Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Zufallsbefund Leukopenie –
unverzüglich zum Hämatologen?
Onkologische Zufallsbefunde -- Autoren: F. Ziemann, K. Metzeler
Ist die Zahl der Leukozyten im Blut zu niedrig, kann das ganz verschiedene Ursachen haben,
von einem Infekt bis hin zu seltenen Erkrankungen des Blutes oder des Knochenmarks. Wann
können Sie abwarten, wann müssen Sie rasch handeln?
Eine Leukopenie, d. h. eine Reduktion der Leukozy- sich um eine Neutropenie, Lymphopenie (u. a. bei
ten auf < 4.000/µl, stellt oft einen Zufallsbefund im HIV-Infektion) oder eher selten isolierte Reduktion
Rahmen von Routineuntersuchungen und Vorberei- anderer Zellreihen handelt. Zudem kann so auch das
tungen zu operativen Eingriffen dar. Häufigste und Vorkommen von unreifen Vorläuferzellen der
aufgrund des Risikos potenziell lebensbedrohlicher Hämatopoese im peripheren Blut sowie Dysplasie-
Infektionen auch relevanteste Ursache einer Leuko- zeichen, also morphologische Auffälligkeiten der
Dr. med. Frank Ziemann penie ist die Neutropenie (neutrophile Granulozyten einzelnen Blutzellen, beurteilt werden. Bei Verdacht
Labor für < 1.800/µl) [1, 2]. Eine aktuelle Studie beschreibt eine auf das Vorliegen einer malignen Erkrankung (z. B.
Leukämiediagnostik,
Medizinische Klinik Prävalenz von ca. 1,9% für Neutropenien unter all- bei Nachweis von Blasten im peripheren Blut) muss
und Poliklinik 3, gemeinmedizinischen Patienten [3]. Menschen ara- eine unverzügliche hämato-onkologische Vorstel-
Klinikum der
Universität München bischer und afrikanischer Herkunft weisen aller- lung erfolgen.
dings häufiger Neutropenien auf (sog. benigne eth-
nisch bedingte Neutropenie) [4]. Schweregrad und klinischen Zustand
Da sich die Konsequenzen einer Leukopenie für den berücksichtigen
Patienten abhängig von der Genese stark unterschei- Die weitere Diagnostik und Dringlichkeit der Abklä-
den, ist eine genaue Klärung der Ätiologie im Ein- rung der Neutropenie orientieren sich an der Schwe-
zelfall unerlässlich [5]. Allerdings muss nicht jede re der Zytopenie und dem klinischen Zustand des
zufällig aufgefallene Leukopenie oder Neutropenie Patienten (insbesondere akuten Infektionen, siehe
notfallmäßig an einen Hämatologen überwiesen Tab. 1). So geht eine milde oder moderate Neutrope-
oder stationär abgeklärt werden. nie (neutrophile Granulozyten 1.000–1.500/µl bzw.
500–1.000/µl) mit nur einem gering erhöhten Infekt- © Labor für Leukämiediagnostik, Med. Klinik und Poliklinik 3, Klinikum der Univ. München
Diagnostische Abklärung einer Leukopenie risiko einher. Die Ätiologie dieser Veränderungen
Bei der Differenzialdiagnostik von Leukopenien ist kann oftmals ambulant abgeklärt werden. Die Pa-
zunächst zu unterscheiden, welche Zellreihen betrof- tienten müssen nur bei akuten Infektzeichen (u. a.
fen sind. Im gesunden Blutbild stellen neutrophile Fieber > 38,5 °C, Schüttelfrost, Diarrhö) zur Ein-
Granulozyten mit 40–75% die größte Zellpopulation leitung einer antibiotischen Therapie stationär auf-
dar, gefolgt von Lymphozyten (20–45%), Monozyten genommen werden [1, 7].
