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ENTWICKLUNG DER ÜBERSETZUNGSPRINZIPIEN

Vorlesungsskript

THEMA 1: „WAS IST "ÜBERSETZEN"?

1. Übersetzen als Praxis


Der übersetzerischen Tätigkeit und den Übersetzungen kommt in unserer Zeit eine
Bedeutung zu wie nie zuvor. Unabhängig davon, ob man dem Ausspruch „Wir sind im
Zeitalter der Übersetzung" uneingeschränkt zustimmt oder nicht: Notwendigkeit, Wert
und Funktion des Übersetzens, die Wichtigkeit des Übersetzerberufs und die Rolle der
Übersetzung in allen Kommunikationsbereichen unserer Kultur sind erkannt, wenn auch
leider weder in einer breiteren Öffentlichkeit noch bei vielen Auftraggebern
entsprechend anerkannt und gewürdigt. Niemand wird bestreiten, dass Übersetzen
(schriftliche Vermittlung eines Textes in einer anderen Sprache) und Dolmetschen
(mündliche Vermittlung) als Praxis notwendige und unentbehrliche menschliche
Aktivitäten sind. Dies ganz einfach darum, weil man in den verschiedensten Bereichen
des menschlichen Lebens, in den zwischen- und innerstaatlichen Beziehungen, in
Wissenschaft und Technik, im internationalen Geschäfts- und Handelsverkehr, als Leser
schöner Literatur, darauf angewiesen ist oder das Bedürfnis hat, Texte anderer als nur
der eigenen Sprache zu rezipieren. Übersetzungen verwendet man so selbstverständlich
wie (muttersprachliche) Originaltexte.
Übersetzer und Schriftsteller weisen immer wieder auf die fundamentale
Bedeutung des Übersetzens und Dolmetschens für Mensch und Gesellschaft hin. Der
Übersetzer wird als Mittler zwischen Sprachen, Völkern, Ideologien, Literaturen,
Wissenschaften und Kulturen gewürdigt. A. W. Schlegel sieht im Übersetzer einen
Boten von Nation zu Nation, einen „Vermittler gegenseitiger Achtung und
Bewunderung, wo sonst Gleichgültigkeit oder gar Abneigung stattfand". S. von Radecki
spricht die Übersetzung im Deutschen als „innerstes Schicksal" an und verweist auf
Reformation und Romantik, Luther-Bibel und Shakespeare.
Dass Rolle und Wert des Übersetzens erkannt, Leistung und Funktion der
Übersetzer anerkannt werden, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, wenn man sich
Notwendigkeit und Zweckbestimmung des Übersetzens vor Augen hält. Überall und
immer, wo Menschen verschiedener Sprache in irgendeiner Weise miteinander zu tun
haben und wo das Bedürfnis oder die Notwendigkeit besteht, anderssprachliche
Äußerungen und Texte oder Zeugnisse älterer Sprachstufen zu verstehen, und wo es
nicht möglich ist, sich einer gemeinsamen Sprache zu bedienen, braucht man und gibt
es Dolmetscher und Übersetzer, die dank ihrer Sprachkenntnisse die Kommunikation
herstellen und das sonst Unverständliche oder Unzugängliche verstehbar machen
können.
Vor diesem Hintergrund überrascht es, wie schlecht der Status des Übersetzers zum
Teil heute noch ist. Nicht nur in den USA, wie R. W. Brislin geltend macht, sondern auch in
Europa, und zwar sowohl was Status als auch was Bezahlung, Arbeitsbedingungen, soziale
Sicherheit etc. betrifft. Relativ zurückhaltend drückt dies W. Wilss aus, wenn er schreibt:
Trotz der unverkennbaren berufsständischen Integrationsbemühungen wird allerdings
die Tätigkeit des Übersetzens und Dolmetschens, vor allen Dingen die des
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Übersetzens, von den einzelnen Arbeitgebern noch recht unterschiedlich definiert und
bewertet. Dies hängt damit zusammen, dass manche Arbeitgeber mit der Tätigkeit des
Übersetzens, seinen Voraussetzungen, Möglichkeiten und spezifischen Merkmalen
offenbar nur verschwommene, oft sogar unzutreffende oder gar sachfremde
Vorstellungen verbinden. Für viele Arbeitgeber ist die Beschäftigung von Übersetzern
ein notwendiges Übel, und man ignoriert nur allzu leicht die Tatsache, dass es im
Bereich des Übersetzens wie auch im Bereich des Dolmetschens qualitativ streng
abgestufte Funktionen gibt, die man nicht über einen Kamm scheren kann.

2. Übersetzen als Problem: die Übersetzer und ihre Theorien


Parallel zur übersetzerischen Praxis, die Jahrtausende alt ist, gibt es Aussagen über
diese Praxis. Sie bestehen aus folgenden Äußerungen:
– aphorismenhaft-undifferenzierten, oft metaphorischen Äußerungen zum
Übersetzen, die theoretisch z. T. von beschränktem Aufschlusswert sind, aber doch
Hinweise auf grundsätzliche Probleme enthalten.
–Äußerungen, Reflexionen zum Übersetzen und ausführlichere Erörterungen der
Übersetzungsproblematik, die von Übersetzern selbst stammen, meistens in direktem
Zusammenhang mit der Übersetzungstätigkeit entstanden sind und in denen prinzipielle
Aspekte diskutiert werden. Von besonderer Bedeutung für die deutsche
Übersetzungstheorie sind die grundlegenden und immer wieder diskutierten Beiträge
von Martin Luther und Friedrich Schleiermacher.

