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Deutsche Buddhistische Union (DBU)

Buddhistische Religionsgemeinschaft e.V.

Studienprogramm

Wissen – Verstehen – Erfahren


Buddhistische Weisheit in der Vielfalt der Traditionen

Studientexte zu

Sterben, Sterbebegleitung, Trauer


Inhalt

Ajahn Chah
Unser wirkliches Heim

Bhikkhu Bodhi
Treffen mit den göttlichen Boten

Bokar Rinpoche
Der Tod der anderen

Chögyam Trungpa Rinpoche


Umgehen mit dem Tod

Chökyi Nyima Rinpoche


Lassen Sie los! Vom Älterwerden und Sterben (Interview)

Freund, Lisa
Rituale des Übergangs

Geshe Tenpa Choepel


Wie gehen Buddhisten mit dem Tod um? (Interview)

Krasomil, Dean
Buddhistische Sterbevorbereitung und Sterbebegleitung

Lief, Judith
Mit dem Tod Freundschaft schließen (Interview)

Longaker, Christine
Hoffnung und Inspiration im Tod finden

Ostaseski, Frank
Eine Reise durch die Trauer

Ostaseski, Frank
Hebammen für Sterbende. Transformation durch Hospizarbeit (Interview)

Ostaseski, Frank
Meine wahren Lehrer sind die Sterbenden (Interview)

Osterloh, Tineke
Tod in Afrika

Petersen, Oliver
Warum es nützlich ist, sich den Tod bewusst zu machen

Pilartz, Jürgen

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Über den Tod von Mayum Künsang Detschen

Repenning, Maren
Ruhe, Zeit und viel Praxis. Erfahrungen einer Bestatterin (Interview)

Rodeck, Axel
Buddhistische Bestattungen in Deutschland

Saß, Ekkehard
Am Sarg meiner Mutter

Tamme, Peter
Wir wollen achtsame Partner des Sterbenden sein (Interview)

Thich Thien Son


Wenn die Todesstunde naht. Einfühlsame Sterbebegleitung

Hinweise

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Unser wirkliches Heim
Eine Unterweisung für eine dem Tode nahe Laienanhängerin und ihre Familie

Ajahn Chah

Nun nimm dir in deinem Geist fest vor, dem Dhamma mit Respekt zu lauschen. Während ich
spreche, gib so acht auf meine Worte, als ob Buddha selbst vor dir sitzen würde. Schließe
deine Augen und mache es dir bequem, sammle deinen Geist und mache ihn einsgerichtet.
Erlaube demütig dem Dreifachen Juwel der Weisheit, der Wahrheit und der Reinheit in
deinem Herz zu verweilen, um auf diese Weise dem Vollkommen Erwachten Respekt zu
zollen.
Heute habe ich dir nichts Materielles mitgebracht, das ich dir anbieten könnte, nur Dhamma,
die Lehre des Buddha. Hör gut zu! Du solltest verstehen, dass sogar der Buddha selbst mit
seinem großen Vorrat an gesammelter Tugend den physischen Tod nicht vermeiden konnte.
Als er alt geworden war, gab er seinen Körper auf und ließ dessen schwere Last los. Nun
musst auch du lernen, mit den vielen Jahren, die du bereits von deinem Körper abhängig
warst, zufrieden zu sein. Du solltest das Gefühl haben, dass es genug ist.
Du kannst es mit dem Geschirr vergleichen, das du schon so lange hast - deine Tassen,
Unterteller, Teller und so weiter. Anfänglich waren sie sauber und glänzend, aber jetzt, nach
so langem Gebrauch, zeigen sich Abnutzungserscheinungen. Einige sind bereits zerbrochen,
einige sind verschwunden, und die, welche übriggeblieben sind, verlieren an Wert. Da sie
keine dauerhafte Form besitzen, ist es nur natürlich, dass es so ist. Mit deinem Körper verhält
es sich genauso - er hat sich kontinuierlich verändert seit dem Tag, an dem du geboren
wurdest, durch deine Kindheit und deine Jugend hindurch, bis er sein jetziges Alter erreicht
hat. Das musst du akzeptieren. Der Buddha sagte, dass Bedingungen (sankhara), gleich ob
innere, körperliche oder äußerliche Bedingungen, Nicht-Selbst sind, und es daher ihre Natur
ist, sich zu verändern. Kontempliere diese Wahrheit, bis du sie klar erkennst.
Dieser Klumpen Fleisch, der hier liegt und verfällt, ist Saccadhamma, die Wahrheit. Die
Wahrheit dieses Körpers ist Saccadhamma, und sie ist die unwandelbare Lehre des Buddha.
Der Buddha lehrte uns, den Körper zu betrachten, ihn zu kontemplieren und uns mit seiner
Natur abzufinden. Wir müssen imstande sein, mit dem Körper in Frieden zu leben, in
welchem Zustand er sich auch befinden mag. Nun, da dein Körper mit dem Alter verfällt und
anfängt, dem Ende entgegenzugehen, wehre dich nicht dagegen, aber lass deinen Geist nicht
mit verfallen, halte den Geist davon getrennt. Gib ihm Energie durch die Erkenntnis der
wahren Natur der Dinge. Buddha lehrte, dass so die Natur des Körpers ist, er kann nicht
anders sein. Nachdem er geboren wurde, wird er alt und krank und schließlich stirbt er. Es ist
eine große Wahrheit, die du gegenwärtig erfährst. Betrachte den Körper mit Weisheit und
erkenne sie.
Sogar wenn dein Haus überflutet wird oder niederbrennt, welche Gefahren es auch immer
bedrohen mögen, lass sie nur das Haus bedrohen. Wenn eine Flut kommt, lass sie nicht deinen
Geist überfluten. Wenn ein Feuer ausbricht, lass es nicht dein Herz verbrennen. Lass nur das
Haus, das, was außerhalb von dir ist, überflutet werden und brennen. Erlaube dem Geist, seine
Verhaftungen loszulassen. Die Zeit ist reif!
Du bist schon lange Zeit am Leben. Deine Augen haben eine Unzahl von Formen und Farben
gesehen, deine Ohren haben viele Geräusche gehört, du hattest eine Unzahl Erfahrungen. Und
das ist alles, was sie waren – bloß Erfahrungen. Du hast köstliche Speisen gegessen, und all
der Wohlgeschmack war bloß Wohlgeschmack, nichts weiter. Die unangenehmen
Geschmackserfahrungen waren nur unangenehme Geschmackserfahrungen, das ist alles.

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Wenn das Auge eine schöne Form sieht, dann ist das alles, was es ist, bloß eine schöne Form.
Eine hässliche Form ist bloß eine hässliche Form. Das Ohr hört einen entzückenden,
melodiösen Klang und es ist nichts weiter als das. Ein schriller, unharmonischer Klang ist
einfach so - schrill und unharmonisch.
Der Buddha sagte, ob reich oder arm, jung oder alt, menschlich oder tierisch, kein Wesen in
dieser Welt kann sich lange in einem Zustand halten, alles erfährt Wandel und Entfremdung.
Das ist eine Tatsache des Lebens, die wir nicht aufheben können. Aber der Buddha sagte
auch, dass wir etwas tun können, nämlich Körper und Geist zu kontemplieren, um ihre
Unpersönlichkeit zu erkennen; zu sehen, dass weder Körper noch Geist ich oder mein ist. Sie
besitzen eine rein vorübergehende Realität. Es ist wie mit diesem Haus, es ist nominell deines,
du könntest es nirgendwohin mitnehmen. Das gleiche gilt für deinen Reichtum, deinen Besitz
und deine Familie - all das gehört dir nur dem Namen nach. Es gehört dir nicht wirklich, es
gehört der Natur. Nun gilt diese Wahrheit nicht nur für dich, jeder ist in derselben Situation -
sogar der Buddha und seine erleuchteten Schüler. Sie unterschieden sich von uns nur in einer
Weise und zwar in ihrem Annehmen der Seinsweise der Dinge, sie erkannten, dass es gar
nicht anders sein kann.
Der Buddha lehrte uns also, diesen Körper zu betrachten und zu untersuchen, von den
Fußsohlen aufwärts zum Scheitel und dann wieder zurück zu den Füßen. Betrachte den
Körper einfach einmal. Was siehst du? Gibt es da irgendetwas, das wirklich rein ist? Kannst
du irgendeine bleibende Essenz finden? Dieser ganze Körper baut beständig ab, und der
Buddha lehrte uns zu erkennen, dass er nicht uns gehört. Es ist natürlich für den Körper, sich
so zu verhalten, denn alle bedingt entstandenen Phänomene sind dem Wandel unterworfen.
Wie könnte es auch anders sein? Eigentlich ist an dem, wie der Körper ist, nichts verkehrt. Es
ist nicht der Körper, der dich leiden macht, es ist dein falsches Denken. Wenn du das Richtige
falsch siehst, muss es zu Verwirrung kommen.
Es ist wie mit dem Wasser eines Flusses. Es fließt natürlicherweise das Gefälle hinunter, es
fließt nie dagegen an, das ist seine Natur. Wenn sich jemand ans Flussufer stellen würde und
dem Wasser zusähe, wie es schnell seinem Weg folgt, und er sich dümmlicherweise
wünschte, es möge bergauf fließen, würde er leiden. Sein falsches Denken würde seinem
Geist den Frieden rauben. Er würde wegen seiner falschen Anschauung, seines gegen den
Strom Andenkens, unglücklich sein. Wenn er rechte Anschauung besäße, würde er erkennen,
dass Wasser unvermeidlich das Gefälle hinunterfließen muss; und so lange, bis dieser Mann
diese Tatsache erkannt und akzeptiert hätte, würde er aufgebracht und ärgerlich sein.
Der Fluss, der dem Gefälle folgen muss, ist wie dein Körper. Jung gewesen, ist dein Körper
jetzt alt geworden, und mäandert nun seinem Tod entgegen. Wünsche dir nicht, dass es anders
wäre, es liegt nicht in deiner Macht, es zu ändern. Der Buddha riet uns, die Dinge so zu sehen
wie sie sind, und dann unsere Verhaftungen daran loszulassen. Nimm dieses Gefühl des
Loslassens als deine Zuflucht. Meditiere weiter, auch wenn du dich müde und erschöpft
fühlst. Lass deinen Geist mit dem Atem verweilen. Nimm ein paar tiefe Atemzüge und dann
gründe den Geist auf dem Atem mit Hilfe des Mantras ‚Buddho’. Lass diese Übung zur
Gewohnheit werden. Je erschöpfter du dich fühlst, desto feiner und schärfer muss deine
Konzentration werden, damit du mit den schmerzlichen Empfindungen, die aufsteigen,
zurecht kommst.
Wenn du ermüdest, dann halte dein Denken an, lass den Geist sich sammeln und wende dich
dann dem Wissen um den Atem zu. Behalte einfach die innere Rezitation ‚Buddho, Buddho’
bei. Lass alle Äußerlichkeiten los. Klammere dich nicht an Gedanken über deine Kinder und
Verwandten, klammere dich an überhaupt nichts. Lass los. Lass den Geist sich in einem Punkt
sammeln und lass diesen gesammelten Geist mit dem Atem verweilen. Lass den Atem das
einzige Objekt des Wissens im Geist sein. Konzentriere dich, bis der Geist sich zunehmend

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verfeinert, bis Empfindungen unbedeutend werden und eine große innere Klarheit und
Wachheit auftritt.
Wenn schmerzliche Empfindungen aufsteigen, werden sie schrittweise von selbst aufhören.
Schließlich wirst du den Atem betrachten, als ob er ein Verwandter wäre, der dich besuchen
kommt. Wenn ein Verwandter geht, begleiten wir ihn hinaus und verabschieden ihn. Wir
schauen ihm nach, bis er aus unserem Sichtfeld verschwunden ist und dann gehen wir wieder
hinein. Den Atem beobachten wir auf die gleiche Weise. Wenn der Atem grob ist, wissen wir,
dass er grob ist, wenn er zart ist, wissen wir, dass er zart ist. Während er zunehmend zarter
wird, folgen wir ihm weiter, während wir gleichzeitig den Geist erwecken. Schließlich
verschwindet der Atem ganz, und alles, was bleibt, ist das Gefühl der Wachheit. Das wird
„den Buddha treffen“ genannt. Wir haben diese klare wache Achtsamkeit, die ‚Buddho’
genannt wird, der, der weiß, der, der wach ist, der Strahlende. Es ist ein Treffen und Leben mit
Buddha, mit Wissen und Klarheit.
Es war der historische Buddha aus Fleisch und Blut, der ins Parinibbana einging. Der wahre
Buddha, der Buddha, der klares strahlendes Wissen ist, das wir bis heute erleben und
erreichen können - und wenn es uns gelingt, ist das Herz geeint.
Lass also los! Leg alles ab, alles mit Ausnahme des Wissens. Lass dich nicht von Visionen
oder Geräuschen, die in deinem Geist während der Meditation aufsteigen, verwirren. Lege sie
alle ab. Halte an überhaupt nichts fest. Verweile einfach mit dieser nicht-dualen Achtsamkeit.
Mach dir keine Sorgen über Vergangenheit und Zukunft, sei einfach still und du wirst den Ort
erreichen, an dem es kein Fortschreiten mehr gibt, kein Zurückweichen, kein Anhalten, wo es
nichts zum Festhalten oder Anklammern gibt. Warum? Weil es dort kein ich, kein mein, kein
Selbst gibt. Es ist alles verschwunden. Der Buddha lehrte uns, auf diese Weise von allem leer
zu sein, nichts mit uns zu tragen. Er lehrte uns, zu wissen und wissend loszulassen.
Den Dhamma erkennen, den Weg zur Freiheit vom Kreislauf von Geburt und Sterben, ist eine
Arbeit, die jeder für sich selbst tun muss. Versuche also, loszulassen und die Lehren zu
verstehen. Strenge dich wirklich an bei deinen Kontemplationen. Sorge dich nicht um deine
Familie. Zurzeit sind sie, wie sie sind, in der Zukunft wird es ihnen gehen wie dir. Niemand in
dieser Welt kann diesem Schicksal entgehen. Der Buddha lehrte uns, alles abzulegen, was
keine wirklich bleibende Substanz hat. Wenn du alles ablegst, wirst du die Wahrheit sehen,
sonst nicht. So ist das, und es ist für jeden in dieser Welt gleich. Also sorge dich nicht und
klammere dich an nichts.
Sogar wenn du dich beim Denken ertappst, nun, dann ist das auch in Ordnung, solange du
weise denkst. Denke nicht dümmlich. Wenn du an deine Kinder denkst, denke an sie mit
Weisheit, nicht mit Dummheit. Denke weise und erkenne, wohin der Geist sich auch wendet,
sei dir seiner Natur bewusst. Wenn du etwas mit Weisheit erkennst, dann läßt du es los, und es
entsteht kein Leid. Der Geist ist hell, freudig und in Frieden und da er sich von Ablenkungen
abwendet, ist er ungeteilt.
Gerade jetzt kannst du dich wegen Hilfe und Unterstützung dem Atem zuwenden. Das ist
deine eigene Arbeit, nicht die von jemand anderem. Lass die anderen ihre eigene Arbeit tun.
Du hast deine eigene Pflicht und Verantwortung und du musst nicht die deiner Familie auf
dich nehmen. Nimm nichts anderes an und lass alles los. Dieses Loslassen wird deinen Geist
beruhigen. Deine einzige Verantwortung ist nun, deinen Geist zu sammeln und ihn zu
befrieden. Lass alles andere den anderen. Formen, Geräusche, Geschmäcke - lass die anderen
sich darum kümmern. Lass alles hinter dir und tue deine eigene Arbeit, erfülle deine
Verantwortung. Was immer in deinem Geist aufsteigt, mag es Angst vor Schmerz, Angst vor
dem Tod, Furcht um andere oder was immer sein, sag’ einfach dazu: `Störe mich nicht. Du
bist nicht mehr meine Sache’. Fahre einfach fort, das zu dir zu sagen, wenn du die Dhammas
aufsteigen siehst.

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Worauf bezieht sich das Wort Dhamma? Alles ist ein Dhamma. Es gibt nichts, das nicht ein
Dhamma wäre. Und was ist die `Welt’? Die Welt ist genau der geistige Zustand, der dich im
Moment aufregt. `Was wird dieser Mensch tun, was wird jener tun? Wer wird sich um sie
kümmern, wenn ich tot bin? Wie werden sie zurecht kommen?’ Das alles ist nur `die Welt’.
Auch das Aufsteigen eines Gedankens, der Furcht vor Tod oder Schmerz ist die Welt. Wirf
die Welt weg! Die Welt ist, wie sie ist. Wenn du ihr erlaubst, im Geist aufzusteigen und das
Bewusstsein zu dominieren, dann wird der Geist verdunkelt und kann sich nicht selbst sehen.
Also, was immer im Geist erscheint, sage einfach: `Das geht mich nichts an. Es ist
vergänglich, unbefriedigend - Nicht-Selbst.’
Zu denken, dass du gerne noch lange leben würdest, wird dich leiden machen. Aber zu
denken, dass du gerne sofort oder sehr schnell sterben würdest, ist auch nicht richtig. Es ist
Leiden, nicht wahr? Bedingungen gehören nicht uns, sie folgen ihren eigenen natürlichen
Gesetzen. Du kannst nichts an der Seinsweise des Körpers verändern. Du kannst ihn ein
bisschen hübscher machen, ihn für eine Weile anziehend und sauber machen, wie die jungen
Mädchen, die ihre Lippen bemalen und ihre Nägel lang wachsen lassen, aber wenn das Alter
kommt, sitzen alle im gleichen Boot. So ist der Körper, und du kannst ihn nicht ändern. Was
du aber verbessern und verschönern kannst, ist der Geist.
Jeder kann ein Haus aus Holz oder Ziegeln bauen, aber der Buddha lehrte uns, dass diese Art
Heim nicht unser wirkliches Heim ist, dass es nur dem Namen nach unser ist. Es ist ein Heim
in der Welt und es folgt dem Lauf der Welt. Unser wahres Heim ist innerer Frieden. Ein
äußerliches Heim mag zwar hübsch sein, aber es ist nicht sehr friedlich. Es gibt diese Sorge
und dann jene, diese Befürchtung und dann jene. Also sagen wir, es ist nicht unser wirkliches
Heim, es ist außerhalb von uns, früher oder später müssen wir es aufgeben. Es ist kein Ort, an
dem wir für immer leben könnten, weil es uns nicht wirklich gehört, es ist Teil der Welt.
Unser Körper ist genauso, wir nehmen ihn als Selbst an, als „Ich“ und „mein“, aber in
Wirklichkeit ist dem überhaupt nicht so, er ist bloß ein weiteres weltliches Heim. Unser
Körper folgte von Geburt an seinem natürlichen Weg, bis er jetzt alt und krank ist, und das
kann man ihm nicht verbieten. So ist es eben. Ihn sich anders zu wünschen, wäre genauso
dumm, wie sich zu wünschen, dass eine Ente ein Huhn wäre. Wenn du siehst, dass das
unmöglich ist, weil eine Ente eine Ente sein muss, ein Huhn ein Huhn sein muss und weil
Körper alt werden und sterben müssen, wirst du Stärke und Energie finden. Wie sehr du auch
wünschen magst, dass der Körper weiterbesteht und noch lange Zeit hält, er wird es nicht tun.
Der Buddha sagte: ‚Anicca vata sankhara; uppadavayadhammino; upajjhitva nirujjhanti;
tesam vupasamo sukho.’
Das Wort Sankhara bezieht sich auf diesen Körper und Geist. Sankharas sind vergänglich und
unbeständig, einmal entstanden, vergehen sie wieder, und doch möchte sie jeder dauerhaft.
Das ist Dummheit. Schau dir den Atem an. Hereingekommen, geht er wieder hinaus, das ist
seine Natur, das muss so sein. Die Einatmung muss sich mit der Ausatmung abwechseln, es
muss Wandel geben. Sankhara existieren durch den Wandel, du kannst es nicht verhindern.
Denke einmal nach: könntest du einatmen ohne auszuatmen? Würde sich das gut anfühlen?
Oder könntest du einfach nur einatmen? Wir möchten die Dinge dauerhaft, aber das können
sie nicht sein, es ist unmöglich. Wenn der Atem hereingekommen ist, muss er wieder heraus,
wenn er herausgekommen ist, kommt er wieder herein und das ist natürlich, oder nicht?
Einmal geboren, werden wir alt und krank und dann sterben wir, das ist völlig natürlich und
normal. Es geschieht, weil die Sankhara ihre Arbeit getan haben. Weil sich das Einatmen und
das Ausatmen abgewechselt haben, deshalb gibt es die menschliche Rasse heute immer noch.
Sobald wir geboren sind, sind wir tot. Unsere Geburt und unser Tod sind eine Einheit. Es ist
wie mit einem Baum: Wenn es eine Wurzel gibt, muss es auch Zweige geben. Wenn Zweige
da sind, muss es eine Wurzel geben. Du kannst nicht das eine haben ohne das andere. Es ist

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ein bisschen lächerlich zu sehen, wie die Menschen bei einem Todesfall so bekümmert und
durcheinander, verheult und traurig sind und wie sie anlässlich einer Geburt glücklich und
erfreut sind. Es ist Verblendung, nur hat sich niemand das jemals klar vor Augen geführt. Ich
denke, wenn du schon weinen willst, dann eher, wenn jemand geboren wird. Denn eigentlich
ist Geburt Tod, Tod ist Geburt, die Wurzel ist der Zweig, der Zweig die Wurzel. Wenn du
weinen musst, weine bei der Wurzel, weine bei der Geburt. Schau genau: wenn es keine
Geburt gäbe, gäbe es keinen Tod. Kannst du das verstehen? Denke nicht zuviel. Denke
einfach: `so sind die Dinge eben’.
Es ist deine Arbeit, es ist deine Pflicht. Gerade jetzt kann niemand dir helfen, es gibt nichts,
was deine Familie und deine Besitztümer für dich tun könnten. Alles was dir nun helfen kann,
ist das rechte Gewahrsein.
Also zaudere nicht. Lass los. Wirf alles ab.
Denn auch wenn du nicht loslässt, fängt trotzdem alles an, dich zu verlassen. Kannst du nicht
sehen, wie all die verschiedenen Teile deines Körpers versuchen, wegzuschlüpfen? Nimm
dein Haar: Als du jung warst, war es dick und schwarz und nun fällt es aus. Es geht. Deine
Augen waren gut und stark und nun sind sie schwach, und dein Augenlicht ist getrübt. Wenn
die Organe genug haben, gehen sie, dies ist nicht ihr Heim. Als du ein Kind warst, waren
deine Zähne gesund und fest, nun wackeln sie und vielleicht hast du falsche. Deine Augen,
Ohren, Nase, Zunge - alles versucht zu gehen, weil dies nicht ihr Heim ist. Du kannst kein
dauerhaftes Heim in einem Sankhara einrichten, du kannst für eine Weile bleiben und dann
musst du gehen. Du bist wie ein Mieter, der über sein winzig kleines Haus wacht, während
seine Augen immer schlechter werden. Seine Zähne sind nicht so gut, seine Ohren sind nicht
so gut, sein Körper ist nicht so gesund, alles lässt nach, verlässt ihn.
Du brauchst dir über nichts Sorgen zu machen, denn das ist nicht dein wirkliches Heim, es ist
nur eine vorübergehende Herberge. Nachdem du in diese Welt gekommen bist, solltest du ihre
Natur kontemplieren. Alles, was existiert, bereitet sich darauf vor zu verschwinden. Schau dir
deinen Körper an. Gibt es da irgendetwas, was noch im Orginalzustand wäre. Ist deine Haut,
wie sie einmal war? Ist es dein Haar? Es ist nicht mehr das gleiche, oder? Wohin ist alles
verschwunden? Das ist die Natur, die Seinsweise der Dinge. Wenn ihre Zeit vorüber ist, gehen
Bedingungen ihren Weg. Diese Welt ist nichts, worauf man sich verlassen könnte - es ist ein
endloser Kreislauf von Störungen und Schwierigkeiten, Freuden und Schmerzen. Niemals
finden wir Frieden.
Wenn wir kein wahres Heim haben, sind wir wie ein zielloser Reisender, der auf diesem Weg
eine Weile geht und dann auf jenem, der eine Weile anhält, um dann wieder weiter zu
wandern. Bis wir in unser wahres Heim zurückkehren, fühlen wir uns unwohl, was immer wir
auch tun. Wir sind wie jemand, der sein Dorf verlassen hat, um auf eine Reise zu gehen. Erst
wenn er wieder nach Hause kommt, kann er sich wirklich entspannen und wohlfühlen.
In der Welt kann nirgendwo echter Friede gefunden werden. Die Armen haben keinen
Frieden, noch haben ihn die Reichen. Erwachsene haben keinen Frieden, Kinder haben keinen
Frieden, die Ungebildeten haben keinen Frieden und auch die Hochschulerzogenen haben ihn
nicht. Es gibt keinen Frieden, nirgendwo. Das ist die Natur der Welt.
Diejenigen, die wenig Besitz haben, leiden, und das tun auch die, die viel haben. Kinder,
Erwachsene, die Alten, jeder leidet. Das Leid, alt zu sein, das Leid, jung zu sein, das Leid,
reich zu sein und das Leid, arm zu sein - es ist alles nichts als Leiden.
Wenn du die Dinge auf diese Weise kontemplierst, wirst du Aniccam (Vergänglichkeit) und
Dukkham (Unbefriedigendsein) sehen. Warum sind die Dinge vergänglich und
unbefriedigend? Sie sind es, weil sie Anatta (Nicht-Selbst) sind.
Sowohl dein Körper, der hier krank und schmerzend liegt, als auch der Geist, der sich der
Krankheit und der Schmerzen bewusst ist, werden Dhammas genannt. Das, was formlos ist,

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die Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen, werden Namadhamma genannt. Das, was von
Schmerz und Pein geplagt wird, wird Rupadhamma genannt. Das Materielle ist Dhamma, und
das Immaterielle ist Dhamma. Also leben wir mit Dhammas, in Dhammas, wir sind
Dhammas. In Wahrheit ist nirgendwo ein Selbst zu finden, es gibt nur Dhammas, die
beständig aufsteigen und wieder vergehen, wie es ihrer Natur entspricht. Jeden Moment
durchlaufen wir Geburt und Tod. So ist die Seinsweise der Dinge.
Wenn wir an den Buddha denken, wie wahr er sprach, dann fühlen wir, wie sehr er der
Verneigung, der Verehrung und des Respektes wert ist. Wann immer wir die Wahrheit von
etwas erkennen, sehen wir seine Lehre, sogar wenn wir nie wirklich den Dhamma geübt
haben. Aber selbst wenn wir die Lehren kennen, sie studiert und geübt haben, ihre Wahrheit
jedoch noch nicht erkannt haben, sind wir immer noch ohne Heim.
Also verstehe diesen Punkt, alle Menschen, alle Geschöpfe, alle sind dabei zu gehen. Wenn
Wesen eine angemessene Zeit gelebt haben, gehen sie ihren Weg. Die Reichen, die Armen,
die Jungen, die Alten, alle Wesen müssen diesen Wandel erfahren.
Wenn du erkennst, dass dies der Lauf der Welt ist, wirst du das Gefühl bekommen, dass sie
ein ermüdender Ort ist. Wenn du siehst, dass es nichts Stabiles oder Substantielles gibt, auf
das du dich verlassen könntest, wirst du dich ermüdet und enttäuscht fühlen. Enttäuscht zu
sein, bedeutet jedoch nicht, dass du abgeneigt bist. Der Geist ist klar. Er sieht, dass es nichts
gibt, das getan werden könnte, um die Sachlage zu ändern. So ist der Lauf der Welt. Auf diese
Weise wissend, kannst du die Anhaftungen loslassen, loslassen mit einem Geist, der weder
glücklich noch unglücklich ist, sondern in Frieden mit den Sankhara durch das Erkennen mit
Weisheit ihrer veränderlichen Natur. ‘Anicca vata sankhara’ – alle Sankhara sind
vergänglich. Einfach gesagt – Vergänglichkeit ist der Buddha. Wenn wir ein vergängliches
Phänomen wirklich klar sehen, werden wir erkennen, dass es beständig ist, beständig in dem
Sinne, dass es unwandelbar dem Wandel unterworfen ist. Das ist die Beständigkeit, die den
lebenden Wesen eigen ist.
Es gibt eine beständige Transformation von der Kindheit bis zum Alter, und genau diese
Vergänglichkeit, diese Natur des Wandels, ist beständig und unwandelbar. Wenn du es so
betrachtest, wird dein Herz beruhigt sein. Nicht nur du musst das durchmachen, jeder muss es.
Wenn du die Dinge so betrachtest, wirst du sie als ermüdend ansehen, und Enttäuschung wird
aufsteigen. Deine Freude an der Welt der Sinnenfreuden wird schwinden. Du wirst erkennen,
wenn du eine Menge Dinge besitzt, hast du vieles zurückzulassen, wenn du wenig hast, lässt
du wenig zurück. Reichtum ist nur Reichtum, langes Leben ist nur langes Leben, sie sind
nichts Besonderes.
Wichtig ist, dass wir handeln sollten, wie es der Buddha lehrte, und unser eigenes wahres
Heim mit der Methode bauen, die ich dir erklärt habe. Baue dein Heim. Lass’ los. Lass’ los,
bis der Geist den Frieden erreicht, der frei ist von Vorankommen, frei von Zurückweichen und
frei von Stillstand. Freude ist nicht unser Heim, Schmerz ist nicht unser Heim. Freude und
Schmerz nehmen beide ab und sterben.
Der große Lehrer sah, dass alle Sankhara vergänglich sind, und so lehrte er uns, unser
Anhaften an ihnen loszulassen. Wenn wir das Ende unseres Lebens erreichen, haben wir
sowieso keine Wahl, wir werden nichts mit uns nehmen können. Wäre es da nicht besser, die
Dinge vorher niederzulegen? Sie sind nur eine schwere Last; warum nicht jetzt diese Last
abwerfen? Warum sich damit abgeben, sie herumzuschleppen? Lass los, entspanne dich und
lass deine Familie sich um dich kümmern.
Die, welche die Kranken pflegen, wachsen in Güte und Tugend. Einer, der krank ist und damit
anderen diese Gelegenheit gibt, sollte die Dinge nicht schwierig für sie machen. Wenn du
Schmerzen hast oder das eine oder andere Problem, lass es sie wissen und halte den Geist in
einem heilsamen Zustand. Jemand, der seine Eltern pflegt, sollte seinen Geist mit Wärme und

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Freundlichkeit füllen und sich nicht in Abneigung verfangen. Dies ist die Zeit, in der du
zurückzahlen kannst, was du ihnen schuldest. Von deiner Geburt an durch deine Kindheit,
während deines Aufwachsens, warst du von deinen Eltern abhängig. Wir sind heute nur
deshalb hier, weil unsere Eltern uns auf so viele Weisen geholfen haben. Wir haben ihnen
gegenüber eine unermessliche Dankesschuld.
Deshalb haben sich heute alle deine Kinder und Verwandten hier versammelt.
Seht, wie eure Eltern eure Kinder werden. Vorher wart ihr ihre Kinder, und nun werden sie
eure. Sie werden älter und älter, bis sie wieder Kinder werden. Ihre Erinnerungen verblassen,
ihre Augen sehen nicht mehr so gut und ihre Ohren hören nichts mehr, manchmal
verwechseln sie die Worte. Lasst euch davon nicht aufregen. Alle, die ihr Kranke pflegt,
müsst wissen, wie man loslässt. Haltet euch nicht an den Dingen fest, lasst einfach los und
lasst ihnen ihren eigenen Lauf. Wenn ein junges Kind unfolgsam ist, lassen ihm die Eltern
manchmal seinen Willen, nur um des lieben Friedens willen, um es glücklich zu machen. Nun
sind eure Eltern wie solch ein Kind. Ihre Erinnerung und ihre Wahrnehmung haben sich
verwirrt. Manchmal verwechseln sie eure Namen, oder ihr bittet sie, euch eine Tasse zu geben
und sie bringen einen Teller. Das ist normal, lasst euch davon nicht ärgern.
Lasst die Patienten sich an die Freundlichkeit derer erinnern, die pflegen und die geduldig die
schmerzlichen Gefühle ertragen. Gebt euch geistig Mühe, lasst den Geist nicht zerstreut und
aufgeregt werden und macht die Sache nicht schwierig für die, die nach euch sehen.
Die, die Kranke pflegen, sollen ihren Geist mit Tugend und Freundlichkeit füllen. Seid der
unangenehmen Seite dieser Arbeit nicht abgeneigt. Lasst es euch nichts ausmachen, Speichel
und Schleim oder Urin und Exkremente wegzuputzen. Versucht euer Bestes. Jeder in der
Familie sollte mithelfen.
Dies sind die einzigen Eltern, die ihr habt. Sie gaben euch das Leben, sie waren eure Lehrer,
eure Pfleger und eure Ärzte - sie waren alles für euch. Dass sie euch aufgezogen haben, euch
gelehrt haben, ihren Reichtum mit euch geteilt und euch zu Erben gemacht haben, ist die
große Wohltäterschaft der Eltern. Deshalb lehrte der Buddha die Tugenden Kataññu und
Katavedi, um die Tiefe unserer Dankesschuld zu wissen, und den Versuch, sie abzutragen.
Diese beiden Dhammas ergänzen einander.
Wenn unsere Eltern der Hilfe bedürfen, wenn sie krank sind oder in Schwierigkeiten, dann tun
wir unser Bestes, um ihnen zu helfen. Das ist Kataññukatavedi, es ist eine Tugend, die die
Welt erhält. Sie verhindert das Auseinanderbrechen von Familien, sie macht sie stabil und
harmonisch.
Heute, in dieser Zeit der Krankheit, habe ich euch den Dhamma als Geschenk gebracht. Ich
besitze keine materiellen Dinge, die ich euch geben könnte, auch scheint es in diesem Haus
davon zur Genüge zu geben, und deshalb gebe ich euch Dhamma, etwas, das einen bleibenden
Wert hat, etwas, das ihr nie erschöpfen könnt. Nachdem ihr es von mir erhalten habt, könnt ihr
es an so viele wie ihr nur wollt weitergeben, und es wird niemals weniger werden. Das ist die
Natur der Wahrheit. Ich bin glücklich, dass ich dieses Geschenk des Dhamma geben konnte,
und ich hoffe, es wird dir die Stärke geben, mit deinen Schmerzen zurechtzukommen.

