aber willkürlich
u m d e u t e n wollen, jegliche derartige Beziehung gleichfalls aus
dem Spiele lassen müssen. Die mathematische Physik bietet uns
somit, nach welcher Seite w i r immer ihre Ergebnisse und Grund‑
sätze betrachten mögen, niemals eine andere Antwort dar; sie
muss auf dem Postulat desabsoluten Raumes und der a b s o l u t e n
Zeit bestehen, wenn sie ihren obersten Regeln irgend eine klare
u n d in sich einstimmige Bedeutung geben will. Beide Begriffe
besitzen unzweifelhafte R e a l i t ä t , nicht weil sie sich durch die
Empfindung beglaubigen lassen, sondern weil sie u n s ‐ was
schwerer ins Gewicht fällt ‐ f ü r die Gesamtheit unseres wissen‑
schaftlichen Weltverständnisses u n e n t b e h r l i c h sind,
Die Besonderheit der naturwissenschaftlichen „Abstraktion“. 858

Wenn trotzdem die „Philosophen“ ‐ und darunter werden


von Euler nicht n u r die psychologischen Analytiker, sondern in
erster Linie die rationalistischen Denker der Leibniz-Wolffischen
Schule verstanden ‐ diese Begriffe immer wieder als blosse
Abstrakta bezeichnet und ihnen damit den echten gegenständ‑
lichen Inhalt abgesprochen haben, so unterliegen sie hierbei
einer Selbsttäuschung, die in dem unbestimmten und vieldeutigen
Sinn der Abstraktion ihren Ursprung hat. Dass eine eigene
Leistung des Denkens erforderlich ist, um sich zu der Idee des
reinen Raumes und der reinen Zeit zu erheben, ist unbestreitbar:
aber das Verfahren der „Reflexion“, das w i r hierbei verfolgen, ist
v o n d e r A r t u n d Weise, w i e w i r allgemeine Gattungsbe‑
g r i f f e bilden, grundverschieden. Zu einem allgemeinen Be‑
g r i ff gelangen wir, indem w i r uns zunächst irgend ein durchgängig
bestimmtes Einzelwesen m i t allen seinen Beschaffenheiten ver- '
gegenwärtigen und sodann fortschreitend das eine oder das andere
seiner besonderen Merkmale von ihm weglassen. Dieser Weg
mag in der Tat ausreichend sein, um zum Begriff der’ Ausdeh‑
n u n g zu gelangen, der uns dadurch entsteht, dass wir aus un‑
serer Vorstellung eines konkreten Körpers nach und nach seine
Farbe, seine Härte, seine Widerstandsfähigkeit und andere
sinnliche Qualitäten entfernen. Die Idee des Ortes kann in‑
dessen kraft dieser Methode nicht gewonnen werden: denn der
Ort, i n dem ein Ding sich befindet, ist keine E i g e n s c h a f t , die
dem Dinge neben seinen sonstigen Beschaffenheiten zukommt,
sondern etwas v o n dem gesamten Inbegriff seiner sinnlichen Merk‑
male völlig Verschiedenes. Der Komplex wahrnehmbarer Eigen‑
schaften, den w i r m i t dem Namen „Körper“ bezeichnen, schliesst
n i c h t unter anderem auch die Beschaffenheit des „Ortes“ ein, so dass
w i r diese n u r herauszuheben und gesondert zu betrachten brauch‑
ten; „vielmehr resultiert die Idee des Ortes, w e n n m a n den Körper
i n s e i n e r G e s a m t h e i t aufgehoben denkt, s o dass d e r O r t
k e i n e B e s t i m m u n g des K ö r p e r s gewesen s e i n k a n n , d a
er ja zurückbleibt, nachdem w i r den Körper selbst m i t all seinen .
Dimensionen weggenommen haben. Denn m a n muss bemerken,
dass der Ort, den ein Körper einnimmt, v o n der Ausdehnung,
die i h m zukommt, sehr verschieden ist: gehört doch die Aus‑
dehnung m i t zu dem besonderen Körper und wandert m i t i h m
854 Raum und Zeit. ‐ Euler.

in der Bewegung von O r t zu Ort, während der Raum und der


Ort selbst keiner Bewegung fähig sind.*!6) Wollen w i r somit
für den Raum der mathematischen Physik das rechte psycholo‑
gische Korrelat gewinnen, so müssen w i r zwischen Wahrneb‑
mung und Begriff, zwischen die konkrete Empfindung und das
abstrakte Denken, wie es die logische Schultradition versteht,
ein neues Mittelglied einschieben. Die herkömmliche Trennung
erweist sich gegenüber den Begriffen der exakten Wissenschaft
als unzureichend: die Analyse der objektiven naturwissenschaft‑
lichen Erkenntnis drängt zu einer Ergänzung und Vertiefung
unserer psychologischen Kategorien. ‑
So fruchtbar indessen die Anregung, die bier gegeben ist,
sich erweisen sollte, so dringt doch Eulers eigene Grundan‑
schauuug über die Anfänge des neuen Problems, das hier be‑
zeichnet ist, nicht hinaus. Die Tatsache, dass der reine Raum
und die reine Zeit notwendige Begriffe sind, verbürgt ihnen
unmittelbar auch ihre dingliche Wirklichkeit. Es ist die selbst‑
verständliche, ungeprüfte Voraussetzung Eulers, dass für die ob‑
jektive Bedeutung der Prinzipien ein sachliches Korrelat im ab‑
soluten Sein anzunehmen und zu fordern ist. Wäre dem nicht
so, wären Raum und Zeit n u r „ideale“ Ordnungen, wie Leibniz
sie bezeichnet hatte, so ständen wir vor dem Widerspruch, dass
die Materie, dass das Ens realissimum der Physik sich in ihrer
Bewegung und Veränderung nach den subjektiven Vorstellungen
in uns richten würde.!”) Den Gedanken aber, die Körperwelt
selbst als blosses „Phänomen“ zu betrachten, weist Euler überall
m i t dem natürlichen Widerstreben des empirischen Forschers
gegen jegliche erkenntnistheoretische „Subtilität“ von sich eb.
Die Körper bilden das unbedingte Sein; so muss auch alles,
was m i t ihnen und ihren Gesetzen unlöslich verknüpft ist, den
gleichen Rang und Anspruch behaupten. ‑
Dass aber trotz allem die erkenntniskritischen Skrupel und
Fragen sich nicht dauernd beschwichtigen liessen, dafür bietet Eulers
letzte grosse Gesamtdarstellung der Mechanik, die „Theorie der Be‑
wegung“ vom Jahre 1765 den charakteristischen Beweis. Nach sieb‑
zehn Jahren kommt er hier v o n neuem auf dasProblem zurück: und
n u n bietet seine Darstellung das eigentümliche Schauspiel, dass
sie beide gegnerische Ansichten ‐ ohne zwischen ihnen zunächst
Verhältnis zu den phaenomenalistischen Raumlehren. 855

eine endgültige Entscheidung zu treffen ‐ in voller Unparteilich‑


keit neben einander stellt und sie bis in ihre letzten Konsequen‑
zen verfolgt. Diese Methode erstreckt sich freilich n u r auf den
ersten pboronomischen Te i l des Werkes, während der zweite,
der den Aufbau der Dynamik entbält, wiederum zu der positiven
Auffassung Eulers, wie sie in den „Reflexionen“ entwickelt war,
zurückkehrt.3) Der Eingang der Schrift stellt zunächst die rela‑
tivistische Grundanschauung fest. „Zuerst t r i t t uns die Idee des
O r t e s entgegen; ‐ was aber ein Ort sei, lässt sich nicht leicht
erklären. Diejenigen, die sich einen unermesslichen Raum vor‑
stellen, worin die ganze Welt sich befindet, nennen seine von
Körpern besetzten Teile deren O r t e ; denn infolge seiner Aus‑
dehnung muss jeder Körper einen i h m gleichen Te i l des Raumes
einnehmen und gleichsam ausfüllen. Den Begriff dieses Raumes
aber bilden wir n u r durch Abstraktion, indem wir in Ge‑
danken alle Körper aufheben und das, was alsdann unserer
Meinung nach zurückbleibt, m i t dem Namen Raum bezeichnen.
W i r nehmen nämlich an, dass nach Aufhebung der Körper ihre
Ausdehnung noch übrig bleibt: eine Auffassung, welche die
P h i l o s o p h e n m i t vielen Gründen z u bekämpfen pflegen. D a
indessen diese Frage, bevor w i r nicht eine zutreffende Vorstel‑
lung von der Bewegung erlangt haben, nicht erledigt werden
kann, s o wollen w i r hier von Anfang a n a l l e d e r a r t i g e be‑
d e n k l i c h e A b s t r a k t i o n e n verschmähen u n d d i e Sache
l e d i g l i c h s o erwägen, w i e s i e u n m i t t e l b a r i n d i e S i n n e
f ä l l t . Halten w i r hieran fest, s o werden w i r über den O r t eines
Körpers nicht anders urteilen können, als dadurch, dass wir ihn
a u f andere Körper seiner Umgebung beziehen. So lange er im
Verhältnis zu diesen seine Lage beibehält, sagen wir, dass er
ruhe; sobald er sie verändert, sagen wir, dass er seinen Ort ge‑
wechselt habe.“!%) So fällt demnach jene berühmte Unterschei‑
dung zwischen der Ruhe und der Bewegung, als wesentlichen
inneren Eigenschaften der Körper, dahin. Hier an der Schwelle
der Mechanik zum mindesten haben w i r u n s um sie nicht zu
‚kümmern, ‐ wissen auch nicht, ob i h r überhaupt irgend welche
Bedeutung zukommen kann. Vielmehr können w i r ohne den
geringsten Widerspruch einem und demselben materiellen System
gleichzeitig eine Bewegung von beliebig verschiedener Geschwin‑
23°
356 Raum und Zeit. ‐ Euler.

digkeit und Richtung zuschreiben oder es als ruhend betrachten,


je nachdem w i r die Wahl des Bezugskörpers treffen. Die Auf‑
fassung, dass die Bewegung ein eindeutig bestimmter Zustand
oder eine spezifische Beschaffenheit des einzelnen Körpers sei,
an dem sie auftritt, verliert nunmehr jeden Halt. „Die Philo‑
sophen mögen zusehen, welcher Klasse von Prädikamenten man
Ruhe und Bewegung zurechnen kann: E i g e n s c h a f t e n aber
kann m a n sie gewiss am wenigsten nennen. Nichts aber spricht
gegen ihre Bezeichnung als R e l a t i o n e n : wenn m a n nämlich ein
und dieselbe Sache bald m i t diesen, bald m i t jenen Objekten ver‑
gleicht, s o erleidet ihre innere Natur dadurch keine A e n d e r u n g% .“)
Dieses Ergebnis aber, zu dem die Beschreibung und Analyse
der Erfahrung uns notwendig hinleitet, lässt sich trotzdem nicht
festhalten, sobald wir uns der Betrachtung der obersten P r i n z i p i e n
der Mechanik zuwenden. Das Bemühen, diese Prinzipien derart
zu formulieren, dass sie lediglich unmittelbar gegebene Tatsachen
“der Beobachtung beschreiben und wiedergeben, erweist sich, wie
jetzt von neuem dargetan wird, als undurchführbar. Wieder ist
es vor allem das Beharrungsgesetz, das uns den Gedanken des
absoluten Raumes und der absoluten Zeit aufzwingt. So stehen
w i r hier vor einer Paradoxie schwerster Art: was die Erfahrung
uns versagt und was sie für immer aus ihrer Sphäre ausschliesst,
das scheinen die Gesetze eben dieser Erfahrung selbst zu ihrer
Begründung notwendig zu fordern?!) Die „Abstraktion“, die
noch eben verworfeu wurde, muss somit wieder zu Ehren gebracht
und in ihre Rechte eingesetzt werden: „solcher Abstraktionen be‑
dienen sich die Philosophen beständig, und wenn sie dieselben
untersagen wollten, so würde gar kein Zugang z u r Erkenntnis
der Wahrheit übrig bleiben.“2) Das M o t i v, das Eulers gesamte
gedankliche Entwicklung beherrscht, steht h i e r k l a r v o r uns.
Um die Erfahrung zu begründen, drängt es i h n immer aufs
neue von der Sinnesempfindung zum r e i n e n B e g r i f f zurück:
wird dieser aber einmal geduldet und als Mittel gegenständlicher
Erkenntnis anerkannt, so scheint die Grenzscheide zwischen
exakter Wissenschaft und Metaphysik wiederum aufgehoben.
Gibt es irgend ein Kriterium, das die Begriffe der Erfahrungs‑
wissenschaft selbst v o n denen der spekulativen Ontologie endgültig
und sicher scheidet? ‑
D e r Raum und das philosophische System der Kategorien. 8357

Die Antinomie, v o r die er sich zuletzt gestellt sieht, hat sich


Euler nicht verhehlt, noch sie durch halbe Auskünfte und
Lösungsversuche zu verdecken gesucht. „Der Ort“ ‐ so fasst
er das Ergebnis seiner Untersuchung zusammen ‐ ist etwas, was
v o n den K ö r p e r n n i c h t a b h ä n g t , ebensowenig aber ein
blosser Verstandesbegriff (merus mentis conceptus); was er aber
ausserhalb des Verstandes f ü r eine R e a l i t ä t besitzt, das
m ö c h t e i c h n i c h t z u bestimmen wagen, w e n n g l e i c h w i r
in i h m i r g e n d e i n e A r t R e a l i t ä t anerkennen müssen.
Wenn aber die Philosophen alle Realitäten in bestimmte Klassen
teilen und beweisen, dass der Ort zu keiner v o n ihnen gehöre,
so möchte ich lieber glauben, dass diese Klassen a u s M a n g e l
g r ü n d l i c h e r E i n s i c h t v o n i h n e n z u U n r e c h t aufgestellt
w o r d e n sind.“2) Die Entwicklung der philosophischen Probleme
hat das, was Euler hier zögernd als Vermutung ausspricht, zur Ge‑
wissheit erhoben: sie hat gezeigt, dass es der Aufhebung aller
überlieferten Schemata und Einteilungen bedurfte, ehe die eigen‑
artige „Objektivität“, die dem Raume und der Zeit zukommt,
sicher bezeichnet und begründet werden konnte. Die „Klassen*
der Metaphysik mussten zuvor zerbrochen werden, um der neuen
Realität, die die exakte Wissenschaft und ihre Gesetze darboten,
zu ihrem Rechte innerhalb des Gesamtsystems der Erkenntnis
zu verhelfen.

2. Das Raum- u n d Zeitproblem in der Metaphysik


u n d spekulativen Theologie.
I
Das kritische Ziel, das Newtons Wissenschaft sich stellt, ist
nicht auf die Aufhebung und Ueberwindung der Metaphysik, .
sondern lediglich auf ihre Abgrenzung gegen die exakte mathe‑
matische Forschung gerichtet. Dass es Objekte gebe, an denen
unsere Erfahrungserkenntnis schliesslich ihre Schranke findet,
dies wird hier stets energisch hervorgehoben; aber soviel ist
erreicht, dass jenes überempirische Sein den stetigen Gang unserer
wissenschaftlichen Beobachtung und Zergliederung der E r ‑
scheinungen nicht mehr zu hemmen vermag. Zwei verschie‑
858 Das Raum- und Zeitproblem in der Metaphysik. ‐ Newton u.Clarke.

dene Gebiete m i t eigener und unabhängiger Gerichtsbarkeit


stehen nunmehr einander gegenüber. Newtons philosophische
Grösse bekundet sich eben darin, dass er den religiösen und
metaphysischen Problemen, zu denen er selbst noch im inner‑
lichsten persönlichen Verhältnis steht, jeden Eingriff in das
Gebiet der physikalischen Tatsachenforschung m i t Kraft u n d Ent‑
schiedenheit verwehrt.
Wa r somit die Erfahrung i n ihrer G r u n d l e g u n g selbst‑
ständig geworden, s o blieb i h r doch i n ihren F o l g e r u n g e n
der Ausblick auf ein höheres, intelligibles Sein nicht gänzlich
versagt. Die letzten und höchsten F r a g e n z u m mindesten ver‑
mag sie zu stellen, wenngleich sie auf jede endgültige Lösung
Verzicht leisten muss. Schon die stilistische Form, in der bei
Newton die Metaphysik sich zuerst einführt, bringt dies zum
äusseren Ausdruck. Der Schluss der „Optik“, der noch einmal
die Summe der Newtonischen Naturphilosophie zieht, bezeichnet
es als Endzweck des Wissens, von den erscheinenden Wirkungen,
vermittelst sicherer Folgerungen und ohne erdichtete „Hypothesen“,
bis zu ihren Ursachen zu gelangen und sie schliesslich bis zur
ersten Ursache zurückzuverfolgen. Diese selbst aber kann
zweifellos nicht mehr „mechanisch* sein, sondern muss der Natur
und ihren Kräften als freie Macht gegenüberstehen. So bleibt
es also nicht bei dem streng begrenzten Ziele, den Mechanismus
der ‘Phänomene in mathematischen Formeln zu beschreiben,
sondern darüber hinaus dürfen wenigstens in d e r F o r m d e r
F r a g e andersartige Aufgaben z u r Sprache kommen. Gibt e s i n den
Räumen, die w i r von Materie leer denken, dennoch ein Medium
und lassen sich etwa m i t seiner Hilfe die Gravitationserschei‑
nungen erklären? Wie kommt es, dass in der Natur nichts ver‑
gebens geschieht und woher r ü h r t die Schönheit u n d Harmonie
des Weltganzen? Folgt nicht aus den Naturerscheinungen, dass
es ein unkörperliches, verstandesbegabtes und allgegen‑
w ä r t i g e s Wesen gibt, f ü r das der Raum gleichsam das Senso‑
rium ist, in dem es die Dinge selbst wahrnimmt und in ihrer
innersten Wesenheit begreift, während das, was in uns selber
wahrnimmt und denkt, n u r die Abbilder der Dinge, die i h m
vermittels der Sinnesorgane zugeführt werden, in seinem kleinen
Sensorium auffasst und anschaut?*%) Wie nämlich die mensch‑
KRaumbegriff und Gottesbegriff. 359

liche Seele ‐ so erläutert C l a r k e in seinen Schriften gegen


L e i b n i z diese Ansicht ‐ vermöge ihrer unmittelbaren Gemein‑
schaft m i t den Kopien oder Bildern der Dinge, die sich im Gehirn
bilden, diese Kopien so betrachtet, als wären es die Dinge selber,
so sieht Gott die ursprünglichen Dinge und Originale auf Grund
der unmittelbaren gegenwärtigen Gemeinschaft (immediate pre‑
sence), in der er m i t ihnen steht. Die Einzelwesen müssten,
jeglichen Haltes beraubt, in Nichts zerfallen, sobald sie gänzlich
aus der göttlichen Substanz entlassen und von i h r g e t r e n n t
wären; was sie erhält u n d ihnen ihren Anteil am Dasein gibt,
ist n u r die reale Allgegenwart, kraft deren Gott in jedem ihrer
Teile unmittelbar enthalten und wirksam ist.%) ‑
Völlig fremd und wie einer anderen Begriffswelt entstammend
muten uns diese Sätze an, die dennoch auf die Zeitgenossen
Newtons kaum eine geringere Wirkung, als die Ergebnisse seiner
exakten Forschung geübt haben. Es knüpft sich an sie eine
theologische Bewegung, die ‐ wenngleich sie von den Geschichts‑
schreibern der Epoche kaum beachtet worden ist ‐ doch zu
den charakteristischsten Zügen im Gesamtbilde der Zeit gehört.
Die Zurückhaltung, die den Meister an diesem Punkte kenn‑
zeichnete, wurde von den Schülern bald n u r noch als eine
formale Eigentümlichkeit seiner Darstellungsweise empfunden,
von der es sich zu befreien galt: an die Stelle der zweifelnden
Frage treten n u n breite dogmatische Erörterungen, in denen der
absolute Raum und die absolute Zeit als göttliche „Attribute“
bestimmt und abgehandelt werden. Die Gottesbeweise insbe‑
sondere schienen hier den festen „apriorischen“ Grund gefunden
zu haben, auf den sie sich fortan stützen konnten. Sie waren in
ihrer überlieferten F o r m bereits allgemein als unzulänglich
erkannt, und insbesondere gegen den ontologischen und kosmo‑
logischen Beweis mehrten sich m i t dem Erstarken der psycho‑
logischen und erkenntnistheoretischen K r i t i k die Angriffe Die
Existenz der sichtbaren Welt vermag ‐ wie nunmehr auch von
theologischer Seite her ständig betont wird ‐ keinen völlig ein
wandfreien Beweis für ihren unendlichen Schöpfer abzugeben:
denn von der Wirkung auf die Ursache gilt kein sicherer Schluss.
Die Materie und die Körperwelt stehen m i t dem Sein Goltes in
keinem inneren und n o t w e n d i g e n Zusammenhang, sondern sind
8350 Das Raum- und Zeitproblem in der Metaphysik. ‐ )J. Raphson.

ein freies Produkt seiner Willkür; so können w i r denn aus ihnen


auch niemals einen streng l o g i s c h e n Beweisgrund entnehmen,
der uns zum unbedingten Sein hinleitete. Aber was derScholastik
versagt blieb, das scheint nunmehr die m a t h e m a t i s c h e N a t u r ‑
w i s s e n s c h a f t zu leisten. Nicht sowohl die Zergliederung der
Naturerscheinungen, als vielmehr die Analyse der Grund‑
begriffe der Naturerkenntnis ist es, von der w i r die Aufklärung
über das Sein und die Attribute Gottes zu erwarten haben. Der
Grund des „Absoluten“ ist in den Fundamenten des empirischen
Wissens selbst fest und unerschütterlich gelegt: der Rückschluss
v o n dem -unendlichen Raume und der unendlichen Dauer aut
ein allgegenwärtiges und ewiges S u b j e k t , das jene Bestimmungen
in sich enthält und trägt, w i r d jetzt m i t voller Bestimmtheit als
„der einzig reale und demonstrative Beweis“ für das Dasein des
Urwesens verkündet. Es ist insbesondere Samuel Clarke, der
in seinem weitverbreiteten und historisch wirksamen Werke:
„A Discourse concerning the Being and Attributes of God“ die
neue Beweisart ausprägt und nach allen Richtungen durchzuführen
sucht. Der langwierige Dogmenstreit, der damit entfacht wird,®)
aber dient wenigstens mittelbar dem erkenntniskritischen Interesse,
da beide Parteien, um ihre Stellung zu behaupten, sich immer
mehr auf die selbständige l o g i s c h e Bearbeitung der wissen‑
schaftlichen Begriffe, die sie zunächst als blosses Material benutzt
hatten, hingewiesen sehen. ‑
Aber nicht n u r in den Kreisen der Theologie, sondern auch
in denen der exakten Forschung wirkte die Anregung der New‑
tonischen Raum- und Gotteslehre weiter. Wa r doch, trotz allen
kritischen Ansätzen, z u m mindesten in den einzelnen Denker‑
persönlichkeiten die Trennung der Probleme noch nirgends
erfolgt, so dass die Grenzen der verschiedenen Sphären noch
überall unvermerkt in einander übergehen. W i e weit der reale
Einfluss der Metaphysik hier noch reicht, das ergibt sich
am deutlichsten aus dem Beispiel derer, die i h m n u r wider‑
strebend folgen. Auch innerhalb der positivistischen Aufklärungs‑
philosophie ist die endgültige innere Befreiung noch keineswegs
erreicht: d’Alembert, der esunternommen hatte, die Philosophie
ibres „chimärischen“ Charakters zu entkleiden und sie als reine
Tatsachenwissenschaft zu begründen, bleibt bei einer dogmatischen
Die Attribute des Urwesens. 361

Seelen- und Unsterblichkeitslehre steben,?T) während Maupertuis,


der als Erster unter den zeitgenössischen Forschern Humes Zweifel
aufnimmt und fortspinnt, die theoretische Physik, deren rein
empirischen Ursprung er beständig hervorhebt, z u m Fundament
eines exakten Gottesbeweises zu machen denkt.%) So zeigt
sich überall im Fortgang der Mathematik selbst eine starke
metaphysische Unter- und Gegenströmung. E i n Mathematiker des
Newtonischen Kreises und der Verfasser einer Geschichte d e r
Fluxionsrechnung, J a c o b Raphson ist es, der nunmehr die
spekulativen Grundgedanken von Newtons Raumtheorie ergreift
und weiterbildet.. Wo immer u n s irgend eine „Vollkommenheit*
in den Dingen entgegentritt, da müssen w i r ‐ wie er argumentiert
‐ ihren Quell und i h r Prototyp in der ersten Ursache suchen,
die alle n u r erdenkliche Realität in einem höheren, „transzenden‑
talen“ Sinne in sich enthält. Wenn somit die Idee des unend‑
lichen Raumes und der unermesslichen Zeit irgend einen positiven
Inhalt repräsentiert ‐ und wie wäre es anders möglich, da beide
die Voraussetzungen sind, unter denen w i r erst von dem
Dasein der begrenzten Körperwelt sprechen können? ‐ so ist
auch das eigentliche und vollkommene U r b i l d beider in Gottes
eigenen Sein zu suchen. Wie aus einem Ungeistigen kein Geistiges,
so könnte auch aus einem Unausgedehnten kein Ausgedehntes sich
jemals entfalten.?°) So wenig w i r daher in Gott jene beschränkte,
teilbare und unvollkommene Ausdehnung annehmen dürfen,
die den empirischen Körpern eignet, so sehr müssen w i r in i h m
eine unbegrenzte und stetige, in sich einfache und unteilbare
Erstreckung und Dauer anerkennen. Seine Existenz ist gleich‑
ımässig in allen Punkten des Raumes und allen Momenten der
Zeit. Erst wenn w i r m i t dieser Anschauung vollen Ernst machen,
gewinnen w i r die klare Einsicht über den Abstand, der das U r ‑
wesen von jedem endlichen und abhängigen Sein trennt. Das
Einzelding w i r d nunmehr v o n der höchsten unendlichen Sub‑
stanz nicht n u r symbolisch, sondern im wirklichen Wortsinne
umfasst und umschlossen und besitzt ausserhalb ihres Um‑
kreises keinen möglichen Bestand. „ I m Vergleich m i t jenem
Wesenhaftesten sind die Objekte eher schwache Abschattungen
der wahren Wirklichkeit, als dass sie selber etwas Reales wären;
denn selbst wenn sie überall wären, so würden sie doch, da sie
862 Das KRaum- und Zeitproblem in der Metaphysik. ‐ Raphson u. More.

das Sein n u r in vielfältiger Zerstückung enthalten, an die Unend‑


lichkeit der obersten Ursache, die im höchsten Sinne positiv und
real ist, niemals heranreichen.*%) Der wahre Weg, der vom
Bedingten z u m Unbedingten führt, ist nunmehr in klarer
Weise vorgezeichnet: w i r brauchen nur, was uns in in der
empirischen Auffassung als Bruchstück gegeben ist, v o n jeg‑
licher gedanklichen Schranke zu befreien, um uns zur adä‑
quaten Anschauung der absoluten Wirklichkeit zu erheben.
Der Raum, wie der Mathematiker und mathematische Pbysiker
i h n denkt, leistet uns hierbei den entschiedensten und unent‑
behrlichen Mittlerdienst. Denn er enthält alle Bestimmungen,
die w i r am materiellen Körper gleichsam in getrübtem und ge‑
brochenem Lichte erblicken, in reinerer und geistigerer Weise
in sich. Er ist unteilbar u n d doch der Grund aller Teilbarkeit,
unbeweglich und doch die Bedingung für jede Bewegung, in sich
homogen und einheitlich und doch die Voraussetzung für alle
Besonderung und wechselseitige Abgrenzung der Dinge Mit
allen diesen Eigenschaften aber ist er das schärfste und genaueste
Spiegelbild der göttlichen Substanz, das w i r kennen, und offen‑
bart uns in jedem Einzelzuge eines ihrer wesentlichen Attribute.3!)
Um diese Lehre in ihrem systematischen Zusammenhang
zu erfassen und zu beurteilen, muss m a n sie zuvor zu ihrem
eigentlichen geschichtlichen Ursprungsort zurückverfolgen. Es
ist die Philosophie H e n r y Mores, auf welche N e w t o n sowohl
wie R a p h s o n in ihrer Raumtheorie zurückgehben.®) In Mores’
„Enchiridium Metaphysicum* treten uns die Motive, die sich später
n u r vereinzelt und durch andersartige Tendenzen gehemmt vor‑
finden, in völlig reiner Ausprägung entgegen. More ist einer
der ersten, der v o n Descartes’ philosophischer Reform ergriffen
wird, der jedoch der'neuen Lehre, die er in wichtigen Punkten
annimmt, sogleich m i t selbständiger K r i t i k gegenübertritt. Seine
Briefe an Descartes gehören zu den interessantesten und frucht‑
barsten Gegenäusserungen und haben vielfach zu einer schärferen
Aussprache und Begründung der wichtigsten Cartesischen Lehren
mitgewirkt. Als der eigentliche treibende Gegensatz tritt schon
hier die eigenartige Raumlehre Mores hervor, die später zu wei‑
terer Ausführung und strengerer Fassung gelangte. In i h r liegt
der Keim für eine autochtone Entwicklung der englischen Philo‑
Die geistige Natur des reinen Raumes, 863:

sophie u n d der Anfang gleichsam einer neuen „nationalen“ Me‑


taphysik, die sich gegenüber dem Vordringen des Cartesianismus.
selbständig behauptete. So erklärt sich der Wert, den Mores
Werk f ü r N e w t o n besitzen musste. F ü r den Kampf, den dieser
gegen die Physik Descartes’ zu führen hatte, schien hier die a l l ‑
gemeine systematische Vorbereitung und Zurüstung getroffen.
Der Gegensatz war klar fixiert und m i t einem bekannten Schlag‑
worte bezeichnet: e s gilt gegenüber dem M a t e r i a l i s m u s Des‑
cartes’, der die Ausdehnung z u m Stoffe macht, den geistigen und
unkörperlichen Charakter des Raumes zu erweisen. Erst wenn
dies gelungen ist, ist der W i d e r s t r e i t zwischen den religiösen
Interessen und der empirischen Forschung wahrhaft geschlichtet:
die mathematische Analyse der Körper und ihrer Bewegungen wird
zum Mittel für die tiefere Erkenntnis Gottes und seiner Attribute.
Dass es dieser Gedanke ist, der Newton an More fesselt, tritt
später im Streit m i t Leibniz charakteristisch hervor, sofern hier
der eigentliche Vorzug der m a t h e m a t i s c h e n Prinzipien der
Naturlehre darein gesetzt wird, dass sie, indem sie den leeren,
immateriellen Raum als ein absolutes Sein erweisen, das wirk‑
samste Gegengewicht gegen das materialistische Vorurteil
schaffen.) Die Existenz der unendlichen und unbeweglichen Aus‑
dehnung, die kraft dieser ihrer Grundeigenschaften vom Körper
prinzipiell geschieden ist, bietet den sichersten und unmittelbar
anschaulichen Beleg für ein höheres, stoffloses Dasein dar. Jeder
Versuch einer subjektivistischen Deutung und Abschwächung
dieses „geistigen“ Gehaltes muss ‐ wie Henry More im Hinblick
auf Hobbes’ Raumlehre ausführt, ‐ notwendig scheitern. Der
Raum ist kein blosser gedanklicher Beziehungsbegriff; er ist
vielmehr das „reale Fundament“, das bei jeder Setzung von Be‑
ziehungen, bei jeder Aussage über die wechselseitige Lage u n d
Entfernung der Körper von u n s bereits zu Grunde gelegt werden
muss. #4) W i r müssen u n s notwendig vorstellen, dass die Aus‑
dehnung v o n jeher existiert hat und für immer existieren wird,
gleichviel ob irgend ein denkendes Individuum besteht, dass sie
sich in seiner „Imagination“ vergegenwärtigt. Wie aber könnte
es eine in Ewigkeit fortbestehende, wirkliche Eigenschaft geben,
ohne dass zugleich eine reale s u b s t a n t i e l l e Grundlage für sie
bestände?%) Diese Grundlage aber, die w i r notwendig fordern
364 Das Raum- und Zeitproblem in der Metaphysik. ‐ Henry More.

müssen, finden w i r nirgends im Bereich des physischen Seins,


das uns unmittelbar umgibt. Was uns an den Körpern als deren
Beschaffenheit entgegentritt, das sind n u r begrenzte und von ein‑
ander getrennte Teile der Ausdehnung, deren Summierung nie‑
mals das Ganze des E i n e n unendlichen Raumes ausmacht. Soll
also dieses Ganze nicht lediglich ein Gebilde unserer Einbildungs‑
kraft sein, so müssen w i r i h m einen sichereren Halt suchen, als
die wandelbaren empirischen Objekte i h n darbieten können.
Das wirkliche Subjekt des absoluten Raumes und der absoluten
Zeit kann n u r die göttliche Substanz sein, deren schrankenloses
Wirken sich uns bier in der Form eines zwiefach unendlichen
Seins offenbart. „So strebe i c h danach und streite dafür ‐ m i t
diesen Worten heschliesst More seine Untersuchung ‐ Gott durch
dieselbe Pforte in die Welt wieder einzuführen, durch welche
die Cartesische Philosophie ihn von i h r auszuschliessen ge‑
dachte.“38)
Die scholastischen Voraussetzungen dieser Beweisführung
treten jetzt freilich unverkennbar hervor. Die Raumlehbre Henry
Mores wurzelt gänzlich in seinem metaphysischen Substanzbegriff.
Jedes „Accidens“ weist auf einen Träger hin, der ihm an Realität
mindestens gleichsteht: denn vom Nichts kann es keine Eigen‑
schaften geben. Innerhalb dieses Gesichtskreises bewegt sich
auch die gesamte weitere Argumentation, die darauf abzielt, die
Uebereinstimmung und Vereinbarkeit v o n Ausdehnung und Dauer
m i t den übrigen Attributen u n d Grundcharakteren der Gottheit
nachzuweisen. Nacheinander werden hier die bekannten dogma‑
tischen Bestimmungen, die verschiedenen „ Ti t e l * des höchsten
Seins aufgezählt und zu den logischen Eigentümlichkeiten des
Raumes und der Zeit in Beziehung gesetzt.) Gott w i r d als u n ‑
bedingte E i n h e i t und E i n f a c h h e i t gedacht: aber auch für den
absoluten Raum gelten diese Merkmale, da er qualitativ durch‑
aus gleichartig und quantitativ einzig, weil nicht in eine wirk‑
liche Mehrheit v o n Teilen zerlegbar, ist. Denn so wenig er aus
physischen Elementen besteht, so wenig kann er in sie wahrhaft
aufgelöst werden; vielmehr besitzt alle Zerlegung, die w i r in der
Vorstellung m i t i h m vornehmen, lediglich abstrakte und logische
Bedeutung. W i r d ferner Gott den Dingen als u n a b h ä n g i g e
Existenz entgegengesetzt, so steht der Raum den Objekten
D e r sinnliche und der intelligible Raum, 365

nicht minder selbstgenügsam gegenüber, da er i h r e r für sein


eigenes Dasein nicht bedarf, sondern sie, als in sich selbst fertige
und abgeschlossene Natur, n u r nachträglich in sich eingehen
lässt. Denken w i r uns daher selbst alle Dinge vernichtet, so
können w i r uns doch seine Existenz niemals fortdenken; sie be‑
hauptet für unsere Vorstellung notwendigen Bestand.®) In gleicher
Weise werden die übrigen Prädikate des Raumes, seine Unbe‑
weglichkeit, seine Unvergänglichkeit und Unermesslichkeit als
Zeugen seines höheren spirituellen Charakters angerufen. Das
sinnliche Bild, das w i r uns v o m Raume zu machen pflegen, kann
jetzt freilich n u r noch als der ungenaue Umriss seiner echten
Realität gelten. Im Symbol der Ausdehnung offenbart sich u n s
ein intelligibles Sein. Zu diesem hinzuleiten, erscheint nunmehr
als die eigentliche Aufgabe der Philosophie, in der sie die Ma‑
thematik, die bei dem blossen Anschauen des bildlichen Schemas
selbst verharrt, weit hinter sich lässt. „Das geistige Objekt, das
w i r Raum nennen, ist n u r ein verschwindender Schatten, der
uns die wahre allgemeine Natur der ununterbrochenen göttlichen
Allgegenwart im sehwachen Lichte unseres Intellekts darstellt,
bis w i r sie mit wachen Augen und aus grösserer Nähe anzu‑
schauen imstande sind.“ ®%)
W i r stehen, wie man sieht, mitten im pantheistischen Ge‑
dankenkreis: auf demselben Boden, aus dem Spinozas Lehre
v o n der unendlichen Substanz, die w i r unter dem Attribut der
unbegrenzten Ausdehnung erkennen, hervorgewachsen ist. Der
vollen Ausbildung des Gedankens stellen sich jedoch hier alsbald
theologische Schranken entscheidend entgegen. Die P e r s ö n ‑
l i c h k e i t Gottes musste als unbestrittener Grundsatz überall
festgehalten werden; ‐ damit aber häufen sich die Schwierigkeiten
der weiteren Entwicklung. Die „Immanenz“ Gottes in der Natur
bleibt als unerreichbares Ziel stehen. Die harmonische Ver‑
knüpfung v o n Körper- und Geisterwelt, die durch den Mittel‑
begriff des „reinen Raumes“ gewährleistet werden soll, verfehlt
i h r Ziel, das sinnliche Sein zu erhöhen; sie muss, entgegen der
ursprünglichen Absicht, damit enden, das rein Gedankliche selbst
in sinnliche und antbropomorpbe Formen zu kleiden. Man
begreift, von hier aus gesehen, den harten und schroffen Dua‑
lismus, kraft dessen Descartes die denkende und die ausge‑
3 6 6 Das Raum- und Zeitproblem in der Metaphysik. ‐ Henry More.

dehnte Substanz prinzipiell von einander schied. Der Raum und


m i t ihm die Naturwissenschaft war damit wenigstens jeder Ver‑
mischung m i t dem „Immateriellen“ entzogen, in dem alle Ge‑
fahren der alten Metaphysik sich bargen. Die Trennung erfolgte
in der Klarheit und Schärfe des analytischen Geistes, der sich,
um die methodische Verschiedenheit der Problemgebiete zu
wahren, bis zu ihrer durchgängigen Entgegensetzung fortge‑
trieben sah. Die engen Beziehungen, die sich bei Newton wieder‑
um zwischen Raum- und Gotteslehre knüpfen, bedeuten dem‑
gegenüber einen inneren Mangel i n der p h i l o s o p h i s c h e n Grund‑
legung der Erfahrungswissenschaft. Indem Newton sich auf die
Lehre Henry Mores stützt, hält er damit ein Stück miitelalter‑
licher Welt- und Naturanschauung fest, das fortan, dank seiner
Autorität, seine Kraft und Wirksamkeit noch inmitten der
exakten Forschung auszuüben vermochte. Und doch ist auch
dieses Moment ‐ so vielseitig sind die Bahnen und Möglich‑
keiten der Ideenentwicklung ‐ nicht lediglich negaliv abzu‑
schätzen: denn i n der S p i r i t u a l i s i e r u n g des Raumes und der
Zeit war, wie sich zeigen wird, ihrer künftigen Idealisierung der
Weg gewiesen.