3. Translation – eine Wissenschaft? Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis des


Übersetzens
Während der beruflichen Tätigkeit als Übersetzer wird man oft mit einer eher
geringschätzigen Einstellung von fachunkundigen Kollegen und Auftraggebern
konfrontiert. Oft betrachtete man den Übersetzer eher als Hilfsarbeiter und nicht als
Fachkraft. Man kommt eben „…an der Tatsache nicht vorbei, dass in der Berufswelt,
zumindest in der akademischen, der Übersetzer ein – fast möchte man sagen – krasser
Außenseiter ist“ (Wilss). Vielen erschien es als selbstverständlich, dass man, wenn man
zwei oder mehr Sprachen beherrscht, auch automatisch des Übersetzens kundig ist. Von
dieser mehr oder weniger allgemein verbreiteten Einstellung ist auch in der
Fachliteratur oft die Rede: „Häufig wird die übersetzerische Kompetenz immer noch als
ein Abfallprodukt angesehen, das bei der Erweiterung der fremdsprachlichen
Kompetenz mehr oder weniger automatisch anfällt.“ (Hönig/Kussmaul). Wolfram Wilss
teilt ebenfalls diese Meinung: „Der Laie nimmt an, dass man, wenn man über
entsprechende Kenntnisse in einer Ausgangssprache (AS) und einer ZS verfügt,
übersetzen kann“ (Wilss). Diese Einstellung lässt sich vor allem bei Kollegen
beobachten, welche zum ersten Mal auf die Hilfe eines Übersetzers angewiesen sind.
Spätestens aber, wenn sie den Unterschied zwischen einer guten und einer schlechten
Übersetzung bemerken und begreifen, schlägt Verachtung in Beachtung um – und sie
fragen sich, ob das Übersetzen nun wirklich so einfach zu bewältigen ist. Die Kollegen
merken, dass es eben nicht ausreicht, zwei Sprachen mehr schlecht als recht zu
beherrschen, um komplizierte technologische Prozesse in einer anderen Sprache zu
beschreiben. Sie erkennen mit der Zeit, dass „Übersetzen und Dolmetschen … etwas
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anderes ist als sprachliche Vermittlung.“ (Ammann).
Diese Geringschätzung von Fachübersetzern und Dolmetschern kommt nicht von
ungefähr. Für den Laien erscheint der Übersetzungsvorgang als eine selbstverständliche
Konsequenz der Beherrschung von zwei oder mehreren Sprachen, der nicht auf
weiterführende Kenntnisse zurückgreift oder wissenschaftlich zu begründen ist.
Daher nehmen sie das Übersetzungswesen nicht oder nur mangelhaft als eigene
wissenschaftliche Disziplin wahr. Überdies existiert die „Übersetzungswissenschaft“ als
solche erst seit relativ kurzer Zeit, denn „die heute etablierten wissenschaftlichen
Disziplinen haben sich im Laufe einer langen Zeit herausgebildet“ (Vermeer). Die
Translationswissenschaft hingegen hat sich aber „erst seit den 50er Jahren des 20. Jh. zu
einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin entwickelt“ (Salevsky). Wolfram Wills
vertritt ebenfalls diese Meinung: „Von vereinzelten, zeitlich weit zurückliegenden
Versuchen … abgesehen, ist … der Übersetzungsunterricht … erst in den drei letzten
Jahrzehnten Gegenstand mehr oder minder systematischer Forschungsbemühungen
gewesen“ (Wilss). Deswegen konnte sich die „Wissenschaftlichkeit“ des
Translationswesens allein schon aus Zeitgründen noch nicht in den Köpfen der
Menschen etablieren. Andererseits wird dieser Faktor durch die weit verbreitete
Behauptung verstärkt, dass die Translation ihren Weg als eigenständige
wissenschaftliche Disziplin noch nicht gefunden hat. Wie zu Zeiten der Renaissance
wird man in akademischen Kreisen oft mit der Annahme konfrontiert, die Translation
sei zwar ein spezifischer, dennoch ein integrativer Bestandteil der Sprachwissenschaft
und nicht eine eigene wissenschaftliche Disziplin. So schreibt Rudolf Walter Jumpelt
noch 1961: „Die Übersetzung als Forschungsaufgabe ist ein Gegenstand der
Sprachwissenschaft“ (Jumpelt).
Wolfram Wills stellt fest, „…dass es der Übersetzungswissenschaft … trotz
intensiver Bemühungen nicht gelungen ist, im wissenschaftlichen Szenario der
Gegenwart richtig Fuß zu fassen und dass sie deshalb noch immer unter einer …
„Akzeptanzkrise“ leidet“ (Wilss). Brigitte Horn-Helf meint dazu: „In diesem
Spannungsfeld bemüht sich die Übersetzungswissenschaft seit Jahren intensiv um
Emanzipation von der Sprachwissenschaft bei gleichzeitiger Distanzierung von einer
kontrastiven Linguistik…“ (Horn-Helf). Diesen Weg der Selbstdefinition und der
Selbstfindung hat die Translationswissenschaft scheinbar noch nicht vollzogen.
Katharina Reiß hat 1994 als Kompromisslösung folgendes formuliert: „Die
Sprachwissenschaft wird und muss immer eine der wesentlichen
Grundlagenwissenschaften für die Übersetzungswissenschaft bleiben…“
Diese Denkweise ist unter anderem der Tatsache zu „verdanken“, dass es innerhalb
dieser Übersetzungswissenschaft“ keine allgemein gültige Theorie gibt. Stattdessen
umfasst die Translatorik Dutzende verschiedene Denkansätze, die zwar „doch alle den
Anspruch haben, das Gleiche, den Vorgang der Umsetzung eines Textes in eine andere
Sprache zu beschreiben“, doch sich dann letztendlich „oft auch direkt widersprechen“
(Stolze). Heidrun Gerzymisch-Arbogast und Klaus Mudersbach beklagen die fehlende
Methodik: „Trotz der Vielfalt übersetzungsbezogener Veröffentlichungen in jüngster
Zeit steht eine wissenschaftliche Methodik des Übersetzens … noch aus.“ (Gerzymisch-
Arbogast/Mudersbach). Letztlich stellen Mary Snell-Hornby und Mira Kadric fest:
„Niemand behauptet, das Übersetzen sei eine Wissenschaft“, sondern in Anlehnung an
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Werner Koller „die wissenschaftliche Erforschung der Übersetzung als Prozess und
Produkt.“ (Snell-Hornby/Kadric). Diese Rahmenbedingungen, vor allem aber das
Scheitern auf dem Weg zur Herausbildung einer allgemeinen Übersetzungstheorie,
verhindern nicht nur eine allgemein gültige Akzeptanz der Translatologie als
Wissenschaft, sondern führen auch dazu, dass oft sogar innerhalb der Fachkreise, also
unter Studierenden und Absolventen des Studienganges Übersetzer- und
Dolmetscherausbildung bzw. unter berufsintegrierten Übersetzern und Dolmetschern,
eine gewisse Theoriefeindlichkeit zum Vorschein kommt. „Vor allem Praktiker
reagieren auf die Erwähnung der Bezeichnung (Übersetzungswissenschaft) gern
allergisch mit dem Protest: Aber Übersetzen ist doch keine Wissenschaft, das ist ein
Handwerk (so meist die Fachtextübersetzer), oder das ist eine Kunst (so meist die
Literaturübersetzer)“ (Snell-Hornby/Kadric). Es gibt jedoch auch Versuche eines
Brückenschlags zwischen „Praktikern“ und „Theoretikern“: so wurde bereits im Jahre
1983 ein „Koordinierungsausschuss Praxis und Lehre“ vom Bundesverband der
Dolmetscher und Übersetzer der BRD installiert, das sich seitdem zwei Mal jährlich
trifft, um Informationen zwischen Vertretern der universitären Einrichtungen und der
Translationspraxis auszutauschen und Problemlösungen zu erarbeiten.
Ist die Translatorik überhaupt eine Wissenschaft? Um eine Wissenschaft
herauszubilden, braucht man vor allem einen geeigneten Forschungsgegenstand. Die
Physik, zum Beispiel, setzt sich zum Ziel, die Gesetzmäßigkeiten der Vorgänge in der
Natur zu finden und diese analytisch, basierend auf empirischer Methodik der
Datengewinnung und -auswertung, zu erklären. Ergo befasst sich diese „exakte
Naturwissenschaft“ mit einem klar umrissenen, jedoch sehr komplizierten und
vielfältigen Forschungsgegenstand, wobei es gilt, klar definierte Begriffe, wie Raum,
Zeit, Körper, Materie oder Energie wissenschaftlich zu beschreiben und zu erklären.
Ähnlich verhält es sich mit anderen, „anerkannten“ Wissenschaften, wobei die
Naturwissenschaften im Hinblick auf einen klar definierten Forschungsgegenstand und
fest umrissene Theorien und Ansätze einen deutlichen Vorsprung vor den
Geisteswissenschaften haben.
Gerade bei der Definition des Forschungsgegenstandes offenbart sich das Problem
der Herausbildung und Weiterentwicklung der Translationswissenschaft – es gibt keine
einheitliche Terminologie. Diese ist für die Wissenschaft aber enorm wichtig. Das
Chaos beginnt bereits bei der Suche nach einer geeigneten Bezeichnung des
Forschungsgegenstandes, die „zwischen Ausdrücken, wie … Übersetzungswissenschaft,
Übersetzungstheorie, Translationslinguistik, Translationswissenschaft,
Translationstheorie, Translatologie, Translatorik….“ (Stolze) verloren zu sein scheint.
Heidemarie Salevsky sieht zwar den in den 1970-er Jahren von Otto Kade, einem der
„hervorragendsten Vertreter der sogenannten Leipziger Schule, die sich in den 60er
Jahren in der ehemaligen DDR zu entwickeln begann“ (Prunč), vorgeschlagenen Begriff
Translationswissenschaft als allgemein gültige Sammelbezeichnung des
Forschungsgegenstandes, indem sie behauptet: „Nachhaltig konnte sich
Translationswissenschaft erst in den 90-er Jahren des 20. Jh. gegen die eingebürgerte
Bezeichnung Übersetzungswissenschaft als Oberbegriff durchsetzen“ (Salevsky). Erich
Prunč formuliert ebenfalls: „Unter den konkurrierenden Bezeichnungen hat sich im
deutschen Sprachraum der Name Translationswissenschaft durchgesetzt…“ (Prunč).
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Zwar spricht Werner Koller von einem Oberbegriff Translationswissenschaft, der
Übersetzungswissenschaft und Dolmetschwissenschaft zusammenfasst, ergänzt aber
umgehend, dass der Oberbegriff auch mit Translatologie oder Translatorik
zusammenzusetzen sei. Radegundis Stolze verwendet den Begriff Übersetzungstheorien
und listet das „Begriffschaos“ auch in anderen Sprachräumen auf: „… (engl.) theory of
translation, translation theory, translation science, translation studies, translatology,
(frz.) traductologie, translatistique, théorie de la traduction…” (Stolze). Brigitte Horn-
Helf spricht von „übersetzungstheoretischen Ansätzen“, „Übersetzungswissenschaft“
und „modernen Übersetzungstheorien“. Auch Mary Snell-Hornby und Mira Kadric
setzen auf „Übersetzungswissenschaft“ als Oberbegriff.
Doch selbst wenn es in der Zwischenzeit eine allgemein gültige
„Translationswissenschaft“ gäbe, wäre es für Studierende und Fachkräfte doch etwas
verwirrend, sich mit der Fachliteratur auseinander zu setzen, die vor den 90-er Jahren
(und diese Periode verzeichnet den Löwenanteil an Fachliteratur zur
„Translationswissenschaft“) erschienen ist und wo eben viele verschiedene Begriffe zur
Bezeichnung des Forschungsgegenstandes verwendet werden. Gewiss, die
Übersetzungswissenschaft gehört zu einer relativ jungen Disziplin, deren theoretische
Grundsätze größtenteils erst im 20. Jahrhundert postuliert wurden. „Die Wende … von
überall verstreuten, von Vertretern unterschiedlicher Disziplinen geäußerten Ansichten
über das Übersetzen zu einer eigenständigen Disziplin … erfolgte tatsächlich erst nach
dem Zweiten Weltkrieg“ (Snell-Hornby/Kadric).
Auch das interdisziplinäre Wesen der Translatologie trägt zu der oben erörterten
„Wissenschaftlichkeitsproblematik“ bei. „Der interdisziplinäre Charakter der
Wissenschaft vom Übersetzen … ist ein weiterer Grund für die Vielfalt der
theoretischen Ansätze und damit auch für die Uneinheitlichkeit im Begriffsapparat“,
behauptet Stolze. Neben ihrem Kerngebiet, also der Lehre vom Übersetzen und
Dolmetschen, befasst sich die Translatologie direkt oder indirekt auch mit solchen
Disziplinen, wie der allgemeinen Sprachwissenschaft (darunter zum Beispiel die
Computerlinguistik, Fachsprachenforschung, Terminologie und Lexikologie, etc.), der
Kommunikationswissenschaft, Landeskunde und Kultursoziologie. Ab der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt außerdem die Psychologie, bzw. die Gehirnforschung
eine verstärkte Rolle bei der Entwicklung neuer theoretischen Ansätze im Bezug auf
Übersetzungsprozesse. Ebenfalls mit dem Computerzeitalter wird auch die maschinelle
Übersetzung als Forschungsgebiet immer interessanter.
Wenn man die oben angeführten Argumente genau betrachtet, kommt man
letztendlich zum Schluss, dass es bei der zentralen Frage, ob die Translatorik nun eine
eigenständige Wissenschaft, oder eben ein Teilgebiet der Sprachwissenschaft sei, „noch
nicht entschieden ist, ob es sich hier um eine allgemeine, reine Theoriediskussion
handelt oder vielmehr um eine angewandte Sprachwissenschaft, welche die
Verbesserung konkreter Übersetzungsleistungen zum Ziel hat“ (Stolze). Sehr treffend
formulieren es Mary Snell-Hornby und Mira Kadric: „Auf die immer noch oft gestellte
Frage: Übersetzungswissenschaft – was ist das denn? könnte man pauschal antworten:
Für die einen (inzwischen) eine Selbstverständlichkeit, für die anderen (immer noch) ein
Ärgernis“ (Snell-Hornby/Kadric).