Ajahn Chah: Unser wirkliches Heim. Ein Lehrgespräch für eine ältere, dem Tode nahe Laienanhängerin und ihre
versammelte Familie, in: Lotusblätter, Nr. 4/1991, S. 17-23 (Übersetzung: Manfred Wiesberger) (DBU)
Auszüge in der Übersetzung von Lothar Schenk in: Buddhismus aktuell Nr. 3/2010

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Treffen mit den göttlichen Boten
Bhikkhu Bodhi

So wie Prinz Siddhartha seinen Palast verlassen musste, um durch die Konfrontation mit Alter, Krankheit und
Tod den Weg zur Erleuchtung zu finden, so müssen auch wir die Begegnung mit diesen göttlichen Boten suchen,
um den buddhistischen Pfad bis zum Ende beschreiten zu können.

Die Legende über Buddhas Leben berichtet, dass Prinz Siddhartha, der Bodhisattva, in seiner
Jugend und seinen frühen Mannesjahren ohne jegliches Bewusstsein von der menschlichen
Sterblichkeit lebte. Sein Vater, der ängstlich darauf bedacht war, seinen empfindsamen Sohn
keinem Leiden auszusetzen, hielt ihn in seiner Unwissenheit gefangen. Eingeschlossen im
Prunk des Palastes, hervorragend versorgt mit sinnlichen Vergnügungen und umgeben von
fröhlichen Freunden, hatte der Prinz nicht die leiseste Ahnung, dass das Leben irgendetwas
anderes als eine endlose Folge von Vergnügungen und Festlichkeiten bereithalten könnte. Erst
an dem schicksalhaften Tag in seinem 29. Lebensjahr, als ihn die Neugierde aus den Mauern
des Palastes hinausführte, traf er die vier „göttlichen Boten“, die sein Schicksal verändern
sollten. Die ersten drei dieser Boten, der Alte, der Kranke und der Tote, belehrten ihn über die
schockierenden Wahrheiten von Alter, Krankheit und Tod; der vierte war ein wandernder
Asket, der ihm die Möglichkeit eines Pfades eröffnete, auf dem alles Leiden vollkommen
überwunden werden kann.
Diese bezaubernde Geschichte, die den Glauben von Buddhisten über Jahrhunderte genährt
hat, enthält in ihrem Kern eine tiefgehende psychologische Wahrheit. Sie erzählt uns nicht nur
von Ereignissen, die sich vor Jahrhunderten so zugetragen haben mögen, sondern auch von
einem Erwachensprozess, den jeder von uns durchlaufen muss, wenn die Wahrheit des
Dharma in uns zum Leben erweckt werden soll. Hinter der Symbolik der alten Legende
können wir erkennen, dass sich das Leben des jugendlichen Prinzen Siddhartha im Palast gar
nicht so sehr von der Art und Weise unterscheidet, wie die meisten von uns ihr ganzes Leben
verbringen – leider oft, bis es zu spät ist, um eine neue Richtung einzuschlagen. Unsere
Heime mögen keine königlichen Paläste sein und der Reichtum, der uns zur Verfügung steht,
mag weit geringer sein als der eines nordindischen Raja, aber wir teilen mit dem Prinzen
Siddhartha ein seliges und oft absichtliches Verdrängen von krassen Realitäten, die sich
ständig unserer Wahrnehmung aufdrängen.

Begegnung mit Alter, Krankheit und Tod


Wenn die Lehre mehr sein soll als ein vager, blasser Begleitaspekt unseres komfortablen
Lebens, wenn sie die inspirierende und manchmal aufrüttelnde Stimme werden soll, die uns
auf den Weg zur Erleuchtung führt, dann brauchen wir nur dem Buddha in seinem Prozess des
Erwachens nachzueifern. Indem wir ihn auf seine Reise in die Welt jenseits der Palastmauern
begleiten – den Mauern unserer eigenen selbstbestätigenden Wahrnehmungen – müssen wir
die göttlichen Boten erkennen, die wir so oft nicht sehen, weil unsere Augen auf angeblich
„wichtigere Dinge“ gerichtet sind, nämlich auf unsere weltlichen Beschäftigungen und Ziele.
Der Buddha sagt, dass es relativ wenige Menschen gibt, die von aufwühlenden Dingen
wirklich erweckt werden, verglichen mit der großen Anzahl derjenigen, die sich dadurch nicht
berühren lassen.
Die Stacheln des Erwachens bedrängen uns von allen Seiten, aber allzu oft reagieren wir
darauf, indem wir uns einfach eine weitere Schutzschicht gegen diese Stacheln zulegen,

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anstatt sie wahrzunehmen. Diese Feststellung wird auch nicht von der aktuellen Flut an
Diskussionen und Texten über die Themen Alter und lebensbedrohliche Krankheiten oder den
alternativen Umgang mit Tod und Sterben widerlegt. Denn ein offenes und ehrliches
Gewahrsein reicht noch nicht aus, damit die göttlichen Boten ihre Botschaft überbringen
können. Um die Botschaft zu vermitteln, die uns auf den Pfad der Befreiung bringt, ist noch
mehr erforderlich. Wir müssen uns mit Alter, Krankheit und Tod nicht nur als
unausweichlichen Realitäten auseinandersetzen, mit denen wir auf der praktischen Ebene
umzugehen haben, sondern wir müssen sie als Boten des entfernten Ufers sehen, die uns ganz
neue Bedeutungsdimensionen erschließen können.
Diese Enthüllung findet auf zwei Ebenen statt. Um göttliche Boten sein zu können, müssen
uns zunächst die Tatsachen von Alter, Krankheit und Tod aufrütteln und uns das
zerbrechliche, instabile Wesen unseres normalen, alltäglichen Lebens bewusst machen. Durch
die ersten drei Boten muss unser Geist den radikalen Mangel erkennen, der all unsere
weltlichen Belange durchzieht und sich bis in unsere bedingte Existenz in ihrer Gesamtheit
erstreckt. Dadurch öffnen sich die Fenster zur ersten Edlen Wahrheit, der Edlen Wahrheit vom
Leiden, die, wie Buddha sagt, nicht nur Geburt, Alter, Krankheit und Tod umfasst, nicht nur
Sorge, Trauer, Schmerz und Elend, sondern alle körperlichen und geistigen Faktoren –
nämlich die fünf Gruppen des menschlichen Daseins1), die alle Gebiete unseres Seins in der
Welt umfassen. Der heimatlose Asket muss uns daran erinnern, dass der Weg zur Befreiung
durch eine karge Landschaft des Verzichts und der inneren Selbstdisziplin führt. Gekleidet in
seine ockerfarbene Robe, dient diese ruhige und ehrwürdige Figur als ein Hinweis auf die
vierte Edle Wahrheit, die Wahrheit vom Pfad und seinem Höhepunkt, dem Ende allen Leids.

Was wirklich zählt: Bewusstsein der Dringlichkeit


Wenn wir die göttlichen Boten auf dieser Ebene treffen, dann werden sie Katalysatoren, die
einen tief gehenden, inneren Transformationsprozess in uns anstoßen können. Wir merken,
dass wir drastische Veränderungen in unseren existenziellen Prioritäten und unserem
persönlichen Wertesystem vornehmen müssen, weil wir zerbrechlich und unausweichlich
menschlich sind. Anstatt unser Leben mit vergänglichen Trivialitäten zu vergeuden, mit
Dingen, die heute vorhanden und morgen schon vergangen sind, müssen wir dem Gewicht
beimessen, was „wirklich zählt“, nämlich den Zielen und Handlungen, die einen bleibenden
Einfluss auf unser langfristiges Schicksal und unser oberstes Ziel haben, während wir durch
den sich wiederholenden Kreislauf von Leben und Tod mäandern.
Bevor solch eine Neubewertung stattfindet, leben wir im Allgemeinen in einem Zustand, den
Buddha mit pamada bezeichnet hat, einem Zustand der Vernachlässigung oder Achtlosigkeit.
Wenn wir uns als unsterblich verstehen und die Welt als unseren persönlichen Spielplatz
betrachten, dann widmen wir unsere Zeit solch „weltlichen Lehren“ wie der Anhäufung von
Besitz, dem Genuss sinnlicher Vergnügungen, dem Erreichen eines Status, dem Erlangen von
Anerkennung und Ruhm. Das Heilmittel gegen diese Achtlosigkeit hat genau dieselbe
Qualität, die im Bodhisattva hervorgerufen wurde, als er die göttlichen Boten in den Straßen
von Kapilavastu traf.
Diese Qualität, auf Pali samvega, ist ein „Bewusstsein der Dringlichkeit“, eine innere
Bewegung oder ein Schock, die uns nicht mehr erlauben, mit unserer gewohnheitsmäßigen
Anpassung an die Welt zufrieden zu sein. Stattdessen bringt dieses Bewusstsein uns dazu, uns
auf unsere eigene Reise in die Heimatlosigkeit aufzumachen, ob diese nun wörtlich oder
metaphorisch verstanden wird. So, wie es Prinz Siddhartha tat, nachdem er den heimatlosen
Asketen getroffen hatte, so müssen wir unsere bequemen Paläste hinter uns lassen und uns in
unbekannte Dschungel begeben, um mit Sorgfalt eine authentische Lösung für unsere
existenzielle Suche zu erarbeiten.

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Endstation Nirwana
Genau an diesem Punkt zeigt sich die zweite Funktion der göttlichen Boten. Denn Alter,
Krankheit und Tod sind nicht nur Merkmale der unbefriedigenden Natur unserer
menschlichen Existenz, sondern auch ein Hinweis auf eine tiefere jenseitige Realität. In der
traditionellen Legende sind die vier göttlichen Boten verkleidete Götter. Sie wurden vom
höchsten Himmel auf die Erde gesandt, um den Bodhisattva zu seiner enormen Aufgabe zu
erwecken, und nachdem sie ihre Botschaft weitergegeben hatten, nahmen sie wieder ihre
himmlische Form an. Dies lehrt uns, dass das letzte Wort des Dharma nicht die Kapitulation
ist, nicht eine Ermahnung, uns selbst den grausamen Tatsachen unserer menschlichen
Existenz zu ergeben, und auch nicht, unsere Endlichkeit in einer freudigen Feststimmung zu
akzeptieren. Die Unausweichlichkeit von Alter, Krankheit und Tod ist die einleitende
Botschaft des Dharma, die Ankündigung, dass unser Haus brennt. Die endgültige Botschaft,
die durch den vierten göttlichen Boten anklingt ist eine andere: ein überschwänglicher Aufruf,
dass es einen Ort der Sicherheit gibt, einen offenen Raum der Flammen und einen klaren
Wegweiser, der uns den Fluchtweg anzeigt.
Dass wir in diesem Erwachensprozess Alter, Krankheit und Tod von Angesicht zu Angesicht
treffen müssen, liegt daran, dass dieser Ort der Sicherheit nur durch eine aufrichtige
Konfrontation mit den harten Wahrheiten unserer menschlichen Existenz erreicht werden
kann. Wir müssen uns bewusst machen, dass es echte Flammen sind, die unser Haus
umzingeln. Wenn wir den göttlichen Boten jedoch gerade in die Augen blicken, ohne
Verlegenheit oder Furcht, dann können wir herausfinden, dass sich ihre Gesichter auf
unerwartete Weise verwandeln. Vor unseren Augen verändern sie sich, werden ganz subtil zu
einem anderen Gesicht – dem Gesicht des Buddha mit seinem heiteren Lächeln des Triumphs
über die Armee des „Mara“, über die Dämonen des Verlangens und des Todes. Dies ist das
Ziel und die Endstation des buddhistischen Pfades – nämlich nibbana (Pali für Nirwana), frei
von Alter, frei von Krankheit, frei von Tod. Um uns dahin zu lenken, sind die göttlichen
Boten in unserer Mitte erschienen, und ihre Botschaft ist die gute Nachricht, dass dieses Ziel
für uns erreichbar ist.

Anmerkung
1) Die fünf Gruppen des menschlichen Daseins: 1.materielle Form, 2.Gefühle, 3.Wahrnehmungen, 4.geistige
Formationen/Gedanken, 5. Bewusstsein

Bhikkhu Bodhi: Treffen mit den göttlichen Boten, in: Buddhismus aktuell Nr. 3/2010; Übersetzung aus dem
Englischen von Romy Schlichting.

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Der Tod der anderen
Bokar Rinpoche

Die Methoden des Mitgefühls


Frage: Mitgefühl soll die Trauer ersetzen. Welche Mittel können wir dann zur wirksamen
Unterstützung dieses Mitgefühls einsetzen? Welche bewirken, dass aus ihm etwas anderes als
ein einfaches Gefühl wird?
Bokar Rinpoche: Zusätzlich zu unserer liebenden Hinwendung helfen wir dem Sterbenden
oder dem Verstorbenen, indem wir spirituelle Übungen ausführen, deren Verdienst wir ihm
widmen: zu den drei Juwelen beten, den Armen geben, Opfergaben darbringen, einen Stupa
umwandeln, Mantras rezitieren und so weiter.

Frage: Wenn wir in diesem Zusammenhang die Meditation von Chenresig für einen Toten
oder einen Sterbenden ausführen, wie sollen wir da vorgehen?
Bokar Rinpoche: Wenn wir die Chenresigpraxis für einen Verstorbenen ausführen – und dies
betrifft gleichermaßen jede andere positive Handlung, die man einem Verstorbenen widmet –
richten wir zunächst unseren Geist in dem Augenblick auf ihn aus, in dem wir den
Erleuchtungsgeist erzeugen: Wir denken, dass wir für sein Wohl handeln wollen, um ihm zu
helfen, sich aus den Leiden zu befreien; wir denken, dass wir hierfür Manis rezitieren oder
eine andere spirituelle Praxis ausführen wollen. Dann visualisieren wir im Augenblick der
eigentlichen Praxis, während wir das Mantra rezitieren, wie folgt:
Chenresig sendet aus seinem Herzen ein Licht aus, das den Verstorbenen berührt, ihn von
seinem schlechten Karma und von allen in seinem Geist seit anfangsloser Zeit angesammelten
Schleiern reinigt. Wir denken, dass er wirklich von allem Leid befreit und von Freude und
Glück erfüllt ist.
Während wir das Mantra rezitieren, können wir auch die Visualisierung des „Geben und die
Bürde auf sich nehmen“ ausführen: Wir stellen uns vor, dass wir ein weißes Licht ausatmen,
das sich über den Verstorbenen ausbreitet und ihm unser Glück gibt; dass wir ein schwarzes
Licht einatmen, mit dem wir seine Leiden auf uns nehmen.
Während wir am Ende die Widmung sprechen, denken wir, dass wir dem Sterbenden oder
Verstorbenen allen Verdienst der Praxis und der Rezitation des Mantras geben, damit er im
Land Dewachen wiedergeboren werden kann.
Dies kann zum Wohle jedes Menschen, sei er nun ein Buddhist oder nicht, ausgeführt werden.

Frage: Wenn wir Mantras in Gegenwart von Sterbenden rezitieren, gibt es da eines, das
geeigneter ist als andere?
Bokar Rinpoche: Das Mantra von Chenresig, die Namen der Buddhas, irgendein Mantra, das
man kennt, eignen sich: denn sie alle tragen eine große spirituelle Kraft in sich. Man muss
jedoch mit der Rezitation eine tiefe Absicht, Segen zu bringen, verbinden.
Am besten ist es, die Mantras hörbar in das Ohr des Sterbenden zu sprechen. Wenn jedoch der
Sterbende oder seine Umgebung diese Rezitation ablehnt, kann man das Mantra still sagen,
während man den Buddha als gegenwärtig im Raum visualisiert: Wir denken, dass sein
Körper ein strahlendes Licht aussendet, das den Sterbenden berührt und die Schleier und
Fehler beseitigt, die seinen Geist trüben, so wie die Sonne den Morgentau auflöst.

Frage: Welche Art von Opfergaben kann man zum Wohl eines Verstorbenen darbringen?

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Bokar Rinpoche: Alle Opfergaben sind gut. Es wird gesagt, dass die materiellen Opfergaben,
die dem Lama oder dem Sangha dargebracht werden, besonders segensreich sind – aber sie
schließen andere Weisen, das Geben zu praktizieren, nicht aus: Spenden für die Armen,
Spenden für den Bau von Statuen, von Stupas oder von Tempeln, Darbringen von Licht auf
dem Altar und so weiter. Man kann auch die Gabe des Lebens ausüben, indem man Fische
oder andere Tiere, die getötet werden sollen, kauft und befreit. Was zählt, ist die Ausrichtung,
die wir unserem Geist geben. Wir müssen dem Verstorbenen den Verdienst unserer Handlung
widmen, indem wir denken: „Ich führe dieses Opfer zum Wohle des anderen aus.“ Steht uns
der Besitz des Toten zur Verfügung, dann wird es für ihn segensreich sein, wenn wir diesen
Besitz auf die gleiche Weise verwenden: indem wir Spenden oder Opfergaben darbringen,
damit zu seinem Wohl Zeremonien ausgeführt oder Mantras rezitiert werden.

Frage: Mantras und Gebete rezitieren, Wunschgebete sprechen, Opfergaben darbringen und so
weiter – all dies sind Handlungen aus Mitgefühl, die wir selbst zum Wohl eines Verstorbenen
ausführen können. Zusätzlich können wir einen oder mehrere Lamas bitten, ein Ritual für den
Verstorbenen zu zelebrieren; wir fügen unserer Bitte eine traditionelle Opfergabe bei. Welche
genauen Angaben muss man in einem solchen Falle machen?
Bokar Rinpoche: Soweit möglich, muss man dem Lama folgendes übermitteln:
- den Namen der Person,
- ihren Todestag,
- möglichst ein Foto; ein Foto ist ausgezeichnet.

Frage: In Tibet war es üblich, den Toten Nahrung anzubieten. Was ist dies für ein Brauch?
Bokar Rinpoche: Während der 49 auf den Tod folgenden Tage führte man die Opferung von
‚Sur’ durch: Man röstete auf offener Glut etwas Mehl und fügte ein bisschen von der Nahrung
des Tages hinzu. Gleichzeitig führte man ein kurzes Ritual durch.
Es heißt, dass der Verstorbene, der über einen mentalen Körper verfügt, sich vom Geruch der
Lebensmittel und nicht von ihrer Substanz ernährt. So wird angenommen, dass diese Praxis
für den Toten sehr hilfreich ist. Das Verbrennen des ‚Sur’ soll diesen Geruch darbringen. Am
besten wird diese Opferung zu den Essenszeiten durchgeführt. Jeder kann dieses kurze
Opferritual, das ‚Surchö’ heißt, durchführen, man muss dazu nicht Lama sein.
Wenn wir nicht wissen, wie wir es ausführen sollen, können wir einfach die verbrannte
Nahrung ohne Ritual opfern: Wir weihen sie, indem wir dreimal OM AH HUNG rezitieren,
dann rezitieren wir Manis. Für ‚Surchö’ kann man neben Mehl alle mögliche andere Nahrung,
ausgenommen Fleischprodukte, verwenden.

Die Wirksamkeit der Buddha-Namen, der Mantras und der Gebete


Frage: Die Buddha-Namen und die Mantras sind nur Worte. Woher nehmen sie ihre Kraft,
eine spirituelle Hilfe weit über ihren Sinn hinaus zu entfalten?
Bokar Rinpoche: Der Buddha ist ein Wesen, das während zahlloser Kalpas die Motivation, für
das Wohl aller Wesen zu wirken, entwickelt, Verdienst angesammelt und Wunschgebete
gesprochen hat. Daher rührt die Macht, die mit seinem Namen verknüpft ist. Allein diesen
Namen zu hören, gibt einen Anstoß zur Befreiung. Es ist die Kraft des Buddhageistes, die sich
durch seine Namen ausdrückt.
Ebenso sind die Mantras Formeln, die Buddha ausgesprochen hat und die mit seiner
spirituellen Kraft aufgeladen sind. Sie besitzen also dieselbe Macht wie die Buddha-Namen
und beziehen gleichermaßen ihre Wirksamkeit aus der Kraft, die in Kalpas der Reinigung, der
Ansammlung und der Wunschgebete für das Wohl der Wesen im Geist des Buddha
konzentriert ist.

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Frage: Die Mantras, die Wunschgebete und die Bitten sind vor allem eine Handlung unseres
Geistes. Wir haben schon Schwierigkeiten genug zu verstehen, wie eine geistige Handlung ein
anderes Wesen beeinflussen kann, das in seinem Körper gegenwärtig ist; um so mysteriöser
ist es, wenn die Person, der man helfen möchte, tot ist, und man nicht weiß, wo ihr Geist sich
befindet. Wie können wir die Wirksamkeit der Mantras und der Gebete, welche wir für die
Toten rezitieren, beurteilen?
Bokar Rinpoche: Zunächst betrachten wir den Fall, dass wir die Mantras oder die
Wunschgebete in Gegenwart des Körpers oder der körperlichen Reste rezitieren. Es bleibt
eine Verbindung zwischen dem Geist des Toten und dem Körper, der ihm während des
Lebens gehörte. Über diese Verbindung läuft die Hilfe, die wir durch unsere Rezitation geben.
Selbst ohne jeglichen materiellen Träger kann sich eine Hilfe allein zwischen Geist und Geist
bewegen. Die wahre Natur des Geistes aller Wesen ist das, was wir Buddhanatur nennen. Also
sehen wir es so an, dass diese Buddhanatur einhellig den Geist aller Wesen umfasst, dass es
also keine Diskontinuität gibt. Daher hat die Absicht oder die Ausrichtung eines Wesens die
Macht, den Geist eines anderen Wesens zu beeinflussen.
Das ist dem Fernsehen ähnlich: Es ist drahtlos, unsichtbar, und dennoch ereignet sich etwas,
denn in der offenbaren Leere des Himmels pflanzen sich Wellen fort und dienen als Träger für
Bild und Ton. Der Geist ist gleichermaßen leer in seinem Wesen, aber er ist nicht nur leer. Der
Dharmakaya (Wahrheitskörper) ist ebenfalls dynamische Klarheit, was die Manifestation des
Sambhogakaya (Ausstrahlungskörper) und des Nirmanakaya (Erscheinungskörper)
ermöglicht, die Klarheit-Leerheit jenseits aller Konzepte und aller Begrenzungen sind. Wenn
der Dharmakaya nur Leere wäre, käme das dem Nichts gleich. Aufgrund der Tatsache, dass
der Geist nicht nur Leerheit ist und andererseits eine Kontinuität des Geistes auf der Ebene der
Buddhanatur besteht, gibt es eine Interaktion zwischen dem Geist der verschiedenen Wesen.
Daher entsteht eine segensreiche Wirkung, wenn wir Wunschgebete sprechen und
Visualisierungen durchführen. Es ist die Macht des Miteinanderverflochtenseins, die es
ermöglicht zu helfen.
Die Essenz des Dharmakaya ist leer, aber ihm ist eine ursächliche Dynamik eigen, aus der
sich alle Erscheinungen manifestieren. Diesem Prinzip entspringt die Kraft der Wünsche und
Gebete.

Einzelheiten
Frage: Es heißt, dass beim Sterben der Austritt des Bewusstseins aus dem Körper des
Verstorbenen durch die eine oder andere „Pforte“ des Körpers seine künftige Wiedergeburt
beeinflusst. Was bedeutet das?
Bokar Rinpoche: Das Bewusstsein kann den Körper durch eine der sogenannten „acht
unreinen Pforten“ verlassen: durch den After, die Harnröhre, den Nabel, die beiden Augen,
den Mund, die Ohren, die Nase und eine Stelle zwischen den Augenbrauen. Diese Pforten
sind unrein, da sie zu Wiedergeburten in den bedingten Welten führen, das heißt zu einer der
sechs Klassen der Wesen. Wenn man Powa ausübt, schließt man diese Pforten, indem man
jede mit Hilfe der Visualisierung der Silbe HRI versiegelt. Andererseits öffnet man die Pforte
der „Brahmaöffnung“ auf dem Scheitel des Kopfes. Durch diese Öffnung muss dass
Bewusstsein austreten, um in den reinen Ländern wiedergeboren zu werden.
Wenn man den Körper des Toten berührt, heißt es, dass dadurch das Bewusstsein zu der
berührten Stelle hingezogen wird. Man muss dies also wenigstens während der Stunde
vermeiden, die auf das Ableben folgt, am besten während der drei folgenden Tage. Wenn man
verpflichtet ist, den Körper anzufassen, sollte man ihn auf dem Scheitel des Kopfes berühren,
andernfalls läuft man Gefahr, das Bewusstsein zu einer Wiedergeburt in den niederen

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Bereichen zu veranlassen. Es heißt auch, man soll in der Nähe des Körpers nicht laut sprechen
und keinen Lärm machen.

Frage: Was geschieht, wenn man - ohne die eigentlichen Pforten zu berühren - einen neutralen
Teil des Körpers berührt, zum Beispiel das Knie oder den Arm?
Bokar Rinpoche: Wenn man das Knie berührt, wird deswegen das Bewusstsein nicht durch
das Knie austreten, aber es besteht die Gefahr, dass es zu den unteren Pforten hingezogen
wird. Eine Körperberührung oberhalb der Gürtellinie wird das Bewusstsein zu einer unreinen
Pforte des Kopfes ziehen.

Frage: Heutzutage denken manche Menschen, dass es besser ist zu sterben als zu leiden, und
sprechen sich für die aktive Sterbehilfe aus. Ist dies positiv zu bewerten?
Bokar Rinpoche: Nein, ganz und gar nicht. Selbst wenn die physischen Leiden sehr groß sind,
selbst wenn man im Augenblick den Eindruck hat, dem Sterbenden Linderung zu verschaffen,
so läuft Sterbehilfe dennoch darauf hinaus, einen Menschen zu töten. Das ist also eine sehr
negative Handlung.

Frage: In einigen Ländern begräbt man die Toten, in anderen Ländern äschert man sie ein. In
Tibet zerteilte man häufig den Kadaver, um ihn den Geiern zu geben. Auf welche Art und
Weise soll man am besten mit dem Körper verfahren?
Bokar Rinpoche: Die Art, wie man mit einem Körper verfährt, ist für sich genommen ohne
Bedeutung, wenn sie nicht mit einer spirituellen Einstellung verbunden ist. Ob man ihn
beerdigt, verbrennt oder dem Wasser übergibt, macht keinen Unterschied. Im Buddhismus
führt man beim Verbrennen eines Leichnams ein Ritual aus, welches „Feueropfer“ heißt und
hilft, die Fehler der karmischen Schleier des Verstorbenen zu „verbrennen“. Nur in diesem
Sinne bringt die Einäscherung Segen. Auch wird der Verstorbene einen gewissen Nutzen
daraus ziehen, wenn man seinen Leichnam mit der Motivation, den Fischen oder den
Krustentieren etwas Nahrung zu geben, ins Meer oder in einen Fluss wirft oder ihn in
Zusammenhang mit einer religiösen Praxis beerdigt. All dies sind in erster Linie Unterschiede
in den Gebräuchen der einzelnen Länder, und es ist gut, sich ihnen anzupassen.

Frage: Was soll mit der Asche geschehen, wenn man eine Einäscherung vornimmt?
Bokar Rinpoche: Man kann sie bewahren und rituell reinigen. Insbesondere vermischt man sie
mit durch Blasen geweihtem Sand, nachdem man Mantras rezitiert hat. Man kann auch hohe
Lamas bitten, beim Ausführen von Ritualen auf die Asche zu blasen. Diese „Reinigung der
Asche“ ist für den Toten eine große Hilfe. Man kann die Asche dann auch dazu verwenden,
Tsa-Tsas herzustellen.

Besondere Techniken
Frage: Kann die Technik des Powa, welche wir selbst im Augenblick des Sterbens anwenden
können, auch für eine andere Person durchgeführt werden?
Bokar Rinpoche: Ja. Ein Lama oder jemand mit großer Erfahrung darin kann Powa für einen
anderen praktizieren. Man praktiziert Powa für Menschen, die keine tiefgründige Kenntnis der
wahren Natur ihres Geistes entwickelt haben.
Für einen Meditierenden jedoch, der viel praktiziert hat, wird man nicht so sehr Powa
ausführen, sondern ihm eher dabei behilflich sein, dass er im Sterben seinen Geist in sich
selbst ruhen lassen kann. Diejenigen, die ihm beistehen, erinnern ihn daran, dass er seine
Meditation ohne Ablenkung aufrecht erhalten muss. Er stirbt also im Bewusstsein der wahren
Natur des Geistes.

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Frage: Was ist „materieller Powa“?
Bokar Rinpoche: Es ist eine Mischung aus verschiedenen Substanzen, die in Form von Pillen
auf die Brahmaöffnung des Verstorbenen gelegt werden, um das Bewusstsein zu dieser
„Ausgangspforte“, welche den Weg zu den reinen Ländern eröffnet, hinzuziehen. Die
benutzten Substanzen sind entweder „heilige Hefen“ oder eine Mischung aus Magnetpuder,
Honigalkohol und Pulver aus verbrannten Muscheln. Diese Substanzen wirken durch die
ihnen eigene Kraft und brauchen nicht geweiht zu werden.