II.
Die kritische Erörterung v o n Henry Mores Raumlehre hält
sich ‐ wenn w i r sie zunächst n u r innerhalb des engeren Gebietes
der englischen Philosophie verfolgen ‐ anfangs noch ausschliess‑
l i c h im Umkreis der theologischen Fragen, um erst allmählich in
‚psychologische Bahnen einzulenken. F ü r die spekulative Golttes‑
lehre schien Mores Anschauung einen entscheidenden Gewinn zu
bedeuten: hatte es doch den Anschein, als sei m i t i h r den
„Hobbisten“ uud „Atheisten“ ihre stärkste logische Waffe ent‑
wunden worden. Der leere Raum, der bisher die Grundlage
jeglicher atomistiischen und mechanistischen Naturauffassung
gebildet hatte, musste nunmehr selbst den klaren und bündigen
Beweis f ü r das Dasein einer höchsten unkörperlichen Substanz
abgeben. In diesem Sinne verwendet C u d w o r t h Jie Beweise
Mores. ohne sich ihren sachlichen Inhalt ganz zu Eigen: zu
Isaac Watts’
Jsaac W'atts' „Enquiry concerning Space“.
„Engquiry concerning Space", 367
887

machen,
machen, als als Argumente
Argumente ad hominem im Kampfe
ad hominem Kampfe gegen gegen die
materialistischen
materialistischen Systeme.1) Systeme.) Schwerer Schwerer freilichfreilich als dieser Vorzug
als dieser Vorzug
der Lehre
der Lehre mussten
mussten zuletztzuletzt die die theologischen
theologischen Bedenken Bedenken wiegen, wiegen,
die ihrer
die ihrer Annahme entgegenstanden. Die
Annahme entgegenstanden. strenge Scheidewand
Die strenge Scheidewand
zwischen Gott und Welt war durch sie beseitigt; der
zwischen G o t t und W e l t w a r durch sie beseitigt; der reine
reine
R a u m schien
Raum gleichsam zwischen
schien gleichsam zwischen der Sinnenwelt Sinnenwelt und und der intel‑ intel-
ligiblen
ligiblen We Weltl t zuzu schweben,
schweben, so so dass
dass beide unmittelbar einander
beide unmittelbar einander
berühren
b e r ü h r e n und unmerklich in einander
und unmerklich überfliessen konnten.
einander überfliessen konnten. So So
werden jetzt
werden gegen Mores
jetzt gegen Mores und Auffassung Bedenken
Clarkes Auffassung
und Clarkes Bedenken
u
und Einwände laut,
n d Einwände laut, wie wie etwaetwa Bayle sie gegen
B a y l e sie gegen Spinoza
S p i n o z a ge‑ge-
richtet
richtet hat. hat. Gehört Gehört der der Raum Raum notwendignotwendig und und untrennbar
untrennbar
göttlichen Wesenheit,
u r göttlichen
zzur Wesenheit, so bildet jeder Körper
so bildet Körper kraft kraft der
Ausdehnung,
Ausdehnung, die die iihmh m zukommt,
zukommt, einen einen wirklichen
wirklichen Te ii ll vvom om
Sein Gotles; so
Sein Gottes; so müssen
müssen wir w i r also
also die Einzelwesen entweder jeder
die Einzelwesen
selbständigen Realität
selbständigen Realität berauben,
berauben, oder aber in ihnen ihnen ebensoviele
ebensoviele
einzelne „Götter“
einzelne „Götter" anerkennen.
anerkennen. Wie Wie immerimmer w hier die
i r hier
wir die Ent‑
Ent-
scheidung zu
scheidung treffen suchen,
zu treffen suchen, so sehen wir uns
so sehen alsbald in uun-
uns alsbald n‑
lösbare
lösbare Schwierigkeiten
Schwierigkeiten verstrickt. verstrickt. Die Abhandlung
Die Abhandlung eines
bekannten theologischen Schriftstellers
bekannten theologischen Schriftstellers der Zeit: Zeit: IsaacIsaac Watts’Watts'
„Enquiry lasst alle
„Enquiry concerning Space" fasst alle diese Paradoxa der Moreschen
concerning Space“ dieseParadoxa der Moreschen
Lehre -- freilich
Lehre freilich mehrmehr in in rhetorischem,
rhetorischem, als als inin philosophischem
philosophischem
Stile -‐ zusammen.
Stile zusammen. „Was »Wa s ist zuletzt dieses so
ist zuletzt gewöhnliche und
so sewöhnliche und
doch
doch so so seltsame
seltsame Ding, das w i
Ding, das wir Raum nennen?r Raum nennen? was bedeutet
. bedeutet
dieses Mysterium, das
dieses Mysterium, das so allgemein bekannt
so allgemein bekannt und duch so
und duch so gänzlich
gänzlich
unerkennbar
unerkennbar ist? ist? Ist Ist eses weder
weder Nichts Nichts noch noch Etwas,
Etwas, wederweder ModusModus
noch Substanz,
noch Substanz, weder Geschöpf noch
weder Geschöpf Gott?" Alle
noch Gott?“ Alle diese
diese Bestim‑
Bestim-
mungen können
mungen können iihm h m weder abgesprochen,
abgesprochen, noch noch können
können sie sie iihm
hm
in: ihrer Gesamtheit
in ihrer Gesamtheit zuerkannt zuerkannt werden, werden, ohne ohne es es damit zu einer
zu einer
absurden Mischung
absurden widerstreitender Merkmale
Mischung widerstreitender Merkmale zu zu machen.
machen. „So „So
lernen w
lernen wir durch alle
i r durch alle unsere
unsere mühsamen mühsamen und und beschwerlichen
beschwerlichen
Beweise
Beweise zuletztzuletzt nnur u r die Schwäche unserer
die Schwäche unserer eigenen
eigenen Vernunft
Vernunft
k e n n e n . Eine
kennen. alltägliche und
Eine alltägliche und jedermann
jedermann bekanntebekannte Idee, Idee, in der der
alle
alle WeltWelt. übereinzustimmen
übereinzustimmen scheint, scheint, ist ist es, die zuletzt
es, die zuletzt alle
alle unsere
unsere
philosophischen
philosophischen Systeme Systeme beschämt:
beschämt: w wir versinken in den
i rversinken den Abgrund
Abgrund
des
des unendlichen
unendlichen und ewigen Raumes
und ewigen Raumes u unser Denken
n d unser
und Denken verliert
verliert
und begräbt sich
und begräbt sich in ibm."41) i n i h m . “ # ! )
Das einzige
Das Mittel, um einen
einzige Mittel, einen Rückweg
Rückweg aus aus dieser SkepsisSkepsis
zu finden,
zu finden, schien schien in psychologischen
der psychologischen Besinnung auf den
der Besinnung auf den
868 D
868 a sRaum-
Das Raum- u n d Zeitproblem
und der Metaphysik.
Zeitproblem in der Metaphysik. -‐ Edmund Law.
Edmund Law.

Ursprung und
Ursprung und die die Entwicklung
Entwicklung der Raumvorstellung
Raumvorstellung zu zu liegen.
liegen.
L o c k e s Analyse
Lockes Analyse hatte gerade an
hatte gerade diesem Punkte
an diesem versagt; sie
P u n k t e versagt; sie war,
war,
bestimmt
bestimmt durch Newtons Newtons Autorität,
Autorität, vvor o r dem letzten Ergebnis,
dem letzten Ergebnis, zu zu
dem die
dem philosophischen Prinzipien
die philosophischen Prinzipien des des Empirismus
Empirismus hindrängten,
hindrängten,
zurückgewichen.
zurückgewichen. (($. ob. S.
S. ob. 177ff.) Die
S. 177ff.) Die Untersuchung
Untersuchung muss muss daher
auf der
auf der allgemeinen Grundlage, die
allgemeinen Grundlage, die hier geschaffen war,
hier geschaffen war, erneuert
erneuert
und
und zum folgerichtigen Abschluss gebracht werden.
zum folgerichtigen werden. Um Um diesediese
Aufgabe
Aufgabe zu zu lösen,
lösen, knüpft
knüpft E dmund L
Edmund Lawa w in seiner
seiner „Untersuchung
, Untersuchung
über
über die Ideen des
die Ideen Raumes und
des Raumes und der Zeit, Zeit, der Unermesslichkeit
Unermesslichkeit
und
und der Ewigkeit“Ewigkeit" an Lockes Kritik
an Lockes Kritik des des Unendlichkeitsbegriffs
Unendlichkeitsbegriffs
an. Das
an. Das istist der Grundirrtum,
Grundirrtum, den den die die Gegner der relativistischen
relativistischen
Theorie begehen:
Theorie begehen: dass sie in der U
dasssiein U n e nnddllii cchhkkeeiitt des Raumes und
des Raumes und
dder
e r Zeit den den Beweis
Beweis f ü r i h rr absolutes
absolutes uund n d transzendentes Sein Sein er‑er-
blicken.
b Weil Ausdehnung
l i c k e n , Weil Ausdehnung und Dauer der Grösse
und Dauer Grösse nach,
nach, allealle unsere
unsere
endliche Fassungskraft
endliche übersteigen, darum
Fassungskraft übersteigen, darum sollen sollen sie uns -‐ - wie
sie uns wie z.B.
z. B.
Raphson
R a p h s o n argumentiert
argumentiert hatte hatte ‐- auch auch in ihrer inneren Wesenheit
ihrer inneren
dauernd unbegreiflich ssein.$)
dauernd unbegreiflich Wahrheit ist
e i n . ) In Wahrheit Schluss, der
ist der Schluss,
hier versucht wird,
hier versucht wird, umzukehren:
umzukehren: eben eben die die Grenzenlosigkeit
Grenzenlosigkeit des des
Raumes
Raumes und und derder Zeit gibt uns
Zeit gibt uns die sichere Gewähr dafür,
die sichere dafür, dass
wir eess iinn ihnenihnen nichtnicht m miti t D i n g e n , sondern
Dingen, sondern m Ideen des
miti t Ideen des
ree i n eenn Verstandes
Ve r s t a n d e s zu
zu tun haben. Von
tun haben. Schranken der
Von Schranken der räum‑
räum-
lichen
lichen oder zeitlichen Ausdehnung zu
zeitlichen Ausdehnung zu sprechen
sprechen ist ist somit
somit freilich
freilich
ein Widerspruch: aber
ein Widerspruch: aber nicht deshalb, weil
nicht deshalb, weil eine falsche objektive
eine falsche objektive
Behauptung
Behauptung über üher die Natur der Dinge
die Natur Dinge darin darin läge, sondern weil
läge, sondern weil
es eine
es eine Verkennung
Verkennung unseres unseres IIntellekts
n t e l l e k t s undund seiner Grundfunk‑
Grundfunk-
tionen bedeuten
tionen bedeuten würde.würde. Unser Unser Vermögen,
Vermögen, über über jedejede räumliche
räumliche
oder zeitliche
oder hinauszugehen, beweist
Grenze hinauszugehen,
zeitliche Grenze beweist nicht, nicht, dassdass Aus‑
Aus-
dehnung und
dehnung und DauerDauer ihrer eigenen realen
ihrer eigenen Wesenheit nach
realen Wesenheit nach not‑ not-
wendig
wendig unendlich
unendlich sind, sind, sondern
sondern es umgekehrt, dass sie
zeigt umgekehrt,
es zeigt sie
eine derartige Wesenheit,
eine derartige Wesenheit, wie wie sie ihnenihnen hier zugeschrieben wird,
hier zugeschrieben wird,
weder besitzen,
weder besitzen, noch besitzen können
noch besitzen können.$8) #2) DennDenn alles Existierende
alles Existierende
ist in sich
ist sich bestimmt
bestimmt und abgeschlossen; nnur
und abgeschlossen; unser D
u r unser Denken
e n k e n ist ist
es, das
es, über jeden
das über erreichten Punkt
jeden erreichten Punkt immer immer wieder wieder hinausdrängt
hinausdrängt
und
und das das ddamit der Grund
a m i t der Grund und Quell ffür
u n d Quell ü r jegliche Art der Un‑ Un-
endlichkeit wird.
endlichkeit wird. Die Die Frage
Frage ist ist hier vvon spekulativen
o n der spekulativen
Theologie und
Theologie und Mystik
Mystik wiederum
wiederum auf auf ihren eigentlichen erkennt‑
ihren eigentlichen erkennt-
niskritischen Grund
niskritischen Grund und und Boden
Boden zurückgeführt;
zurückgeführt; die die Geltung
Geltung und und
die Notwendigkeit,
die Notwendigkeit, die die wwiri r dem
dem RaumeRaume und und der Zeit zusprechen,
zusprechen,
Raum n d Zeit
Rawm uund als Ideen
Zeit als Ideen des ränen Verstandes.
des reinen Verstandes. 369
369

ist nicht
ist irgendwiein
nicht irgendwie den Dingen
in den Dingen als als solchen,
solchen, sondernsondern in unserem
unserem
B e g r e i f e n der
Begreifen der Dinge zu gründen.Dinge z u gründen.
Es ist
Es ist in der der Tat Ta t ‐- wie nunmehr im einzelnen
wie nunmehr einzelnen dargetan
dargetan
wird
w i r d -‐ das alte o n t o l o g i
das alte ontologische Vourteil, dass c h e Vourteil, das das Festhalten aann
Festhalten
den Begriffen
den Begriffen des absoluten Raumes
des absoluten Raumes und absoluten Zeit ver‑
und der absoluten ver-
schuldet. Aus
schuldet. Aus der Beschaffenheit unserer
der Beschaffenheit unserer Ideen Ideen glaubt
glaubt m a n uun-
man n‑
mittelbar
mittelbar auf auf die Existenz und
die Existenz und B e s c h a ff e n h e i tder
Beschaffenheit a c h e n schliessen
d e r SSachen schliessen
zu dürfen. Von
zu dürfen. Von der der Vorstellung
Vorstellung zzum u m absoluten
absoluten Sein Sein aber führt
keine
keine BrückeBrücke und kein logisches
u n d kein logisches Verbindungsglied.
Verbindungsglied. Wenn We n n LawLaw
•sich hierfür auf
«sich hierfür auf LockeLocke beruft,beruft, so so zeigt sich doch
zeigt sich doch in der der Schärfe,
Schärfe,
m der dieser Gedanke
miti t der Gedanke nunmehr nunmehr verfochtenverfochten wird, zugleich der
wird, zugleich
Fortschritt,
Fortschritt, den den das Denken der
das Denken der ZeitZeit von von LLoo c k ee zu zu Berkeley
Berkeley
vollzogen
vollzogen hatte. hatte. Alle notwendige Verknüpfung
Alle notwendige Verknüpfung bezieht bezieht sich
sich zu‑zu-
letzt
letzt aufauf das Verhältnis der Ideen
das Verhältnis Ideen selber,
selber, nichtnicht auf eine eine Beziehung,
Beziehung,
die zwischen irgend
die zwischen irgend einer einer Idee Idee und
und ihrem äusseren Gegenstand
ihrem äusseren Gegenstand
besteht.
besteht. Die Die Bedeutung
Bedeutung und und der Wert Wert aller unserer Wahrheiten
aller unserer
somit immer
ist somit
ist immer n u r in der innern
nur innern Uebereinstimmung
Uebereinstimmung der Be‑ Be-
griffe unter einander
griffe unter einander zu suchen, nicht zu suchen, nicht aber an den dinglichen
an den dinglichen
„Originalen" zu
„Originalen“ messen, die
zu messen, die ihnen
ihnen etwa etwa entsprechen
entsprechen mögen. mögen.
„Hier sind
«Hier sind wir gezwungen -‐ so
wir gezwungen so bemerkt
bemerkt Law Law in voller voller Klarheit
Klarheit
gegen C
gegen Clarke
l a r k e undund seine seine Anhänger.
Anhänger. -‐ nicht nicht nur wur in unsererunserer Auf‑Auf-
fassung
fassung vvon on R Rauma u m und Zeit, sondern
u n d Zeit, sondern auch a u c h in den den ersten Prinzi‑
ersten Prinzi-
pien und
pien Grundlagen der Erkenntnis,
und Grundlagen Erkenntnis, ja ja inin uunserem
nserem B egriff
Begriff
ddeerr E r k e e nn nntt nnii ss sseellbbeerr vvon unseren Gegnern
o n unseren Gegnern abzuweichen.“4)
abzuweichen."«)
A unser demonstratives
Alll l unser demonstratives Wissen Wissen beschränktbeschränkt sich sich darauf,
darauf,
gültige immanente
gültige immanente Beziehungen Beziehungen‘zwischen zwischen den Vorstellungen auf‑
den Vorstellungen auf-
zuweisen,
zuweisen, während während die Setzung unabhängig
die Setzung existierender „Ideata“
unabhängig existierender „Ideata"
mindesten problematisch
zum mindesten
zum problematisch bleib. bleibt. W Wiri r wissen
wissen nur, nur, dass
wenn
w unseren Ideen
e n n unseren objektive Gegenstânde
Ideen objektive Gegenstände entsprechen,entsprechen, diese diese
auch
auch all all die die Beschaffenheiten
Beschaffenheiten und und Verhältnisse
Verhältnisse zeigen zeigen müssen,
müssen,
die w
die wiri r ausaus der Betrachtung der Begriffe
der Betrachtung Begriffe als als notwendige
notwendige Fol‑ Fol-
gerungen abgeleitet
gerungen abgeleitet haben; h a b e n ; oob aber dieser
b aber dieser F a l l eintritt,
Fall eintritt, obob diedie
Bedingungen,
Bedingungen, ffür ü r die dieses hypothetische
die dieses hypothetische Urteil Urteil gilt, sich jemals
gilt, sich
ganz verwirklicht finden,
ganz verwirklicht finden, lässt sich niemals
lässt sich niemals m miti t unbedingter
unbedingter
Sicherheit entscheiden.
Sicherheit entscheiden. „Sucht „Sucht m man somit die
a n somit die wirkliche
wirkliche oder
mögliche Existenz
mögliche Existenz eines eines Dinges
Dinges aus aus dem dem B eggrriiff f f,, den
den w wiri r von
von
h m in unserem
iihm Geiste haben, zu beweisen,
unserem Geiste haben, zu beweisen, so heisst dies einen so heisst dies einen
falschen
falschen Maasstab Maasstab der Wahrheit voraussetzen.“
der Wahrheit voraussetzen." Zwischen Zwischen der
PN
21
3370
70 und Zeitproblem
Raum- und
Das Raum-
Das Zeitproblem in der Metaphysik.
Metaphysik. ‐- E.
E. Zaw.
Law.

idealen und
idealen und realen Existenz besteht
realen Existenz besteht niemals die gleiche
niemals die gleiche Ver‑
Ver-
knüpfung,
knüpfung, wie wie sie zwischen den
sie zwischen Gliedern einer logischen
den Gliedern logischen oder
mathematischen Schlussfolgerung
mathematischen besteht. Das
Schlussfolgerung besteht. Das D a s e i n des Rau‑
Dasein Rau-
mes ist
mes seiner Vo r s t eelll u nngg nicht
ist iinn seiner nicht iim
m gleichen Sinne ent‑
gleichen Sinne ent-
halten, wie der
halten, wie Begriff der
der Begriff „Vier" in dem
der „Vier“ dem Produkt Zwei und
aus Zwei
Produkt aus und
Zwei enthalten ist:
Zwei enthalten ist: w i r können
wir können die die Verbindung
Verbindung beider in Ge‑ Ge-
aufheben, ohne
danken aufheben,
danken dass der geringste
ohne dass Widerspruch
geringste logische W iderspruch
sich bemerkbar
sich bemerkbar macbt.%)macht.) Zwar mögen mögen w i r immerhin
wir immerhin ausaus unserer
unserer
Perzeption
Perzeption aufauf eineeine äussere Ursache schliessen,
aussere Ursache schliessen, diedie sie
sie hervor‑
hervor-
bringt; aber w
bringt; aber wiri r bleiben
bleiben alsdann
alsdann auf den Inhalt
auf den dessen beschränkt,
Inhalt dessen beschränkt,
was
was uns u n m i t t e l b a r in der
uns unmittelbar der Wa h r n e h m u n gg gegebengegeben undu n d durch
durch
bezeugt
sie bezeugt wird. Sobald wir diesen Inhalt gedanklich zu be‑
sie wird. Sobald w i r diesen Inhalt gedanklich zu be-
beginnen, sobald
arbeiten beginnen,
arbeiten sobald w wir h m irgend
i r iihm irgend elwas etwas hinzufügen
hinzufügen oder
o n iibm
etwas vvon
etwas h m wegnehmen,
wegnehmen, haben haben w wiri r es fortan lediglich
es fortan lediglich m miti t
einem Gebilde des
einem Gebilde des Geistes zu tun,
Geistes zu tun, fürfür welches kein kein sachliches
Correlat
Correlat zuzu fordern
fordern und und zu
zu suchen
suchen ist.‘®)ist.48) .
Was aber insbasondere
Was aber insbzsondere die die Begriffe
Begriffe des reinenreinen Raumes
R a u m e s und
und
der
der reinen Zeit betrifft,
reinen Zeit betrifft, so ist es
so ist es klar,
klar, dassdass zwar die die erste A Ann- ‑
regung zu
regung ihrer Bildung
zu ihrer Bildung vonvon aussenaussen durch durch denden Eindruck,
Eindruck, den den
Körper auf
die Körper auf unsere
unsere Sinne
Sinne ausüben,
ausüben, stammenstammen mag, mag, dass aber aber
h r eigentlicher
iihr eigentlicher Gehalt lediglich im Intellekt
Gehalt lediglich Intellekt seinenseinen Ursprung
Ursprung
hat. Denn beide
hat. Denn beide sind sind die Muster r e l a
die Muster Ideen: jede Bezieb‑
a t i v eerr Ideen: Bezieh-
ung aber bringt
ung aber bringt zu verglichenen Inhalt
dem verglichenen
zu dem Inbalt etwasetwas hinzu,
hinzu, was
nicht
nicht in iihm h m selber liegt, sondern
selber liegt, sondern lediglich
lediglich unsererunserer denkenden
denkenden
Betrachtung
Betrachtung angehört.
angehört. Das Das „Sein“,
„Sein", das w der Ausdehnung
wiri r der Ausdehnung und und
Dauer zusprechen,
der Dauer
der zusprechen, wurzelt wurzelt daher zuletzt in dem
daher zuletzt dem geistigen
geistigen
Akt der Ve
Akt der r g l e i c h u n g und
Vergleichung Verhältnissetzung und
und Verhältnissetzung und müsste,
müsste, so‑
so-
bald
bald w wiri r diesen aufgehoben denken,
diesen aufgehoben denken, in NichtsNichts zerfallen.)
zerfallen.47) Auch
Auch
die Folgerung,
die Folgerung, dass dass mitm i t dieser Relativierung des
dieser Relativierung des Raumes
Raumes und und
der Zeit
der Zeit auch
a u c h die empirische K ö r p eerrw
die empirische weelltt betroffen
betroffen undund ihrer
ihrer
unabhängigen
unabhängigen Existenz beraubt würde,
Existenz beraubt würde, darf uns uns nicht
nicht beirren
beirren
und ablenken.
und ablenken. Dass Dass das das Universum
Universum „„im i m Raume existiert": dies
Raume existiert“:
bedeutet nichts anderes,
bedeutet nichts anderes, als als dass
dass w
wiri r es
es in unserer
unserer Anschauung
Anschauung
auf ein bestimmtes
auf ein bestimmtes Modell, Modell, das w i r in unserm
wir unserm Geiste tragen, be‑
Geiste tragen, be-
ziehen.
ziehen. „„Wir haben die
W i r haben abstrakle Vorstellung
die abstrakte Vorstellung eines eines solchen
solchen Mo‑
Mo-
dells und eines
dells und solchen aligemeinen
eines solchen Behältnisses (capacity),
allgemeinen Behältnisses (capacity), und
und
wenden
wenden sie sodann auf
sie sodann auf die Körperwelt oder vielmehr auf
die Körperwelt auf unsere
unsere
Vorstellung
Vorstellung der der Körperwelt
Körperwelt an. Das ideale
an. Das ideale U niversum h
Universum at,
bat,
Die Objektivität der
Die Objektivität reinen Besichungen.
der reinen Berichungen. 371
371

m anderen Wo
miti t anderen rten, e
Worten, i n e n idealen
einen idealen O Ortr t in uunserem
n s e r e m Be‑
Be-
wusstsein; und
wusstsein; m e h r. “ # ) Und
u n d n i chhtt mehr.«s8) Und eses wäre irrig anzu•
irrig anzu‑
nehmen, dass
nehmen, dass unser
unser WWii ss s eenn m miti t dieser Einsicht irgend
dieser Einsicht irgend etwas
etwas
von seinem und seiner objektiven
von seinem Wert und seiner objektiven Gültigkeit einbüsste.
Wert Gültigkeit einbüsste.
Sind Raum und
Sind Raum Zeit nichts
und Zeit nichts Wirkliches
Wirkliches ‐- so so hatten die Anbän‑
hatten die Anhän-
ger Newtons argumentiert
ger Newtons argumentiert -‐ so so fallen damit auch
fallen damit a u c h alle
alle örtlichen
örtlichen
und
und zeitlichen Unterscheidungen dahin,
zeitlichen Unterscheidungen dahin, so müssen w
so müssen wir i r jeder
bestimmten
bestimmten Gliederung Gliederung und und O r d n u g der Phänomene
Ordnung Phänomene verlustig
gehen. Die
gehen. Wände eines
Die Wände eines leeren Gefässes müssten
leeren Gefässes müssten sich sich alsdann,
alsdann,
da
da sie durch nichts
sie durch nichts Reales
Reales getrenntgetrennt wären, unmittelbar berühren;
wären, unmittelbar berühren;
d i e Grenzen
die d e s zeitlichen
G r e n z e n des z e i t l i c h e n Geschehens
Geschehens m ü s s t e n sich
müssten s i c h verwischen
verwischen
und jede
und jede Differenz
Differenz des des FrüherFrüher oder oder Später aufgehoben aufgehoben sein.“) sein.18)
A
Auf diesen seltsamen
u f diesen seltsamen Einwand Einwand entgegnet entgegnet Law Law wiederumwiederum
m einer schärferen
miti t einer schärferen erkenntniskritischen
erkenntniskritischen Bestimmung Bestimmung des Be‑ Be-
griffs
griffs der der Relation.
R e l a t i o n . Raum Raum und und Zeit sind ideale
Zeit sind Verhältnisbe-
ideale Verhältnisbe‑
griffe, die
griffe, die uns uns aber aber eben eben kraftkraft dieser Grundeigenschaft dazu
dieser Grundeigenschaft dazu
Jienen, die
dienen, die Inhalte,
Inhalte, die die uns gegeben werden,
uns gegeben werden, in in feste FormenFormen zu zu
fassen und
fassen und sie sie in bestimmter
bestimmter Weise Weise zu gliedern. W
zu gliedern. Wiri r haben
haben es es
in ihnen
ihnen nicht nicht m miti t Bildern
Bildern von Dingen, sondern
von Dingen, sondern m miti t reinen
reinen
Maassbegriffen
Maassbegriffen zu zu tun, tun, die Gestaltung des empirischen
die wir zur Gestaltung empirischen
Stoffes anwenden. Wie
Stoffes anwenden. Wi e die Begriffe der
die Begriffe der Z aahhll und u n d der Quan‑ Quan-
tität, der O
t i t ä t , der r d n u n g und
Ordnung und der Qualität keine der Qualität keine für sich bestehen‑
sich bestehen-
den Existenzen ssind;
den Existenzen i n d ; wie wie sie sie aber nichtsdestoweniger die
aber nichtsdestoweniger die Vor-Vo r ‑
aussetzungen bilden,
aussetzungen ohne welche
bilden, ohne welche wir über Dinge weder w i r über Dinge weder
sprechen
sprechen noch noch aan m sie denken könnten:
sie denken könnten: so so giltgilt das Gleiche für
das Gleiche
Ausdehnung
Ausdehnung und und Dauer.
Dauer. Ihre Idealität beeinträchtigt
Ihre Idealität beeinträchtigt nicht nicht im
mindesten
mindesten die reale Leistung,
die reale Leistung, die ihnen für den
die ihnen Aufbau und
den Aufbau und das das
System
System unserer Erkenntnis zukommt.
unserer Erkenntnis zukommt. So So bildet
bildet etwa etwa der der W Wee rr tt ,,
den
den wir w i r zwei
zwei Dingen
Dingen relativ relativ zu zu eeinander
i n a n d e r zusprechen,
zusprechen, nicht nicht noch noch
ein eigenes Etwas
ein eigenes Etwas nneben e b e n den den verglichenen Inhalten Inhalten und und dient
trotzdem
trotzdem dazu, dazu, sie tatsächlich
tatsächlich zu unterscheiden und
zu unterscheiden und in unserer unserer
Schätzung auseinanderzubalten:
Schätzung auseinanderzuhalten: ein Pfennig und
ein Pfennig und ein ein Shilling
Shilling
sind
sind nicht dasselbe, wenngleich
nicht dasselbe, wenngleich es es niemand
niemand einfalleneinfallen wird, wird, den den
Preis der
Preis Gegenstände selbst
der Gegenstände wiederum zu
selbst wiederum e i n e m besonderen
z u einem besonderen
Gegenstande
Gegenstande eigner Art Art zu zu hypostasieren.c)
hypostasieren.%) Müssen Müssen w wiri r daher
‐ wie wie Law zugesteht ‐- alle
Law zugesteht empirischen Veränderungen,
alle empirischen Veränderungen, die die
u entgegentreten,
uns entgegentreten, auf die Idee
n s a u f die Idee der reinen gleichförmigen
reinen gleichförmigen Zeit
als Grundnorm beziehen,
als Grundnorm beziehen, so so enthält
enthält doch doch diese diese Beziehung
Beziehung
Ar
372 Das Raum- und Zeitproblem in der Metaphysik. ‐ E. Law.

keinerlei Nötigung zur Setzung eines neuen metaphysischen


Seins5l) Die Erfahrung und die Wissenschaft zum mindesten
vermögen diesen Schritt niemals zu rechtfertigen. Wenn der
Physiker v o m Unterschiede „wahrer“ und „scheinbarer“, „abso‑
iuter“ und „relativer“ Bewegung spricht, so besitzt er hierzu, a u f
dem Standpunkt, auf dem er steht, das volle Recht. Denn zer‑
gliedern w i r derartige Aussagen, so finden wir, dass m i t ihnen
zuletzt nichts anderes gemeint ist, als die Gegenüberstellung ver‑
schiedener Bezugssysteme, deren einem wir eine grössere
„Allgemeinheit* als dem anderen zuschreiben. W i r können die
Bewegung eines Körpers, wie sie sich von dem Standort eines
zufälligen Beobachters ausnimmt, v o n seiner „wahren“ Bahn, die
i h m etwa m i t Bezug auf die Sonne zukommt, unterscheiden;
aber w i r müssen uns darüber klar werden, dass w i r ‐ so be‑
deutsam diese Unterscheidung für unsere physikalische Erkennt‑
nis sein mag ‐ doch im logischen Sinne aus dem Kreise d e r
Relativität niemals heraustreten. Was sich hier ergibt, sind
gleichsam n u r verschiedene, einander übergeordnete Relations‑
schichten, während der Gedanke, damit dereinst zur metaphysi‑
schen Ueberwindung jeglicher Relation überhaupt zu gelangen,
ein blosses Trugbild w ä r e . )
Wenn somit die N o t w e n d i g k e i t und U n a b h ä n g i g k e i t ,
die die Ideen des Raumes und der Zeit besitzen, zum Beweis dafür
angerufen werden, dass beiden ein konstantes s a c h l i c h e s Urbild
entsprechen muss, so sehen w i r jetzt die ganze Schwäche dieses
Schlusses klar v o r uns. Das „Original“ für die exakten mathe‑
matischen Begriffe der Ausdehnung und der Dauer ist freilich
nicht in den konkreten empirischen Einzelobjekten zu suchen
aber statt hieraus zu folgern, dass wir, um eszu finden, zu einem
höheren göttlichen Sein hinausgehen müssen, sollten w i r u m ‑
gekehrt begreifen, dass w i r es hier überhaupt nicht m i t irgend
einem Zwang der Gegenstände, sondern lediglich m i t der Not‑
wendigkeit unseres Denkens zu tun h a b e n . ) Um diese letztere
zu erklären aber sieht sich Law zuletzt auf die Hilfsmittel von
Lockes Psychologie hingewiesen. Sind Raum und Zeit Gebilde
des Geistes, so müssen sie sich in „Sensation* und „Reflexion“
begründen lassen, so muss ihre Entstehung aus der blossen passiven
Verknüpfung der einfachen Eindrücke zu begreifen sein. Den
Raum und Zeit als Gebilde der Association. 878

Grund f ü r die „Objektivität“, die sie f ü r sich in Anspruch


nehmen, haben w i r somit nicht in der Physik, sondern zuletzt
in der Associationspsychologie zu suchen. Sie sind, wie alle
„abstrakten“ Begriffe, nicht sowohl Schöpfungen der Ve r n u n f t ,
wie der E i n b i l d u n g s k r a f t , die sich uns n u r kraft einer langen
Gewöhnung m i t einem so unwiderstehlichen Zwange aufdrängen,
dass w i r sie als wahrhafte Naturerscheinungen missverstehen.#)
W i r treiben irgend eine Beziehung, die w i r einmal an den Kör‑
pern wahrgenommen haben, über jegliche Grenze der möglichen
Beobachtung hinaus. Weil w i r irgend ein Verhältnis bald an
dieses, bald an jenes Subjekt gebunden fanden, lösen w i r es
von jeglicher Bindung überhaupt los und machen es zum sub‑
stantiellen Sein. Wenn man von Raum und Zeit gesagt hat, dass
sie die Ursache, der sie ihre Entstehung verdanken, übersteigen
und „transzendieren“, so gilt das Gleiche, schärfer betrachtet,
für jede unserer gedanklichen Schöpfungen. Nur bei den zufälli‑
gen Associationen, die keineGelegenbheit hatten, sich zu wiederholen
und fester ineinander zu wachsen, gelingt es uns hie und da, die
Fäden, die die Erfahrung geknüpft hat, wieder zu lösen, während in
allen andern Fällen das blosse ständige Beisammen der Ideen gleich,
einer Naturkraft wird, die sie unaufheblich an einander kettet.
„Was uns einmal lange Zeit hindurch dauernd entgegengetreten
ist, das geht in alle Kategorien unseres Denkens ein und wird
z u m Fundament f ü r das gesamte System unserer Erkenntnis.
W i r rufen sogleich aus, dass mit seiner Aufbebung der Bau der:
Erkenntnis selber untergraben werde, dass es die: Wahr‑
haftigkeit unserer geistigen Vermögen leugnen und alle Evidenz,
Wahrheit und Gewissheit aufheben heisse, wenn m a n i h m sein
Recht bestreite. A u f diese A r t geschieht es oft, dass Ideen, ob
wir es wollen oder nicht, auf unseren Geist eindringen und in
i h m haften, Die Einbildungskraft w i r d von diesen unruhigen
Geistern heimgesucht und vermag sie nicht sogleich v o n sich
zu weisen; denn sie durch Beweisgründe bannen zu wollen, würde
nicht mehr helfen, als wollte m a n jemand, der Gespenster sieht,
durch vernünftige Schlussfolgerung überzeugen. Es ist ein sehr
falscher Satz, dass die Einbildungskraft das, was sie einmal
geschaffen hat, ebenso leicht auch wieder zu vernichten vermag.
Die Tatsachen und die Erfahrung beweisen das Gegenteil und
374 Das Raum- u n d Zeitproblem in der Metaphysik.

lehren uns, dass auch für die Philosophen gilt, was m a n gemein‑
h i n von den Zauberern und Beschwörern sagt: sie werden die
Geister nicht los, die sie selbst gerufen haben.“ 58)
Diese Sätze ‐ die mehrere Jahre v o r dem Erscheinen von
H u m e s Treatise geschrieben sind und die daher zeigen, wie
sehr diesem Werk bereits der Boden bereitet w a r ‐ bezeichnen
deutlich die Grenzen der „relativistischen“ Lehre. So klar bier
der ideale Charakter des Raumes und der Zeit erfasst war, so
wenig gelang es, unter dieser Voraussetzung, die Allgemeingültig‑
keit und die Notwendigkeit dieser Begriffe verständlich zu machen.
M i t der Zurückführung auf den Kreis der „Subjektivität* werden
diese Gebilde logisch entwurzelt; sie fallen der Gewohnheit und
Willkür anheim. Bedeuten aber der reine Raum und die reine
Zeit, wie die mathematische Physik sie zu Grunde legt, wirklich
nichts anderes, als ‐ „philosophische Gespenster“? Diese Frage
muss sich nunmehr unausweichlich erbeben und sie ist es, die
das Problem fortan nicht mehr zur Ruhe kommen lässt. Solange
der eigentümliche methodische Wert, den Raum und Zeit
gegenüber den Sinnesempfindungen besitzen, nicht anerkannt,
solange beide als E r k e n n t n i s m i t t e l nicht völlig gewürdigt
waren: solange musste immer von neuem der Versuch gemacht
werden, ihren Vorrang, der sich nicht beseitigen oder abstreiten
liess, metaphysisch zu begründen. W i r konnten esbei E u l e r
verfolgen, wie sich die Forderungen, die sich aus der Grund‑
legung der exakten Wissenschaften ergaben, immer von
neuem gegen die Ergebnisse der psychologischen Zergliederung
der Vorstellungen auflehnten. Blosse Produkte der „Einbildung“
können nicht die Grundlagen für die realen Gesetze der Mechanik
bilden, nach denen die Körper in ihren Bewegungen sich richten.
(S. ob. S .350.) Oder gäbe e s ein Mittel, die I d e a l i t ä t v o n Raum
und Zeit z u behaupten, ohne damit ihrer O b j e k t i v i t ä t Eintrag
zu tun? '
Solange die Antwort hierauf nicht gefunden war, solange
musste auch die psychologische Forschung m i t denselben Zweifeln
und Bedenken enden, auf welche die mathematische Physik u n s
hingeführt hatte. Die Fragen, m i t denen Euler geschlossen
‚hatte, treten nunmehr, unter einem veränderten Gesichtspunkt
der Betrachtung, gleich stark und dringend hervor. „Nach
D e r Raum u n d die Sinnesqualitäten. 375

allem mühsamen Forschen und Suchen ‐ so schliesst Isaac


W a t t s seine Erörterungen ‐, nachdem ich mein ganzes Leben
lang über diese Probleme gedacht und gelesen habe, muss i c h
dennoch gestehen, dass hier noch manche Schwierigkeiten u n d
Dunkelheiten zurückbleiben, die wohl dem Gegenstand selbst
anhaften. Die Gelehrten haben seit jeher und vor allem in der
Gegenwart schwer daran gearbeitet, sie zu zerstreuen; ohne dass
es ihnen doch jemals ganz gelungen wäre. Vielleicht aber findet
sich in Zukunft ein Weg, auf dem alle diese Schwierigkeiten
sich heben lassen und die Frage zur grösseren Befriedigung der
Folgezeit sich entscheiden lässt.*%) ‑

3. Die Idealität des Raumes und der Zelt. ‑


Die Antinomien des Unendlichen.
In seinen „Briefen“ vom Jahre 1752 kommt Maupertuis
auf die Unterscheidung der p r i m ä r e n und sekundären Qua‑
litäten zu sprechen, um sie nach ihrer erkenntnistheoretischen
und metaphysischen Bedeutung zu erwägen. Was bestimmt uns
zu dem Glauben, dass Ausdehnung, Gestalt und Bewegung nicht
lediglich subjektive Empfindungen in uns sind, sondern dass
ihnen eine unabhängige, f ü r sich bestehende Wirklichkeit in den
Körpern selbst zukommt? Die Gründe, die m a n hierfür her‑
kömmlicherweise anführt, halten einer schärferen psychologi‑
scher Zergliederung nirgends stand. „Ich berühre einen Körper
und erhalte dadurch die Empfindung der Härte, die dem Körper
selbst viel fester anzuhaften scheint, als sein Geruch, sein Ton,
sein Geschmack. I c h betaste i h n noch einmal und gleite m i t
der Hand über ihn weg: jetzt erhalte i c h einen Eindruck, der
noch inniger m i t i h m verbunden zu sein scheint; nämlich den
des Abstandes zwischen seinen äussersten Enden oder seiner
Ausdehnung. Erwäge i c h indessen aufmerksam, was Härte
und Ausdehnung sind, so finde i c h keinen Grund zu der An‑
nahme, dass sie zu einer anderen Gattung, als Geruch, To n und
Geschmack gehören. I c h gelange auf ähnliche A r t dazu, s i e
wahrzunehmen; i c h besitze keine distinktere Idee von ihnen und
nichts kann mich in Wahrheit zu dem Glauben bewegen, dass
8376 Die Idealität des Raumes und der Zeit.

sie eher dem Körper, den i c h berühre, als m i r selber zugehören...


