Sie sind auf Seite 1von 26

Kulturelle und mediale Formen

des Erzählens

Vorlesung
WS 2013/2014
Visuelle Formen des Erzählens
 Fragen des visuellen Erzählens: intermediale Narratologie
 Bild und Erzählen: lange historische Tradition (vgl. Malerei)
 Lessing: Laokoon
 Malerei: Darstellung zeitlicher Erscheinungen (Handlungen) = nur als
räumliche, als „eine sichtbare stehende Handlung, deren verschiedene Teile
sich neben einander im Raume entwickeln”
 Literatur: Darstellung räumlicher Erscheinungen („Körper”) = nur als
zeitliche, als „eine sichtbare fortschreitende Handlung [...], deren
verschiedene Teile sich nach und nach, in der Folge der Zeit, ereignen”
 theoretische Schwierigkeiten:
 Atemporalität des bildlichen Mediums
 Repräsentation sichtbarer Oberflächen – Sinnzusammenhänge, Gedanken,
Reden, Gefühle usw. nur indirekt andeutbar (Gesichtsausdruck, Blick,
Gestik; evtl. Allegorie)
 Unterschied: Einzelbilder – Bilderreihen
 Bildhaftigkeit in der Literatur (vgl.Metaphorizität der Sprache)
Visuelle Formen des Erzählens

 Typologie potentiell narrativer Bilder (nach Werner Wolf)

Typen

Bildserien Einzelbilder

mehrsträngige einsträngige Polyphasen- Monophasen-


Bildserien Bildserien Einzelbild Einzelbild

Typ 1 Typ 2 Typ 3 Typ 4


Visuelle Formen des Erzählens

 Typologie von bildlichen


Darstellungen
 Typ 1: mehrsträngige
Bildserie
 Tapisserie „La tenture de
saint Rémi” (16. Jh.,
Reims)
 Typ 2: einsträngige Bildserie
 Passionsbilder
 Hogarth: Marriage A-la-
Mode
Visuelle Formen des Erzählens – Typologie

 Typ 1: mehrsträngige Bildserie


 Tapisserie „La tenture de saint Rémi” (16. Jh., Reims)
Visuelle Formen des Erzählens - Bilderzählung

 Typ 2: einsträngige
Bildserie
 Passionsbilder:
 Pfarrkirche Niederlana
 Flügelaltar: Bilder aus
dem 16. Jahrhundert
 einzelne Bilder – einzelne
Stationen von Christi
Leidensweg
 Hintergrundwissen:
 biblische Geschichte(n)
 Entdeckung des
Zusammenhangs der
Bilder
Visuelle Formen des Erzählens - Bilderzählung

 Passionsbilder:
 Pfarrkirche Niederlana
 Flügelaltar: Bilder aus
dem 16. Jahrhundert
 einzelne Bilder –
einzelne Stationen von
Christi Lebensweg
 Hintergrundwissen:
 biblische
Geschichte(n)
 Entdeckung des
Zusammenhangs der
Bilder
Visuelle Formen des Erzählens

 Typologie
 Typ 3: Polyphasen-
Einzelbild
 Benozzo
Gozzoli: Tanz
Salomes und
Enthauptung von
Johannes dem
Täufer
Visuelle Formen des Erzählens

 Typologie
 Typ 4:
Monophasen-
Einzelbild
 häufigster
Bildtyp seit der
Renaissance
Visuelle Formen des Erzählens – literarischer Text und Bild

Mein Vater, mein Vater, und


siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern
Ort? –
Mein Sohn, mein Sohn, ich
seh es genau:
Es scheinen die alten Weiden
so grau. –

Gedicht-/Textillustration:
Erstellen des
Zusammenhangs von
Bild und Text
Visuelle Formen des Erzählens – literarischer Text und Bild

 Ein Kerl stand vor ihm, der in toller


Possierlichkeit alles überbot, was er
jemals von dergleichen gesehen.
Die Maske mit dem spitzen Bart,
der Brille, dem Ziegenhaar, so wie
die Stellung des Körpers,
vorgebeugt mit krummem Rücken,
den rechten Fuß vorgeschoben,
schien einen Pantalon anzudeuten;
dazu wollte aber der vorne
spitzzulaufende, mit zwei
Hahnfedern geschmückte Hut nicht
passen. Wams, Beinkleid, das kleine
hölzerne Schwert an der Seite,
gehörte offenbar dem werten
Pulcinell an.
 E.T.A. Hoffmann: Prinzessin
Brambilla, 1. Kapitel
Visuelle Formen des Erzählens – Bildbeschreibung