Frage: Bestimmte Techniken, die im Augenblick des Todes angewandt werden, heißen
„Befreiung durch Geschmack“, „Befreiung durch Berührung“ und Befreiung durch Hören“.
Was ist damit gemeint?
Bokar Rinpoche: Die „Befreiung durch Geschmack“ bezieht sich auf Substanzen, die in Form
von kleinen Pillen zur Einnahme bestimmt sind. Diese Substanzen sind häufig „Hefen“
unterschiedlicher Herkunft, deren Zubereitung im Laufe der Zeiten keinerlei Unterbrechung
erfahren hat:
- Zubereitung großer Meister der Vergangenheit;
- Hefen, die aus Termas stammen, Pillen, die „Siebenmal Brahma-Geboren“ genannt werden;
- Hefen aus Reliquien und Ringsel, die von Buddhas, Bodhisattvas und Meistern der
Vergangenheit stammen;
- Hefen der „fünf Häute“ und der „fünf tantrischen Nektararten“, welche durch große
Verwirklichte der Vergangenheit in Indien oder Tibet zubereitet wurden.
Diese Substanzen sollten vor dem Sterben eingenommen werden.
Die „Befreiung durch Berührung“ bezeichnet meistens den „angehefteten Kreis der
Befreiung“, das heißt ein quadratisches Stück Papier, das auf eine bestimmte Weise gefaltet
ist und kreisförmig eingeschriebene Mantras enthält. Falls möglich verbrennt man diese
Mantras nach dem Tod über dem Herzen. Andernfalls kann man das Papier auch gesondert
verbrennen und die Asche auf das Herz geben.
Die „Befreiung durch Hören“ bezieht sich auf das Vorlesen von Texten für den Sterbenden
oder den Toten. Diese Texte heißen „Beschreibungen“, denn sie beschreiben der Person den
sich vollziehenden Prozess und die dabei auszuführende Praxis. Das Bardo Thödröl gehört zu
dieser Gruppe.
Es ist sehr hilfreich, wenn eine solche Beschreibung vor dem eigentlichen Tod vorgelesen
wird. Die dem Tod vorangehenden Schwächezustände und Krankheiten können verhindern,
dass wir uns daran erinnern, selbst wenn wir den Dharma etwas kennen und eine gewisse
Erfahrung damit haben, unsere spirituelle Praxis jedoch nicht hinlänglich tiefgreifend ist.
Beim Vorlesen der in den Texten der „Befreiung durch Hören“ enthaltenen Anweisungen
durch einen Lama oder einen Freund wird unser Gedächtnis wieder aufgefrischt. Der Text des
Bardo Thödröl enthält solche Beschreibungen, die man vor dem Tod anwenden sollte.
Derselbe Text enthält des Weiteren die Beschreibung dessen, was sich Tag für Tag im Bardo
ereignet. Man liest also dem Verstorbenen täglich den entsprechenden Abschnitt vor.
Der Begriff „Befreiung“ muss in diesen verschiedenen Ausdrücken auf verschiedenen Ebenen
verstanden werden. Für diejenigen, deren karmische Schleier sehr wenig ausgeprägt sind,
ermöglichen diese Methoden wirklich eine rasche Befreiung. Für andere, deren Geist von
dichten Schleiern bedeckt ist, bewirken sie das Einpflanzen eines Samens der Befreiung.

Bokar Rinpoche: Der Tod der anderen, in: Der Tod und die Kunst des Sterbens im Tibetischen Buddhismus,
Mechernich 1992, S. 74-88 (DBU)

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Umgehen mit dem Tod
Chögyam Trungpa Rinpoche

Einem sterbenden Menschen die Wahrheit zu sagen, ist die beste Gelegenheit, Vertrauen
auszudrücken. ‚Du liegst im Sterben, lasse dich einfach darauf ein, lasse dich einfach ein auf
das, was mit dir geschieht.’

Mir wurde die Fähigkeit, mit sterbenden Menschen umzugehen, anerzogen. Seit meinem
neunten oder zehnten Lebensjahr war ich ständig mit Sterbenden, Menschen kurz vor ihrem
Tod oder bereits Toten konfrontiert. Dies geschah andauernd, etwa fünf oder sechsmal pro
Woche. In Tibet sind Körper und Tod ständig in so lebendiger Weise präsent, dass die
Menschen dieser Kultur es nicht als besonders irritierend oder schwierig empfinden. Aber wir
im Westen empfinden den Umgang mit der Todeserfahrung als äußerst schwierig.
Es ist wohl notwendig, einer Person zu sagen, dass sie stirbt – außer, wenn sie sich im Koma
befindet. Wir sollten es die Person wissen lassen, dass sie wirklich im Sterben liegt.
Ehemänner oder Ehefrauen sind vielleicht nicht willens, diesen Schritt zu tun und ihren
Partnern zu sagen, dass sie sterben; aber, wenn ihr Freunde seid, oder der Ehemann
beziehungsweise die Ehefrau, ist dies die beste Gelegenheit, eurem Vertrauen wirklich
Ausdruck zu verleihen. Wenigstens eine Person spielt überhaupt nicht dieses Spiel der
Heuchelei, das es dem/der andern nur recht machen will. Solche Heucheleien sind während
des ganzen Lebens geschehen, die ganze Zeit über: Man sagt dir, du seiest dünn, wenn du dick
bist; wenn du arm bist, sagt man dir, dass dies in Ordnung sei, dass du verhältnismäßig reich
seiest; was auch immer. Aber dies tritt als letzte Wahrheit auf. Von diesem Gesichtspunkt aus,
sage es einer Person, wenn sie sterben wird! Letztendlich ist es wirklich wunderbar, dass
jemand, der dich wirklich gern hat, dich nicht anlügen wird, um es dir einfach nur recht zu
machen, oder, um auf harmlose Weise mit dir umzugehen. Du bist willens, eine schlechte
Botschaft zu bringen, selbst wenn die andere Person sich dagegen wehren wird. Ein solches
grundlegendes Vertrauen ist ganz wunderbar. Und ich meine, wir sollten dieses Prinzip
verallgemeinern: Wenn eine Person sich dem Tode nähert, bringt ihr die Tatsache nahe, dass
sie sterben wird, dass sie kurz vor ihrem Tod steht! Gleichzeitig ist diese Mitteilung nichts
Besonderes, nicht sehr viel.
Ihr solltet in der Lage sein, mit der körperlichen Verfassung einer Person umgehen zu können
und den subtilen Verfall in deren körperlichen Sinnen bemerken: Die Fähigkeit zur
Kommunikation, der Hörsinn, das Empfindungsvermögen des Körpers, das Gefühl für den
Gesichtsausdruck – alles nimmt ab. Aber gleichzeitig kann eine Person mit einem enorm
starken Willen, die daran gewöhnt ist, ein oberflächliches Lachen aufzusetzen, im letzten
Augenblick des Todes auch ein Lächeln aufsetzen und sagen: „Alles in Ordnung, mir geht’s
ganz ausgezeichnet.“ Diese Person versucht, ihr hohes Alter zu bekämpfen, sie versucht, die
Beeinträchtigung der Sinne zu bekämpfen. Dies könnte auch geschehen.
Einfach das Tibetische Totenbuch ans Totenbett einer Person zu tragen und es ihr vorzulesen,
hat nicht viel Sinn; die sterbende Person weiß dann lediglich, dass du irgendeine Art von
Zeremonie vollführst. Wenn ihr mit einem solchen Text umgehen wollt, solltet ihr auch
Verständnis von der ganzen Sache haben, damit ihr nicht einfach nur das Tibetische
Totenbuch lest; ihr solltet stattdessen versuchen, auf der Gesprächsebene zu wirken. Ein
solches Gespräch könnte folgendermaßen vor sich gehen: „Du stirbst, du verlässt deine
Freunde und deine Familie. Deine Umgebung, an der du Gefallen hast, wird nicht länger da
sein. Du wirst uns verlassen. Aber gleichzeitig gibt es etwas, das beim Tod weitergeht. Es gibt

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ein Fortbestehen. Dein positives Verhältnis zu deinen Freunden und zu den Lehrern besteht
fort. Also arbeite an diesem Fortbestehen, diesem grundlegenden Fortbestehen, das nichts mit
Ego zu tun hat. Es ist ein sehr sumpfiger Boden, aber immerhin gibt es überhaupt einen
Boden.
Wenn du stirbst, wirst du beim Verlassen des Körpers alle möglichen schockierenden
Erlebnisse haben. Auch deine alten Erinnerungen werden in der Form von Halluzinationen
zurückkommen. Das geschieht ganz natürlich mit dir, wenn du stirbst. Aber gleichzeitig
leisten wir dir Gesellschaft, unsere Freundschaft ist bei dir, wie auch dein grundlegendes
Wesen. Ich war dir immer sehr nahe. Deshalb sage ich dir ohne zu zögern, dass du sterben
wirst. Der spirituelle Freund bleibt und die Freundschaft mit dem Dharma besteht ebenfalls
weiter. Wenn dir in Visionen und Halluzinationen etwas geschieht, lasse dich einfach auf die
wirklichen Geschehnisse ein, statt zu versuchen, vor ihnen wegzulaufen. Lasse dich einfach
darauf ein. Da ist fester Boden. Gehe einfach damit um. Es ist egal, was geschieht. Lasse dich
mit der Grundlage (die du hast) darauf ein. Das funktioniert: Du bahnst dir deinen Weg
hindurch.“
Gleichzeitig wird die sterbende Person vermutlich an Intelligenz und Bewusstheit verlieren;
sie wird auch eine andere Dimension von höherem Bewusstsein entwickeln, ein Gefühl für die
Umgebung. Es ist genauso, wie bei einer Person, die zum Mutterleib zurückkehrt: dieses
Gefühl für die Umgebung entsteht. Es ist also äußerst wichtig, dass ihr fähig seid, eine
grundlegende Wärme und eine grundlegende Qualität eurer Wahrhaftigkeit im Umgang mit
der sterbenden Person zu bereiten, anstatt nur wiederzugeben, was andere euch aufgetragen
haben. „Lasse dich ein auf das, was ist. Lasse dich ein auf mich; lasse dich einfach darauf ein.
Du liegst im Sterbebett und du stirbst. Du stirbst, lasse dich einfach darauf ein, lasse dich ein
auf das, was dir geschieht. Etwas besteht fort.“
Um eine Person in den Zustand des klaren Lichtes zu bringen, scheint es nötig, dass ihr die
feste Basis habt, mit dem klaren Licht, das die Festigkeit der Person darstellt, umzugehen.
Deine Freunde wissen, dass du sterben wirst, aber sie werden deshalb nicht kopflos. Sie sind
tatsächlich da, wirklich da, auf positive Weise und vollkommen da. Und sie sagen dir, dass du
sterben wirst. Sie wissen, dass du sterben wirst. Sie wissen, dass du sterben wirst, aber sie
sind wirklich da. Wenn sie nicht wirklich da sind, erregen sie dein Misstrauen, selbst wenn sie
dir sagen, dass du sterben wirst. Das bringt alle möglichen Kettenreaktionen in Gang: Etwas
Seltsames scheint hinter deinem Rücken zu geschehen; es scheint, als ob deine Freunde nur
etwas rezitieren, was ihnen aufgetragen wurde, als ob sie von einem Computer programmiert
seien. Vollkommen da zu sein, wenn eine Person stirbt, und lediglich mit den einfachen
Dingen umzugehen, ist also sehr, sehr wichtig.
Mit dem Jetzt umzugehen ist äußerst kraftvoll, weil es für die sterbende Person an diesem
Punkt eine Unsicherheit in Bezug auf ihre körperliche und geistige Verfassung gibt. Die
einzige Sprache, die ihr verwenden könnt, stützt sich auf das Sprechen durch eure Körper: Ihr
benutzt euren Mund, eure Zunge, die Zähne und den Atem, um zu der Person zu sprechen. Ihr
kommuniziert auf dieser Ebene mit der anderen Person, die ebenfalls in diesem Zustand von
Körper, Gehirn und Atem lebt - die zu diesem Zeitpunkt schwächer wird. Aber ihr geht mit
dieser Situation um. Eine feste, grundlegende Basis bereitzustellen, scheint sehr wichtig zu
sein.
Zu diesem Zeitpunkt ist der Tod nicht länger eine Erfindung. Er geschieht wirklich. „Du
stirbst. Wir sehen dir beim Sterben zu. Aber wir sind deine Freunde, deshalb sehen wir dir
beim Sterben zu. Wir glauben an die feinstoffliche Eigenschaft in dir, deinen Körper zu
verlassen und dich in eine Leiche zu verwandeln. Das ist wunderbar. Du weißt, dass du stirbst,
und wir wissen, dass du sterben wirst. Das ist das großartigste und beste Beispiel von
Freundschaft, das du uns zeigen kannst.“ Schon allein dies ist eine wunderbare und reiche

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Kommunikation; sie stellt wirklich eine enorme weitere Inspiration für die sterbende Person
dar.
Der springende Punkt ist, sich auf den Menschen einzulassen und Übertragung oder eine
Begegnung im Geist der Person zu entwickeln. Dies geschieht zwischen den Gesprächen, in
den Pausen: „Dies hat nichts mit deinem Tod zu tun, aber lass uns zusammen sein. Wir
wollen uns gleichzeitig für einander öffnen. Sollen wir das tun? Lass es uns tun. Los geht’s.
Wir wollen uns öffnen. Das ist wunderbar, lass es uns nochmals machen.“
Es ist gleichzeitig gut zu versuchen, die Menschen vor unnötigen Sorgen zu bewahren. Wenn
die Person mitmacht, könntest du über ihr Verhältnis zu ihren Eltern und Verwandten
sprechen. Wenn ein Mensch seinen Körper verlässt, neigt er dazu, über die
unausgesprochenen Dinge nachzudenken. „Ich würde dies so gerne jemandem mitteilen; ich
wünsche mir, ich könnte dies einer Person sagen.“ Ein enormes Bedauern findet statt. Es ist
wie auf einer langen Reise in einem fremden Land. Wir denken: „Ich würde dies so gerne
jemandem erzählen, dem/der so und so. Möchtest du es hören? Möchtest du dies sehen?“ Auf
unseren langen Reisen können wir Briefe schreiben, Telegramme schicken, telefonieren, aber
leider hat die sterbende Person keine dieser Möglichkeiten oder Kommunikationsmittel.
Deshalb ist es sehr wahrscheinlich, dass eine solche Person sich in einen sehr deprimierten
und paranoiden Zustand verwickelt. Sie würde gerne eine Beziehung zu Menschen herstellen
und ihre Erfahrungen wirklich mitteilen – ihr Verhältnis zu ihrem Familienleben oder ihre
besonderen Anliegen. Versucht also, mit der sterbenden Person auch über deren familiäre
Beziehungen, über ihre Freunde und darüber, was sie gerne sein würde, zu sprechen. „Ich
würde gern einen Doktortitel in diesem oder jenem Fach erlangen.“ - „Du wolltest das, aber
jetzt kannst du es nicht mehr, weil du im Sterben liegst. In Ordnung. Du wolltest das tun,
nicht wahr. Aber das ist jetzt vorbei. Jetzt stirbst du.“ Es erfordert wirklich Mut, auf diese
Weise zu kommunizieren. In einer solchen Situation solltet ihr immer über die ehrgeizigen
Wünsche der Person, die ein großes Hindernis darstellen, sprechen. Ehrgeizige Wünsche
jeglicher Art sind das größte Hindernis für die Person. Es ist, als ob sie letztendlich mit
anderen Menschen in Beziehung treten wollte, aber sie kann es nicht. Sie verspürt eine
enorme Klaustrophobie, weil sie vollkommen abgeschnitten ist. Deshalb ist es sehr wichtig,
direkt damit umzugehen.
Möglicherweise kennt ihr die Person schon lange Zeit; dann könntet ihr das Gespräch auch
auf gemeinsame Erlebnisse in der Vergangenheit bringen. – „Erinnerst du dich an unsere erste
Begegnung? – Du bist gegen mein Auto gefahren. Wir trafen uns damals und beschlossen,
über unsere Versicherungsscheine zu sprechen, und wir kamen auf das ganze Thema
Meditation und Buddhismus. Das war toll. Und nun sind wir hier.“ – Alles in dieser Art wäre
äußerst hilfreich. In anderen Worten, es geht darum, der Person, die sterben wird, eine sehr
normale und feste persönliche Situation anzubieten und mit ihr so direkt und gleichbleibend
wie möglich umzugehen. Das scheint der Hauptpunkt zu sein.

Frage und Antwort


Frage: Ich kann mir einen sterbenden Menschen vorstellen, der viele körperliche Schmerzen
hat. Vielleicht will dieser Mensch mit seiner restlichen Kraft einfach nur still sein, seine
Augen schließen und seinen Körper ruhig und entspannt halten. In diesem Fall könnte jemand,
der dann zu ihm spricht und dauernd seine Aufmerksamkeit fordert, wirklich sehr lästig sein.
Dieser Mensch hätte nicht einmal die Kraft, dem andern zu sagen, still zu sein.
Chögyam Trungpa: Sei einfach da, sitze da. Sage ihm wenigstens, dass er sterben wird.
Tatsächlich ist es bei vielen Menschen so, dass sie von ihrer Reserveenergie oder ihrer
Hauptenergie zehren können, wenn ihre Grundenergie abnimmt. Zu diesem Zeitpunkt werden

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sie sehr wach: Sie fangen an zu sprechen, setzen sich sogar auf. Das passiert sehr oft, müsst
ihr wissen. Dann ist die Gelegenheit da, mit ihnen in Beziehung zu treten.

Frage: Worum geht es, wenn wir versuchen, mit der sterbenden Person so zu kommunizieren,
wie Sie es vorgeschlagen haben. Nach welcher Art von Wahrnehmungsvermögen sollten wir
Ausschau halten?
Chögyam Trungpa: Nun, die Wahrnehmung sollte die ganze Umgebung erfassen. Es ist genau
wie bei einem Interview über Meditation. Ihr habt ein gewisses Gefühl für die Umgebung der
ganzen Situation. Wenn ihr zu viel Druck ausübt, seid ihr unsensibel. Übt ihr zu wenig Druck
aus, bedeutet das, dass ihr äußerst schwach seid und nicht genug Energie habt, euer Vertrauen
in die Person zu legen. Ein solches Wahrnehmungsvermögen hängt nur vom Seinszustand
einer Person ab. Es gibt wirklich keinerlei Anleitung dafür. Es muss genau auf euren
Fähigkeiten, eurem Einfühlungsvermögen basieren. Es hängt nicht so sehr davon ab, wie
weise oder vollkommen ihr seid, sondern davon, wie viel die Situation von euch fordert.
Wenn ihr diese Situation akzeptiert, dann werdet ihr euch so äußern, wie es sein soll.

Frage: Rinpoche, was ist, wenn man mit der Person sehr verbunden und über ihr Sterben sehr
beunruhigt ist? Vielleicht begegnen wir ihrem Sterben mit Unwillen oder mit Furcht, oder wir
haben zwiespältige Gefühle zu ihrem Sterben - alle Arten von sehr lebhaften Emotionen. Und
indem wir versuchen, ihr dies sehr direkt mitzuteilen, eröffnen wir ihr auch, wie wir uns
fühlen. Ich meine, wir geben irgendwie ein gewisses Maß an Kontrolle auf, indem wir in der
Situation bleiben - für die sterbende Person und für uns selbst. Wenn wir der Person sagen,
wie wir uns fühlen, bürden wir ihr damit nicht etwas Schweres auf?
Chögyam Trungpa: Das verursacht kein besonderes Problem. Es ist Raum für Gefühle des
Aufgewühltseins vorhanden – immer. Das sollt ihr unbedingt wissen. Es ist Raum da, um zu
kommunizieren; es ist Raum für euch da, aus der Fassung zu geraten. Dann fühlst du, dass
Raum für alles da ist, und die ganze Angelegenheit ist sehr offen. Ihr müsst also keineswegs
vollkommen sein. Es ist für alles Platz. Deshalb sprecht ihr ja mit der Person. „Du wirst
sterben; wir sind außer Fassung, weil du sterben wirst, weil wir dich verlieren werden und so
weiter.“ Ihr solltet versuchen, dies zu tun. Ihr könnt weinen, wisst ihr, alles! Das ist
wunderbar. Es ist immer Raum da. (Lacht)

Frage: Wie sollten Ihre Schüler nach Ihrem Wunsch mit Ihrem Tod umgehen?
Chögyam Trungpa: Eine tolle Party feiern. (Gelächter)

Frage: Rinpoche, wenn man zu einem Sterbenden gehen will und dieser bereits tot ist, gibt es
dann noch etwas zu tun?
Chögyam Trungpa: Ich denke, ja. In dem Sinne, dass du wirklich dort, in der Gegenwart
dieser Person sein musst. Der springende Punkt ist, dass du tatsächlich zu dir selbst sprichst,
wenn du die sterbende Person akzeptierst. Du sagst es dir wirklich selbst. Wenn du die ganze
Angelegenheit auf diese Weise betrachtest, dann ist deine Stabilität Teil dieser Person. Du
erscheinst dir selbst in einer sehr stabilen Weise, also fühlst du dich automatisch stabil. Und
wenn sich da eine vollkommen ausgeflippte Person im Bardozustand befindet, wirst du auch
zu ihr sprechen.

Frage: Gibt es irgendwelche Probleme mit Raum und Zeit?


Chögyam Trungpa: Es gibt keine Entfernung: Jemand in Japan könnte jemand in Amerika
sein.

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Frage: Sollte dies mit Worten ausgeführt werden oder symbolisch?
Chögyam Trungpa: Das hängt davon ab, wie sicher du dir selbst bist. Es ist etwas sehr
Gewöhnliches, Wörtliches. Es hängt davon ab, wie sehr du dir selbst vertraust.

Frage: Was ist, wenn man auf ein Unfallopfer trifft und nichts über Erste Hilfe weiß, oder ob
die Person sterben wird oder nicht?
Chögyam Trungpa: Nun, alle, die das Tibetische Totenbuch studieren, sollten etwas über
Erste Hilfe wissen.

Frage: Ich denke, dass der Tod etwas sehr Einfaches ist, dass Sterben eine sehr einfache
Situation ist.
Chögyam Trungpa: Das ist durchaus richtig, aber im Allgemeinen muss ich sagen, dass die
Menschen in Amerika oder alle Menschen im Westen sehr unreif und unterentwickelt sind,
was den Tod angeht. Die ganze Angelegenheit ist für sie sehr geheimnisvoll. Für die
amerikanischen Indianer zum Beispiel ist das ganz anders. Ihr könnt euch vorstellen, als
amerikanischer Indianer geboren zu sein und Wild zu schießen, Sport zu treiben und dauernd
mit blutigen Dingen zu tun zu haben. Amerikaner oder westliche Menschen im Allgemeinen
sind vollkommen außerhalb dieses Bereichs. Sie sehen sich Filme an, was nicht gerade eine
natürliche Situation ist. Sie betrachten den Tod als bloß erfunden, wie die Filme. Und sie
sehen nur in sehr beschränktem Maße wirkliches Blut. Das ist eines der größten Probleme, die
sie haben. Blut verwirrt sie. Einen toten Menschen oder einen Leichnam herumliegen zu
haben, ist etwas Besonderes. Unsere Welt ist zu sanft geworden durch den Versuch, jegliche
wirklich negative Eigenschaft des Todes wegzuschließen. Es gibt noch nicht einmal
Metzgerläden in diesem Land. Alles ist verpackt, mit Zellophan darüber. Man sieht kein
Hacken, kein Sägen, kein aufgehängtes Fleisch. Das reicht nicht ganz, um ein menschliches
Wesen zu sein, es ist nicht genug, um eine lebendige Person auf dieser Erde zu sein. Sie haben
nicht genug rohe und holprige Eigenschaften, was eine Menge Paranoia verursacht. Auch
beim Tod gibt es Tücher, um Blut oder Speichel, der aus der sterbenden Person austritt,
wegzuwischen. Für alles ist gesorgt. Alles ist weiß: der rote, schwarze und grüne Anblick von
Körpern wird andauernd von weiß verdeckt. Das ist äußerst traurig.

Frage: Rinpoche, wenn wir mit Freunden zu tun haben, die keine Buddhisten sind, wie sollen
wir uns dann verhalten?
Chögyam Trungpa: Nun, es ist einfach eine Frage ihres Sterbens und wie du mit ihnen
umgehst. Du kannst mit grundlegendem Verständnis handeln - ich meine, versuche nicht, sie
auf ihrem Totenbett zu bekehren (Gelächter). Das hat überhaupt keinen Sinn. Sage ihnen
einfach, was geschieht; deshalb sind wir hier. Sei fest und gleichbleibend. Alles ist wirklich:
Dein Sterben ist wirklich, und deine Krankheit ist wirklich, und dein Puls ist wirklich.

Frage: Angenommen, man weiß, dass jemand stirbt, und das erstreckt sich über mehrere
Monate - gibt es eine sinnvolle Vorbereitung?
Chögyam Trungpa: Ich meine, ja. Vermittle dieser Person so viel wie möglich davon, dass es
eine lebendige Situation ist, die sie erlebt. „Du wirst nicht in die Einsamkeit hinein sterben,
sondern du wirst in gewisser Weise weiter da sein.“

Frage: Was ist mit einer Person, die stirbt, ohne an etwas zu glauben; was geschieht mit ihr?
Chögyam Trungpa: Sie geht durch die gleichen Erfahrungen; es muss nicht religiös sein. Sie
geht auf jeden Fall durch die gleiche menschliche Situation.

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Frage: Ist es von Belang, was mit dem Körper geschieht?
Chögyam Trungpa: Nicht bei einem Bodhisattva; dein Körper könnte einem Krankenhaus
gestiftet werden. Im Sinne des Tibetischen Totenbuches ist es von Belang, ob dein Körper
verbrannt, begraben oder im Wasser beigesetzt wird. Ich selbst werde verbrannt werden.

Frage: Stört die Anwesenheit der Kinder den Sterbeprozess der Eltern? In Japan sieht man das
so, wegen der Anhaftung der Eltern an ihre Kinder.
Chögyam Trungpa: Ich denke das ganz und gar nicht. Es wäre sehr hilfreich für die Kinder,
diesen Lebensübergang zu sehen, den sie beim Geborenwerden sehen sollten.

Chögyam Trungpa Rinpoche: Umgehen mit dem Tod, in: Dharma-Nektar, Nr. 2-3/1991, S. 29-32 (Übersetzung:
Irmentraud Schlaffer) (DBU)

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Lassen Sie los!
Vom Älterwerden und Sterben

Chökyi Nyima Rinpoche (Interview)

Am Ende müssen wir alles loslassen: Freunde, Besitz, unseren Körper. Wenn du die Kunst des Loslassens
kultivierst, wird die Reise schön sein und du wirst einen leichten Tod haben. Das rät der tibetische Lehrer Chökyi
Nyima Rinpoche.

Rinpoche, lassen Sie uns über das Älterwerden sprechen. Für viele Menschen eine
beklagenswerte Angelegenheit.

Siehst du diese schöne Blume dort drüben? Wie jede andere Blume ist sie dem
Alterungsprozess unterworfen. Alles altert. Auch der Mensch wird geboren, wächst heran und
altert. Das ist der natürliche Lauf der Dinge. Das Älterwerden sollte man nicht als
ungewöhnlich erachten. Besser als uns Sorgen über das Älterwerden zu machen, ist eine
sinnvolle Art des Umgangs mit dem Leben, nämlich in jedem Augenblick heiter und
freundlich zu sein, ungeachtet des Alters, als Jugendliche, Erwachsene, Senioren, wie auch
immer. Wenn wir so zu leben verstehen, wird unser Leben sinnvoll sein. Es wird ein erfülltes
Leben sein.
Das Leben ist sehr kostbar. Wir müssen das schätzen, was wir haben, und in unserem Leben
etwas damit anfangen. Sei gut! Tue niemandem Leid an – dich selbst eingeschlossen. Sei
freundlich zu dir selbst! Freundlich zu jedermann, nicht nur zu deiner Familie oder deinen
Freunden, auch zu Käfern und Tieren, zu jedem einzelnen fühlenden Wesen. Kümmere dich,
liebe, respektiere, teile, gib, hilf!
Älter werden liegt in der Natur aller Dinge. Da ist nichts zu machen. Auch der Arzt kann da
nicht helfen. Ein spiritueller Pfad ebenfalls nicht. Sind wir aber glücklich, ist dies eine
gesunde Angelegenheit, die auch gutes Aussehen mit sich bringt. Das ist der Schlüssel für
gutes Aussehen. Das Altern selbst können wir nicht aufhalten, denn es ist völlig natürlich.
Selbstverständlich sind eine gesunde Lebensweise, die richtige Diät, Heilmittel und so weiter
nützliche Faktoren. Wesentlicher aber ist die geistige Einstellung. Nicht allzu viele Sorgen,
keine Befürchtungen, keine negativen Emotionen wie Gier, Ärger und ähnliches. Dafür
vermehrt gute Emotionen wie Liebe, sich um andere kümmern, Entspannung, sich des Lebens
erfreuen, heiter sein. Das führt zu einem entspannten und leichten Geist und bewirkt, dass
auch der Körper ohne Anspannungen ist. Dieser Umstand wiederum wird sicherlich dafür
sorgen, dass der Körper nicht „alt“ aussieht.

Warum ist die Tatsache des Älterwerdens für viele Menschen eine solche Bedrohung?
Insbesondere eine penetrante Werbekultur suggeriert auf aggressive Weise die Werte von
immerwährender Jugend und Schönheit.

Aus zwei Gründen: Erstens möchten die meisten Leute gerne hübsch sein und gut aussehen.
Der Gedanke, unvorteilhaft auszusehen, sei es plötzlich oder allmählich, ist für viele
Menschen beängstigend. Das Geschäft mit der Schönheit weiß diese Tatsache natürlich mit
profitorientierter Cleverness zu kombinieren. Es ist ihr Geschäft, ihre Waren anzupreisen,
obwohl es vermutlich weniger bewirkt, als sie behaupten.

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Bei diesem Thema sind zwei Aspekte zu beachten: Alter ist Alter; die Jahre können nicht
rückwärts gezählt werden. Dein Aussehen wird aber davon beeinflusst werden, ob du mit
einer geistigen Einstellung in den Spiegel schaust, wie: „Oh, ich sehe immer noch gut aus. Ich
bin glücklich!“ Dann wirst du die anderen sagen hören, wie jung du noch aussiehst. Wenn wir
aber unachtsam gegenüber unserem Geist sind, werden dadurch psychische Belastungen
negative Auswirkungen auf das Physische haben. Lebe daher heiter und freundlich!
Es wundert mich, dass heute die Menschen dem Thema des Älterwerdens so viel Bedeutung
beimessen. Das ist doch kein neues Thema. Das Altern wird seit Jahrtausenden beobachtet.
Seit Urzeiten werden Menschen geboren, altern, werden krank und sterben. Das ist doch sehr
normal. Heutzutage scheinen sich die Menschen aber mehr damit zu beschäftigen, attraktiv
und frisch auszusehen, als das früher der Fall war. Natürlich gibt es da den Druck von Medien
und Werbung. Doch es liegt vor allem daran, dass die Selbstzentriertheit zunimmt. Das
Spirituelle im Leben der Menschen ist geschwächt, das Materielle erstarkt.
Die Menschheit muss mehr über die spirituellen Werte lernen und dadurch entspannter
werden. Schau dir dein eigenes Leben an. Das Älterwerden ist eine Sache. Schlimmer ist es,
unheilbar krank zu sein. Noch schlimmer, leidvoll zu sterben.
Sei dir darüber bewusst, dass der spirituelle Vorteil wichtiger ist als der materielle Gewinn.
Spiritualität erfreut sich heute wachsender Beliebtheit. Die Menschen – welcher Religion auch
immer sie in ihrem Land, mit ihrer Familie angehören – glauben gerne an etwas. Doch die Art,
wie die Menschen glauben, ist eher „light“. Lediglich zu besonderen Anlässen gehen sie zur
Kirche, wie zum Beispiel zu Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen. Darüber hinaus jedoch
kaum. Wenn es ihnen etwas schlecht geht, sagen sie: „Oh, mein Gott, hilf mir!“ In
Wirklichkeit aber will Religion angewandt werden, egal, welcher Überzeugung oder
Glaubensrichtung man anhängt. Dann wird Religion eine kraftspendende und heilsame
Wirkung haben.

Auch beim Thema Tod stellt man fest, dass die meisten Menschen im Allgemeinen nicht
besonders gerne über das Ende des Lebens reflektieren. Vielleicht liegt es daran, dass wir in
unserer Kultur nicht wirklich viel über den Sterbeprozess wissen. Ist das in einer
buddhistischen Gesellschaft wie in Tibet anders?

Es stimmt, dass die Menschen gewöhnlich nichts über den Tod wissen, und manche mögen
nicht einmal etwas über die Tatsache wissen, dass sie einmal sterben müssen. Sie möchten
nichts mit diesem Thema zu tun haben, sich nicht damit auseinandersetzen oder darüber
nachdenken. Sie ziehen es vor, in der diffusen Auffassung zu verbleiben, dass sie das Leben
ewig genießen werden. Bedauerlicherweise ist dies nicht der Fall. Nicht nur in der tibetischen
Kultur, sondern ganz allgemein gilt die Aussage des Buddha: „Alles ist der Veränderung
unterworfen. Nichts ist verlässlich. Alles Bedingte ist unbeständig. Das Ende der Anhäufung
ist, dass sie sich verbraucht. Das Ende eines jeden Bauwerks ist, dass es zerfallen wird. Alles
Zusammengesetzte endet in Trennung.“ So sind alle bedingten Erscheinungen, ungeachtet
ihrer Dauer, vergänglich. Ohne Ausnahme wird sich alles auflösen.