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THEMA 2: „ÜBERSETZUNGSTHEORETISCHE ANSÄTZE IM
ALTERTUM“
Die Geschichte des Übersetzens und Dolmetschens in den verschiedenen
Menschheitsepochen und Sprachräumen vom ägyptischen Reich bis in unsere Zeit ist
bis heute nicht ausreichend erforscht.
Obgleich das Übersetzen oft als eine der ältesten Tätigkeiten der Menschheit
bezeichnet wird, ist die Geschichte der Translation (Übersetzen und Dolmetschen) eine
eher junge Forschungsströmung. Zwar wurden schon in der Vergangenheit Schriften
über das Übersetzen verfasst, wobei bereits bestehende Übersetzungen durchaus in
Betracht gezogen wurden, aber erst in jüngerer Zeit hat sich ein systematischer Ansatz
zur Erforschung der Translationsgeschichte herausgebildet. Besonders seit den 80er
Jahren sind sich Translationswissenschaftler der Notwendigkeit historischer
Untersuchungen bewusst geworden und haben begonnen, adäquate Methoden und
Parameter zu erarbeiten.
Die Geschichte der Translation wirft Licht auf Übersetzer, die häufig ein
Schattendasein geführt haben, und verhilft sowohl Berufsübersetzern als auch der
Allgemeinheit zu einem besseren Verständnis dafür, welchen Beitrag die Übersetzer
durch sämtliche Epochen hindurch zur Entfaltung des Geisteslebens geleistet haben.
An erster Stelle muss man darauf hinweisen, dass es relativ schwierig ist, einen
gut gegliederten historischen Überblick über die Geschichte des Übersetzens und des
Dolmetschens zu erarbeiten, denn „…eine Geschichte der Übersetzung aller Länder und
Zeiten gibt es noch nicht“ (Mounin). Diese Behauptung Georges Mounins aus den 60-er
Jahren hat bis heute ihre Relevanz bewahrt – einheitliche Werke zu Geschichte des
Übersetzens gibt es auch heute nicht. Verschiedene übersetzungstheoretische Werke, in
denen auch Geschichtliches nachzulesen gibt, liefern teilweise widersprüchliche
Angaben und Schlussfolgerungen. Es wird kein chronologisch gegliederter Überblick
angeboten, sondern eher Einzelbeispiele übersetzungswissenschaftlich relevanter Daten.
Ebenfalls ist es auffällig, dass historische Forschung zur Geschichte des Übersetzens
sich mehrheitlich auf den europäischen Kulturkreis konzentriert – es ist somit noch
schwieriger, Daten über die übersetzerische Tätigkeit im alten China oder im arabischen
Kulturkreis ausfindig zu machen. Der spärliche Informationsbestand zur Geschichte des
Übersetzens ist wohl der Tatsache zu "verdanken", dass Fakten in historischen Quellen
selten vorhanden sind – für die Chronisten stand der Übersetzer nie im Mittelpunkt ihrer
Aufmerksamkeit.
Die Geburtsstunde der Schrift ist auch diejenige der Geschichtsschreibung und
eng damit verknüpft ist auch die Geschichte des Übersetzens: bei archäologischen
Grabungen wurden 4500 Jahre alte, zweisprachig sumerisch-hebräische Vokabellisten
auf Steintafeln gefunden. In jüngerer Vergangenheit hat das Christentum dem
Übersetzen weiteren Auftrieb gegeben, weil es den verschiedenen Völkern Zugang zu
den biblischen Texten in ihren Muttersprachen verschaffen wollte. Damit hat das
Christentum dazu beigetragen, Sprachen wie Englisch, Französisch, Deutsch und
Schwedisch festzulegen, und diese Übersetzungen haben auch die Entstehung des
Gefühls nationaler Einheit gefördert.
Die Anfänge des Übersetzens reichen also bis zur Erfindung der Schrift zurück.
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Die älteste Form des Schreibens, die sumerische Keilschrift, entstand in Mesopotamien.
Solche Schriftzeichen erscheinen neben weiteren alten Schriftformen in zwei- und
dreisprachigen Wortlisten auf 4500 Jahre alten Tontafeln, die bei Ausgrabungen zutage
gefördert wurden.
Aufgrund der allgemeinen geschichtlichen Erkenntnisse kann man allerdings
davon ausgehen, dass die ersten Dolmetscher bzw. Übersetzer vor allem im Zuge
kriegerischer Auseinandersetzungen, bei der Verwaltung besetzter Gebiete, beim
Handel sowie bei der Religionsausübung und später auch bei Übertragung
wissenschaftlicher und literarischer Texte ihre Verwendung fanden. „Seit die
Menschheit in verschiedenen Zungen redet, als seit dem Turmbau zu Babel, gehört das
Übersetzen zu den unentbehrlichen Tätigkeiten des Menschen; im politischen wie im
gesellschaftlichen Verkehr, bei Krieg und Raubzug wie beim friedlichen Reisen und
Handeln, und vor allem bei der Übermittlung von Philosophie, Wissenschaft und
Dichtung“ (Störig). So werden Heeresdolmetscher in den Armeen des alten Roms bzw.
in den Heeresscharen Karthagos zwecks Kapitulationsverhandlungen oder
Friedensgesprächen mit dem Feind eingesetzt (Salevsky).
Vor allem das letzte Betätigungsfeld der Übersetzenden erscheint uns sehr
interessant, denn bei den ältesten noch erhaltenen Übersetzungen handelt es sich
vorwiegend um Texte religiösen Charakters. „Die Religion, genauer die Ausbreitung
des Christentums, ist weiterhin zugleich Ursache und wichtigste Triebkraft
übersetzerischer Tätigkeit“ (Mounin). Dies hat vor allem mit dem missionarischen
Wesen der führenden monotheistischen Religionen zu tun. Um die eigene Religion
verbreiten zu können, war auch die Übersetzung der sakralen Dogmen für andere
Kulturkreise vonnöten.
Religiöse Übersetzung
Ein Gutteil der bekannten alten Übersetzungen ist im Zusammenhang mit
Religionskulten entstanden; die Namen der Übersetzer wurden dabei nicht immer mit
überliefert.
Die erste anerkannte durchgehende Bibelübersetzung entstand im Jahre 247 v.
Chr. Dabei handelte es sich um die so genannte Septuaginta, eine Übersetzung des
Alten Testaments aus dem Hebräischen ins Altgriechische. Bei Septuaginta sollen der
Legende nach 70 Übersetzer in 70 Tagen große Teile der später von den Christen als
"Altes Testament" bezeichneten jüdischen Schriften aus dem Hebräischen in das von
den alexandrinischen Juden gesprochene Griechisch übersetzt haben.
Die Sonderstellung der Übersetzung religiöser Texte lässt sich mit der besonderen
Rolle der Bibelübersetzung im Rahmen der Herausbildung der Translatologie beweisen.
Die Bibel ist das meist übersetzte Buch in der Geschichte der Menschheit. Bereits seit
dem 7. Jahrhundert v. Chr. gab es die so genannten Targumim (hebräisches Wort,
stammt aus dem Aramäischen: targum – Dolmetscher, bzw. Kommentar/Übersetzung),
also Teilübersetzungen des Alten Testaments aus dem Hebräischen ins Aramäische.
Diese waren als Hilfsmittel für das Studium des Originalwerkes vorgesehen.

Im ägyptischen Alten Reich glaubte man an die überirdischen Kräfte des


Dolmetschers, der nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Menschen und
Göttern vermitteln konnte. Jedoch sind die Überlieferungen aus dieser Zeit recht
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spärlich, „die Quellen dazu mitunter widersprüchlich“ (Salevsky). Die graphische
Darstellung auf dem „Dolmetscherrelief“ lässt den damaligen Dolmetscher eben anders
erscheinen als einen Vermittler zwischen Menschen und Göttern. Das Relief liefert
außerdem eine mögliche Erklärung für den Mangel an historischen Zeugnissen über
Dolmetscher bzw. Übersetzertätigkeit in der Antike bzw. auch im Mittelalter. Da der
Berufsstand der Dolmetscher/Übersetzer auf der sozialen Werteskala offensichtlich
relativ weit unten angeordnet war, hielten die Chronisten die Tätigkeit der Sprachmittler
für nicht erwähnenswert.
Das berühmte „Dolmetscherrelief“ wurde im Grab des ägyptischen Statthalters
Haremhab gefunden. Wie die historische Beweislage belegt, wurde im altägyptischen
Reich das Dolmetschen rege betrieben und daher stammen auch die ältesten Zeugnisse
für das Dolmetschen und Übersetzen aus Ägypten. Das Relief ist wohl das älteste Bild,
das einen Dolmetscher bei der Ausübung seiner Tätigkeit zeigt. Abgebildet werden die
Verhandlungen eines ägyptischen Beamten mit den Vertretern eines ausländischen
Stammes. Dabei wird die gesellschaftliche Rolle dieses Berufsstandes offensichtlich –
der Dolmetscher ist als kleine, unterwürfige Doppelgestalt abgebildet.
Wie ungerecht diese Missachtung unseres Berufsstandes wirklich ist, wird uns
allerdings erst bewusst, wenn man sich an die großartigen Leistungen auf dem Gebiet
der Übersetzungen erinnert. So ist die Entwicklung der Ägyptologie und die
Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen-Schrift wohl jenem unbekannten
Übersetzer zu verdanken, der die Inschrift auf dem weltberühmten Stein von Rosette in
die demotische Schrift bzw. ins Altgriechische übersetzt hatte.

Dolmetscherrelief

Die Abgesandten wenden sich an den Dolmetscher. Dieser ist sich seiner Bedeutung
wohl bewusst, wie man am Gesichtsausdruck und der Armstellung entnehmen kann.