Hat man sich einmal überzeugt, dass zwischen unseren Per‑
zeptionen und den äusseren Objekten keinerlei Aebnlichkeit und
keinerlei notwendige Beziehung besteht, so wird m a n zugestehen
müssen, dass auch alle diese Dinge nichts als blosse Erscheinun‑
gen sind. Die Ausdehnung, die w i r als das Fundament aller
anderen Eigenschaften zu betrachten gewohnt waren, und als
dasjenige, was ihre innere Wahrheit ausmacht: die Ausdehnung
selbst ist nicht mehr als. ein Phänomen.“57)
Auf diese Stelle hat Schopenhauer verwiesen, um sie
als Beweis gegen Kants philosophische Originalität zu brauchen.
„Was sollen w i r aber sagen“ ‐ heisst es im zweiten Bande der
„Welt.als Wille und Vorstellung“ ‐, wenn w i r K a n t s wichtigste
u n d glänzendste G r u n d l e h r e , die von der Idealität des Raumes
und der bloss phänomenalen Existenz der Körperwelt, schon
dreissig Jahre früher ausgesprochen finden von Maupertuis?...
Maupertuis spricht diese paradoxe Lehre so entschieden und
doch ohne Hinzufügung eines Beweises aus, dass man vermuten
muss, auch er habe sie wo anders hergenommen. Es wäre sehr
wünschenswert, dass man der Sache weiter nachforschte; und da
dies mühsame und weitläufige Untersuchungen erfordert, so
könnte wohl irgend eine Deutsche Akademie eine Preisfrage
darüber aufstellen.“ Die Briefe Schopenhauers kommen sodann
wiederholt auf dieses Problem zurück. „Ich glaube wirklich,
dass Kant wenigstens den Grundgedanken daher genommen hat
z u seiner g l ä n z e n d s t e n Entdeckung. Maupertuis spricht die
Sache so vollkommen aus, gibt jedoch durchaus keinen Beweis
dafür: ‐ ob er gar auch noch einen Hintermann hat? Kant
steht demnach zu ihm, wie Newton zu Robert Hook. Der erste
Wink ist immer die Hauptsache. Diese Entdeckung, die Kanten
grossen Abbruch tut, ist sehr wichtig und wird eine bleibende
Stelle in der Geschichte der Philosophie behalten.“56) ‑
F ü r die Gesamtanschauung, die Schopenhauer von Kants
Philosophie hat, ist dieses Urteil äusserst charakteristisch.
Abgesehen davon aber ist es zugleich als allgemeines
Symptom bedeutsam: denn es zeigt, wie sehr alle g e s c h i c h t ‑
l i c h e n Perspektiven sich verschieben und verwirren, sobald
m a n einmal den Mittelpunkt des kritischen Systems in der
Maupertuis und Kant. 377

Lehre v o n der Phänomenalität der Körperwelt sucht. In


der Ta t verlohnt es, die Frage, die Schopenhauer stellt, aufzu‑
nehmen und weiterzuverfolgen: nicht um den geheimen Quellen
des kritischen Idealismus nachzuspüren, sondern um zu einer
klaren Unterscheidung und Abgrenzung seiner spezifischen Eigen‑
a r t zu gelangen. Die historische Betrachtung lehrt und beweist
unmittelbar, dass Kant die Lehre v o n der Idealität des Raumes
u n d der Zeit wahrlich nicht zu „entdecken“ brauchte. S i e lag
in den mannigfachsten Ausprägungen v o r und gehörte zum festen
wissenschaftlichen Problembestand der Zeit. Aber es sind sehr
verschiedenartige Bestrebungen, die sich hier zusammenfinden.
Der philosophische Gattungsname des „Idealismus“ bildet n u r eine
Scheineinheit, die m a n auflösen muss, um zu den. wahrhaften
gedanklichen Triebkräften zu gelangen. D r e i Hauptgruppen und
Hauptrichtungen des Denkens sind es vor allem, die alsdann ge‑
sondert heraustreten und die von.einander nicht minder ab‑
weichen, als sie sich ihrerseits wiederum, ihrer entscheidenden
Tendenz nach, v o m „transzendentalen“ Idealismus unterscheiden.
Was zunächst Maupertuis’ Sätze betrifft, so enthalten sie
nicht mehr, als was im Zeitalter der Rezeption der Monaden‑
l e h r e unbedingtes philosophisches Gemeingut war. Sie bilden
in der Tat n u r eine Wiederholung und Paraphrase Leibnizischer
Gedanken, die freilich hier bereits aus ihrem ursprünglichen
systematischen Zusammenhang gelöst und damit in eine ver‑
änderte Beleuchtung gerückt sind. Dass nicht n u r Licht, Wärme
“und Farbe, sondern auch Ausdehnung, Gestalt und Bewegung
bloss „erscheinende“ Qualitäten sind, dass somit die gesamte
Körperwelt nichts anderes als ein „Phänomen“ ist, das ausser‑
halb der denkenden Substanzen keinen Bestand und keine Wirk‑
lichkeit besitzt: dies gehörte zu den populärsten Lehrsätzen der
Leibnizischen Philosophie.) Einer der bekanntesten und eifrig‑
sten Anhänger der Leibnizischen Lehre, Jobann August E b e r ‑
h a r d , bezeichnet es als ihren wichtigsten Fortschritt, dass sie
die T r e n n u n g zwischen den „primären“ und „sekundären“
Eigenschaften, an der der philosopbische und wissenschaftliche
Empirismus festhalten, zuerst in voller Klarheit beseitigt habe.
„ E r übertrug das, was Newton n u r v o n den abgeleiteten Eigen‑
schaften der Körper bemerkt halte, auch auf die ersten und u r ‑
378 D i e Ideahtät des Raumes und der Zeit, ‐ Maupertuis.

sprünglichen, die ‘Ausdehnung, die Undurchdringlichkeit, die


Figur und die Bewegung und brachte dadurch die Psychologie
um viele . beträchtliche ‚Schritte weiter als L o c k e . “ ® ) Was i n ‑
dessen die Analyse der Vorstellungen hier an Einheitlichkeit
gewann, das schien nunmehr die P h y s i k an objektivem
Gehalt einbüsen zu müssen. Die Realität ihres Gegen‑
standes scheint sich immer mehr in ein Chaos subjektiver
Empfindungen zu verflüchtigen; die Welt der Vorstellung droht
in der. Umwandlung, die Leibniz’ System durch die Nach‑
folger erfährt, ihre N o t w e n d i g k e i t und ihren unbedingten ge‑
setzlichen Zusammenhang zu verlieren. „ E i n Körper ist ja nach
dem Herrn v. Leibniz ‐ so heisst es in Kasimir v o n Creuz’
„Versuch über die Seele“ ‐ n u r eine Sammlung v o n Monaden,
oder Dingen, die keine Ausdehnung, Grösse und Figur haben . . . ;
Ausdehnung, Grösse, Figur und alles, was w i r denken, was uns
vorkömmt, was w i r uns vorstellen, wenn ein Körper unserem
Bewusstsein gegenwärtig ist: Dieses alles sind Erscheinungen,
Blendwerke, Zaubergestalten, und kurz, die Natur scheint
eine uns täuschende Circe zu s e i n . . . Was wir zu sehen und
zu fühlen vermeinen, ist eine Erscheinung; es ist ein Schalten,
nach welchem w i r greifen; eine Wolke, die w i r anstatt einer
Juno umarmen.“®!) Kein Wunder, dass die exakte Naturwissen‑
schaft diese Auffassung von sich wies; dass insbesondere E u l e r
diese Philosophie, in der „alles Geist, alles Illusion, alles Betrug“
sei, ständig und hartnäckig bekämpfte.®) Zugleich aber drängt
es alle diejenigen, die gleich sehr an der Entwicklung der Logik
und Ontologie, wie an derjenigen der empirischen Forschung
teilnehmen, an diesem Punkte zu einer tieferen gedanklichen
Synihese.. So vereinigt L a m b e r t die Raum- und Zeitlehre mit
der Lehre von den Empfindungen unter dem allgemeinen Titel
der „Phänomenologie“, während er in der „ A l e t h i o l o g i e “
beide scharf auseinander hält und unter verschiedene m e t h o ‑
d i s c h e Gesichtspunkte fasst. Das „Ideale“ wird jetzt dem
„Imaginären* wiederum ausdrücklich entgegengesetzt, sofern es,
wenngleich i h m kein äusseres Ding entspricht, doch der Grund‑
quell wissenschaftlicher W a h r h e i t ist.®) Damit aber ist der
Betrachtung ein neues Ziel gewiesen: der metaphysische Begriff
der „Erscheinung“ erfährt nunmehr in sich selber eine strengere
Die Theorie der Existentialurteile. 379

erkennniskritische Differenzierung, die, ohne etwas in der


Einteilung und Klassifizierung der Sachen zu ändern, zu einer
neuen Ordnung der B e g r i f f e hinführt. Diese beiden Punkte:
die Gleichstellung von Raum und Zeit m i t den Sinnesqualitäten,
nach ihrem Seinschärakter, und die Absonderung von ihnen
‚ n a c h ihrem Erkenntnischarakter, bestimmen gleichsam die feste
Achse, um welche sich die Erörterung des Problems im acht‑
zehnten Jahrhundert bewegt. ‑
Zunächst freilich scheint es, als sollte die „Ideaiität* des
Raumes und der Zeit in rein empiristischem Sinne behauptet und
durchgeführt werden. Maupertuis setzt an diesem Punkte n u r
fort, was er in seiner allgemeinen Methodenlehre begonnen
hatte. (Vgl. ob.S.334 ff.) Seine Lehre von Raum und Zeit, die in
den Briefen freilich n u r als vereinzeltes Apercu auftritt; lässt sich
n u r im Zusammenhang m i t der allgemeinen Theorie. d e r
E x i s t e n t i a l u r t e i l e begreifen, dieer i n seinen „Philosophischen
Versuchen über den Ursprung der Sprache“ eingehend entwickelt.
Das System von Zeichen, das wir „Sprache“ nennen, dient ‑
wie hier ausgeführt wird ‐ keinem anderen Zweck, als in der
Masse unserer „Perzeptionen“ bestimmte Einschnitte zu treffen
und für die verschiedenen zusammengehörigen Gesamtgruppen
abgekürzte Ausdrücke zu schaffen, an denen w i r sie bei erneutem
Auftreten wiedererkennen können. Fragen wir also. nach dem
Sinn des Begriffes Existenz, so kann dies nichts anderes besagen,
als dass w i r die Vorstellungen kennen lernen wollen, auf welche
das W o r t „Sein“ sich stützt. Hier aber zeigt es sich, dass es
nicht sowohl ein bestimmter, angebbarer E i n z e l e i n d r u c k , als
vielmehr eine Art des a s s o c i a t i v e n B e i s a m m e n s verschieden‑
artiger Eindrücke ist, was u n s veranlasst, v o n einer Realität
ausser uns zu sprechen. Der Satz „es existiert ein Baum“ erscheint,
sobald w i r i h n schärfer-analysieren, als eine Synthese mehrerer,
unterschiedlicher Wahrnehmungsurleile: er besagt nicht mehr,
als dass i c h an einem bestimmten Orte und unter bestimmten Be‑
dingungen jederzeit gewisse Tast- und Gesichtsqualitäten zusam‑
mengefunden habe und dass i c h sie bei der Rückkehr an diesen
Ort und der Wiederherstellung dieser Bedingungen stets wieder‑
zufinden e r w a r t e . Wenn indessen jedes Einzelurteil, das in
diese komplexe Aussage als Bestandteil eingeht, für. sich allein
8380 D i e Idealität des Raumes u. der Zeit. ‐ Maupertuis u. Plowcquet.

nicht mehr als einen momentanen Zustand des empfindenden


Subjekts zum Ausdruck bringen’ will, so resultiert aus der Ge‑
s a m t h e i t und der wechselseitigen Ve r k n ü p f u n g aller dieser
besonderen Aussagen ein n e u e r psychischer Inhalt. W i r ver‑
legen diesen Zusammenhang gleichsam ausser uns u n d lassen
i h n in einem f ü r sich bestehenden „Objekt“ gegründet sein.
Und es bedarf nunmehr der ganzen Kraft der philosophischen
Reflexion, um uns zu zeigen, dass w i r es, wo immer w i r von
einem Dasein von Dingen sprechen, in Wahrheit immer n u r m i t
konstanien Beziehungen zwischen unseren eigenen Ideen zu tun
haben. Diese Beziehungen selbst aber gründen sich zuletzt nicht
auf irgendwelche logische. Grundrelation, sondern verdanken
ihren Bestand lediglich den empirischen Regeln der Association;
nicht der Vernunftschluss, sondern Erfahrung und Gewohnheit
sind es, worauf sie beruhen. Selbst wenn wir, kraft des Satzes
v o m Grunde, f ü r die einzelnen Perzeptionen eine objektive
Ursache voraussetzen, so bleibt doch deren nähere Beschaffenheit
uns völlig unbekannt. Die Grenze unserer subjektiven Empfin‑
dungen ist daher zugleich die Grenze unseres Verstandes, in die
wir uns für immer eingeschlossen sehen.&) ‑
So ergibt sich jetzt ein Zwiespalt und ein schwieriges
Problem. Ist unsere Wissenschaft ‐ so formuliert Maupertuis
selbst die Frage ‐ die allgemeine Wissenschaft der vernünftigen
Wesen überhaupt, ist sie ein Teil des göttlichen Wissens und
ein Anschauen unabänderlicher und ewiger Wahrheiten: oder
ist sie lediglich das Ergebnis der Verbindung unserer. spe‑
zifischen Sinneswahrnehmungen und somit von.der besonderen
biologischen Beschaffenheit unserer Gattung abhängig? Vermag
der Verstand die a l l g e m e i n e n Gesetze des Seins z u ergreifen
oder spiegelt sich i h m in allen seinen Erkenntnissen n u r seine
eigene eingeengte Natur wieder? „Diese Frage ist so wichtig
und notwendig, dass m a n sich nicht genug darüber wundern
kann, soviele gewaltige Systeme erbaut, soviele grosse Bücher
geschrieben zu sehen, bevor m a n sie gelöst, ja bevor man sie
auch n u r aufgeworfen hat.“®) In der Tat ist hier das eigentliche
Grundproblem, das uns in der Erkenntnislehre der Zeit in den
verschiedensten Formen entgegentritt, auf den kürzesten und
treffendsten Ausdruck gebracht. Ist es unsere zufällige psycho‑
D e r Begriff des Idealismus. 881

logisehe Organisation, die den B e g r i f f der Wahrbeit bestimmt


und die i h m erst seinen Inhalt gibt, oder gibt es unverbrüch‑
liche u n d notwendige Grundregeln jeglicher Erkenntnis über‑
haupt, die für: alle unsere Aussagen über E x i s t e n z massgebend
und somit auch in jeder Behauptung über die „Natur“ u n d Be‑
schaffenheit des empirischen Subjekts schon implicit enthalten
sind? Solange die Entscheidung in diesem Gegensatz nicht ge‑
troffen ist, solange ist der B e g r i f f des I d e a l i s m u s selbst
schwankend und zweideutig. Während die idealistische Grund‑
anschauung auf der einen Seite m i t einer relativistischen Skepsis
zusammenzufallen droht, sieht sie sich auf der andern Seite in
der Gefahr, um die objektive Gültigkeit der Ideen zu wahren, zu
ihrer metaphysischen Hypostasierung zu schreiten. Wenn w i r
das eine Extrem in Maupertuis dargestellt sehen, so hat das
andere in einem deutschen Denker der Zeit, in G o t t f r i e d
Ploucquet, seinen Ausdruck gefunden.
Ploucquet steht der Wolffischen Schule nahe, aber
er wächst über ihre Ergebnisse hinaus, indem er, m i t
selbständiger Kritik, den originalen Sinn der Leibnizischen
Lebre wiederherzustellen unternimmt. Aber auch in i h r
findet er keine endgültige Befriedigung, so dass es ihn,
über sie hinaus, zu Malebranches Idealismus zurückdrängt,
den er indessen fast ausschliesslich nach seinen spekulativen
Folgerungen erfasst, während seine rationalistischen Motive im ‑
Hintergrund bleiben. Der Begriff der Substanz ‐ darin stimmt
Ploucquet m i t dem Grundgedanken der Monadologie überein ‑
findet seine wahre Anwendung und Erfüllung lediglich im Gebiet
des Selbstbewusstseins. Hier finden w i r denwahren a b s o l u t e n
Ausgangspunkt, m i t dem verglichen jeder andere als vermittelt
und abgeleitet erscheinen muss. Das Bewusstsein kann niemals
als die blosse Eigenschaft oder Beschaffenheit irgend eines weiter
zurückliegenden dinglichen Seins gedeutet werden; sondern es
ist vielmehr dasjenige, was u n s den allgemeinen Begriff und die
Bedeutung des Seins überhaupt erschliesst. „Existieren“ heisst
nichts anderes als sich selber offenbar werden; was nicht „ f ü r
sich“ da ist und nicht sich selbst im Wechsel seiner Zustände
innerlich erlebt, dem können w i r keine selbständige R e a l i t ä t
zusprechen. Ein Ding, dem nicht an und für sich innere Be‑
382 D i e Iaealität des Raumes und der Zeit. ‐ Ploucquet.

stiimmungen zukommen, könnte solche auch einem äusseren Be‑


obachter nicht darbieten: die „observabilitas ad intra“, die „per‑
ceptio sui“ bildet die sachliche Voraussetzung der „observabilitas
ad extra“, kraft deren ein Gegenstand sich anderen Subjekten
offenbart.) W i l l m a n der Substanz neben diesem ihrem eigent‑
lichen metaphysischen Grundcharakter, noch andere Beschafien‑
heiten, w i l l m a n i b r etwa eine bewegende Kraft beilegen, so
darf darüber doch nicht vergessen werden, dass das neue Merk‑
m a l niemals ihre eigentliche ursprüngliche Wesenheit aus‑
macht, die vielmehr durch das Selbstbewusstsein bereits völlig
erschöpft i s t . )
Je klarer aber die monadologische Grundanschauung sich
herausarbeitet, um so drohender erhebt sich wiederum die Gefahr
dessubjektiven Idealismus. Der Inhalt, den die Monade vorstellt,
ist ‐ wie Ploucquet es scharf formuliert ‐ nicht ausserhalb der
Monade, sondern in ihr.®) Die einzelne Perzeption vermittelt
uns lediglich ihren eigenen Gehalt; sie erschöpft sich im Akt
der Wahrnehmung, ohne uns etwas über seine Ursachen zu ver‑
raten.®) So scheint der Kreis, in den das einzelne empfindende In‑
dividuum sich zunächst eingeschlossen findet, an keiner Stelle
durchbrochen werden zu können. In der Tat erweisen sich alle
Beweise, die man für die Existenz einer für sich bestehenden
Körperwelt ausserhalb jeglicher Beziehung zum Bewusstsein ver‑
sucht hat, als trügerisch. W i l l m a n die Sophistik dieser Beweise
meiden und dennoch das Universum nicht in die subjektive und
wandelbare Empfindung aufgehen lassen, so bleibt n u r ein
Mittelweg übrig. Der objektive Halt der Vorstellungsbilder ist
nicht in ibrer Beziehung auf äussere m a t e r i e l l e Gegenstände,
sondern in ihrer Zugehörigkeit zu einem allumfassenden, göit‑
lichen Bewusstsein zu suchen. Das Sein der Dinge bedeutet
nicht, dass sie einem einzelnen, endlichen Geist, der selbst n u r
einer beschränkten Fortdauer fähig wäre, sondern dass sie einer
ewigen und notwendigen geistigen Wesenheit als Inhalte ihrer
Vorstellung gegeben sind. Das innere „Schauen Gottes“ ist es,
in dem die Einzelgegenstände entstehen und hervortreten. Denken
w i r diesen Urquell des Seins aufgehoben, sehen w i r von dem
zeitlosen intuitiven A k t ab, kraft deren Gott sich die Folge und
Ordnung der einzelnen Phänomene innerlich vergegenwärtigt, so
Selbstbewrusstsein und göttliches Bewusstsein. 883

s c h w i n d e t jeder Inhalt der Existenz”%) Aus dieser Grundan‑


s c h a u u n g ergibt sich nunmehr auch die Stellung, die R a u m
u n d Z e i t im Gesamtsystem der Erkenntnis einnehmen. Beide
s i n d weder die absoluten Realitäten, zu denen die mathematische
Naturwissenschaft, noch die blossen subjektiven Vorstellungs‑
f o r m e n , zu denen der psychologische Empirismus sie macht.
W i r können uns einen reinen Raum und eine reine Zeit abgelöst
v o n jeder Beziehung auf sinnlich-konkrete Dinge denken und
b e i d e z u r Grundlage f ü r allgemeine und notwendige Wahrheiten
m a c h e n : die Möglichkeit dieser überindividuellen Geltung aber
l ä s s t sich zuletzt nicht anders als durch den Hinweis auf ein
überindividuelles Bewusstsein erklären. Hier allein, nicht aber
im empirischen Einzelsubjekt, liegt das eigentliche und unent‑
behrliche „Korrelat“ dieser Begriffe. Die Vo r s t e l l u n g findet
d e n Raum und die Zeit nicht als etwas Aeusseres und Gegebenes
v o r , sondern sie ist es, die beide erst erzeugt.!) Aber w i r müssen
sie, um diese ihre Leistung zu begreifen, nicht in der Einschrän‑
k u n g verstehen, in der sie uns psychologisch allein bekannt ist,
sondern sie in ihrer höchsten intelligiblen Form, als die „visio
realis Dei* erfassen. So wenig Raum und Zeit für sich bestehende
Substanzen sind, so wenig sind sie daher blosse „Phantasmen‘.
„Es ist ein falscher Satz, dass alles das, was nicht an sich selbst
existiert, ein blosses Scheinbild (merum phantasma apparens)
sei. Denn was aus den realen u n d schöpferischen Vorstellungen
Gottes folgt, das ist keine blosse Erscheinung, sondern es besitzt
alle diejenige Realität und Existenz, die einem endlichen Dinge
n u r immer zukommen kann. Denn eine höhere Wahrheit lässt
sich von einem endlichen Dinge und seiner Existenz nicht be‑
haupten, als dass es aus dem Quell und Prinzip alles Daseins
herstammi.“72)
Man muss Maupertuis’ und Ploucquets Grundanschauung
in e i n e m Blick zusammenfassen, um ein deutliches Bild von der
allgemeinen Lage des Erkenntnisproblems im 18. Jahrhundert zu
gewinnen. Je schärfer die Gegensätze einander gegenübertreten, um
so klarer bestimmt sich dadurch die künftige Aufgabe des Idealis‑
mus. An dem Punkte der geschichtlichen Entwicklung, an dem
w i r jetzt stehen, scheint das Dilemma zunächsi unlöslich: gegen die
subjektivistische Skepsis scheint zuletzt n u r die Mystik sicheren
384 D i e Ideahtät des Raumes und der Zeit.

Halt und Schutz zu gewähren. Aber die Frage dringt von hier
aus weiter. Sollte es nicht möglich sein, ohne den Boden der
E r f a h r u n g s e r k e n n t n i s z u verlassen, i n i h r selbst die Kriterien
notwendiger Wahrheit zu entdecken? Sind die Gesetze des V e r ‑
standes, die w i r z u m Maassstab f ü r alles Sein machen, n u r aus
unserer individuellen psychologischen Beobachtung abstrahiert
und besitzen sie demgemäss n u r induktive Geltung, die durch
jedes neue Faktum umgestossen werden kann? Oder liesse sich
ein System o b j e k t i v a l l g e m e i n g ü l t i g e r logischer Grundsätze
gewinnen, das f ü r alle Feststellung v o n Tatsachen, es sei auf
physikalischem oder auf psychologischem Gebiete, die Voraus‑
setzung bildete? Erst wenn wir hierüber Gewissheit erlangt
haben, wären w i r damit der Alternative zwischen der relativen
„menschlichen“ Erkenntnis, die n u r ein Scheinbild des Seins
und der Wahrheit erfasst, und der göttlichen, die- die absolute
Wesenheit der Dinge ergreift, überhoben”') und eine neue Lö‑
sung, die gänzlich ausserhalb der Kategorien dieses Gegensatzes
stünde, könnte sich vorbereiten. W i r werden sehen, wie das
Problem, noch ehe es im Kritizismus zur Reife und Klarheit
gelangt, auch innerhalb der Psychologie des achtzehnten Jahr‑
hunderts noch einmal zum typischen Ausdruck kommt.
Ei * *

Unter den Beweisen, die P l o u c q u e t dafür anführt, dass


Raum und Zeit ausserhalb der göttlichen Vorstellungen keine
selbständige Existenz besitzen, wird auch der Schwierig‑
keiten im Begriffe der unendlichen Teilung gedacht. Wäre die
Ausdehnung und m i t i h r der ausgedehnte Körper eine wirkliche,
f ü r sich bestehende Substanz, so müssten sich irgendwelche
letzten Elemente aufzeigen lassen, aus denen sich beide zusammen‑
setzten und in welchen ihre Realität zuletzt bestünde. Denn die
blosse Anhäufung v o n Teilen kann für sich allein keine W i r k ‑
lichkeit erschaffen, w e n n diese nicht schon in den elementaren
Inhalten irgendwie gesetzt und gegeben ist. In Wahrheit aber
zeigt es sich alsbald, dass w i r im Gebiet des körperlichen Seins,
wie weit w i r die Zerlegung auch treiben mögen, niemals auf
derartige letzte und unauflösbare Grundbestände gelangen. Alle
Die Antinomie der unendlichen Teilung. 885

Auskunftsmittel, die m a n bier versucht hat, haben sich als trü‑


gerisch erwiesen: die Atome sind leere Fiktionen; die physischen
Punkte sind, ob m a n sie im Zenonischen oder Leibnizischen
Sinne nimmt, blosse Chimären, die uns n u r um so tiefer in die
logischen Widersprüche verstricken, zu deren Beseitigung sie
erdacht sind. So zeigt es sich, dass die Schwierigkeit auf dem
Boden der r e a l i s t i s c h e n Grundansicht niemals z u lösen ist.
Erst wenn w i r erkannt haben, dass der Raum und die Körper
n u r als Inhalte der Vo r s t e l l u n g s k r a f t existieren, schwindet
jeglicher Zweifel. Da der Urgrund der Materie in den realen
Vorstellungen Gottes zu suchen ist, so verstattet die Frage
nach ihrer Teilbarkeit eine doppelte Lösung, je nachdem w i r sie
im „subjektiven“ oder „objektiven“ Sinne versiehen. Fassen w i r
sie i m e r s t e r e n Sinne auf, fragen w i r also nur, was u n s und
unseren Perzeptionen möglich ist, so ist klar, dass es ein Mini‑
m u m der Wahrnehmung und somit eine Grenze der tatsächlichen
Zerlegung unserer Bewusstseinsinhalte gibt; betrachten wir da‑
gegen das echte objektive Sein, das Ausdehnung und Körper im
göttlichen Geiste besitzen, so müssen wir von dieser Schranke, die
n u r in der zufälligen Organisation des empfindenden Individuums
begründet ist, notwendig absehen. Die unendliche Teilung des
Stoffes ist etwas Reales, sofern sie im unendlichen Verstande
Gottes r e a l i s i e r t ist; ‐ sie ist ideal, sofern e s eben n u r ein
A k t des göttlichen B e w u s s t s e i n s ist, aus dem das Dasein der
Materie und alle ihre „physischen“ Beschaffenheiten und Merk‑
male quellen.’%)
Wenn hier die A n t i n o m i e n des U n e n d l i c h e n als Argu‑
mente gegen die absolute Existenz des Raumes und der Körper
gebraucht werden, so ist dies keine neue gedankliche Wen‑
dung; vielmehr ist damit n u r ein Grundmotiv berührt, das in der
Entstehung des modernen Idealismus überall entscheidend mit‑
wirkte. E s steht durch L e i b n i z ’ eigenes Zeugnis fest, dass das
Verlangen, einen Ausweg aus dem „Labyrinth des Continuums“
zu finden, es war, was i h n zuerst zu der Auffassung des Raumes
und der Zeit als Ordnungen der P h ä n o m e n e hingeführt h a t . )
Und wenngleich der originale Sinn des Leibnizischen Begriffs
der „Erscheinung“ bei den Nachfolgern sich verdunkelt, so wirkt
doch der Problemzusammenhang, der hier entstanden war, weiter;
886 D i e Idealität des Raumes und der Zeit.

zumal er in dem literarischen Sammel- und Mittelpunkt der


philosophischen Diskussionen der Zeit, in Bayles „Dictionnaire*,
zu allseitiger Darstellung gebracht wird. Die Zenonischen Be‑
weise gegen die unendliche Vielheit, die hier erneuert und er‑
weitert werden, bilden fortan ‐ wie insbesondere das Beispiel
C o l l i e r s uns gezeigt hat ‐ den schärfsten und unbesieglichen
Einwand gegen das absolute Sein der Körperwelt. (Vgl. Bd. I,
S. 510f., Bd. I I , S. 308 ff.)
Dem achtzehnten Jahrhundert aber stellt sich das allge‑
meine Problem sogleich in bestimmterer wissenschaftlicher
Fassung dar. An die Stelle der blossen dialektischen Zergliederung
des Unendlichkeitsbegriffs tritt die Analyse der logischen und
mathematischen Grundmittel der I n fi n i t e s i m a l r e c h n u n g .
Nur allmählich freilich ringt sich die neue Fragestellung durch,
u n d Schritt für Schritt hat sie der Theologie und Metaphysik,
die im Begriff des Unendlichen ihren ureigenen Besitz sehen,
das Gebiet streitig zu machen. Der Anfang des achtzehnten
Jahrhunderts ist reich an Versuchen, die Begriffe und Ergebnisse
der neuen Rechnung den Fragen der spekulativen Gotteslehre
dienstbar zu machen.*) Die Schöpfung des Etwas aus dem
Nichts, die bisher als der eigentliche Anstoss der religiösen
Glaubenslehre galt, schien bier plötzlich durch die Wissenschaft
selbst beglaubigt und gerechtfertigt. Wenn die E r k e n n t n i s des
endlichen empirischen Seins des Hilfsmittels des Unendlichen
nicht zu entraten vermag, so scheint damit der sicherste Beweis
erbracht, dass dieses Sein selber, seinem sachlichen Ursprung
nach, sich aus einem höheren, intelligiblen Prinzip ableitet. A u f
der anderen Seite ist es die Skepsis, die sich nunmehr der
„Unbegreiflichkeiten der Mathematik“ ‐ wie ein Lieblingsaus‑
druck der Zeit lautet ‐ ’ ” ) bemächtigt, um sie zur eigentlichen
Probe u n d Uebung ihres Scharfsinns zu machen.®) So sieht sich
die Wissenschaft in zwei verschiedenen Richtungen v o n feind‑
lichen Ansprüchen bedroht und in ihrer Selbstgewissheit ge‑
fährdet. F ü r sie selbst aber konzentrieren sich alle Schwierig‑
keiten nunmehr i m Begriff der a k t u e l l u n e n d l i c h e n Grösse
und Zahl. Das Infinitesimale darf kein blosses Gebilde unseres
Denkens sein, sondern es muss sich ‐ wenn anders i h m unbe‑
dingte Wa h r h e i t zugesprochen werden soll ‐ im Bereich der
Die Principien der Infinitesimalrechnung. 387

wirklichen Dinge verkörpert und gegenständlich vorfinden. Diese


Forderung, die bereits in den Anfängen der neuen Analysis
v o n Johann B e r n o u l l i und d e 1 l ’ H o s p i t a l proklamiert
wurde, w i r d von ihren eigentlichen philosophischen und wissen‑
schaftlichen Begründern vergebens bekämpft. Sie alle sind in
der Abweisung des Unendlichkleinen als einer d i n g l i c h e n
E x i s t e n z einig: es ist charakteristisch, dass M a c l a u r i n , der in
seinem Kampfe für die Fluxionsmethode überall sonst als Leibniz’
Gegner auftritt, sich in diesem einen Punkte auf seine philo‑
sophische Autorität beruft.”) Vorerst indessen behauptet die
populäre und unkritische Ansicht ‐ wie sie etwa durch F o n ‑
t e n e l l e s „Elements de la geometrie de !’Infini“ vertreten wird®)
‐ durchaus den Vorrang. Wenn diese Schrift, die nach der
philosopbischen, wie der mathematischen Seite h i n überall das
Gepräge des Dilettantismus trägt, z u m Mittelpunkt der gesamten
weiteren Diskussion werden kann,®!) so lassen sich an diesem
einen Zuge all die Schwierigkeiten ermessen, die sich dem
Verständnis der Grundlagen der neuen Rechnung in den Weg
stellten.
Denn alle die typischen Missverständnisse des Unendlich‑
keitsbegriffs sind hier wie in einem Punkte vereinigt. Die „un‑
endliche Zahl* wird völlig unbefangen als das „letzte Glied“ der
natürlichen Zahlenreihe definiert und eingeführt. In jedem
e n d l i c h e n Abschnitt der natürlichen Zahlenreihe ist das End‑
glied zugleich der Ausdruck f ü r die A n z a h l der Elemente des
betreffenden Abschnitts: w i r müssen also kraft einer notwendigen
Analogie schliessen, dass es auch in der unbeschränkten Folge
der positiven ganzen Zahlen einen letzten Terminus gibt, der, da
er die Anzahl a l l e r ihrer Glieder bezeichnen soll, kein anderer
als der Terminus „unendlich“ sein kann. Die unendliche Zahl
bezeichnet also ein fixes und konstantes Gebilde, das der natür‑
lichen Zablenreihe nicht anders als irgend eines ihrer endlichen
Glieder eingefügt ist.2) W i e diese Reihe, die uns, soweit w i r sie
auch verfolgen mögen, durchweg n u r endliche Zahlen darbietet,
plötzlich z u m Unendlichen „übergeht“ ‐ dies bleibt freilich, nach
Fontenelles eigenem Zugeständnis, unbegreiflich. Aber w i r müssen
diesen Schritt, so wenig w i r i h n verstehen, dennoch als n o t w e n ‑
d i g anerkennen, sollen w i r nicht den bedeutendsten und hervor‑
888 Die Antinomien des Unendlichen. ‐ Fontenelle.

ragendsten Te i l der Mathematik selbst preisgeben. „Ich setze


demnach voraus, dass es sich hier um ein sicheres, wenngleich
unbegreifliches Faktum handelt und betrachte die Grösse nicht
sowohl in dem dunklen Uebergang v o m Endlichen z u m Unend‑
lichen, als vielmehr in der Gestalt, die sie besitzt, nachdem sie
i h n völlig vollzogen und durchmessen hat.“®) Trotz dieser E r ‑
klärung aber muss das Dunkel, dass hier über die Entstehung
der unendlichen Zahl gebreitet wird, im weiteren Verlauf z u m
Deckmantel f ü r die schwierigsten und fragewürdigsten mathe‑
matischen Einzelfolgerungen dienen, die F o n t e n e l l e aus seinen
anfänglichen Definitionen zieht. So wird etwa nach der S u m m e
aller Glieder der natürlichen Zahlenreihe gefragt, die denn auch
‐ da das Anfangsglied = 1, das Endglied = & ist ‐ gemäss den
gewöhnlichen Regeln f ü r die Summierung arithmetischer Reihen
‐ als eornD ee - - ermittelt w i r d . ) Auf Grund
ähnlicher Schlüsse wird ferner festgestellt, dass das Unendliche,
da keine ihm voraufgehende Zabl ein Teiler von ihm ist, eine
P r i m z a h l sei ‐ , dass eine endliche Zahl ins Quadrat erhoben,
unendlich werden könne u. s. f®) Man begreift nach diesen
Proben, dass die führenden wissenschaftlichen Mathematiker der
Zeit, wie M a c l a u r i n oder d’Alembert, Fontenelles Werk so‑
gleich energisch abweisen mussten und das sie es geradezu als
warnendes Beispiel brauchen konnten, um den Missbrauch der
Metaphysik in der Geometrie zu veranschaulichen.®) Die aus‑
gesprochene Scheidung zwischen den „Infinitaires“ und „ A n t i ‑
Infinitaires“, die jetzt eintritt, scheint u n s bisweilen in bekannte
moderne Streitfragen der Logik der Mathematik unmittelbar
hineinzuversetzen.°”) Aber es zeigt sich alsbald, dass auf beiden
Seiten noch keine vollkommene Klärung erfolgt ist. Die Auskunft,
zu der die Gegner des Aktuell-Unendlichen greifen, birgt in sich
selbst noch eine ungelöste Schwierigkeit. Um den falschen
Begriffsrealismus zu bekämpfen, w i r d immer entschiedener a u f
- den rein ideellen, damit aber ‐ da hier eine strenge Scheidung.
noch nirgends erfolgt ist ‐ auf den bloss „imaginären“ Cha‑
rakter alles Mathematischen hingewiesen. Aber dieses logische
Heilmittel muss fast bedenklicher scheinen als das Uebel, dem es
steuern soll. Denn w i r d nicht jetzt erst recht der Zweifel an d e r
Mathematische und metaphysische Deutung des Unendlichkeitsbegriffs. 889

Gültigkeit der Geometrie bekräftigt, indem i h r die unbedingte


Anwendbarkeit auf die Wirklichkeit bestritten wird? Und muss
nicht umgekehrt die Mathematik als die „realste* Wissenschaft
und als das eigentliche K r i t e r i u m f ü r alle unsere Urteile über
das Sein der Dinge anerkannt werden? ‑
W i r erkennen, nach dem Früheren, in dieser Frage bereits
ihren Urheber wieder: es ist E u l e r, der sie stellt und der im
Beginn seines grundlegenden Werkes über die Differentialrech‑
n u n g ausführlich auf sie eingeht Eulers kritische Angriffe
richten sich in erster Linie gegen die Monadenlehre, die er frei‑
l i c h nicht in ihrer ursprünglichen Fassung, sondern in der Um‑
bildung betrachtet, die sie inzwischen durch Wo l ff und seine
Schule erfahren hatte. Indem die Monade bier ihres eigentlichen
spezifischen Merkmals, indem sie des Bewusstseins und der Vo r ‑
stellungskraft beraubt worden war, war damit ihre charakteristi‑
sche Unterscheidung gegenüber dem Atom wiederum verwischt.
Die Monaden bedeuten fortan nicht mehr als die letzten physi‑
schen Komponenten der Körper. So muss die Wolffische Meta‑
physik den Grundsatz der unendlichen Teilbarkeit, ohne ihn
übrigens zu bestreiten, doch auf unsere „verworrene“ und sinn‑
liche Ansicht der Dinge einschränken. Jenseit der Sinnenwelt
und über sie erhaben soll eine Welt des reinen Verstandes be‑
stehen, in der das „Einfache“, das w i r im Bereich der wahr‑
nehmbaren Wirklichkeit nirgend antreffen, seine wahre Stelle
hat. Die Vielheit der empirischen Dinge sinkt z u m blossen
Schein berab, während für die reine Vernunfterwägung n u r die
unteilbaren Substanzen und ihre harmonische Verknüpfung zu‑
rückbleiben. Aber welchen Wert und welche Würde kann der
reinen Mathematik noch in einem derartigen System zukommen?
Ist sie es nicht, ‘die u n s nunmehr, statt uns in die innere Ver‑
fassung des Wirklichen einzuführen, sein B i l d verdunkelt und
verfälscht? Die Mathematik darf keine Einschränkung ihrer Gel‑
tungssphäre kennen; ‐ wer i h r irgend ein Gebiet des Seins ver‑
schliesst, der raubt i h r damit alle Gewissheit und Evidenz der
Erkenntnis. „ W e r die Teilbarkeit der Materie ins Unendliche
leugnet, der vermag den Schwierigkeiten, die sich ergeben, nicht
anders als durch leichtfertige metaphysische Distinktionen zu
begegnen, die zum grössten Te i l darauf abzielen, dass w i r den
890 D i e Antinomien des Unendlichen. ‐ Euler.

