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Teil II

Festigkeitslehre - Grundlagen

89
10 Grundlagen und Grundbegri↵e
Wie auch die Statik stellt die Festigkeitslehre ein Teilgebiet der Technischen Mechanik
dar. Ihre Aufgaben sind:

• die Ermittlung der inneren Beanspruchung fester, deformierbarer Körper und

• die Beurteilung des daraus resultierenden Werksto↵verhaltens.

Dabei ist die Festigkeitslehre ein interdisziplinäres Fachgebiet und erfordert unter
anderem Kenntnisse aus

• Mathematik,

• Physik,

• Statik und

• Werksto↵kunde.

Ziel der Festigkeitslehre ist eine sichere und wirtschaftliche Bauteilauslegung unter
Berücksichtigung

• der Art der Belastung,

• der Höhe der Belastung,

• der Bauteilgeometrie und

• der Werksto↵eigenschaften.

Als äußere Belastung kennen wir bereits Kräfte, Streckenlasten und Momente. Diese
führen im Bauteil zu inneren Beanspruchungen. Als Maß für die innere Beanspru-
chung werden die mechanischen Spannungen bzw. ⌧ definiert.

Die Beanspruchbarkeit wird durch Werksto↵kennwerte festgelegt. Werksto↵versa-


gen tritt z.B. bei plastischer Verformung oder Bruch ein. Der Vergleich der Beanspru-
chung des Bauteils (= vorhandene Spannung) mit seiner Beanspruchbarkeit (= zulässige
Spannung) ergibt die Sicherheit gegen Versagen S. Diese Sicherheit darf bestimmte,
teilweise in Normen und Richtlinien festgelegte Sicherheitsbeiwerte nicht unterschreiten.
Ein zu hoch gewählter Sicherheitsbeiwert führt zur Überdimensionierung und damit
zu erhöhten Werksto↵- und Fertigungskosten sowie zu höherem Bauteilgewicht. Ein zu
niedrig gewählter Sicherheitsbeiwert dagegen führt zur Unterdimensionierung und kann
vorzeitiges Bauteilversagen nach sich ziehen.

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Festigkeitslehre: Grundlagen und Grundbegri↵e 91

Abbildung 10.1: Prinzip der Festigkeitsberechnung

10.1 Grundbelastungsarten

Auf Bauteile wirken äußere Belastungen durch mechanische, thermische und chemi-
sche Einwirkungen. Diese rufen im Bauteil innere Beanspruchungen hervor. Treten in-
nere Beanspruchungen ohne äußere Belastung auf, nennt man diese Eigenspannungen.
Bei mechanischer Belastung unterscheidet man die Grundbelastungsfälle in Tabelle
10.1. Diese leiten sich aus den in Abschnitt 9 behandelten, statischen Schnittreaktionen
in einem stabförmigen Bauteil ab und werden durch das Schnittprinzip sichtbar gemacht.

Tabelle 10.2 zeigt einige Beispiele zu den Grundbelastungsarten.

10.2 Schnittprinzip

In der Statik haben wir gelernt, wie die Schnittgrößen als Resultierende der von Material
zu übertragenden Belastungen zu ermitteln sind. Die Festigkeitslehre untersucht, wie die
Schnittgrößen über die Querschnittsfläche verteilt sind.

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Statische Schnittreaktion Belastungsfall

Normalkraft Zug/Druck

Biegemoment Biegung

Querkraft (Quer-)Schub bzw. Scherung

Torsionsmoment Torsion bzw. Verdrehung

Tabelle 10.1: Statische Schnittgrößen , Grundbelastungsarten

Zug/Druck Biegung Schub Torsion

Schraube (Zug) Pleuel (Druck) Blattfeder Bolzen Getriebewelle

Tabelle 10.2: Beispiele zu den Grundbelastungsarten (Quelle Beispielbilder: [6])

Abbildung 10.2: Schnittprinzip

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Wir schneiden ein stabförmiges Bauteil an der beliebigen Stelle x gedanklich durch. Die
Beanspruchung an einer Teilfläche A der so entstehenden Schnittfläche A ist gekenn-
zeichnet durch die dort angreifende, anteilige Kraft F~ . Dabei wird eine in der Regel
über die Fläche A ungleichmäßige Kraftverteilung sichtbar.

Die Schnittkraft F~ ist die gemittelte, über das Flächenelement A wirkende Kraft die-
ser Kraftverteilung. Um Aussagen über die örtliche Beanspruchung machen zu können,
lassen wir die Schnittfläche infinitesimal klein werden. Um den Einfluss der Schnitt-
flächengröße auszuschalten, führt man als Beanspruchung die bezogenen Größe ~ gemäß

F~ dF~
~ = lim = (10.1)
A!0 A dA

ein. Die bezogene Größe ~ bezeichnen wir im Folgenden als mechanische Spannung.

10.3 Spannungsarten

Während des Betriebes unterliegt ein Bauteil gewollten und ungewollten Be-
lastungen. Gewollte Belastungen resultieren aus der Funktion des Bauteiles (z.B.
Zahnradkräfte, Bremsmomente), ungewollte Belastungen resultieren aus unerwünschten
Vorgängen (z.B. ungewollte Schwingungen, Belastungsstöße, Eigenspannungen).