Der Dolmetscher wendet sich an Haremhab. Beachtlich die unterwürfige Haltung, die
der Dolmetscher jetzt einnimmt.
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Der Diskos von Phaistos
Scheibe aus gebranntem Ton, beidseitig mit spiralförmigem Text beschriftet
- datiert in der mittelminoischen Periode (1850-1600 v. Chr.)
- Hieroglyphenschrift, altkretische Siegel, Ende des 3. Jahrtausend v. Chr., bis heute
nicht entziffert

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Erste Hinweise auf Sprachmittlung in der Bibel
Der erste Hinweis auf Sprachmittlung findet sich bereits in der Genesis. Als die
Brüder Josefs nach Ägypten kamen, um dort während der Hungersnot Getreide zu
kaufen, ,,redete [Josef] mit ihnen durch einen Dolmetscher" (Gen 42,23), da er sich
ihnen nicht zu erkennen geben wollte. Dies legt die Vermutung nahe, dass es in großen
Reichen wie dem ägyptischen bereits fix angestellte Berufs-Dolmetscher gab, welche
die Kommunikation mit fremdsprachigen Ausländern sicherstellen sollten.
Im Buch Ester findet sich im achten Kapitel ein Bericht, der einen kleinen
Einblick in die Tätigkeit damaliger Übersetzer gibt. Dort wird erwähnt, dass die
Schreiber des persischen Königs Xerxes I. (519-465 v. Chr.) beauftragt wurden, ein
Gebot ,,an die Juden und an die Fürsten, Statthalter und Obersten in den Ländern vom
Indus bis zum Nil, hundertundsiebenundzwanzig Ländern, einem jeden Lande in seiner
Schrift, einem jeden Volk in seiner Sprache und auch den Juden in ihrer Schrift und
Sprache" (Est 8,9) zu schreiben. Die Juden, die aus der Gefangenschaft in
Mesopotamien zurückgekehrt waren, verstanden das Hebräische, das in den Heiligen
Schriften verwendet wurde, nicht mehr. Dies bedeutete, dass Dolmetscher (oder
,,Ausleger") den Inhalt auf Aramäisch, der sich schnell ausbreitenden semitischen
Handelssprache des östlichen Mittelmeerraums, erklären mussten, damit das Volk es
verstehen konnte.

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THEMA 3: „ÜBERSETZUNGSTHEORETISCHE ANSÄTZE
IN DER ANTIKE“
Das berühmteste Zeugnis antiker Übersetzung stammt aus dem Jahre 196 v. Chr.
und wurde 1799 in Rosette, einem kleinen Dorf im westlichen Nildelta gefunden. Der
heute im "British Museum" in London zu besichtigende "Stein von Rosette" ist in zwei
Sprachen (altägyptisch und griechisch) und in drei Formen (Hieroglyphen, Demotisch,
Griechisch) beschriftet.
Neuägyptisch – Hieroglyphenschrift
Demotisch – demotische Schrift (Kursivform von Hieroglyphenschrift)
Griechisch – griechisches Alphabet
- gefunden in Rashid (Rosetta) im Zuge von Napoleons Feldzug nach Ägypten;
- von Napoleons Ägyptologen ins Nationalmuseum in Kairo gebracht
Inhalt: Der Stein von Rosette erhält ein eingemeißeltes Dekret der Priestersynode in
Memphis anlässlich des Jahrestages der Krönung Ptolemaios V. Epiphanes, König über
ganz Ägypten.
Die teilweise gut erhaltene altgriechische bzw. demotische Version bot im Jahre
1822 für den französischen Forscher Jean-Francois Champollion den Schlüssel für die
Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen-Schrift.

Die griechisch-romische Antike ist für uns die erste historisch greifbare
Übersetzungsepoche. In ihr haben sich bestimmte übersetzerische Grundkonzeptionen
erstmals herausgebildet, die auch für die Folgezeit Gültigkeit behalten sollten, ja
teilweise bis heute ausgeübt werden. Zugleich aber unterscheidet sich die antike
Übersetzungspraxis grundsätzlich von der modernen.
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Die Rezeption der Griechen durch die Römer diente auch dem Zweck, das
Lateinische als Sprache zu bereichern, es literaturfähig zu machen, die im Griechischen
schon vorhandenen literarischen Gattungen auf dem Wege der Übersetzung zu
gewinnen.
Anfangs, in der archaischen Zeit, werden die griechischen Vorbilder experi-
mentierend und bezogen auf den Textinhalt oft frei angeeignet. Die antiken Übersetzer
wetteiferten mit ihren Originalen, ergänzten oder reduzierten sie, modifizierten die
Semantik ihres Ausgangstextes, wenn dies im eigenen oder im Interesse ihrer Leser lag.
Dies konnte bis zur Parodie gehen. Ein und derselbe Text fiel in mehreren
Übersetzungen durch verschiedene Übersetzer andersartig aus.
Eine stärkere Selbstreflexion römischer Übersetzer tritt erst in der klassischen
Zeit auf, als die römischen Autoren sich in ihren Originalwerken mehr von den
Vorbildern lösten, und umgekehrt sich in den Übersetzungen stärker um genaue
Nachbildung bemühen konnten.
Das Römische Reich stellt den ersten wirklichen Höhepunkt in der Geschichte
der Translationswissenschaft dar und wir können zweifellos feststellen, dass sowohl der
Aufstieg als auch die rasante Entwicklung des Staatswesens und der Verwaltung, des
Militärs und der Wirtschaft, aber auch der Wissenschaften und der Kunst ohne die
Übersetzungen aus dem Griechischen und aus vielen anderen Sprachen nicht möglich
gewesen wären. Ebenfalls findet die „…erste systematische Beschäftigung mit der
Kunst und dem Handwerk des Übersetzens…“ in Rom (Mounin). Die Römer mussten
das Wertvollste aus anderen Kulturen für die Entwicklung ihrer eigenen Welt einsetzen,
um solche Leistungen zu vollbringen und den Zugang dazu konnten sie nur über die
Sprache, das Verstehen erhalten. Sie mussten diese Erkenntnisse und Kenntnisse
übersetzen, um sie dann weiterentwickeln und fortführen zu können. Dies gilt vor allem
für die Bereiche Wissenschaft, Kunst und Philosophie. Tausende von Texten wurden
vor allem aus dem Griechischen, aber natürlich auch aus dem Koptischen,
Phönizischen, Persischen, Hebräischen ins Lateinische übersetzt bzw. von römischen
Autoren einfach als eigene Werke „kopiert“.
Ausschlaggebend waren aber immer der altgriechische Kulturkreis und die dort
entstandenen technisch-militärisch-wissenschaftliche, verwaltungspolitische und
kulturelle Meisterleistungen. Wissenschaftliche Entdeckungen der Griechen, die Werke
solcher Denker wie Aristoteles, Ptolemäus, Hippokrates, Pythagoras, Euklid von
Alexandria, Archimedes, Aristarch von Samos waren für die Römer von größter
Bedeutung.
Auch die Übermittlung der Literatur der griechischen Klassiker wurde zum
beliebten Betätigungsfeld römischer Übersetzer, von denen die meisten selbst
bedeutende Denker, Dichter oder Literaten waren.
Dank der Übersetzung konnte Rom das reiche kulturelle Erbe Griechenlands
antreten. Um 240 v. Chr. verfasste der griechische Sklave Livius Andronicus eine
lateinische Version der Odyssee und öffnete so den gestrengen Römern das Tor zu den
Schätzen der griechischen Literatur. In Rom entwickelte sich eine bedeutende
Übersetzungstätigkeit. Die Übersetzer – Terenz, Cicero, Horaz, Vergil, Quintilian –
waren auch selber Dichter. Mit ihren Übersetzungen wollten sie die lateinische Literatur
mit Modellen der von ihnen so geschätzten griechischen Autoren bereichern.
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Jene Epoche war aber auch eine Zeit des Nachdenkens über die Kunst des
Übersetzens. Die damals entstandenen Schriften diskutierten die Frage, ob wortgetreu
oder frei übersetzt werden sollte, Wort für Wort oder sinngemäß, und lösten eine
Debatte aus, die über Jahrhunderte hinweg andauern sollte.
Aus der Sicht der Übersetzungswissenschaft ist Marcus Tullius Cicero für uns
einer der bedeutendsten Denker Roms. Er hat griechische Meisterwerke aus
Wissenschaft und Literatur ins Lateinische übersetzt und während die frühen römischen
Übersetzer ihre Vorlagen oft nach Belieben manipulierten, mit dem Textinhalt
experimentierten, dessen Struktur änderten und so den Inhalt bis zur Unkenntlichkeit in
Bezug auf das Original verunstalteten, untermauerte Cicero seine Übersetzungen mit
theoretischen Überlegungen und begründete somit die Anfänge der
Übersetzungswissenschaft.
Cicero sah in der Nachahmung der Griechen einen Weg zur Entwicklung des
eigenen rhetorischen Könnens. In seiner bekannten Abhandlung De oratore trat er für
die freie Übersetzung und die Prägung neuer Ausdrücke ein.
Auch Horaz warnt in seiner Ars poetica von der wörtlichen Übersetzung und
empfiehlt start dessen die sinngemäße Übertragung.
Cicero „formulierte offensichtlich als erster die Dichotomie: „ut interpres“
(treue, d. h. verfremdende Übersetzung) bzw. „ut orator“ (freie Übersetzung, ZS-
zugewandte Neuformulierung)…“.
“Sed cum in eo magnus error esset, quale esset id dicendi genus, putavi mihi
suscipiendum laborem utilem studiosis, mihi quidem ipsi non necessarium. Converti
enim ex Atticis duorum eloquentissimorum nobilissimas orationes inter seque
contrarias, Aeschinis et Demosthenis; nec converti ut interpres, sed ut orator, sententiis
isdem et earum formis tamquam figuris, verbis ad nostram consuetudinem aptis. In
quibus non verbum pro verbo necesse habui reddere, sed genus omne verborum vimque
servavi.”
“Ich glaubte, die Arbeit unternehmen zu müssen, die für die Lerneifrigen nützlich, für
mich selbst freilich nicht notwendig ist; denn ich habe von den beiden größten
Vertretern der attischen Beredsamkeit die berühmtesten Reden, die sie gegeneinander
richteten … übertragen; aber ich habe sie nicht als Dolmetsch übertragen, sondern als
Redner, mit denselben Gedanken samt ihren Redeformen und Wendungen, wobei die
Wörter unserer Gewohnheit angepasst wurden. Hierin habe ich es nicht für notwendig
erachtet, ein Wort durch das andere wiederzugeben, sondern ich habe die
Ausdrucksweise im Ganzen und die Bedeutung aller Wörter beibehalten.“
„Ciceros Kommentare zum Übersetzen stellen einen der ersten überlieferten
Schritte in die theoretische Analyse des Übersetzungsvorganges dar.“ (Best/Kalina).
Der Denker sah in der Aufgabe des Übersetzers nicht das bloße Kopieren von einer
Sprache in die andere, sondern eine sinngemäße Übertragung des Originals in die
Zielsprache und -kultur.
Zur Verbesserung der öffentlichen Rede in Rom empfiehlt Cicero das Studium
der besten Redner des alten Griechenland, vor allem von Aeschines und Demosthenes.
Der Weg dazu: die Übersetzung von deren Reden.
Interessant ist, dass Cicero auch bei der Übersetzungsarbeit seine staatsmännische
Aufgabe sieht und sich zur Pflicht macht, das Lateinische durch Aneignung bzw.
13
Adaptierung griechischer Begriffe, vor allem aus dem Gebiet der Wissenschaft und der
Philosophie, zu bereichern. Mit dieser Einstellung beeinflusst Cicero viele seiner
Zeitgenossen, denn die Römer wollten zum intellektuellen Mittelpunkt der Welt
aufsteigen und die bis dahin unangefochtene Stellung der Griechen brechen.
Wie auch immer die Bemerkungen Ciceros und Horaz’ tatsächlich gemeint
gewesen sind, sie wurden meist als Empfehlung für das freie Übersetzen verstanden und
besaßen Gewicht, solange die antiken Autoren als Autoritäten galten. Sogar
Bibelübersetzer wie der Kirchenvater Hieronymus dachten nicht anders.
Einige Übersetzungsverfahren der Antike. Im Umgang beispielsweise mit der
lexikalischen Lücke, dem Fehlen eines passenden Ausdrucks in der Zielsprache, haben
die Übersetzer verschiedene Strategien entwickelt:
1. Das Übersetzungslehnwort (exprimi verbum e verbo), das in der Regel einen
zielsprachlichen Neologismus darstellt. So wurde der lateinische Wortschatz erweitert,
indem Wortbildungsgesetze imitiert und nach Analogie der griechischen Komposita
lateinische Zusammensetzungen geformt wurden: omnipotens, altivolans, altisonus.
Auch in der deutschen Übersetzung der Odyssee finden wir solche Ausdrücke: die
schönäugige Jungfrau Nausikaa, die rosenfingrige Morgenröte. Produktiv sind auch die
Zusammensetzungen mit Prafix: ανεφελος - innubilus - wolkenlos.
2. Bei Bedeutungslehnwörtern wurden bereits existierende lateinische Wörter mit neu-
en Bedeutungen gefüllt, so wenn z. B. griechische Götternamen (Ερμειας) durch latei-
nische ersetzt wurden (Mercurius).
3. Manchmal wurden lexikalische Lücken auch geschlossen, indem das griechische
Wort einfach als Fremdwort, als Exotismus in den lateinischen Text aufgenommen
wurde,
4. oder mit mehreren lateinischen Wörtern umschrieben wurde (Paraphrase). (Quod
uno Graeci ... idem pluribus verbis exponere).