Ein Menschenleben scheint von so außerordentlich kurzer Dauer zu sein. Manchmal


überdauert sogar Papier ein Menschenleben. Sogar Toilettenpapier könnte länger Bestand
haben als das Leben eines Menschen.
Der Körper ist ein bedingtes, zusammengesetztes Phänomen. Es gab noch nie jemanden, der
geboren wurde und nicht sterben musste. Die Natur des Lebens besteht darin, dass es sich von
Moment zu Moment erschöpft. Es wird kürzer und nicht länger. Im Augenblick scheint die

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Sonne. Die Natur der Sonne ist, dass sie Licht ausstrahlt. Gleichermaßen ist das Leben so
beschaffen, dass es immer kürzer wird.

Gemäß der medizinischen Forschung tritt der Tod mit dem letzten Atemzug ein. Die tibetische
Anschauung unterscheidet sich hiervon.

Das ist nicht unrichtig. Der Körper stirbt mit dem letzten Atemzug. Wenn die äußere Atmung
sich erschöpft hat und nicht mehr wiederkehrt, wird der Körper nicht mehr funktionieren.
Aufgrund dieser Tatsache wird der Tod festgestellt. Doch der Mensch stirbt an diesem Punkt
nicht hundertprozentig. Im Buddhismus kommt hier das sogenannte Subtile ins Spiel. Die
subtilen Energien – im Tibetischen „Winde“ – des Körpers können noch anwesend sein. Erst
wenn auch diese sich aufgelöst haben, ist der Tod vollständig eingetreten. So einfach ist das.

Das ist wohl auch der Grund, weshalb empfohlen wird, den Toten länger auf seinem
Totenbett liegen zu lassen?

Richtig. Die fünf Sinne lösen sich beim Sterbeprozess in den alayavijnana
(Urgrundbewusstsein; tibetisch: kun gzhi) auf. Dabei sollte der Körper mindestens 24 Stunden
ungestört liegen können. Besser sind drei Tage.

Im Vergleich zum westlichen Stand des Wissens über den Sterbeprozess hat die „Wissenschaft
des Sterbens“ in Tibet ganz offensichtlich tiefere Erkenntnisse gewonnen. Zweifellos möchten
viele von uns im Westen von diesem Wissen profitieren. Glauben Sie, dass wir uns dieses
Wissen auch wirklich praktisch aneignen können?

Dies ist weniger auf Tibet als vielmehr auf den tibetischen Buddhismus zurückzuführen. Tibet
war lediglich reich an einer einzigen Sache – dem Buddha-Dharma. Das ist der Grund,
weshalb dort hoch verwirklichte Experten vorzufinden waren und sind. Im Westen hingegen
hat man das Augenmerk vor allem auf die naturwissenschaftliche Seite der Dinge gelegt, so
sehr, dass man mittels hoch technisierter Errungenschaften sogar auf dem Mond landen
konnte. Die Völker verfolgen unterschiedliche Interessen. Die Tibeter haben ein unstillbares
Interesse an der Wissenschaft des Geistigen.
Als die buddhistische Lehre nach Tibet kam, waren die meditativen Methoden sowie die
Philosophie und Terminologie des Dharma auch für die Tibeter neu. Die Tibeter hatten ihre
eigene Religion des Bön. Wenn also die Menschen im Westen ein echtes Interesse an dieser
so reichen und logischen Philosophie des Buddhismus haben, ist es selbstverständlich von
Nutzen, wenn sie sich damit befassen. Sich damit zu beschäftigen, kann sehr hilfreich und
notwendig sein. Doch weil der Buddhismus keine missionarische Tradition kennt, müssen die
Leute bei Interesse selbst aktiv werden.
Zweitens ist es eigentlich keine Sache von Ost und West. Jeder kann sich dieses Wissen
aneignen und es pflegen. Im Westen haben wir die verschiedenen Formen des Glaubens von
Christen, Juden und Muslimen – sie alle sind Glaubende. Die Auffassung dieser religiösen
Kulturen über den Tod zu kennen, ist auch lohnend. Ich fände es wertvoll, wenn man auf der
Basis dieser Überzeugungen das eigene Wissen um die buddhistische Art des Umgangs mit
dem Tod erweitern würde.

In Ihrem Buch „Das Bardo-Buch: Ein Führer durch Leben, Tod und Wiedergeburt“
beschreiben Sie die unterschiedlichen Arten des Sterbens gemäß der Entfaltungsstufe des

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Dharma-Praktizierenden. Doch was ist Ihr Rat für einen ungeübten Westler? Wie sollte sie
oder er sich auf den Moment des Todes vorbereiten?

Für jemanden, der die geeigneten buddhistischen Methoden nicht kennt oder nicht die
Gelegenheit ergreifen möchte, sich in Form von Meditation oder Gebeten mit ihnen zu
beschäftigen, sich aber dennoch einen sanften Tod wünscht, gibt es einen simplen und
logischen Rat: Lassen Sie los! Wenn man nicht loslässt, folgt eine Menge Leid. Wir haben an
dieser Stelle keine andere Wahl. Dies eine muss man wissen: In dieser Sache haben wir
absolut keine Alternative zur Loslösung bzw. dem Loslassen von Freunden, Familie, Kindern,
Besitztümern. All dies werden wir hinter uns lassen müssen.
Es ist nicht unser Wunsch zu sterben, doch jeder von uns weiß, dass wir – ungeachtet dessen,
wie furchtbar es uns scheint – dieser Tatsache ins Auge blicken müssen. Einerseits ist es
furchtbar, andererseits – ist es nun mal so im Leben. Daher muss man an dieser Stelle
loslassen. Die Loslösung ist wesentlich. Und auch sehr logisch. Ungeachtet dessen, welchen
Glauben du hast, wenn du diesen Rat anwendest, wird deine Reise schön sein. Du wirst einen
leichten Tod haben. Um die Wahrheit zu sagen: Andernfalls ist es eine beängstigende
Angelegenheit.
Ob Buddha es gesagt hat oder nicht: Wir wurden alle geboren, wir altern, wir werden heilbare
oder unheilbare Krankheiten bekommen und zuletzt werden wir sterben. Das Problem aber ist
nicht bloß der Tod. Es ist auch die Ungewissheit. Der Zeitpunkt des Todes ist ungewiss. Das
kann schrecklich sein. Manche sterben schon im Mutterleib, manche unmittelbar nach der
Geburt, andere als Teenager. Wieder andere werden über hundert Jahre alt. Deshalb: Wenn
man sanft sterben möchte, ist es gut und klug, sich rechtzeitig damit zu beschäftigen.

Chökyi Nyima Rinpoche (Interview): Lassen Sie los! Vom Älterwerden und Sterben, in: Buddhismus aktuell Nr.
3/2010. Das Gespräch führte Ayshen Delemen in Gomde, dem Dharma-Zentrum von Chökyi Nyima Rinpoche in
Österreich. Rinpoche sprach dabei meist auf Englisch; Übersetzung der tibetischen Passagen wurden von Heidi
Köppl.

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Riten des Übergangs
Lisa Freund

End-lich leben
„Da der Tod – genau zu nehmen – der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe ich mich
seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen bekannt gemacht, dass
sein Bild nicht nur nichts Schreckendes für mich hat, sondern recht viel Beruhigendes und
Tröstendes.
Und ich danke meinem Gott, dass er mir das Glück gegönnt hat, mir die Gelegenheit zu
verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennen zu lernen.
Ich lege mich nie zu Bette, ohne zu bedenken, dass ich – so jung als ich bin – den anderen Tag
nicht mehr sein werde ... Und für diese Glückseligkeit danke ich meinem Schöpfer und
wünsche sie von ganzem Herzen jedem Mitmenschen.“
(Wolfgang Amadeus Mozart)

Mozart lebt sein Leben im Bewusstsein, dass es jeden Augenblick zu Ende sein kann. Dies
bedeutet nicht, dass er als lebensverneinender Griesgram durch die Welt geht, im Gegenteil, er
empfindet, indem er sich der Vergänglichkeit stellt, die tiefe Verbundenheit mit dem Urgrund
des Seins, aus der Glückseligkeit entspringt. Jeder Moment des Lebens erscheint so wertvoll,
ist ein Geschenk. In unserer Gesellschaft ist eine solche Haltung zum alltäglichen „Stirb und
Werde“ aus der Mode gekommen. Obwohl die Konsumgesellschaft das Geschäft mit der
Vergänglichkeit im Warenaustausch angeht und davon lebt, pflegen wir, ihre Bürger, eher die
Verdrängung von dem, was alles zu Ende gehen kann und wird. Unsere Zukunftsorientierung
richtet den Blick auf den Neubeginn. Dass vor dem Neubeginn der Abschied von dem Alten
kommt, ignorieren wir. Oft verschieben wir die Abschiedsschmerzen in den Schutzraum
therapeutischer Arbeit.
Es käme in dieser Welt einer kleinen Revolution des Bewusstseins gleich, würden wir end-
lich leben. Mit dem Tod vor Augen, gewinnt das Leben an Wert, steigt die Lebensintensität,
gehen wir sinnvoller mit der Lebenszeit um, handeln wir mitfühlender. Aus der
Wertschätzung von uns selbst, die darin wurzelt, zu erkennen, wie unendlich wertvoll es ist,
dieses Leben im begrenzten Zeitrahmen leben zu dürfen, entspringt die Liebe zu anderen
fühlenden Wesen, denen wir in ihrer Einzigartigkeit begegnen dürfen.

Wer oder was stirbt?


In dieser Beziehung hat Mozart viel gemeinsam mit dem, was der Buddha lehrt. In einem
Text, der von Studenten des tibetisch-buddhistischen Lehrers Sogyal Rinpoche häufig rezitiert
wird, steht die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit im Leben am Anfang, schafft die
Motivation für die Entfaltung von Mitgefühl, die Reinigung der negativen Gedanken und
Emotionen, die Zufluchtnahme zu Buddha, Dharma und Sangha (Gemeinschaft) und
schließlich die Voraussetzung für Hingabe an die eigene unsterbliche Natur des Geistes, aus
der heraus der Tod als Übergang in eine neue Geburt wahrgenommen wird. Es stirbt der
Körper, die Persönlichkeit, die wir gebildet haben, und es weicht aus dem Körper seine
feinstoffliche Essenz. Als Buddhisten streben wir danach, diese im Leben und im Sterben in
das klare Licht zu überführen, die Erleuchtung. Hierfür stellt der Moment des Todes eine gute
Möglichkeit dar.
So heißt es in diesem Text in den vier Gründen der Entsagung:

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„Bedenke, wie kostbar es ist, frei und begünstigt zu sein.
Dies ist schwer zu erlangen und leicht zu verlieren,
jetzt will ich etwas Sinnvolles tun.
Die ganze Welt und ihre Bewohner sind vergänglich.
Insbesondere gleicht das Leben der Wesen einer Seifenblase.
Der kommt ohne Warnung; dieser Körper wird ein Leichnam sein.
Dann ist der Dharma meine einzige Hilfe.
Ich will ihn mit freudigem Eifer praktizieren.“
(Düdjum Tersar Ngöndro)

Die Wahrnehmung und Akzeptanz der Vergänglichkeit und des Leidens dienen als Grundlage,
als Motivation für spirituelle Praxis, deren Sinn es ist, uns mit der Buddhanatur, dem
unsterblichen Kern zu verbinden. Daraus entspringt Glück, das in die wahre Glückseligkeit
führt, in der wir frei sind von Anhaftung und Abneigung. Dies ist eine Haltung im Geist, eine
innere Einstellung, die sich auswirkt im Alltag.
Angesichts der Endlichkeit des Seins erfahren wir den Sommerregen auf der Haut, den
Morgentau auf dem Blütenblatt, die tanzenden Lichtkegel im Wasser, das Lachen eines
Kindes in ihrer Einmaligkeit als ein Geschenk. Es darf sich die Freude am Sein im Hier und
Jetzt ausdrücken. Leben wird dadurch nicht leidhafter sondern reicher. Wir werden
bescheidener und weniger gierig. Es ist alles da, alles im Überfluss. Es geht darum, dies zu
sehen, im Augenblick zu leben, mitfühlend und achtsam zu sein.

Auf der Schwelle


Nun hat die Vergänglichkeit auch ihre leidhafte Seite: wenn wir einen Verlust erfahren, die
Arbeit verlieren, unser Lebenspartner sich trennen möchte, die Kündigung der Wohnung ins
Haus steht, besonders dann, wenn ein geliebter Mensch stirbt oder uns klar wird, dass eine
lebensbedrohliche Krankheit uns nur noch wenig Zeit gibt. Wir werden gezwungen Abschied
zu nehmen. In diesen Situationen stehen wir auf der Schwelle. Das Alte ist innerlich noch
nicht abgeschlossen, obwohl sein Tod vielleicht äußerlich schon geschehen ist; das Neue hat
für uns noch nicht begonnen. Es keimt vielleicht schon, zeigt sich vorsichtig. Das zarte
Pflänzchen will genährt werden. Das geht nur, wenn wir ihm Raum zum Wachsen geben und
die Bedingungen dafür herstellen. Eine Voraussetzung für den Neubeginn ist der Abschied
vom Alten.
Ich greife mir den Tod heraus, den Abschied am Sterbebett und die Trauerfeier. Auch wenn
wir den Tod als Übergang verstehen, in etwa als würden wir ein marodes Haus verlassen und
umziehen, so bleibt doch am Tod immer etwas Unbegreifliches. Manchmal ergreift uns die
verzweifelte Sehnsucht nach der Entschlüsselung des Mysteriums. Diese wurzelt in dem
Bedürfnis nach Kontrolle. Wir wollen etwas in den Griff bekommen, das unkontrollierbar ist.

Das Geheimnis von Riten


An dieser Stelle eignen sich Riten, denn sie helfen eine Brücke zu bauen von der materiellen
Welt zur inneren Erfahrung. Das Geheimnis ihrer Wirkung liegt auf der spirituellen Ebene.
Ein gutes Ritual hilft, Leiden zu transzendieren. Dies wird in folgender Definition deutlich:

„Nach Lurker (Wörterbuch der Symbolik) ist der Ritus( latein. Brauch) ein kultischer Brauch.
Die verschiedenen Riten eines Kultes bilden das Ritual. ... Kult ist nach Lurker der äußere
Ausdruck der inneren Ehrfurchtshaltung dem Göttlichen gegenüber. Keel geht noch weiter
und meint, dass Kult bzw. die Kulthandlung verdichteter Alltag ist. Im Ritual vollzieht der

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Mensch den Weg Gottes oder des göttlichen Helden mit Leib und Seele nach und wird
„gleichzeitig“ mit ihm (Steffen, S. 9).“
(Zitiert nach Landner/Zohner, Trauer und Abschied, Ritual und Tanz für die Arbeit mit Gruppen, Mainz 1992, S.
30 f.)

Ein Ritual hilft uns Bedingungen herzustellen, unter denen wir unsere Emotionen und
Schmerzen transzendieren können. Es geht dabei um das Durchleben der Gefühle,
Erinnerungen, die Tränen dürfen fließen, klagen ist erlaubt (z.B. im Abschiedsritual). Dabei
bleiben wir jedoch nicht stehen. Wir schaffen die Voraussetzungen für die Vereinigung mit
dem Göttlichen, dem Raum, in dem alles miteinander verbunden ist, durch Meditation, Gebet,
indem wir Zuflucht nehmen. Die Gemeinschaft trägt uns, gibt Schutz und Geborgenheit. Der
Zeremonienmeister steuert oder hält die Energien, das Kraftfeld, das im Ablauf des Rituals
entsteht. Um Missbrauch zu vermeiden, bedarf es beim Ritual der Einhaltung festgelegter
Regeln, die den geheiligten Raum schützen, um Übergriffe auf einzelne zu verhindern und
den Schutz der Gruppe vor dem Chaos zu gewährleisten. Ein Ritual fordert von uns die
Einhaltung von Regeln, das heißt Disziplin. Wir halten die Disziplin ein, weil wir geheilt
werden wollen.

Ein Ritual hat drei zentrale Ebenen


1. Die persönliche Erfahrungsebene vor Ort, die gebunden ist an die Sinneswahrnehmung,
Raum, Zeit, Ort sowie den Ablauf so, wie er äußerlich geschieht. Auf dieser Ebene sind wir
der Realitätswahrnehmung in dieser Welt verhaftet. Wir sehen Blumen und Kränze, den
Leichnam, die Lichter, hören die Musik, sitzen auf unserem Platz, reden mit anderen, singen
ein Lied, sind still.

2. Auf der zweiten Ebene bewegen wir uns innerhalb unserer Emotionen. Die Erfahrungen
gehen tiefer. Wir lösen uns von der Haftung an die äußeren Rahmenbedingungen. Hier setzten
wir uns in Bezug zu den Symbolen und symbolischen Handlungen. Wir weinen und klagen,
erinnern uns, fühlen die Verbindung zum Verstorbenen, sind ganz der Schmerz. In dem
Fließen der Gefühle entlasten wir unser Herz bis zu dem Moment, in dem wir nach der
Auflösung des Getrenntseins streben. Das Spüren des Schmerzes weist uns den Weg in seine
Überwindung.

3. Die dritte Ebene ist die transzendente oder spirituelle Ebene. Hier gehen wir in die
Verschmelzung, die Hingabe an das Göttliche oder unsere ureigene Natur, spüren wir den
Raum, in dem es keine Trennung gibt, die unsterbliche Allwissenheit. Hier löst sich Leiden
auf. Wir berühren den Raum, in dem Heilung eigentlich geschieht. Wir erkennen, dass Leben
und Tod zwei Seiten einer Medaille sind. In diesen Momenten gibt es keine Trennung von Ich
und Du. Nur ein kleiner Moment dieser Erfahrung ist sehr trostreich.

Wir erfahren auf dieser Reise die Vergänglichkeit und unsere Anhaftungen und Abneigungen,
spüren unsern Schmerz, entwickeln ein Bedürfnis nach der Überwindung des Leidens und
streben nach dem Überpersönlichen, dort angekommen blicken wir in unsere Unsterblichkeit.

Symbole verhüllen und legen bloß


Jedes Ritual lebt von der Kraft des Symbols. Alle Gegenstände und Handlungen sind
symbolisch. Das Symbol verhüllt und legt zugleich bloß. Voraussetzung für den sinnvollen
Einsatz von Symbolen ist die Übereinkunft der Gruppe, die das Ritual ausübt, über deren
Bedeutung.

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So bringen wir in der Trauerfeier einen Kranz dar, der Kranz ist ein Symbol für den ewigen
Kreislauf des Werdens und Vergehens, ein Symbol für makellose Vollständigkeit. Auf dem
Kranz sind Blumen, als Zeichen unserer Liebe, Verbundenheit, der Vergänglichkeit, die
Schleife auf dem Kranz symbolisiert die Unendlichkeit oder ewiges Verbundensein, denn ihre
Form ist eine Acht. Die Worte auf der Schleife sind in diesem Sinne dem Verstorbenen
gewidmet. So gesehen, drücken wir auf symbolische Weise unsere Liebe, unser Mitgefühl für
den Verstorbenen aus, indem wir den Kranz zu seinem Gedenken spenden. Wählen wir ein
Kreuz als Form, dann drücken wir die Verbundenheit als Christen aus. Der Schnittpunkt
zwischen Waagrechter uns Senkrechter auf dem Kreuz könnte auch als die symbolische
Vereinigung von Himmel (Senkrechte, männliches Prinzip) und Erde (Waagrechte, weibliches
Prinzip) gedeutet werden. Einer Blüte, die wir darbringen, können wir durch die Wahl der
Farbe und die Wahl der Blume einen besonderen Ausdruck geben, sie kann für unsere Liebe,
für die Erinnerung, für Reinheit stehen usw. Eine Kerze, die wir entzünden, kann für den Weg
ins Licht stehen, den wir dem Verstorbenen wünschen. Sie kann Ausdruck unserer
Herzenswärme sein oder die Verbindung mit dem Göttlichen verkörpern, bzw. das
Aufgehobensein im gemeinsamen Glauben darstellen. Klänge, Gesänge, Mantren, stilles
Gedenken, die Trauerrede, die in der Trauerfreier ihren Platz haben, können wir so im
Hinblick auf ihre symbolische Bedeutung auswählen und gestalten. Wir legen fest, welchen
Sinn die einzelnen Teile haben sollen, um sie dann zu einer Liturgie zusammenzustellen, die
einen klaren Anfang, einen Höhepunkt und einen Ausklang hat.

Der Teufel steckt im Detail


Ein gutes Ritual, das wir selber gestalten, muss sehr genau geplant werden. Es braucht einen
Spannungsbogen. Auf dem Höhepunkt auch ein Element, das den Brückenschlag ins
Transzendente enthält, ein Gebet, eine stille Meditation, eine Visualisation, einen Textvortrag,
einen Segen. In die Handlung des Rituals ordnen wir die Symbole ein und geben den Teilen
der Handlung selber eine symbolische Bedeutung, nichts geschieht um seiner selbst willen.
Insofern bedarf es, selbst beim kleinsten Ritual, genauer Planung. Das heißt nicht, dass auch
in der Durchführung ab und zu improvisiert werden sollte oder muss, z.B. dann, wenn der
CD-Recorder nicht anspringen will oder der Einmarsch in die Trauerhalle nicht geordnet und
ruhig geschehen ist. Der Teufel steckt hier im Detail. Delegation von Aufgaben, genaue
Planung (z.B. die Kopie des Handlungsablaufs auf einem Zettel, der allen zur Verfügung
steht) sind hier wichtig. Wenn gemeinsam gesungen werden soll, sollten wir Liedtexte und
Noten kopieren.

Das Heft in der Hand halten


Jedes Ritual hat eine/n ZeremonienmeisterIn, der/die den Ablauf überblickt, Anweisungen für
den Ablauf, die Raumgestaltung gibt, auf die Details achtet und die Einsätze der
Einzelpersonen/Inhalte regelt. Die Zeremonienmeisterin oder Koordinatorin hat den Überblick
und kennt den Hintergrund der Handlungsabläufe und der Symbolik genau, fällt die
wesentlichen Entscheidungen für die Durchführung eines Rituals.

Einstimmung
Weitere wichtige Punkte sind, die innere Einstimmung auf das Geschehen von Seiten der
Beteiligten. Man drückt das auch in der Kleidung aus, z.B. in der Trauerfeier, indem man sich
weiße Kleidung als Symbol für den Weg ins Licht oder schwarze als Ausdruck tiefer Trauer
wünscht oder bunte Kleidung, weil der Tod als Teil des Lebens gesehen wird. Wichtiger ist
die innere Würdigung des Prozesses, den man gemeinsam geht; das bringt oft eine natürliche
Feierlichkeit mit sich.

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Der geschützte Raum
Die Wahl des Ortes bestimmt darüber, auf welche Weise wir Atmosphäre gestalten, die
Trauerhalle oder das Restaurant oder das Clubcafé oder das eigene Wohnzimmer. Wir
schmücken den Raum zur inneren Einstimmung, um den Zweck, das Ziel zu unterstützen.
Die Einladung an die Gäste sollte das Anliegen zum Ausdruck bringen und das Ritual
inhaltlich vorbereiten. Im Schutz der Gemeinschaft sollte das Ritual den Trauernden
Geborgenheit, Verständnis und Mitgefühl bieten. Gefühle dürfen ausgedrückt werden. Wenn
die Tränen fließen, sind wir berührt und in der Berührung werden wir weicher, erfahren wir
die Öffnung des Herzens, aus der heraus die Bereitschaft zur Hingabe, zu dem „Dein Wille
geschehe“ im Gebet, in der Meditation entstehen kann. Wenn dies gelingt, fühlen wir uns
gestärkt, als Teil der Schöpfung mit den Lebenden und Verstorbenen verbunden. Unsere
Widerstände gegen den Verlust dürfen fließen in ein Verstehen der größeren Zusammenhänge,
aus dem heraus Vertrauen entsteht, das durch die Schmerzen der Trauerzeit trägt. Ein gutes
Trauerritual gibt uns Kraft im Leiden, öffnet den Weg in die Zukunft, indem es den Abschied
rund werden lässt.

Ritus und Fest


Zum Ritus gehört das Fest. Das Abschiednehmen im Trauerritual vollziehen wir in
feierlichem Rahmen. Beim Fest steht im Vordergrund, dass das Leben miteinander weiter
geht. Wir feiern den Neubeginn ganz handfest, indem wir uns nähren, essen und trinken,
miteinander reden. I
In der Agrargesellschaft drückte sich z.B. im Fest nach der Feier auf einem Bauernhof die
neue Lebensordnung schon bei Tisch aus. Dort, wo vorher der verstorbene Familienvater saß,
nimmt nun der älteste Sohn den Platz mit seiner Frau und den Kindern ein. Man sitzt in
anderer Anordnung um den Tisch herum. Das Zeichen für den Neubeginn ist gesetzt. Wir
sollten auch in unserer Zeit auf das Fest nicht verzichten, es lockert die Form, gibt Raum für
Begegnung und schafft Verbundenheit. Der Keim des Neubeginns wird spürbar, auch wenn
die Trauer erst noch durchwandert werden will. Gerade darin liegt seine Kraft. Wir setzen ein
Zeichen, schaffen eine Erinnerung, die emotional trägt.

Rituelle Kraftfelder
Rituale der großen Religionen sind wiederholbar, enthalten immer die gleichen Symbole, der
Ablauf ist geregelt, z.B. das Abendmahl oder die christliche Trauerfeier. Was wir oft als
anödend empfinden, hat einen tieferen Sinn. Die Wiederholbarkeit gewährleistet, dass wir in
Niederbayern genauso das Abendmahl einnehmen können wie in Rio de Janeiro. Wir können
darauf vertrauen, dass das Ritual im Wesentlichen das gleiche ist. Das gibt uns Sicherheit und
Vertrauen. Was noch hinzu kommt ist, dass die religiösen Riten großer Religionen durch ein
Jahrtausende altes Kraftfeld, das immer wieder genährt und gespeist wird, aufgeladen sind.
Die Aufladung geschieht, u.a. weil die Regeln überall die gleichen sind, wo die Religion
praktiziert wird. Dieses Feld trägt und birgt in sich eine Verknüpfung, die in der Überlieferung
des Christentums bis unmittelbar in die Zeit von Christus Leben, Tod und Wiederauferstehung
reicht. Das gleiche gilt für buddhistische Riten oder islamische. Sie verweisen auf eine
Verbindung zu dem Religionsstifter, die zeitlos ist. Gerade deshalb sollten wir nicht
schlampig mit den Ritualen umgehen oder sie zu bloßem Formalismus verkommen lassen.
Die Weltreligionen bieten, jede für sich, ein Kraftfeld, das weit größer ist, als das, was wir in
einem Einzelritual für uns und die Familie herstellen können. Es bedarf der korrekten
Geisteshaltung, der inneren Einstimmung und der Verknüpfung mit dem Sinn der Symbole
und symbolischen Handlungen im Ritual, damit ein religiöses Ritual wirkt. So steht im

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Abendmahl nicht mehr und nicht weniger als die Verschmelzung mit dem Göttlichen, die
Hingabe an Gott im Vordergrund. Aus buddhistischer Sicht ruhen wir dann in unserem
göttlichen Kern, inspirieren das Göttliche in uns. Wenn wir das begreifen und uns auf das
Ritual einlassen, wird es große Kraft haben, heilen und reinigen. Das gleiche gilt für die
Rituale aller Traditionen. Voraussetzung ist jedoch, dass wir sie verstehen und uns darauf
einlassen. Das setzt das Verständnis der Symbolik selbstverständlich voraus.
Es ist zum einen unsere geistige Haltung, unsere innere Einstellung zum anderen, die
würdevolle Durchführung des Rituals von Seiten des Eingeweihten, der Priester ist, die seine
Wirkung schaffen, sowie der sakrale Ort, der dabei unterstützt.

Brücke zum Weisheitsgeist


In der Tradition des tibetischen Buddhismus werden Einweihungen in bestimmte spirituelle
Praktiken gegeben von einem Lehrer, der seine Übertragungslinie ausdrückt und das Ritual in
der vorgeschrieben Weise durchführt. Zentral ist dabei, dass er mit dem geistigen Inhalt ganz
und gar verschmilzt, ihn verkörpert und damit als Brücke dient zum Weisheitsgeist, der auf
die TeilnehmerInnen übertragen wird. Sie werden, wenn sie innerlich eingestimmt sind, diese
Brücke annehmen und sich ganz einlassen auf den Prozess, dann die Segnungen dieses
Weisheitsgeistes erhalten. Das reinigt den Geist, öffnet das Herz, gibt die Kraft zu einem
mitfühlenden Leben.

Gefahr von Missbrauch


Wenn ein Ritual große Kraft entfalten kann, dann kann es auch missbraucht werden. Das
haben wir im Nationalsozialismus in Deutschland bitter erfahren müssen. Die Rituale der
Nazis waren perfekt inszeniert, die Symbole, die Handlungen auf ein Ziel ausgerichtet. Statt
dem Brückenschlag in den transzendenten Raum gab es die Brücke zum Führer, einem
weltlichen Herrscher, dessen Machtapparat darüber genährt wurde. Die einzelnen
Volksmitglieder haben ihre persönliche Verantwortlichkeit und Kraft abgegeben an den
Führer und seine Apparatschiks. Der Einzelne durfte das großartige Gefühl der Entgrenzung
erfahren, doch die Sehnsucht nach der Verschmelzung mit dem Göttlichen wurde zur Falle.
Der Führer war keine Verkörperung des Transzendenten, er war ein Machthaber mit
weltlichen Interessen. Das Ziel der Elite war die hemmungslose Bereicherung und die
Entladung der Großmachtgelüste im Krieg, dazu brauchte man die Unterordnung der
Deutschen, die ideologisch verblendet, in den großen Ritualen alles gaben, sich hingaben. Das
Ziel der Hingabe war es nicht wert. Das Kraftfeld, genährt von Millionen Verblendeter, diente
skrupellosen Machthabern. Mit Recht sind wir in Deutschland vorsichtig geworden im
Umgang mit Ritualen. Hat doch deren verrohter Missbrauch dazu beigetragen, einen
Weltkrieg mit Millionen von Menschenopfern heraufzubeschwören.

Achtsam sein mit Energien


Im Ritual entsteht ein Energiefeld, das große Kraft haben kann. Mit diesen Kräften ist nicht zu
spaßen. Die Energien müssen gelenkt und sinnvoll genutzt werden, selbst in dem kleinsten
persönlichen Ritual, das der Bewältigung von Trauer dient. Es bedarf der Achtsamkeit und
verantwortlichen Handelns bei der Gestaltung von Riten. Der Dreh- und Angelpunkt ist dabei
der ernstgemeinte Brückenschlag in den transzendenten Raum oder ins Göttliche. Nur hier
gibt es das Aufgehobensein, führt Hingabe in die geistige Freiheit. In den schwarzmagischen
Varianten verwandelt sie sich in ihr Gegenteil in die Knechtschaft. Die Unfreiheit steigert sich
bis ins Unerträgliche. Deshalb Vorsicht vor falschen Gurus, Herrschern, die Rituale für ihren
persönlichen Machtzuwachs einsetzen.

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Schlecht geplante, unachtsam durchgeführte Rituale müssen nicht immer schwarzmagisch
sein, sie erreichen jedoch nicht ihren Zweck und hinterlassen, z.B. nach der Trauerfeier,
Hinterbliebene ohne Trost. Das Gefühl des Ausgeliefertseins steigert sich. Dies kann
allerdings manchmal auch daran liegen, dass einzelne sich bei einem guten Ritual nicht
persönlich eingestimmt haben, sich nicht eingelassen haben oder der Ritualleiter nicht eins ist
mit dem Prozess.
Ein gutes Ritual bedenkt, wer kommt und orientiert sich an den Bedürfnissen und Interessen
derer, die teilnehmen, holt den einzelnen dort ab, wo er steht, und stülpt ihm nichts über.
Daher ist es auch wichtig, den Ritus auf die Zielgruppe zuzuschneiden.