Je nach Wirkung der äußeren Kraft– und Momentenbelastungen resultieren die inneren
Schnittkräfte und –momente und die zugeordneten Beanspruchungsarten (vgl. Tabelle
10.1):

• Normalkraft ) Zug/Druckspannung

• Querkraft ) Querschubspannung

• Biegemoment ) Biegespannung

• Torsionsmoment ) Torsionsspannung

Zug/Druckspannungen und Biegespannungen stehen senkrecht auf dem Bauteil-


querschnitt und werden daher als Normalspannungen bezeichnet. Die in der Quer-
schnittsebene liegenden Querschubspannungen und Torsionsspannungen werden
als Tangentialspannungen (Schubspannungen) bezeichnet (Bild 10.3).

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Abbildung 10.3: Normal- und Tangentialspannungen

Für die Berechnung der Spannungen der verschiedenen Grundbelastungsarten gilt


grundsätzlich

Schnittgröße
Spannung = (10.2)
Geometriegröße

Für die Zug/Druckspannung und die Querschubspannung ist die Schnittgröße die jewei-
lige Normalkraft N bzw. Querkraft Q. Die Geometriegröße ist die Querschnittsfläche
A und daher einfach zu bestimmen.

Bei den Biege- und Torsionsspannungen handelt es sich bei der Schnittgröße um das
jeweilige Biegemoment Mb bzw. Torsionsmoment Mt . Für die Beschreibung des Wider-
standes eines Querschnitts gegen Biegung bzw. Torsion genügt die Fläche alleine nicht
mehr. Vielmehr ist die Verteilung der Fläche um die neutrale Faser wichtig. Für die
Berechnung der maximalen Spannungskomponenten treten hier die Widerstandsmo-
mente gegen Biegung Wb bzw. gegen Torsion Wt in Erscheinung. Auf diese werden wir
an späterer Stelle noch ausführlicher eingehen.

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11 Normalspannungen

11.1 Zug und Druck

11.1.1 Spannungsermittlung

Abbildung 11.1: Stab unter a) Zugbelastung, b) Druckbelastung

Abbildung 11.1 zeigt als einfaches Beispiel einen geraden, prismatischen Stab, auf den
in Achsrichtung eine Einzelkraft als a) Zugkraft bzw. b) Druckkraft wirkt. Die Wir-
kungslinie der Kraft soll dabei durch den Flächenschwerpunkt des Stabquerschnittes
(symbolisiert durch die Strichpunktlinie) verlaufen. Die Querschnittsfläche muss nicht
notwendigerweise über die ganze Länge gleich sein, es sollen aber keine abrupten Quer-
schnittsänderungen auftreten.

Typische, auf Zug beanspruchte Bauteile sind z.B. Seile, Schrauben und Rohrleitungen
unter Innendruck. Auf Druck beanspruchte Bauteile sind z.B. Brückenpfeiler, Stützen
oder Pleuel in Verbrennungsmotoren.

Durch das Schnittprinzip machen wir die Resultierende der inneren Beanspruchung sicht-

95
Festigkeitslehre: Zug und Druck 96

bar. Unter Beachtung der Schnittuferregel erhalten wir:

Fall a): " N F =0 ) N = +F ) Zugbeanspruchung

Fall b): " N +F =0 ) N= F ) Druckbeanspruchung

Abbildung 11.2: Spannungsverteilung bei a) reiner Zugbelastung, b) reiner Druckbela-


stung

Tatsächlich wird die gesamte Normalkraft nicht im Flächenschwerpunkt übertragen,


sondern sie ist im Falle reiner Zug- bzw. Druckbelastung gleichmäßig über die Fläche
verteilt, vgl. Abbildung 11.2. Zur Berechnung der mechanischen Spannung, kurz
Spannung, wird die Normalkraft N auf die aktuelle Querschnittsfläche A = A(x) an der
Schnittstelle x bezogen:

N
= . (11.1)
A

Im Falle einer Zugbeanspruchung N = F ergibt sich so eine Zugspannung (positi-


ves Vorzeichen), im Falle einer Druckbeanspruchung N = F eine Druckspannung
(negatives Vorzeichen):

F F
Zug: z =+ > 0, Druck: d = < 0. (11.2)
A A

Die Einheit der Spannung ist das Pascal:

1 N/m2 = 1 Pa.

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In der Technik gebräuchlicher ist die die Einheit Megapascal (MPa) bzw. N/mm2 , wobei
gilt

1 MPa = 106 Pa = 106 N/m2 = 106 · 10 6


N/mm2 = 1 N/mm2 .

An den Krafteinleitungsstellen entstehen örtlich komplexe Spannungszustände (z.B.


durch Einzellasten). Diese klingen nach den Saint-Venantschen Prinzip jedoch in
hinreichendem Abstand von den Krafteinleitungsstellen rasch ab. Die Spannungen und
Verformungen sind dann nur von der statischen Resultierenden N abhängig, nicht mehr
von der Kräfteverteilung an der Krafteinleitungsstelle.