Folgerungen aus unseren mathematischen Prinzipien nicht trauen


sollen. Man erwidert auf die Einwände gegen die einfachen
Teile der Materie, dass sie von den Sinnen und der Einbildungs‑
kraft hergenommen seien: in dieser Frage aber müsse m a n den
r e i n e n Ve r s t a n d brauchen, da die Sinne und die Folgerun‑
gen, die w i r aus ihnen ziehen, uns häufig täuschen...“ N u n ist
das letztere zwar wahr; aber m a n kann es keinem m i t so ge‑
ringem Recht entgegenhalten, als dem Mathematiker. Denn die
Mathematik ist es, die uns v o r dem Trug der Sinne schützt und
die uns den Unterschied zwischen Schein und Wahrheit kennen
lehrt. Diese Wissenschaft enthält die sichersten Vorschriften,
deren Befolgung uns vor der Illusion der Sinne schützt. Der
Metaphysiker, der zu einer solchen Entgegnung greift, vermag
also damit seine Lehre nicht zu behaupten, sondern er macht
sie damit n u r um so mehr verdächtig.*®)
So führt die Diskussion des Unendlichkeitsbegriffs zuu dem‑
selben Ergebnis, das uns in der Erörterung der Begriffes des
reinen Raumes und der reinen Zeit entgegentrat. Der Grundbe‑
griff der neuen Analysis sprengt alle herkömmlichen Einteilungen
der Ontologie. : Welche Bedeutung aber kann die alte Gliederung
der, Erkenntnis in verschiedene, gesonderte „Vermögen“ noch
haben, wenn der wichtigste und gesichertste Inhalt alles Wissens
i h r entgeht? Die Mathematik gehört nicht dem „reinen Intellekt“
an, wenn m a n diesen Begriff in dem Sinne versteht, den die
Schulphilosophie i h m gibt. Ebenso wenig aber lässt sie sich ins
Gebiet der „Sinnlichkeit“ verweisen und einschliessen: ist sie es
doch, die u n s über den vagen sinnlichen Schein hinausführt und
uns der W a h r h e i t der empirischen Objekte versichert. So
bildet sie nicht einen Teil, sondern vielmehr die K r i t i k und
Kontrolle des Sinnlichen. Aufs neue erhebt sich somit die For‑
derung, die bekannten „Klassen“ der Philosophen einer Erneue‑
rung und Revision zu unterziehen. (S. ob. S. 357.) Wie immer
aber diese Einteilung getroffen werden mag und wie immer w i r
insbesondere das „Ideale“ v o m „Realen“ scheiden mögen: das
Eine muss v o n Anfang an feststehen, dass die exakten Begriffe
der M a t h e m a t i k und die konkreten Objekte der N a t u r zum
s e l b e n Bereich des Wissens gehören. Zwischen ihnen eine
metaphysische Scheidewand aufbauen zu wollen, ist ein Be‑
Die „Chicanen“ der Metaphysik. 391

mühen, das sich selber richtet. Noch prägnanter und schärfer,


als in der Einleitung zur Differentialrechnung, tritt dieser Ge‑
danke Eulers in seinem populärsten und bekanntesten Werke,
den „Briefen an eine deutsche Prinzessin“, hervor. Eine „elende
Chikane“ wird es hier genannt, den wirklichen Körpern ihre vor‑
nehmsten und deutlichsten Eigenschaften unter dem Vorwand
abstreiten zu wollen, dass dasjenige, was aus bloss geometrischen
Begriffen folgt, für die realen Dinge nicht in aller Strenge gültig
sei. Wenn der Philosoph dem Mathematiker einwendet, dass
die Ausdehnung zum Bereich der Erscheinung geböre und dass
daher, was aus i h r abgeleitet wird, für unsere Erkenntnis des
We s e n s der Dinge unverbindlich sei, so gibt es ein einfaches
Mittel, um dieser Distinktion zu entgehen. W i r brauchen nur, .
was hier v o m R a u m behauptet wird, auf das Gesamtgebiet der
Gegenstände im Raume zu übertragen, um die E i n h e i t
zwischen beiden alsbald wiederherzustellen. Denn nicht darauf
kommt es an, ob vom Standpunkte des Metaphysikers, der seinen
Blick auf eine Welt absoluter Substanzen gerichtet hält, die Aus‑
dehnung als etwas Imaginäres, als eine blosse „Quasi-Ausdeh‑
nung“ bezeichnet wird, sondern einzig das bildet die Frage, ob
die Schlüsse, die wir aus den reinen geometrischen Begriffen
ziehen, für alle Objekte der E r f a h r u n g vorbildlich und zwin‑
gend sind. Um alle Einwürfe zum Schweigen zu bringen, brauch‑
t e n somit „die Geometer n u r zu sagen, dass die Gegenstände, deren
Teilbarkeit ins Unendliche sie bewiesen hätten, auch n u r eine
Quasi-Ausdehnung besässen und dass somit alle Dinge, denen
die Quasi-Ausdebnung zukäme, notwendig bis ins Unendliche
teilbar sein m ü s s t e n . . . Man w i r d zugeben müssen, dass der
Gegenstand der Geometrie dieselbe scheinbare Ausdehnung sei,
die unsere Philosophen den Körpern zuschreiben. Dieser näm‑
liche Gegenstand aber ist ins Unendliche teilbar, und folglich
werden es auch notwendig die existierenden Wesen sein, die m i t
dieser scheinbaren Ausdehnung begabt sind.“ Wäre dem nicht
so, so wäre die Geometrie „eine ganz unnütze u n d vergebliche
Spekulation, von der sich nie eine Anwendung auf Dinge machen
liesse, die wirklich in der Welt existieren. Gleichwohl aber ist
sie ohne Zweifel eine der nützlichsten Wissenschaften, und so
wird wohl i h r Objekt etwas mehr als eine blosse Chimäre sein
392 Das Raum- und Zeitproblem in der Naturphilosophie.

müssen.“8®) Die Metaphysiker pflegen freilich von ihrem erha‑


benen Standpunkt aus geringschätzig auf die eingeschränkte
Betrachtungsweise der empirischen Forschung berabzublicken:
„aber was kann uns denn am Ende Erhabenheit ohne Wahrheit
nützen?“
Ob m a n ihren Gegenstand im erkenntnistbeoretischen Sinne
als „absolut“ oder als „ P h ä n o m e n “ bezeichnet, danach braucht
somit die N a t u r w i s s e n s c h a f t wenig z u fragen; aber was sie
zu fordern hat, ist dies, dass die Welt der mathematischen
Wa h r h e i t e n und dieWelt der D i n g e in durchgängigen Einklang
zu setzen sind. Die Matbematik darf sich den Begriff des Seins
nicht von Aussen her aufdrängen lassen, sondern sie ist es, die
‐ im Unterschied z u r sinnlichen Empfindung ‐ die Wahrheit
des Objekts bestimmt und umschreibt. Der W i d e r s p r u c h im
Begriff des Unendlichen, der der Mathematik zum Verhängnis
zu werden drohte, hat somit zu einer tieferen Besinnung über
die letzten Gründe ihrer Geltung hingeführt. Der Anspruch aber,
den hier der exakte Forscher erhebt, musste ein blosses Postulat
bleiben, solange der Begriff der gegenständlichen E r k e n n t n i s
selbst nicht eine veränderte Deutung erhalten hatte: eine Aufgabe,
die wiederum die Philosophie selber zur Hilfe und Mitwir‑
kung aufrief.
* *

4. Das Raum- u n d Zeitproblem in der Naturphilosophie.


Boscovich.
Der Gegensatz zwischen L e i b n i z und N e w t o n bildete, wie w i r
sahen, für das achtzehnte Jahrhundert überali den eigentlichen An‑
stoss für erneute kritische Bemühungen. Die Versöhnung zwischen
beiden Gegnern wird nunmehr z u m wissenschaftlichen Losungs‑
wort der Zeit. Der Eklektizismus der Zeit bemüht sich vergeblich
um die Lösung dieser Aufgabe®%): die äussere Anpassung der
Folgerungen, die er versucht, vermag an keinem Punkte über
den Widerstreit der Prinzipien der beiden Systeme hinwegzu‑
täuschen. Auch war es nicht genug, die allgemeine Gültigkeit
der beiden verschiedenartigen Methoden abzugrenzen und jede
D i e Analyse des Stossvorganges. 393

besonders für ein bestimmtes Gebiet von Aufgaben in Anspruch


z u nehmen; sondern i n n e r h a l b d e r P h y s i k selbst und a n
ihren konkreten Objekten und Problemen drängte die Frage z u r
Entscheidung. Den Ausgleich zwischen den Forderungen des
Denkens und der Erfahrung, der der blossen physikalischen
Empirie versagt geblieben war, scheint fortan n u r eine allgemeine
N a t u r p h i l o s o p h i e darbieten z u können, die i h r Material ledig‑
l i c h der unmittelbaren Beobachtung entnimmt, die aber, darüber
hinaus, zu einer k o n s t r u k t i v e n Synthese derErscheinungen und
zu ihrer Ableitung aus einem einzigen Grundprinzip fortschreitet.
Das naturphilosophische Hauptwerk der Epoche, Boscovichs
„Theoria philosophiae naturalis“ ist die charakteristische Aus‑
prägung dieser Doppeltendenz. Der n e u e K r a f t b e g r i f f , der
hier gelehrt wird, w i l l ‐ wie Boscovich selbst gleich anfangs
betont ‐ die Newtonische Ansicht von der actio in distans m i t
der LeibnizischenGrundanschauung v o n den „einfachen“ Elementen
der Dinge harmonisch vereinen.) Auf dem Wege dieser Ver‑
einigung aber entsteht ein neuer Begriff der R e a l i t ä t , der zugleich
dem Raum- und Zeitproblem ein verändertes Anseben gibt. ‑
In der Naturphilosophie der neueren Zeit hatten sich all‑
mählich zwei Grundfragen immer entschiedener herausgearbeitet.
Die Rückführung alles Geschehens a u f mechanische Prozesse war
seit Descartes m i t der Reduktion des Wirkens auf Stossvorgänge
gleichbedeutend. Die Frage nach der Mitteilung der Bewegung
beim Aufeinandertreffen zweier gegen einander anlaufenden
Massen bildete nunmehr den Kernpunkt des allgemeinen Causal‑
problems. Hier entdeckt L e i b n i z das Prinzip der Erhaltung der
lebendigen Kraft; hier setzen H u m e s Zweifel und Angriffe gegen
die rationale Geltung des Ursachenbegriffs ein. Während indessen
der Streit der philosophischen Schulen zunächst noch durchaus
auf diesen einen Punkt gerichtet blieb, schien die konkrete
Entwicklung der Wissenschaft bereits über i h n hinweggeschritten
zu sein. An Stelle des unmittelbaren Impulses war die F e r n k r a f t
als eigentlicher Grundtypus alles Wirkens getreten. Der Fort‑
schritt der Physik drängte immer mehr zu der Forderung, dass
sie, die zuerst als „unbegreiflich“ abgewiesen wurde, in Wahrheit
als das einzige und allgemeingültige P r i n z i p für all unser Be‑
greifen der empirischen Vorgänge anzuerkennen sei. An dieser
394 Das Raum- und Zeitproblem in der Naturphilosophie.

Stelle liegt auch der Angriffspunkt für B o s c o v i c h s Kritik. Der


Vorgang des Stosses, der Uebergang einer Wirkung auf eine
unmittelbar benachbarte Raumstelle, den m a n so lange Zeit als
unmittelbar „verständlich“ und keiner weiteren Erklärung be‑
dürftig angesehen hat, gibt selbst vielmehr zu den schwersten
begrifflichen Bedenken Anlass. W i r können ihn nicht zur E r ‑
läuterung der Phänomene brauchen, ehe w i r i h n nicht in seinen
Einzelmomenten völlig durchschaut und z u r widerspruchslosen
Darstellung gebracht haben.
In den bisherigen Theorien aber ist dies nirgends geleistet.
Denkenw i r uns etwa zwei gleiche, vollkommen unelastische Massen,
die sich in gleicher Richtung vorwärts bewegen, wobei die eine eine
Geschwindigkeit von 12m in der Zeiteinheit, die andere eine Ge‑
schwindigkeit von 6 m besitzen soll. Im Momente des Zusammen‑
treffens wird alsdann ein bestimmter Teil der Bewegungsquantität
von dem schnelleren Körper auf den langsameren übergehen
und beide werden nunmehr m i t einer gemeinsamen Geschwin‑
digkeit von 9 m fortschreiten. Der Uebergang von der ursprüng‑
lichen zur abgeänderten Geschwindigkeit vollzieht sich jedoch
hierbei durchaus sprungbaft: es lässt sich kein Zeitmoment an‑
geben, in dem eine der beiden Massen einen mittleren Geschwin‑
digkeitswert zwischen dem Anfangs- und Endergebnis angenommen
hätte. Schon bei Betrachtung dieses einfachsten Falles, dem sich
weiterhin verwickeltere Untersuchungen anschliessen lassen,
ergibt sich also eine handgreifliche Verletzung des Kontinuitäts‑
prinzips, das für jede Grösse, beim Fortschritt von einem W e r t
zum andern, das Durchlaufen sämtlicher Zwischenphasen v e r ‑
langt.%) Damit aber ist ein eigentümlicher dialektischer Wider‑
streit aufgedeckt. An die Wirkung durch Berührung hatte m a n
sich geklammert, weil m a n eine stetige Vermittlung zwischen
Ursache und Wirkung als im Begriff der Ursache selbst gegründet
ansah, weil m a n somit die Kontinuität als ein Postulat aller
unserer kausalen Erkenntnis anerkannte. In Wahrheit aber h a t
man eben dieses Postulat, indem m a n es f ü r die sinnliche
Anschauung scheinbar rettete, in der wissenschaftlichen P r i n ‑
z i p i e n l e h r e preisgegeben. Die philosophische Betrachtung
der Natur muss den entgegengesetzten Weg geben: sie muss
die F o r d e r u n g d e r S t e t i g k e i t , die durch die Induktion
Das
D a s Postulat der Continuilät.
Postulat der Continuität. 8395
895

und
und durch durch „metaphysische*
„metaphysische" Beweisgründe gesichert ist,
Beweisgründe gesichert auch dort
ist, auch dort
festhalten und
festhalten durchführen, wo
und durchführen, wo die Beobachtung und
die Beobachtung und der Sinnen‑
Sinnen-
schein sich
schein sich iihr h r entgegenzustellen
entgegenzustellen scheinen.)scheinen.$) Denn Denn Wissenschaft
Wissenschaft
besteht nicht darin, dass
besteht nicht darin, dass wir die Erfahrungen w i r die Erfahrungen wahllos hinnehmen
hinnehmen
u n d sammeln,
und sammeln, sondern sondern darin,
darin, dassdass w i r sie
wir sie nachnach begrifflichen
begrifflichen
Kriterien
Kriterien deuten. deuten. Bei Bei ddeme m betrachteten
betrachteten Problem also werden
P r o b l e m also
w
wiri r zunächst
zunächst die die stetige Zu- oder
stetige Zu- oder Abnahme
Abnahme der der Geschwindigkeiten
Geschwindigkeiten
als unverbrüchlichen
als Grundsatz feststellen,
u n v e r b r ü c h l i c h e n Grundsatz feststellen, um sodann zu
um sodann zu sehen,
sehen,
welcher theoretischentheoretischen Mittelglieder
Mittelglieder es es bedarf,
bedarf, um iihm h m allgemeine
allgemeine
Anwendung
Anwendung und und Geltung
Geltung im Gebiet konkreten Erscheinungen
Gebiet der konkreten Erscheinungen
zu verschaffen. W
zu verschaffen. Wiri r nehmen
nehmen also also an,an, dass die die Geschwindigkeit
Geschwindigkeit
der beidenbeiden materiellen Systeme sich
materiellen Systeme nicht im
sich nicht im Momente
Momente des des
Stosses sprunghaft
Stosses sprunghaft ändert, sondern dass schon
ändert, sondern schon vorher,vorher, zugleich
zugleich
m
miti t der stetigen stetigen Annäherung
Annäherung der beiden beiden Körper,
Körper, ein Ausgleich in
ein Ausgleich
ihrer Geschwindigkeit sich
ihrer Geschwindigkeit sich vollzogen
vollzogen habe,habe, indem indem die des einen
d i e des einen
sich vermehrte,
sich vermehrte, die des andern
die des andern dagegen
dagegen sich verringerte. Hierzu
sich verringerte. Hierzu
aber ist
aber ist die die weitere
weitere Voraussetzung
Voraussetzung erforderlich,
erforderlich, dass, sobald der
dass, sobald der
Abstand den beiden
Abstand zwischen den beiden Körpern unter eine bestimmte
zwischen Körpern unter eine bestimmte
Grösse gesunken
Grösse gesunken ist, zwischen ihnen
ist, zwischen ihnen abstossende
a b s t o s s e n d e K r ä f t ee in
Wirksamkeit
Wirksamkeit treten. treten. So So gelangt
gelangt Boscovich
Boscovich von von hierhier ausaus in strenger
logischer Folge
logischer Folge zu bekannten physikalischen
zu seiner bekannten physikalischen Theorie Theorie der
e i n f a c h e n K r a f t p uu nnkkttee,, die
einfachen die -‐ solange
solange ihre Entfernung noch
ihre Entfernung noch
eine gewisse
eine gewisse Grösse überscbreitet -‐ auf einander
Grösse überschreitet einander eine eine Anziehung
Anziehung
ausüben, die
ausüben, die jedoch zugleich ihre
jedoch zugleich ihre eigene,
eigene, genau definierte W
genau definierte ir‑
Wir-
kungssphäre
kungssphäre haben, innerhalb welcher jeder
haben, innerhalb j e d e r in sie sie eintretende
eintretende
Körper
Körper eine eine Zurückstossung
Zurückstossung erfäbrt. erfährt. Mathematisch
Mathematisch lässt sich dies
lässt sich
durch die
durch die Annahme
Annahme zzum Ausdruck bringen,
u m Ausdruck bringen, dass die Kräfte der
die Kräfte der
Repulsion
Repulsion in ausserordentlich viel
in ausserordentlich stärkerem Maasse
viel stärkerem Maasse als als die derder
Attraktion m
Attraktion miti t der Entfernung abnehmen,
der Entfernung abnehmen, dass dass sie daher gegen
sie daher gegen
diese erst
diese erst wenn wenn die die Annäherung
Annäherung bis zu einem
bis zu einem sehr hohen Grade
sehr hohen Grade
gelangt ist,
gelangt ist, zu merklicher Wirkung
zu merklicher Wi r k u n g gelangen,
gelangen, dann dann aber aber bei
bei
fortgesetzt vermindertem
fortgesetzt vermindertem Abstand Abstand über über jede Grösse
Grösse hinauswachsen
hinauswachsen
und somit
und somit jede wirkliche Berührung
jede wirkliche Berührung der bewegten bewegten ElementeElemente aus‑ aus-
schliessen. Das
schliessen. Das Bild
Bild der einen, gleichförmigen
der einen, gleichförmigen und zusammen-
und zusammen‑
hängenden
hängenden Masse Masse des des Stoffes
Stoffes löstlöst sich
sich uuns Zentren
isolierte Zentren
n s in isolierte
Wi r k s a m k e i t auf,
der Wirksamkeit sobald w
auf, sobald es einmal
i r es
wir einmal vom vom Gesichtspunkt
Gesichtspunkt
dynamischen Prinzipien
der dynamischen Prinzipien betrachten
betrachten und und es es demgemäss
demgemäss uum m- ‑
g eesst taal tl et en .n). ) ‐
396 Das Raum- und Zeitproblem in der Naturphilosophie.

W i r stehen somit vor einem paradoxen Ergebnis: das m a ‑


terielle K o n t i n u u m ist kraft des Kontinuitätsgesetzes auf‑
gehoben. Um die Stetigkeit des Geschehens zu wahren und in
aller Strenge aufrecht zu erhalten, muss das Sein in diskrete
Elemente zerfällt werden. Das Prinzip der Kontinuität selbst er‑
fährt jetzt eine schärfere logische Fixierung und Aussprache.
M a u p e r tu i s hatte es angegriffen, indem er ‐ an eine laxe Fas‑
sung des Stetigkeitsbegriffs anknüpfend ‐ die Bedingung der
Stetigkeit dahin aussprach, dass jeder folgende Zustand sich vom
nächstvorhergehenden n u r „ u m eine unendlich kleine Grösse“
unterscheiden dürfe. Ist aber ‐ so hatte er gefragt ‐ der Ueber‑
gang einer Grösse x z u m Werte x+dx in irgend einem Sinne
logisch verständlicher, als i h r Zuwachs um jede b e l i e b endi g ‑e
l i c h e Grösse, da es sich doch auch im ersteren Falle immer
um verschiedene Zustände handelt, die durch einen zwar sehr
kleinen. aber doch immer konstanten und fixen Abstand von ein‑
ander getrennt sind?%) Im Gegensatz zu einer derartigen Auf‑
fassung bezeichnet Boscovich es als den eigentlichen prinzipiellen
Irrtum, dass man den Fortschritt vom einen Werte der Veränder‑
lichen zum „nächsten“ Wert gleichsam in unmittelbarer sinn‑
licher Anschauung zu erfassen und zu verfolgen sucht. Diese
Ansicht ist in sich selbst widersprechend: liegt doch in der Kon‑
tinuität des Raumes und der Zeit eben dies eingeschlossen, dass
es, wenn w i r v o n einem bestimmten Punkte in ihnen ausgehen,
einen „nächsten“ Raumpunkt und einen „nächsten“ Zeitmoment
nicht gibt. W i r können den Sinn des Stetigkeitsgesetzes allge‑
‚mein aussprechen, ohne den Begriff einer konstanten, aktuell‑
unendlichkleinen Grösse irgend einzumischen. Die Kontinuität
der Bewegung bedeutet zuletzt nicht mehr als die Forderung,
dass jedem bestimmten Zeitpunkt eine und n u r eine Lage des
bewegten Körpers eindeutig zugeordnet ist.%) In jeder sprung‑
weise verlaufenden Ortsveränderung würde diese Forderung ver‑
letzt. Denn nehmen wir etwa an, die Bewegung würde im Mo‑
ment t, an der Stelle a unterbrochen, um im Zeitpunkt t, an der
Stelle b wieder aufgenommen zu werden, so ergibt sich hier
eine doppelte Möglichkeit, je nachdem w i r ty von t, als unter‑
schieden oder als m i t i h m zusammenfallend ansehen. Ist das
erstere der Fall, so folgt ‐ gemäss der unendlichen Teilbarkeit
D i e Continuität im Sein und im Geschehen, 897

der Zeit, die hier von Boscovich ohne näheren Beweis voraus‑
gesetzt wird ‐, dass sich zwischen t, und ts unendlich viele Zeit‑
punkte angeben lassen, für die sich indessen keine entsprechende
Lage des Körpers angeben lässt; gilt das zweite, so müssten w i r
ein und demselben Moment zwei verschiedene Orte entsprechen
lassen.) Und was hier f ü r den Begriff des Ortes bewiesen ist,
das lässt sich in gleicher Weise auf die Geschwindigkeit über‑
tragen. .Auch sie muss in einem gegebenen Zeitmoment einen
eindeutigen Wert haben, da sie nichts anderes als eine Bestim‑
mung z u r künftigen Bewegung, also lediglich das Gesetz ist, nach
welchem w i r gewissen k ü n f t i g e n Zeitpunkten bestimmte Raum‑
punkte z u o r d n e n ) Die Theorie des „Impuises“ verstand den
stetigen Zusammenhang, indem sie i h n in den Teilen der Materie
suchte, doch immer n u r als ein sinnliches Ineinanderfliessen
der Grenzen der einzelnen Partikel: jetzt erst scheint dagegen
der wahre logische B e g r i f f der Stetigkeit begründet, nachdem.
das Stetige aus dem Bereich der physischen D i n g e geschwun‑
den ist. ‑
Immer energischer jedoch muss sich nunmehr die Frage
erheben, welche Bedeutung und Funktion der Idee des einheit‑
lichen und gleichföormigen Raumes in diesem System noch zu‑
kommen kann? Das D a s e i n ist i h m notwendig versagt; denn
alle Realität, die die Physik kennt, ist in den unausgedehnten
einfachen Kraftpunkten beschlossen. Es ist lediglich der sub‑
jektive Mangel unserer Unterscheidungsfähigkeit, der uns an
Stelle isolierter dynamischer Elemente und ihrer wechselseitigen
Wirksamkeit das B i l d der stetigen Ausdehnung vortäuscht.®)
Und dennoch kann der Raum nicht z u m blossen Produkt unserer
Einbildungskraft herabgesetzt werden, da seine charakteristischen
Grundbestimmungen im Begriffe des Kraftpunktes, also im Be‑
griffe des physisch Wirklichen unmittelbar wiederkehren. An
diesem Problem nimmt daher die Untersuchung in der Tat eine
neue Wendung. Das „Hier“ und „Jetzt“ des Kraftpunktes, die
Stelle, die er im Raume und in der Zeit einnimmt, bezeichnen
jedenfalls r e a l e Eigenschaften, die er unabhängig von unserer
A r t der Betrachtung besitzt. Beide bedeuten je einen besonderen
und eigenartigen „Modus der Existenz“, der dem substantiellen,
physischen Punkte in der gleichen Weise „anhaftet“, wie irgend
398 Das Raum- und Zeiproblem in der Naturphilosophie.

einem Dinge seine verschiedenen sinnlichen Beschaffenbeiten


und Merkmale zukommen. So geraten die Begriffe des Raumes
und der Zeit hier in eine eigentümliche logische Nachbarschaft.
I h r e Elemente bilden eine neue Klasse d i n g l i c h e r Q u a l i t ä t e n ,
m i t denen ein bestimmtes Kräftezentrum sich in seiner Bewe‑
gung bekleidet und die es auf gleiche Weise wiederum von sich
abstreift. „Man muss notwendig einen r e a l e n M o d u s des Seins
zulassen, kraft dessen ein Ding dort, wo es ist und dann, w a n n
es ist, existiert. Ob man diesen Modus ein Ding oder eine Eigen‑
schaft, ein Etwas oder ein Nichts nennen w i l l : in jedem Falle
muss er etwas ausserhalb unserer Einbildungskraft sein, da ja
die Gegenstände selbst i h n ändern und bald diese, bald jene
räumliche und zeitliche Seinsweise annehmen können.“1%) Vo n
Raum und Zeit als einem System v o n Beziehungen ist bis
hierher, wie m a n bemerkt, nirgends die Rede: es handelt sich
durchaus um einzelne physische Dinge, denen einzelne absolute
„Stellen“ zukommen sollen. Sobald ein Kräftezentrum seine
Stellung ändert, geht ein bestimmtes „Hier“ und „Jetzt“, das bis‑
her als reale Beschaffenheit bestand, zugrunde, während ein an‑
derer Lokal- und Temporalcharakter wie aus dem Nichts ent‑
steht. Gibt es somit Stellen nicht anders, denn als Eigenschaften
an physischen Dingen, so können sie, streng genommen, auch
immer n u r in e n d l i c h e r A n z a h l existieren. Denn alles Da‑
sein ist an das Gesetz d e r bestimmten Z a h l gebunden; das
Unendliche dagegen ist lediglich ein Produkt unserer subjektiven
Phantasie, das in den Gegenständen nirgends Platz findet.10)
W i e aber gelangen wir, da es in Wahrheit stets n u r eine
in sich abgeschlossene Menge v o n Kraftpunkten und ihrer wirk‑
lichen Orte gibt, jemals z u r Setzung einer k o n t i n u i e r l i c h e n
Strecke, die eine unbegrenzte Mannigfaltigkeit v o n Punkten in
sich schliesst? In dieser Frage konzentriert sich v o n n u n ab der
gesamte Inhalt des Problems; denn wenn auch der stetigen Aus‑
dehnung die Existenz abgesprochen ist, so muss doch ihre I d e e
sich in ihrer Entstehung erklären und rechtfertigen lassen. Be‑
trachten w i r eine gegebene Gliederung des Stoffes zu einem be‑
stimmten Zeitpunkt, so haben wir hier freilich immer n u r eine
konstante und begrenzte Zahl v o n physischen Punkten v o r
uns, die sämtlich durch feste, endliche Abstände von einander
Der „imaginäre" und der physikalische Raum. 399

getrennt sind. Von hier aus jedoch geht unser Gedanke weiter:
er fasst die Möglichkeit der Veränderung des gegenwärtigen Ge‑
samtzustandes, den Uebergang zu einer anderen Konfiguration
ins Auge, in der nunmehr jedem dynamischen Element ein
anderer Ort als zuvor als Beschaffenheit zukommen würde.!®)
A u f diese Weise lassen sich in der Phantasie immer wieder neue
und neue Stellen erzeugen, deren Inbegriff indessen niemals
gleichzeitig verwirklicht ist. Der Abstand zwischen zwei mate‑
riellen Zentren lässt sich in Gedanken m i t immer neuen „mög‑
lichen“ Lagen besetzen, die vielleicht in Zukunft einmal v o n
einem physischen Element angenommen werden können und
die alsdann erst als aktuell vorhanden zu gelten haben. Die
Stetigkeit und unendliche Teilbarkeit des Raumes und der Zeit
bedeutet nichts anderes als diese subjektive Fähigkeit der Ein‑
schaltung immer neuer gedachter Zwischenstellen.!®#) „ I n W i r k ‑
l i c h k e i t gibt es immer eine bestimmte Grenze und eine be‑
stimmte Anzahl von Punkten und Intervallen: im M ö g l i c h e n
dagegen zeigt sich nirgends ein Ende. Die abstrakte Betrachtung
der Möglichkeiten ist es daher, die den Gedanken der Kontinui‑
tät und Unendlichkeit einer imaginären Linie in uns erzeugt.
Da indessen diese Möglichkeit selbst etwas Ewiges und Notwen‑
diges ist ‐ denn es ist notwendig und ewig wahr, dass physi‑
sche Punkte m i t allen diesen Beschaffenheiten und Modi existie‑
r e n können ‐, so ist auch der imaginäre, stelige und grenzen‑
lose Raum e t w a s E w i g e s u n d N o t w e n d i g e s ; n i c h t a b e r
e t w a s Existierendes, sondern die blosse unbestimmte An‑
nahme v o n etwas, das existieren kann.“1%)
. Die Bezeichnung des Raumes und der Zeit als „Möglich‑
keiten“ erinnert an die L e i b n i z i s c h e Grundanschauung; aber
m a n erkennt bei schärferer Betrachtung sogleich, dass sie hier
in völlig anderem Sinne und in durchaus entgegengesetzter
Tendenz gebraucht wird. F ü r Leibniz bilden Raum und Zeit
einen Inbegriff notwendiger Beziehungen, die für alle unsere
Urteile über empirisches Sein und empirisches Geschehen apodik‑
tische Geltung besitzen. Die „idealen“ und abstrakten Regeln
bilden hier die Grundlage für jede Feststellung und Bestimmung
des konkreten Seins des Erfahrungsgegenstandes. (Vgl. ob. S. 89 ff.)
Boscovich dagegen geht umgekehrt v o n der absoluten E x i s t e n z
400 Das Raum- und Zeitproblem in der Naturphilosophie.

der Kraftpunkte aus, und sucht von hier aus die zeitliche und
örtliche Bestimmtheit, als eine E i g e n s c h a f t , die ihnen neben
anderen physischen Merkmalen, wie etwa ihrer Undurchdring‑
lichkeit zukommt, zu begreifen. Dass indessen die reinen geo‑
metrischen Grundbegriffe sich auf diesem Wege nicht gewinnen
und ableiten lassen, ist leicht ersichtlich. Selbst w e n n m a n
Boscovichs Verfahren als völlig unanfechtbar betrachtet: so w i r d
dadurch im günstigsten Falle die unendliche Teilbarkeit der
Linie, nicht aber ihre Stetigkeit erklärt. Die unbeschränkte
Einschaltung von Zwischenwerten zwischen zwei gegebenen ein‑
fachen Lageelementen kann niemals ein kontinuierliches Ganze
ergeben; was daraus resultieren würde, wäre immer n u r eine
diskrete, wenngleich unendliche Punkimenge, die v o m gleichen
Typus wie das System der r a t i o n a l e n Z a h l e n wäre, n i c h t
aber dem stetigen Inbegriff der reellen Zahlen entsprechen würde.
S o sehen wir, dass der Begriff des I n t e r v a l l s zwischen zwei
einfachen Kraftpunkten von Boscovichs ursprünglichem Stand‑
punkt aus nicht zu rechtfertigen ist. Und doch kann dieser
Begriff für die Begründung der physikalischen Wirklichkeit
nicht entbehrt werden, da er seine Stelle in dem r e a l e n K r ä f t e ‑
gesetz bebauptet, das Boscovich als oberste Regel alles Geschehens
proklamiert. Die Anziehung und Abstossung der einfachen Ele‑
mente richtet sich nach den jeweiligen Abständen, in denen
sie von einander stehen. Damit aber erhebt sich wiederum die
alte Eulersche Frage. W i e ist es zu verstehen, dass die Malerie
in ihren realen Betätigungen v o n etwas bloss „Gedachtem“ u n d
„Möglichem“ abhängig sein soll? Und auch in anderer Rich‑
tung zeigt es sich nunmehr, dass Boscovichs Erklärung sich in
einemi Zirkel bewegt. U m z u dem Begriff der E n t f e r n u n g z u
gelangen, muss er annehmen, dass die mannigfachen und ver‑
schiedenartigen „Hier“ u n d „Jetzt“, die w i r als Bestimmungen
der physischen Punkte kennen lernen, unter einander ein festes
gegenseitiges Ve r h ä l t n i s aufweisen. „Alle diese einzelnen realen
Modi entstehen und vergehen; aber sie sind in sich selbst gänz‑
lich unteilbar, unausgedehnt, unbeweglich und in i h r e r O r d ‑
n u n g unveränderlich. Damit aber bieten sie die G r u n d l a g e
f ü r d i e r e a l e R e l a t i o n d e r D i s t a n z dar, sei es, dass w i r
darunter die örtliche zwischen zwei Punkten oder die zeitliche
Kritik der Boscovich’schen Raumlehre. 401

zwischen zwei Ereignissen verstehen. Dass zwei materielle Punkte


eine gewisse Distanz besitzen: dies besagt nichts anderes, als dass
ihnen diese beiden bestimmten und unterschiedlichen Modi des
Seins zukommen.“!®) Es ist indessen keineswegs selbstverständ‑
lich, noch aus d e m Früheren ersichtlich, dass zwischen den
besonderen q u a l i t a t i v e n Merkmalen ‐ als welche w i r die
Raum- und Zeitpunkte hier allein kennen ‐ eine derartige feste
Ordnung und Reibenfolge herrscht, die es uns ermöglicht, sie
miteinander zu vergleichen und zwischen ihnen eine Beziehung
des „grösseren“ oder „kleineren“ Abstandes festzustellen. Viel‑
mehr ist in eben dieser Annahme der Raum als Stellensystem
neben und über den E i n z e l s t e l l e n bereits stillschweigend mit‑
gesetzt. Vom absoluten gänzlich isolierten Moment aus lässt
sich die Eigenart der räumlichen und zeitlichen R e l a t i o n nicht
verständlich machen; sie kann n u r durch eine petitio principii
eingeführt werden. Die Beziehung ist kein blosses Nebenergebnis,
das aus der Summierung der „einfachen“ Elemente resultierte;
sondern umgekehrt muss deutlich sein, dass dasjenige, was einen
Punkt erst zum Raum- oder Zeitpunkt macht, nichts anderes
als eben diese ursprüngliche und spezifische Beziehung ist, die
w i r in ihn hineindenken.
Unter einem neuen Gesichtspunkt tritt uns das gleiche
Problem in Boscovichs Erörterung des Maassbegriffes entgegen.
Die konkrete Messung besteht darin, dass w i r die bestimmte
Länge, die w i r als Grundeinheit brauchen, bald hier, bald dort
anlegen; sie setzt also voraus, dass wir den Maassstab, ohne dass
seine Natur dadurch geändert würde, i m R a u m e f o r t b e w e g e n
k ö n n e n . Gerade diese Voraussetzung aber ist ‐ wie sich aus
Boscovichs physikalischer Grundanschauung zwingend ergibt ‑
in Wirklichkeit niemals erfüllbar. Die L i n i e ist bisher als ein
Inbegriff von Raumpunkten definiert, die uns ihrerseits wiederum
n u r als abhängige Eigenschaften von Kraftpunkten bekannt sind.
Es ist daher n u r folgerecht, wenn jetzt hervorgehoben wird, dass
die I d e n t i t ä t des Maasses, die für jede exakte Vergleichung
zu fordern wäre, im strengen Sinne niemals besteht. Die Ein‑
heitsstrecke erleidet, indem sie an eine andere Stelle des Raumes
übertragen wird, eine innere Aenderung, da sie hier eine andere
Verteilung der physischen Punkte vorfindet und sich somit fortan
402 . Das Raum- und Zeitproblem in der Naturphilosoßhie.

auch aus anderen realen „Orten“ als zuvor zusammensetzt. Gäbe


es eine gleichförmige und stetige Ausbreitung des Stoffes, so liesse
sich unser materieller Maassstab innerhalb ihrer beliebig ver‑
schieben, ohne irgend eine Wandlung zu erfahren; ‐ da indessen
in Wirklichkeit die Materie durchgängig differenziert ist und
sich ein und dieselbe Konfiguration der diskreten Kraftpunkte
niemals wiederholt, so ist eine wahrhafte I d e n t i t ä t von Längen
im Grunde eine abstrakte Erdichtung: eine Fiktion, die f ü r die
Geometrie von Nutzen sein mag, die aber in den wirklichen
konkreten Gegenständen keine Stütze findet.!%) So stehen w i r
hier vor einer empiristischen Auflösung der Geometrie: denn die
tatsächliche Natur der Körper ist es, die über die Gültigkeit der
mathematischen Begriffe entscheidet. Zwar versucht Boscovich
diese Konsequenz abzuschwächen, indem er betont, dass wir,
ohne die strenge I d e n t i t ä t des Maassstabes zu behaupten, doch
von der G l e i c h h e i t zweier, an verschiedenen absoluten Raum‑
stellen befindlichen, Strecken sprechen können.!®) Indessen fehlt
auch hierfür nach den Voraussetzungen des Systems die exakte
logische Bürgschaft: wieder ist es n u r die Ungenauigkeit der
Sinne, die die Bildung dieses nicht minder „imaginären“ Begriffs
begünstigt. Die Geometrie ist an und für sich „wahr“, da sie,
wenn man ihr einmal ihre Voraussetzungen zugesteht, aus ihnen
widerspruchslose Schlüsse entwickelt; aber es fehlt i h r zuletzt
jede Handhabe, um in die Gestaltung der Physik einzugreifen,
da die Stetigkeit, die w i r im rein mathematischen Gebiet zu
Grunde legen, dem Begriff des „aktuellen“ physikalischen Objekts
widerstreitet.!®)
Der Konflikt zwischen dem I d e a l e n und R e a l e n ist
somit hier nicht zum Austrag gelangt, sondern er hat sich
n u r v o n neuem verschärft. Boscovichs merkwürdige und
schwierige Raum- und Zeittheorie ist ein letzter interessanter
Versuch, diese beiden Grundbegriffe und i h r Verhältnis zu
den realen physischen Gegenständen zu verstehen. B l i c k t
m a n nunmehr noch einmal auf das Ganze der vorangehenden
Entwicklung zurück, so sieht man, welche gewaltige unaus‑
gesetzte Gedankenarbeit das achtzehnte Jahrhundert an die Be‑
wältigung dieses Problems gewendet hat. Raum und Zeit haben
in den verschiedenen Lösungsversuchen, die w i r verfolgt haben,
Jdealität und Realität. 403

die gesamte Skala des „subjektiven“, wie des „objektiven“ Daseins


durchlaufen. In der ersteren Hinsicht waren sie bald als Pro‑
dukte unmittelbarer innerer oder äusserer Wahrnehmung, bald
als abstrakte Denkerzeugnisse, bald als Gebilde gewohnbeits‑
mässiger Association der Vorstellungen, bald als notwendige und
allgemeingültige Begriffe bezeichnet worden. Analog wurde ihre
E x i s t e n z hier in der A r t eines selbständigen und unabhängigen
Daseins gefasst, während sie dort als blosse Beschaffenheiten und
Modi der Dinge oder aber als objektive Verhältnisse zwischen
ihnen gedeutet wurden. Der Umkreis des möglichen physischen
oder psychischen Seins ist nunmehr durchmessen, ohne dass die
Begriffe des Raumes und der Zeit ihren wahren logischen Ort
gefunden haben. Die endgültige Aufklärung des Problems kann
n u r v o n einer Philosophie erwartet werden, die von einer kriti‑
schen Umformung des B e g r i ff s des Seins selbst ihren Aus‑
gang nimmt und die damit die Gebiete des „Subjektiven“ und
„Objektiven“ zu einander in ein völlig neues Ve r h ä l t n i s rückt.
Drittes Kapitel.