Christliche Abschiedsrituale
Ich möchte zunächst einige Beispiele aus der christlichen Tradition erzählen. So war es noch
zu Beginn des letzten Jahrhundert auf dem Lande oder dort, wo die Großfamilie noch intakt
war, üblich, dass ein Sterbender seine Familie, manchmal das Hausgesinde oder die Nachbarn,
in der Regel einen Priester zu sich bat, um Abschied zu nehmen. Er eröffnete damit den
Sterberitus und traf wichtige Entscheidungen noch selber. Das Sterben wurde damit
öffentlich, die Verbindung mit dem Sterbenden wurde bis zum letzten Atemzug gehalten.
Man betete gemeinsam an seinem Bett. Vom Priester empfing der Sterbende die drei
Sterbesakramente: Generalbeichte, Kommunion und letzte Ölung, was heute nicht mehr
üblich ist. Sterben und Tod fanden in der Regel in der gewohnten häuslichen Umgebung statt,
was heute in der Bundesrepublik, obwohl vom Einzelnen gewünscht, selten geschieht, denn
mehr als 80 % der Deutschen sterben in Einrichtungen.

Abschied vom Leichnam


Der Tod wurde gesehen als Übergang zum ewigen Leben. Die Augen (gegen den bösen Blick)
und der Mund des Verstorbenen (damit die Seele durch ihn nicht zurückkehre) wurden nach
dem letzten Atemzug geschlossen. Das Läuten der Kirchenglocken zum Sterbegeläut
verkündete im Dorf den Tod, mancherorts wurden schwarze Tücher an der Haustür befestigt
oder die Vorhänge wurden zugezogen, Kerzen wurden entzündet und Weihwasser wurde
versprengt. Hier mischen sich Glauben mit Aberglauben. Danach folgte die Aufbahrung des
Leichnams im Sterbehaus, der Leichnam wurde gewaschen mit dem Totenhemd bekleidet und
hergerichtet von sogenannten Leichenwäscherinnen oder Familienangehörigen. Das sind die
Aufgaben, die heute oft der Bestatter übernimmt. Mit dem Kruzifix und Kerzen sowie
Weihwasser am Kopfende und mit den Füßen zur Eingangstür wurde der Leichnam
aufgebahrt. Kerzen standen zur Rechten und Linken des Kopfes. Es war üblich, den Leichnam
zu besuchen, ihn mit Weihwasser zu besprengen für ihn zu beten. Totenwache wurde
gehalten, wobei auch Freunde und Nachbarn teilnahmen. Die Totenklage war bis in die
Neuzeit hinein erwünscht. Es galt als wichtig, die Gefühle auszudrücken. Mancherorts gab es
Klageweiber, die geholt wurden, um den Verstorbenen mit zu betrauern. Während der
Totenwache wurden Rosenkränze gebetet und man erzählte sich Geschichten. Die Wächter
wurden oft reichlich mit Nahrung und Getränken, oft Alkoholischem versorgt. Es wurde
mancherorts von Exzessen berichtet, die durch übermäßigen Alkoholkonsum zu Stande
kamen.
Mit den Füßen zuerst trug man den Leichnam aus dem Haus. Das Herdfeuer wurde in
manchen Gegenden dann gelöscht, Fenster und Türen wurden verschlossen, manchmal
schüttete man dem Leichenzug Wasser nach. Dies sollte die endgültige Trennung vom
Verstorbenen symbolisieren und die Seele davon abhalten ins Haus zurückzukehren. Der
Sarg, vom örtlichen Schreiner angefertigt, wurde auf dem Weg zum Friedhof auf einem
Holzkarren transportiert oder von Freunden und Nachbarn getragen.

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Trauerfeier und Fest
Die kirchliche Zeremonie umfasste Gebete, Weihrauchspenden, die Grabrede und den Segen,
Gesang. Musik, Textvorträge von Laien waren möglich. Am Grab wurde der Sarg in die Erde
gelassen, von allen Teilnehmern mit Weihwasser besprengt. Jeder warf drei Schaufeln oder
Hände voll Erde auf den Sarg, (Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub), um die
Vergänglichkeit des Lebens anzuerkennen. Kondolenz war nicht üblich. Man hatte Teil am
Prozess des Abschiednehmens. Die Kondolenz oder das Kondolenzbuch drücken im
Vergleich dazu mehr Distanz oder Entfremdung vom Abschiedsprozess aus. Nach dem
Begräbnis gab es die Versammlung zum Todesmahl.
Die Mahlzeit stiftete Gemeinsamkeit, war als Annerkennung gedacht für alle, die geholfen
und gebetet hatten, und symbolisierte den Neubeginn, den Fortbestand des Lebens für die
Hinterbliebenen. Es galt als Christenpflicht, als Akt der Nächstenliebe an der Aufbahrung, der
Messe für den Toten, der Beerdigung teilzunehmen.

Den Abschied wieder nach Hause holen


Schon hier wird deutlich, dass der Schwerpunkt des Abschieds am Sterbebett zu Hause
stattfand. Voraussetzung war, dass die Umstände dies zuließen und der Sterbende in der Lage
war, das Signal für den Abschied zu geben. Geburt und Tod waren in der Agrar- und in der
frühindustriellen Gesellschaft Ereignisse, die sowohl in das familiäre Leben als auch in einen
spirituellen Rahmen integriert waren. All dies ist in der postmodernen Industriegesellschaft
nicht mehr üblich.
Wir sterben in Einrichtungen fern unserer häuslichen Umgebung, der Leichnam wird meist
schnell nach der ärztlichen Untersuchung in die Kühlkammern gebracht, dann, wenn
freigegeben, vom Bestatter abgeholt, der die Abholdienste und Beerdigungsmodalitäten regelt
ebenso wie die Entsorgung des Leichnams. Viele von uns sehen den Tod nicht mehr als
Übergang, wehren sich gegen spirituelle Begleitung oder wissen nicht, wie diese aussehen
könnte. Das Hauptritual des Abschiednehmens ist die Trauerfeier in der Friedhofskapelle, in
den großen Städten wird auch diese immer unüblicher. Wir haben den Kontakt zum Sinn des
Abschiednehmens verloren, verdrängen die Gefühle und vermeiden spirituelle Praxis, weil sie
uns als unzeitgemäß erscheint. Wir delegieren die Pflege und die ärztliche Versorgung des
Sterbenden an medizinisches Fachpersonal, die Trauerfeier an die Theologen, die Entsorgung
des Leichnams an die Bestatter, die darüber hinaus noch allem möglichen Dienstleistungen
übernehmen, das Begräbnis an die Friedhofsangestellten. Damit sind wir an diesen Prozessen
nur noch mittelbar beteiligt. So geben wir die Verantwortung in der
Dienstleistungsgesellschaft auf vielfältige Weise ab, bezahlen dafür und entlasten uns, was oft
auch Erleichterung bringt. Dennoch entsteht hektische Betriebsamkeit, denn die vielfältigen
Vorgänge, die nötig sind, bis ein Mensch beerdigt ist, wollen koordiniert werden. Dieser
Aktivismus entspricht dem Tempo der Leistungsgesellschaft und dem, was sie wertschätzt.
Das Tun. In der Trauer und dem Abschiednehmen geht es um das Spüren, das sein lassen.
Dies geschieht nur, indem wir inne halten, aussteigen aus dem Getriebe und dem Bedürfnis,
alles kontrollieren, in den Griff bekommen zu wollen.

Der Tod führt in die Todlosigkeit


So verlernen wir es Abschied zu nehmen und berauben uns der Möglichkeit der Begegnung
mit dem großen Mysterium des Todes. Damit wächst die Angst vor dem Sterben und wir
fördern die allgemeine Verdrängungs-Unkultur. Wir sollten uns wieder eine Kultur des
Abschiednehmens kreieren, denn dadurch wird das Leben reicher und wir wachsen in die
Tiefe. Vor allem dann, wenn wir begreifen, dass der Tod sich ereignet und zugleich nicht

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stattfindet. Die große Chance liegt im Erfahren der Unsterblichkeit, die sich im Sterben
offenbart. Doch dazu müssen wir bereit sein hinzugehen, hinzusehen. Wer das Sterben
ausgrenzt, an den Rand der eigenen Wahrnehmung schiebt oder in eine unbedeutende Ecke
der Gesellschaft verdrängt, beraubt sich des spirituellen Wachstums.
Schon in den antiken Gesellschaften, z.B. in Griechenland oder Ägypten galten die als gereift
und weise, die sich der rituellen Unterweisung in das stellten, was das Sterben im Leben ist.
Die Mysterien von Eleusis beinhalteten Einweihungsrituale, in der Lebende in den Tod
schauten, um dadurch die Chance zu erlangen, weise zu werden. Die Einweihungen waren
einer Elite zugänglich. Das Ziel war es, sich der Vergänglichkeit zu stellen und in den inneren,
unbegrenzten, unsterblichen Raum zu blicken. Wer das tun konnte, hatte gelernt mit seinen
Ängsten umzugehen und damit alle Voraussetzungen für ein glückliches und zufriedenes
Leben.
Wir starren zu sehr auf das Materielle und suchen das Glück, indem wir meinen, es liege in
der Erfüllung unserer Begierden, unserer Wünsche. Die vollkommene Freiheit liegt jedoch in
der Wunschlosigkeit und in der Verschmelzung mit unserer innersten Natur. Das erfahren wir,
wenn wir in die Todlosigkeit schauen. Dies ist möglich, wenn der Tod sich ereignet. Das
klingt absurd. Wir wissen jedoch im Leben, dass uns die Erfahrung von Frieden lehrt, was
Unfrieden ist, das Hässliche offenbar wird, wenn das Schöne sich zeigt. Die Gegensätze
erhellen einander. Die Gegensätze lösen einander auf und geben den Raum frei, der dahinter
liegt. Ein Ritus am Sterbebett will diesen unsterblichen Raum berühren, spürbar, erfahrbar
machen, damit auch unsere „Seele Flügel bekommt“.
Wir sollten den Abschied am Sterbebett, dort, wo es möglich ist, wieder beleben, den Mut
haben, ihn zu zelebrieren. Wir können alte Riten wieder aufgreifen und mit neuem Leben
füllen, Neues hinzufügen, den Abschied feinfühlig und liebevoll so gestalten, dass er auf den
zugeschnitten ist, der geht und auf die, die ihn loslassen müssen. Wir können die Theologen
rufen, dort wo sie gewünscht werden, und uns daran wagen, eigene Abschiedsrituale zu
gestalten, wo es angebracht ist.

Ideen für die Gestaltung von Abschiedsriten


Wir können uns um das Bett versammeln, ein Teelicht entzünden, eine kleine Ansprache
halten, dem Kranken Mut zusprechen, gemeinsam mit ihm beten oder meditieren, vielleicht in
Stille ihm Licht und Liebe schicken, ein Lied singen, ein Mantra sprechen, eine Musik
spielen, die ihm das Herz aufgehen lässt, einen Text vortragen, ihm Blüten oder ein kleines
Geschenk darbringen, weben am atmosphärischen Netz von Mitgefühl, Liebe, Geborgenheit
und innerer Einkehr. Wir können in Worten und Gedanken ausdrücken, dass wir ihn
wertschätzen und lieben und uns bemühen oder bereit sind, ihn gehen zu lassen. Aus den oben
skizzierten Elementen lassen sich kleine Zeremonien zusammenbauen, die kurz oder länger
sein können, die wir anpassen können an die besondere Persönlichkeit, die wir vor uns haben
und die Angehörigen. Dazu ist es nötig, mit Respekt und Achtsamkeit mit dem Prozess zu
fließen, Raum zu geben für Gefühle, Berührung zuzulassen und Pausen und Stille auszuhalten
ebenso wie die bewegenden Momente, die entstehen. Es ist wichtig einen religiösen
Standpunkt nicht zu oktroyieren. Die Würdigung des Menschen vor uns steht im Vordergrund,
nicht irgendein Missionierungsgedanke oder die eigene Überzeugung.

Den Rückzug der Sinne begleiten


Ich möchte einen Auszug aus einem Text von Josef Brombach zitieren, der das Elisabeth-
Hospiz in Lohmar-Deesem bei Köln leitet und der mit viel Erfahrung und
Einfühlungsvermögen Abschiede im Hospiz gestaltet. Er variiert und verändert das christliche
Ritual der Krankensalbung, so dass es auch für Menschen „...die kein kirchlich-

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konfessionelles Ritual-Verständnis haben...“ (Josef Brombach) annehmbar ist. Dieses kleine
Ritual würde auch aus buddhistischer Sicht dazu beitragen, die Tore der äußeren
Sinneswahrnehmung zu verschließen und dem Sterbenden oder Verstorbenen helfen, den
Blick nach innen zu richten, in das innere Licht hinein. Aus buddhistischer Sicht ist der
Rückzug der Sinne von der Außenwelt eine gute Voraussetzung für die Vorbereitung auf die
Reise des Geistes aus dem Körper, da die Aufmerksamkeit jetzt nicht mehr abgelenkt werden
kann von den Ereignissen der äußeren Welt.
Hier das Ritual, das Josef Brombach beschreibt (2002):
Der Ritualleiter salbt mit seinen Händen nach einer feierlichen Begrüßung und Einstimmung,
der um das Bett Versammelten, die Sinnestore in etwa mit folgenden Worten:

„Bei der Salbung der Stirn: wird dem Kranken die Kraft gewünscht (erbeten), von allen
lästigen, störenden mentalen Verhaftungen und vom Gestrüpp verwirrender blockierender
Gedanken und Grübeleien frei zu werden, damit er durch die Leere des Denkens und des
Geistes in einem neuen Bewusstsein leer und offen wird für seine neue Zukunft.
Nicht nur nach buddhistischen, sondern auch nach christlichem Verständnis und in dem
meisten psychologischen und anthropologischen Verstehensweisen menschlicher Existenz hat
jegliches Leid seine Ursachen in einem unerlösten, gefangenen Geist. Die Salbung der Stirn
möge dem Empfänger helfen zur Öffnung und Erweiterung des Bewusstseins und zum
Erkennen der tieferen Bedeutung seiner Krankheit und seines Sterbens, seiner menschlichen
Existenz, zum tieferen Verständnis seines jetzigen und künftigen Sinn- und
Lebenszusammenhangs.
Bei der Salbung der Augen wird Zuspruch für die Fähigkeit erteilt, alles aus dem Blick fahren
zu lassen, was die Einsicht blockiert, in den Sinn von Lebensveränderung im Ertragen der
Krankheit.
Bei der Salbung der Ohren wird Zuspruch erteilt für die Fähigkeit, die Ohren zu verschließen
vor „dem Lärm der Welt“ und mit dem inneren Ohr lauschen zu können auf das, was für die
Zukunft danach neu angekündigt wird.
Die Salbung des Herzens ist begleitet von einem Gebetswort, in dem Sinne, dass der Kranke
frei werde von allen inneren Ängsten, von Enge und dem Gefühl, verlassen zu sein, damit sein
Herz weit werden kann und sich für die verstehende Liebe Gottes öffnet und damit es
Sehnsucht und Hoffnung auf das Kommende gewinnt.
Bei der Salbung der Hände beten wir um die Bereitschaft, alles loslassen zu können, alles,
was der Kranke an vermeintlichen Sicherheiten, an nunmehr unbrauchbarem Plunder nicht
mehr brauchen kann, auf dass er sich in seine leeren Hände hinein neu beschenken lassen
kann.
Bei der Salbung der Füße folgt ein Gebet um Festigkeit und Mut für den Aufbruch in das
„neue Land“, das uns von Christus verheißen worden ist, und ein Gebet um Standhaftigkeit,
in der bevorstehenden geistigen Entscheidungssituation bestehen zu können.
Diese Gebete werden individuell formuliert und sollen dem jeweiligen religiösen und
existentiellen Lebensverständnis des Kranken angemessen sein.“

Wer diese kleine Zeremonie in einen rituellen Ablauf einbetten will, für den können die oben
genannten Kriterien zur Durchführung eines Rituals hilfreich sein. Die in Würde vollzogene,
achtsam angeleitete und mitfühlende Gestaltung eines Abschieds ist Balsam für die Seelen der
Beteiligten.
Der Tod ist eine einprägsame Erfahrung. Alle Beteiligten dieser Zeremonie stehen mit auf der
Schwelle und werfen einen Blick in das Mysterium. Ein gelungenes Ritual öffnet die Herzen,
gibt Kraft und trägt in der Trauer. Wenn es dann noch gelingt, Trauerfeier und Beisetzung

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stimmig zu gestalten ebenso wie den Leichenschmaus, so ist schon viel Trauerarbeit geleistet
worden. Dankbarkeit und eine Atmosphäre des Aufgehobenseins im Leid, das Gefühl des
Verbundenseins umfangen die Hinterbliebenen, spenden Schutz. Der Verstorbene kann auf
der geistigen Ebene aufnehmen, was ihm geboten wird und Kraft für seine Reise schöpfen.
Ein solcher Abschied kann in unseren Einrichtungen oder Zuhause zelebriert werden oder
wenn ein Mensch im Krankenwagen stirbt oder symbolisch vollzogen werden, auch in
Abwesenheit des Verstorbenen.
Nach dem Ritual dient eine Zusammenkunft bei einer Tasse Tee dem Austausch. Die
Bewegung der Gefühle und des Geistes kann ausklingen. Dies könnte auch mit einem kleinen
Imbiss oder dem Reichen von Gebäck verbunden werden. Hierzu braucht man Helfer, die
alles vorbereiten.

Tipps
Um kleine Rituale schnell und situationsangemessen gestalten zu können, z.B. in einer
Seniorenresidenz, einem Krankenhaus, einem Hospiz bedarf es einiger Vorbereitung. Es
sollten an einem Platz, z.B. in einem Schrank, alle Utensilien, die gebraucht werden könnten,
gelagert werden, z. B. Teelichter, Teller für die Teelichter, Servietten, um sie zu halten, eine
kleine Textsammlung aus Gedichten, Liedern, spirituellen Texten, eine Auswahl von CDs
oder Audiotapes, Schmucktücher, Tücher zum Zudecken des Leichnams, Halbedelsteine und
Utensilien, eine Duftlampe mit Blütenölen oder ein Raumspray mit ätherischen Ölen, Vasen,
eine kleine Glocke, eine große Kerze, die vor dem Raum aufgestellt werden kann, um ihn zu
kennzeichnen. Wichtig ist die atmosphärische Gestaltung des Raums, in dem Abschied
genommen wird mit Kerzen, Blüten, Tüchern, Farben, Düften, all dem, was Leichtigkeit,
Frieden schafft und im gegebenen Rahmen möglich ist.
Im Team könnte eine Vorlage für einen groben Ablaufplan für ein Abschiedsritual erarbeitet
werden, der variiert werden kann, angepasst an die Bedürfnisse von Klienten, Angehörigen
und Personal. Es gilt, dass die aus dem Team, die dem Sterbenden und Verstorbenen am
nächsten stehen, die Zeremonie anleiten sollten, wenn es keine spezielle Person gibt, die diese
Aufgabe übernimmt wie der Seelsorger vor Ort oder eine Psychologin. Der
Ritualleiter/Zeremonienmeister sollte einen guten Kontakt zum Sterbenden haben, von diesem
angenommen werden. Dazu sollte der Ablauf auch dem Naturell des Ritualleiters entsprechen.
Die Ritualleiter/Zeremonienmeister koordinieren die Vorbereitungen, von der Einladung über
die Raumgestaltung, die Ablaufplanung und das Treffen danach, begrüßen und verabschieden
die Gäste und haben die Begegnung in diesem geheiligten Raum als Prozess im Auge, in dem
jeder Teilnehmer geachtet, respektiert wird. Sie beantworten Fragen und klären über das
Geschehen auf, helfen so Unsicherheiten und Schwellenängste zu überwinden. Im
Wesentlichen halten die Zeremonienmeister die Energien, das Kraftfeld mit Mitgefühl und
Achtsamkeit, führen durch den Prozess des Abschiednehmens.
So ist es möglich, kleine Abschiedsriten in jedem Rahmen zu gestalten. Wir gewinnen
dadurch wieder die Wertschätzung für die Würde der Augenblicke vor, auf oder hinter der
Schwelle zum Lebensübergang. Auf diese Weise kann ganz praktisch ein Beitrag zu einer
neuen Kultur des Abschiednehmens geleistet werden.

Meditationsanleitung – Inne Halten


Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Interesse. Lassen Sie uns nun für einige
Minuten still sitzen. Ich werde eine Meditationsanleitung sprechen, in der wir den zerstreuten
Geist, der sich gerne in allerlei Gedanken verliert, nach Hause holen können.
Bitte sitzen Sie aufrecht, mit geradem Rücken, die Hände entspannt auf Oberschenkeln oder
Knien, den Kopf gerade, das Kinn ein wenig zum Brustbein geneigt, den Mund leicht

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geöffnet, die Zunge am Gaumen, hinter den Schneidezähnen. Sitzen Sie aufrecht und
entspannt, ohne Anstrengung. Richten Sie jetzt Ihre Aufmerksamkeit sanft auf Ihren Atem.
Lassen Sie den Atem kommen und gehen, ohne ihn zu beeinflussen.
Wenn Ablenkungen kommen, kommen Sie zurück zum Atem.
Lassen Sie Gedanken und Gefühle vorbeiziehen wie die Wolken am Himmel und verbinden
Sie sich mit der offenen Weite, dem Strahlen des himmelsgleichen Raumes, der hinter den
Wolken liegt. Ein Raum ohne Wertung, ohne Greifen, in dem Sie inne halten können, die
Dinge sein lassen können.
Wenn Ablenkungen kommen, richten Sie die Aufmerksamkeit auf den Atem. Dann verbinden
Sie sich mit dem himmelsgleichen Raum, in dem ihr Herz weit und offen werden kann.
(Stille, Wiederholung der Anleitung)

Überleitung zum Kerzenritual


Öffnen Sie die Augen. Nehmen Sie die Kerze, die vor Ihnen auf dem Stuhl auf der gelben
Serviette liegt in die Handfläche mit der Serviette darunter. Bleiben Sie in Stille und
Achtsamkeit und entzünden Sie in Schweigen das Licht. Jetzt blicken Sie in Kerzenflamme
und hören Sie mir zu, wenn ich den folgenden Text vorlese:

Ansprache einer Kerze


Ihr habt mich angezündet und schaut – ein wenig nachdenklich oder versonnen – in mein
Licht. Vielleicht freut ihr euch auch ein bisschen dabei. Ich jedenfalls bin beglückt darüber,
dass ich brenne. Wenn ihr mich nicht angezündet hättet, dann läge ich jetzt in einer Schachtel
herum, mit vielen anderen Kerzen, die auch nicht brennen. Wenn ich in einem Karton liege,
habe ich keinen Sinn. Einen Sinn habe ich nur, wenn ich brenne.
Und jetzt brenne ich. Aber seit ihr mich entzündet habt, bin ich schon ein bisschen kürzer
geworden. Das ist schade. Ich kann mir jetzt schon ausrechnen, wann ich so kurz sein werde,
dass nur noch ein kleines Stümpfchen von mir übrig ist. Schließlich werde ich ganz
verlöschen.
Es ist nämlich so: Für mich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich bleibe ganz und
unversehrt im Karton, dann werde ich nicht kürzer und ich habe keine Aufgabe. Ich weiß dann
nicht, was ich eigentlich auf dieser Welt soll. Oder ich gebe Licht und Wärme, dann weiß ich,
wofür ich da bin. Wenn ich für dich leuchte, dann muss ich etwas von mir geben. Ich gebe
mich selbst. Das ist viel schöner als kalt und sinnlos in einer Schachtel herumzuliegen.
So ist das auch bei euch Menschen – genau so.
Entweder du bleibst ganz für dich – dann passiert dir auch nichts. Du weißt dann auch nicht
so recht, welchen Sinn dein Leben hat. Du weißt dann nicht, warum du eigentlich hier bist.
Dann bist du wie eine Kerze im Karton. Oder aber du spendest Licht und Wärme. Dann hast
du einen Sinn.
Dann freuen sich andere Menschen, dass es dich gibt. Dann bist du nicht vergebens da. Aber
dafür musst du etwas geben, etwas von dir selber, von allem, was in dir lebendig ist: von
deiner Freude, deiner Herzlichkeit, deiner Treue, deinem Lachen, deiner Traurigkeit, deinen
Ängsten, deinen Sehnsüchten, von allem, was in dir ist. Du brauchst keine Angst zu haben,
wenn du dabei ein wenig kürzer wirst. Das ist nur äußerlich. Innerlich wirst du dadurch viel
heller.
Denke ruhig daran, wenn du eine brennende Kerze siehst, denn solch eine Kerze bist du
selber.
Ich bin nur eine kleine, einzelne Kerze. Wenn ich allein brenne, ist mein Licht nicht groß, und
die Wärme, die ich gebe, ist gering. Ich allein, das ist nicht viel. Aber mit anderen zusammen
wird unser Licht groß und strahlend. Und die Wärme, die wir geben, ist kraftvoll und heilsam.

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Bei euch Menschen ist das genauso. Einzeln ist euer Licht nicht so gewaltig und die Wärme
ist klein. Aber zusammen mit anderen, spendet ihr viel Licht und große Wärme. Und das ist
ansteckend.

Dieser Text ist mir sehr hilfreich gewesen in Zeremonien. Er ist in seiner Schlichtheit schön
und voller Weisheit und stammt von einer anonymen Verfasserin.
Das, was wir eben praktiziert haben, ist der Anfang eines kleinen Rituals, das fortgeführt
werden könnte mit einigen Worten zum Verstorbenen oder der Ermunterung der Angehörigen,
das, was Ihnen auf dem Herzen liegt, auszusprechen. Ein Lied gesungen, auf einem
Instrument gespielt oder als CD oder Audiotape eingeblendet, kann das Geschehen abrunden.
Nach abschließenden Worten oder einem Gebet stellen wir die Lichter auf einen Teller, lassen
sie ausbrennen oder löschen sie und verlassen dann in Stille den Raum.
Ich spreche zum Abschied meist folgendes Gebet, das in meiner buddhistischen Tradition als
Widmung gedacht ist. Unermessliche Liebe, unermessliches Mitgefühl, unermessliche Freude,
entspringend aus einem in unermesslicher Gelassenheit ruhenden Geist, sollen darin zum
Wohle aller fühlenden Wesen inspiriert werden. Diese vier Grundwerte sind das Herz von
Bodhicitta, das Herz des erleuchteten Geistes. Vielleicht werden auch sie diese Zeilen
erfreuen.

Widmung

Mögen alle Wesen Glück erfahren und die Ursachen von Glück.
Mögen alle frei sein von Leid und den Ursachen von Leid.
Mögen alle niemals getrennt sein von der großen Glückseligkeit, die frei ist von Leid.
Mögen alle in Gleichmut verweilen, frei von Leidenschaft, Aggression und Vorurteil.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Interesse, die Möglichkeit, meine
Erkenntnisse mit Ihnen teilen zu dürfen und wünsche mir, dass Sie die ein oder andere
Anregung für sich haben herausnehmen können. Nehmen sie die Kerze mit der Serviette mit
nach Hause und entzünden Sie diese im Gedenken an einen lieben Menschen.

Lisa Freund: Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript; Ökumenischer Kirchentag, Emmaus-Gemeinde Berlin,


30.5.2003

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Wie gehen Buddhisten mit dem Tod um?
Geshe Tenpa Choepel (Interview)

Wie trauern Buddhisten, die wissen, dass jedes Lebewesen im Daseinskreislauf immer wieder Geburt und Tod
erlebt? Was ist die beste Hilfe für Sterbende? Welche Möglichkeiten der Bestattung gibt es und was sind
Reliquien? Geshe Tenpa Choephel beantwortet einfühlsam und vom Standpunkt seiner Tradition wichtige Fragen
zum Thema Tod und Trauer.

Der Buddha lehrte vor 2500 Jahren, dass seit anfangsloser Zeit alle fühlenden Wesen durch
Geburt und Tod gehen und es lange Zeit braucht, um die Befreiung aus diesem Kreislauf des
Leidens zu finden. Obwohl wir das wissen, empfinden wir Tod und Verlust eines nahen
Menschen als äußerst schmerzvolle Erfahrung. Wie gehen Buddhisten mit dieser Lebensphase
um, im Wissen um die Vergänglichkeit einerseits, dennoch in Trauer und Schmerz
andererseits?

Es ist ganz natürlich, Trauer zu empfinden, auch als Buddhisten sollten wir uns nicht dagegen
stellen. Dabei sollten wir soviel praktizieren wie möglich. Auch das Meditieren der Zwölf
Glieder des Abhängigen Entstehens wird uns helfen, uns an Tod und Vergänglichkeit zu
gewöhnen. Wenn wir in der Lage sind, so gut wie möglich zu praktizieren, werden wir mit der
Zeit eine stabile Sichtweise erlangen, die uns davor schützt, hilflos unseren Gefühlen
ausgeliefert zu sein. Im Zusammenleben mit den Menschen, die wir lieben, die uns nahe
stehen, sollten wir liebevoll und mitfühlend sein und ihnen nur positiv gegenüberstehen. Dann
haben wir uns später nichts vorzuwerfen und wissen, dass wir unser Bestes in diese Beziehung
gegeben haben. Angesichts eines bevorstehenden Todes ist es sehr wichtig, dem Sterbenden
eine möglichst friedvolle Umgebung zu schaffen, zu den Drei Juwelen zu beten und starke
gute Wünsche auszusprechen für alle Wesen, die im Samsara gefangen sind.
Schüler und Dharmafreunde von Geshe Thubten Ngawang sollten voller Dankbarkeit denken:
„Er war mein guter Lehrer, mein Wurzellama, mein treuer Begleiter“. Natürlich wird man
auch Trauer empfinden, das ist normal. Aber wir sollten diese Trauer als Motor für etwas
Konstruktives nehmen. Wir können uns an seinem Lebenswerk freuen und uns immer wieder
daran erinnern, welche wertvollen Möglichkeiten er für seine Schüler geschaffen hat. Anstatt
uns in Trauer zu verlieren, sollten wir in seinem Sinne Dharmapraxis üben und das, was wir
von ihm gelernt haben, in Freude zum Wohle der anderen Wesen anwenden. Es gibt ein
tibetisches Sprichwort: „Wenn es kein Leiden gibt, gibt es keinen Mut und keinen Fleiß.“
Genau das sollten wir erinnern, auch dass wir die Leiden des Daseinskreislaufes immer wieder
als Kraftquelle verwenden. Dann entwickeln wir eine möglichst reine Sichtweise, aus der
positive, heilsame Handlungen entstehen können.
Liebe, Zuwendung und Achtsamkeit sind wichtige Dharmakräfte, die ganz besonders auch für
die friedliche Begleitung eines Sterbenden gelten. Gibt es hierbei Unterschiede, z.B. für einen
praktizierenden Buddhisten oder einen Laienschüler, der weniger fortgeschritten ist?
Da gibt es natürlich Unterschiede. Wenn es sich z.B. um einen hoch verwirklichten
Praktizierenden wie Geshe Thubten Ngawang handelt, ist es überhaupt nicht angebracht, dass
man ihm sozusagen zwecks psychischer Stabilisierung geistige Hilfe zur Verfügung stellt.
Obwohl sein Körper sehr krank war, konnte er seinen stabilen, friedlichen Geisteszustand
aufrechterhalten. In einer solchen Situation ist es von großem Nutzen, dem Betroffenen alles,
was sein Körper zur Linderung braucht, anzubieten: Wärme, eine gute Heizung, Decken,
gutes Essen und Medizin. Jemand, der in seiner Praxis einen so hohen Geisteszustand erreicht

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hat, besitzt große Geduld im Ertragen von Leiden. Tsongkapa sagt, dass Leiden uns mehrere
Arten von Geduld lehrt. Wer eine höhere Stufe in der Praxis erreicht hat, wird das Leiden
freundlich annehmen, ohne geistig zu leiden.
Einem mehr weltlich orientierten Menschen, der nicht viel Gelegenheit zum Praktizieren
hatte, aber doch Hingabe für den Dharma zeigt, kann man sehr wohl auf dem Sterbebett
helfen. Das geschieht, indem wir in Liebe und Mitgefühl mit ihm über den Dharma reden,
ohne ihn unter Druck zu setzen oder gar zu sagen‚ du musst aber, bevor du stirbst, noch dies
oder jenes machen und so und so viele Mantras rezitieren. Wir sollten ihm Dharmathemen
nahebringen; sein Geist wird so daran gewöhnt, an den Dharma zu denken.
Man sollte vermeiden, mit einem sterbenden Menschen weltliche Gespräche zu führen. Er
könnte zum Beispiel auch Belehrungen des Dalai Lama oder anderer hoher Lamas anhören,
und wir könnten darüber mit ihm sprechen, wenn er dazu in der Lage ist.