Zum Festigkeitsnachweis gehört nicht nur die Berechnung der Spannungen, sondern auch
die Ermittlung der Beanspruchbarkeit. Diese wird durch Werksto↵kennwerte ge-
kennzeichnet, die meist in genormten Versuchen ermittelt werden. Bei reiner Zugbean-
spruchung werden die erforderlichen Werksto↵kennwerte im aus der Vorlesung Werk-
sto↵kunde bekannten, einachsigen Zugversuch, der in DIN EN ISO 6892 genormt ist,
ermittelt.

11.1.2 Zugversuch

11.1.2.1 Versuchsdurchführung

Abbildung 11.3: Schematische Darstellung einer Zugprüfmaschine [6]

Nach dem Einspannen einer polierten, zylindrischen Probe mit Ausgangsquerschnitt A0


und Ausgangslänge l0 in die Zugprüfmaschine (Abbildung 11.3) wird die Probe bei kon-
stanter Abzugsgeschwindigkeit durch eine zunehmende Zugkraft belastet. Die

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Probe wird dabei verlängert. Die Zugkraft F wird in Abhängigkeit von der Verlänge-
rung der Probe l aufgezeichnet.

Um von der Probengeometrie unabhängige Größen zu erhalten, erfolgt eine Umrechnung


in bezogene Größen, die

• (technische) Spannung 0: Kraft F wird auf den Ausgangsquerschnitt A0


bezogen
F
0 = , (11.3)
A0
• (technische) Dehnung "0 : Längenänderung l wird auf die Ausgangslänge l0
bezogen,
l
"0 = . (11.4)
l0
Die Dehnung ist somit einheitenlos. Zur Vermeidung sehr kleiner Zahlenwerte gibt man
die Dehnung häufig in Prozent an:

l
"0 [%] = · 100% (11.5)
l0

Trägt man 0 über "0 auf, erhält man das technische Spannungs-Dehnungs-
Diagramm1 . Dessen Verlauf ist werksto↵spezifisch und charakterisiert das Werk-
sto↵verhalten im Zugversuch. Eine pauschale Einteilung des Werksto↵verhaltens kann
erfolgen in

• zähes Werksto↵verhalten und

• sprödes Werksto↵verhalten.

11.1.2.2 Zähes Werksto↵verhalten

Abbildung 11.4 zeigt ein schematisches Spannungs-Dehnungs-Diagramm für zähes Werk-


sto↵verhalten.

1
Während des Zugversuches ändern sich Länge und Querschnittsfläche der Probe (vgl. Abschnitt
11.1.3). Bezieht man die gemessene Verlängerung bzw. Kraft nicht auf die Ausgangslänge bzw.
-fläche der Probe, sondern auf die aktuelle Probenlänge bzw. -querschnittsfläche, erhält man das
wahre Spannungs-Dehnungs-Diagramm. Dieses wird z.B. in der Umformtechnik benötigt.

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Abbildung 11.4: a) Schematisches Spannungs-Dehnungs-Diagramm b) Ausschnitt X [5]

Grundsätzlich können drei Bereiche unterschieden werden:

• Bereich I: Linear-elastischer Bereich

Im linear-elastischen Bereich sind Spannungen 0 und Dehnungen "0 zueinander


direkt proportional:

0 ⇠ "0 .

Der linear-elastische Bereich I wird auch Hookescher Bereich genannt, die Ge-
rade OP heißt Hookesche Gerade. Der Werksto↵ verhält sich linear-elastisch,
d.h. nach einer vollständigen Entlastung verschwindet die Verformung
vollständig.

• Bereich II: Verfestigungsbereich

Oberhalb des Hookeschen Bereiches ist das Spannungs-Dehnungs-Diagramm


nichtlinear. Der Werksto↵ fließt, d.h. er wird plastisch verformt. Mit zuneh-

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mender plastischer Verformung werden die im Werksto↵ stattfindenden Abgleit-


vorgänge behindert. Es kommt zur Lastzunahme, der sogenannten Werksto↵ver-
festigung. Die Probe behält dabei ihre prismatische Form. Die am Höchstlast-
punkt M auftretende bleibende Dehnung nennt man Gleichmaßdehnung Ag .

Bei Entlastung tritt eine lineare Rückfederung parallel zur Hookeschen Geraden
auf (Linie CB). Nur der elastische Anteil der Dehnung geht zurück, es tritt eine
bleibende Stabverlängerung um die plastische Dehnung "pl auf. Eine Wieder-
belastung verläuft entlang der Linie BC.

• Bereich III: Einschnürbereich

Ab dem Höchstlastpunkt ist der Stab nicht mehr in der Lage, eine größere Kraft
aufzunehmen. An der statistisch schwächsten Stelle beginnt der Probestab ein-
zuschnüren. Die Abnahme des tragenden Querschnittes führt zu einer entspre-
chenden Abnahme der ertragbaren Kraft. Schließlich kommt es zum Bruch. Die
zugehörige Dehnung nennt man Bruchdehnung A5 bzw. A10 . Der Index 5 bzw. 10
gibt das Verhältnis der Probenlänge zum Probendurchmesser an. Die Bruchdeh-
nung ist ein Maß für die Duktilität des Werksto↵s.