Die Ontologie. ‐ Der Satz des Widerspruchs


und der Satz v o m zureichenden Grunde.
1.
Wenn m a n der Entwicklung der mathematischen Physik
im achtzehnten Jahrhundert die Entwicklung der schulmässigen
L o g i k gegenüberstellt, so tritt die Inkongruenz zwischen F o r m
und I n h a l t des Wissens alsbald deutlich hervor. Der Gehalt,
den die exakte Forschung sich stetig erarbeitet, spottet zunächst
aller Bestrebungen, ihn in die überlieferten Begriffsschemata ein‑
zureihen. So droht jetzt zwischen Philosophie und Wissenschaft
eine völlige Entfremdung einzutreten. Nur in der populären
Fassung und Wendung, die sie durch die französische Aufklä‑
rung erhalten hatte, steht jetzt die Philosophie m i t den Inter‑
essen der Erfahrungswissenschaft noch in lebendigem Zusammen‑
hange, während sie i h n um so mehr verliert, je strenger sie i h r
eigenes Gebiet und ihre eigentliche Aufgabe systematisch ab‑
zugrenzen strebt. Und doch wäre es i r r i g und ungerecht, w e n n
m a n den We r t der W o l f fi s c h e n L e h r e n u r nach dem be‑
messen wollte, was sie für die äussere technische Gliederung u n d
die formale syllogistische Ableitung des Wissens geleistet hat.
Sonüchtern und unfruchtbar sie u n s heute im einzelnen oft e r ‑
scheinen mag: so war sie es doch, die die zentrale Frage der
Philosophie, die Frage nach der Methode der Erkenntnis
dauernd wach erhielt. In diesem einen Punkte blieb sie die
echte E r b i n der Leibnizischen Lehre: es ist i h r Verdienst, dass
sie, bei aller Abweichung und Abschwächung im einzelnen, d i e
Leibnizische P r o b l e m s t e l l u n g gegenüber allen Angriffen ge‑
wahrt und im Bewusstsein des Zeitalters lebendig erhalten hat.
Denken und Sein. 405

Das Verhältnis v o n D e n k e n und S e i n hat in Leibniz’


Lehre eine völlig neue Bestimmung erfahren.!) Indem alle Realität
sich in den Inbegriff der vorstellenden Subjekte und ihrer Be‑
wusstseinsinhalte auflöste, entstand nunmehr die Aufgabe, ein
a l l g e m e i n e s K r i t e r i u m zu finden, das den „objektiven“ Gegen‑
stand der Physik von den beliebigen flüchtigen Inhalten der
Phantasie unterschied. Der Hinweis auf eine äussere, für sich
bestehende Ursache vermochte hier nichts zu leisten: war doch
jede Möglichkeit abgeschnitten, aus dem Kreise des Vorstellens
herauszutreten, um sich ihrer zu versichern. Das einzig fass‑
bare und tatsächlich auwendbare Kriterium für die Wahrheit
einer Perzeption konnte nicht länger in jenseitigen, v o n i h r unter‑
schiedenen Dingen, sondern n u r in inneren logischen Merkmalen,
die i h r zukommen, gesucht werden. Wenn wir eine bestimmte,
uns gegebene Erscheinung als „wirklich“ bezeichnen, so kann
dies, schärfer betrachtet, nicht bedeuten, dass sie neben dem, als
was sie sich uns unmittelbar zeigt, noch eine zweite. gänzlich
andersartige F o r m der Existenz ausserhalb aller denkenden
Subjekte besitze, sondern e sbesagt n u r etwas über die S t e l l u n g ,
die sie innerhalb des Gesamtsystems u n s e r e r E r f a h r u n g
einnimmt. W i r nennen ein Phänomen „real“, wenn es nicht
beliebig und regellos in uns entsteht, sondern sich in seinem
Auftreten sowohl wie in seinen Folgen an konstante gleichblei‑
bende Bedingungen gebunden erweist. Die Vorstellungen in uns
kommen und gehen nicht nach schrankenloser Willkür, sondern
sie ordnen sich in fest umschriebene gesetzliche Zusammenhänge.
Diese Gesetzlichkeit, in der sie untereinander stehen, ist es,
die ihnen den Charakter der W i r k l i c h k e i t aufprägt, denn
wirklich heisst u n s ein Inhalt, w e n n er nicht ein schwankendes
Gebilde des Augenblicks ist, sondern unserer denkenden Betrach‑
tung immer die gleiche unveränderliche Eigenart darstellt. Die
Bestimmtheit indessen, die hier gemeint und gefordert ist, kann
durch die blosse e m p i r i s c h e A s s o c i a t i o n der Vorstellungen
niemals gewährleistet werden. Jede Aussage über empirische
Verknüpfungen setzt allgemeine u n d notwendige Grundsätze
voraus, auf die sie sich stützt. Und so sind es diese letzteren,
in denen schliesslich die Wirklichkeit der Erscheinungswelt ver‑
ankert ist. Die Phänomene der Sinne dürfen u n s als gesichert
406 D i e Ontologie.

gelten, sofern und soweit sie derartig verknüpft sind, wie die
„ i n t e l l i g i b l e n W a h r h e i t e n “ e s fordern.?) Als Muster dieser
Wahrheiten, auf denen alles Sein zuletzt beruht, werden von
Leibniz vor allem die Sätze der Mathematik, weiterhin aber
insbesondere die Grundregeln der D y n a m i k , wie das Gesetz der
Erhaltung der lebendigen Kraft genannt. Wenngleich alle diese
Sätze lediglich „ideal“ sind, so gelten sie doch in aller Strenge
für den gesamten Bestand und Umfang der konkreten gegen‑
ständlichen Welt: ist es doch eben die Uebereinstimmung, in
der unsere Wahrnehmungen m i t ihnen stehen, die aus ihnen
erst feststehende und gegründete „Tatsachen“ macht. (Vgl. ob.S. 90.)
Es macht den wesentlichen Vorzug des Wolffischen Systems
aus, dass es an diesem Grundgedanken des Leibnizischen R a t i o ‑
n a l i s m u s festgehalten und i h n der Folgezeit rein überliefert
hat. Das eigentliche Kennzeichen für die Wirklichkeit der Dinge
und das Merkmal, das sie vom Traume unterscheidet, können
wir nicht entdecken, so lange w i r n u r ein einzelnes isoliertes
Objekt ins Auge fassen. Die „Realität“ der Erscheinung ist kein
absolutes Merkmal, das i h r anhaftet und das man von i h r ab‑
lesen könnte, sondern sie resultiert erst aus der wechselseitigen
Beziehung und O r d n u n g der Phänomene. „Da n u n der‑
gleichen Ordnung sich im Traume nicht befindet, als wo ver‑
möge der Erfahrung kein Grund anzuzeigen, warum die Dinge
bei einander sind u n d so neben einander stehen, auch ihre Ver‑
änderungen auf einander erfolgen: so erkennt m a n hieraus deut‑
lich, dass die Wahrheit v o m Traume durch die Ordnung unter‑
schieden sei. Und ist demnach die Wahrheit nichts anders, als
die Ordnung der Veränderung der D i n g e . . . We r dieses w o h l
erwäget, der wird z u r Genüge erkennen, dass ohne den Satz des
zureichenden Grundes keine Wahrheit sein kann. Ja es erhellet
ferner, dass m a n die Wahrheit erkennet, wenn man den Grund
versteht, w a r u m dieses oder jenes sein kann, das ist die Regel
der Ordnung, die in denen Dingen und ihren Veränderungen a n ‑
zutreffen.*°) Die rationale Verknüpfung der Dinge, wie sie durch.
den Satz vom Grunde bezeichnet wird, ist somit kein abgeleite‑
tes Ergebnis, sondern sie ist die fundamentale Bedingung, u n t e r
der von einem Sein der Gegenstände überhaupt erst die Rede
sein kann. Die „Objektivität“ wurzelt nicht in der Sinneswahr‑
D e r Wahrheitsbegriff bei Leibnis und Wolff. 407

neimung, sondern in den formalen Gesetzen des Denkens, die


erst den Zusammenschluss aller besonderen Phänomene zu einer
systematischen Einheit verbürgen %. Der Satz des Widerspruchs
und der Satz vom zureichenden Grunde sind der Quell der ’
„transzendentalen Wahrheit“ in den Dingen, wie der logischen
Wahrheit in unseren Aussagen. Gäbe es keine notwendigen und
unabänderlichen Zusammenhänge, denen die Objekte in ihrer
Verknüpfung unterstehen, so besässen w i r keinerlei Recht, einem
bestimmten Subjekt ein bestimmtes Prädikat als i h m wesentlich
zugehörig zuzuschreiben, ‐ so müsste jedes Urteil sich auf die
Konstatierung augenblicklich gegebener Bewusstseinszustände be- ‑
schränken, statt eine für alle Zeiten und alle denkenden Indi‑
viduen gültige Beziehung auszusprechen.) Die Möglichkeit der
W i s s e n s c h a f t wäre damit aufgehoben,®) und sofern überhaupt
eine Art „Wirklichkeit“ zurückbliebe, so wäre sie eine blosse
Schlaraffen- und Fabelwelt, in der Jegliches aus Jeglichem ent‑
stehen und zu Jeglichem werden könnte.?)
Ist somit zwischen dem Sein der Dinge und den allgemeinen
Denkgesetzen eine durchgängige harmonische Entsprechung
z u fordern, s o ist doch das R a n g v e r h ä l t n i s , das zwischen den
beiden Momenten besteht, bisher nicht völlig geklärt. Ist es unser '
Intellekt, der den Gegenständen die Norm gibt oder wird u m ‑
gekehrt in der logischen Wahrheit n u r ein für sich bestehender,
unabhängiger Sachverhalt anerkannt und “nachgeahmt? A u f
diese Frage enthält Wolffs System keine völlig eindeutige Ant‑
wort. Die logische Wahrheit wird der „transzendentalen“ unter‑
geordnet: aber die letztere selbst besitzt ihren Halt und Ursprung
im „göttlichen Verstande“, der, wie weit er immer über den
unsereren erhaben gedacht werden mag, mit i h m doch in
seinen allgemeinsten Grundregeln als wesensgleich gilt.) So ist
es zuletzt ein metaphysischer Begriff, der den Zusammenhang
zwischen dem Idealen und Realen herstellen und verbürgen muss.
Die Welt der Dinge fügt sich den Gesetzen unseres Begreifens,
weil sie selbst aus einem geistigen Prinzip herstammt. Erst in
diesem vermittelnden Gedanken gewinnt Wolffs Rationalismus
seine Universalität und seine Geschlossenheit. Wahr ist, was
aus dem B e g r i f f einer Sache als notwendig eingesehen werden
kann: denn der Urbegriff, der „conceptus primus“ eines Dinges
408 Die Kritik der Ontologie. ‐ Rüdiger u. Crusius.

ist zugleich das Vorbild, nach welchem es geschaffen und nach


welchem über seine Zulassung zur Wirklichkeit bestimmt
worden ist.)
Der Widerspruch gegen diese Gesamtkonzeption tritt inner‑
halb der deutschen Philosophie anfangs n u r an wenigen Stellen
hervor; aber er gewinnt immer mehr an Stärke und Ausbreitung.
Es ist vor allem A n d r e a s R ü d i g e r, der in seiner logischen
Hauptschrift „de sensu veri et falsi“ den Kampf aufnimmt. Der
reine Begriff kann ‐ wie er ausführt ‐ niemals die E x i s t e n z
einer Sache verbürgen; vielmehr können wir die Gewähr hierfür
lediglich dem Eindruck der Sinne entnehmen.!) Die gewöhnliche
Definition der Wahrheit: dass sie nämlich die Uebereinstimmung
unserer Gedanken m i t den D i n g e n sei, ist daher falsch u n d
irreführend; denn sie setzt voraus, dass w i r unmittelbar die
Wesenheit der Dinge besitzen und an i h r das Recht unserer
Vorstellungen messen können. Stellen w i r uns dagegen auf den
tatsächlichen Standpunkt unserer Erkenntnis, so kann die logische
Wahrheit uns nichts anderes bedeuten, als die Uebereinstimmung
unserer Begriffe m i t den sinnlichen Wahrnehmungen, die für uns
das höchste Prinzip der Gewissheit sind.!!) Auch die Methode
der Mathematik ‐ und das ist ein entscheidender Einwand,
durch den der Rationalismus in seiner Grundanschauung ge‑
troffen werden soll ‐ bietet uns keinerlei neue und spezifische
Quellen der Gewissheit dar. Die Wurzeln dieser Methode liegen
nicht, wie man fälschlich annimmt, in der Syllogistik, sondern
in der direkten sinnlichen Anschauung. Dies gilt nicht n u r v o n
ihren Grundbegriffen, die wie alle abstrakten Ideen zuletzt a u f
die Empfindung zurückgehen, sondern ‐ was hier den Ausschlag
gibt ‐ v o n ihrem eigentlichen Beweis- und Schlussverfahren.
Denn alle mathematischen Schlussweisen lassen sich zuletzt auf
den einzigen A k t des Z ä h l e n s reduzieren; dieser aber ist not‑
wendig sinnlicher Natur, da er sich auf konkrete Einzelelemente
stützt, die als solche n u r durch die Empfindung gegeben werden
können.!2) Und noch deutlicher als in der Algebra tritt dieses
sinnliche Moment in der reinen Geometrie hervor, deren ganze
Aufgabe sich darin erschöpft, die tatsächlichen Beschaffenheiten
der wahrnehmbaren Figuren, die sich wegen ihrer Mannig‑
faltigkeit a u f den ersten Blick nicht sogleich erfassen lassen, zu
Formale und materiale Kriterien des Seins. 409

sammeln und übersichtlich zu gruppieren. Wenn daher in der


Syllogistik aus e i n e m Satze deduktiv eine Foige v o n anderen
entwickelt wird, so schreitet hier die Untersuchung in entgegen‑
gesetzter Richtung fort, indem eine M e h r h e i t anschaulich gege‑
bener Tatsachen in einen einheitlichen Gesamteindruck vereinigt
und zusammengezogen wird. Ist dies aber einmal erkannt, so
ergibt sich klar, dass die Philosophie v o n der Anwendung der
mathematischen Metbode keinerlei wesentliche Fortschritte zu
gewärtigen hat. Was sie von der Mathematik zu’ lernen hat,
beschränkt sich lediglich auf die äussere Form der Darstellung
u n d Anordnung, während sie ihrem eigentlichen sachlichen Ziele
nach, wie in den Mitteln, m i t denen sie es zu erreichen strebt,
v o n i h r prinzipell abweicht.!®)
Wenn bier die Tr e n n u n g v o n philosophischer und mathe‑
matischer Methode n u r dadurch erkauft werden kann, dass die
letztere selbst ihren eigentümlichen logischen Wert einbüsst,
so erfährt bei Rüdigers Schüler und Nachfolger, bei Christian
August Crusius, das Problem eine tiefere Fassung. Der Grund‑
gegensatz zwischen den beiden Hauptrichtungen der deutschen
Philosophie t r i t t sogleich scharf und bestimmt zu Tage, wenn
Crusius gegen Leibniz und Wolff ausspricht, dass man, sobald
das Kriterium der Wahrheit unserer Erkenntnis n u r in ihrer
f o r m a l e n inneren Uebereinstimmung gesucht werde, über blossen
Beziehungen zuletzt allen materialen Gehalt des Seins verliere.
Alles „Kernichte und Positive in den ersten menschlichen Be‑
griffen“ werde durch dieses System aufgehoben und statt dessen
alles „ a u f Schrauben und relativische in einen Zirkel z u ‑
sammenlaufende Begriffe“ gesetzt. „Denn wenn das Wesen der
einen Monade darinnen besteht, dass sie sich die andere v o r ‑
stellet und das Wesen der anderen darinnen, dass sie sich die
erste vorstellet: So ist ja noch vor das Wesen keiner v o n beyden
ein absoluter Begriff angegeben. Wenn das ganze Wesen der‑
selben darinnen bestehen soll, so ist auch keiner möglich. Wo
a b e r n i c h t s absolutes i s t , d a i s t e s a u c h w i d e r s p r e c h e n d ,
etwas r e l a t i v i s c h e s z u s e t z e n . “ ! ) Der Grund- und Urbe‑
griff der E x i s t e n z lässt sich daher niemals in blosse Beziehun‑
gen auflösen, sondern er beruht auf einer schlechthin einfachen,
nicht weiter zurückfübrbaren Setzung. Statt m i t „möglichen
410 D i e K r i t i k der Ontologie. ‐ Crusius.

Begriffen“ zu beginnen und von hier aus ‐ wie Wo l ff es tut ‑


durch fortschreitende logische Determinationen das W i r k l i c h e
bestimmen zu wollen, müssen w i r vielmebr den umgekehrten
Weg einschlagen. „Es verdienet angemerket zu werden, dass,
ungeachtet in dem B e g r i f f e des Möglichen weniger ist, als in
dem B e g r i ff e des Wirklichen, dennoch der B e g r i f f des W i r ‑k
l i c h e n s o w o h l d e r N a t u r nach, a l s u n s e r e r E r k e n n t n i s
n a c h , e b e r sei, a l s d e r B e g r i f f des M ö g l i c h e n . I c h sage
erstlich, dass er d e r N a t u r n a c h eber sei. Denn wenn nichts
Wirkliches wäre: So wäre auch nichts mögliches, weil alle
Möglichkeit eines noch nicht existirenden Dinges eine Causal‑
verknüpfung zwischen einem existirenden und zwischen einem
noch nicht existirenden Dinge ist. Ferner ist auch unserer E r ‑
kenntnis nach der Begriff des Wirklichen eher, als der Begriff
des Möglichen. Denn u n s e r e ersten Begriffe s i n d e x i s t i ‑
rende D i n g e , n e m l i c h E m p fi n d u n g e n , wodurch wir erst
hernach zu dem Begriffe des Möglichen»gelangen müssen.“ Die
blosse Tatsache, dass ein Begriff sich nicht widerspricht und
somit in sich selbst formal einstimmig ist, enthält für sich allein
nicht den mindesten Hinweis auf irgend ein Dasein ausser i h m ;
vielmehr quillt die Anzeige und der Beweis des Seins aus völlig
andersartigen Voraussetzungen. „Wenn eine Substanz existiren
soll, so muss sie unmittelbar in einem i r g e n d w o und zu einer
Z e i t existiren. Wenn also die Möglichkeit einer Substanz nichts
der Existenz widersprechendes in sich haben soll: So w i r d
R a u m u n d Z e i t in dem weitesten Verstande s c h o n v o r ‑
a u s g e s e i z e t , u n d f ü r b e k a n n t a n g e n o m m e n , und e s ist e i n
Te i l v o n dem, was zur Möglichkeit einer Substanz erfordert
wird. Ferner wenn ein noch nicht existirendes Ding wahrhaftig
möglich sein soll: So w i r d in einem andern existirenden Dinge
schon etwas vorausgeseizt, wodurch es ibm, vermittelst einer
Causalität, die Wirklichkeit geben kann, und welches eben die
Kraft dazu heisset. Daher sind K r a f t , R a u m u n d Z e i t die
Teile, welche zu der vollständigen Möglichkeit eines gedachten
Dinges gehören.“15)
So fruchtbar indes diese Gedanken f ü r eine allgemeine K r i t i k
der ontologischen Methode sind, so wenig vermag Crusius das
Problem, das er aufwirft, selbst zur Lösung zu bringen. Er er‑
Begriff und Existenz. all

kennt, dass das Denken, so lange es lediglich unter der Herr‑


schaft und Leitung des Satzes des Widerspruchs steht, unfrucht‑
bar und z u r Gestaltung des Erfahrungsgegenstandes unzureichend
bleibt. Aber er besitzt kein anderes Mittel, um diese Lücke zu
füllen, als die Berufung auf die „einfache“ Sinnesempfindung.
Damit aber greift er auf eine Anschauung zurück, der durch die
psychologische Analyse bereits der Boden entzogen w a r und die
somit jetzt im Kampf gegen das rationalistische System der Er‑
kenntnis keinen festen Stützpunkt mehr zu bieten vermag. Dass
die K r a f t , die hier neben Raum und Zeit als die eigentliche
„Erfüllung der Möglichkeit“ bezeichnet wird, u n s direkt durch
die Wahrnehmung verbürgt werde: diese Behauptung stellt nach
H u m e s Untersuchungen n u r noch einen Anachronismus dar.
So muss sich hier das Problem erneuern und verschärfen. Die
naive Anschauung, dass die existierenden Dinge den A n f a n g
unserer Erkenntnis ausmachen, dass unsere ersten Empfindungen
die Gewissheit des äusseren Daseins unmittelbar in sich tragen,
ist durch die Fortschritte der psychologischen Erkenntnistheorie
selbst hinfällig geworden. Der Begriff des Gegenstandes ‑
dies ist auch hier sicher erkannt ‐ ist kein ursprünglicher und
selbstverständlicher Besitz, sondern er entsteht uns erst als Ab‑
schluss eines komplizierten Bewusstseinsprozesses, in welchem
w i r die gegebenen Impressionen formen und umdeuten. Nur
über die M i t t e l , die w i r bei dieser Deutung verwenden, nicht
über das Faktum selbst kann fortan Streit herrschen. So entsteht
nunmehr eine doppelte gedankliche Bewegung, die von verschie‑
denen Seiten her auf ein und dasselbe Ziel hinweist. Dem Ra‑
tionalismus ist die Aufgabe gestellt, seine allgemeinen Prinzipien
zu immer grösserer Bestimmitheit zu entwickeln, damit sie den
Forderungen, die der konkrete Gegenstand der Physik stellt,
immer vollkommener zu genügen vermögen, ‐ während auf
der anderen Seite in dem, was man bisher als eine einfache
Leistung der Empfindung hinzunehmen pflegte, immer schärfer
der Anteil anderer Faktoren und „Vermögen“ ans Licht gestellt
werden muss.
In der Richtung auf diese Aufgabe liegt auch Crusius’ eigene .
und positive Leistung f ü r die Erkenntnistheorie. Der eigentliche
Gegensatz zwischen der Logik der Schule und der Logik der
412 Die Kritik der Ontologie. ‐ Crusius.

empirischen Wissenschaft kam, wie w i r uns erinnern, am Problem


der D e fi n i t i o n z u m ÄAustrag. Wenn vom Standpunkt der On‑
tologie die Definition als der echte gedankliche Anfang u n d
Ansatz erschier, der aller unserer Erfahrungserkenntnis voraus‑
gehen muss, so wurde sie auf der Gegenseite n u r als die B e ‑
s c h r e i b u n g e i n e s psychologischen Faktums gefasst, i h r somit
lediglich die Bedeutung einer zufälligen „Tatsachenwahrbeit“
zuerkannt. (Vgl. ob. S. 326ff) In die allgemeine Diskussion
dieser Frage greift nunmehr Crusius ein. Es ist ‐ wie er aus‑
führt ‐ ein vergebliches Bemühen, in der Ontologie m i t der
Erklärung der einfachen Begriffe zu beginnen, um v o n hier, im
synthetischen Beweisgang, z u r Aufstellung der zusammengesetzten
Merkmale zu gelangen. Die primitiven Grundbegriffe lassen sich
nicht durch Genus und spezifische Differenz definieren, sondern
sie lassen sich n u r als ein tatsächlicher Bestand, der in alle u n ‑
sere komplexen Bewusstseinsinhalte eingeht, unmittelbar a u f ‑
zeigen und vor Augen legen. W i r gelangen zu ihnen nicht kraft
logischer Setzung, der immer der Schein der Willkür anhaften
bliebe, sondern kraft der Zerlegung gegebener Vorstellun‑
gen. „So muss m a n merken, dass die einfachsten Begriffe selbst
sich nicht anders, als durch die analytische A r t des Nachdenkens
deutlich machen lassen. Man kann bei denselben nichts weiter
thun und darf auch nichts mehr verlangen, als dass m a n die A r t
und Weise erkläre, wie m a n zu den einfachen Begriffen gelange,
das ist, wie einem, der auf alles genau Acht hat, bei der fortge‑
setzten Zergliederung der zusammengesetzten Dinge, die unsere
Sinne rühren, endlich die einfachsten Begriffe übrig bleiben.“
So ist denn auch die Gewissheit und „Deutlichkeit“, die
den Grundlagen der Ontologie zukommt, v o n völlig eigentüm‑
licher A r t und lässt sich weder m i t der „gemeinen Deutlichkeit“,
die unseren sinnlichen E m p fi n d u n g e n anhaftet, noch m i t der
Deutlichkeit, die die sonstigen abstrakt-wissenschaftlichen B e ‑
g r i f f e besitzen, auf eine Stufe stellen. Vo n der letzteren unter‑
scheidet sie sich dadurch, dass eine erschöpfende Definition, die
in der Aufzählung der verschiedenen Teile und Merkmale des
Begriffs bestünde, hier unmöglich ist, ‐ von der ersteren da‑
durch, dass ein besonderes Verfahren der A b s t r a k t i o n erfor‑
dert wird, um sich des Gehalts der ontologischen Begriffe zu
Die einfachen Begriffe u. die „Deutlichkeit des Abstraktionsweges“. 413

versichern. „Die dritte A r t v o n Deutlichkeit entstehet dadurch,


dass m a n bei der Zergliederung derer aus den Sinnen kommen‑
den zusammengesetzten Begriffen Achtung gibt, wie aus den zu‑
sammengesetztern die einfachern herauskommen, indem m a n
dasjenige, was nicht dazu gehöret, dergestalt hinweg nimmt, dass
in Gedanken nichts mehr übrig bleibt, als was dazu gehöret.
Diese Deutlichkeit kann m a n im engeren Verstande die l o g i k a ‑
l i s c h e D e u t l i c h k e i t oder die D e u t l i c h k e i t des A b s t r a k ‑
tionsweges n e n n e n . . . . Die deutliche Erkenntnis des mensch‑
lichen Verstandes endiget sich unten nothwendig in die gemeine
und oben in die logikalische Deutlichkeit. Denn w i r müssen
unsere Erkenntnis v o n den Sinnen anfangen, da w i r also auf
Begriffe kommen, die unauflöslich sind und die nicht mehr als
die gemeine Deutlichkeit haben können. Durch fortgesetztes
Nachdenken können diejenigen, die Verstand und Fleiss genug
haben, bis auf die einfachsten Begriffe durchdringen, welche
aber eben ihrer Einfachheit wegen dem Verstande nicht durch
Zergliederung ihrer selbst, sondern n u r durch Zergliederung des
Ganzen, in welchem sie angetroffen werden, können deutlich
gemacht werden. Weil demnach diese beyden extrema der
menschlichen Erkenntnis nicht so m i t sich umgehen lassen, wie
der ganze zwischen ihnen befindliche Zwischenraum so vieler
gelehrter Wissenschaften, darinnen man die Begriffe durch Zer‑
gliederung deutlich zu machen gewohnt ist: So wissen sich
manche nicht recht darein zu finden. Denn einige, wenn sie
sehen, dass sich bei den extremis der menschlichen Erkenntnis
nicht eben die Art v o n Deutlichkeit anbringen lasse, an welche
sie in den anderen Wissenschaften gewöhnt sind, klagen sogleich
über eine allgemeine Dunkelheit, welche sich zuletzt in aller
menschlichen Erkenntnis befände. Andere aber, indem sie diesem
Vo r w u r f ausweichen wollen, schmähen z i e m l i c h unbedacht‑
s a m a u f d i e Sinne. Sie wollen lauter Begriffe haben, die der
Verstand aufgelöst hat. Wenn sie an die obersten Grenzen aller
menschlichen Erkenntnis gekommen sind, so w o l l e n sie d i e
einfachen Begriffe ebenfalls d u r c h eine fernere A u f ‑
l ö s u n g d e fi n i e r e n u n d d e u t l i c h m a c h e n . Notwendig müssen
sie sich aber alsdann in einem Wirbel herumdrehen und können
nicht weiter kommen. Sie flechten und wirren eins in das
414 D i e Kritik der Ontologie. ‐ Crusius.

andere und definieren erst dieses durch jenes, und hernach jenes
durch dieses, W e i l sie die rechte Methode, einfache Begriffe
deutlich zu machen, aus der Acht lassen: so verfallen sie dabei
auf bloss relativische und negativische Begriffe, wobei sie aber
das absolute und positive aus der Acht lassen und nichts als
pure Cirkel und leere Worte übrig behalten.“ 1%)
W i r mussten diese Sätze von Crusius ausführlich wieder‑
geben, weil sie es sind, die den eigentlichen Anstoss z u r K r i t i k
der „geometrischen Methode“ des Philosophierens gegeben haben.
Innerhalb der deutschen Philosophie entsteht jetzt eine kräftige
Gegenströmung gegen das herrschende Schulsystem. Die ge‑
schichtliche Wirkung, die Crusius’ Lehre bier geübt hat, tritt
nicht n u r bei L a m b e r t und Mendelssohn, sondern v o r allem
auch in K a n t s vorkritischen Schriften deutlich hervor. Kant
selbst gedenkt, in der Kontrastierung des mathematischen und
metaphysischen Verfahrens, der „Methode dieser neuen Welt‑
weisheit“, die „ i n kurzem so berühmt geworden“ sei, und „ i n
Ansehung der besseren Aufklärung mancher Einsichten ein so
zugestandenes Verdienst“ besitze.!”) In der Tat musste Crusius’
Leistung innerhalb des engeren geschichtlichen Kreises, dem sie
angehört, als ein entscheidender Fortschritt erscheinen: war doch
hier zum ersten Male scharf hervorgehoben, dass die Philosophie
die Begriffe der Einzelwissenschaften nicht willkürlich hervor‑
zubringen, sondern n u r als ein F a k t u m aufzunehmen habe, das
es zu begründen und in seine Voraussetzungen aufzulösen gilt.
Die einfachen und fundamentalen Prinzipien können u n s nicht
anders z u m Bewusstsein kommen, als dadurch, dass w i r sie an
der empirischen Anschauung selbst als deren notwendige M o ‑
m e n t e und B e d i n g u n g e n aufweisen. Ohne diese beständige
Beziehung auf den konkreten Gegenstand der Erfahrung müsste
die philosophische Systematik der Begriffe ins Grund- und Boden‑
lose sinken. Und dennoch vermag Crusius’ eigene Lehre die
K o r r e l a t i o n zwischen Erfahrung und Denken, die sie fordert,
nicht klar und einwandfrei zu begründen. W e r n u r aufmerksam
und scharfsinnig genug wäre, der könnte ‐ wie sie betont
‐ „aus einem jedweden wirklich vorbandenen Dinge, das
unseren Sinnen vorkommt, die ganze Ontologie a b s t r a h i e r e n “ . ! 3 )
Die einfachen Begriffe „stecken“ somit in den Sinnendingen;
Das Problem der Notwendigkeit, 415

eskommt n u r darauf an, sie aus ihnen wiederum herauszuziehen


u n d zu gesondertem Bewusstsein zu bringen. Aber das eigen‑
tümliche Verfahren dieser Reduktion bleibt in Dunkel gehüllt.
Crusius gedenkt, trotz aller Hinneigung z u m Empirismus, auf
das allgemeine Ideal der Metaphysik nicht zu verzichten. Die
Metaphysik ist i h m die „Lehre von den notwendigen Vernunft‑
wahrheiten, sofern sie den zufälligen entgegengesetzt werden“;
sie w i l l somit ‐ wie im Anklang an die Leibnizische Spekulation
ausgesprochen wird ‐ n u r solche Sätze enthalten, die bei Setzung
einer jedweden We l t statt haben müssen. So ist sie es, die für
die Kenntnisse, die wir in den übrigen Wissenschaften n u r a
posteriori erfassen, „die Gründe der Möglichkeit oder Nothwendig‑
keit a priori* aufweist, wodurch die Erkenntnis derselben deut‑
licher und vollständiger wird.19) W i e aber gelangen w i r zu der‑
artigenGrundwahrheiten von allgemeiner und notwendigerGeltung,
da w i r doch die Begriffe niemals für sich und losgelöst be‑
sitzen, sondern sie immer n u r im konkreten Einzelbeispiel an‑
schauen können? W i r d nicht ‐ da wir keinen andern Ausgangs‑
und Stützpunkt haben sollen, als die Empfindung ‐ unser Wissen
dadurch zu einem Inbegriff zufälliger Einzelsätze, die n u r f ü r
diesen oder jenen bestimmten Zeitpunkt und unter diesen und
jenen individuellen Umständen gültig sind? A u f diese Fragen
findet Crusius’ Philosophie keine endgültige Antwort: der viel‑
deutige Ausdruck der „Abstraktion“, den sie gebraucht, bezeichnet
mehr die Schwierigkeit, als dass er sie z u r Lösung brächte. ‑
Erwägt m a n diese Schranke, so tritt der Fortschritt, den
L a m b e r t s Lehre vollzieht, erst in die rechte geschichtliche Be‑
leuchtung. L a m b e r t n i m m t in der Ta t das Problem genau an
demjenigen Punkte auf, an dem C r u s i u s es verlassen hatte. Er
selbst übernimmt von Crusius die allgemeinen Einwände, die
dieser gegen Wolfis Methode gerichtet hatte: wie er i h n denn,
neben Darjes, als einen der vorzüglichsten Erneuerer der Onto‑
logie n e n n t . ) Die Entwicklung der einfachen Begriffe und ihre
Verknüpfung zu immer neuen zusammengesetzten Bildungen führt
uns, so fruchtbar und notwendig sie ist, doch über den Bereich des
bloss „Gedenkbaren“ und Möglichen nirgends hinaus. „Von der
F o r m allein ‐ so schreibt Lambert an Kant ‐ kommt m a n zu
keiner Materie, und m a n bleibt im Idealen und in blossen
416 Die Kritik der Ontologie. -‐ Lambert.

Terminologien stecken, wenn m a n sich nicht um das Erste u n d


f ü r sich Gedenkbare der Materie oder des o b j e k t i v e n Stoffes
der Erkenntnis umsiehet.“?:) Bisher freilich ist man in der
Grundlehre anders verfahren: „denn indem m a n von der Realität,
wegen der Besorgnis des Scheines abstrahierte und anstatt v o n
der Sache selbst hergenommenene Axiomata zu gebrauchen, sich
n u r an Prinzipia hielt, die nicht den Stoff, sondern n u r die
Form der Erkenntnis betrafen, so b l i e b e n h ö c h s t e n s n u r
Ve r h ä l t n i s b e g r i f f e D a s i c h aber a u s blossen Ve r h ä l t ‑
n i s s e n k e i n e Sache b e s t i m m e n lässt, so war die Schwierig‑
keit immer noch ganz da, wie m a n nach der in der Ontologie
angenommenen O r d n u n g zum Realen kommen könnte.“&) D i e
blosse G e s e t z l i c h k e i t d e r Ve r k n ü p f u n g , auf die Leibniz u n d
W o l f f sich berufen hatten, vermag diesem Problem nicht zu ge‑
nügen. „ I n der Metaphysik hat m a n die metaphysische Wahr‑
heit durch die Ordnung, die in den Dingen und ihren Teilen ist,
definiert. Man sah nämlich, dass das l o g i s c h W a h r e von dem
I r r i g e n und Falschen, das metaphysisch Wa h r e aber von
dem Tr a u m e müsse unterschieden werden. Diesen letztern Unter‑
schied fand man n u n fürnehmlich darin, dass das Geträumte
weder unter sich, noch mit dem, was w i r wachend erfahren, den‑
jenigen Zusammenhang habe, den es haben würde, wenn es ein
Stück der wirklichen Welt w ä r e . . . So hat m a n in dieser durch‑
gängigen Ordnung das Wesentliche der metaphysischen Wahr‑
heit gesucht, und diese durch die Ordnung in den Dingen de‑
finiert. S i e w i r d a b e r d a d u r c h v o n der l o g i s c h e n W a h r ‑
h e i t n o c h n i c h t unterschieden, w e i l l e t z t e r e e b e n f a l l s
e i n e complete Harmonie, G e d e n k b a r k e i t u n d d u r c h g ä n ‑
gigen G r u n d u n d Z u s a m m e n h a n g h a t . Was w i r wachend
sehen, empfinden, gedenken und vorstellen, lässt sich m i t allem
seinem Zusammenhange als gedenkbar ansehen, wenn auch
nichts v o n demselben existitee Demnach macht dieser Zu‑
sammenhang den Beweis, dass es existiren könne, noch nicht
vollständig, ungeachtet allerdings o h n e einen solchen Zusammen‑
hang die Existenz oder das existiren können nicht angeht.“
Die Widerspruchslosigkeit und innere Uebereinstimmung
ist somit n u r die negative Bedingung des Seins, während die
positive „ i n dem Soliden und in den Kräften zu suchen ist“. Erst
Wirklichkeit und „Gedenkbar k e i t “ . 417

in ihnen wird wahrhaft ein „reales kategorisches Etwas“, w i r d so‑


m i t das Fundament f ü r alle Aussagen und Urteile über Existenz ge‑
setzt.2) Kräfte aber lassen sich nicht rein logisch ersinnen und ab‑
leiten, sondern w i r sind zu ihrer Feststellung lediglich auf das u n ‑
mittelbare ‐ „Gefühl“ verwiesen.2) So bleibt alle Bestimmung der
Existenz zuletzt der E r f a h r u n g eigen;?) während jeder Versuch,
dasjenige, was w i r unter der W i r k l i c h k e i t eines Inhalts verstehen
auf abstrakt begriffliche Merkmale zurückzuführen, notwendig
fehischlägt. Wenn Lambert bis hierher Crusius bis ins Einzelne
gefolgt ist, so sieht er sich indessen nunmehr v o r eine neue und
tiefere Fragegestellt. Das Problem der Existenz ist der E r f a h r u n g
z u r Lösung und Entscheidung übergeben; aber dieser Begriff
fordert nunmehr selbst eine schärfere Fassung. Besagt die Er‑
fahrung nicht mehr als eine Summe sinnlicher Beobachtungen,
oder wirken auch in i h r allgemeine gedankliche Gesichtspunkte
und Maximen mit? So streng daran festzuhalten ist, dass ledig‑
l i c h die sinnliche Wahrnehmung uns die Kenntnis des Soliden
und der Kräfte verschaffen kann und dass sie somit für die Be‑
gründung der Realität die erste und unentbehrliche Instanz
darstellt: so fragt sich doch weiterhin, ob all unser Wissen von
den Beziehungen und Ve r b ä l t n i s s e n der Kräfte rein auf
empirischer Grundlage ruht. Die Dynamik als Wissenschaft
setzt sowohl die Geometrie, wie die reine Phoronomie, sie setzt
somit zwei Grunddisziplinen voraus, in denen es sich n u r um
die Entwicklung „idealer“ Möglichkeiten handelt, v o n jeder
Existenz dagegen prinzipiell abgesehen wird. So stellt die E r ‑
kenntnis der Wirklichkeit ein eigentümliches Ineinandergreifen
„apriorischer“ und ‚„aposteriorischer“ Bestandteile dar, die es zu‑
nächst zu sondern und in ihrem gegenseitigen Verhältnis zu be‑
greifen gilt.
Um die e i n f a c h e n Begriffe, die den Grundstock a l l unseres
Wissens ausmachen, aufzuhellen, ist uns kein anderes Mittel ge‑
lassen, als sie wirklich zu „ g e b e n “ , d. h. als den Weg aufzu‑
zeigen, auf dem das Subjekt sie sich zu erwerben und zu deut‑
lichem Bewusstsein zu bringen vermag. L o c k e hat f ü r diese
A r t der Erkenntnis die vorbildliche Methode geschaffen, indem
er ‐ obne sich um die Definition der einzelnen Grundbegriffe
weiter zu bemühen ‐ einfach n u r die A r t der Empfindungen
7
418 Die K r i t i k der Ontologie. ‐ Lambert.