Wenn er nicht mehr dem Gespräch folgen kann, wenn der Mensch im Koma liegt, oder wenn
sich die Elemente bereits aufzulösen beginnen, welche Möglichkeiten des Nahebringens sind
dann noch gegeben?

Wenn jemand im Koma liegt, kann man kein Gespräch mehr mit ihm führen, weil er vielleicht
nicht mehr hören kann; das wissen wir nicht so genau. Wir sollten ihm dennoch heilsame
Worte, etwa die Zufluchtnahme ins Ohr flüstern. Wir können auch in seiner Gegenwart Manis
(O mani padme hum) rezitieren; das Mantra der Grünen Tārā und des Medizinbuddhas sind
sehr hilfreich. Wir können auch in seinem Beisein Gebete oder Rituale für ihn machen, zum
Schutze für ihn und um ihn auf seinem Weg zu begleiten.

Gilt das für Mensch und Tier?

Tiere verstehen aufgrund ihrer mangelnden Intelligenz nichts vom Dharma. Allerdings ist es
hilfreich, sie vor ihrem Tode mit Mantras in Verbindung zu bringen. Selbst wenn sie dann das
erste Mal ein Mantra hören, wird es einen Samen in ihren Geistesstrom legen, und sie werden
später die Möglichkeit haben, sich in einer anderen Existenz daran zu erinnern. So heißt es in
den Schriften, dass Buddhas Worte durch Gewohnheit gute Samen setzen und Früchte tragen
werden. Seine Heiligkeit der Dalai Lama hatte in Frankreich nach einer Einweihung in
Buddha Akshobhya gesagt, dass es gut sei, wenn ein Mensch gestorben ist, das Dhāranï, ein
langes Mantra von Akshobhya, zu rezitieren und auf die Knochen des Verstorbenen zu
hauchen. Das ist eine sehr wirkungsvolle Methode, den Verstorbenen auf einen guten Weg zu
bringen.

In westlichen Ländern hat man als Hinterbliebener auf Grund der zurzeit geltenden
Bestattungsgesetze wenig Einfluss. Man erhält in der Regel nach der Einäscherung nicht die
Asche des Toten. Wie ist es in Tibet oder da wo Buddhisten leben? Werden dort diese Rituale
weiterhin ausgeübt?

Hier im Westen haben wir auf Grund der Gesetze nicht die Wahl. Wenn es nicht möglich ist,
die Leiche eines Verstorbenen noch einige Tage zu Hause zu behalten und entsprechende
Praxis zu machen, müssen wir das so hinnehmen. In Tibet gibt es alte buddhistische Sitten.
Wenn der Verstorbene z.B. eine Infektionskrankheit hatte, war es üblich, seinen Leichnam zu
vergraben. War das nicht so, wurde der Leichnam auf eine Bergspitze oder in ein einsames
Tal gebracht und dort den Geiern überlassen. Beim Tode eines hohen Lamas wurde der
Körper verbrannt. Das ist auch heute noch so. Aus den Knochenresten und anderen Teilen, die

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nach der Verbrennung übrig bleiben, werden kleine Figuren geformt oder sie werden als
Reliquien in einen Stupa gelegt und dort von den Betenden verehrt. Heutzutage beginnt sich
auch in Tibet der Brauch durchzusetzen, die Verstorbenen zu vergraben.

Darüber hinaus gibt es in allen Traditionslinien Regeln, über einen bestimmten Zeitraum
hinweg den Geist des Verstorbenen mit Gebeten zu begleiten.

Man setzt den Zeitraum von 49 Tagen nicht an, wenn es ein hoher Praktizierender war. Er
wird auch in Sitzposition seinen Körper verlassen, mit übergeschlagenen Beinen, und solange
in dieser Haltung gelassen, wie der Körper dies zulässt. Das kann eine Woche sein, zwei
Wochen, aber keine 49 Tage. Es ist dann kein Fehler, wenn man diesen Körper vor
Verstreichen der 49 Tage bestattet. Selten wird es möglich sein, einen Leichnam so lange
aufzubewahren. In jedem Fall werden während der Zeit Sterberiten ausgeführt.
Ist ein wenig oder kaum praktizierender Laie verstorben, bleibt der Körper etwa drei Tage
ungestört liegen, weil sich die Elemente in dieser Zeit auflösen. Auch das differiert zwischen
einem und drei Tagen. Die Schriften sagen, dass nach drei Tagen die Trennung der Elemente
vom Körper vollendet ist. Während dieser drei Tage, in denen sich die Elemente vom Körper
trennen, gibt es starke Veränderungen für den Sterbenden. Sein Bewusstsein macht große
innere Prozesse durch. Von außen können wir nur wenige Veränderungen wahrnehmen, z.B.
dass Blut aus der Nase austritt, wenn sich die Elemente gelöst haben oder dass sich Darm und
Blase entleeren. Dies zeigt den abgeschlossenen Trennungsprozess an.

Finden sich diese Zeichen ohne Unterscheidung zwischen einem hoch Verwirklichten und
einem einfachen Praktizierenden oder gar nicht Praktizierenden?

In der Tat kann es große Unterschiede geben. Einige Meister können einen so genannten
Regenbogenkörper annehmen und nichts außer Haaren oder Fingernägeln zurücklassen. S.H.
der Dalai Lama hat während einer Belehrung in Dharamsala von einem Nyingma-Kenpo
gesprochen, der engen Kontakt zu Geshe Rabten hatte und zu Kyabsche Pabongka Rinpoche.
Er hat nach seinem Tode nur Reste seines Haupthaares und einige Fingernägel hinterlassen.
Das Bett auf dem er gestorben war, wies nichts Weiteres mehr auf.

Welchen Nutzen haben Phänomene dieser Art für die Nachwelt? Werden vom Meister Zähne,
Nägel oder Haare zurückgelassen, um den Hinterbliebenen oder Dharma-Praktizierenden die
Vergänglichkeit vor Augen zu führen? Und die Abhängigkeit allen Entstehens? Welche
Bedeutung haben Reliquien in unserer heutigen Zeit?

Man kann das Zurücklassen von Reliquien unter mehreren Aspekten sehen. Allgemein ist es
ein Ergebnis sehr intensiver Meditiations- und Dharmapraxis. Das sollte für uns als
Aufforderung verstanden werden, größtmögliche Hingabe, Respekt und Vertrauen in den
Dharma zu entwickeln. Hat also jemand eine große Verwirklichung, hinterlässt er
entsprechende Zeichen. Es kann sein, dass er dies, allgemein gesagt, zum Nutzen der Wesen
tut.
Damit Reliquien nach der Verbrennung sichtbar werden können, muss die Verbrennung
langsam geschehen und von entsprechenden Ritualen begleitet sein. Die Holzscheite sollen
während einer längeren Zeremonie Stück um Stück in langsamer Folge angezündet werden.
Geschieht das voller Vertrauen, sind manchmal Reliquien zu finden: Knochen, manchmal
ganze Organe oder Ringsel (kleine pillenartige bunte Formen). Reliquien sind ein Mittel, uns
an Karma, also Ursache und Wirkung, zu erinnern. Dass wir den Dharma besonders intensiv

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praktizieren, Stufe für Stufe zum Nutzen aller Wesen. Dann werden wir selbst auch den
Nutzen daraus erhalten.

Immer wieder wird in den Texten betont, wie wichtig es ist, in einem ruhigen Geisteszustand
zu sterben. Kann man noch im Sterben negatives Karma ansammeln, wenn man zum Beispiel
in Furcht gerät oder in Anhaftung an das zu Ende gehende Leben?

Alles im Dharma, von der Zufluchtnahme bis zur Befreiung, basiert auf der Grundlage von
Ursache und Wirkung. Wenn wir sterben, können wir unseren Körper nicht mitnehmen. Das
Einzige, was hinübergeht, sind unsere positiven und negativen Handlungen. Während unseres
Lebens können wir uns an diese Zusammenhänge gewöhnen, damit wir sie im Zeitpunkt des
Todes geistesgegenwärtig haben. Diese kostbare Existenz sollten wir nutzen, weil wir im
Moment des Todes keine Freiheit mehr haben.
Auch im Tod sollten wir daran denken, Negatives aufzugeben und Positives zu tun. Im
Moment des Sterbens tritt das Leiden geballt auf. Wenn wir da unvorbereitet hineingehen,
werden wir kaum in der Lage sein, unseren Geist bewusst zu halten, sondern von großem
Leiden überwältigt in Dunkelheit fallen. Hat ein Mensch eine stabile Dharmapraxis in seinem
Leben ausgeführt, wird er im Moment des Todes über einen klareren Bewusstseinszustand
verfügen als einer, der erst im Moment des Todes an den Dharma denkt.
Wir können uns jeden Tag fragen: „Habe ich heute gut praktiziert?“, und uns prüfen. Alle
Heiligen sagen, dass wir unsere eigenen Rechnungsprüfer sind. Wir brauchen nicht erst den
Tod, der uns prüft. Wir können selbst erkennen, ob wir unsere Praxis gut und mit Hingabe
vollziehen oder nicht. Letztlich müssen wir uns unserer Selbstverantwortung bewusst sein.
Der Buddha ist den Weg der Befreiung gegangen, um uns diesen Weg zu zeigen. Wenn unser
Körper verwirkt ist, wenn wir ihn an samsarische Dinge verschwendet und nicht zur
spirituellen Entwicklung genutzt haben, ist er unweigerlich verloren, und wir werden in
Zukunft schwer eine neue Möglichkeit haben. Also erinnern wir uns in jeder Sekunde,
Minute, Stunde, Heilsames zu tun, Mitgefühl zu entwickeln, liebevoll zu sein, zu meditieren,
Praxis zu machen. Wir müssen es selbst tun, um voranzukommen. Nur so entwickeln wir uns
weiter.

Geshe Tenpa Choepel (Interview): Wie gehen Buddhisten mit dem Tod um? In: Tibet und Buddhismus Nr.
4/2003; aus dem Tibetischen übersetzt von Deniz Yildirim. Das Gespräch führte Christine Rackuff.

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Buddhistische Sterbevorbereitung und Sterbebegleitung
Dean Krasomil

Sterben und Tod sind ein wichtiges Thema bei allen Rassen und Religionen. Wie die Lamas
oft sagten: „Unterschiedliche Glauben und Religionen sind lediglich verschiedene Wege zum
selben Ziel.“ Aber, wenn es um Tod und Sterben geht, können diese Unterschiede sehr
wichtig sein. Im Allgemeinen wird der Tod in der westlichen Tradition und Gesellschaft von
allen so gut es geht ignoriert. Sterbenden wird oft ausgewichen, auch in der eigenen Familie,
weil niemand weiß, was man sagen oder tun könnte. Viel zu oft wird ein trügerisches Theater
inszeniert, in dem medizinisches Personal, der Sterbende und seine Angehörigen die tragische
Komödie aufführen. „Nächste Woche wird es dir wieder besser gehen!“
Weshalb ist es so schwierig, sich mit Tod und Sterben auseinander zu setzen? Rationalismus
und Materialismus sind zwei wichtige Fundamente der westlichen Gesellschaft. „Fortschritt“
heißt unser Motto. Traurigerweise betrachten wir Tod und Sterben als etwas, das keinen
Fortschritt mit sich bringt, und verweisen diese Themen in den Bereich dessen, was wir uns
unter Leere vorstellen – durch einfaches Ignorieren im Sinne des Orwellschen „Nicht-
Denkens“.
Der Tod wird zu allen von uns kommen, und wenn der Prozess des Sterbens beginnt, werden
die meisten von uns Hilfe in irgendeiner Form brauchen können. Tod und Sterben können
gewinnbringend in einer materialistischen Gesellschaft sein – doch lediglich für diejenigen,
die die erforderlichen Dienste bereitstellen.
Im Westen ist eine wichtige Herangehensweise an das Thema Tod und Sterben die
Psychologie. Kurse dazu werden in den meisten westlichen Universitäten von den
psychologischen Fakultäten angeboten. Der Grund hierfür ist vermutlich, dass der
Geisteszustand eines Sterbenden nicht mehr als normal, sondern eher als pathologisch
eingestuft wird. Doch inwiefern verändert sich das Bewusstsein der meisten Sterbenden?
Vereinfacht könnte man sagen, dass Sterbende umso spiritueller werden, je näher sie dem Tod
kommen. Die Betrachtung des Lebens und der eigenen Person kippt und erfasst eine neue
Dimension. Charles Tart beobachtete: „Die herkömmliche westliche Psychologie hat die
spirituelle Seite der menschlichen Natur nur sehr dürftig erfasst, wobei sie ihre Existenz
entweder ignoriert oder als pathologisch brandmarkt. Doch viel des Elends unserer Zeit
entstammt einem spirituellen Vakuum. Unsere Kultur und unsere Psychologie haben die
spirituelle Natur des Menschen nicht berücksichtigt. Doch die Kosten dieser versuchten
Verdrängung sind enorm. Wenn wir uns selbst, unsere spirituelle Seite finden wollen,
kommen wir nicht umhin, die Psychologien anzuschauen, die sich damit beschäftigt haben.“
Im letzten Satz bezieht sich Tart auf die Psychologien des Ostens. Als einer der großen
Erforscher von veränderten Bewusstseinszuständen veröffentlichte Charles Tart eine Reihe
psychologischer Theorien des Ostens in seinem bahnbrechenden Buch „Transpersonal
Psychologies“. Uns interessiert in diesem Zusammenhang die buddhistische Haltung
gegenüber Tod und Sterben.
Kaum jemand wird in Frage stellen, dass große Teile des Buddhismus am besten mit Hilfe
westlich-psychologischer Terminologien verstanden werden können. Die westliche und
buddhistische Betrachtungsweise unterscheiden sich insofern nicht, als Tod und Sterben als
psychologischer Prozess aufgefasst werden. Der große Unterschied liegt jedoch darin, dass die
westliche Psychologie Tod und Sterben als etwas Krankhaftes behandelt, während
Buddhismus den Sterbeprozess als die größte Möglichkeit im Leben betrachtet, Befreiung zu
erlangen. Der Hauptunterschied liegt darin, wie sich westliche Sichtweise und Buddhismus

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dem Thema nähern. Es stellt sich natürlich die Frage, weshalb der Westen veränderte
Bewusstseinszustände, das heißt veränderte spirituelle Obertöne, während des Sterbens als
krankhaft einstuft. Einen interessanten Gesichtspunkt dazu lieferte Daniel Golemann: „Unsere
normsetzende kulturelle Realität ist staatsbedingt. Insoweit wie ‘Realität’ mehrheitlich
bestätigt ist, wenn auch willkürlich, einvernommen, kann ein veränderter
Bewusstseinszustand einen antisozialen, unbeherrschten Daseinszustand darstellen.“ Nach
Ramanujan bildet ein verändertes Bewusstsein einen Verstoß gegen unausgesprochene
kulturelle Übereinkünfte und wird so zur „Demaskierung des vom Menschen Geschaffenen.
Es verletzt gemeinhin erwartete Loyalität und verursacht einen Zusammenbruch des
Vorhersagbaren und Sicheren.“ Auf diese Unvorhersagbarkeit gründete die öffentliche
Haltung zur zwangsweisen Hospitalisierung von Psychotikern. Da veränderte
Bewusstseinszustände die soziale Ordnung auf dieselbe Weise umstoßen könnten, kann es
sein, dass eben diese Angst vor dem Unvorhersagbaren als eine Haupttriebkraft in unserer
Kultur wirkt, die Mittel zur Induktion veränderter Bewusstseinszustände - wie Psychodelica
zum Beispiel oder allgemeiner auch Meditation - misstrauisch zu betrachten und zu
unterdrücken.“
Wenn Golemann recht hat, betrachtet die westliche Perspektive - so erstaunlich dies auch sein
mag – die veränderte Spiritualität eines sterbenden Menschen als eine Bedrohung der
etablierten Ordnung. Nach westlich-psychologischer Terminologie ist sie pathologisch. Welch
ein Unterschied der Standpunkte! Zum Glück verändert sich diese westliche Haltung
allmählich. Wenn wir so die westliche und buddhistische Haltung zu diesem Thema
vergleichen, finden wir einen wesentlichen Unterschied bei der Sterbevorbereitung und
Sterbebegleitung. Obwohl eine Analyse der buddhistischen psychologischen Grundlagen
eigentlich zu diesem Thema gehörte, würde sie hier den Rahmen sprengen. Hier wird es mehr
darum gehen, wie ein durchschnittlich praktizierender Buddhist sich auf den Tod vorbereiten
und Sterbenden helfen kann.
Lassen sie uns ehrlich sein! Wie viele von uns praktizierenden Buddhisten können wirklich
mit Tod und Sterben umgehen? Wie würden Sie reagieren, wenn ein Ihnen sehr nahestehender
Mensch plötzlich oder nach kurzer Krankheit stürbe? Oder wenn ein Arzt Ihnen plötzlich
mitteilte, dass Sie nur noch zwei Wochen zu leben hätten? Würde die Schockwelle alles
davon waschen, was Sie im Buddhismus gelernt haben? Sind Dharma und Ihr Leben ein und
dasselbe, oder ist es etwas, das Sie tun, wenn Sie die Zeit dazu haben? Dies wäre der Moment
der Wahrheit für einen Dharma-Praktizierenden. Haben sie schon einmal versucht, einem
sterbenden Freund oder Verwandten zu helfen und dabei festgestellt, wie wenig Sie
tatsächlich helfen können?
Der Versuch, das Totenbuch der Tibeter einem sterbenden Nicht-Buddhisten vorzulesen, wird
nichts bringen. Er würde sogar eher schaden als nützen. Sterben ist oft sehr kurz. Wie würden
Sie in einer solch kurzen Zeit bei einer sterbenden Mutter oder einem Vater reagieren?
Vermutlich würden Sie Gefühle der Unzulänglichkeit überwältigen. Genau bei solch einer
Gelegenheit ist es sehr wichtig, sich sicher zu fühlen und zu wissen, was zu tun ist, wie man
Dharma in Praxis übersetzt, sei es Dharma-Schwestern und Brüdern oder auch Nicht-
Buddhisten gegenüber. Zu diesem Zeitpunkt kommt es wirklich nicht darauf an, ob und
welche Religion der sterbende Mensch hat. Das Wichtige ist Ihre Erkenntnis und Ihr
Verständnis der Vergänglichkeit.
Im Grund tauchen hier zwei Themen auf: Die buddhistische Vorbereitung auf den Tod zum
einen und Sterbebegleitung aus der Dharma-Perspektive zum anderen. Ist ein Buddhist auf
den Tod vorbereitet, kann er anderen helfen, die sterben. Wenn Sie denken, sie seien auf den
Tod vorbereitet, wie würden Sie reagieren, wenn Sie dem ersten Sterbenden helfen wollten?
Es ist gut möglich, dass Sie selbst sehr schnell zum Lernenden würden und der Sterbende zum

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Lehrer. Es verändert sich niemals wirklich - es gibt nur Variationen zum selben Thema.
Bescheidenheit im Angesicht des Todes ist die einzig realistische Haltung.

Buddhistische Vorbereitung auf den Tod


Als Modell schlage ich folgende Bedingungen als Anhaltspunkte vor:
1. Zuflucht genommen zu haben;
2. Einweihung für Dorje Sempa, Tschenrezig, Phowa und Amitabha;
3. Mindestens drei Jahre Dharma-Praxis;
4. Mindestens drei Jahre Meditations-Erfahrung.
Ich betrachte diese vier Punkte als bloßes Minimum für einen Buddhisten, der sich bewusst
auf den Tod vorbereiten möchte. Doch wie bei allem, gibt es Ausnahmen. Wie oben gesagt,
sind dies Anhaltspunkte. Aus meiner eigenen Erfahrung würde ich sogar sagen, dass ich mich
nach dreijähriger Dharma-Praxis und Meditationserfahrung nicht richtig auf den Tod
vorbereitet fühlte. Zufluchtnehmen ist wie das Öffnen einer Tür und das Eintreten. Die
Einweihungen, Dharma-Praxis und Meditation sind die drei Säulen für das Wachstum. Sie
gehören alle zusammen. Bei Einweihungen geschieht etwas sehr Subtiles. Manchmal ist es
wie eine Explosion, manchmal breitet es sich in einem wie ein warmes Gefühl aus. Oft weiß
man nicht genau, was geschieht, aber normalerweise geht es mit einem Gefühl großer
Seligkeit einher. Für einen Menschen aus dem Westen ist es oft schwierig zu verstehen, was
es bedeutet, wenn eine tantrische Gottheit implantiert wird. Einweihungen können einen
„high“ werden lassen. Doch dann kommen die beiden Arbeitspferde Dharma-Praxis und
Meditation. Beide können mitunter schwierig, anstrengend und vielleicht langweilig werden.
Aber sie sind wirklich notwendig. Ohne sie kommt man nirgendwo hin. Aus traditioneller
Sicht kann man das verstehen als Hören (Einweihungen), Kontemplation (Dharma-Praxis)
und Meditation.
Von dieser Grundlage ausgehend wäre der nächste Schritt, die Voraussetzungen zu erweitern.
Dorje Sempa, Tschenrezig und Amitabha sollten mindestens zweimal täglich praktiziert
werden; Phowa mindestens einmal im Monat und Meditation mindestens zweimal täglich.
Dies mag für jemanden mit einem Acht-Stunden-Tag und eigenem Haushalt recht zeitraubend
sein. Es ist ein Vorschlag; jeder Mensch muss seine Zeit selbst einteilen. Gleichzeitig wäre es
gut, mehr der verfügbaren Literatur über Tod und Sterben zu lesen. Die Dharma-Praxis wird
das Verständnis dessen, was Sie gelesen haben, vertiefen – vielleicht nicht so sehr
intellektuell, sondern intuitiv, was aus den Einweihungen und der Praxis resultiert. Allmählich
werden Sie das Gefühl bekommen, dass Sie anfangen zu verstehen, um was es eigentlich geht
– und dann sind Sie sich wieder überhaupt nicht sicher. Es ist ein bisschen illusorisch.
Vielleicht haben Sie das Gefühl, Ihre tantrischen Gottheiten sind ein bisschen schüchtern, aber
dennoch im Hintergrund da, um Ihnen zu helfen. Und am wichtigsten dabei ist, dass Sie
meditieren.
Meditation ist die Methode, mit der Sie letztlich tiefer gehen, so dass die Frucht reift. Ich kann
nicht genug betonen, wie wichtig Meditation ist, um zu beginnen, etwas über den Prozess des
Todes zu verstehen. Aber natürlich reicht Meditation alleine nicht aus. Wie bereits gesagt,
gehören alle drei Bausteine – Einweihungen, Dharma-Praxis und Meditation – in einer Einheit
zusammen, wenn die Realisation erreicht werden soll. In der Meditation werden Sie
veränderte Bewusstseinszustände erfahren. Dabei werden Sie beginnen, die Endlosigkeit des
Geistes zu verstehen, der eine Phase und dann eine weitere wahrnimmt. Der Ausdruck
„Phase“ ist ebenso wie jeder andere unzureichend, um das, was durchscheint, zu beschreiben.
Ich habe gefunden, dass Symbole dem Erfahrenen eher nahe kommen, doch dies ist ein Thema
für sich. Wenn sie die Natur des Geistes in der Meditation erfahren, werden Sie verstehen
oder fühlen, dass Sie (das heißt Ihr Geist) nicht Ihr Körper sind. Wenn Sie dies bemerkt

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haben, ist der erste wichtige Schritt auf dem Weg der Sterbevorbereitung und der
Sterbebegleitung vollzogen. Ich habe dies in wenigen kurzen Worten beschrieben, doch die
Anstrengung, die es erfordert, dieses Ziel zu erreichen, ist enorm.

Sterbebegleitung
Dieser Teil setzt voraus, dass es sich bei dem Sterbebegleiter um einen Buddhisten handelt,
der zumindest obige Voraussetzungen erfüllt und weiter praktiziert. Da die Sterbebegleitung
für Buddhisten und Nicht-Buddhisten zu Beginn des Sterbeprozesses in wichtigen Punkten
verschieden ist, ergibt sich folgende Aufteilung:
Sterbende Buddhisten
Je nach Reife der Praxis und Erfahrung des sterbenden Menschen ergeben sich eine Anzahl
von Variationen. Eine kurze Dorje Sempa Praxis ist am Anfang hilfreich. Danach sollte eine
kurze Erörterung der Vier Edlen Wahrheiten mit dem Schwerpunkt auf „Loslassen“ erfolgen.
Vielleicht wäre danach ein Gespräch über die Vergänglichkeit aller Dinge und die Geschichte
von Buddha und der jungen Mutter, deren Kind gerade gestorben war, nützlich. Es ist
möglich, dass sich dies erübrigt, wenn der sterbende Dharma-Freund die Erkenntnis bereits
erreicht hat. Vielleicht erweist sich Schmerz als ein großer Störfaktor. In diesem Fall können
Achtsamkeitsmeditation und Visualisations-Praxis helfen. Das Feld ist zu weit, um an diesem
Punkt auf etwas zu bestehen. Man muss nach dem Gefühl gehen. Wenn Ihre Praxis gut ist,
können Sie flexibel sein. Ein Gespräch über die Berichte von Nah-Tod-Erfahrungen und das
Totenbuch der Tibeter ist wichtig. Das erste Bardo des Sterbens sollte mehrmals im Detail
durchgegangen und auf Meditationserfahrungen bezogen werden. Besonders sollten
auftretende körperliche Veränderungen beobachtet werden, so dass man mit Hilfe des
Totenbuches der Tibeter weiß, in welchem Stadium Körper und Geist sind. Hat der Dharma-
Freund einen Lehrer, so sollte er oder sie versuchen, den eigenen Geist in dem des Lehrers
ruhen zu lassen. Kommt der Tod näher und wird der Sterbende schwächer, bewegt man sich
auf eine andere Ebene. Vielleicht hören Sie auf zu sprechen und singen nur noch ruhig die
Mantras des Dorje Sempa, Tschenrezig und Amitabha oder seines persönlichen Yidams.
Wenn der Dharma-Freund stirbt, gibt es drei mögliche Wege zu handeln:
1. Ist er ein realisiertes, erleuchtetes Wesen, kennt sein Geist den Weg; lassen Sie ihn alleine
gehen.
2. Hat er eine Phowa-Initiation, führen Sie die nötigen Prozeduren, wie im Text beschrieben,
durch.
3. Gehört er zu keiner der beiden obigen Gruppen, fassen Sie kurz die Instruktionen aus dem
Totenbuch zusammen und führen Sie für ihn eine Phowa-Praxis durch. Es erübrigt sich zu
sagen, dass diese Dinge am besten von einem Lama durchgeführt werden. Bedenkt man
jedoch, wie wenige Lamas zur Verfügung stehen, können Sie als praktizierender Laie
aufgerufen sein, einem sterbenden Dharma-Freund zu helfen. Die Rolle eines
verantwortlichen Laienpraktizierenden ist in der Karma-Kagyu-Tradition wohl festgelegt.
Sterbende Nicht-Buddhisten
Da diese Menschen von unterschiedlichen Glaubenssystemen kommen, können nur
allgemeine Hinweise zur Hilfe gegeben werden. Unabhängig davon, ob Sie eine enge
Beziehung zum Sterbenden haben oder nicht, müssen Sie offen sein und sich von ihm
Hinweise geben lassen, welche Gedanken ihn beschäftigen. Versuchen Sie, einen Punkt
aufzugreifen und ihn als Modell zu benutzen, mit dem Sie ihm helfen loszulassen. Vielleicht
möchte er einfach mit jemandem über seine Ängste reden, sein mangelndes Wissen über das,
was vor ihm liegt, oder über unerledigte Geschäfte, die ihn noch belasten. Viele Sterbende
scheinen nicht zu erfassen, dass alle irdischen Angelegenheiten in Kürze für sie von keinerlei
Bedeutung mehr sein werden. Andere gehen weise und ohne jeden Gedanken an die Illusion,

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die sie gerade hinter sich gelassen haben. Es ist schwierig für die, die einfach nicht loslassen
und ihre Situation nicht akzeptieren können. Die Liste der Möglichkeiten ist nahezu
unendlich. Das Beste für Sie ist zuzuhören und wenn nötig zu antworten. Versuchen Sie nicht
zu führen, außer wenn der Sterbende dies will. Oft ist es gut, einfach nur da zu sein, ohne
etwas zu sagen. Manchmal hilft es, die Hand des sterbenden Menschen zu halten. Stilles
Singen des Tschenrezig-Mantras hilft dem anderen oft, sich zu entspannen. Praktizieren Sie
jedoch vor allem innere Einfühlsamkeit.
Es ist schwer, mehr als allgemeine Hinweise zur Sterbebegleitung zu geben. Wenn Sie vorher
schon Kontakt- und Kommunikationsprobleme auf der menschlichen Ebene hatten, kann es
sein, dass Sie nicht helfen können. Andererseits kann es sein, dass sich Ihre Hemmungen
auflösen, wenn Sie bei einem Sterbenden sind, und vielleicht finden Sie heraus, dass Sie Liebe
und Mitgefühl geben können, ohne ein Wort zu sprechen. Liebe und Mitgefühl sind für die
Sterbebegleitung am wesentlichsten. Wenn Sie diese Eigenschaften nicht haben, stimmt etwas
mit ihrer Dharma-Praxis nicht. In einem solchen Fall ist es sehr notwendig, Bodhicitta zu
entwickeln, bevor Sie versuchen, sich selbst auf den Tod vorzubereiten oder Sterbenden zu
helfen.
Dieser Artikel wurde auf Anfrage hin von einem Menschen mit begrenzter Erfahrung, doch
mit viel gutem Willen, geschrieben. Ich spüre, dass ich von meinen beiden Wurzel-Lamas,
Kalu Rinpoche und Gendün Rinpoche, geleitet wurde. Alle Fehler jedoch sind von mir. Es ist
zu hoffen, dass dieser Artikel die Tür zu weiteren Beiträgen von Menschen mit mehr
Erfahrung und Erkenntnis öffnet.

Krasomil, Dean: Buddhistische Sterbevorbereitung und Sterbebegleitung, in: Dharma-Nektar, Nr. 2-3/1991, S.
33-36 (DBU)

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Mit dem Tod Freundschaft schließen
Judith Lief (Interview)

Der Tod ereignet sich mitten im Leben – tagtäglich. Acharya Judith Lief, lädt uns in dem folgenden Gespräch
dazu ein, uns dies bewusst zu machen. Als langjährige Sterbebegleiterin und Lehrerin hat sie vielfach erfahren,
dass die „kleinen Tode“ uns helfen können, uns auf den „großen Tod“ vorzubereiten und das Leben tiefer
schätzen zu lernen.

Wann haben Sie angefangen, sich mit dem Thema „Tod und Sterben“ zu beschäftigen?