11.1.2.3 Sprödes Werksto↵verhalten

Abbildung 11.5: Spannungs-Dehnungs-Diagramm ideal spröder Werksto↵e

Spröde Werksto↵e zeigen keinen oder nur einen sehr kleinen plastischen Bereich. Im
Extremfall verhalten sie sich bis zum Bruch linear-elastisch.

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11.1.3 Linear-elastisches Materialverhalten

Zunächst beschäftigen wir uns mit dem linear-elastischen Bereich des Spannungs-
Dehnungsdiagramms und den daraus abgeleiteten Elastizitätskennwerten.

11.1.3.1 Längsdehnung

Mechanische Spannungen bewirken in deformierbaren Körpern Formänderungen, wie


Längen- und/oder Winkeländerungen. Wie wir bereits gesehen haben, verlängert sich
im Zugversuch eine Zugprobe der Länge l0 um l und man erhält die konstante Längs-
dehnung2

l
"0 = "l = .
l0

11.1.3.2 Eindimensionales Hookesches Sto↵gesetz

Der Zusammenhang zwischen Spannung und Dehnung wird durch das Sto↵gesetz her-
gestellt.

Besteht ein linearer Zusammenhang zwischen Normalspannung 0 und Dehnung "0 ,


wird dieser durch das Hookesche Gesetz

0 = E · "0 (11.6)

ausgedrückt, welches in dieser einfachen Form nur bei einachsiger Zug- oder Druckbe-
lastung gilt. Bei mehrachsiger Beanspruchung muss das Hookesche Gesetz erweitert
werden (siehe Vorlesung TM II). Der Proportionalitätsfaktor E wird als Elastizitäts-
modul oder kurz E-Modul bezeichnet. Es gelten folgende Anhaltswerte:

• Stähle und Stahlguss: E ⇡ 210 000 N/mm2

• Al und Al-Legierungen: E ⇡ 70 000 N/mm2 .

Setzt man die Definition für Spannung und Dehnung in das Hookesche Sto↵gesetz
(11.6) ein, erhält man

F l EA0
=E· ) F = l =c· l
A0 l0 l0

EA0
mit der Dehnsteifigkeit EA0 des Zugstabs und seiner Federsteifigkeit c = l0
analog
zu einer Hookeschen Feder.

2
Analog dazu wird ein Druckprobe im Druckversuch (siehe Abschnitt 11.1.4.4) um eine negative Längs-
dehnung (Stauchung) verkürzt.

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Bei Zug- und Druckbeanspruchung tritt nicht nur eine Längenänderung auf, sondern
auch eine Verformung in Querrichtung, die sogenannte Querkontraktion oder Quer-
dehnung "q , die mit Hilfe von Querdehnungs-Messaufnehmern im Zug- bzw. Druckver-
such ermittelt werden kann. Der Stab unter Zug wird länger und dünner, der Stab unter
Druck wird kürzer und dicker. Die einheitenlose Querkontraktionszahl (auch: Querdehn-
zahl oder Poissonzahl) ⌫ – in manchen Lehrbüchern auch mit µ bezeichnet – ist wie folgt
definiert:

"q
⌫= (11.7)
"l

Entsprechend kann die Querdehung "q mit dem Poissonschen Gesetz in Abhängigkeit
von der Längsdehnung "l beschrieben werden:

"q = ⌫ · "l . (11.8)

Die Werte für die Querkontraktionszahl liegen je nach Material zwischen 0  ⌫ 


0,5. Die nachfolgende Tabelle gibt Anhaltswerte für die Querdehnzahlen gebräuchlicher
Materialien.

Kork ⌫ ⇡0
Beton ⌫ = 0,2
Gusseisen mit Lamellengraphit ⌫ = 0,25 . . . 0,27
Stahl, Stahlguss ⌫ = 0,3
Al und Al-Legierungen ⌫ = 0,33
Kupfer ⌫ = 0,34
Elastomere ⌫ ⇡ 0,5

Tabelle 11.1: Anhaltswerte für Querkontraktionszahlen

11.1.4 Werksto↵kennwerte

11.1.4.1 Festigkeitskennwerte

Der in Kapitel 11.1.2 beschriebene Zugversuch dient dazu, neben den Elastizitätskon-
stanten E und ⌫ weitere, für die Festigkeitsberechnung wichtige Werksto↵kennwerte zu
ermitteln.

Die Fließgrenze (Streckgrenze, Dehngrenze) F bei duktilen bzw. zähen Werkstof-


fen charakterisiert das Ende des Hookeschen Bereiches und beschreibt das Versagen

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durch Fließen. Mit der Fließlast FF bei Verlassen des linear-elastischen Bereiches und
der Ausgangsfläche A0 gilt:

FF
F = . (11.9)
A0

Die Zugfestigkeit Rm kennzeichnet das maximale Tragvermögen im Höchstlastpunkt


M des Spannungs-Dehnungs-Diagramms. Sie berechnet sich aus der Höchstlast Fmax und
der Ausgangsfläche A0 :

Fmax
Rm = . (11.10)
A0

Bei spröden Werksto↵en erfolgt das Versagen durch spröden Gewaltbruch, es ist
keine Einschnürung der Probe zu erkennen. Im Zugversuch lässt sich bei spröden Mate-
rialien keine Fließgrenze bestimmen (siehe Abbildung 11.5), sondern nur die Zugfestigkeit
aus der Höchstlast Fmax und dem Ausgangsquerschnitt A0 nach Gleichung (11.10).