anzeigt, wodurch w i r zu diesen Begriffen gelangen.) „ E r ahmete


den Zergliederern des menschlichen Leibes auch in der Zer‑
gliederung der Begriffe nach. Er nahm unsere Erkenntnis, so
wie sie ist, v o r sich, trennete darin das Abstrakte und eben daher
bloss Symbolische von dem, was wirklich Begriff und klare Vor‑
stellung heisst u n d beobachtete, welchen Sinnen und Empfindungen
w i r jede Arten von Begriffen zu danken haben und welche aus
vermischten Empfindungen entstehen? Die Einfachen sonderte
er von den übrigen aus und brachte sie in gewisse Klassen. Diese
einfachen Begriffe setzete er dergestalt z u r Grundlage jeder mensch‑
lichen Begriffe und Erkenntniss, dass, was nicht in dieselben
aufgelöst werden kann, aus unserer Erkenntniss nothwendig weg‑
bleibet.“?), Gibt es somit keinen anderen Weg, um z u r Tafel der
Grundbegriffe zu gelangen, als dieses Verfahren der e m p i r i s c h e n
Auslese, kraft dessen w i r „die menschlichen Begriffe sämtlich
durch die Musterung gehen lassen“, so nimmt die Methode der
Erkenntnis, nachdem e i n m a l diese B e g r i ff e g e w o n n e n u n d
festgestellt s i n d , eine andere Wendung. Denn nunmehr
können wir, ohne uns weiterhin irgendwie auf die Erfahrung
berufen zu müssen, aus der Betrachtung dieser Begriffe selbst
Folgerungen zieben und Bestimmungen ableiten, die m i t ihnen
notwendig verknüpft sind. So mag z. B. der Begriff der Aus‑
dehnung immerhin aus den Sinnen stammen: der Geometer
entwickelt nichtsdestoweniger, indem er ihn, ohne seiner Ent‑
stehungsweise weiter nachzufragen, als gegeben hinnimmt, aus
i h m Sätze, denen unverbrüchliche und unabänderliche Wahrheit
zukommt und die somit im strengen Sinne als „a priori“ zu be‑
zeichnen sind. Denn diese Bezeichnung betrifft nicht die A r t
und den Ursprung der einzelnen Vorstellung, die als S u b j e k t
in das Urteil eingeht, sondern lediglich den Geltungscharakter
des U r t e i l s selbst. Eine Aussage besitzt apriorische Gültigkeit,
w e n n sie u n s aus der erstmaligen Betrachtung des beurteilten
Gegenstandes und seiner Beschaffenheit unmittelbar und zwingend
einzuleuchten vermag, wenn w i r es also zu ihrer Begründung
auf die Induktion, d. h. auf die Wiederholung gleichartiger U m ‑
stände „gar nicht ankommen zu lassen brauchen“. 82) Wahr‑
heiten dieser Art aber sind keineswegs ‐ wie m a n häufig fälsch‑
l i c h angenommen hat ‐ auf das Gebiet der mathematischen
D i e „einfachen Möglichkeiten“ und ihre Verknüpfung. 419

Disziplinen im herkömmlichen Sinne, also auf die Geometrie und


Arithmetik, beschränkt: sondern jede einfache Vorstellung, wie
immer sie beschaffen sein mag, k a r n z u m Fundament apriorischer
Sätze dienen, sofern w i r lediglich dasjenige, was direkt in i h r
selbst liegt und mit i h r gesetzt ist, fortschreitend entwickeln.
Denn i n jeder M a n n i g f a l t i g k e i t ‐ auch wenn ibre Elemente,
wie es etwa bei den Farben und Tönen der Fall ist, n u r sinnlich
bestimmt sind, ‐ lassen sich doch gewisse allgemeine B e z i e h ‑
u n g e n und Ve r k n ü p f u n g e n feststellen, die sich rein aus der
Betrachtung und Vergleichung der Inhalte selbst ergeben. Was
Lambert hier vorschwebt, das lässt sich am besten etwa an dem
modernen Beispiel der „Farbengeometrie“ erläutern und deutlich
machen. Und an diesem Punkte gilt esnunmehr.Locke zu er‑
gänzen, der die einfachen Begriffe, nachdem er sie einmal ausge‑
sondert hatte, unberührt und ungenutzt liegen liess, statt sie in die
Folgerungen zu entfalten, die sich deduktiv aus ihnen gewinnen
lassen. „Locke blieb bei seiner Anatomie der Begriffe fast ganz
stehen und gebrauchte sie wenigstens nicht, so weit es möglich
gewesen wäre. Es scheint ihm an der Methode, oder wenigstens
an dem Einfalle gefehlet zu haben, das, was die Messkünstler
in Absicht a u f den Raum getan hatten, in A b s i c h t a u f
d i e ü b r i g e n einfachen ebenfalls zu versuchen.“®) Das
echte Verfahren der Philosophie liegt daher zwischen dem Ver‑
fahren L o c k e s und demjenigen W o l f f s mitten inne: w e n n w i r
jenem i n der F e s t s t e l l u n g der einfachen Elemente folgen
dürfen, so können w i r v o n diesem die strenge logische Methode
lernen, kraft deren erst der notwendige Z u s a m m e n h a n g zwischen
ihnen hergestellt werden kann. „Es ist nicht genug, einfache
Begriffe ausgelesen zu haben, sondern w i r müssen auch sehen,
woher w i r in Ansehung ibrer Zusammensetzung a l l g e m e i n e
M ö g l i c h k e i t e n aufbringen,“®) d . h . wie w i r aus der selbsttätigen
Verknüpfung der primitiven, für sich „gedenkbaren“ Begriffe
universelle Regeln und Wahrheiten gestalten können.
Lamberts eigenartige Problemstellung ist damit in den all‑
gemeinen Hauptzügen festgestellt. Was ihre schärfere historische
Charakteristik, sowie den Einblick in die M o t i v e , die i h r zu
Grunde liegen, erschwert, ist der Umstand, dass sie in ihrer
näheren geschichtlichen Umgebung keinerlei Analogon besitzt,
rt
420 D i e K r i t i k der Ontologie. ‐ Lambert.

m i t dem m a n sie zusammenstellen könnte. Wenn m a n bisher


fast allgemein gewohnt war, Lambert als einen unmittelbaren
Vorgänger K a n t s zu betrachten und zu beurteilen, so hat eine
tiefere Untersuchung seiner Lehre neuerdings diese Anschauung
berichtigt. So nahe er in einzelnen Punkten dem W o r t l a u t
der kritischen Lehre kommt, so bleibt er dennoch ihrer eigent‑
lichen Tendenz und Grundabsicht fremd. Die „objektiv einfachen
Begriffe“, um deren Feststellung er sich bemüht, decken sich
in keiner Weise m i t den Kategorien Kants: denn wenn letztere
die allgemeinen f o r m a l e n Regeln sind, die unsere wissenschaft‑
liche Erfahrung erzeugen und gestalten, so bilden jene den
materialen Grundstoff des Wissens, den w i r unmittelbar aus der
Empfindung oder Anschauung e n t n e h m e n ) So können bei
Lambert die Farben- und Geschmacksqualitäten unter die „ein‑
fachen* Begriffe gerechnet und in dieser Hinsicht m i t Aus‑
debnung und Dauer auf eine Stufe gesetzt werden.#) Dennoch
ist es irrig, die Erfahrungslehre Lamberts lediglich als eine
eklektische Mischung aus Bestandteilen des Lockeschen und
Wolffischen Systems zu betrachten; vielmehr ist es ein eigentüm‑
licher und neuer Gesichtspunkt, den sie in die Entwicklung des
Erkenntnisproblems einführt. Das wesentliche Interesse Lamberts
ist weder der Psychologie, noch der Erkenntniskritik zugewandt,
sondern es liegt in der Richtung auf dasjenige, was m a n in
neuester Zeit als „Gegenstandstheorie“ zu bezeichnen u n d
abzugrenzen versucht hat. W i r können Inhalte, ohne ihrem
psychologischen Ursprung nachzuforschen und ohne danach zu
fragen, ob ihnen irgend eine reale E x i s t e n z entspricht, lediglich
in ihrem unmittelbaren Bestande auffassen, um an ihnen bestimmte
allgemeingültige Relationen zu entdecken und damit dasjenige
was an ihnen a priori und ohne Rücksicht auf die induktive
Sammlung der Einzelfälle erkennbar ist, gleichsam „herauszu‑
präparieren“.®8) Indem w i r irgend eine einfache Vorstellung
erfassen, ist u n s zugleich m i t i h r ein reicher Inhalt notwendiger
Sätze und Wahrheiten implicit mitgegeben. Wenn wir, um u n s
den Inhalt der Vorstellung selbst z u m Bewusstsein zu bringen,
auf die Vermittlung der Erfahrung angewiesen waren, so kann
dennoch das Urteil, das w i r an diese Vorstellung anknüpfen,
jeglichen weiteren Rekurs auf sie entbehren. „Denn da sich die
D e r Gesichtspunkt der „Gegenstandstheorie‘. 421

Möglichkeit eines Grundbegriffes zugleich m i t der Vorstellung


aufdringt, so wird er v o n der Erfahrung dadurch ganz unab‑
hängig, sodass, wenn w i r i h n auch schon der Erfahrung zu
danken haben, diese uns gleichsam n u r d e n Anlass zu d e m
Bewusstsein desselben g i b t . Sind w i r uns aber einmal des‑
selben bewusst, so haben w i r nicht nötig, den Grund seiner
Möglichkeit von der Erfahrung herzuholen, weil die Möglichkeit
m i t der blossen Vorstellung schon da ist. Endlich, w e n n u n s
die Grundlage der Möglichkeit der Zusammensetzung bekannt ist,
so sind w i r auch imstande, aus diesen einfachen Begriffen
zusammengesetzte zu bilden, ohne sie von der Erfahrung herzu‑
holen. Demnach wird unsere Erkenntnis auch hierin im strengen
Verstande a priori.“%)
Die Schwierigkeiten i n der Ve r h ä l t n i s b e s t i m m u n g des
a priori und a posteriori aber sind auch jetzt noch nicht behoben.
W i r stehen vor zwei verschiedenen und, wie es scheint, völlig
heterogenen Weisen der Erkenntnis: wir besitzen eine Klasse
von Urteilen, die auf jede Setzung von Existenz verzichten, die
damit aber eine um so höhere Gewissheit und Notwendigkeit
erlangen; während auf der andern Seite Aussagen über die
wirkliche Beschaffenheit der Dinge stehen, die indessen stets
bloss empirische und zufällige Geltung beanspruchen können.
Und dennoch kann dieser Gegensatz kein ausschliessender sein
sollen: denn wäre er es, so wäre damit jede Möglichkeit einer
T h e o r i e der Natur aufgehoben. Unsere wissenschaftliche E r ‑
kenntnis der Natur steht genau an demjenigen Punkte, an dem
die beiden Arten des Urteils, die v o n verschiedenen Centren
ihren Ausgang nehmen, sich begegnen und einander berühren.
Eine reine Theorie des „Gedenkbaren* muss jeder Feststellung
und Sammlung v o n Tatsachen z u r Leitung und Richtschnur dienen.
W i r können die E r f a h r u n g nicht verstehen und beherrschen,
wenn w i r nicht zuvor das „ R e i c h d e r W a h r h e i t “ entwickelt
haben, das sich aus der systematischen Verknüpfung der ein‑
fachen Begriffe ergibt. „ W i r betrachten demnach hier“ ‐ so
formuliert Lambert die Aufgabe seiner „Alethiologie* ‐.,‚das ganze
System aller B e g r i f f e , Sätze und Verhältnisse, die n u r
immer möglich sind, als bereits in seiner Verbindung und Zu‑
sammenhange, und sehen das, so w i r etwann bereits davon wissen,
4422
22 Die Kritik der
Die Kritik der Ontologie.
Ontologie. ‐- - Lambert.
Lambert.

als Teile und


als Teile Stücke dieses Systems an,
einzelne Stücke
und einzelne an, weil weil w i r auf
wir
diese Art,
diese Art, so so oftoft w i r neue
wir Stücke finden
neue Stücke finden undund m miti t d dene n bereits
bereits
gefundenen zusammenhängen wollen,
gefundenen zusammenhängen wollen, den den Grundriss des gesamten gesamten
Gebäudes vor
Gebäudes v o r Augen
Augen habenhaben und und jedejede einzelne Stücke darnach
einzelne Stücke darnach
prüfen können. 85) Schon
prüfen können.“3) Schon die Konstatierung einer einfachen
die Konstatierung einfachen
Tatsachenwahrheit kann
Tatsachenwahrheit somit nicht
kann somit nicht in der der Art gedacht werden,
Art gedacht werden,
damit dem
dass damit
dass dem vorhandenen Wissensschatze ein
vorhandenen Wissensschatze neues Ergebnis
ein neues Ergebnis
lediglich
lediglich von aussen her
von aussen her zuwächst;
zuwächst; vielmehrvielmehr isti s tjeglicher
j e g l i c h e rWissens‑
Wissens-
ee r w eerr bb bereits durch die
bereits durch inneren Bedingungen
die inneren Bedingungen des des allgemeinen
allgemeinen
Systems des
Systems Wissens und
des Wissens und durch
durch seineseine deduktive
deduktive Gliederung
Gliederung mit‑ mit-
bedingt. W
bedingt. Wir dürfen die
i r dürfen die komplexen
komplexen BegriffeBegriffe weder willkürlichwillkürlich
ersinnen, noch
ersinnen, können w
noch können wiri r sie etwa unmittelbar
sie etwa unmittelbar der der Beobachtung
Beobachtung
entnehmen: sondern
entnehmen: sondern w i r müssen
wir sie synthetisch
m ü s s e n sie synthetisch aus i h r e n Grund‑
aus ihren Grund-
elementen
elementen hervorgehen lassen. Nur diejenigen Begriffe, die w
hervorgehen lassen. Nur diejenigen Begriffe, die ir
wir
auf diese
auf diese WeiseWeise in stetigem
stetigem Fortgang
Fortgang erzeugterzeugt haben
haben und und derenderen
innerer Widerspruchslosigkeit w
innerer Widerspruchslosigkeit uns hierbei
i r uns
wir bewusst geworden
hierbei bewusst geworden
sind, dürfen
sind, dürfen w i r zur Anknüpfung wissenschaftlicher Sätze
wir Sätze und und
Urteile brauchen.
Urteile brauchen. Die zusammengesetzten Begriffe
Die zusammengesetzten Begriffe kommen kommen
somit „„im
somit i m Reiche
Reiche der Wahrheit als P r ä d i k a t ee vor,
der Wahrheit vor, ehe ehe sie
sie als
als
Subjekte vorkommen,
Subjekte vorkommen, sofern nämlich „die
sofern nämlich Möglichkeit der Zu‑
„die Möglichkeit Zu-
sammensetzung eines
sammensetzung Begriffes, ehe
eines Begriffes, ehe derselbe Subjekt vorkömmt,
als Subjekt
derselbe als vorkömmt,
bereits schon
bereits schon erwiesen
erwiesen sein sein muss.“®)
muss. 486)
Von den
Von den Einteilungen.
Einteilungen, der Dinge Arten und
Dinge in Arten und Gattungen,
Gattungen,
wie sie
wie sie diedie schulmässige
schulmässige Ontologie vornimmt, aber ist
Ontologie vornimmt, ist dieser
streng gesetzliche Aufbau
streng gesetzliche Aufbau aus den „einfachen
aus den „einfachen und und unbedingten
unbedingten
Möglichkeiten“,
Möglichkeiten", durch durch einen charakteristischen Unterschied
einen charakteristischen Unterschied ge‑ ge-
r e n n t . Wenn
ttrennt. Wenn m mana n dort durch Weglassen
dort durch We g l a s s e n der individuellen
individuellen
Merkmale der Dinge
Merkmale Dinge zu i m m e r abstrakteren,
zu immer abstrakteren, dadurch
dadurch aber auch auch
inhaltsärmeren Klassen
zu immer inhaltsärmeren Klassen aufsteigt, so geht man
zu immer aufsteigt, so geht m a n hier von
von
einem einfachen Falle
einem einfachen Falle aus und aus u n d fügt sodann, indem m a n fortschrei‑
sodann, indem man fortschrei-
tend
tend immer weitere und
immer weitere und kompliziertere Bedingungen in den
kompliziertere Bedingungen den
Kreis Betrachtung zieht,
seiner Betrachtung
Kreis seiner dem anfänglichen
zieht, dem anfänglichen Begriffe
Begriffe ii m m m ee rr
n eue B
neue estimmungsstücke h
Bestimmungsstücke i n z u . Die
hinzu. allgemeinen Formeln,
Die allgemeinen Formeln,
zu denen m
zu denen man
a n auf diese Weise
auf diese gelangt, werden
Weise gelangt, freilich immer
werden freilich immer
zusammmengesetzter,
zusammengesetzter, aber aber sie
sie besitzen
besitzen den
den Vorzug,
Vorzug, das Besondere
Besondere
nicht vvon
nicht o n sich auszuschliessen, sondern
sich auszuschliessen, sondern es unmittelbar in sich
es unmittelbar sich
zu bergen,
zu bergen, so so dass
dass m a n es
man es aus ihnen jederzeit
aus ihnen jederzeit wieder zurückge‑
zurückge-
winnen
w i n n e n undu n d ablesen k a n n . Die
a b l e s e n kann. Mathematik kann,
Die Mathematik kann, „wie
„wie in allem,
allem,
D i e mathematische und die $hilosophische Abstraktion. 423

was Methode heisst, so auch hierin den Philosophen m i t einem


guten Beispiele vorangehen.... Die Mathematiker suchen näm‑
lich allerdings auch ihre Begriffe, Sätze und Aufgaben allgemei‑
ner zu machen, allein dies geschieht nicht so, dass sie im Ab‑
strahieren bald alles wegliessen, sondern sie nehmen ehender
noch mehr Umstände d a z u . . . Hingegen wird bei dem philo‑
sophischen Abstrahieren von den specialen Begriffen desto mehr
ganz weggelassen, je abstrakter oder je allgemeiner m a n sie
machet. Und dieser Weg ist dem erstbeschriebenen so entgegen‑
gesetzt, dass die Mathematiker ihre Begriffe und Formein m i t
vieler Mühe und Sorgfalt allgemeiner machen, um die speciale‑
ren nicht n u r alle zu haben, sondern sie leicht daraus herleiten
zu können; den Philosophen hingegen das Abstrahieren sehr
leicht, dagegen aber die Bestimmung des Specialen aus dem
Allgemeinen desto schwerer wird. Denn bei dem Abstrahieren
lassen sie alles Speciale dergestalt weg, dass sie es nachher bald
nicht mehr wieder finden und noch weniger die Abwechselungen,
die es leidet, genau abzählen können.“3?) Kraft der angegebenen
Methode der Verknüpfung und Komplexion des Einfachen werden
n u n zunächst drei ideale Grundwissenschaften erschaffen, in
denen wir es m i t nichts anderem, als mit der Entwicklung u n ‑
serer eigenen Vorstellungen zu tun haben und die insofern ein
„Werk des reinen Verstandes“ sind.$) Die idealen Begriffe des
Raumes und der Zeit werden zur Grundlage f ü r die streng
apriorischen Disziplinen der Geometrie, der C h r o n o m e t r i e
und der P h o r o n o m i e . Die Geometrie fordert keine andere
Möglichkeit, als die einer geraden Linie und ihrer Lage um
einen Punkt herum, um sogleich Winkel, Zirkel und Sphären
zu konstruieren; ‐ die Chronometrie fordert nichts, als den ein‑
förmigen L a u f der Zeit, um damit ihre Zyklen und Perioden zu
errichten; die Phoronomie endlich nimmt Raum und Zeit zu‑
sammen, um auf ihnen die allgemeine Theorie der Bewegung,
Geschwindigkeit und Translation bewegter Punkte aufzubauen.®)
Ist dies geschehen, so besitzen w i r den festen Maassstab, m i t dem
w i r nunmehr an die physikalische und astronomische E r f a h r u n g
herantreten. Findet essich, dass irgend ein Inhalt der Beobachtung
m i t einer der zuvor betrachteten Möglichkeiten, die „ i m Reich der
Wahrheit“ ihre festumschriebene Stelle besitzt, zusammenfrifft:
424 D i e K r i t i k der Ontologie. ‐ Lambert.

s o haben w i r jetzt und erst jetzt das Recht, v o n einer Ta t s a c h e


im Sinne der Wissenschaft zu sprechen. Der Satz, dass die B e ‑
stimmung der Existenz der Erfahrung eigen sei, bat sich jetzt
geklärt: das Sein wird nicht schlechthin durch die einzelne sinn‑
liche Empfindung, sondern durch i h r e Uebereinstimmung m i t
den allgemeinen und idealen Vernunftsätzen bestimmt und be‑
gründet. Freilich bildet die vollständige Deckung zwischen dem
Bereich der beobachteten Tatsachen und dem der a priori e r ‑
wiesenen Regeln ein I d e a l , das auf keiner Stufe der Betrachtung
als gänzlich erfüllt anzusehen ist. Zwischen beiden Arten der
Erkenntnis bleibt schliesslich immer ein A b s t a n d bestehen, „den
w i r durch kein bekanntes Maass ausdrücken oder u n s vorstellen
können, ungeachtet es uns in vielen Fällen möglich bleibt, beide
durch schlüssige Ketten von mehr oder minder Gliedern zusam‑
menzuhängen.‘“ #)
M i t so ausgezeichneter Klarheit indessen Lambert hier den
Doppelweg der theoretischen Naturwissenschaft, an deren Ent‑
wicklung er selbst produktiven Anteil hat, beschreibt, so bleibt
doch vom philosophischen Standpunkt aus noch die entschei‑
dende Hauptfrage zurück. . Ist diese Harmonie zwischen Erfah‑
rung und Begriff, die für alle gültigen Urteile über die Wirk‑
lichkeit der Dinge erfordert wird, lediglich einem glücklichen
Zufalle zu danken, oder besitzen w i r für sie eine objektiv not‑
wendige Gewähr? Gibt es eine zwingende Erklärung dafür, dass
die beiden verschiedenen Wege, die völlig unabhängig neben
einander herlaufen, sich zuletzt in einem Punkte schneiden und
zu e i n e m Ergebnis vereinen? Die Lösung, die Lambert diesem
Problem gibt, verharrt schliesslich dennoch in dem gewohnten
Gleis der Ontologie. Die idealen Möglichkeiten würden haltlos
bleiben, w e n n sie nicht in einer höchsten absoluten Wirklich‑
keit ihre Stütze fänden. Die blosse „Gedenkbarkeit“ ist nichts,
w e n n nicht die metapbysische Wahrheit dazu kommt, d. h.
wenn nicht ein denkendes Wesen existiert, welches alles Gedenk‑
bare wirklich denkt. „Das Reich der logischen Wahrheit wäre
obne die metaphysische Wahrheit, die in den Dingen’ selbst ist,
ein leerer Traum und ohne ein existierendes S u p p o s i t u m i n ‑
t e l l i g e n s würde e s auch nicht einmal ein Traum, sondern
vollends gar nichts s e i n . . . Demnach zieht der Satz, dass es
D
Logische und metaphysische Wahrheit. 425

nothwendige, ewige unveränderliche Wahrheiten gebe, die Folge


nach sich, dass ein ewiges unveränderliches Suppositum intelligens
sein müsse, und dass der Gegenstand dieser Wahrheiten, das
w i l l sagen, das Solide und die Kräfte eine nothwendige Möglich‑
k e i t zu existieren haben.*41) In diesem Oxymoron der „notwen‑
digen Möglichkeit“ endet Lamberts Erfahrungstheorie. „Es sind
Wahrheiten, weil ein Gott ist, u n d hinwiederum: es ist ein Gott,
weil Wahrbeiten sind.“*) An dieser Modifikation des ontologi‑
schen Beweisgrundes hält Lambert und m i t i h m sein gesamtes
Zeitalter unbeirrt fest. Um sich von der typischen Bedeutung
und von der Ausbreitung dieser Grundanschauung zu überzeugen,
muss m a n Lambert hier m i t Mendelssohn vergleichen. Auch
dieser geht davon aus, die Grenze zwischen dem abstrakten Be‑
griff und der empirischen Wirklichkeit schärfer zu ziehen. Das
Problem der Existenz bildet die strenge Scheidewand zwischen
Mathematik und Metaphysik. „ I n dem ganzen Umfange der Ma‑
thematik findet sich kein Beispiel, dass man aus bloss möglichen
Begriffen auf die Wirklichkeit ihres Gegenstandes sollte schliessen
können. Die Natur der Quantität, als des Gegenstandes der Ma‑
thematik, widerspricht einem solchen Schlusse. Unsere Begriffe
von der Quantität stehen m i t anderen B e g r i f f e n , aber m i t
keinen W i r k l i c h k e i t e n i n einer notwendigen Verbindung.“
Eben dieser Uebergang aber, der der Mathematik f ü r immer ver‑
sagt bleibt, bildet das eigentliche Vorrecht der Metaphysik.
Während w i r f ü r die Existenz der endlichen Einzeldinge niemals
ein anderes Zeugnis, als das der sinnlichen Wahrnehmung an‑
führen können, hat dort, wo v o n der Möglichkeit des unend‑
lichen Wesens die Rede ist, der „Schluss v o n der Möglichkeit auf
die Wirklichkeit“ sein völliges und unbestreitbares Recht.#) An
dieser inneren Inkonsequenz scheitert die Kritik des ontologischen
Schulsystems, so energisch sie anfangs eingesetzt hatte: denn es
ist ein Widerspruch, dem reinen Denken die unmittelbare Er‑
fassung des höchsten absoluten Seins zuzugestehen und seine
Leistung für die konkreten Naturgegenstände beschränken zu
wollen.
1.
In einer neuen allgemeineren Fassung t r i t t u n s der Gegen‑
satz, den w i r bisher verfolgt haben, entgegen, wenn wir das
426 Der Sats des Widerspruchs u. der Salz vom sureichenden Grunde.

Verhältnis der beiden ontologischen Grundprinzipien ins Auge


fassen. Wenn bei Wo l ff anfangs der Satz des Widerspruchs
und der Satz v o m G r u n d e als selbständige Wahrheiten einander
gegenüberstehen, so drängt doch die monistische Tendenz seines
Systems immer stärker auf eine Aufhebung dieser fundamentalen
Unterscheidung. Erst wenn es gelungen ist, das Prinzip der
Ta t s a c h e n w a h r h e i t e n aus dem höchsten konstitutiven Grund‑
satz des Denkens überhaupt abzuleiten, scheint das Ziel des
Rationalismus erreicht. Soll der Satz v o m Grunde sich wahrhaft
als notwendige Vernunftwahrheit behaupten, so muss sich zeigen
lassen, dass seine Aufhebung einen W i d e r s p r u c h einschliessen
würde. Wo l ff unternimmt es, diesen Beweis in syllogistischer
Strenge zu führen. „ W o etwas vorhanden ist, woraus m a n be‑
greifen kann, w a r u m es ist, das hat einen zureichenden Grund.
Derowegen wo keiner vorhanden ist, da ist n i c h t s , woraus man
begreiffen kann, warum etwas ist, nemlich warum es wirklich
werden kann, und also muss esaus nichts entstehen... Da n u n
a b e r u n m ö g l i c h i s t , dass aus n i c h t s etwas werden k a n n ,
so m u s s auch alles, was i s t , seinen zureichenden G r u n d
haben, w a r u m es i s t , das ist, es muss allezeit etwas sein,
daraus man verstehen kann, warum es wirklich werden kann.“4:)
Bedürfte es eines geschichtlichen Beweises dafür, wie wenig die
streng formale Schulung imstande ist, vor den gröbsten Fehl‑
schlüssen zu bewahren, sobald es sich um die Ableitung v o n
Wahrheiten handelt, die im Voraus, aus materialen Gründen,
als feststehend angesehen werden: so wäre er hier erbracht. Die
petitio principii, die in Wolffs Argumentation begangen wird,
liegt deutlich zu Tage: sie konnte später H u m e z u m Muster‑
beispiel dienen, auf das er sich beruft, um die Nichtigkeit jedes
Beweises des Causalprinzips aus blossen Begriffen darzutun.
Einstweilen aber w i r d innerhalb der Wolffischen Schule die
Zurückführung des Satzes v o m Grunde auf den Satz des Wider‑
spruchs allgemein angenommen.%) Die Bedenken, die sich etwa
hiergegen regen, kommen höchstens mittelbar darin zum Aus‑
druck, dass m a n sich bei dem rein „logischen“ Beweis nicht
beruhigt, sondern i h n durch Argumente anderer Art, die indessen
seine demonstrative Kraft sehr verdächtig machen müssen, zu
stützen sucht. S o greift m a n bald auf die E r f a h r u n g , bald auf
Crusius’ K r i t i k des Satzes vom Grunde. 427

t e l e o l o g i s c h e Gründe zurück, indem m a n sich darauf beruft,


dass, wenn nicht alle Dinge ihren Grund besässen, der natürliche
Instinkt, der uns treibt, überall nach den Ursachen zu forschen,
vergeblich und zweckwidrig wäre. „Die Natur hätte uns einen
Hunger eingepflanzt und sie hätte die Nahrung desselben ver‑
gessen, und kann dieses m i t der weisen Haushaltung der Natur
bestehen ?“4)
Wiederum ist es Crusius, der hier als Erster der allge‑
meinen Ueberzeugung der Schule entgegentritt. Sein Widerspruch
wurzelt freilich nicht sowohl in logischen, als in ethischen Motiven:
die Freiheit und Verantwortlichkeit der menschlichen Handlungen
sucht er gegen das System der fatalistischen Notwendigkeit zu
schützen. Das Postulat der ursächlichen Verknüpfung, wie das
rationalistische System es versteht, bedeutet mehr, als der farb‑
lose Ausdruck des "zureichenden* Grundes zunächst erkennen
lässt: es besagt, dass jedes zeitliche Ereignis durch die Reihe der
vorhergehenden v o l l s t ä n d i g u n d eindeutig bestimmt ist.
Die „ratio sufficiens“, wie sie hier gefasst wird, ist in Wahrheit
„ratio determinans“: der Erfolg ist durch den Inbegriff der Be‑
dingungen zwingend gefordert und gesetzt. Keine logische
Distinktion vermag diese Folgerung abzuschwächen. Insbesondere
ist ‐ wie Crusius ausführt ‐ die Unterscheidung der absoluten
und hypothetischen Notwendigkeit hier eine blosse Ausflucht;
denn nicht darauf kommt es an, ob es im allgemeinen B e ‑
g r i f f e des Subjekts l i e g , dass i h m dieses oder jenes
Merkmal zukommt, sondern ob die besonderen örtlichen
und zeitlichen Umstände, unter denen es sich befindet, in
i h r e r Gesamtheit eine derartige Beschaffenheit verlangen
und m i t sich führen. Dass Cajus hier und jetzt z u m
Lügner wird; das liegt freilich nicht in seinem Gattungsbegriffe
der ja nicht m e h r enthält, als die Eigenschaften, die allen
Menschen gemeinsam zukommen; wohl aber ist es, ‐ nach
der Ansicht, die h i e r bekämpft werden soll ‐ durch seine i n ‑
d i v i d u e l l e n Merkmale und durch die spezifischen Bezie‑
hungen, in die er hineingesetzt ist, unausweichlich gege‑
b e n . ) Ist nunmehr der Sinn des Satzes v o m Grunde scharf
und prägnant fixiert, so muss die Lücke in seinem Be‑
weise deutlich hervortreten. Der Satz des Widerspruchs kann
428 D e r Satz des Widerspruchs u. der Satz vom zureichenden Grunde.

fortan nicht mehr als hinlängliches Prinzip der Ableitung


gelten: ist er doch „ein ganz leerer Satz“, der nicht mehr besagt,
als „dass nichts in einerlei Verstande genommen und zu ganz
einerlei Zeit zugleich sein und auch nicht sein könne.“ Der Be‑
griff der Ursache dagegen w i l l zwei zeitlich g e t r e n n t e und so‑
m i t verschiedene Zustände des Seins m i t einander verknüpfen;
er steht somit von Anfang an ausserbalb des Rahmens und der
Befugnis des nakten Identitätsprinzips. Sich ein Wesen zu denken,
das ohne irgendwelchen Grund v o n selbst entsteht, mag absurd
und unglaubhaft sein; aber es ist nicht im mindesten wider‑
sprechend. We r das Eintreten eines ursachlosen Ereignisses be‑
hauptet, der sagt nichts anderes, als dass ein Ereignis, das jetzt be‑
steht,zuvor nicht bestanden habe,worin niemals der geringste Wider‑
spruch angetroffen werden kann, da die beiden Urteile, um die es
sich handelt, verschiedene Zeitmomente betreffen und somit gar
nicht auf das gleiche Subjekt gehen. Noch deutlicher tritt die
Erschleichung, die man begeht, hervor, wenn man sich zum Be‑
weis des Prinzips darauf beruft, dass im B e g r i f f einer „Wirkung“
der Begriff der Ursache eingeschlossen sei. Denn hier handelt
es sich nicht um die Bildung unserer Begriffe und um die Be‑
nennung, die wir ihnen geben wollen, sondern um ein objektives
Gesetz des Geschehens. Haben w i r etwas einmal als Wirkung
bezeichnet, so liegt darin freilich schon, dass w i r eine Ursache
zu i h m hinzudenken: die Frage aber, ob dieser Gedanke irgend‑
welches Recht und irgendeine gegenständliche Bedeutung besitzt,
ist damit in keiner Weise entschieden.)
So ergibt sich jetzt eine scharfe und bewusste Scheidung
zwischen „Grund“ und „Ursache“. Der Realgrund (principium
essendi vel fiendi), der ein wirkliches Ereignis setzt und den Zeit‑
punkt seines Eintretens bestimmt, sondert sich v o n dem reinen
E r k e n n t n i s g r u n d (principium cognoscendi), der lediglich eine
psychologische Bedingung unserer E i n s i c h t darstellt. „Man
nennet etwas zuweilen den Grund einer Sache, ungeachtet es
nichts anders, als ein Erkenntnisgrund der Gedanke davon ist,
und ungeachtet m a n es auch nicht anders meinet. Dieses ist z u r
Vermeidung der Verwirrung wohl zu merken, damit m a n nicht
etwa meine, w e n n man einen Begriff gesetzet hat, aus welchem
sich ein anderer bequem herleiten lässt, dass m a n deswegen hier‑
Kealgrund und Erkenninisgrund. 429

m i t sogleich auch den Realgrund der in dem letzteren vorgestellten


Sache schon erkläret habe.“®) Im weiteren Fortgang der Unter‑
suchung entsteht sodann bei Crusius jenes allgemeine Schema,
das fortan bis in die neueste Zeit erhalten bleibt und das z. B.
in Schopenhauers Schrift „über die vierfach@ Wurzel des Satzes
v o m zureichenden Grunde“ fast unverändert wiederkehrt. Der
Realgrund zerlegt sich wiederum in zwei verschiedene Momente,
je nachdem das Bedingte der Bedingung zeitlich folgt oder m i t
i h r zugleich notwendig und unmittelbar gesetzt ist. N u r im
ersteren Falle haben w i r es m i t dem Verhältnis von Ursache und
Wirkung im engeren Sinne zu tun, während es sich im zweiten
um eine gesetzmässige Bestimmung zwischen objektiven Inhalten,
n i c h t aber u m die H e r v o r b r i n g u n g des einen aus dem andern
handelt. Das klassische Beispiel f ü r diese Art der Beziehung,
die Crusius durch den Terminus des „unwirksamen Realgrundes‘“
oder des „Existentialgrundes“ (principium existentialiter deter‑
minans) bezeichnet, haben w i r in der M a t h e m a t i k vor uns.
„Z. E. die drei Seiten in einem Triangel und i h r Verhältnis gegen
einander machen einen Realgrund von der Grösse seiner Winkel
aus, jedoch n u r einen unwirksamen, oder blossen Existential‑
grund; hingegen das Feuer ist einewirkende Ursache der Wärme.“®)
Man sieht, wie hier der Versuch gemacht wird, innerhalb der
„Realgründe“, den empirischen Begriff der K a u s a l i t ä t von dem
allgemeinen mathematischen Begriff der F u n k t i o n zu unter‑
scheiden. Wenn die Ursache der Wirkung voraufgehen muss,
w e n n also die zeitliche Stellung beider eindeutig bestimmt und
geregelt ist, so ist es das Eigentümliche der funktionalen Ab‑
hängigkeit, dass der Grund und das Gegründete sich wechselseitig
bedingen und dass somit die Beziehung zwischen beiden rein
umkehrbar i s t . ) Ein letzter Gegensatz ergibt sich, indem schliess‑
l i c h die physischen Gründe in ihrer Gesamtheit den „moralischen“
entgegengestellt werden: wenn jene lediglich auf die Bestimmung
des Seins gehen, so haben w i r es in diesen m i t den Bestimmungs‑
gründen des W o l l e n s zu tun, die einer festen ethischen Norm
unterstehen und somit eine neue und eigene A r t der Gesetzlich‑
keit darstellen.) ‑
Die Wirkung, die Crusius’ Sätze geübt haben, lässt sich v o r
allem daran ermessen, dass fortan selbst innerhalb der Popular‑
430 D e r Satz des Widerspruchs u. der Satz vom sureichenden Grunde.

philosophie das Verlangen nach einer schärferen logischen Sonde‑


rung der Prinzipien immer klarer zutage tritt. Charakteristisch
hierfür ist besonders eine Abhandlung Beguelins, die im Jahre
1755 in den Schriften der Berliner Akademie erscheint und die
bereits deutlich di& Einwirkung der H u m e s c h e n Gedanken, die
inzwischen auch in Deutschland erfolgt war, erkennen lässt.5#)
Ausgegangen wird auch h i e r v o n dem Gegensatz der mathe‑
matischen und metapbysischen Erkenntnisart: wenn der Mathe‑
matiker die Objekte, über die er urteilt, selbst erschafft und daher
v o n willkürlichen Definitionen und ihrer Verknüpfung ausgehen
darf, so ist der Metaphysiker an das absolute Sein als an ein ob‑
jektives Vorbild, das er erreichen oder verfehlen kann, gebunden.
So beginnt hier der Zwist bereits in der Erklärung und Fest‑
setzung der Grundbegriffe. W i r erleben das Schauspiel, dass jeder
v o n uns, wenngleich w i r alle m i t den gleichen logischen Regeln
ausgerüstet sind, von ihnen aus folgerichtig weiterschliessend,
zu einer „privaten Metaphysik“ gelangt, die m i t der der übrigen
weder vereinbar, noch durch sie widerlegbar ist. Es wäre ver‑
geblich, hier eine Verständigung und ein Auskunftsmiittel suchen
zu wollen: reicht doch der Widerstreit bis in die ersten Prinzi‑
pien aller Erkenntnis hinab. So ist der Satz vom Grunde weder
aus dem Satz des Widerspruchs ableitbar?t), noch kann für ihn
jemals ein strikter Erfahrungsbeweis erbracht werden. Denn die
W i r k l i c h k e i t der Dinge a u s s e r u n s bleibt selbst solange
problematisch, als nicht das Recht der kausalen Schlussfolgerung
sichergestellt ist; das Prinzip des zureichenden Grundes kann also
kein blosses Ergebnis der Beobachtung gegebener objektiver Tat‑
sachen sein, da es vielmehr die Bedingung darstellt, unter der
w i r von einem Sein und einer „Objektivität“ überhaupt erst
sprechen können.®) Nicht minder erweist sich die psychologische
Erklärung, die ohne Rücksicht auf jede äussere Existenz den
Begriff der Ursache lediglich aus dem Spiel der Vo r s t e l l u n g e n
in u n s abzuleiten sucht, als unzureichend. Was uns gegeben
ist, das sind lediglich mannigfach wechselnde Perzeptionen, die
in bunter Folge vorüberzieben. Nichts an diesen stummen Bildern
verrät uns, dass das eine den „Grund“ des anderen enthält. Was
w i r sehen, sind n u r verschiedene Inhalte, die gleichzeitig oder
nacheinander auftreten, während sich v o n einem „Uebergang“
D i e K r i t i k des Causalbegriffs. ‐ Beiguelin. 431

“ u n d einer Verknüpfung zwischen ihnen nicht das Geringste be‑


merken lässt, So w i r d der Begriff der Ursache auch durch die
„innere“ Erfahrung nicht gegeben, sondern vielmehr in sie hinein‑
gedeutet. W i r können i h n n u r dann aus der Erfahrung ziehen
und berleiten, wenn w i r i h n zuvor als einen apriorischen Begriff
fertig in sie gelegt haben.%) M i t alledem soll jedoch die W a h r ‑
h e i t des Satzes v o m Grunde nicht geleugnet werden; ‐ n u r seine
E r w e i s l i c h k e i t soll bestritten werden, u m dadurch den allge‑
meinen Charakter unserer metaphysischen Erkenntnis zu be‑
leuchten. W i r verstehen nunmehr, warum hier den entgegen‑
stehenden Theorien die gleiche Ueberzeugungskraft innewohnt,
‐ w a r u m selbst die Systeme des Fatalismus, des Idealismus und
Egoismus, so absurd sie ihren Gegnern erscheinen mögen. vor
jeder l o g i s c h e n Widerlegung sicher sein dürfen. F ü r unser
praktisches Verhalten bleibt unter diesen Umständen n u r e i n
Weg übrig: jeder schaffe sich für allein, so gut es i h m gelingen
mag, seine eigene Metaphysik, aber er widerstehe der Versuchung,
sie andern aufdrängen zu wollen. Die Metaphysik wird alsdann
freilich keine Fortschritte machen ‐ zum mindesten aber wird
sie durch diesen Verzicht auf ihren allgemeingiltigen wissenschaft‑
lichen Charakter vor Missachtung geschützt sein.) ‑
Mit dieser resignierten Entscheidung, die in manchen Punkten
sehr modern anmutet, schliesst Beguelins Abhandlung. Der
Knoten muss, da er nicht gelöst werden kann, zerhauen werden.
D i e beiden Glieder des Gegensatzes: die Dinge u n d die Begriffe
sind jetzt so sicher geschieden, dass fortan jede Vermittlung
zwischen ihnen, jede Korrelation von Denken und Sein ausge‑
schlossen scheint. Und dennoch ruht selbst die Skepsis Beguelins
a u f einer dogmatischen Voraussetzung, die er m i t seinen Gegnern
teilt. Allgemeingiltige u n d notwendige Erkenntnis ‐ davon geht
auch er aus ‐ gibt es n u r soweit, als die Leitung und Herrschaft
des Satzes v o m W i d e r s p r u c h reicht. E i n Prinzip a priori
erweisen bedeutet nichts anderes u n d kann nichts anderes be‑
deuten wollen, als es zuletzt in einen identischen Satz auflösen.
Alle Sachvoraussetzungen der Erkenntnis werden innerhalb der
Wolffschen Schule in den Kreis dieser Betrachtungsweise hinein‑
gezogen. Nicht n u r der Satz v o m Grunde, der im engeren Sinne
als eine Regel unserer B e g r i ff e gedacht werden könnte, sondern
482 D e r Sats des Widerspruchs u. der Satz vom sureichenden Grunde.

auch Raum und Zeit, also die Grundlagen jeder gegenständlichen


Wirklichkeit, werden jetzt in dieser Art logisch zu deducieren ge‑
sucht. „Was wir als von uns verschieden denken ‐ so heisst esin
T h ü m m i g s „Institutiones Philosophiae Wolfianae“ ‐, das stellen
w i r als a u s s e r u n s vorhanden vor. Und was immer w i r v o n
einander unterscheiden, das stellen w i r auch als a u s e i n a n d e r
b e fi n d l i c h vor, k r a f t des Satzes des Widerspruchs“.5#)
Man sieht, wie hier der eigentliche positive Gehalt der Rauman‑
schauung nicht sowohl abgeleitet, als vermöge einer petitio prin‑
cipii erschlichen wird: der logischen Funktion der Unterscheidung
schiebt sich unvermerkt die konkrete F o r m des „Beisammen“
und „Nebeneinander“ unter. Gelänge es, diese allgemeine Grund‑
ansicht zu durchbrechen, gelänge es, „Axiome* aufzuweisen, die,
ohne von der Erfahrung entlehnt zu sein, ihren Wert u n d ihre
Beweiskraft dennoch nicht dem Satze d e r I d e n t i t ä t verdanken:
so wäre damit die Schlussfolgerung, m i t der Beguelin endete, hin‑
fällig geworden und eine „Metaphysik“ von völlig neuem Geltungs‑
charakter könnte sich bilden. ‑
Und es fehlt, schon innerhalb der deutschen Philosophie
des achtzehnten Jabrhunderis, nicht an vereinzelten Hinweisen
auf eine derartige Entwicklung. Neben dem Satze des Wider‑
spruchs formuliert C r u s i u s zwei andere Realprinzipien der Er‑
kenntnis, die er als den „Satz des nicht zu Trennenden“ und
den „Satz des nicht zu Verbindenden“ bezeichnet. „Was sich
nicht ohne einander d e n k e n lässt, das kann auch nicht ohne
einander sein“ u n d „was sich nicht m i t und neben einander
denken lässt, das kann auch nicht m i t und nebeneinander sein.“
„Das allerhöchste Kennzeichen der möglichen und wirklichen Dinge
ist das Wesen des Verstandes, dass nämlich dasjenige nicht mög‑
lich oder wirklich sei, was sich nicht also denken lässt; und dass
hingegen dasjenige möglich sei, bei dessen Leugnung m a n mittel‑
bar oder unmittelbar etwas zugeben müsste, was sich nicht als
wahr denken lässt.*%) Wenn also Crusius ursprünglich das Kri‑
terium aller Wirklichkeit lediglich in der E m p fi n d u n g sucht,
w e n n er eindringlich betont, dass w i r uns, statt überall einen
Idealgrund a priori zu verlangen, zumeist m i t Erkenntnisgrün‑
den a posteriori zu begnügen haben:®) ‐ so sehen w i r i h n
hier wiederum bereit, dem Rationalismus seine allgemeine Vor‑
Die Reaiprinsipien der Erkenntnis. 433

aussetzung zuzugestehen. Hier ist es nicht die unmittelbare sinn‑


liche Wabrnehmung, die gegen das reine Denken aufgerufen wird,
sondern es ist ein neuer Grundsatz der Erkenntnis, der als Er‑
gänzung des Satzes vom Widerspruch gefordert wird. So unge‑
nügend dieser Grundsatz bei Crusius selber noch formuliert sein
mag, so ist doch hier aufs schärfste ein D e s i d e r a t der Theorie
der Erkenntnis aufgezeigt. „Der Satz des Widerspruchs setzet
schon gewisse Begriffe voraus, welche ihre Einrichtung schon
haben und auf weiche m a n i h n applicieret*; und in eben diesen
Begriffen ist zuletzt alles „Positive und Kernichte“ in unserm
Wissen gegründet.) Lässt sich auch für diese im höchsten
Sinne positiven Kategorien unseres Denkens der Beweis der
Wahrheit und Gewissheit führen? lässt sich auch ihnen Gebalt
und gegenständliche Bedeutung sichern? M i t dieser Frage, die
sich bier m i t innerer Notwendigkeit erhebt,%) stehen wir an der
äussersten Grenze des rationalistischen Schulsystems: an dem
Punkte, an dem es in das System der kritischen Philosophie
übergeht.
Viertes Kapitel.