Das war 1976, als mich Trungpa Rinpoche bat, am damaligen Naropa-Institut – heute Naropa-
Universität in Bolder, Colorado (USA) – einen Kurs zum „Tibetischen Totenbuch“ zu leiten.
Damit begann meine Lehrtätigkeit an Naropa. Ich habe dann über viele Jahre hinweg dort
sowie in buddhistischen Wochenendseminaren und Retreats im Rahmen des Shambhala-
Mandalas – und außerhalb – in Amerika und Europa gelehrt. Diese Wochenenden
interessierten nicht nur praktizierende Buddhisten, sondern eine breitere Öffentlichkeit, die
sich mit den im „Tibetischen Totenbuch“ beschriebenen Techniken und Erkenntnissen der
buddhistischen Tradition in Bezug auf Tod und Sterben auseinandersetzen wollte. Es war ja
das erste Buch, das Trungpa Rinpoche aus dem Tibetischen ins Englische übersetzte. Ich habe
bei der Übersetzung eng mit ihm zusammengearbeitet und später viele seiner Vorträge und
Bücher ediert.
Es kamen aber auch viele Menschen, die in Gesundheitsberufen arbeiteten oder in der
beginnenden Hospizbewegung aktiv waren. Und es kamen viele, die selbst sehr krank waren
oder sich mit dem Tod von ihnen Nahestehenden auseinandersetzen mussten. Ich begriff sehr
schnell, dass es nicht ausreichend war, mich nur mit der theoretischen Sichtweise von Tod
und Sterben zu beschäftigen, und fing deshalb an, ein – wie ich es nannte – „Kontemplatives
Konzept im Umgang mit Tod und Sterben“ zu entwickeln. Dr. Ed Podvoll1) und ich hielten
dann im Rahmen der „Kontemplativen Psychologie-Programme“ am Naropa-Institut Kurse
ab, die wir die „Psychologie von Geburt und Sterben“ nannten. Inhaltlich setzten wir uns in
den Seminaren mit Veränderungen und Übergängen auseinander und bezogen dabei
westliches und östliches Wissen ein.
Zu dieser Zeit lernte ich auch Florence Wald kennen, eine der Pionierinnen der
Hospizbewegung. Sie war sehr engagiert und hatte großes Interesse daran entwickelt,
Spiritualität in die Sterbebegleitung einzuführen. Wir lehrten zusammen an Naropa, und
Florence lud mich ein, an Konferenzen und Arbeitsgruppen zur „Palliativen Pflege“
teilzunehmen und mein Wissen dort weiterzugeben, was ich bis heute mache.
Obwohl ich in erster Linie buddhistische Lehrerin und Schriftstellerin bin, wurde ich in
diesem Bereich ziemlich aktiv, vor allem in der Arbeit mit Bezugspersonen von Sterbenden.
Dabei bin ich keine medizinische Fachkraft oder Hospizarbeiterin. Meine Beschäftigung mit
dem Sterben hat in erster Linie etwas mit mir als buddhistischer Lehrerin zu tun. Ich war bei
vielen buddhistischen Praktizierenden anwesend, die im Sterben lagen und mich gebeten
hatten, sie in ihrem Sterbeprozess zu begleiten. Oder Angehörige baten um Hilfe, auch
Nichtbuddhisten. Ich wurde gebeten, Beerdigungen zu leiten, und arbeitete irgendwie immer
in diesem Kontext weiter.

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Sie haben Ihre Erfahrungen in einem Buch mit dem Titel „Making Friends with Death“ – mit
dem Tod Freundschaft schließen – beschrieben. Was bedeutet es, sich mit dem Tod zu
verbünden?2)

Nun, der Titel wirkt auf manche Leute einschüchternd. Es geht wirklich darum, die
Unmittelbarkeit des Todes als einen Aspekt des täglichen Lebens schätzen zu lernen und die
Verbindung zwischen den vielen kleinen täglichen „Toden“, die wir ständig erleben –
beispielsweise den Verlust eines Bleistiftes, eines Jobs, einer Beziehung – und dem „großen
Tod“ von jemandem, den wir lieben, oder unseren eigenen Tod zu erkennen. Wenn es uns
gelingt, uns gegenüber den „kleinen Todesfällen“ zu öffnen, und wenn wir die Realität von
Vergänglichkeit und Übergang zu akzeptieren lernen, dann beginnen wir, unsere
Voreingenommenheiten loszulassen, und erweitern unsere Perspektive. Wenn wir dann dem
„großen Tod“ begegnen, können wir dies mit weniger Angst tun.

In Ihrem Buch sprechen Sie auch über Menschen und ihre Strategien der Hoffnung und ihre
Angst vor dem Tod. Menschen sehen ihn u.a. als großen Verlust oder als große Belohnung,
als das große Vergessen oder die große Ruhe. Gibt es da nicht auch Raum für Hoffnung,
wenn jemand stirbt?

Ich denke, es gibt Raum für Optimismus, aber Hoffnung ist oft nur die Kehrseite der Angst.
Wir neigen dazu, uns zwischen Hoffnung und Furcht zu bewegen. Einen Augenblick lang
glauben wir, dass sich jemand erholen wird, und im nächsten Augenblick, dass er oder sie
sterben wird. Es ist ein schmerzhaftes Hin und Her. Wir suchen nach Zeichen der Besserung
oder Verschlechterung. Aber anstatt zu versuchen, die „wahre Bedeutung“ welchen Zeichens
auch immer zu deuten, sollten wir uns aus buddhistischer Sicht bemühen, eine psychische und
emotionale Stabilität zu entwickeln.
Wenn die Hoffnung steigt, wird unser Geist dann nicht gleich euphorisch, und wenn Angst
entsteht, geht unser Geist nicht gleich in den Keller oder entwickelt Panik. Wir halten unsere
Balance. Wir lassen uns nicht von falschen Hoffnungen einlullen, wir schreiben Menschen
aber auch nicht einfach ab und denken etwa, es gebe für sie nichts, für das es sich zu leben
lohne. Wir schätzen, dass es in Ordnung ist, gesund zu sein, und dass es in Ordnung ist, krank
zu sein. Es ist okay zu leben und es ist okay zu sterben. Unabhängig davon, wie die Situation
ist, können wir mit dem sein, was ist.

Warum ist es so wichtig, ein Gewahrsein für unseren eigenen Tod zu entwickeln?

Jeder spricht über den Tod, wenn es um jemand anders geht, aber wir werden unruhig, wenn
es um uns selbst geht, wenn er uns nahe kommt. Es hilft nichts, wir müssen durch den
schmerzhaften Prozess des Verklebens mit unseren eigenen Reaktionen, unseren Ängsten,
Hoffnungen und Überzeugungen gehen, sodass unsere Vorstellung vom Tod nicht eine
konzeptionelle Idee in der Ferne bleibt. Wenn wir uns auf die Realität unseres eigenen Todes
beziehen, dann bricht die fixe Idee von „wir als gesund“ und „jemand anders als krank“
auseinander. Abgesehen davon, dass uns dies hilft, eine gesunde Beziehung zu unserem
eigenen Tod zu entwickeln, hilft es uns im Umgang mit einem Sterbenden sehr, wenn wir
anerkennen, dass auch wir sterben. Es ist ein Teil des Menschseins.

Warum ist die Meditationspraxis so hilfreich im Umgang mit Tod und Sterben?

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Meditation ermöglicht uns, unsere Emotionen zu sehen, wie sie kommen und gehen. Wir
arbeiten mit unserem Geist und beobachten, wie unsere Selbstbilder zerfallen und wir mit
einer Art Bodenlosigkeit zurückgelassen werden, die nicht definiert ist. Das ist der Ort, an
dem der Geist sich entspannen kann. Und wenn wir vertraut werden mit der unbegrenzten
Qualität des Geistes, die in der Meditation entsteht, dann werden wir in der Lage sein, diese
Möglichkeit zu erkennen, wenn wir dem Tod begegnen.
Das kostbare Geschenk, welches wir durch Meditation erhalten, ist die Entwicklung von
Freundlichkeit und Mitgefühl. In der Tonglen-Praxis beispielsweise üben wir, mit Schmerz,
der uns überwältigen könnte, umgehen zu können und mitfühlenden Austausch zu entwickeln.
Mitfühlender Austausch, Freundlichkeit und einfach da sein, das sind Qualitäten, die
Sterbenden – und uns – ermöglichen loszulassen.

Sie beschreiben in Ihrem Buch eine Kontemplationsübung zum Tod. Was macht das mit dem
Übenden?

Auch wenn es nur eine begriffliche Bewegung ist, so hat die Kontemplation doch die Macht,
unsere persönlichen Erfahrungen und Konzepte über Tod hervorzurufen oder zu erwecken.
Wir können Kontemplationen verwenden, um unsere Beziehung zu Leben und Tod zu
untersuchen. So können wir beispielsweise anfangen, alltägliche Erfahrungen, die wir nicht
als relevant ansehen, zu bemerken und aus ihnen zu lernen. Zum Beispiel wenn eine
Kleinigkeit passiert, wie etwa der Verlust unseres Lieblingsplatzes in einem Café oder eine
Allergieattacke. Wir können beobachten, wie wir darauf reagieren: Wirft es uns in eine Krise
oder können wir damit bleiben? Was passiert in unserem Geist? Wie wir auf diese kleinen
Verluste oder entstehende Ängste reagieren spiegelt wider, wie wir mit ernsthafteren
Verlusten in der Zukunft umgehen. Also jedes Mal, wenn wir Verlust oder Veränderung oder
Angst erfahren, haben wir eine Chance, unsere Beziehung zu Vergänglichkeit, Tod und
Veränderung zu untersuchen und Wissen zu entdecken. Letztendlich helfen uns
Kontemplationen, ein Verständnis für das Sterben und eine Wertschätzung für das Leben zu
entwickeln.

Wie hat die Arbeit mit Sterbenden Ihre Sicht auf den Tod verändert?

Abgesehen von der Traurigkeit, die mit dem Tod kommt, hat die Zeit, die ich mit sterbenden
Menschen und ihren Familien verbracht habe, mich tief bewegt, und ich habe mich geehrt
gefühlt. Es bringt mich immer wieder zu den wesentlichen Dingen des Lebens zurück. Im
Angesicht des Todes fallen viele Sorgen weg. Und der Tod ist nicht so beängstigend, wenn
man direkt daran beteiligt ist. Wenn wir davon getrennt sind, ist es beängstigend und
beunruhigend. Wenn wir mit einem Sterbenden sind, dann ist es einfach, so menschlich, und
wir erkennen, wie viel Zeit wir mit unwichtigen Dingen verbringen. Wenn ein Mensch stirbt,
können wir lernen, dass dies nicht manipulierbar ist, wir lernen, loszulassen und die Dinge so
zu akzeptieren, wie sie sind.

Anmerkung
1) Dr. Edward Podvoll ist Gründer der Windhorse-Projekte und Autor des Buchs „The Seduction of Madness“.
2) Judith Lief: Making Friends with Death. A Buddhist Guide to Encountering Mortality, Shambhala
Publications

Judith Lief (Interview): Mit dem Tod Freundschaft schließen, in Buddhismus aktuell Nr. 3/2010. Das Gespräch
führte Meta Märtens.

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Hoffnung und Inspiration im Tod finden
Christine Longaker

In meinem Vortrag möchte ich Ihnen grundlegende Informationen zum Thema Tod und
Sterben geben und ein Verständnis vermitteln, vielleicht sogar eine Botschaft, die Ihnen in
Ihrem eigenen Leben im Umgang mit sich selbst und anderen helfen soll.
Ich verstehe mich selbst als ein Mensch, der versucht, den Tod zu erforschen, herauszufinden,
was der Tod eigentlich ist. Meine Nachforschungen begannen vor 14 Jahren, als mein Mann
an Leukämie starb. Sein Sterben dauerte ein Jahr. Während dieses Jahres lernte ich einen
wesentlichen Grundsatz kennen, über den ich stets lehre. Und ich denke, auch Sie werden ihn
wahrscheinlich nicht wieder vergessen.
Dieser Grundsatz beinhaltet, dass Sterben stets ein bestimmtes Maß an Leiden umfasst. Das
ist der unvermeidbare Teil des Leidens, um den man nicht herumkommt. Wir sind alle
vertraut damit. Hierzu gehört, wenn wir wahrnehmen, wie der Körper verfällt, wie wir immer
schwächer werden, verursacht durch eine Krankheit.
Es ist aber nicht nur das körperliche Leiden, es ist vor allem das emotionale Leiden, dem wir
in unserem Leben ausgesetzt sind. Bezüglich dieses emotionalen Leidens möchte ich Sie
bitten, sich an Ihr Befinden und Ihre Gefühle in einer Zeit Ihres Lebens zu erinnern, als Sie
etwas sehr Bedeutendes verloren. Vielleicht war es eine wichtige Beziehung, vielleicht Ihre
Arbeit, vielleicht wichtige Zukunftspläne, die Sie aufgeben mussten. Vielleicht war es auch
nur der Umstand, eine Wohnung aufgeben zu müssen. Und wenn Sie sich daran erinnern, wie
es war, als sie durch diese Phase Ihres Lebens gegangen sind, werden Sie wissen, wieviel
Schmerzen das mit sich brachte. Vielleicht haben Sie sich dabei geweigert loszulassen.
Vielleicht waren Sie wütend oder traurig. Vielleicht haben Sie bis heute nicht losgelassen.
Von diesem Punkt aus wollen wir untersuchen, was passiert, wenn wir sterben. Wir verlieren
dann nicht nur eine Sache, ein Ding, eine Person, sondern alles auf einmal. Das ist das Leiden
beim Sterben! Es ist eine ganze Menge, was man loszulassen hat. In der Regel ist niemand
von uns besonders gut darin, etwas loszulassen, etwas aufzugeben.
Wie Sie vielleicht durch Elisabeth Kübler-Ross wissen, gibt es fünf Phasen, die man im
Sterbeprozess durchläuft. Sie macht jedoch darauf aufmerksam, dass nicht jeder auf die
gleiche Art und Weise stirbt, und damit auch nicht jeder alle fünf Phasen durchläuft.
Es gibt Leute, die ihr Sterben niemals akzeptieren. Die grundlegende Bedeutung dieser fünf
Phasen ist es aber gerade, dass man sich schrittweise mit dem Abschiednehmen, dem
Loslassen, dem Sterben, und der daraus resultierenden Trauer, auseinandersetzt und sich mit
dem Tod anfreundet. Manche Menschen schaffen es, durch diesen Prozess, durch diese Trauer
hindurchzugehen, andere Menschen nicht. Allen Sterbenden gemeinsam ist also dieses
Leiden, diese Trauer, und die Notwendigkeit, alles loszulassen.
Zu meinen prinzipiellen Erfahrungen, die ich bereits beim Sterben meines Mannes machte,
gehört aber auch, dass es eine Menge unnötiges Leid gibt, das Sterbende heutzutage
durchzumachen haben. Diese Erfahrungen sind die Kehrseite des Grundsatzes. Dieses
unnötige Leiden hat eine Menge unterschiedliche Ursachen. Es resultiert vor allem daraus,
dass wir nicht damit vertraut sind, was an dem Sterbevorgang natürlich ist. Wir haben nie über
den Tod nachgedacht und uns auch nicht darauf vorbereitet. Wir haben in unserem Leben
niemals gelernt, würdevoll loszulassen. Deshalb haben wir Angst und leisten Widerstand. Die
Menschen, die bei uns sind, haben Angst, über den Tod zu sprechen oder gar uns zu sagen,
dass wir sterben müssen.

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Daneben gibt es eine mehr praktische Ebene des Leidens, wenn Sterbenden nicht die
erforderliche Pflege und Zuwendung zuteil wird und die physischen Schmerzen nicht
ausreichend gelindert werden können.
Beide Seiten des Prinzips habe ich erlebt, als mein Mann starb. Wir hatten innerhalb dieses
Jahres aber auch sehr viele positive Erfahrungen. Ich gebe hierzu ein Beispiel.
Alles, was ich bis zu dem Zeitpunkt, als ich von der Leukämie meines Mannes erfuhr, über
den Tod gelernt hatte, war, dass der Tod tragisch, grauenhaft und beängstigend ist. Als wir im
Krankenhaus erfuhren, dass mein Mann tödlich erkrankt war, dachten wir, der Rest unseres
gemeinsamen Lebens wäre so von der Krankheit vorgezeichnet, dass es nur aus Angst und
Leid bestehen würde. Da fassten wir den Entschluss, uns mit dem Tod auseinander zu setzen,
um zu sehen, ob wir nicht auch darin etwas Positives finden könnten - so etwas wie ein
Geschenk. Wir hatten zu dieser Zeit keinen Glauben und keine Vorstellung, was während und
nach dem Tod geschehen würde. Auf so etwas konnten wir uns also nicht abstützen. Wir
waren uns auch bewusst, dass unsere Beziehung zu dieser Zeit nicht die beste war und wir
Kommunikationsschwierigkeiten hatten.
Ich machte in diesem Jahr die Erfahrung – obwohl die Schwierigkeiten fortbestanden und er
dem Tod oft sehr nahe war – dass wir nicht alles als schrecklich und tragisch erlebten. Ich
machte auch die Erfahrung, dass uns all die Fehler unterliefen, die man in dem Prozess des
Sterbens und der Sterbebegleitung macht, wenn man nichts darüber weiß.
Da ich eine praktische Person bin, glaube ich, man sollte aus gemachten Fehlern lernen.
Allerdings dauert es meist wieder lange Zeit, bis erneut ein nahestehender Mensch stirbt, bei
dessen Betreuung und Begleitung einem dann die Erfahrung zugute kommen kann. So war ich
sehr erfreut, als ich ein Jahr später eine Anstellung als Volontärin im Hospiz von Santa Cruz
bekam.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel für einen Fehler geben, den wir gemacht haben. Er ist typisch
für den Umgang zwischen dem Sterbenden und seiner Familie. In den ersten vier Monaten
hatte mein Mann zahlreiche Krisen. In dieser Zeit verbrachte er drei Wochen eines jeden
Monats im Krankenhaus, stets dem Tode sehr nahe. Es war gerade in einer Zeit, die er zu
Hause verbrachte, als er einen Tag vor Weihnachten den vereinbarten Besuch bei seinem Arzt
im Krankenhaus machte. Der Arzt stellte in seinem Bein ein Blutgerinsel fest und sagte ihm,
dass es genauso gefährlich sei, wie das Blutgerinsel, das er zuvor in seiner Lunge gehabt hatte.
Es sei also notwendig, im Krankenhaus zu bleiben.
Wir sahen uns an und wussten beide, es würde unser letztes Weihnachtsfest sein. Außerdem
hatten wir einen kleinen Sohn. Mein Mann entschied sich daher, das Fest mit seiner Familie
zu verbringen und erst nach Weihnachten ins Krankenhaus zu gehen. Wir waren trotzdem
beide tottraurig, weil wir wussten, dass es unser letztes Weihnachtsfest sein würde. Wir
wussten, dass er erneut ins Krankenhaus musste und sein Leben wieder in akuter Gefahr war.
Er ging nach dem Fest ins Krankenhaus, und eine Woche später war Silvester. Normalerweise
feiert man in dieser Nacht das beginnende neue Jahr. Wir wussten, dass er in diesem Jahr
sterben würde. Wir hatten Angst, darüber zu sprechen. Also versuchte ich, Silvester sehr
müde zu wirken, um noch vor Mitternacht nach Hause gehen zu können, denn ich war sehr
verlegen und traurig bei dem Gedanken an das, was das nächste Jahr uns bringen würde.
Eine Woche später war unser Hochzeitstag. Wir hatten uns so darauf gefreut, etwas
Besonderes zu unternehmen. Aber die Ärzte wollten ihm nicht erlauben, das Krankenhaus zu
verlassen. Dann stießen wir jedoch auf einen Doktor, der frisch verheiratet war. Wir
bedrängten ihn, meinen Mann zu beurlauben. Er erklärte sich einverstanden unter der
Bedingung, dass mein Mann zuvor noch die nächste chemotherapeutische Anwendung
nehmen würde. Das würde seine Sicherheit während des häuslichen Aufenthaltes verbessern.

55
Nach der Anwendung durfte er auch nach Hause. Nur, diese Behandlung hatte ihn so
geschwächt, dass wir nichts unternehmen konnten.
Sie können sich vorstellen, wie traurig wir waren. Außerdem hatten wir beide das Gefühl,
wenn wir dem anderen erzählten, was uns bewegt, ihn mit der eigenen Niedergeschlagenheit
anzustecken. So war ich der Ansicht, ihm nichts erzählen zu dürfen, und er war der gleichen
Ansicht.
Zehn Tage später war mein Mann durch die vorhergehende Chemotherapie schwer erkrankt.
Er konnte nicht aufstehen, musste sich übergeben und fühlte sich sehr schwach und elend. Er
sagte zu mir: „Christine, gehe bitte an den Medikamentenschrank im Bad und nimm alles
heraus! Ich bin drauf und dran, alle Medikamente zu schlucken, um ein Ende zu machen.“
Ich nahm das sehr ernst, ging zu dem Medikamentenschrank und sah all die Flaschen und
Präparate an. Ich überlegte, wie ich sie vor ihm verstecken könnte für die Zeit, in der ich zur
Arbeit gehen musste. Letztendlich entschied ich, dass kein Versteck gut genug sei. Ich müsste
sie mit mir herumtragen, stellte aber fest, dass nicht alles in meine Handtasche passte.
Außerdem war mir klar, dass er sich auch umbringen konnte, wenn ich die Medikamente
verstecken oder mit mir herumtragen würde. So ging ich zu seinem Bett zurück und erklärte
ihm, dass es zwar hart sei, für ihn zu sorgen, dass es hart sei, seinem Tod ins Gesicht zu
sehen, dass ich dieses aber leisten könne. Wenn er sich jedoch das Leben nähme, damit könne
ich nicht umgehen. Das sei zu schwer für mich. Ich bat ihn, dies nicht zu tun.
Infolgedessen fingen wir zum ersten Mal an, darüber zu sprechen, was uns schon die ganze
Zeit bewegte; Trauer und all die Gefühle, über die wir nie gesprochen hatten. Zu meiner
großen Überraschung geschah genau das Gegenteil von dem, was ich all die Zeit befürchtet
hatte. Wir fühlten uns nicht länger schwer, deprimiert und traurig. Das Gegenteil geschah. Es
war wie eine Wolke, die sich verflüchtigte. Wir fühlten uns erleichtert und fast erfreut.
Ich denke, Sie verstehen jetzt, was ich mit unnötigem Leid meine. Ich hatte eine falsche
Vorstellung. Statt dass wir ehrlich miteinander waren und unseren Kummer teilten, dachte ich,
wir hätten ihn voreinander zu verheimlichen.
Wie Sie wissen, haben wir in unserer Kultur viele negative Vorstellungen und Bilder über den
Tod. Daher rührt auch die verbreitete Annahme, man solle seiner Frau, seinem Mann oder
wem auch immer nicht erzählen, dass er sterben muss. Wir haben die Vorstellung, Sterben sei
das Schlimmste, das einem passieren kann.
Wenn man viel mit Sterbenden zusammen ist, dann findet man heraus, dass es nicht das
Schlimmste ist, das passieren kann. Das Schlimmste ist nicht das Sterben selbst, sondern der
Umstand, sich verlassen, ungeliebt, schutzlos und ausgeliefert zu fühlen.
Nachdem wir uns ausgesprochen hatten, entstand ein ungetrübter, klarer Zustand. Wir fühlten
uns erleichtert, empfanden viel Liebe und konnten wieder lachen. Meinem Mann ging es
danach für fünf Monate sehr viel besser.
Diese Einsicht ist ein wesentlicher Teil der Motivation in der Hospiz-Bewegung, die
inzwischen weltweit verbreitet ist, auch in Deutschland. Die Hospiz-Bewegung versucht, eine
sehr bedeutende philosophische Betrachtungsweise in die westliche Gesellschaft zu
reintegrieren, nämlich die Einsicht, dass es natürlich und ganz in Ordnung ist zu sterben. Es
ist keine Tragödie.
Die Arbeit in der Hospiz-Bewegung orientiert sich daran, was Sterbende am meisten
brauchen. Und was brauchen sie? Sie wollen in der verbleibenden Zeit noch leben und sich
freuen dürfen. Sie wollen ihre Schmerzen gelindert haben und möchten eine medikamentöse
Behandlung erhalten, die es ihnen erlaubt, bewusst zu bleiben und sich noch um
Nahestehende kümmern zu können. Sie brauchen sehr viel Verständnis und auch
Unterstützung in dem Prozess, den Tod zu akzeptieren. Vor allem brauchen Sterbende das
Gefühl der Zugehörigkeit, dass sie nicht verlassen und allein sind. Daher sind Hospize auch

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sehr darauf ausgerichtet, eine gute und aufrichtige Kommunikation zwischen den Sterbenden
und den Angehörigen zu fördern. Sie sollten sich ehrlich begegnen, ohne Lügen und
Verstecken.
Ich habe einige Religionen zu diesem Thema studiert. Vor allem habe ich bei einem
tibetischen Lehrer studiert. Ich war sehr überrascht, wie brauchbar und in der Praxis
anwendbar seine Belehrungen waren. Vieles von dem, was über den Tod und den
Sterbeprozess gelehrt wurde, hatte ich bereits bei meinem Umgang mit Sterbenden
beobachtet. Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, dass ich in all den Jahren meiner
Arbeit in der Hospiz-Bewegung niemals jemanden betreute, der Buddhist war. Natürlich habe
ich auch nicht immer meine religiöse Orientierung erklärt.
An den buddhistischen Belehrungen fand ich sehr bemerkenswert, dass mir Erklärungen und
Anweisungen für die Vorbereitung auf meinen eigenen Tod gegeben wurden. Ganz besonders
war es die Sichtweise, den Tod als eine einzigartige Chance in der eigenen spirituellen Praxis
und Entwicklung zu begreifen. Mir wurde in immer stärkerem Maße bewusst, wie notwendig
es ist, Sterbende in ihrem persönlichen Glauben, ihrer persönlichen religiösen Tradition zu
bestärken. Alle großen Religionen dieser Welt unterstreichen, dass der Tod ein sehr
entscheidender Schnittpunkt ist. Von ganz besonderer Bedeutung - auch aus buddhistischer
Sicht - ist, dass der Tod einem nicht geschieht, dass man nicht das Opfer ist. Es ist vielmehr
ein sehr aktives Geschehen, das jeder Sterbende selbst stark beeinflusst. Meine Aufgabe bei
der Betreuung von Sterbenden sehe ich darin, ihnen aufzuzeigen, welche inneren spirituellen
Bindungen ihnen Mut und Vertrauen geben.
Schließlich führten mich meine Nachforschungen auch zu den Erkenntnissen über
Nahtoderlebnisse. Nachdem Raymond Moodys Buch über Nahtoderlebnisse erschienen war,
gab es eine Menge Kritik und Zweifel in der Öffentlichkeit. Einer der Einwände bestand in
der Behauptung, dass die geschilderten Erlebnisse und Bilder dieser Menschen lediglich das
widerspiegelten, was diese Personen glaubten oder nach Eintreten des Todes erwarteten. Es
sei also so etwas wie eine letzte Phantasie. Es könnte auch an dem Morphium gelegen haben,
das einige dieser Menschen zu besonders starken Phantasien angeregt hätte.
Um die Richtigkeit dieser Bedenken zu beweisen, sammelten zwei Forscher viele Fakten.
Einer dieser Forscher war Professor für Psychologie, der andere ein Mediziner. Aber sie
entdeckten genau das Gegenteil von dem, was sie erwartet hatten. In einem Verhältnis von
zwei zu eins hatten Personen Nahtoderlebnisse, die vorher keinerlei Glauben und keine
Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod gehabt hatten. Man kann also sagen, dass die
Erlebnisse nach dem Tod nichts mit dem zu tun haben, was man glaubt.
Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen die Berichte kennen. Allen Erlebnissen gemeinsam ist,
unabhängig von der Todesart, zunächst eine Phase der Dunkelheit. Spezifisch ist auch die
Empfindung, den Körper zu verlassen und getrennt davon zu existieren - nur als Geist, als
Bewusstsein. Selbstverständlich verallgemeinere ich hier. Das muss nicht unbedingt bei jedem
so deutlich werden.
Die meisten Personen, die länger als eine Minute klinisch tot sind, machen tiefergehende
Erfahrungen. Sie haben ein Gefühl von Bewegung durch die Finsternis hindurch, bis zu einem
warmen, leuchtenden Licht. Sie sagen, dass in diesem Licht ein Gefühl von etwas
Gegenwärtigem sei, wie eine Wesenheit, und die ist in Kommunikation mit ihnen. Diese
Wesenheit ist reine Liebe und Mitgefühl. Viele beschreiben sie als die Liebe, nach der man
sich ein Leben lang gesehnt hat.
Danach beginnt für die meisten Personen ein Rückblick auf das eigene Leben. Man erblickt
alle Details, auch längst Vergessenes. Man sieht nicht nur, was geschah, sondern - aus einer
größeren Weisheit heraus - auch, was es für andere bedeutete. Sie sagen, dieses liebevolle
Wesen, dessen Gegenwart sie spüren, würde sie nicht beurteilen, sie nur mit Mitgefühl

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anschauen, so wie eine Mutter ihr Kind. Sie sagen, derjenige, der beurteilt, sei man selbst. Sie
hätten Verwirrung und Scham darüber gefühlt, anderen Leid zugefügt zu haben.
Ein Mann erzählte, während er sein Leben betrachtet habe, sei stets das Gefühl einer im Raum
stehenden Frage präsent gewesen: „Was hast du in Deinem Leben erreicht? Was hast du in
punkto Liebe und Weisheit erreicht?“ Und ein junger Mann sprach sogar davon, dass er sich
irgendwie hereingelegt gefühlt habe. Es sei wie ein Test gewesen, und niemand habe ihn
vorgewarnt.
Wenn die Menschen diese Rückschau halten, haben sie oft den starken Wunsch, die Dinge
nochmals tun zu dürfen, gut tun zu dürfen, nun, da sie fühlen, was wirklich wichtig sei. Dabei
haben wir uns daran zu erinnern, dass wir diese Geschichten von Menschen hörten, die die
große Chance erhielten, dies tatsächlich zu tun. Nachdem diese Menschen in ihr Leben
zurückkehrten, zu ihren Familien, zu ihrer Arbeit, hatten sich ihre Werte völlig geändert.
Zuvor waren sie sehr beschäftigt gewesen, sie hatten keine Zeit für ihre Mitmenschen, sie
arbeiteten hart, um die Rechnungen zu bezahlen. Es geschah alles in Hetze. Man schrie die
Kinder an, stritt sich mit dem Partner. Aber ein Mann sagte, nun habe er erfahren, dass es
tatsächlich einen Sinn im Leben gebe: Alle von uns, die gesamte Menschheit, leidet
gemeinsam. Wir schwimmen alle im selben Suppentopf. Wir haben Stärken und Schwächen,
aber wir leben, um die Liebe zu lernen, um uns gegenseitig zu helfen.
Jetzt möchte ich über die vier Hauptpunkte sprechen, die ich immer und immer wieder als
Ursachen des unnötigen Leidens Sterbender sehe. Sie werden sie wiedererkennen, denn im
Grunde habe ich sie schon alle angesprochen.
Der erste Punkt ist der, dass wir uns in unserem Leben nicht wirklich damit
auseinandersetzen, warum wir leben, was der Sinn des Lebens ist, wie wir unser Leben
erfüllen können. Wir haben die falschen Prioritäten. Wir schaden uns und anderen.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich hatte immer Probleme damit, den Sinn meines
Lebens zu finden. Ich hatte immer die Hoffnung, mir würde es so ergehen wie in den
Bibelgeschichten, dass eines Tages, während ich eine Straße entlanggehe, Gott aus einem
Busch heraus wispert: „Dies ist der Sinn deines Lebens.“ Unglücklicherweise ist das bis jetzt
nicht geschehen. Mein Problem war lange Zeit die Vorstellung, mein Leben sei nur dann
sinnvoll, wenn ich alles aufgeben würde, um nur noch den Menschen zu helfen, zum Beispiel
wie Albert Schweitzer oder Mutter Teresa. Aber unser Leben muss nicht einer so großen
Aufgabe gewidmet sein, um sinnvoll zu sein.
Ich glaube, dass jeder, der im Sterben liegt und auf sein Leben zurückblickt, sich fragt, was
wirklich sinnvoll war. Sie können sich vorstellen, wie gut sich ein Sterbender fühlt, wenn er
sagen kann, ich habe sehr vielen geholfen. Aber den meisten Menschen wird es so wie mir
gehen, mit großem Bedauern zu erkennen, wie selbstsüchtig man war, wie viele negative
Gedanken und Verhaltensweisen man hatte.
Inzwischen sehe ich einen Weg, wie ich anderen oder auch mir selbst bei dieser Schwierigkeit
helfen kann. Sie sollten den Rückblick gemeinsam mit mir halten, um nicht nur auf die
Schwächen und Versäumnisse zu schauen, sondern auch auf die eigenen Stärken und
Verdienste.
Sie kennen den Begriff Schuld. Wir sind meist sehr gut darin, uns schuldig zu fühlen. Ich
möchte diesen Begriff gegen den Begriff des Bedauerns austauschen. Bedauern beinhaltet eine
Kraft. Im Unterschied zu Schuld bedeutet Bedauern, dass wir einsehen, Fehler gemacht zu
haben. Aber wir sind entschlossen, dagegen etwas zu tun, dies für die Zukunft zu ändern. Und
so tritt anstelle eines Gefühls der Hilflosigkeit die Frage, wen habe ich verletzt, was ist es,
dessen ich mich zu schämen habe. Und man ergreift die Initiative. Man nimmt Verbindung zu
diesen Menschen auf, man schreibt ihnen Briefe und versucht, seine Fehler
wiedergutzumachen. Man untersucht praktisch, was unerledigt geblieben ist. Und man