11.1.4.2 Werksto↵e mit ausgeprägter Streckgrenze

Abbildung 11.6: Spannungs-Dehnungs-Diagramm duktiler Metalle mit ausgeprägter


Streckgrenze

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Viele duktile Werksto↵e, wie z.B. Baustähle, zeigen einen ausgeprägten Fließbereich
wie in Abbildung 11.6 dargestellt. Die Probe verlängert sich nach dem Verlassen des
Hookeschen Bereiches ohne weitere Spannungserhöhung. Zur Kennzeichnung verwendet
man für die Fließgrenze die Bezeichnungen

• obere Streckgrenze ReH : Diese tritt am Endpunkt der Hookeschen Geraden


auf. Sie ist die für die Festigkeitsberechnung maßgebliche Streckgrenze. In der
Praxis wird meist nur diese angegeben und mit Re bezeichnet.

• untere Streckgrenze ReL : Sie gibt den Kleinstwert während des ausgeprägten
Fließens wieder.

11.1.4.3 Werksto↵e ohne ausgeprägte Streckgrenze

Abbildung 11.7: Spannungs-Dehnungs-Diagramm von Metallen mit nicht ausgeprägter


Streckgrenze

Bei kontinuierlichem Übergang zwischen elastischem und plastischem Bereich (Ab-


bildung 11.7) beschreibt man den Fließbeginn durch die Dehngrenze bei einer festge-
legten plastischen Dehnung. Der für die Festigkeitsbewertung übliche Kennwert ist
die 0,2%-Dehngrenze Rp0,2 als Ersatzfließgrenze bei einer bleibenden Dehnung von
0,2%.

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11.1.4.4 Druckversuch

Die Festigkeitskennwerte für druckbeanspruchte Bauteile werden im Druckversuch


nach DIN 50106 ermittelt. Analog zum Zugversuch wird eine Spannungs-Dehnungskurve
aufgenommen. Beim Druckversuch spricht man von der Druckspannungs-
Stauchungs-Kurve.

Abbildung 11.8: Spannungs-Dehnungs- bzw. Druckspannungs-Stauchungs-Diagramm


duktiler Metalle a) mit b) ohne ausgeprägter Streckgrenze

Im elastischen Bereich stimmen die Spannungs-Dehnungs- und die Druckspannungs-


Stauchungskurve weitgehend überein, der Elastizitätsmodul für Zug und Druck
ist also identisch.

Mit Erreichen der Proportionalitätsgrenze endet das linear-elastische Werksto↵ver-


halten. Werksto↵e mit ausgeprägter Streckgrenze weisen auch im Druckversuch eine
entsprechende Unstetigkeit auf. Der Werksto↵kennwert wird als natürliche Quetsch-
grenze bzw. Druckfließgrenze dF bezeichnet und als Quotient der Druckkraft FF bei
Erreichen der Unstetigkeit und der Ausgangsquerschnittsfläche A0 definiert:

FF
| dF | = ⇡ Re . (11.11)
A0

Für Werksto↵e ohne ausgeprägte Streckgrenze wird ersatzweise die Stauchgrenze dp


ermittelt. Sie ist definiert als Quotient aus der Kraft Fp , die zu einer bleibenden Stau-
chung von p Prozent führt und der Ausgangsquerschnittsfläche A0 :

Fp
| dp | = ⇡ Rp . (11.12)
A0

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Meist verwendet man die 0,2%-Stauchgrenze d0,2 .

Mit abnehmender Höhe der Probe nimmt bei duktilen Werksto↵en der Durchmesser zu
und die Druckspannungs-Stauchungskurve steigt kontinuierlich an. Ein Bruch tritt
nicht auf. Eher ist mit einem Versagen durch Knicken zu rechnen. Bei duktilen
Werksto↵en wird daher keine Druckfestigkeit ermittelt.

Spröde Werksto↵e (z.B. Gusseisen mit Lamellengraphit) nehmen unter Druck meist
deutlich höhere Belastungen als unter Zug auf. Die Druckfestigkeit dB spröder Werk-
sto↵e kann ein Vielfaches der Zugfestigkeit Rm betragen (z.B. Grauguss mit Lamellen-
graphit dB = 2,5Rm ).