Die Menschen, die Ochsen, die


Pferde wie aus Holz geschnitzt, wie
aus Holz die Falten ihrer Kleider,
die Falten in ihren Gesichtern. Die
spitzen Häuser, die geschnörkelten
Mühlbäche, die starren Felsen und
Bäume, so unwirklich, überwirklich.
(BdZ, 162)
Aber nahe gingen sie mir, in mich
hinein drang eine Gewalt von ihnen
und ich glaube, ich werde auf dem
Todtenbett noch sagen können, was
für einen Hintergrund das
Meerwunder hat oder der Einsiedler
mit dem Todtenschädel. (BdZ, 162)
Visuelle Formen des Erzählens – Bildbeschreibung

Er erinnerte sich einiger guten


Kupferstiche von Albrecht Dürer,
auf denen tanzende Bauern
dargestellt waren und die ihm
sonst überaus gefallen hatten; er
suchte nun beim Klange der Flöten
diese possierliche Gestalten wieder
und fand sie auch wirklich; er
hatte hier Gelegenheit zu
bemerken, welche Natur Albrecht
auch in diese Zeichnungen zu
legen gewußt hatte.
(FSW, 61)
Visuelle Formen des Erzählens – Bildbeschreibung
Visuelle Formen des Erzählens – Bildbeschreibung

Diese da schienen mir in den ersten Augenblicken grell und


unruhig, ganz roh, ganz sonderbar, ich mußte mich erst
zurechtfinden, um überhaupt die ersten als Bild, als Einheit zu
sehen – dann aber, dann sah ich, dann sah ich sie alle so, jedes
einzelne, und alle zusammen, und die Natur in ihnen, und die
menschliche Seelenkraft, die hier die Natur geformt hatte, und
Baum und Strauch und Acker und Abhang, die da gemalt
waren, und noch das andre, das, was hinter dem Gemalten war,
das Eigentliche, das unbeschreiblich Schicksalhafte – das alles
sah ich so, daß ich das Gefühl meiner selbst an diese Bilder
verlor, und mächtig wieder zurückbekam, und wieder verlor!
(BdZ, 169)
Visuelle Formen des Erzählens – Bildbeschreibung
Visuelle Formen des Erzählens – Bildbeschreibung

ein Wesen jeder Baum, jeder Streif gelben oder grünlichen


Feldes, jeder Zaun, jeder in den Steinhügel gerissene
Hohlweg, ein Wesen der zinnerne Krug, die irdenen Schüssel,
der Tisch, der plumpe Sessel – sich mir wie neugeboren aus
dem furchtbaren Chaos des Nichtlebens, aus dem Abgrund der
Wesenlosigkeit entgegenhob […]

(BdZ, 169f.)
Visuelle Formen des Erzählens - Film und Narration

 Film: intermediales Erzählen


 Plurimedialität
 Bewegte Bilder: laterna magica
 Bildprojektion (Camera obscura)
 19. Jh.: Massenmedium
 Photographie als Voraussetzung
des Films
 Brüder Lumière: Film = „lebende
Fotografie”
 Animation des Bildes
 http://hu.wikipedia.org/wiki/F%C3
%A1jl:Muybridge_horse_gallop_a
nimated.gif )
 Dominanz des Visuellen
 Unterschiede: Stummfilm (1895-
1927) - Tonfilm
Visuelle Formen des Erzählens

 Stummfilm:
 Dominanz der Bilder
 Möglichkeit eingeschobener
Textaufschriften
 Begleitmusik – Emotionalisierung
 z.B. Méliès: Reise in den Mond
 http://www.youtube.com/watch?v=vZ
V-t3KzTpw
 Méliès: Das Geisterschloß
 http://www.youtube.com/watch?v=OP
mKaz3Quzo&feature=fvwrel
 Méliès: Le monstre
 http://www.youtube.com/watch?v=A
L-W_GwCN88
Visuelle Formen des Erzählens

 Das Kabinett des Dr.