14
THEMA 4: „ÜBERSETZUNGSTHEORETISCHE ANSÄTZE
IM FRÜHEN CHRISTENTUM“
Religiöse Übersetzung
Ein Gutteil der bekannten alten Übersetzungen ist im Zusammenhang mit
Religionskulten entstanden; die Namen der Übersetzer wurden dabei nicht immer mit
überliefert.
Die erste anerkannte durchgehende Bibelübersetzung entstand im Jahre 247 v.
Chr. Dabei handelte es sich um die so genannte Septuaginta, eine Übersetzung des
Alten Testaments aus dem Hebräischen ins Altgriechische. Bei Septuaginta sollen der
Legende nach 70 Übersetzer in 70 Tagen große Teile der später von den Christen als
"Altes Testament" bezeichneten jüdischen Schriften aus dem Hebräischen in das von
den alexandrinischen Juden gesprochene Griechisch übersetzt haben.
Die Sonderstellung der Übersetzung religiöser Texte lässt sich mit der besonderen
Rolle der Bibelübersetzung im Rahmen der Herausbildung der Translatologie beweisen.
Die Bibel ist das meist übersetzte Buch in der Geschichte der Menschheit. Bereits seit
dem 7. Jahrhundert v. Chr. gab es die so genannten Targumim (hebräisches Wort,
stammt aus dem Aramäischen: targum – Dolmetscher, bzw. Kommentar/Übersetzung),
also Teilübersetzungen des Alten Testaments aus dem Hebräischen ins Aramäische.
Diese waren als Hilfsmittel für das Studium des Originalwerkes vorgesehen.
Eine der herausragendsten Persönlichkeiten des Altertums war Hieronymus,
später bekannt als hl. Hieronymus (ca. 331– ca. 420). Hieronymus ist als Verfasser der
Vulgata, der als authentisch anerkannten lateinischen Bibel, bekannt. Er wurde als Sohn
christlicher Eltern in einer Stadt im Grenzgebiet zwischen Dalmatien und Pannonien,
geboren. Später wurde er zum Studium nach Rom geschickt. Während der Jahre, die er
dort verbrachte, erwarb er Kenntnisse in klassischer Literatur (insbesondere Vergil,
Horaz und Cicero), orientalischer Philosophie und Recht.
Nach einiger Zeit gab er seine Beamtenlaufbahn im Dienste des Römischen
Reiches auf, trennte sich von seinen irdischen Gütern und zog nach Osten. Während
seines Aufenthalts in Antiochia, wo er mit dem Studium der griechischen Sprache
begann, entdeckte er die christliche Literatur. Er zog weiter in die Wüste, in das Gebiet
des heutigen Syrien, und verbrachte dort zwei Jahre in Buße. Er widmete sich dem
Studium christlicher Literatur und der Bibel und erweiterte seine Kenntnisse des He-
bräischen. Schließlich kehrte er nach Antiochia zurück, wo er in den Priesterstand
aufgenommen wurde.
Im Jahre 382 kehrte Hieronymus nach Rom zurück, wo er als Sekretär,
Dolmetscher und theologischer Berater für Papst Damasus I. tätig war. Da er sich zu
dieser Zeit bereits einen Namen als Philosoph und dreisprachiger Gelehrter gemacht
hatte, der mit dem Hebräischen, Griechischen und Lateinischen gleichermaßen vertraut
war, beauftragte ihn der Papst mit der Übersetzung und Revision der Bibel. Hieronymus
begann mit der Übersetzung des Neuen Testaments und der Psalmen, wobei er
anerkannte griechische Texte als Ausgangsmaterial verwendete.
15
Hieronymus schrieb zu seiner Übersetzungsmethode:
„Ich […] bekenne es frei heraus, dass ich […] nicht ein Wort durch das
andere, sondern einen Sinn durch den anderen ausdrücke“.

Nach Damasus' Tod im Jahre 384 fiel Hieronymus in Ungnade. Er zog sich nach
Bethlehem zurück und setzte dort seine Übersetzertätigkeit fort. Nachdem er eine
Übersetzung des Alten Testaments aus dem Griechischen vollendet hatte, übersetzte er
es aus dem Hebräischen noch einmal neu. Er ist dafür bekannt, als erster das Alte
Testament direkt aus dem Hebräischen ins Lateinische übersetzt zu haben, und nicht
ausgehend von der Septuaginta, einer früheren griechischen Übersetzung der he-
bräischen Bibel. Trotz einigen Widerstands gegen Hieronymus' Übersetzungen wurde
die lateinische Vulgata mit seiner Übersetzung des Alten und des Neuen Testaments
jahrhundertelang von der römisch-katholischen Kirche verwendet.
Hieronymus war maßgeblich an der Annäherung zwischen der klassischen Kultur
und dem Christentum beteiligt. Zeit seines Lebens war er eine umstrittene Figur, hatte
aber auch seine Anhänger. Seine Heiligsprechung erfolgte im 8. Jahrhundert. Der Kult
um seine Person wurde während einiger Zeit vernachlässigt, erfuhr aber zur Zeit der
Renaissance einen erneuten Aufschwung. Er war einer jener christlichen Heiligen, die
zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert der Malerei und der Kunst im allgemeinen am
häufigsten als Quelle der Inspiration dienten. Seit 1992 feiert die Federation Inter-
nationale des Traducteurs (FIT) am 30. September den Hieronymustag, den
internationalen Tag der Übersetzung.

Althochdeutsche Literatur
Die Anfänge einer deutschsprachigen ‚Literatur‘ bestehen aus mühsamen, oft
unvollkommenen Übersetzungen aus dem Lateinischen.
Von daher verwundert es nicht, wenn eines der ältesten deutschsprachigen
Bücher ein Wörterbuch ist: der sogenannte ABROGANS.
Eine häufig angewendete Übersetzungstechnik ist die sogenannte
INTERLINEARTECHNIK

16
Die althochdeutsche Benediktinerregel, weitgehend interlinear realisiert;
Beispiele:
􀁺 Lat.: Revela domino viam tuam et spera in eum
􀁺 Ahd.: intrih truhtine uuec dinan indi uuani in inan
􀁺 Nhd.: Offenbare dem Herrn deinen Weg und hoffe auf ihn
Ahd. Wortstellung am Lateinischen orientiert
Vgl. auch ‚Vater unser …‘ ‚Pater noster‘