Abbildung 11.9: Spannungs-Dehnungs- bzw. Druckspannungs-Stauchungs-Diagramm


spröder Metalle

11.1.5 Zulässige Spannungen

Mit einem Versagen des Bauteiles ist zu rechnen, wenn die wirkende Spannung die
Festigkeitsgrenze erreicht. Bei der Festlegung der zulässigen Spannung zul wird aus
Sicherheitsgründen der Festigkeitskennwert (Re , Rp , Rm für Zug bzw. dF , dp , dB für
Druck) durch einen Sicherheitsbeiwert S dividiert. Dieser Sicherheitsbeiwert soll alle
Unsicherheiten einer Festigkeitsberechnung abdecken, z.B.:

• Lastannahmen (Belastungsschwankungen, tatsächliche Höhe der Beanspru-


chung),

• Werksto↵kennwerte (Werksto↵fehler, Gefügeinhomogenitäten),

• Spannungsermittlung (Idealisierung der Bauteilgeometrie).

Die Höhe des Sicherheitsbeiwertes ist abhängig von

• Anzahl und Einfluss der auszugleichenden Unsicherheiten,

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• Gefährdungspotenzial und Folgen im Falle des Versagens des Bauteiles.

Der Sicherheitsbeiwert gegen plastische Verformung (Fließen) kann in der Regel niedriger
als der gegen Bruch angesetzt werden, da sich ein Bruch durch plastische Verformungen
ankündigt (Zähbruch).

11.1.5.1 Duktile Werksto↵e

Die zulässigen Spannungen bei Zugbeanspruchung für duktile Werksto↵e berechnen


sich je nach Versagensart zu:

Re Rp
Fließen : zul = bzw. mit SF = 1,2 . . . 2,0 (11.13)
SF SF
Rm
Bruch : zul = mit SB = 2,0 . . . 4,0 (11.14)
SB

Maßgeblich für den Festigkeitsnachweis ist der niedrigere der beiden zul -Werte.

Die angegebenen Sicherheitsbeiwerte sind typische, im Maschinenbau verwendete Werte.


Der Sicherheitsbeiwert gegen Bruch ist umso höher zu wählen, je geringer die Verfor-
mungsfähigkeit des Werksto↵es ist.

Bauteile aus duktilen Werksto↵en unter Druck versagen durch Fließen oder
Knickung. Die zulässige Spannung gegen Fließen berechnet sich zu

dF dp
Fließen : zul = bzw. mit SF = 1,2 . . . 2,0. (11.15)
SF SF

In vielen Fällen sind nur die Werksto↵kennwerte aus dem Zugversuch bekannt. Als
Ersatzwerte für die Quetschgrenze dF bzw. die Stauchgrenze dp werden daher die
Streckgrenze Re bzw. die Dehngrenze Rp verwendet.

11.1.5.2 Spröde Werksto↵e

Der Bruch bei einem spröden Werksto↵ unter Zug wird durch keine nennenswerten
plastischen Formänderungen angekündigt (Sprödbruch). Daher wird bei spröden Werk-
sto↵en nicht gegen Fließen, sondern nur gegen Bruch dimensioniert. Da sich der Bruch
nicht durch plastische Verformungen ankündigt, wird der Sicherheitsbeiwert SB meist
entsprechend höher gewählt:

Rm
Bruch : zul = mit SB = 4,0 . . . 9,0 (11.16)
SB

Bauteile aus spröden Werksto↵en unter Druck versagen durch Scherbruch oder
Knickung. Die zulässige Spannung gegen Bruch berechnet sich zu

dB
Bruch : zul = mit SB = 4,0 . . . 9,0. (11.17)
SB

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B Werksto↵kennwerte
Falls nicht anders gekennzeichnet, wurden die in den Tabellen verwendeten Werksto↵-
kennwerte Rolo↵/Matek - Maschinenelemente Tabellenbuch, 19. Auflage (2009) [17] ent-
nommen bzw. berechnet. Folgende Bezeichnungen werden in den Tabellen verwendet
(alle Werte in MPa):

• Rm,N : Mindestzugfestigkeit

• Re,N : Streckgrenze

• Rp0,2,N : 0, 2%-Dehngrenze

• b,F : Biegefließgrenze (Richtwert b,F = 1, 2Re bzw. Rp0,2 nach [17])

• ⌧t,F : Torsionsfließgrenze (⌧t,F = p1 b,F nach der Gestaltänderungsenergiehypothe-


3
se

B.1 Baustähle nach DIN EN 10025-2

Rm,N Re,N b,F ⌧t,F


S235 360 235 280 165
S275 410 275 330 190
E295 470 295 355 205
E335 570 335 400 230
E360 670 360 430 250

Tabelle B.1: Festigkeitskennwerte einiger Baustähle nach DIN EN 10025-2, Normabmes-


sung def f,N =40 mm, alle Werte in MPa [17]

157
Werksto↵kennwerte 158

B.2 Vergütungsstähle im vergüteten Zustand nach DIN


EN 10083-2 und DIN EN 10083-3

Rm,N Rp0,2,N b,F ⌧t,F


C22E 500 340 410 235
C35E 630 430 515 300
C45E 700 490 590 340
25CrMo4 900 700 840 485
41Cr4 1000 800 960 550
42CrMo4 1100 900 1080 625
30CrNiMo8 1250 1050 1260 725

Tabelle B.2: Festigkeitskennwerte einiger Vergütungsstähle nach DIN EN 10083-2 und


10083-3, Normabmessung def f,N =16 mm (außer 30CrNiMo8: def f,N =40
mm), alle Werte in MPa [17]

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Technische Mechnanik I - Statik und Festigkeitslehre Grundlagen 1

Lehrbeispiel 12.1:
a) Ein fest eingespannter Stab mit Kreisringquerschnitt (Innendurchmesser ,
Außendurchmesser ) wird zentrisch in der gezeichneten Weise durch die
Kraft belastet.
Copyright - Darf nur im Rahmen der bestimmungsgemäßen Lehrveranstaltung verwendet und vervielfältigt werden!