(2–10%), eosinophilen Granulozyten (1–6%) und Im Gegensatz dazu haben Patienten mit einer schwe-
Normaler Blutaus- basophilen Granulozyten (< 1%) [6]. Generell sollte ren Neutropenie (neutrophile Granulozyten < 500/
strich mit einem
Granulozyten und nach der Diagnose einer Leukopenie eine manuelle µl) ein hohes Infektrisiko. Das Risiko schwerer In-
einem Lymphozyten. Differenzierung der einzelnen Zellreihen mittels mi- fektionen ist auch abhängig von der Dauer der Zyto-
kroskopischer Analyse eines Blutausstriches erfol- penie und steigt z. B. bei Patienten nach zytotoxi-
gen. Hierdurch kann unterschieden werden, ob es scher Chemotherapie ab einer Neutropeniedauer von
sieben Tagen deutlich an. Bei den betroffenen Pa- Tab. 1 Schweregrade der Neutropenie und
tienten müssen dann auch Infektionen mit sonst sel- Infektionsrisiko
tenen, opportunistischen Erregern wie Pilzen, Viren Schweregrad Neutrophilen- Infektions-
und endogenen Bakterien bedacht werden. zahl/µl risiko
Wenn Patienten mit schwerer Neutropenie oder be-
mild 1.000–1.500 gering
kanntem Risiko eine solche zu entwickeln (z. B. nach
Chemotherapie) und klinische Zeichen einer Infek- moderat 500–1.000 leicht erhöht
Bei inadäquat behandel- [2, 8]. Die Mortalitätsrate von inadäquat behandel-
tem neutropenen Fieber tem neutropenem Fieber, z. B. bei onkologischen Pa- Mangelzustände (Folsäure, Vitamin B12, Kupfer [7])
beträgt die Mortalitäts-
rate über 20%. tienten, beträgt über 20% [2]. ausgeschlossen werden.
Tab. 2 Ursachen für Leukopenie, Neutropenien und Häufigkeiten für Medikamentenanamnese große Bedeutung zu-
Medikamenten-induzierte Formen (fett gedruckte Medikamente) kommt [14].
Formen Beispiele, Anmerkungen Berichtete
Häufigkeit Maligne Erkrankungen
Angeboren Neben toxisch bedingten Veränderungen sind mali-
gne Erkrankungen relativ häufige Ursachen von
Benigne familiäre/ Afrika, Mittelmeerraum
ethnische Neutropenie Neutropenien – in erster Linie hämatologische Neo-
plasien (Leukämien, Lymphome), seltener auch so-
Zyklische Neutropenie Selbstlimitierend alle 2–5 Wochen lide Tumore im Rahmen einer Knochenmarkkar-
Erworben zinose. Bei den Patienten mit malignen Erkrankun-
Infektiös/postinfektiös gen findet sich neben der Leukopenie meist auch eine
Anämie und/oder Thrombozytopenie [3, 5].
- Viral HIV, CMV, EBV, Parvovirus B19, VZV,
Hepatitis-Viren, Influenza, Masern
Autoimmunerkrankungen
- Bakteriell (selten) Tuberkulose, Brucellose, Rickettsien Zu den selteneren Auslösern einer Neutropenie ge-
Medikamentös induziert hören Autoimmunerkrankungen wie der systemi-
sche Lupus erythematodes (SLE) und Mangelzustän-
- Chemotherapeutika Platinanaloga, Doxorubicin, Methotrexat,
Paclitaxel, Cyclophosphamid de (s. o.) [7, 15]. In den letzten Jahren wurde außer-
dem festgestellt, dass ältere Menschen erworbene ge-
- Analgetika Metamizol, Ibuprofen, Diclofenac Hoch
netische Veränderungen eines Teils ihrer Blutzellen
- Psychopharmaka Clozapin Hoch aufweisen – ein Phänomen, das als altersassoziierte
- Thyreostatika Thiamazol, Carbimazol Hoch klonale Hämatopoiese bezeichnet wird und bis zu
15% der über 70-Jährigen betrifft. Ein kleiner Teil
- Antibiotika Vancomycin, Cephalosporine, Amoxicillin Hoch
dieser Personen entwickelt Zytopenien, die mit der
- Antiepileptika Phenytoin, Clomipramin, Carbamazepin Mittel Diagnose „klonale Zytopenie unklarer Signifikanz“
- Protonenpumpeninhibitoren Pantoprazol Niedrig (clonal cytopenia of uncertain significance, CCUS)
bezeichnet werden.