ÜBERSETZUNGEN AUS DEM LATEINISCHEN


Ahd: Gilaubiu in got fater almahtigon
Lat.: Credo in deum patrem omnipotentem
Nhd.: Ich glaube an den allmächtigen Gott Vater
Ahd.: scepphion himiles enti erda
Lat.: creatorem caeli et terrae
Nhd.: den Schöpfer des Himmels und der Erde
Ahd: unde an heilenton Christ suno sinan einagon truhtin unseran
Lat.: et in Jesum Christum filium eius unicum dominum nostrum
Nhd.: und an seinen einen Sohn Jesus Christus unseren Herrn
Geschriebene deutsche Sprache ist in ihren Anfängen das Resultat einer
Übersetzungstätigkeit, deren Spektrum von Glossen und Wort-für-Wort-Umsetzungen
bis zu selbständigen Übersetzungsleistungen reicht. Autochthone, von lateinischen
Vorlagen unabhängige Texte bilden die Ausnahme in der althochdeutschen
Überlieferung (z. B. Altheudeutscher Isidor (Übersetzung von Isidor von Sevilla),
Notker der Deutsche).
In den Jahrhunderten althochdeutscher Spracharbeit, die primär
Übersetzungsarbeit ist, stehen die althochdeutschen Dialekte in ihrem germanisch-
„heidnischen" Gepräge vor der kommunikativen Herausforderung, lateinische Sprache
und christlich-antike Kultur im Deutschen schriftsprachlich zu erfassen und zu
vermitteln. Die Volkssprache, die als ungeübt und regellos aufgefasst wird, ist „lingua
vulgaris et illiterata".
Entstehungs- und Gebrauchsort der althochdeutschen Übersetzungstexte ist das
Kloster; die Klosterschule bestimmt ihre (Hilfs-)Funktion. Konkret bedeutet das: dem
Klosterschüler soll beim Verstehen der lateinischen Vorlagen und beim Lateinlernen
geholfen werden.
Etikettierungen althochdeutscher Übersetzungen mit Ausdrucken wie „primitive
Wörtlichkeit" oder „sklavische Abhängigkeit von der Vorlage" verbieten sich, wenn
man sich vergegenwärtigt, welche Sprach-, Denk- und Kulturleistungen in ihnen

17
vollbracht werden, welches sprachliche Experimentierfeld sie darstellen, darstellen
mussten. Generell gilt für althochdeutsche Übersetzungen, dass sie durch die Schule
des Lateins gehen. Indem sich die althochdeutsche Sprache der Übersetzungen in die
„Zwangsjacke" des Lateins pressen lässt, lernt sie nicht nur christliche und antike
Kultur in deutscher Sprache zu bewältigen, sie ist schließlich fähig, das Latein als
Fach- und Literatursprache abzulösen. Es ist dies ein Prozess, der freilich erst in
neuhochdeutscher Zeit zum Abschluss kommt.

18
THEMA 5 „ÜBERSETZUNGSTHEORETISCHE ANSÄTZE IM
MITTELALTER“
Vom Altertum bis ins Mittelalter ermöglichte die Arbeit von Übersetzern den
Wissenstransfer zwischen den Zivilisationen. Einige Städte treten dabei als Zentren
außerordentlicher übersetzerischer Tätigkeit hervor. Um 300 v. Chr. war die ägyptische
Stadt Alexandria ein Ort des Austauschs zwischen Europa, dem Mittleren Osten und
Indien, aber auch ein Zentrum der Hellenistik, in dem die Übersetzung eine wichtige
Rolle spielte. Im 9. und 10. Jahrhundert übersetzten Gelehrte in Bagdad die wissen-
schaftlichen und philosophischen Werke der griechischen Antike ins Arabische, die
Sprache des jungen islamischen Reichs.
Im 12. Jahrhundert wurden diese arabischen Übersetzungen in Toledo ins La-
teinische übersetzt. Der Begriff „Schule von Toledo" steht für die Blütezeit der
Übersetzung im Spanien des 12. und 13. Jahrhunderts. Im Zentrum des Interesses
standen die philosophischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der griechischen
und arabischen Welt, insbesondere in den Bereichen Medizin, Mathematik, Astronomie
und Astrologie.
Das damalige Europa war arm an wissenschaftlichen und philosophischen
Werken. Im 12. Jahrhundert versuchten Übersetzer unter der Schirmherrschaft der
Kirche die lateinische Kultur mit fremdem Wissen zu bereichern. Mit diesem Schatz an
Wissen als Fundament begannen sie schließlich im 13. Jahrhundert unter dem Patronat
Königs Alfonso X. mit dem Aufbau einer spanischen Kultur.
Der sogenannten "Schule von Toledo" kam beim Transfer wissenschaftlicher und
philosophischer Erkenntnisse ins mittelalterliche Europa eine wichtige Rolle zu. Es
steht außer Zweifel, dass die Übersetzer Toledos den westlichen Wissensstand
grundlegend verändert haben. Die dank Averroës (Аверроес) und Avicennas
Kommentaren eingeleitete Wiederentdeckung von Aristoteles führte in den
neugegründeten Universitäten zu einem intellektuellen Aufschwung. Der Transfer
bedeutender Werke arabischen Ursprungs nach Europa hatte eine Erweiterung des
Wissens und die Herausbildung eines umfassenderen Weltbildes zur Folge.
In diesem Zeitraum erschließt sich die deutsche Sprache, im Neben- und
Miteinander mit dem Latein, neue und zugleich immer speziellere
Anwendungsbereiche, bis sich im 14. und 15. Jahrhundert eine Prosa- und
Fachprosaliteratur herausbildet, in der das Deutsche als Schriftsprache die Stufe eines
alle Lebens- und Sachbereiche abdeckenden Kommunikationssystems erreicht. Bei
dieser Entwicklung spielt die Übersetzung bzw. die bearbeitende und aneignende
Auseinandersetzung mit fremden Vorlagen, Quellen und Stoffen (in erster Linie
lateinischen und französischen) eine hervorragende Rolle. Die wachsenden
volkssprachlichen Kommunikationsbedürfnisse, die sich im ständigen Anschwellen der
Übersetzungsproduktion manifestieren, treiben Erweiterung und Differenzierung des
Begriffs- und Wortinventars und der Syntax des Deutschen voran. Erweiterung und
Differenzierung spielen sich dabei im Wesentlichen auf der Ebene der Sprachnorm ab:
Nach 400 Jahren althochdeutscher Sprach- und Übersetzungsarbeit verfügt das
Deutsche über die Möglichkeiten, die zur Wiedergabe lateinischer Konstruktionen und
Inhalte notwendig sind. Man vergegenwärtige sich den Sachverhalt, dass es Albrecht
19
von Halberstadt (um 1200) um 1210 unternimmt, ein Werk wie Ovids
„Metamorphosen" zu übersetzen. Mittelhochdeutsche Thomas von Aquin (1225-1274)-
Übersetzung und Meister Eckharts (1260-1328) deutsche Werke zeigen eindrücklich,
dass die Volkssprache, zur Schriftsprache geworden, zur Wiedergabe schwierigster
theologischer und philosophischer Argumentation fähig ist.
Was wir in mittel- und frühneuhochdeutscher Zeit beobachten können, ist der
kultur-, literatur- und sprachgeschichtlich so bedeutungsvolle Vorgang der allmählichen
Ausgliederung des Deutschen aus der lateinisch geprägten Schriftkultur. Übersetzungen
und Bearbeitungen stehen am Anfang dieses Prozesses; sie sind zugleich Mittel der
Weiterführung des Zusammenhangs von lateinischer und deutscher Kultur.

Frühneuhochdeutsche Zeit (Mitte 14.- Mitte 17. Jahrhundert)


In dieser Epoche beschleunigt sich der Prozess der Ablösung des Lateins als
Schriftsprache durch das Deutsche. Dass sich vor dem Hintergrund der Existenz
verschiedener Schreibsprachen eine deutsche Schriftsprache etabliert, deren
Verbindlichkeit sich immer mehr durchsetzt, ist in entscheidender Weise mit der
Sprachleistung Martin Luthers verknüpft, die wesentlich Übersetzungsleislung ist.
Neben den besonderen Gründen der historischen und ökonomischen Situation des
Reformationszeitalters, zu denen auch die durch den Buchdruck ermöglichte
Massenverbreitung der Luther-Schriften gehört, hängt die Breitenwirkung der Sprache
von Luthers Bibelübersetzung unmittelbar mit seinem Übersetzungsprinzip des
Verdeutschens zusammen.