Gegeben: , ,

Berechnen Sie die Spannung im Stab.

Lösung:

b) Mittels Dehnungsmessstreifen (kurz: DMS), die auf der Bauteiloberfläche appliziert werden, kann
die Dehnung eines Bauteils mittels Messelektronik gemessen und in eine Spannung umgerechnet
werden (auf die DMS-Technik gehen wir in TM II ein). Bei einem Stab mit quadratischem
Querschnitt, der durch die Kraft in der gezeichneten Weise belastet wird, wird mittels DMS-
Technik die Spannung gemessen.
Gegeben: ,

Welches Maß hat die Kantenlänge des quadratischen Querschnitts?

Lösung:

Prof. Dr.-Ing. Michael Haas Nur zum Gebrauch neben der Vorlesung!
Technische Mechnanik I - Statik und Festigkeitslehre Grundlagen 2

Lösung
a) Statik: Um die innere Normalkraft zu erhalten, schneiden wir den Stab an einer beliebigen Stelle
durch und tragen die Schnittreaktion unter Beachtung der Schnittuferregel ein.
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Da es sich um ein positives Schnittufer handelt, wird die Normalkraft in positive -


Richtung eingetragen.

Das statische Gleichgewicht liefert

Der Stab wird zusammengedrückt, er steht unter Druck. Durch Beachtung der Schnittuferregel
haben wir folgerichtig eine negative Normalkraft, also eine Druckkraft ermittelt.
Auch die Spannung im Stab erhalten wir damit vorzeichenrichtig. Für die Normalspannung bei
Zug bzw. Druck gilt:

Der Stab besitzt einen Kreisringquerschnitt. Die Querschnittsfläche berechnet sich gemäß

Wir setzen ein:

Wegen des negativen Vorzeichens handelt es sich wie erwartet um eine Druckspannung1.

1 Bei solch einfachen Beispielen muss man natürlich nicht immer vollständig freischneiden. Beim vorliegenden
Beispiel sieht man mit ein wenig Übung sofort, dass die innere Reaktionskraft -F sein muss und kann diese auch
gleich in die Formel zur Berechnung der Spannung einsetzen.

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b) Wir verzichten dieses mal wegen der Einfachheit des Beispiels auf das Freischneiden.
Der Stab wird in die Länge gezogen. Dies bedeutet, dass die Normalkraft eine Zugkraft ist, die
zugehörige Spannung ist daher eine positive Zugspannung.
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Für die Zugspannung im quadratischen Querschnitt gilt

mit der Kantenlänge s des Quadrats.


Wir stellen nach dieser um und erhalten schließlich die Lösung

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Lehrbeispiel 12.2:
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Ein Stab mit Kreisringquerschnitt aus Baustahl E360 (Elastizitätsmodul , Querkontraktionszahl ,


Streckgrenze , Zugfestigkeit ) wird auf einer Zugprüfmaschine mit der Zugkraft belastet.
Im unbelasteten Zustand besitzt der die Ausgangslänge , den Außendurchmesser und den
Innendurchmesser . Im deformierten Zustand vergrößert sich seine Länge auf das Maß .
Gegeben: E360, , , , , ,
, , .
a) Berechnen Sie die Längsdehnung des Stabes in Prozent. Wie groß sind die Zugspannung im
Stab und die Zugkraft ?
b) Wie groß sind die Sicherheiten gegen Fließen und gegen Bruch?
c) Wie groß sind Innen- und Außendurchmesser des Stabes nach der Deformation? Um wie
viel Prozent hat sich das Volumen des Stabes im verformten Zustand gegenüber dem
Ausgangsvolumen verändert?

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Lösung
a) Die Verlängerung des Stabes erhalten wir zu
,
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seine Längsdehnung berechnet sich zu

Dies ist der Wert, der für die weiteren Berechnungen verwendet wird.
Wegen der kleinen Zahlenwerte ist es in der Technik oft üblich, die Dehnung in Prozent anzugeben:
.