- Diuretika Allopurinol, Spironolacton Niedrig
Patienten mit klonaler Hämatopoese haben mit etwa
- Kardiovaskuläre Medikamente Propranolol, Nifedipin, Captopril, Clopidogrel Niedrig 1%/Jahr ein geringes Risiko eine hämatologische
- Andere Rituximab, Levodopa Mittel Neoplasie zu entwickeln, das entsprechende Risiko
von Patienten mit CCUS ist vermutlich höher. Per-
Autoimmunerkrankungen
sonen mit klonaler Hämatopoese weisen auch ein
Lupus erythematodes, Rheumatoide Arthritis, erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse auf
Aplastische Anämie, Felty-Syndrom [16, 17]. ■
Maligne Erkrankungen
Für die Verfasser:
Leukämien, Lymphome, Knochenmark- Dr. med. Frank Ziemann
karzinose, Multiples Myelom Labor für Leukämiediagnostik, Medizinische Klinik und Poliklinik III,
Klinikum der Universität München, Marchioninistr. 15, D-81377 München
Mangelernährung E-Mail: Frank.Ziemann@med.uni-muenchen.de
Fehlende enterale Resorption, Folsäure, Vitamin B12, Kupfer Koautor: PD Dr. med. Klaus Metzeler
parenterale Ernährung, Labor für Leukämiediagnostik, Medizinische Klinik und Poliklinik III,
Fehlernährung Klinikum der Universität München
Literatur
1. Palmblad J, Dufour C, Papadaki HA. How we diagnose neutro-
penia in the adult and elderly patient. Haematologica 2014; 99:
1130–1133
2. Kuderer NM, Dale DC, Crawford J, Cosler LE, Lyman GH. Mortali-
ty, morbidity, and cost associated with febrile neutropenia in
adult cancer patients. Cancer 2006; 106: 2258–2266
3. Palmblad J, Siersma V, Lind B, Bjerrum OW, Hasselbalch H, An-
dersen CL. Age-related prevalence and clinical significance of
neutropenia - isolated or combined with other cytopenias. Am J
Hematol 2020; Im Internet: http://dx.doi.org/10.1002/
ajh.25756
4. Andersen CL, Tesfa D, Siersma VD, Sandholdt H, Hasselbalch H,
Bjerrum OW, Felding P, Lind B, Olivarius N de F, Palmblad J. Pre-
valence and clinical significance of neutropenia discovered in
routine complete blood cell counts: a longitudinal study. J In-
tern Med 2016; 279: 566–575
5. Christen D, Brümmendorf T, Panse J. Leukopenie – ein diagnos-
tischer Leitfaden für die Praxis. DMW - Deutsche Medizinische
Wochenschrift 2017; 142: 1744–1749 Im Internet: http://dx.doi.
org/10.1055/s-0043-113123
6. Rodak Bernadette JHC. Clinical Hematology Atlas, Fifth Edition.
Elsevier, 2017
7. Gibson C, Berliner N. How we evaluate and treat neutropenia in
adults. Blood 2014; 124: 1251–1258
8. Foucar K, Duncan MH, Smith KJ. Practical approach to the in-
vestigation of neutropenia. Clin Lab Med 1993; 13: 879–894
9. Averbuch D, Orasch C, Cordonnier C, Livermore DM, Mikulska M,
Viscoli C, Gyssens IC, Kern WV, Klyasova G, Marchetti O, Engel-
hard D, Akova M, ECIL4, a joint venture of EBMT, EORTC, ICHS,
ESGICH/ESCMID and ELN. European guidelines for empirical an-
tibacterial therapy for febrile neutropenic patients in the era of
growing resistance: summary of the 2011 4th European Confe-
rence on Infections in Leukemia. Haematologica 2013; 98:
1826–1835
10. Bhatt V, Saleem A. Review: Drug-induced neutropenia--patho-
physiology, clinical features, and management. Ann Clin Lab Sci
2004; 34: 131–137
11. Andrès E, Zimmer J, Mecili M, Weitten T, Alt M, Maloisel F. Clini-
cal presentation and management of drug-induced agranulo-
cytosis. Expert Rev Hematol 2011; 4: 143–151
12. Garbe E. Non-chemotherapy drug-induced agranulocytosis. Ex-
pert Opin Drug Saf 2007; 6: 323–335
13. Röhrig G, Becker I, Pappas K, Polidori MC, Schulz RJ. Analysis of
cytopenia in geriatric inpatients. Z Gerontol Geriatr 2018; 51:
231–236
14. Tesfa D, Gelius T, Sander B, Kimby E, Fadeel B, Palmblad J, Hägg-
lund H. Late-onset neutropenia associated with rituximab the-
rapy: evidence for a maturation arrest at the (pro)myelocyte
stage of granulopoiesis. Med Oncol 2008; 25: 374–379
15. Jabbour N, DiGiuseppe JA, Usmani S, Tannenbaum S. Copper
deficiency as a cause of reversible anemia and neutropenia.
Conn Med 2010; 74: 261–263
16. Hartmann L, Metzeler KH. Clonal hematopoiesis and preleuke-
mia-Genetics, biology, and clinical implications. Genes Chro-
mosomes Cancer 2019; Im Internet: http://dx.doi.org/10.1002/
gcc.22756
17. Malcovati L, Gallì A, Travaglino E, Ambaglio I, Rizzo E, Molteni E,
Elena C, Ferretti VV, Catricalà S, Bono E, Todisco G, Bianchessi A,
Rumi E, Zibellini S, Pietra D, Boveri E, Camaschella C, Toniolo D,
Papaemmanuil E, Ogawa S, Cazzola M. Clinical significance of
somatic mutation in unexplained blood cytopenia. Blood 2017;
129: 3371–3378