Renaissance und Reformation


Im 14. Jahrhundert entstand in Italien die Renaissancebewegung, die sich im 15.
und 16. Jahrhundert in andere, weiter nördlich gelegene Regionen Europas ausbreitete.
Damit begann eine Epoche, die durch neue Ideen und Glaubenskonflikte, Entdeckungen
und Erfindungen, aber auch durch eine Rückbesinnung auf antike Zivilisationen
gekennzeichnet war. Unterstützt vom Aufschwung, den die Erfindung der Druc-
kerpresse ausgelöst hatte, entstanden zahlreiche Übersetzungen, die den Durst nach
Wissen aus fernen Ländern und vergangenen Zeiten stillen sollten. Dieses Wissen war
nicht mehr nur den Gelehrten vorbehalten, auch Diplomaten, Höflinge und Kaufleute
verlangten danach. Ein neues goldenes Zeitalter der Übersetzung hatte begonnen. Jene
Epoche war von zwei wichtigen Strömungen geprägt: Einerseits durch den Hu-
manismus mit seinem neuerwachten Interesse an den Sprachen und der Literatur der
Klassik, andererseits durch die Reformationsbewegung, die ebenfalls eine
Rückbesinnung auf die Ursprünge anstrebte, in diesem Fall jedoch auf die Bibel und die
Sprachen ihrer ursprünglichen Fassung, das Griechische und Hebräische.
Verschiedentlich ist gesagt worden, die Übersetzungsproblematik sei der
Auslöser für die Reformationsbewegung gewesen. Die katholische Kirche hatte die
Übersetzung sakraler Texte stets abgelehnt und die Ansicht vertreten, die Sprache des
christlichen Glaubens sei ausschließlich das Lateinische – obgleich die Vulgata selbst
eine Übersetzung ist. Die Übersetzung der Bibel war also ein gefährliches Unterfangen.
Martin Luther
20
Martin Luther (1483-1546) gilt als Begründer der Reformation. Nach seinem
Rechtsstudium trat er in ein Augustinerkloster in Erfurt ein. Er wurde 1507 zum Priester
geweiht und promovierte 1511 zum Doktor der Theologie. Luther widmete sich zeit
seines Lebens dem Studium der Bibel. Er lehnte sich gegen zahlreiche Praktiken der
Kirche auf und kritisierte insbesondere die Ablassdoktrin. Schließlich wurde er
exkommuniziert und aus dem Reich verbannt, worauf er sich auf die Wartburg
zurückzog, wo er seine Übersetzung des Neuen Testaments in Angriff nahm.
Zusammen mit einer Gruppe Gelehrter arbeitete Luther von 1521 bis 1534 an
seiner Übersetzung. Luthers deutsche Übersetzung des Neuen Testaments wurde 1522
veröffentlicht, die vollständige Bibel erschien 1534 in Wittenberg. Die Lutherbibel war
die erste direkte Übersetzung der Heiligen Schrift aus den Originalsprachen Griechisch
und Hebräisch in eine moderne Sprache.
Martin Luther entschied sich sogar bei der Heiligen Schrift für die freiere
Formulierung: „rem tens, verba sequentur" (erfasse die Sache, dann folgen die Worte
von selbst). Für ihn war es wichtig, dass der Übersetzer eine innere Nähe zum
Gegenstand der Aussage hat und ein sensibles Sprachgefühl für den Rhythmus und die
Melodie des Textganzen, damit die Übersetzung auch die rechte Wirkung erzielen kann.
Bei seiner zehnjährigen Arbeit an der Psalmenübersetzung wünschte er sich z. B. eine
hebräische Stilkunde.
In seinem „Sendbrief vom Dolmetschen" verteidigt er sein Vorgehen mit vielen
Beispielen gegen Kritiker, die ihm eine zu freie Übersetzung vorwarfen. In „Sendbrief
vom Dolmetschen" aus dem Jahre 1530 umreißt M. Luther sein Übersetzungsprinzip
mit folgenden berühmt gewordenen Sätzen:
"Man mus die mutter jhm hause/ die kinder auff der gassen/ den
gemeinen mann auff dem marckt drumb fragen/ und den selbigen auff
das maul sehen / wie sie reden/ und darnach dolmetzschen/ so
verstehen sie es den/ und mercken/ das man Deutsch mit jn redet.
["Man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen,
wie man soll Deutsch reden, ... sondern man muss die Mutter im
Hause, die Kinder in der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt
drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und
darnach dolmetschen."]
Von Luther stammt die Bezeichnung "Verdeutschen".
Wie ein roter Fader zieht sich die Auseinandersetzung über die Methode der
übersetzerischen Tätigkeit durch die Geschichte der Übersetzungstheorie. Im deutschen
Sprachraum hat sie sich in den beiden einander entgegenstehenden Grundforderungen
nach "wörtlicher, getreuer, verfremdender Übersetzung" einerseits und nach „freier,
eindeutschender Übersetzung" andererseits verdichtet. Schon Hieronymus beschrieb das
Dilemma:
"Es ist schwierig, nicht irgendetwas einzubüßen, wenn man einem fremden Text Zeile
für Zeile folgt, und es ist schwer zu erreichen, dass ein gelungener Ausdruck in einer
anderen Sprache dieselbe Angemessenheit in der Übersetzung beibehält. Da ist etwas
durch die besondere Bedeutung eines einzigen Wortes bezeichnet: in meiner Sprache
habe ich aber keines, womit ich es ausdrücken könnte, und, während ich den Sinn zu
treffen suche, muss ich einen langen Umweg machen."
21
Die Bedeutung von Luthers Werk für die Religion ist unbestritten. Bald nach
seinem Tod wurde jedoch auch sein außerordentlicher Einfluss auf Sprache und
Übersetzung offensichtlich. Die ersten deutschen Grammatiken aus dem 16. Jahrhundert
basierten direkt auf Luthers Bibelübersetzung. Der normative Einfluss seines
Sprachgebrauchs lässt sich bis zum Erscheinen von Grimms Wörterbuch im 19.
Jahrhundert nachweisen, welches als wichtigste Quelle Luthers Übersetzung nennt.
Mit seiner Bibelübersetzung leistete Luther einen wesentlichen Beitrag zur
Bereicherung, Standardisierung und stilistischen Vielfalt der deutschen Sprache.
Klarheit, allgemeine Verständlichkeit, Einfachheit und Lebendigkeit sind die
wichtigsten stilistischen Eigenschaften seiner Bibelübersetzung, die noch heute als
Beispiel für guten Sprachgebrauch gilt. Sein Werk diente als Vorbild für Übersetzungen
der Bibel in weitere Sprachen.

22
THEMA 6 „ÜBERSETZUNGSTHEORETISCHE ANSÄTZE IN DER
NEUHOCHDEUTSCHEN ZEIT“

Im 17. Jahrhundert gab es unter den literarischen Übersetzern sowohl Anhänger


der Verfremdung als auch Anhänger der Einbürgerung. Entscheidend war, welches Ziel
der Übersetzer favorisierte, ob er fremde Elemente in die Zielkultur einführen
(verfremden) oder/und die Gedanken des Ausgangstextes für die Zielgruppe
verständlich machen (einbürgern) wollte.
Auch Johann Wolfgang von Goethe verglich die beiden grundlegenden
Übersetzungsprinzipien: "Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, dass
der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, dass wir ihn
als den Unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung,
dass wir uns zu dem Fremden hinüber begeben, und uns in seine Zustände, seine
Sprachweise, seine Eigenheiten finden sollen."
Schleiermacher meint von der Dichotomie zwischen „Eindeutschen“ und
„Verfremden“ folgendes: „Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in
Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe
und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.“
Martin Heidegger formulierte das Problem des Übersetzens so: "Hier wird das
Über setzen zu einem Über setzen an das andere Ufer, das kaum bekannt ist und jenseits
eines breiten Stromes liegt. Da gibt es leicht eine Irrfahrt und zumeist endet sie mit
einem Schiffbruch."
Arthur Schopenhauer fand, die treue Übersetzung wirke meist tot und
unnatürlich, eine freie Übersetzung hingegen sei oft eine falsche Übersetzung.
Ermutigend wirkt die weise Bemerkung Goethes: "Was man auch von der
Unzulänglichkeit des Übersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eins der
wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltwesen."
Goethe meinte: Jede Übersetzung ist Interpretation. Interpretation birgt aber
Gefahren – für den Text und für den Übersetzer. Der Übersetzer Etienne Dolet wurde
im Jahr 1546 wegen einer Übersetzung auf dem Scheiterhaufen verbrannt: Er hatte
Sokrates die Worte in den Mund gelegt, dass nach dem Tod nichts mehr käme. Die
Pariser Universität beschuldigten Dolet, die Unsterblichkeit der Seele in Frage gestellt
zu haben und zwar durch Wörter, die im Original nicht zu erkennen seien. Doch Dolet
hatte nicht Wort für Wort, sondern dem Sinn entsprechend übersetzt. Sein Grundsatz
lautete: "Jene, die versuchen, Zeile für Zeile oder Vers für Vers zu übersetzen, sind
Narren."
Schleiermacher
In seiner Abhandlung „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens"
(1813), dem im 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum wohl wichtigsten
theoretischen Beitrag zum Übersetzen, stellt Friedrich Schleiermacher die Prinzipien
dar, die seiner Platon-Übersetzung zugrunde liegen. Es ist ein Aufsatz, in dem wichtige
Probleme und Aspekte sind, mit denen sich eine Theorie des Übersetzens zu
beschäftigen hat:
1. Übersetzung ist ein Vorgang des Verstehens und des Zum-Verstehen-