Für Berechnungen muss dieser Prozentwert aber wieder durch dividiert werden!
Das Hookesche Stoffgesetz stellt den Zusammenhang zwischen der Zugspannung und
Längsdehnung her:

Die Zugkraft erhält man über die Spannungsdefinition:

b) Beim Fließen bzw. Plastifizieren wird die Streckgrenze des Materials überschritten. Liegt die
ermittelte Spannung unterhalb der Streckgrenze, bleibt das Bauteil im elastischen (= Hookeschen)
Bereich. Die Sicherheit gegen Fließen berechnet sich zu

Als Richtwert sollte die Sicherheit gegen Fließen in etwa zwischen 1,2 und 2,0 liegen.
Wird die (Mindest-)Zugfestigkeit des Materials überschritten, bricht das Bauteil. Die Sicherheit
gegen Bruch erhält man zu

Bei duktilen Werkstoffen wie dem verwendeten Baustahl E360 kündigt sich der Bruch durch
vorheriges Plastifizieren nach dem Überschreiten der Streckgrenze an. Die Sicherheit gegen Bruch
wird meist höher als gegen Plastifizieren angesetzt, typischerweise sollte diese für duktile
Werkstoffe zwischen 2,0 und 4,0 liegen. Spröde Werkstoffe besitzen praktisch keinen plastischen
Bereich. Bei solchen Werkstoffen versagt das Bauteil spontan, die Sicherheit gegen Bruch sollte

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daher höher angesetzt und typischerweise zwischen 4,0 und 9,0 gewählt werden1.
c) Wird ein Stab elastisch verlängert, ändern sich auch seine Querschnittsabmessungen. Diese Quer-
schnittsänderung wird mit Hilfe der Querkontraktionszahl (auch Querdehnzahl) und dem Poisson-
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schen Gesetz beschrieben. Die dimensionslose Querdehnung erhält man demnach zu


.

Den Durchmesser eines Stabes im deformierten Zustand erhält man über die Definition

mit dem Durchmesser im unbelasteten Zustand .


Für den Außendurchmesser des betrachteten Stabes gilt demnach

und für den Innendurchmesser


.

Die Durchmesseränderung ist nicht auf Volumenkonstanz zurückzuführen, wie man vielleicht zuerst
denken würde. Dies erkennt man bereits daran, dass unterschiedliche Materialen auch unterschied-
liche Querkontraktionszahlen besitzen (z.B. Stahl: , Beton: , Elastomere (Gummi):
).
Wir berechnen das Volumen vor der Deformation

und das Volumen nach der Deformation

das Volumen hat sich also etwas vergrößert, und zwar um


.
Das entspricht einer prozentualen Änderung von

1 Bei modernen Festigkeitsnachweisen wird die notwendige Sicherheit vorgegeben. So legt z.B. die im Maschinen-
bau weit verbreitete FKM-Richtlinie (FKM = Forschungskuratorium Maschinenbau) die Sicherheit in Abhängigkeit
von der Auftretenswahrscheinlichkeit der berechneten Spannungen (oft wird z.B. mit Missbrauchslasten gerechnet,
die im praktischen Betrieb eher selten auftreten) und den Schadensfolgen fest, siehe hierzu die Vorlesung
„Betriebsfestigkeit und FKM-Richtlinie“ im höheren Semester.

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In der Praxis ist diese minimale Änderung natürlich vernachlässigbar und man kann in sehr guter
Näherung von Volumenkonstanz ausgehen.
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Technische Mechanik I - Statik und Festigkeitslehre Festigkeitslehre 1

Lehrbeispiel 12.3:
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Ein einseitig fest eingespannter Verbundstab besteht zu zwei Dritteln aus Aluminiumvollmaterial
(E-Modul , Streckgrenze ) und zu einem Drittel aus einem Stahlrohr (E-Modul ,
Streckgrenze ), die fest miteinander verbunden sind. Die Gesamtlänge des Stabes ist , beide
Teile besitzen den gleichen Außendurchmesser , der Innendurchmesser der Stahlrohres ist . Die
Belastung erfolgt durch die Kraft .
Gegeben: , , , , ,

, .

a) Welchen Innendurchmesser muss das Stahlrohr aufweisen, damit sowohl im Aluminium-


als auch im Stahl-Teil die gleiche Sicherheit gegen Fließen vorliegt? Welchen Wert hat diese
Sicherheit?
b) Wie groß ist die Verlängerung des Aluminium-Teils, des Stahl-Teils und die Gesamtverlän-
gerung des Verbundstabes?

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Technische Mechanik I - Statik und Festigkeitslehre Festigkeitslehre 2

Lösung
a) Statik: Wir schneiden den Verbundstab gedanklich an der Verbindungsstelle und unmittelbar neben
der Einspannstelle durch.
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Jeder Stabteil muss für sich im Gleichgewicht sein. Wir erkennen, dass die Stabkraft überall im Stab
gleich sein muss, damit das Kräftegleichgewicht erfüllt ist, nämlich .
Für die Spannung im Aluminiumvollquerschnitt erhalten wir

Damit können wir die vorhandene Sicherheit gegen Fließen im Alu-Teil bestimmen:

Die gleiche Sicherheit soll im Stahl-Teil vorliegen:

Die Spannung aufgrund der äußeren Belastung im Stahlteil berechnet sich zu:

Wir lösen nach auf und setzen ein:

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b) Nach dem Hookeschen Stoffgesetz gilt allgemein der Zusammenhang

.
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Die Verlängerung des Aluminiumteils der Länge ist demnach

die des Stahl-Teils der Länge ergibt sich analog zu

Die Gesamtverlängerung berechnet sich als Summe der beiden Teilverlängerungen:


.

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