Das Problem des B e w u s s t s e i n s‐ . Subjektive


und objektive Begründung der Erkenntnis.
I.
Die Fortbildung der Psychologie im achtzehnten Jahr‑
hundert knüpft überall an Locke an, dessen Prinzipien sie bis in
ihre letzten Konsequenzen zu verfolgen strebt. Aber je weiter die
Zergliederung von Lockes Lehre getrieben wird, um so deutlicber
tritt die Zweideutigkeit in ihren ersten Grundbegriffen hervor.
Das systematische Verhältnis, in dem die beiden Erkenntnis‑
quellen, in dem die äussere und innere Erfahrung zu einander
stehen, hatte der „Versuch über den menschlichen Verstand“
nicht endgültig aufzuhellen vermocht. (Vgl. ob. S. 169 f f ) Je
nach der Auslegung, die m a n insbesondere dem schwankenden
Begriffe der „Reflexion“ gab, konnte m a n jetzt zu Auffassungen
u n d Folgerungen entgegengesetzter Tendenz weitergeführt werden.
Sollte daher die Herrschaft des Empirismus sicher u n d
dauernd begründet werden, so schien kein anderer Ausweg
gelassen, als den D u a l i s m u s der Prinzipien aufzuheben. D i e
äussere sinnliche Wahrnehmung musste als der alleinige U r ‑
sprung des Wissens erwiesen werden, der gegenüber jede
andere Erkenntnisweise n u r einen mittelbaren und sekundären
Wert beanspruchen kann. Erst wenn dies geschehen, kann v o n
einer wahrhaft einheitlichen Methode gesprochen werden, die
das gesamte Gebiet der möglichen Erfahrung umspannt u n d
beherrscht. ‐
E i n erster Schritt in dieser Richtung wird in einem Werke
„The Procedure, Extent and L i m i t s of Human Understanding“
Sensation und Reflexion. 435

getan, das im Jahre 1729 in London anonym erscheint. Sein


Verfasser, Peter Browne, ist ein hoher englischer Geistlicher:
und so sind es denn auch überall theologische Motive, die hier
der Kritik der Lockeschen Lehre zu Grunde liegen und die ‑
paradox genug-‐ eine schärfere Betonung und Heraushebung ihrer
sensualistischen Tendenz fordern. „Ideen“ in eigentlicher Be‑
deutung kann es, nach Browne, n u r von Dingen geben, die sich
ausserhalb unseres Geistes befinden und die u n s kraft der sinnlichen
Abbilder, die sie in u n s bewirken, z u m Bewusstsein kommen.
Sobald neben diesen direkten Eindrücken, die uns unmittelbare
Kunde v o n den Gegenständen verschaffen, noch andersartige,
gleich ursprüngliche Inhalte anerkannt werden, ist damit die
Klarbeit und Geschlossenheit der Erkenntnislehre bereits aufge‑
geben. Die Annahme einer besonderen Klasse von „Ideen der
Reflexion“ ist der erste verhängnisvolle Schritt, ist der eigentliche
„Stein des Anstosses“, den es aus dem Wege zu räumen gilt.!)
Die religiöse Wahrheit und der Offenbarungsglaube haben von der
rückhaltiosen Anerkennung der Regel, dass Nichts im Intellekt
ist, was nicht zuvor in den Sinnen war, nichts zu fürchten: ‑
Gefahr drobt ihnen vielmehr dort, wo m i t dieser Regel nicht
voller Ernst gemacht, wo sie noch irgendwelchen einschränkenden
Bedingungen unterworfen wird. Die Empfindung enthält die
höchste mögliche Form der „Evidenz“, die sich nicht ableugnen,
noch überbieten lässt: man kann gegen sie wohl in Worten
streiten, nicht aber sich in Wirklichkeit über sie erheben und
ausserhalb ihrer seinen Standort nehmen. Die Frage kann nie‑
mals lauten, ob das Zeugnis der Sinne wahr ist, sondern n u r, ob
irgend ein bestimmtes Faktum auch wirklich sinnlich bezeugt
und insofern evident ist. Die Axiome und Postulate des Ver‑
standes besitzen um so höhere Gewissheit, je näher sie diesem
Urquell des Wissens stehen; je mehr sie sich darauf beschränken,
unmittelbar gegebene Wahrnehmungstatsachen zu beschreiben,
ohne ihnen aus Eigenem etwas hinzuzufügen?)
Unser Bewusstsein ist somit bei unserer Geburt durchaus
eine tabula rasa, eine vollkommen unbeschriebene Fläche, die
dem Verstande keinerlei Anhaltspunkt und keinen Stoff der
Betrachtung und Vergleichung darbietet. „ W i r besitzen keine
eingeborenen Ideen von materiellen oder immateriellen Dingen,
Pe
436 Das Problem des Bewusstseins. ‐ Broume u. Hartiey.

noch stelıt uns eine Fähigkeit oder ein Vermögen zu, reine Ver‑
standesbegriffe unabhängig von aller Wahrnehmung wie aus dem
Nichts zu schaffen oder irgendwelche ersten Grundsätze festzu‑
stellen, die w i r nicht aus unseren Vorstellungen sinnlich-körper‑
licher Gegenstände ableiteten oder erschlössen.“ Wenn m a n v o n
Erkenntnissen spricht, die der Geist nicht durch die Betrachtung
der Aussendinge, sondern durch die Reflexion auf sein eigenes
Wesen gewinnt, so ist dies ein trügerisches und irreführendes
Gleichnis. „ W i e w i r keinen Begriff vom Sehen hätten, wenn
nicht äussere Objekte auf das Auge einwirkten, so könnte der
Intellekt sich keiner seiner Operationen bewusst werden, w e n n
nicht eine sinnliche Vorstellung voranginge, an der er sie ausübt.
Und wie das Auge die ganze Ordnung und Schönheit der sicht‑
baren Dinge überschauen kann, aber nicht die Fähigkeit besitzt,
seinen Blick auf sich selbst zu wenden: so kann die Seele des
Menschen die unerschöpfliche Fülle der Vorstellungen, die in der
Einbildungskraft aufgespeichert sind, betrachten, aber sie kann
nicht die geringste direkte oder abgeleitete Idee von sich selbst
und ihren Tätigkeiten gewinnen.“?) Was wir „Selbstbewusstsein“
nennen, das kommt nicht durch ein unnatürliches Schielen, nicht
durch solch eine gequälte Rückwendung auf unser eigenes Innere
zustande, sondern es besteht lediglich in dem unmittelbaren Ge‑
wahrwerden der Tätigkeiten, die w i r an dem Stoff der Sinnes‑
empfindungen ausüben, indem wir i h n verschiedenartig anordnen
und umstellen.t) Alles Wissen, das w i r v o n unserer eigenen Seele
besitzen, ist daher notwendig symbolischer Art: w i r können von
i h r nicht anders, als in Metaphern sprechen, die w i r dem körper‑
lichen Sein und Geschehen entnehmen. Und nachdem die Unter‑
suchung einmal bis zu diesem Punkte fortgeschritten ist, n i m m t sie
nunmehr eine unvermutete Wendung, die sie erst ihrem eigent‑
lichen Endziele entgegenführt. Besitzen w i r von unserm e i g e n e n
Sein keine direkte Erkenntnis, so wäre es töricht, sie v o m g ö t t ‑
l i c h e n Sein fordern zu wollen. Alles Uebersinnliche vermögen
w i r n u r in Analogien und Gleichnissen zu erfassen; aber w i r
haben keinen Grund und Vorwand, es darum abzuweisen: haben
w i r doch eingesehen, dass die gleiche analogische Form des
Wissens auch in anderen Gebieten, die w i r doch als zuverlässig
bekannt ansehen, herrschend ist. ‑
Die Associationspsychologie. 487

W i r d somit das Lockesche Grundschema hier aus theologi‑


schen Bedenken verworfen, so erwächst i h m ein ernsthafterer
Gegner in der Associationspsychologie des achtzehnten Jahr‑
hunderts. David H a r t l e y, i h r erster Begründer, bestimmt den
Unterschied der neuen Lehre von Locke gleichfalls dahin, dass
in i h r die „Reflexion* nicht als eine eigene und distinkte Quelle
v o n Erkenntnissen angeseben, sondern die Zurückführung auch
der komplexesten Ideen auf einfache Sinneseindrücke gefordert
werde. Die Reflexion spieit ‐ w i e er hervorbebt ‐ in Lockes
Lehre lediglich die Rolle einer unbekannten Grösse: sie ist n u r
der Ausdruck für einen unaufgelösten Rest, der bei der psycho‑
logischen Zergliederung zurückbleibt) Um auch i b n der natur‑
wissenschaftlichen Erkenntnis und der naturwissenschaftlichen
Methodik zu unterwerfen, gilt es in der Theorie der Wahrneh‑
mung das Verfahren Lockes m i t demjenigen Newtons zu ver‑
binden. So entsteht hier von neuem die Aufgabe einer P h y s i k
der Seele, die Locke ausdrücklich, als seinem eigenen Vorhaben
fremd, abgewiesen hatte (s. ob. S. 166). Die ersten Anfänge zu i h r
schienen durch die eigenen Andeutungen Newtons am Schluss der
„Prinzipien“ und im Anhang zur Optik bereits gegeben. Neben
den Phänomenen der äusseren Natur zieht Newton hier auch die
Entstehung der s i n n l i c h e n E m p fi n d u n g in den Kreis
seiner Betrachtung. Die Hypothese eines den Weltraum allseitig
erfüllenden A e t h e r s wäre hinreichend, nicht n u r die Fortpflan‑
zung des Lichtes, sowie die Erscheinungen der Elektrizität und
der Schwere zu erklären, sondern sie würde auch das Problem
aufhellen, wie die Veränderungen in den Aussendingen dem e m ‑
pirischen Subjekt z u m Bewusstsein gebracht werden können.
Denken w i r u n s ein äusserst feines Medium, das alle dichten
Körper durchdringt, so lässt es sich verstehen, dass die Schwin‑
gungen, in die es versetzt w i r d , sich auf die peripherischen
Sinnesorgane fortpflanzen und von dort aus vermöge der Nerven‑
fasern z u m Gehirn weitergeleitet werden, wo sie alsdann der
Seele, die hier ihren Sitz und ihre unmittelbare „Gegenwart“ hat,
als Empfindungen bewusst werden.®) Hartleys gesamte Theorie
besteht in der Weiterführung und näheren Begründung dieser
aphoristischen Bemerkung. Wie die Luftschwingungen, auf denen
die Töne beruhen, sich anderen Körpern mitteilen und sie in
438 Das Problem des Bewusstseins. ‐ Hartiey.

entsprechende Vibrationen versetzen, so übertragen sich auch die


Vibrationen des Aethers auf die kleinsten Teile der nervösen
Substanz, die ihrerseits wieder m i t dem Zentralorgan in Verbin‑
dung steht. Wird somit das Bewusstsein erst durch derlei ele‑
mentare Bewegungsvorgänge geweckt, so muss sich jeder kom‑
plexe psychische Inhalt auf sie zurückführen und als Resultante
aus ihnen darstellen lassen. Alle Besonderheiten der Vorstellun‑
gen müssen sich zuletzt durch Besonderheiten in den zugrunde
liegenden Schwingungen z u m Ausdruck bringen lassen. Hier
aber lassen sich wesentlich vier Momente unterscheiden, nämlich
einerseits die Amplitude und die Geschwindigkeit der Schwin‑
gung selbst, anderseits die Stelle im Gehirn, die von i h r be‑
troffen wird und der Weg, auf dem sie i h m zugeführt wird.
Folgt m a n dieser Richtschnur der Betrachtung, so wird nicht
n u r die Entstehung der einzelnen Wahrnehmungen völlig ver‑
ständlich, sondern es fällt nunmehr auch auf die Regeln der
Vorstellungsverknüpfung helles Licht. Zunächst nämlich
ist es deutlich, dass eine Vibration, die der Hirnsubstanz wieder‑
holt von aussen mitgeteilt worden ist, in i h r eine bestimmte
physiologische „Spur“ zurücklässt. Es wird durch sie eine ge‑
wisse Disposition zur Erzeugung einer ähnlichen Schwingung
geschaffen, die gleichsam ein Miniaturbild der ursprünglichen,
durch den äusseren Reiz hervorgerufenen, ist und alle ihre Be‑
stimmungen in verkleinertem Maassstabe wiederholt. So erklärt
sich die Tatsache, dass eine Erregung, die dem Gehirn einmal
mitgeteilt worden ist, fortan auch ohne die Einwirkung einer
äusseren Ursache sich erneuern und somit ein abgeschwächtes
Erinnerungsbild des ersten Eindrucks hervorrufen kann. Denken
w i r u n s weiterhin, dass zwei verschiedene äussere Reize A und
B g l e i c h z e i t i g auf das Gehirn einwirken, s o w i r d jeder von
ihnen i h m die entsprechende Bewegung a und b einzuprägen
bestrebt sein, woraus eine resultierende Schwingung, die zwischen
beiden die Mitte hält, sich ergeben muss. Die Disposition, die
nunmehr entsteht, ist somit gleichsam ein mittlerer Zustand, der
weder einseitig auf die Erzeugung von a, noch auf diejenige v o n
b gerichtet ist, sondern beide zugleich in einer bestimmten wech‑
selseitigen Modifikation, die sie durch einander erfahren, zu re‑
produzieren strebt. Hat diese Disposition sich kraft der häufigen
Die physiologische Deutung der Association. 439

Verbindung v o n A und B befestigt, so wird jede der beiden Be‑


wegungen a und b, auch wenn sie jetzt für sich allein auftreten,
in der Richtung auf die gemeinsame Resultante abgelenkt und
umgeformt: die zugehörigen Vorstellungen streben also unmittel‑
bar danach, einander gegenseitig wachzurufen. In analoger Weise
wie diese Association des Gleichzeitigen (synchronous association)
erklärt sich auch das Zusammenwachsen solcher Vorstellungen,
die in regelmässigem Nacheinander auf einander folgen.’) Die
Grundtendenz von Hartleys Theorie ist somit darauf gerichtet,
die Ve r k n ü p f u n g als eine eigene Funktion des „Bewusstseins“
entbehrlich zu machen: das I c h ist in die Mechanik der Gehirn‑
bewegungen aufgelöst. Zwar sucht Hartley die materialistischen
Folgerungen, die m a n aus seiner Lehre herauslesen könnte, ab‑
zuwehren®);, aber dieser Einspruch hat nicht zu verhindern ver‑
mocht, dass nicht bereits sein unmittelbarer Nachfolger und der
Herausgeber seiner Werke, Joseph P r i e s t l e y, sie konsequent
und rückbaltlos gezogen hätte.?)
Wenn indessen damit die Betrachtung wiederum ins .Meta‑
physische abbiegt, so gewinnen Hartleys Gedanken auf rein
psychologischem Gebiet durch die Lehre C o n d i l l a c s allge‑
meine Verbreitung und Durchführung. Der Satz von der reinen
P a s s i v i t ä t des Geistes erhält i n der bekannten Fiktion Con‑
dillacs, in der das Bewusstsein einer Statue verglichen wird, die
erst allmählich durch das Hinzutreten der äusseren Sinnesein‑
drücke z u m Leben erweckt wird, einen charakteristischen und
sinnfälligen Ausdruck. Der eigentliche Gehalt v o n Condillacs
Theorie beruht indessen nicht auf diesem Apercu, sondern er
wurzelt in seiner Auffassung und K r i t i k der Sprache. We r das
Verhältnis von Begriff und W o r t durchschaut hat, der bat, nach
ihm, die Einsicht in die reale Grundlage aller Erkenntnis ge‑
wonnen. denn die Wissenschaften in ihrer Gesamtheit sind nichts
anderes, als geregelte und gegliederte Sprachen. Was die „Re‑
flexion“ Eigenes zu besitzen, was sie den Eindrücken der Sinne
hinzuzufügen scheint, das ist daber nicht sowohl ein neuer Gehalt,
wie die Bezeichnung des sinnlich gegebenen Materials. „Wirk‑
l i c h “ ist nur, was sich u n s in einer einzelnen Empfindung dar‑
bietet; aber w i r könnten diese gesamte sinnliche Mannigfaltigkeit
nicht überblicken und im Gedächtnis bewahren, wenn w i r
440 Das Problem des Bewusstseins. ‐ Condillac.

nicht hestimmte Gruppen zusammenfassten und m i t willkürlichen


Orientierungsmarken versäben. So erschaffen w i r in der E r ‑
kenninis ein System von Gattungsnamen höherer und niederer
Ordnung, in das w i r die Gesamtheit des Seins, die aus einem
Inbegriff individueller Dinge besteht, freilich vergebens zu fassen
trachten. Man begreift nunmehr, dass es sich in unserem exakten
Wissen nicht darum handeln kann, zu immer reineren und v o n
der Wahrnehmung immer entfernteren Abstraktionen aufzusteiger,
sondern dass die Aufgabe allein darin besteht, primitive und u n ‑
genügende Bezeichnungsarten durch schärfere und feiner ausge‑
bildete zu ersetzen. So enthält die gesamte A l g e b r a nicht eine
einzige gedankliche Operation, die nicht schon im Rechnen m i t
den Fingern gebraucht würde; was sie v o r diesem primitiven
Verfahren auszeichnet, ist lediglich der t e c h n i s c h e Vorzug, dass
die Zeichen in i h r auf der einen Seite ausserordentlich vermehrt,
andererseits indessen derart geordnet sind, dass sie bequemer
zu handhaben und zu übersehen sind. Und wie die populäre
Rechenkunst sich zur wissenschaftlichen Algebra verhält, so ver‑
hält diese letztere sich wiederum zur Metaphysik. Die Meta‑
physik ist die „Grammatik der Algebra“: sie ist es, die die Regeln,
die dort unbewusst geübt werden, in ihrer allgemeinen Bedeutung
und Gültigkeit zu erweisen und zu begreifen hat. Die Methode
der Analyse, die uns in der Mathematik n u r in einer vereinzelten
Anwendung entgegentritt, k o m m t daher erst in i h r zu universeller
Geltung.!’) Indem die Metaphysik das Netzwerk von Benennungen,
in das w i r die einfachen Daten der Wahrnehmung fassen, in seine
einzelnen Fäden auseinander legt, macht sie damit zugleich die
A r t kenntlich, in der die komplexen Inhalte sich aus den sinn‑
lichen Einzelbestandteilen, die ihre wahrhaften realen Kompo‑
nenten ausmachen, zusammensetzen. ‑
Somit muss die Ordnung und Gliederung des gegebenen
Stoffes das einzige Ziel und die alleinige Leistung der Erkenntnis
bilden. Alles wissenschaftliche Urteilen vollzieht und bewegt
sich in i d e n t i s c h e n Gleichungen. Der Fortschritt, den w i r in
i h m zu beobachten glauben, der Uebergang zu neuen Einsichten
betrifft nicht den realen Gehalt der Erkenntnis, sondern lediglich
die F o r m desAusdrucks. Die Sätze der Wissenschaft sind indessen,
wenngleich identische, so doch keine leeren und „frivolen“ Aus‑
Denken und Sprechen. 441

sagen: es werden in ihnen zwar nicht verschiedene Ideen m i t


einander verknüpft und in Beziehung gesetzt, wobl aber werden
verschiedene Te r m i n i verglichen und als Bezeichnungen der‑
selben Sache erkannt.!!) Alles Denken i s t e i n Rechnen, ist somit
‐ wie Condillac ausdrücklich hervorhebt ‐ im letzten Grunde
eine bloss mechanische Operation, die w i r an den sinnlichen
Wahrnehmungen vollziehen. Die Konsequenz, die diese Ansicht
f ü r den Gesamtbegriif des „Geistes“ und des Bewusstseins in sich
schliesst, t r i t t scharf und bezeichnend i m ä s t h e t i s c h e n Gebiete
hervor. Auch die künstlerische Phantasie ist kein eigentümliches
und schöpferisches Prinzip, sondern lediglich eine besondere
Anwendung des allgemeinen logischen Verfahrens der „Analyse“.
Das vollkommene Kunstwerk ist, so gut wie ein beliebiges astro‑
nomisches oder physikalisches Problem, n u r ein richtig gelöstes
Rechenexempel. Es ist ein Vorurteil, dass es zur dichterischen E r ‑
findung einer besonderen Funktion und Tätigkeit der „Einbildungs‑
kraft“ bedürfe. „ E i n Geometer wird vielleicht sagen, dass Newton
ebensoviel Einbildungskraft, wie C o r n e i l l e besitzen musste, weil
er ebensoviel Genie besass: aber er sieht nicht, dass auch das
Genie Corneilles n u r darin bestand, dass er ebenso scharf, wie
Newton, zu analysieren verstand. Die Analyse macht den Poeten,
wie sie den Mathematiker m a c h t . . . Ist einmal der Stoff eines
Dramas gegeben, so sind die Erfindung des Gesamtplanes, der
Charaktere, der Sprache fortan n u r eine Reihe von Problemen,
die sich analytisch auflösen lassen. Was ist somit das Genie?
Nichts anderes als ein gerader und einfacher Geist, der das findet,
was niemand v o r i h m zu finden wusste.“12)
In diesen Sätzen, in denen das Drama in eine A r t
höhere Regeldetri aufgelöst wird, erweist sich ‚Condillac als
der Wortführer und typische Vertreter des französischen
„esprit classique“. W i r stehen hier im Mittelpunkt jener
philosophischen Grundanschauung, v o n deren W i r k u n g auf
sich selbst und seinen Strassburger Kreis Goethe berichtet.
„ W e n n w i r von den Encyclopädisten reden hörten oder einen
Band ihres uugeheuren Werkes aufschlugen, so war es uns zu
Mute, als wenn m a n zwischen den unzählig bewegten Spulen
und Weberstühlen einer grossen Fabrik hingeht und vor lauter
Schnarren und Rasseln, vor allem Aug’ und Sinne verwirrenden
442 Das Problem des Bewusstseins.

Mechanismus, vor lauter Unbegreiflichkeit einer auf das mannig‑


faltigste in einander greifenden Anstalt, in Betrachtung dessen,
was alles dazu gehört, um ein Stück Tuch zu fertigen, sich den
eigenen Rock selbst verleidet fühlt, den m a n auf dem Leibe
trägt.“ Der Widerspruch gegen diese Seite der französischen
Aufklärung aber, der in der Genieperiode laut wird, bestimmt
nunmehr auch die Richtung, die die allgemeine theoretische
K u l t u r der Zeit nimmt. Es ist im höchsten Maasse interessant,
hier an einem prägnanten Einzelbeispiel zu verfolgen, wie die
neue Gesamtanschauung, die die Epoche vom Gehalt und Reich‑
tum des geistigen Innenlebens gewinnt, zugleich immer ener‑
gischer zu einer Umgestaltung des abstrakten psychologischen
Schemas hindrängt. Die neue Auffassung der „Seele“, die das
Zeitalter Rousseaus und G o e t h e s erringt, bedingt und erzeugt
einen neuen philosophischen Begriff des „Bewusstseins“. Und
bier ist es denn wiederum bezeichnend, dass die ästhetischen
Probleme und Interessen es sind, von denen die Reform der
Psychologie ihren Ausgang nimmt. Indem die Schweizer in
ibrem Kampfe gegen Gottsched und die Alleinherrschaft der
Regel, der „Einbildungskraft“ i h r eigentümliches Recht wieder‑
zugeben suchen, sehen sie sich damit wiederum m i t innerer
Notwendigkeit auf die Grundlagen der L e i b n i z i s c h e n L e h r e
zurückgewiesen. Die Autonomie des Genies, die sie verkünden,
entspringt ihrer Anschauung v o n der Autonomie des Geistes.
Das Bewusstsein darf nicht lediglich a l s die Sammelstätte und
der Schauplatz für das associative Spiel der Empfindungen gelten,
sondern es birgt in sich freie und ursprüngliche gestaltende
Kräfte. Nicht auf der Empfindung, die von Leibniz „ihres so
lange Zeit wider Recht gebrauchten Richteramtes entsetzt“ worden,
sondern auf dem „Urteil der Seele“ beruht somit, nach den
Schweizern, die ästhetische Stimmung: dieses Urteil selbst
aber gehört seinerseits wiederum einer besunderen Gerichts‑
barkeit an und untersteht einer eigenen „Logik der Phantasie“.
Kraft dieser Auffassung werden die Schweizer zu den eigentlichen
Vorläufern der wissenschaftlichen Aesthetik: B a u m g a r t e n s
Werk geht unmittelbar auf ihre Anregung zurück und steht,
gerade in der entscheidenden F r a g e s t e l l u n g , unter ihrem Ein‑
fluss.1d) Der Begriff der „ D i c h t k r a f t “ aber, der jetzt geprägt
Der Begriff der Dichtkraft. 443

und als Bezeichnung eines eigentümlichen Grundvermögens der


Seele gebraucht wird, greift nunmehr seinerseits wieder in
die Gestaltung der Psychologie und Erkenntnislehre ein. Es ist
Baumgartens Schüler, Georg Friedrich M e i e r, der i h m zuerst
diese allgemeine Bedeutung gibt. „Manche glauben, dass dieses
Erkenntnisvermögen n u r die poetischen Erdichtungen und andere
dergleichen Erdichtungen erzeuge. Allein ein geringes Nach‑
denken kann uns überzeugen, dass es sich viel weiter erstrecke.
Nämlich w i r dichten oder erdichten, wenn w i r Teile verschiede‑
n e r Einbildungen und Vorstellungen solcher abgesonderten Be‑
griffe, die w i r von unsern klaren Empfindungen abgesondert
haben, uns zusammen a l s e i n e n B e g r i f f vorstellen.“ Neben
Jen „undeutlichen* Erdichtungen, zu welchen alle poetischen
Fiktionen zu zählen sind, da sie sich lediglich aus sinnlichem
Vorstellungsmaterial aufbauen, besitzen wir daher „deutliche Er‑
dichtungen“ ‐ von welcher Art z.B. alle Begriffe sind, die durch
„willkürliche Verbindung“ ihrer Grundbestandteile, die also nicht
abstraktiv, sondern konstruktiv entstehen.!!) ‑
Zu seiner Vollendung und Reife aber ist der Begriff der
Dichtkraft erst bei dem bedeutendsten Psychologen der Zeit, bei
Tetens, gelangt, in dessen System er eine zentrale und beherr‑
schende Stellung gewinnt. F ü r die historische Entwicklung des
Gedankens ist Tetens’ Lehre besonders charakteristisch, da sie
die neue Gesamtanschauung nicht fertig hinstellt, sondern sie
erst allmählich und schrittweise erarbeitet. Die „Philosophischen
Versuche über die menschliche Natur“ scheinen in ihren An‑
fängen noch durchaus unter der Herrschaft des allgemeinen
Schemas der Associationspsychologie zu stehen: die Vorstellun‑
gen der Seele sind die „Spuren“ äusserer Einwirkungen, die sie
n u r passiv zu empfangen hat, die sie aber, nachdem sie sie
einmal gewonnen, in beliebiger Weise umstellen und zusammen‑
ordnen kann. „Die ursprünglichen Vorstellungen sind die Materie
und der Stoff aller übrigen, das ist, aller abgeleiteten Vorstellungen.
Die Seele besitzet das Vermögen, jene auseinander zu legen, zu
zertheilen, v o n einander abzutrennen, und die einzelne Stücke und
Bestandtheile wieder zu vermischen, zu verbinden und zusammen‑
zusetzen. Hier zeiget sich i h r Dichtungsvermögen, i h r e bildende,
schaffende Kraft und äussert sich auf so mannigfaltige Arten, als
444 Das Problem des Bewusstseins. ‐ Tetens.

die schaffende Kraft der körperlichen Natur, die sich zwar keinen
neuen Stoff, keine neue Elemente erschaffen kann, aber durch
eine Auflösung der Körper, welche weiter gehet, als w i r m i t
unsern Sinnen reichen können und durch eine neue Vermischung
eben so unsichtbarer Partikeln, neue Körperchen und neue Ge‑
schöpfe darstellet, die noch für unsere Sinne einfach sind.“!P)
Wenn Tetens im weiteren Fortgang betont, dass diese Tätigkeit
des Bewusstseins nicht auf die Verbindung b e k a n n t e r Elemente
eingeschränkt sei, sondern dass w i r durch die vergleichende Be‑
trachtung der einzelnen Empfindungen auch e i n f a c h e Vorstel‑
lungen, die zuvor nicht gegeben waren, entdecken und gleichsam
produzieren können ‐ so bleibt er trotzdem prinzipiell h i e r
noch bei der sensualistischen Grundansicht stehen. Die Aufgabe
des Denkens erschöpft sich noch in der „Auflösung und Wieder‑
vermischung der Vorstellungen“. Auch die „einfachen Grund‑
sätze der Naturlehre‘“ werden daher zunächst lediglich als „Samm‑
lungen einer Menge übereinstimmender und ähnlicher Erfahrun‑
gen“ gefasst: sie sind ‐ wie Hume gegenüber ausdrücklich zuge‑
standen wird ‐ nichts anderes als „immer wieder kommende und
uns allenthalben aufstossende Empfindungen, aus denen gewisse
Reihen verknüpfter Vorstellungen in uns entstanden sind, die
sich unauflöslich m i t einander vereinigt haben.“!6)
Aber wenn diese Erklärung dem Verfahren, das die popu‑
läre unkritische Beobachtung einschlägt, genügen mag, so bleibt
sie doch, wie Tetens weiterhin erkennt, z u r Begründung der
e x a k t e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n P r i n z i p i e n unvermögend. Hier
tritt uns ein Element entgegen, das m i t den herkömmlichen
Mitteln der Psychologie nicht zu fassen ist. Der Natur unserer
vernünftigen Einsicht sind die „neueren Untersucher‘, wie
L o c k e und C o n d i l l a c , B o n n e t und H u m e nicht gerecht
geworden; den Gang des Verstandes in den Spekulationen und in
der E r r i c h t u n g der a l l g e m e i n e n T h e o r i e n haben sie nicht
aufzuhellen vermocht. Denn in alledem handelt es sich offenbar
um mehr, als um ein blosses „Stellversetzen der Phantasmen“.
Der Künstler, der in seiner Phantasie das Bild eines Gegenstands
erzeugt, den er nie zuvor wahrgenommen, fügt nicht n u r gegebene
Vorstellungen äusserlich zusammen, sondern er webt und bildet
sie in einander und schafft sie zu einer völlig n e u e n einheit‑
D i e Selbsttätigkeit des Verstandes. 445

lichen Gesamtanschauung u m . Diese p r o d u k t i v e Synthese,


die über alles „„chwache Nachmacben* hinausgeht, ist es, die
w i r auch in der Wissenschaft überall anzuerkennen haben. Sie
beweist sich bereits i n der G e o m e t r i e : die Exaktheit der geo‑
metrischen Figureu ist „ein Zusatz der Dichtkraft, dergleichen es
in allen unseren Idealen gibt.“!?) In gleicher Weise aber erweisen
sich auch die Grundgesetze der Bewegung, die m a n f ü r gewöhn‑
l i c h schlechthin als empirische Verallgemeinerungen ansieht, bei
schärferer Betrachtung als idealische Produkte. Das Beharrungs‑
prinzip, das Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung
verdanken ihre Sicherbeit keineswegs der blossen induktiven
Beobachtung einzelner Tatsachen. „Es sind ohne Zweifel Em‑
pfindungen gewesen, welche die erste Gelegenheit gegeben haben,
das Gesetz zu entdecken, aber es ist ein Raisonnement hinzuge‑
kommen, eine i n n e r e S e l b s t t h ä t i g k e i t des Verstandes, von
der jene Verknüpfung der Ideen bewirket worden i s t . . . Solche
allgemeine Gedanken sind wahre Gedanken, vor aller Erfahrung
vorher. W i r erlernen sie aus dieser nicht durch die Abstraktion,
und es hängt also auch nicht von einer mehrmals wiederholten
U e b u n g ab,dass sich solcheldeenverknüpfungen festsetzen.“ (1,320f.)
Die eigentliche N a t u r des Verstandes kann daher erst er‑
gründet werden, wenn man ihn in einem völlig anderen Gebiete
seiner Tätigkeit, als bisher aufsucht. „Man hat den Verstand
am öftesten da beobachtet, wo er Erfahrungen sammelt und aus
Empfindungen sich die ersten sinnlichen Ideen macht, wie in
der Naturlehre und Seelenlehre; aber da, wo dieselbige Denkkraft
einen höhern F l u g in den allgemeinen Theorien n i m m t und
Wahrheiten zu Wissenschaften zusammenkettet; auf diese Bahn,
die in der Philosophie so schlüpfrig, als sie fest und eben in der
Mathematik ist, wie da i h r Gang u n d was die Richtschnur ihres
Verfahrens sei, das hat m a n nicht so scharf, so innig, so anschau‑
end nachgespüret. Und dies ist die Quelle so mancher einseitigen
Urtheile. Ob die Denkkraft sich dann vielleicht nicht mehr in einer
i h r natürlichen Beschäftigung finde, wenn sie spekuliret? Ob die
allgemeinen Abstraktionen und deren Verbindung nicht etwan
ausser ihrer Atmosphäre liegen? ob sie hier in einer zu düunen
Luft, oder auch beständig m i t Nebel und Wolken umgeben sei,
und jemals sichere Kenntnisse erhalten könne? Dies, m e i n e i c h ,
446 Das Problem des Bewusstseins. ‐ Tetens.