Caligari (1920) – Regie
Robert Wiene
 Erzählfunktion:
 Aufschriften
 Überblenden

 Funktion der Musik


 Lichteffekte
 http://www.youtube.com/wa
tch?v=xrg73BUxJLI
Narrative Kommunikationsebenen – filmisches
Erzählen

Ae→ [Ai]→ Ef → Ff → ← Ff → Lf → [Li] → Le

 Kommunikationsebenen des narrativen Textes:

Ae = empirischer (realer) Autor Le = empirischer (realer) Leser


[Ai = idealer/impliziter Autor] [Li = idealer Leser]
Ef = fiktiver Erzähler Lf = fiktiver Leser
Ff = fiktive Figur
Visuelle Formen des Erzählens – filmisches Erzählen

 Handlung: schauspielerische Darstellung (Gestik, Mimik,


Dialoge, evtl. Monolog);
 Anordnung: zeitliche Dimension
 Dauer, Ordnung, Frequenz – filmische Mittel: Einstellung, Montage
 Raumdimensionen:
 Einstellung: Kamerabewegung; Objektbewegung; Schärfe;
Einstellungsgrößen (Detail-, Groß-, Nahaufnahme, Halbnaheinstellung,
Halbtotale, Totale, Weitaufnahme); Geräusche
 Montage: Reißschwenk, Blendentechniken
 Fokalisierung (Charakterperspektivierung)
 subjektive Kamera (point-of-view shot; eyeline match)
 zero ocularization (figurenungebundene Kamera)
 interne ocularization
Visuelle Formen des Erzählens – Literatur und Film
 Verfilmung als besondere Form von Intertextualität/
Intermedialität:
 Code-Wechsel
 Umsetzung einer literarischen Vorlage (Erzählung, Roman, evtl. Drama)
im Film
 schon im frühen Film
 keine Wiedergabe des erzählerischen Zusammenhangs, Momente der
Vorlage
 Méliès – Verne: http://www.youtube.com/watch?v=vZV-t3KzTpw
 größere Explizitheit des Films: Aussehen der Figuren,
Umgebung, Orte
 „Defizite”: innere Figurenwahrnehmung; Modalitäten; Distanz
des Erzählers (Ironie)
 spezifische Mittel des Films – keine genaue Entsprechung
zwischen Vorlage und filmischer Realisation
Visuelle Formen des Erzählens – Literatur und Film

 „Der Tod in Venedig”


 Film: statt Schriftsteller – Musiker → Anspielung auf den
Entstehungshintergrund (Gustav Mahler)
 Kombination von Motiven aus „Tod in Venedig” und
„Doktor Faustus”
 Rolle der Musik als Motiv:
 http://www.youtube.com/watch?v=RfRZT6Vw_wE&feature=related
 http://www.youtube.com/watch?v=l8Zws83AxSQ
 (Vorspann – Musik)
Visuelle Formen des Erzählens – Literatur und Film

„Der Schauende dort saß, wie er einst gesessen, als zuerst, von jener
Schwelle zurückgesandt, dieser dämmergraue Blick dem seinen begegnet
war. Sein Haupt war an der Lehne des Stuhles langsam der Bewegung des
draußen Schreitenden gefolgt; nun hob er sich, gleichsam dem Blicke
entgegen, und sank auf die Brust, so daß seine Augen von unten sahen,
indes sein Antlitz den schlaffen, innig versunkenen Ausdruck tiefen
Schlummers zeigte. Ihm war aber, als ob der bleiche und liebliche
Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus
der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe in Verheißungsvoll-
Ungeheure. Und wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen.
Minuten vergingen, bis man dem seitlich im Stuhle hinabgesunkenen zu
Hilfe eilte. Man brachte ihn auf sein Zimmer. Und noch desselben Tages
empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem
Tode.”
(Th. Mann: Der Tod in Venedig)
Visuelle Formen des Erzählens – Literatur und Film

 Thomas Mann: Der Zauberberg – Vorsatz


„Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, – nicht um
seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch
ansprechenden jungen Mann in ihm kennenlernen), sondern um der
Geschichte willen, die uns in hohem Grade erzählenswert scheint (wobei zu
Hans Castorps Gunsten denn doch erinnert werden sollte, daß es seine
Geschichte ist, und daß nicht jedem jede Geschichte passiert): diese
Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem
Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten
Vergangenheit vorzutragen.”
 Verfilmung:
 http://www.youtube.com/watch?v=M_0HsynZoBc

Das könnte Ihnen auch gefallen