23
Bringens: es ist ein hermeneutischer Prozess. Dieser Vermittlungsvorgang ist nicht nur
zwischen verschiedenen Sprachen notwendig, sondern auch innerhalb einer Sprache
(zwischen verschiedenen Dialekten, historischen Sprachstufen, zwischen den Sprachen
verschiedener sozialer Schichten). Schleiermacher weist darauf hin, dass man sogar
seine eigenen Texte nach einer gewissen Zeit wieder „übersetzen" müsse.
2. Texte, in denen die Sprache gleichsam Vehikel ist, um intersubjektiv identisch
erfasste Sachverhalte zu vermitteln und zu „transportieren", stellen andere
Übersetzungsprobleme als Texte, in denen die spezifisch einzelsprachliche Sprachform
mit dem transportierten Inhalt eine Einheit höherer Ordnung bildet. Es geht also um die
Unterscheidung verschiedener Textgattungen, die an den Übersetzer unterschiedliche
Anforderungen stellen. Schleiermacher unterscheidet zwischen dem Dolmetschen, das
sich auf Texte des „Geschäftslebens" bezieht, und dem Übersetzen, das es mit Texten
der Wissenschaft und der Kunst zu tun hat:
Je weniger in der Urschrift der Verfasser selbst heraustrat, je mehr er lediglich als
auffassendes Organ des Gegenstandes handelte und der Ordnung des Raumes und
der Zeit nachging, um desto mehr kommt es bei der Übertragung auf ein bloßes
Dolmetschen an. So schließt sich der Übersetzer von Zeitungsartikeln und
gewöhnlichen Reisebeschreibungen zunächst an den Dolmetscher an, und es kann
lächerlich werden, wenn seine Arbeit größere Ansprüche macht und er dafür
angesehen sein will als Künstler verfahren zu haben. Je mehr hingegen des
Verfassers eigentümliche Art zu sehen und zu verbinden in der Darstellung
vorgewaltet hat, je mehr er irgend einer frei gewählten oder durch den Eindruck
bestimmten Ordnung gefolgt ist, desto mehr spielt schon seine Arbeit in das
höhere Gebiet der Kunst hinüber, und auch der Übersetzer muss dann schon
andere Kräfte und Geschicklichkeiten zu seiner Arbeit bringen und in einem
anderen Sinne mit seinem Schriftsteller und dessen Sprache bekannt sein als der
Dolmetscher.
3. Bei Schleiermacher ist die Unterscheidung angelegt zwischen Terminologien,
die sich in verschiedenen Sprachen eins-zu-eins entsprechen, weil sie sich auf
problemlos abgrenzbare und konventionell abgegrenzte Sachverhalte beziehen, und
jenen Teilen der Lexik, die nicht Sachen erfassen, sondern Begriffe, Gefühle,
Einstellungen, die, da sie geschichtlich geworden sind und sich in der Geschichte
verändern, mit der Sprache als einem geschichtlichen Phänomen auf spezifische Weise
verknüpft sind:
Alle Wörter, welche Gegenstande und Thätigkeiten ausdrücken, auf die es
ankommen kann, sind gleichsam geaicht, und wenn ja leere übervorsichtige
Spitzfindigkeit sich noch gegen eine mögliche ungleiche Geltung der Worte
verwahren wollte, so gleicht die Sache selbst alles unmittelbar aus. Ganz anders
auf jenem der Kunst und Wissenschaft zugehörigen Gebiet, und überall wo mehr
der Gedanke herrscht, der mit der Rede Eins ist, nicht die Sache, als deren
willkürliches vielleicht aber fest bestimmtes Zeichen das Wort nur dasteht. Das
Problem des Übersetzens, der Übersetzbarkeit, des Verstehens und Auslegens
stellt sich nur beim zweiten Fall. Das System der Begriffe und der Zeichen ist von
Sprache zu Sprache verschieden; die Übersetzbarkeit einzelner Ausdrücke ist also
prinzipiell in Frage gestellt. Und anders als bei Sachtexten ist die
24
„Textwirklichkeit" dichterischer und philosophischer Texte nicht an
Gegenständen und Sachverhalten außerhalb der Textwirklichkeit messbar und
eventuell korrigierbar.
4. Texte der Wissenschaft und der Kunst (d. h. philosophische und poetische
Texte) sind als unübersetzbar zu betrachten: hier ist das, was gesagt wird, und wie es
sprachlich gefasst ist, auf einzelsprachspezifische Weise verbunden. Die Sprache ist
nicht nur Vehikel von Inhalten, sondern sie ist selbst Inhalt bzw. determiniert diese
Inhalte. Mit anderen Worten: Wenn man den betreffenden Text adäquat verstehen will,
muss man in den „Geist der Sprache" eindringen, in das also, was in der Sprache selbst
gedacht ist. Diese Position wird uns immer wieder begegnen bei der Behandlung des
Problems der Übersetzbarkeit.
5. Nach Schleiermacher müssen Texte so übersetzt werden, dass dem Leser
der „Geist der Sprache" des Originals auch in der Übersetzung vermittelt wird. Die
Übersetzung muss versuchen, dem Leser
ein solches Bild und einen solchen Genuss zu verschaffen, wie das Lesen des
Werkes in der Ursprache dem so gebildeten Manne gewährt, den wir im besseren
Sinne des Worts den Liebhaber und Kenner zu nennen pflegen, dem die fremde
Sprache geläufig ist, aber doch immer fremde bleibt, der nicht mehr wie die
Schüler sich erst das einzelne wieder in der Muttersprache denken muss, ehe er
das Ganze fassen kann, der aber doch auch da wo er am ungestörtesten sich der
Schönheiten des Werkes erfreut, sich immer der Verschiedenheit der Sprache von
seiner Muttersprache bewusst bleibt.
Es geht also um das Prinzip der Wirkungsgleichheit, die sich bei Schleiermacher
nicht an einem imaginären Originalleser, sondern an zeitgenössischen „gebildeten"
Lesern des Originals orientiert.
Die Übersetzung hat sich nach Schleiermacher so weit wie möglich an der Sprache
des Originals auszurichten. Es ist die Methode des Verfremdens, die gekennzeichnet ist
durch eine Haltung der Sprache, die nicht nur nicht alltäglich ist, sondern die auch
ahnden lässt, dass sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Ähnlichkeit
hinübergebogen sei". Nur mit dieser Methode ist die „treue Wiedergabe" des Originals
in der ZS gewährleistet. Der Vorwurf der Ungelenkheit in der ZS ist dabei in Kauf zu
nehmen, denn anders ist der „Geist der Sprache" gar nicht in die ZS zu retten.

Humboldt
Drei Jahre nachdem Schleiermacher seine Abhandlung über das Übersetzen in der
Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin verlesen hat, erscheint 1816
Wilhelm von Humboldts Übersetzung des „Agamemnon" von Aeschylos. In der
Einleitung dazu beschäftigt er sich mit ähnlichen Fragen wie Schleiermacher. Bezüglich
des Verfremdens unterscheidet er zwischen Fremdheit (дивакуватість, незвичність/
необізнаність у чомусь) und Fremde (чужина):
Mit dieser Ansicht ist freilich nothwendig verbunden, dass die Uebersetzung eine
gewisse Farbe der Fremdheit an sich trägt. Solange nicht die Fremdheit, sondern
das Fremde gefühlt wird, hat die Uebersetzung ihre höchsten Zwecke erreicht; wo
aber die Fremdheit an sich erscheint, und vielleicht gar das Fremde verdunkelt, da
verrath der Uebersetzer, dass er seinem Original nicht gewachsen ist. Das Gefühl
25
des uneingenommenen Lesers verfehlt hier nicht leicht die wahre Scheidelinie.
Wenn man in ekler Scheu vor dem Ungewöhnlichen noch weiter geht, und auch
das Fremde selbst vermeiden will, so wie man wohl sonst sagen hörte, dass der
Uebersetzer schreiben müsse, wie der Originalverfasser in der Sprache des
Uebersetzers geschrieben haben würde (ein Gedanke, bei dem man nicht
überlegte, dass, wenn man nicht bloss von Wissenschaften und Thatsachen redet,
kein Schriftsteller dasselbe und auf dieselbe Weise in einer andern Sprache
geschrieben haben würde), so zerstört man alles Uebersetzen und allen Nutzen
desselben für Sprache und Nation.

Gottsched
Die unterschiedlichen übersetzungstheoretischen Positionen in neu-
hochdeutscher Zeit haben ihren Ausgangspunkt in der deutschen Aufklärung; sie
können an Johann Christoph Gottsched (1700-1766) bzw. dem Kreis um Gottsched in
Leipzig und an Johann Jacob Breitinger (1701-1776) festgemacht werden. Gottscheds
und Breitingers Übersetzungshaltungen sind im Zusammenhang mit unterschiedlichen
poetischen, ästhetischen und literatursprachlichen Auffassungen zu sehen, die im Streit
um die Milton-Übersetzung Johann Jacob Bodmers aufeinanderprallen. Gemeinsam ist
beiden die rationalistische Sprachauffassung, nach der zwischen den Sprachen
prinzipielle Übersetzbarkeit besteht, weil sie sich wesenhaft gleich sind. Beide sind sich
zugleich durchaus bewusst, dass sich Sprachen nicht eins zu eins entsprechen. Sie
unterscheiden sich in der Stellungnahme dazu, wie sich Übersetzer Schwierigkeiten
gegenüber verhalten sollen, die sich aus der Einzelsprachspezifik sog. Redensarten (d.
h. „Arten zu reden") und Konstruktionen ergeben.
Für Gottsched sind Übersetzungen dann gute Übersetzungen, wenn sie mit den
Grundsätzen der aufklarerischen normativen Poetik übereinstimmen. Wo ein Original
diesen Regeln nicht entspricht, hat der Übersetzer die Aufgabe, zu „bessern", zu
erweitern, zu straffen, zu kürzen: die Übersetzung soll sich nahtlos in die
Originalliteratur einfügen. Dazu gehört auch, dass sie den Regeln der Sprachkunst
folgt; das bedeutet für Gottsched, dass die Übersetzung ganz deutsch zu sein hat.

Herders Übersetzungstheorie
Bis zum Auftreten des Sturms und Drangs, dem sich Herder vorübergehend
anschloss, blieb das rationalistische Credo, dass Wörter „Zeichen der Gedanken“ seien,
unangetastet. Bei Herder wird diese Gleichung erstmals umgekehrt. In den Fragmenten
über die neuere deutsche Literatur postuliert Herder, dass die Sprache dem Denken
vorausgeht.
Die Einsicht in die Geschichtlichkeit der Sprachen schließt deren Veränderbarkeit
ein. Ähnlich wie später Saussure zwischen langue - dem sprachlichen Regelsystem zu
einem gegebenen Zeitpunkt - und parole - der ständigen Veränderung dieser Regeln
durch den Gebrauch in Sprechakten - unterscheidet, geht auch Herder von einem
permanenten Fortschreiten der Sprachen aus, wobei das Übersetzen einen wichtigen
Motor der Innovation darstellt. Nur durch einen solchen ‘Anbau’, d. h. durch die
Erweiterung der althergebrachten Ausdrucksmöglichkeiten, durch die Annäherung der
Ziel- an die Ausgangssprache, können Übersetzungen einigermaßen treu ausfallen.
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Herder erkennt die Unverwechselbarkeit der Sprachen, die nicht mehr alle dieselben
‘Dinge’ auf verschiedene Weise ausdrücken, sondern unterschiedliche Weltbilder
transportieren.
Die Übersetzung ist für ihn interessant, weil sie auf die Differenz zwischen den
Sprachen und Kulturen hinweist und den Import von Fremdem ermöglicht.
Wichtig für Herders Auffassung des Übersetzens ist ferner seine spekulative
geschichtsphilosophische Theorie von den Lebensaltern der Sprache(n), denen
unterschiedliche Ausdrucksfunktionen entsprechen: der Kindheit entspricht die Sprache
des Affekts, der Jugend die Sprache der Poesie, dem Mannesalter die Sprache der Prosa
und dem hohen Alter die Sprache der Philosophie. Durch die Übersetzung kann eine
Sprache auf andere Phasen der historischen Entwicklung zurück- oder auch vorgreifen
und damit ihren Zustand verändern, sich gewissermaßen verjüngen oder der Reife
nähern. Was das Deutsche seiner Zeit betrifft, so sieht Herder im Übersetzen eine
Chance zur Verjüngung der in der Phase der Reife befindlichen Sprache zur poetischen
Phase.
Übersetzt werden sollte daher vornehmlich aus dem Hebräischen, aus dem
Griechischen und Englischen, einer im Vergleich zum Deutschen ‚jüngeren’ Sprache,
nicht aber aus dem Französischen, das in der philosophischen ‘Vergreisung’ bereits
weiter fortgeschritten ist.

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