s i n d k e i n e F r a g e n m e h r, u n d D a n k sei e s den m a t h e ‑
m a t i s c h e n W i s s e n s c h a f t Jass
e n , sie e s n i c h t m e h r s i n d .
Auf eine allgemeine Grundwissenschaft, die in der Philo‑
sophie die Algeber sein soll, w i l l i c h mich hier nicht berufen,
weil v o n i h r noch die Frage ist, was m a n a n i h r h a t . . . . . Aber
d i e Geometrie, d i e O p t i k , d i e Astronomie, diese W e r k e
des m e n s c h l i c h e n G e i s t e s u n d u n w i d e r l e g l i c h e Beweise
s e i n e r Grösse, s i n d d o c h r e e l l e u n d feststehende K e n n t ‑
nisse. N a c h w e l c h e n G r u n d r e g e l n b a u t d e n n M e n s c h e n ‑
v e r n u n f t diese u n g e h e u r e n Gebäude? Wo findet sie dazu
den Boden und wie kann sie aus ihren einzelnen Empfindungen
allgemeine Grundideen und Principe ziehen, die als ein u n e r ‑
schütterliches Fundament so hohen Werken untergeleget werden?
Hierbei muss doch die Denkkraft sich in i h r e r grössten Energie
beweisen.“ (I, 427ff.) Mit diesen Sätzen hat Tetens einen ent‑
scheidenden Schritt vollzogen: er hat, wenngleich seine ganze
Grundabsicht zunächst rein psychologisch gerichtet war, das
psychologische Problem bis zu der Grenze hingeführt, an der es
sich m i t dem „transzendentalen“ berührt. Der Verstand soll nicht
in seiner unmittelbaren Tätigkeit der Vorstellungsverknüpfung
beschrieben, sondern in seinem höchsten und reifsten P r o d u k t ,
in der mathematischen Physik, aufgezeigt und nach i h m beur‑
teilt werden. Ueber die Stellung der F r a g e freilich kommt
Tetens nicht hinaus: er endet an dem Punkte, an dem die K r i t i k
der reinen Vernunft beginnt. ‑
Wenngleich indessen der neue Gedanke hier nicht zu all‑
gemeiner Entfaltung gelangt, so hat er sich doch an einem wich‑
tigen Einzelproblem: an der psychologischen T h e o r i e des U r ‑
t e i l s bewährt. Die traditionelle Auffassung, die Tetens v o r ‑
findet, sieht das Wesen des Urteils in einem Zusammenstellen
und Vergleichen gegebener Vorstellungen, die entweder als gleich‑
artig oder als unterschieden befunden werden. Erschöpft aber
diese Auffassung, die w i r z. B. bei C o n d i l l a c durchaus herr‑
schend fanden, den gesamten Inhalt des Problems? „Sollten wohl
alle Verhältnisse“ ‐ so fragt Tetens ‐ „auf I d e n t i t ä t und D i ‑
v e r s i t ä t , oder, wie einige sich ausgedrückt haben, auf E i n ‑
s t i m m u n g und W i d e r s p r u c h zurückgeführt werden können;
und also alle Urtheile in Gedanken dieser einzigen Gattung v o n
Psychologische und transsendentale Fragestellung.
Psychologische und Fragestellung. 447
447

Verhältnissen bestehen?*
Verhältnissen bestehen?" Die Die gewöhnliche
gewöhnliche MethodeMethode der Ver‑ Ver-
nunftlehrer wird dem Reichtum und
nunftlehrer wird dem Reichtum inneren Vielgestaltig‑
und der inneren Vielgestaltig-
keit
keit der Erkenntnis nirgend
der Erkenntnis nirgend gerecht; sie vermag
gerecht; sie vermag n u rr durchdurch
Umbiegungen die Mannigfaltigkeit aller möglichen
künstliche Umbiegungen die Mannigfaltigkeit möglichen
Aussagen einzigen Typus
diesem einzigen
Aussagen diesem Typus einzuordnen.
einzuordnen. „Dadurch„Dadurch wird
die
die Lehre
Lehre vonvon den U r t e i l e n einfacher,
den Urtheilen aber sie wird
einfacher, aber wird auch
a u c h zu‑
zu-
gleich magerer,
gleich magerer, und anstatt einer
und anstatt einer reichhaltigen
reichhaltigen Theorie über über die
die
Verstandestbätigkeiten, worauf die
Verstandesthätigkeiten, die Entwicklung
Entwicklung der ersten ersten frucht‑
frucht-
baren Erklärung
baren Erklärung führen könnte, erhält m
führen könnte, man eine eingeschränkte
a n eine eingeschränkte
n d wenig
und
u aufklärende Rubrik.“
wenig aufklärende Rubrik." Als Als wichtigster Beleg hierfür
Beleg hierfür
w
wird auch von
i r d auch von Tetens
Tetens das das Urteil
Urteil der a u s a l e n Ve r k n ü p f u n gg
der kkausalen
angeführt. Die
angeführt. Die Abhängigkeit
Abhängigkeit eines eines Dinges
Dinges vvon einem anderen
o n einem anderen
istein
ist ein völlig eigenartiges Verhältnis,
völlig eigenartiges Verhältnis, das unter unter keinen anderen
keinen anderen
Titel
Titel subsumiert
subsumiert werdenwerden kann. kann. Das Gleiche gilt sodann
Das Gleiche sodann ffür die
ü r die
übrigen fundamentalen
übrigen Verhältnisbegriffe; die
fundamentalen Verhältnisbegriffe; Folge der Dinge
die Folge Dinge
einander, iibr
auf einander,
auf h r Beieinandersein,
Beieinandersein, die die besondere
besondere Art Art ihrer Co‑ Co-
existenz, ihre
existenz, Lage gegen
ihre Lage einander, das „Inhärieren“
gegen einander, „Inbârieren" einer Be‑ Be-
schafferrheit in ihrem
schafferbeit Subjekt: dies
ihrem Subjekt: dies alles
alles ist nicht lediglich
ist nicht lediglich eine
eine
Unterart der
Unterart der Identität oder Diversität,
Identität oder Diversität, sondern
sondern bezeichnet
bezeichneteine eine neue,
neue,
spezifische
spezifische Weise
Weise der Beziehung.
Beziehung. Tetens beruft
beruft sich zum Beweis
sich zum Beweis
hierfür auf
hierfür auf Leibniz,
Leibniz, durchdurch dessen „scharfe und
dessen „,scharfe und eindringende
eindringende Blicke Blicke
in die allgemeinen Denkarten
die allgemeinen des menschlichen
Denkarten des menschlichen Verstandes“ Verstandes" be‑ be-
reits zwei
reits Grundklassen einfacher
zwei Grundklassen Verhältnisse herausgesondert
einfacher Verhältnisse herausgesondert
worden seien:
worden seien: sofern sofern er blosse Ve
e r blosse Vergleichungsverhältnisse,
rgleichungsverhältnisse,
die lediglich die-
die lediglich Aehnlichkeit oder Unähnlichkeit
d i e Aehnlichkeit Unähnlichkeit der d e r Vor‑ Vor-
stellungen angehen,
stellungen angehen, von objektiven Ve
von objektiven r h ä l t n i s s e n aus
Verhältnissen aus d derer
Ve r b i n d u nngg,, die die die gegenständliche Ordnung
die gegenständliche Ordnung der Dinge Dinge be‑ be-
treffen, unterschied. Innerhalb
treffen, unterschied. Innerhalb der letzteren Gattung aber
letzteren Gattung aber ist ist
weiterhin eine
weiterhin eine neue Sonderung vorzunehmen.
neue Sonderung vorzunehmen. Den Den unwirksamen
unwirksamen
Beziehungen
Beziehungen der der blossen „Mitwirklichkeit“, wie
blossen „Mitwirklichkeit", wie dem räumlichen
dem räumlichen
Getrenntsein oder
Getrenntsein oder dem zeitlichen Nacheinander
dem zeitlichen Nacheinander stehen stehen diedie dyna‑
dyna-
Verhältnisse: die
mischen Verhältnisse:
mischen Verhältnisse der Dependenz,
die Verhältnisse Dependenz, die die Ver‑ Ver-
bindung
bindung des Gegründeten m
des Gegründeten miti t seinem
seinem Grunde Grunde und und der W Wii r- r‑
kung m
kung miti t ihrer U r s a c h e gegenüber.
ihrer Ursache gegenüber. Denn Denn es es ist etwas anderes,
ist etwas anderes,
Ideen bloss in einer
Ideen bloss bestimmten Folge
einer bestimmten Folge und und Verbindung
Verbindung zusam‑ zusam-
menzunehmen, oder
menzunehmen, oder ausaus derder einen
einen auf auf die andere zu
die andere schliessen.
zu schliessen.
D i e Aehnlichkeit
Die A e h n l i c h k e i t oder d a s aassoziative
o d e r das s s o z i a t i v e Beisammen d e r Vorstellun‑
B e i s a m m e n der Vo r s t e l l u n -
gen mag
gen mag der der psychologische
psychologische Anlass Anlass eines eines derartigen
derartigen Schlusses
Scblusses
448 Das Problem des Bewusstseins. ‐- Tetens.

sein, aber sie enthält nicht seinen sachlichen Grund. Dieser


liegt vielmehr in einer eigenen Tätigkeit des Verstandes: in dem
„thätigen Hervorbringen eines Verhältnisgedankens aus einem
anderen, welches mehr ist als zwei Verhältnisse nach einander
gewahrnehmen.“
Wenn indes in den drei Grundklassen des Urteils, die
Tetens ausgesondert hat, der Inbalt aller unserer A u s s a g e n
sich erschöpft, so ist freilich die Frage, ob durch sie auch alle
B e z i e h u n g e n d e r absoluten, f ü r s i c h bestehenden D i n g e
befasst werden, bisher nicht beantwortet. Die „Gedenkbarkeit
der Dinge“ ist eine Beziehung auf den Verstand eines erkennen‑
den Wesens; die Aufsuchung aller von uns gedenkbaren Verhält‑
nisse und Beziehungen der Dinge stellt somit „ d e n U m f a n g
u n d d i e Grenzen des m e n s c h l i c h e n Ve r s t a n d e s a u s
e i n e m n e u e n Gesichtspunkt d a r “ . Aber ist dieser mensch‑
liche Verstand die Norm der Wirklichkeit überhaupt? „Sollten
wir behaupten können, dass nicht noch mehrere allgemeine ob‑
jekiivische Verhältnisse von anderen Geistern denkbar sind, wo‑
von w i r so wenig einen Begriff haben, als von dem sechsten
Sinn und von der vierten Dimension?*!) Damit ist ein neues
Problem berührt, das auf einen allgemeineren Gegensatz inner‑
halb der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts zurück weist.

I.
Die konsequente Verfolgung des psychologischen Weges
muss zu einem Punkte hinführen, an dem der B e g r i f f d e r
W a h r h e i t seine bisherige Bedeutung verliert. Besteht all unser
Wissen in nichts anderem als in einer Vergleichung unserer
Vorstellungen, so ist es müssig, nach einem o b j e k t i v e n Krite‑
r i u m der Wahrheit zu fragen. Die Regeln des tatsächlichen Denk‑
geschehens entscheiden alsdann über den Inhalt des Gedachten.
‚ D e r alte Protagoreische Satz, dass der Mensch das Maass der Dinge
sei, kehrt nunmehr in schärferer Bedeutung wieder. Was w i r als
unverbrüchliche Gesetze des Seins hinzustellen pflegen, das ist n u r
das Ergebnis eines Naturzwanges, der unsere Köpfe beherrscht.
Die biologische Struktur jeder Gattung entscheidet darüber,
Das psychologische und das logische Wahrheitshriterium, 449

w a s f ü r sie wahr oder falsch heisst. Einen umfassenden und


universellen Maassstab zu suchen, der v o n dieser Bedingtheit auf
das spezifisch organisierte Subjekt frei wäre, ist vergeblich. Es
gibt keine Aussagen, denen rein kraft ihres I n h a l t s und ganz
unabhängig davon, v o n wem sie gedacht werden, Wahrheit z u ‑
kommt: jede noch so grosse und noch so scheinbare Evidenz
besagt n u r, was f ü r u n s , nicht aber was „an sich* möglich
oder unmöglich ist. ‑
Die Folgerungen, die sich aus dieser Anschauung ergeben,
treten am deutlichsten am Grundprinzip aller Erkenntnis, am
Satz des Widerspruchs hervor. Die Deutung, die diesem Prin‑
zip gegeben wird, bringt den Gegensatz zwischen der „logischen“
u n d der „psychologistischen“ Auffassung z u m klarsten und präg‑
nantesten Ausdruck. In dem Kampf, der hier einsetzt, treten
bereits im achtzehnten Jahrhundert alle die Argumente, die noch
in der modernen Diskussion der Frage wirksam sind, in scharfer
Prägung hervor.!®) Ist der Satz des Widerspruchs eine n o t w e n ‑
dige und allgemeingültige Norm, oder wurzelt er n u r in irgend
einer zufälligen Beschaffenheit und Einrichtung unseres Denkens?
Ist er es, auf dem jede Feststellung von „Tatsachen“ überhaupt
beruht oder bezeichnet er n u r ein einzelnes Faktum, das wir,
ohne esweiter begründen zu können, einfach hinzunehmen haben?
Diese Zweifel, die uns früher bereits in einzelnen Andeutungen
entgegengetreten sind (vgl. ob. S. 380, 384), gewinnen jetzt festere
Gestalt, indem sie an die allgemeine Grundansicht der Assozia‑
t i o n s p s y c h o l o g i e anknüpfen. Wenn e s wahr ist, dass a l l
unser Denken n u r ein Zusammentreten und Verschmelzen der
einzelnen Sinneseindrücke ist, so werden uns die Naturgesetze,
nach denen dieser Vorgang sich volizieht, auch die einzige be-.
friedigende Aufklärung über die Ergebnisse des Denkens geben
können; ‐ so gehören diese Ergebnisse somit nicht vor das
F o r u m der L o g i k , sondern v o r dasjenige der G e h i r n p h y s i o ‑
logie. Die Vernunftlehre ‐ so formuliert L o s s i u s in seiner
Schrift über die „Physischen Ursachen des Wahren“ diese An‑
sicht ‐ soll nichts anderes sein, als ein Inbegriff von Regeln
zum Denken, abstrahiert aus der Geschichte des menschlichen
Geistes. „Sie ist ein Stück der Seelenlehre und verhält sich zu
ihr wie die Metaphysik z u r Experimentalphysik oder der Natur‑
P..]
450 Subjektive u. objektive Begründung der Erkenntnis.‐ Lossius u. Tetens.

geschichte, als welche die Fakta hergibt, die jene vergleicht, v o n


einander absondert, das Gemeinsame zusammenfasset und Regeln
schaffet. Nach dieser Idee sollte.freilich die Lehre v o n dem Ent‑
stehen der Begriffe, und das Mechanische b e i dem D e n k e n
als etwas nützlicheres an die Stelle der unnützen Lehren v o n
logischen Sätzen und Schlüssen gesetzt w e r d e n . . . Wie, w e n n
m a n nach dieser Angabe die Begriffe lieber klassifizirte nach
den O r g a n e n , welche f ü r diesen oder jenen Begriff gemacht
zu sein scheinen? Wenn m a n zeigte, ob ein vorkommender Be‑
griff durch einen oder mehrere Organen zugleich in die Seele gehe
und durch welche? Wenn man den Bau dieses Organs zu Hilfe
nahme, die Entstehungsart der Begriffe, die durch i h n möglich
sind, z u e r k l ä r e n ? . . . Ohne Zweifel würden w i r die Natur der
menschlichen Ideen auf diese Art, wo nicht völlig, doch unend‑
lich weit deutlicher einsehen, als aus allen Erklärungen, die vom
A r i s t o t e l e s a n bis auf L e i b n i t z e n sind gegeben worden.“%)
Die physiologische Psychologie ist somit auf halbem Wege
stehen geblieben, indem sie den Grundsatz, den sie an den e i n ‑
zelnen Begriffen durchführte, auf das Ganze unserer Erkennt‑
nis anzuwenden unterliess. Was wir Wahrheit nennen, das ist
kein absolutes und körperloses Ideal, das irgendwie im Leeren
schwebte, sondern es wird durch den Mechanismus unseres
Leibes und sein Fibernsystem bestimmt und in feste Schranken
eingeschlossen. Dass zwei Ideen in unserem Geiste nicht m i t ‑
einander bestehen können,das bedeutet schliesslich nichts anderes,
als dass die Gehirnschwingungen, die ihnen entsprechen, ein‑
ander aufheben u n d physisch m i t einander unverträglich sind.
Der letzte Grund des Widerspruchs kann nirgends anders, als in
unserer Organisation und insbesondere in dem Spiele der Fibern
zı suchen sein. Nicht darauf kommt es an, ob die D i n g e
wirklich so sind, wie w i r sie denken, sondern ob w i r sie
nach unserer gegenwärtigen Einrichtung als Menschen v o n
dieser Welt, m i t diesen menschlichen Organen, anders zu denken
imstande sind. Dem Urheber der Natur wäre es ein Leichtes
gewesen, das menschliche Auge so einzurichten, dass es sich ein
kreisrundes Dreieck hätte vorstellen können, und w i r würden
auf die Gewissheit unserer Erkenntnis alsdann nicht minder
stolz gewesen sein, als w i r es jetzt sind. Hätte er eine Fiber
Die Wahrheit als Produkt der „Organisation“. 4 5 1

m i t in unser Fibernsystem gelegt, durch welche dies möglich


wäre, so würden w i r v o m Widerspruche nichts wissen; „so
aber wollte er, dass der Widerspruch f ü r unseren Verstand das
sein sollte, was der Schmerz f ü r unseren Körper ist.“?!) Diese
Analogie w i r d bis in ihre letzten Konsequenzen verfolgt und
weitergesponnen: die Wahrheit ist nichts anderes als „das ange‑
nehme Gefühl aus der Zusammenstimmung der Schwingungen
der Fibern im Gehirne“. „Der Streit, ob die Schönheit subjek‑
t i v i s c h e r oder o b j e k t i v i s c h e r Natur sei, scheint nunmehr
entschieden, und m a n hat sich mehrenteils für das erstere er‑
klärt. Und hierin hat die Wahrheit einerlei Schicksal m i t der
Schönheit, sie i s t m e h r s u b j e k t i v i s c h e r a l s o b j e k t i v i s c h e r
N a t u r , sie ist nicht sowohl eine Eigenschaft der Gegenstände,
die w i r ebenso w a h r nennen, wie w i r andere schön nennen,
als vielmehr eine Vorstellung von dem Verhältnisse der Dinge
auf uns, sie i s t Relation a u f den, der s i e denkt.“2)
Hier liegt, wie m a n sieht, ein neuer Gedanke noch völlig ein‑
gehüllt in unklare und dogmatische Voraussetzungen. Den Begriff
desSeins sollen w i r n u r gemäss den Gesetzen desDenkens bestimmen
können; aber diese Gesetze selbst gelten zuletzt als eine willkür‑
liche Einrichtung, die von dem Urheber der Natur getroffen ist,
die also auf einem metaphysischen Grunde beruht. Wäre es
möglich, diese innere Zweideutigkeit zu heben, liesse sich die
Ansicht durchführen, dass unser Begriff der Wirklichkeit in den
Kategorien des Verstandes wurzelt, ohne dass dieser Begriff darum
chimärisch würde und sich schlechthin ins „Subjektivische“ v e r ‑
flüchtigte? Es ist wiederum Te t e n s ’ Verdienst, diese Frage be‑
stimmt gestellt zu haben. Das Problem musste i h m um so
dringlicher werden, als seine eigenen Voraussetzungen i h n u n ‑
widerstehlich zu der gleichen Relativierung des Wahrheitsbegriffs
hinzudrängen schienen, die die Psychologie seiner Zeit bereits
vollzogen hatte. Denn nicht n u r v o n Humes, sondern auch von
L e i b n i z ’ Standpunkt aus liegt das Kriterium der Gewissheit
nicht jenseit des Bereichs des Bewusstseins, sondern beruht aul
inneren Kennzeichen, auf der Ordnung und Verknüpfung der
Ideen selbst. (S. ob. S. 405.) So scheint auch hier der I n h a l t aller
unserer logischen Grunderkenntnisse von der spezifischen „Natur“
der vorstellenden Subjekte abhängig zu werden. Es gilt daher,
452 Subjektive und objektive Begründung der Erkenntnis,

eine schärfere Bestimmung zu treffen, kraft deren, unter strenger


Wahrung der idealistischen Prinzipien, die notwendige und
o b j e k t i v e Geltung der fundamentalen Wahrheiten gesichert
werden kann. Die Berufung auf den „gesunden Menschenver‑
stand“ vermag gegen die skeptischen Folgerungen, zu denen die
Entwicklung der psychologischen Betrachtungsweise hinführt,
nichts auszurichten. Wer die objektive Existenz der Gegenstände
auf ein u n m i t t e l b a r e s Datum der inneren Erfahrung gründet,
wer zur Entscheidung der Frage auf einen absolut selbstgewissen
„Instinkt" zurückgreift: der gibt, um den Grundsätzen des Skep‑
tizismus zu entgehen, das erste Postulat jeder echten P h i l o s o ‑
p h i e preis. „Das heisst die Untersuchung allzu voreilig ab‑
brechen, wobei der philosophische Psycholog so wenig befriedigt
wird, als der philosophische Naturforscher, wenn m a n i h m sagt,
es sei ein: Instinkt des Magneten, dass er Eisen anziehe. Wo
nicht weiter fort zu kommen ist, somuss man freilich stille stehen,
aber jenes ist doch zu versuchen, und i s t die Pflicht des Nach‑
denkenden, der an der alten bequemen Methode, sich auf qua‑
litates occultas zu berufen keinen Geschmack hat.“ „Dagegen
wenn man auf die Art zu Werke geht, wie Reid, Beattie und
Oswald; n u r unbedingt und gerade als ein Prinzip es annimmt,
es sei ein untrüglicher Charakter der Wahrheit, dass der Men‑
schenverstand sich die Sachen so und nicht anders denke oder
denken könne; wenn der Ausspruch der entwickelnden u n d
schliessenden Vernunft nicht geachtet, und i h r sogar i h r Stimm‑
recht bei der Beurteilung v o n Wahrheit, Vorurteil und I r r t u m
entzogen wird; wie kann der denkende Zweifler auf diese A r t
überzeugt werden? Ist es zu hart zu sagen, dass dies Verfahren
wider den Menschenverstand ist?“2®)
W i r müssen somit von der „subjektivischen Notwendigkeit“
gewisser allgemeiner Grundsätze, die w i r als solche in uns e m ‑
pfinden, allerdings ausgehen: aber w i r haben damit die Frage
nicht gelöst, sondern erst gestellt. Zunächst nämlich ist diese
angebliche Notwendigkeit in sich selbst schwankend und zwei‑
deutig, und es bleibt immer zu entscheiden, wie weit sie in
Wahrheit auf der gleichbleibenden und unveränderlichen Natur.
unseres Verstandes beruht oder i h m n u r v o n aussen durch Ge‑
wohnbheit und Erfahrung aufgedrängt worden ist. Weiterhin
Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit
Notwendigkeit und der „Verhältnisgedanken“,
Allgemeingültigkeit der „Verhältnisgedanken". 458
458

aber: wie
aber: gelangen wir
wie gelangen wir dazu,
dazu, ein ein Verhältnis,
Verhältnis, das wir in unsern unsern
antreffen, aus
I dd e eenn antreffen, diesen gleichsam
aus diesen herauszusetzen und
gleichsam herauszusetzen und es es als als
eine Beschaffenheit und
eine Beschaffenheit und ein Verhältnis in den
ein Verhältnis den S a c h eenn zu deuten,deuten,
das
das ihnenihnen auch auch ohne ohne unserunser Denken
Denken zukommen zukommen würde?%) würde?&) Der Der
A nn s pp r uu cc hh der Objektivität
Objektivität wenigstens steht als
wenigstens steht als ein F a k t u mein Faktum fest;
es gilt iihn
es gilt h n zu begreifen und
zu begreifen und die Behauptungen, die
einzelnen Behauptungen,
die einzelnen die in
iihm sind, gesondert
zusammengefasst sind, gesondert zu prüfen. Hier zeigt sich
h m zusammengefasst zu prüfen. Hier zeigt sich
n u n erstlich,
oun erstlich, dass dass diedie Objektivität,
Objektivität, die die wir wir unseren
unseren Aussagen
Aussagen zu‑ zu-
schreiben, nicht
schreiben, nicht von von der der einzelnen
einzelnen materialen materialen Empfindung
Empfindung ab‑ ab-
hängt,
hängt, sondernsondern dass dass sie sie lediglich
lediglich die die Art Art betrifft,
betrifft, wie wie w wiri r die
die
Empfindungen
Empfindungen wechselseitig wechselseitig m miti t einander verknüpfen und
einander verknüpfen und in
bestimmte Beziehungen
bestimmte B e z i e h u n g e n ordnen.
ordnen. Die Die einfache
einfache „Impression“
„Impression"
der
der roten roten Farbe
F a r b e mag i m m e r h i n in verschiedenen
mag immerhin verschiedenen Beobachtern
Beobachtern
ganz verschieden
ganz verschieden sein, sein, so so dass
dass einem einem anderen anderen das, das, was was m mir i r als
als
grün erscheint, rot
grün erscheint, heisst: wenn
rot heisst: wenn dadurchdadurch in den den Verhältnissen
Ve r h ä l t n i s s e n
der
der Eindrücke
Eindrücke unter einander nichts
unter einander geändert wird,
nichts geändert wird, wenn wenn
alle Gegenstände, die
alle Gegenstände, die für mich gleichfarbig sind,
mich gleichfarbig sind, auch
auch für den den
Andern
Andern so so erscheinen,
erscheinen, so so wird
wird sich sich in den beiderseitigen U
den beiderseitigen Ur-r‑
t e ii ll eenn niemals
niemals eine angebbare Differenz
eine angebbare Differenz finden,
finden, so so besitzen
besitzen
w also beide
wiri r also „Wahrheit“. „Die Richtigkeit
dieselbe „Wahrheit".
beide dieselbe Richtigkeit des des Ge‑ Ge-
dankens hängt hängt nur nur davon
davon ab, ab, dass dass mein mein Urteil richtig sei
Urteil richtig sei und und
das Urteil ist
das Urteil ein Verbältnisgedanke.
ist ein Verhältnisgedanke. Die Die Impressionen
Impressionen sind sind n u rr
die Schriftzüge
die Schriftzüge oder oder Buchstaben.
Buchstaben. Diese Diese mögen mögen sein,sein, welche
welche sie sie
wollen,
wollen, -‐ sie sie sind
sind zu zu entziffern,
entziffern, wenn wenn auch auch jeder Buchstabe Buchstabe
seinen eigenen
seinen eigenen Zug Zug hat hat und und die die Worte,
Worte, zu zu welcher Sprache Sprache
sie auch
sie gehören, ssind
a u c h gehören, i n d verständlich, wenn jeder
v e r s t ä n d l i c h , wenn jeder bestimmte
bestimmte
Gedanke seinen
Gedanke bestimmten To
seinen bestimmten Tonn hat.“®)
hat. "%) Fragen Fragen w wir somit jetzt
i r somit jetzt
weiter,
weiter, was was die Objektivität der Verhältnish-sriffe
die Objektivität Verhältnishegriffe zu zu besagen
besagen
hat, sso
hat, finden wir,
o finden wir, dass darunter
darunter nichts nichts anderesanderes gemeint
gemeint ist, noch noch
gemeint
gemeint sein sein kann,
kann, als dass ebendieselben
als dass ebendieselben Beziehungen, Beziehungen, die die iich ch
hier
h und jetzt
i e r und jetzt unter
unter den besonderen Bedingungen
den besonderen Bedingungen des des Augen‑
Augen-
blicks und
blicks und meiner individuellen Disposition
meiner individuellen Disposition feststelle,
feststelle, auch auch ffür ür
jedes andere andere Subjekt
Subjekt und und unter beliebigen anderen
unter beliebigen anderen Umständen
Umständen
g üüllttii gg sind.
sind. Weiter als als bisbis hierher
hierher kann kann die die Frage
Frage nichtnicht gehen.
gehen.
Denn wollte
Dean wollte m mana n jetzt noch einwenden, dass
noch einwenden, dass doch
doch aalle Verhält-
l l e Verhält‑
nisgedanken
nisgedanken als als Gedanken
Gedanken etwas Subjektivisches seien,
etwas Subjektivisches seien, so so hiesse
hiesse
dies Art des Problems völlig
dies die Art des Problems völlig verkennen. Dass alle unsere
die verkennen. Dass alle unsere
Urteile und
Urteile und somitsomit alle alle Wahrheiten
Wahrheiten insofern insofern subjektiv sind, sind, als als
454 Subjektive und objektive Begründung der Erkenntnis.

n u r eine D e n k k r a f t ihrer empfänglich ist; dass w i r also aus


dem Kreise unseres Bewusstseins nicht heraustreten können; das
ist freilich richtig, aber es ist, für sich allein genommen, ein
banaler und unfruchtbarer Satz%) \Wenn die M e t a p h y s i k
an diesem Satze ein Interesse haben mag, so wird das Inter‑
esse der E r k e n n t n i s t h e o r i e durch ihn noch i n keiner
Weise angedeutet, geschweige erschöpft. Es ist nichts damit
geleistet, wenn w i r unsere sämtlichen Erkenntnisse gemein‑
sam dem allumfassenden Gattungsbegriff des „Bewusstseins“
einordnen; vielmehr besteht die eigentliche Aufgabe darin,
innerhalb dieser Einheit selbst, die w i r anerkennen u n d
zugrunde legen dürfen, wiederum eine scharfe S o n d e r u n g
zwischen zufälligen und allgemeingültigen Sätzen, zwischen fak‑
tischen Aussagen über den momentanen Zustand eines Einzel‑
subjekts und notwendigen und unaufheblichen logischen Grund‑
wahrheiten zu treffen. Die Beziebung auf andere denkende
Wesen, die vielleicht eine andere Organisation als w i r selbst
besitzen, können wir aus dieser letzteren Frage völlig aus‑
schalten. „Man setze anstatt der Wörter o b j e k t i v i s c h und
subjektivisch die Wörter u n v e r ä n d e r l i c h subjektivisch
und v e r ä n d e r l i c h s u b j e k t i v i s c h , s o ist e s nicht nöthig, auf
die Denkkräfte anderer Wesen Rücksicht zu nehmen, von denen
w i r keine Begriffe haben, und dennoch zeiget es sich, wie viel
sie bedeute. Es ist das nämliche, wenn w i r fragen, was hängt
v o n der besondern Einrichtung unserer Organe ab u n d v o n
unserer jetzigen Verfassung? was ist dagegen nothwendig und
immer so und bleibet so, wie auch die körperlichen Werkzeuge
unseres Denkens verändert werden möchten, so lange unser I c h
n u r ein denkendes Wesen b l e i b t ? ) Die Grenzlinie verläuft
jetzt nicht mehr, wie in der Metaphysik, zwischen den absoluten
Dingen „ausser uns“ und den Erkenntnissen „ i n uns“, sondern
sie hält sich im Gebiet der Erkenntnisse selbst, um diese nach
ihrem Werte und nach der A r t ihrer Geltung zu unterscheiden.
Ist aber die Aufgabe einmal auf diese Weise fixiert, so droht
nunmehr der Sicherheit des Wissens von den skeptischen Relati‑
vitätstheorien keine Gefahr mehr. Denn nunmehr lässt sich das
rpürov beüdos aller dieser Theorien leicht durchschauen. Sie alle
legen irgend eine Gesamtanschauung über das S e i n der Dinge
und erkenntnistheoretischer
Methaphysischer und
Methaphysischer erkenntnistheoretischer Sinn
Sinn der Objektivität. 455
der Objektivität. 455

zu Grunde und
zu Grunde und versuchen
versuchen vvon i b r aus
o n ihr aus dasdas unbedingte
unbedingte Recht Recht der
logischen Wa
logischen W a h r h eeiitt zu bestreiten. Aber es
zu bestreiten. es ist vergeblich, die
ist vergeblich, die
auf diese
o g i k auf
LLogik diese WeiseWeise in die Naturwissenschaft und
die Naturwissenschaft und insbesondere
insbesondere
iinn die
die P h y s i o l o g i e aufgehen
Physiologie aufgehen z zuu lassen:
lassen: denn müssten wir nicht,
denn müssten nicht,
um dies dies tun zu können, unbedingte
tun zu können, die unbedingte Gültigkeit eben
die Gültigkeit eben unserer
unserer
naturwissenschaftlichen
naturwissenschaftlichen E Er k e e nn nn t nn i s s
s ee dargetan
dargetan haben? h a b e n ? „„Ich Ich
sehe" -‐ bemerkt
sehe“ bemerkt Tetens gegen LLossius
Tetens gegen o s s i u s -‐ „ich sebe darin
„ich sehe darin keine
keine
Erklärung
Erklärung unserer unserer Denkarten,
Denkarten, wenn wenn nnur u r blos statt der Wörter
blos statt
Vorstellungen, Gedanken,
Vorstellungen, Gedanken, Seele, Seele, Einbildungskraft,
Einbildungskraft, die die Wörter
Fibernschwingungen, Fibernsystem
Fibernschwingungen, Fibernsystem und und Wirkungen
Wirkungen auf das das FFi-i ‑
bernsystem
bernsystem u. u. ss.
. f.f. gebraucht
gebraucht werden.
werden. W Wir i r haben
haben von von denden letztern
letztern
nicht bessere
nicht bessere Ideen,Ideen, als den gewöhnlichen."
als den gewöhnlichen.“ Soll hierdurch
Soll aber hierdurch
gar die die A r t und
Art angegeben werden,
Weise angegeben
und Weise werden, wie wie dasdas Widersprechende
sich im Denken
sich vereinigen lasse,
Denken vereinigen lasse, -‐ so so istist dies
dies freilich
freilich vvon o n allem
allem
das
das Unbegreiflicbste.
Unbegreiflichste. Zunächst Zunächst nämlich nämlich wird wird hier hier schonschon der der
eigentliche Sinn
eigentliche Sinn des Satzes vom
des Satzes vom Widerspruch
Widerspruch verfälscht. verfälscht. Denn Denn
falls dieser
dieser SatzSatz überhaupt
überhaupt etwas etwas darüber aussagen aussagen wollte, wollte, was
tatsächlichen Denken
unserem tatsächlichen
in unserem Denken vor sich geht, falls er lediglich
sich geht, lediglich
ein empirisches Naturgesetz
ein empirisches Naturgesetz des des w i r k lliicc h enn Denkgeschebens
Denkgeschebens
sein wollte, so
sein so wäre
wäre er offenbar ungenau.
er offenbar ungenau. Dass Dass irgend
irgend ein ein ein‑
ein-
zelnes Subjekt sachlich
zeilnes Subjekt sachlich unvereinbare
unvereinbare Bestimmungen Bestimmungen dennoch d e n n o c h in
seinen Gedanken vereint:
seinen Gedanken vereint: diesdies ist ist nicht
nicht nnur nicht unmöglich,
u r nicht unmöglich,
ssondern durch die
o n d e r n durch die alltäglichste Erfahrung bewiesen.
alltäglichste Erfahrung bewiesen. Die Die Frage
Frage
lautet indessen
lautet hier nicht, ob kontradiktorische
indessen hier nicht, ob kontradiktorische Merkmale Merkmale in der
der
subjektiven Vorstellung
subjektiven Vorstellung zusammengenommen
zusammengenommen werden werden können, können,
sondern ob sie
sondern sie objektiv zusammengehören.
zusammengehören. Sie Sie betrifft
betrifft nicht
nicht denden
A
Akt, sondern lediglich
k t , sondern lediglich den den II n h aalltt des Denkens; nicht
des Denkens; nicht den den psy‑
psy-
chologischen Vollzug
chologischen Vollzug der Vorstellungen,
Vorstellungen, sondern sondern lediglich
lediglich die die
Bedeutung,
Bedeutung, die sie als
die sie als Prädikate
Prädikate eines Urteils besitzen.
eines Urteils besitzen. „Sollten
solche Ideen,
solche Ideen, als unsere widersprechende Prädikate
als unsere Prädikate sind, sind, die
Idee
Idee vvom o m Zirkelrunden
Zirkelrunden und und die die Idee Idee von Winkeln und
von Winkeln und Ecken,
Ecken,
in irgend
irgend einer einer Denkkraft
Denkkraft als als Prädikate
Prädikate Einer Einer Figur
Figur vereinigt
vereinigt
werden können,
werden können, so so müssen
müssen es solche Ideen
es solche Ideen nichtnicht mehrmehr sein, sein, alsals
sie es
sie es bei
bei uns sind. Sie
uns sind. Sie müssen
müssen sich sich nicht nicht ausschliessen,
ausschliessen, oder oder
aufbeben. Und
aufheben. Und wennwenn sie nicht thun,
das nicht
sie das thun, so so sind freilich auch
sind sie freilich auch
n i c h t widersprechend,
nicht widersprechend, aber dann sind
aber dann sind sie auch nicht
sie auch nicht uunsere nsere
Ideen, sondern wer
Ideen, sondern wer weiss
weiss was anders.28) Sobald
was anders.“%) Sobald w wir
i r vvon einem
o n einem
andersarligen Verstande
andersarligen Verstande sprechen,
sprechen, ffür ü r denden ein ein anderer Begriff Begrift
456
456 Subjektive und objektive
Subjektive und objektive Begründung
Begründung der
der Erkenninis.
Erkenntnis.

der Wahrheit als


der Wahrheit der unsrige
als der gälte, so
unsrige gälte, stellen w
so stellen wiri r damit
damit doch
doch
eine hypothetische
eine hypothetische S e t z u n g auf,
Setzung auf, die
die als solche, wie
als solche, wie jeglicher
jeglicher
andere Inhalt,
andere Inhalt, den
den formalen
formalen Gesetzen Denkens Genüge
unseres Denkens
Gesetzen unseres Genüge
ttun muss. Es
u n muss. Es lässt sich indessen
lässt sich leicht einsehen,
indessen leicht einsehen, dass eben eben
diese Grundbedingung hier
diese Grundbedingung hier nicht
nicht erfüllt ist. E
erfüllt ist. i n Verstand,
Ein Verstand, der
Widersprüche
Widersprüche sollte denken können,
sollte denken -müsste etwas
können, „müsste etwas gewahrnehmen
gewahrnehmen
und
und nicht gewahrnehmen können,
nicht gewahrnehmen können, zugleich
zugleich dieselbigen
dieselbigen Dinge Dinge
ffür
ü r ähnliche erkennen, und
ähnliche erkennen, und auch
auch ffür ü r verschiedene“,
verschiedene", er würde
somit
somit für den menschlichen
f ü r den menschlichen selbst nichts nichts anderes,
anderes, als als ein
ein vier‑
vier-
eckiger Zirkel sein. „Das Dasein eines
eckiger Zirkel sein. „Das Dasein eines solchen Verstandes muss solchen Verstandes muss
iich
c h also
also eben eben so notwendig verneinen,
so notwendig verneinen, als die Existenz eines
die Existenz
widersprechenden
widersprechenden Objekts: Objekts: und und jenen
jenen ffür möglich hallen,
ü r möglich hallen, heisst
heisst
eben so
eben so viel,
viel, als die ungedenkbare
als die ungedenkbare Sache Sache selbst dafür ansehen.“
selbst dafür ansehen."
Der Satz
Der Satz des des Widerspruchs ist also nicht
Wi d e r s p r u c h s ist nicht allein
allein ein ein Gesetz
Gesetz ffür ür
u n s e r e n Verstand,
unseren sondern für jeden
Verstand, sondern andern: er ist,
jeden andern: ist, mmiti t andern
andern
Worten, eben
Worten, eben so so gewiss
gewiss ein ein objektivisches
objektivisches Prinzip, Prinzip, als als erer ein
ein
wahres Prinzip ist.
w a h r e s Prinzip ist. Das Gleiche aber gilt
Das Gleiche gilt weiterhin
weiterhin für alle alle n o tt-‑
wendigen Grundsätze,
wendigen Grundsätze, wie wie eses z.z. B.die Sätze der Geometrie
B. die Sätze Geometrie sind: sind:
wer es
wer unternimmt, sie
es unternimmt, sie ausaus unserer spezifischen Organisation
unserer spezifischen Organisation
abzuleiten, der
abzuleiten, der muss
muss sie zuvor ihres
sie zuvor ihres eigentlichen
eigentlichen Sinnes Sinnes ent‑ ent-
kleiden.2)
kleiden.2) Denn ihre logische
Denn ihre logische Grundbedeutung
Grundbedeutung besteht besteht ebenebendarin,
darin,
dass wir
dass wir es ihnen nicht
es in ihnen nicht mit mit einem blossen „matter
einem blossen „matter of fact“,fact",
nicht mit
nicht mit besonderen
besonderen Tatsachenwahrheiten
T a t s a c h e n w a h r h e i t e n zu zu tuntun haben,
haben,
sondern in
sondern in ihnen allgemeingültige ideale
ihnen allgemeingültige Beziehungen besitzen,
ideale Beziehungen besitzen,
auf Grund deren
auf Grund deren w i r alle
wir unsere U r t eeii l ee ü b ee rr T
alle unsere a t s a c h e n regeln.
Tatsachen regeln.
Die Frage nach
Die Frage nach demdem G Gegenstand der Erkenntnis
e g e n s t a n d der Erkenntnis löst löst sich
sich in
die andere
die andere nach nach derder „objektivischen“
„objektivischen" Natur Natur unserer obersten
unserer obersten
D e n k g e s e t z e auf,
Denkgesetze auf, womit
womit die die Untersuchung
Untersuchung in neue neue kritische
kritische
Bahnen gelenkt wird.
Bahnen gelenkt wird.

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