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beginnt, daran weiterzuarbeiten, es zu Ende zu bringen. In Wirklichkeit unterscheiden sich
hierbei Leben und Sterben nicht. Die Aufgabe ist eigentlich stets die gleiche. Nur, Sie haben
jetzt mehr Kraft und Energie, als wenn Sie sterben.
Auch wenn ihr Leben bisher nicht sehr sinnvoll war, können Sie sich fragen, wie Sie Ihr
Leben in den letzten Wochen oder Tagen sinnvoll gestalten können. So können Sie sich zum
Beispiel gegenüber anderen aufrichtig verhalten und dankbar sein. Wenn man allerdings im
Bett liegt, Schmerzen hat und immer schwächer wird, so fragt man sich, was kann ich jetzt
noch für andere tun? Im Grunde ist es wichtig, wie man seinen Geist benutzt, wie man sich
gegenüber den Menschen verhält. Das ist stets ein Ausdruck des eigenen Wesens.
Ich erzähle Ihnen eine Geschichte hierzu. Ein Mann lag im Sterben. Er hatte eine sehr
liebevolle Familie, die sich um ihn kümmerte. Sein psychischer Zustand und seine Umgebung
waren sehr harmonisch. In dieser Familie fühlte sich der Hospizler fehl am Platze und
schuldig, dass er nichts tun konnte. Er dachte bereits daran wegzugehen, um jemanden
aufzusuchen, der seine Hilfe nötiger hätte. Er entschloss sich jedoch, den Mann anzusprechen
und ihn zu fragen, ob es noch irgendetwas gäbe, was er für ihn tun könne. Der Mann stieß
einen Stoßseufzer aus und sagte, wie froh er über diese Frage sei, denn da gebe es etwas,
worum er niemand anderen hätte bitten mögen: „Mein Bruder und ich hatten einst einen
schrecklichen Streit. Wir haben seit vierzig Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Ich
würde ihn gern wiedersehen und mich mit ihm aussöhnen.“ Der Volontär lebte sichtlich auf
und erkundigte sich nach dem Namen und der Anschrift des Bruders. Er schaffte es nach
einigen Nachforschungen, den Bruder ausfindig zu machen, rief ihn an und erklärte ihm die
Situation seines Bruders und dessen Anliegen. Er war sehr erschrocken zu hören, dass der
Mann mit seinem sterbenden Bruder nichts zu tun haben wollte und auch sonst nichts zu
sagen hatte.
Und dies ist der zweite Punkt der Schwierigkeiten, die sterbende Menschen haben. Sie haben
mitmenschliche Beziehungen, die in der Vergangenheit mit Problemen befrachtet wurden. Da
Schwierigkeiten oder gar Blockaden in der Kommunikation bestehen, fühlen sie sich
hoffnungslos. Der Hospizler war sehr bestürzt und zerbrach sich den Kopf darüber, was er
dem Sterbenden nun sagen sollte. Schließlich sagte er sich, dass das Wichtigste, was zu
geschehen hatte, bereits geschehen sei. Er ging zu dem Sterbenden und sagte ihm in einer sehr
geschickten Art und Weise: „Ich habe Ihren Bruder gesprochen. Er wird nicht kommen, aber
er hörte Ihr Anliegen.“
So etwas passiert häufig. Wenn die Sterbenden die meiste Zuwendung, Unterstützung und
Liebe brauchen, erhalten sie das Gegenteil. Einer der Gründe für diese
Kommunikationsschwierigkeiten ist, dass in der Vergangenheit entstandene negative Gefühle
nicht geklärt wurden. Ein anderer Grund ist, dass die Familienmitglieder bezüglich einer
solchen Angelegenheit meistens sehr verkrampft sind. Sie haben Angst, ein solches Thema
anzusprechen. Dabei ist es besonders schwierig, aufrichtig zu sein, wenn es ein
schwerwiegendes Tabu in der Familie oder zwischen bestimmten Personen gibt.
Noch ein anderer Grund für solche Blockaden sind besondere Verhaltensmuster in jeder
Familie, wie in diesem Beispiel das Muster, sehr höflich miteinander umzugehen. Vielleicht
nehmen sowohl der Sterbende wie auch die Familie diese Schwierigkeiten wahr. Aber es ist
dann schwer, plötzlich anders zu handeln. Jeder ist hilflos und weiß nicht, wie er diesen Bann
durchbrechen soll.
Ich habe eine ganze Reihe von Freunden in der Welt, die sogar meine Seminare besuchen,
aber auch sie rufen mich an, wenn ein Nahestehender stirbt, um mich zu fragen, was sie sagen
sollen. Es ist ein sehr bedeutender Punkt der Kommunikation, an dem sie nicht
weiterkommen. Ich frage dann zurück: „Was fühlst du denn?“ Sie sagen dann oft: „Ich würde
gerne da sein und helfen, aber ich habe Angst. Vielleicht stehe ich nur im Wege, und der

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Sterbende will mich nicht bei sich haben. Vielleicht kämpft er auch noch mit der Akzeptanz
seines Sterbens. Vielleicht möchte er nicht darüber reden.“ Dann antworte ich: „Genau das ist
es, was du ihm sagen musst.“
Eine andere Sache, die Sie sich in einer solchen Situation klarmachen müssen, ist, dass eine
Person erst dann gestorben ist, wenn sie den letzten Atemzug getan hat. Noch lebt sie! Sie
besuchen einen lebende Person!
Ich habe noch einen anderen Tipp, den ich Ihnen geben möchte. Als ich das Training für die
Hospizvolontäre im Santa Cruz County leitete, gab ich ihnen den Rat: „Versucht niemals,
vollkommen zu sein! Wenn Ihr perfekt sein wollt, werdet Ihr euch immer wie auf Eierschalen
bewegen und Ihr werdet niemals natürlich sein. Versucht, nichts vorzutäuschen. Macht Ihr
einen Fehler, so steht dazu und entschuldigt euch.“
Bezüglich des Umgangs mit nicht abgeschlossenen, unbearbeiteten Ereignissen gibt es noch
einen Aspekt. Es ist die Situation, dass eine Person, zu der wir sprechen wollen, nicht gewillt
ist, uns anzuhören, nicht erreichbar ist, oder schon gestorben ist. Dann entsteht ein Gefühl der
Hilflosigkeit. In meinen Seminaren lehre ich Methoden, wie man sich in solchen Situationen
helfen kann.
Der dritte Punkt der Schwierigkeiten, die Sterbende haben, besteht darin, dass ihre Beziehung
zum Leiden ungeklärt ist, sie nicht verstehen, mit dem Leiden umzugehen.
Wir verstehen das Leiden als das Unangenehme, das uns widerfährt. Das Leiden ist aber
unsere Reaktion darauf. Wer ständig Kranke pflegt, weiß, dass zwei Patienten mit der
gleichen Krankheit völlig unterschiedlich reagieren. Der eine leidet entsetzlich, der andere
kaum.
Selbstverständlich umfasst der Prozess des Sterbens sehr schmerzvolle Augenblicke und
Umstände, aber wir müssen sie ansehen und durchstehen. Wir müssen erkennen, dass alles zu
unserer Vorstellung über das Leben in Beziehung steht. Wir wollen den Schmerz vermeiden
und nur Freude erfahren. Aber ist es nicht bedeutungsvoller zu realisieren, dass zum Leben
beides gehört?
Wenn Sie sich jetzt wieder an die Situationen erinnern, in denen Ihnen großes Leid widerfuhr,
so werden Sie erkennen, dass dieses Leid für Sie sinnvoll war, oft sogar konstruktive
Veränderungen zum Besseren bewirkte. Leiden verändert uns. Leiden verändert uns auch
gegen unseren Willen. Wollen wir versuchen, die Wände um uns immer dicker zu machen,
um das Leiden fernzuhalten, oder wollen wir leben? Leiden ist nicht nur ein Teil des Sterbens,
es ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens selbst! Es bringt uns dazu, unsere inneren
Schranken zu überwinden. Aber dazu gehört die Bereitschaft, sich darauf einzulassen.
Als mein Mann starb, gab es eine Zeit, in der ich sehr verzweifelt war. Ich hatte das Gefühl,
mich auf dem bodenlosen Grund eines tiefen Brunnens zu befinden, und niemand war da. Ich
fühlte mich wie in der Falle. Ich sah keinen Ausweg. Wie ich schon sagte, damals habe ich an
nichts und niemanden geglaubt. Trotzdem wusste ich, ich muss hier raus. Und ich habe
gebetet. Wenig später stieg so ein Bild in mir hoch, das weltweit publiziert worden war. Es
zeigte eine vietnamesische Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm, die in Verzweiflung zum
Himmel schaut. Als dieses Bild in mir aufstieg, empfand ich sofort eine Verbindung zu allen
leidenden Menschen auf der Welt. Mir wurde klar, wir alle müssen einen gemeinsamen Weg
durch das Leid finden. In dem Augenblick war es, als ob die Schale, die mich umgeben hatte,
gesprengt würde. Leiden bringt uns dazu, den Sinn des Lebens zu finden! Es ist der Anfang
des spirituellen Pfades!
In unserem Hospiz war ein pensionierter katholischer Priester, der als Volontär arbeitete. Er
erzählte mir die Geschichte einer älteren Frau, die zwar gesund, aber sehr verbittert war. Sie
war zickig und beschwerte sich über jeden und alles. Selbst ihre Kinder wollten sie nicht mehr
besuchen. Sie war einfach unerträglich. Dieser Priester besuchte sie jede Woche. Er war sehr

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höflich zu ihr und bemühte sich, sie immer geduldig anzuhören. Eines Tages erhielt er den
Notruf einer anderen Familie. Dort war eine junge Frau, deren Mann überraschend gestorben
war. Sie hatte vier kleine Kinder zu versorgen. Und er hörte von all ihren Ängsten, ihrem
Schmerz, ihren Sorgen, wie es weitergehen sollte. Sein Herz wurde ganz eingenommen von
ihren Nöten. Als er bei nächster Gelegenheit erneut die verbitterte und jammernde alte Frau
besuchte, verlor er die Geduld. Er sagte, dass es ihm sehr leid tue, dass sie sterben müsse, dass
ihre Kinder sie nicht mehr besuchen würden und er ihr nicht helfen könne, weil sie sich nur
um ihre eigenen Probleme kümmern würde. Und dann erzählte er ihr von der verzweifelten
jungen Frau. Er schlug ihr vor, sich dieser jungen Frau zu widmen, für diese zu beten und ihr
zu helfen. Die alte Frau verwandelte sich in der darauffolgenden Zeit völlig. Sie strahlte Liebe
und Güte aus und kümmerte sich um die Anliegen der jungen Frau, so gut sie es noch konnte.
Leiden sind also nicht äußere Umstände! Leiden ist unsere Reaktion darauf!
Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie man positiv reagieren kann. Und es wird sowohl
im Buddhismus wie auch im Christentum gleichermaßen betont, wie hilfreich es ist, sein
Leiden jemandem zu widmen.
Der vierte Punkt tritt ein, wenn eine Person stirbt, aber keine klaren Vorstellungen über den
Tod hat und nicht weiß, wie sie dem Tod begegnen soll. Dies ist in unserer Gesellschaft sehr
häufig der Fall.
Die Bilder vom Tod erzeugen Stress und Angst. Es gibt in unserem Kulturraum viele, die
Atheisten oder Nihilisten sind, die keine Vorstellungen über ein Leben nach dem Tod haben
und auch nicht daran glauben. Vielleicht haben sie aus jüngeren Jahren eine Vorstellung vom
Tod, die sie ängstigt. Vielleicht spielen sie mit dem Gedanken, dass es doch einen Himmel
und eine Hölle geben könnte, auch wenn sie es nicht glauben wollen. Wirklich viele
Menschen halten nur deshalb so verzweifelt am Leben fest, weil sie diese Möglichkeiten
fürchten. Hinzu kommt, dass sie beim Rückblick auf ihr Leben zu dem Urteil gelangen, dass
sie den Himmel nicht verdient haben und die Hölle als einen Zustand oder Ort ewigen Leidens
verstehen.
Ein Weg aus dieser Situation ist Hingabe und Gottvertrauen. Menschen, die ihren Frieden mit
Gott gemacht haben, leben in der Zuversicht, wenn sie sterben, Gott zu treffen und eins mit
ihm zu werden. Aber für die meisten ist Gott etwas von ihnen sehr Entferntes. Und sie wissen
nicht so recht, ob Gott Spaß versteht. Da ist auch diese Unsicherheit, ob man Gottes überhaupt
würdig ist. Wird er mich mögen, wird er mich akzeptieren? Und andere Menschen zweifeln
daran, ob Gott ihnen wirklich ihre Sünden vergeben wird.
Den Weg, den ich sehe und auch in der Praxis beschreite, um Sterbenden bei dieser
Problematik zu helfen, besteht darin, gemeinsam mit ihnen herauszufinden, was sie glauben,
worauf sie vertrauen, statt das zu vertiefen, worüber sie besorgt sind. Wenn sie an Gott oder
Jesus Christus glauben, dann soll man sie ermutigen, diesen Glauben in ihr Leben
einzubringen, eine aufrichtige und klare Beziehung zu Gott aufzubauen, so dass Gott keine
entfernte und unbekannte Instanz bleibt. Es gilt herauszufinden, welche Art spiritueller Praxis,
Gebete oder Texte sie inspiriert und ihnen ein Gefühl des Vertrauens und der Liebe zu Gott
gibt, anstelle des Gefühls der Gottesferne und der eigenen Unwürdigkeit.
Jede Religion hat Empfehlungen für eine Praxis oder für Gebete in Vorbereitung auf den Tod.
So zeigte mir zum Beispiel der als Volontär in der Hospiz-Bewegung tätige katholische
Priester ein kleines Büchlein, das ausschließlich Gebete für Sterbende enthielt. Es waren sehr
schöne Gebete. Sie bitten um die Aufnahme des Sterbenden durch Gott und haben somit auch
mit dem Loslassen zu tun.
Ich stelle mir vor, wie schön es sein müsste, wenn die Familie eines Sterbenden solche Gebete
in den Wochen und Stunden vor dem Tod ihrer Angehörigen gemeinsam sprechen würde. Das
würde auch die Spannung in der Familie zum Teil lösen, dieses Festhalten, dieses nicht

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loslassen wollen seitens der Familie. Durch solche Gebete wird das Loslassen des Sterbenden
sinnvoller und leichter, da er doch zu Gott geht. Es transzendiert den Schmerz über die
bevorstehende Trennung.
Auch die buddhistisch-tibetische Tradition, die ich studiere, kennt eine bestimmte Praxis, die
hilft, einen Menschen im Augenblick des Todes in die Wahrheit zu entlassen. Es wird betont,
dass dies auch im Leben schon praktiziert werden sollte. Dann fällt es beim Sterben leichter.
Der oberste Grundsatz, um jemanden friedvoll sterben zu lassen - insbesondere, wenn ihm
jeglicher Glaube und jegliche spirituelle Praxis fehlt – ist, ihn zu unterstützen, mit einem
befriedeten Geist zu sterben, ohne Zorn, ohne Festhalten, aber in dem Gefühl, geliebt zu
werden.
Das sind nur „Ratschläge in einer Nussschale“ für die Sterbebegleitung. Es ist ein
umfangreiches Gebiet. Deshalb behandele ich es in der Regel auf Seminaren. Doch hoffe ich,
dass Sie einiges von dem Vorgetragenen in Ihrem Herz bewahren, so dass es verfügbar ist,
wenn Sie es benötigen. Ich hoffe aber auch, Sie bewahren in Ihrem Herzen, dass der Tod wie
ein Spiegel ist, der reflektiert, wie wir gelebt haben. So sind all diese Ratschläge für die
Unterstützung Sterbender gleichzeitig Ratschläge für das Leben, für die Freude daran.

Longaker, Christine: Hoffnung und Inspiration im Tod finden, in: Dharma-Nektar, Nr. 2-3/1991, S. 16-51 (DBU)
Eine Reise durch die Trauer
Frank Ostaseski

Trauer zu erleben kann uns einen besonderen Zugang zu uns selbst eröffnen. Wenn wir diesen Erfahrungen mit
Mitgefühl und Achtsamkeit begegnen, beginnen wir zu begreifen, dass wir viel mehr als die Trauer sind.

Trauer – ein Pfad zur Ganzheit


Trauer kann die größte Erfahrung der Heilung in einem Leben sein. Sie ist gewiss das heißeste
Feuer, auf das wir stoßen. Sie durchdringt die harten Schichten unseres Selbstschutzes, taucht
uns in Schmerz, Angst und Verzweiflung, die wir so sehr zu vermeiden versuchten. Trauer ist
unvorhersehbar, unkontrollierbar. Bei Trauer gibt es keine Abkürzungen. Der einzige Weg
geht mitten hindurch. Manche sagen, dass die Zeit heile, aber das ist nur die halbe Wahrheit.
Zeit alleine heilt nicht. Zeit und Achtsamkeit heilen.
In der Trauer erlangen wir Zugang zu Teilen von uns selbst, die irgendwie in der
Vergangenheit für uns nicht erreichbar waren. Mit Achtsamkeit wird die Reise durch die
Trauer ein Weg zur Ganzheit. Trauer kann uns zu einem tiefen Verständnis führen, das sich
jenseits unseres individuellen Verlustes erstreckt. Sie öffnet uns der wesentlichsten Wahrheit
unseres Lebens: der Wahrheit der Vergänglichkeit, den Ursachen des Leidens und der Illusion
des Getrenntseins. Wenn wir diesen Erfahrungen mit Mitgefühl und Achtsamkeit begegnen,
beginnen wir zu begreifen, dass wir mehr als die Trauer sind. Wir sind das, durch das sich die
Trauer hindurch bewegt. Am Ende mögen wir den Tod immer noch fürchten, aber wir fürchten
nicht mehr so sehr zu leben. In der Hingabe an unsere Trauer haben wir gelernt, uns
vollständig dem Leben zu schenken.

Verlust
Verlust ist die erste Periode der Trauer und emotional. Es ist wie ein Faustschlag in den
Magen. Es nimmt dir deinen Atem. Selbst wenn der Tod erwartet wird, kann unser Körper und

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Geist ihn anscheinend nicht in der richtigen Art annehmen. Wir wollen die Realität dieses
Verlustes nicht akzeptieren, wir wollen nicht glauben, dass die Person, die wir lieben,
gestorben ist. Und gleichzeitig ist das die Aufgabe in diesem Zeitraum.
Schock und Fassungslosigkeit lassen normalerweise Schuldgefühle und Bedauern entstehen.
Wir verurteilen uns selbst gnadenlos. „Ich hätte ihn früher ins Krankenhaus bringen sollen.
Wir hätten andere Behandlungsmethoden versuchen sollen. Ich wünsche, ich hätte mehr Zeit
mit ihr verbracht. Ich wollte in dem Moment da sein, als sie starb.“ Unsere Fähigkeit, grausam
zu uns selbst zu sein, erstaunt mich immer wieder. In der Zeit unserer größten Verletzlichkeit,
wenn wir am meisten unsere Freundlichkeit benötigen, schlagen wir uns selbst mit unserer
Selbstverurteilung. Wenn wir nur für einen Moment aufhören und dem Klang unserer Stimme
lauschen könnten, würde sich unser Herz sicher öffnen, um diesen Schmerz zu umarmen.

Frei werden
Dies ist eine schmerzvolle Periode, die eine gewisse Zeit andauert, Monate, sogar Jahre. Wenn
jemand, den wir lieben, stirbt, ist dies nicht ein einmaliges Ereignis. Wir befreien uns
fortwährend von dieser Person. In den Ferien, bei schwierigen Entscheidungen oder in
persönlichen Momenten, die wir teilen möchten, werden wir schmerzhaft mit der Abwesenheit
der Person, die wir lieben, konfrontiert. Wir sehen klar die Rollen, die die Person in unserem
Leben gespielt hat, und wir trauern auch darum. Wir verlieren nicht einfach unsere Ehefrau,
wenn sie stirbt. Sie ist die Person, die all die Kämpfe mit unseren Kindern ausgefochten oder
das Geld verdient oder unseren Körper mit Liebe und Zärtlichkeit berührt hat. Wenn unsere
Eltern sterben, fühlen wir uns vielleicht zerbrechlich. Sie waren der Puffer zwischen uns und
dem Tod und plötzlich sind wir uns unserer eigenen Sterblichkeit bewusster. In dieser Periode
fühlen wir uns sehr alleine. Freunde ziehen sich aus Erschöpfung zurück, andere erzählen uns,
wir sollten beschäftigt bleiben oder mit unserem Leben weiter machen. Eine Frau erzählte mir,
dass ihre Freunde ihr nach dem Tod ihres Ehemannes vorschlugen, sie solle sich einen Hund
zur Gesellschaft anschaffen! Dies ist unsere individuelle Angst vor Schmerz und unsere
kulturelle Geneigtheit, alles Unerfreuliche zu vermeiden. Rat hilft nicht, jedoch zuhören.

Sich lösen
Trauer ist wie ein Bach, der durch unser Leben fließt, und es ist wichtig zu verstehen, dass sie
nicht vergeht. Unsere Trauer dauert eine Lebenszeit, aber unsere Beziehung zu ihr verändert
sich. Das Sich-Lösen ist die Zeitspanne, in der der Knoten deiner Trauer aufgelöst wird. Es ist
die Zeit der Erneuerung. Nicht eine Rückkehr zu dem Leben, wie es vor dem Tod war, den du
erfahren hast. Du kannst nicht zurückkehren; du bist jetzt eine andere Person, verändert durch
die Reise durch die Trauer. Aber du kannst damit beginnen, das Leben wieder zu umarmen
und dich wieder lebendig zu fühlen. Die Intensität der Emotionen hat etwas nachgelassen. Du
kannst dich an den Verlust erinnern, ohne dass du in den Klauen von schrecklichem Schmerz
gefangen bist. Die Rüstung um unser Herz beginnt zu schmelzen und in dieser Periode des
Sich-Lösens wird die Energie, die vom Widerstand verzehrt wurde, nun für das Leben
verfügbar. Nun bewegen wir uns vorwärts, aber wir vernachlässigen nicht diejenigen, die wir
lieben. Wir verstehen, dass – sogar wenn jemand stirbt – die Beziehung andauert. Nur die
Person ist nicht mehr außerhalb von uns lokalisierbar. Wir entwickeln die Erkenntnis, dass wir
eine innere Beziehung zu dieser Person halten könnten, was es uns erlaubt, wieder in unser
Leben zu investieren. Wenn wir dem Pfad durch die Trauer zur Ganzheit folgen, so entdecken
wir vielleicht eine unsterbliche Liebe.

Zeugnis ablegen

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Aus buddhistischer Perspektive bedeutet die Pflege eines Menschen zu erkennen, dass das
Leiden dieser Person auch mein Leiden ist. Sobald ich das sehe, muss ich dieser Unsicherheit
ins Auge blicken, ob ich die Person im Bett bin oder diejenige, die das Bett macht.
Buddhistische Praxis kann uns ungeheuer helfen damit fortzufahren, unsere Aufmerksamkeit
dem zu widmen, was tatsächlich erscheint, statt im Gegensatz dazu von dem Drama des
Prozesses mitgerissen zu werden.
Welche grundlegenden Haltungen können hilfreich sein, wenn man mit einem Sterbenden
zusammen ist? Eine davon ist es, dass wir vollständig wir selbst sind. Das bedeutet, unsere
Stärke und Verletzlichkeit ans Bett mitzubringen. Und zu erkennen, dass Menschen, die
sterben, sehr vertraute und natürliche und ehrliche Beziehungen benötigen. Wir können nicht
aus einer Distanz dienen, denn es ist eine enge Arbeit und wir müssen Teil der Gleichung sein.
Deshalb ist es absolut wesentlich, dass wir unser gesamtes Selbst zu der Erfahrung
mitbringen.
Es ist wichtig, dass wir die Qualität der Empathie ans Bett mitbringen. Das ist möglicherweise
das größte Geschenk, das wir einem anderen menschlichen Wesen zuteil werden lassen
können – unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Zuzuhören ohne Urteil oder Meinung oder
Tagesordnung. Einmal beschrieb der große Psychologe Carl Rogers Empathie als „… mit
neuen und unerschrockenen Augen schauen.“ Ich denke, dies ist eine wunderbare Haltung,
wie man mit jemandem zusammen sein kann.
Auch einfache menschliche Herzlichkeit. Wenn Menschen krank sind, kommt es auf
Kleinigkeiten an. Die Art, wie wir jemanden pflegen, die Weise, wie wir dem nachkommen,
unseren Dienst anzubieten, ist unglaublich wichtig. Wie können wir mit den einfachen
Kleinigkeiten beistehen? Ein kühles Tuch auf eine schwitzende Stirn legen, die Hand eines
verängstigten Patienten halten, die Wäsche waschen, jemandem dabei helfen, die Formulare
für die Versicherung auszufüllen. Wenn die einfachen alltäglichen Tätigkeiten mit liebender
Aufmerksamkeit angeboten werden, so baut dies Vertrauen auf und verbessert die
Selbstachtung. Dieser Aufstellung an hilfreichen Haltungen würde ich noch „Nichtstun“
hinzufügen. Und wirklich das Vertrauen in unsere menschliche Anwesenheit zu haben.
Verlangsame in den letzten Tagen und gib viel Raum für Stille, verringere die Ablenkungen.
Verpasse diesen Moment nicht, indem du auf ein zukünftiges Ereignis wartest, selbst den
Moment des Sterbens.
Ein Teil meiner Aufgabe besteht darin zu versuchen, die buddhistische Praxis den Menschen
nützlich und zugänglich zu machen, die darin nicht erfahren sind; eine Sprache zu verwenden,
die nicht noch mehr Barrieren errichtet. Über das bewusste Sterben gibt es eine Menge
auszusprechen. Aber wir reden nicht so viel über das bewusste Pflegen. Beim Sterben ist
jegliche spirituelle Unterstützung genauso wichtig wie eine gute Schmerzkontrolle. Aber
selten erweitern wir diese Art der Unterstützung auf sinnvolle Weise. Und als Resultat sterben
zu viele Menschen in Verzweiflung und Angst.
Wie kann man diese Unterstützung bereitstellen? Zuallererst würde ich sagen, dass dies über
Zeugnis ablegen geht. Und das bedeutet, dass man sich nicht abwendet, wenn es unangenehm
wird, dass man präsent bleibt auf dem Gebiet des Mysteriums und der unwiderleglichen
Fragen. Es bedeutet manchmal – abhängig von der Tradition des Menschen –, dass man einen
Priester ruft, um die letzten Rituale auszuführen oder eine Gebetsfahne zu erhalten oder um
bei Briefen der Versöhnung zu helfen. Selten geht es darum, existenzielle Diskussionen zu
führen. Oder sogar formale Praktiken einzuführen. Es hilft den Menschen, sich direkt dem zu
stellen, was geschieht, mit den Paradoxen zu arbeiten, denen sie begegnen.
Wahrscheinlich ist es am wichtigsten, dass wir uns unseres Körpers und Geistes bewusst
werden. Lasst uns das nicht unterschätzen. Es ist die wesentlichste aller Praktiken – die eigene
Verpflichtung, Aufmerksamkeit für den eigenen Geist, den Körper und das Herz in der Mitte

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davon zu bewahren. Wenn wir jemanden pflegen, der krank ist, leihen wir ihm unseren
Körper. Wir benutzen die Kraft unserer Arme, um ihn vom Bett zum Toilettenstuhl zu
bewegen, und wir können ihm auch die Kraft unseres Geistes leihen. Wir können eine ruhige
und angstfreie empfängliche Umgebung erschaffen helfen. Wenn eine ruhige Person im Raum
ist – nur eine Person – erleichtert es die ganze Erfahrung für jeden.

Ruhe in Liebe
Wenn wir jemanden pflegen, der krank ist, leihen wir ihm unseren Körper. Wir benutzen die
Kraft unserer Arme, um ihn vom Bett zum Toilettenstuhl zu bewegen, und wir können ihm
auch die Kraft unseres Geistes leihen. Wir können eine ruhige und empfängliche Umgebung
erschaffen helfen. Wir können ein Hinweis sein für Stabilität und Konzentration. Wir können
unser Herz in der Art ausdehnen, dass es den einzelnen Sterbenden dazu inspiriert, es ebenso
zu tun.
Wir benutzen die Praxis der Achtsamkeit als einen Weg, der Menschen hilft, ihren Schmerz
zu erforschen und ihre Beziehung zum Schmerz in den Wochen und Monaten vor ihrem Tod
zu verändern. Manchmal richtet sich die Achtsamkeit wie ein Laserstrahl genau auf das Herz
einer Empfindung. Aber nicht immer. Hier folgt ein Beispiel. In unserem Hospiz gab es einen
Kumpel namens Carl. Er erinnerte mich an meinen Vater. Ich empfand große Zuneigung zu
ihm. Er untersuchte die Praxis der Achtsamkeit. Und eines Tages hatte er einen riesengroßen
Schmerz in seinem Bauch und ich benutzte eine geführte Meditation, um ihm zu helfen, die
Empfindung im Bereich des Schmerzes zu untersuchen. Es war einfach zu viel für ihn, der
Schmerz war zu schlimm. Er konnte seine Aufmerksamkeit nicht dort halten. So legte ich
meine Hände auf seinen Bauch und sagte: „Carl, wie wäre es, wenn ich meine Hände hier ein
wenig liegen ließe. Wie wäre das?“ Er meinte, dass es in Ordnung sei, aber es schmerze. So
nahm ich meine Hände ein wenig von seinem Bauch weg und fragte: „Wie ist das?“ Er sagte,
dass es etwas besser sei. Und ich nahm meine Hände noch weiter von seinem Bauch weg und
er sagte: „Oh, das ist wunderbar.“ Ich fragte, ob er so für eine Weile nur ruhen könne. Dann
kam aus seinem Mund, nicht aus meinem: „Ruhe einfach in Liebe, ruhe in Liebe.“ Wann
immer Carl von da an so viel Schmerz empfand, betätigte er seine Morphiumpumpe, um sich
eine Extradosis an Morphium zu geben, und er sagte: „Ruhe in Liebe, ruhe in Liebe.“ Bei
dieser Meditation geschah es, dass er nicht in die direkte Empfindung eindringen konnte,
jedoch konnte er etwas mehr Raum um ihn finden. So wurde seine Beziehung zu seinem
Schmerz verändert. Als seine Frau am nächsten Tag kam − und sie war sehr besorgt um sein
Sterben, drehte er sich nur zu ihr um und sagte: „Ruhe nur in Liebe.“ Es wurde seine Art
Mantra. Auf die Art könnten wir die Praxis der Achtsamkeit verwenden – um den Schmerz zu
untersuchen oder um eine Veränderung in der Beziehung, die wir zum Schmerz haben,
herbeizuführen.
Und das ist Teil unserer Herausforderung in Amerika: diese Praktiken zu nehmen und ihnen
ein zeitgenössisches Leben zu geben.
Wenn Menschen wirklich krank sind, dann verlangsame die letzten 24 Stunden und bewege
dich weniger. Werde ruhig. Beobachte deinen eigenen Atem. Hilf eine Atmosphäre in dem
Raum zu erschaffen, die von angstfreier Empfänglichkeit charakterisiert wird und gewillt ist,
allem, was entsteht, zu begegnen. Erledige einfache Dinge mit großer Aufmerksamkeit.
Betrachte die Atmosphäre im Raum. Ist sie friedlich und beruhigend? Oder ist sie chaotisch?
Gibt es eine Art Ordnung, die es dieser Person erlaubt auseinander zu fallen, wenn sie stirbt
(weil das Teil des Sterbeprozesses ist, diese Art von großem Chaos, dem Menschen
begegnen). Schau dir das an. Achte auf die einfachen Dinge – Wasser oder Eiswürfel; was
auch immer du benötigst, um es der Person angenehm zu machen. Aber interveniere minimal.
Beobachte den Zustand deines eigenen Geistes.

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Frank Ostaseski: Eine Reise durch die Trauer, in: Buddhismus aktuell Nr. 4/2005; Übersetzung aus dem
Englischen: Traudel Reiß

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Hebammen für Sterbende
Transformation durch Hospizarbeit

Interview mit Frank Ostaseski

„Ein mitfühlender Begleiter sein“ hieß der Workshop, auf dem Michaela Doepke und Jeanette Riesch den
Gründer des Zen-Hospizes in San Francisco, kennen lernten. Gemeinsam mit Hospizhelfern, Ärzten und
Praktizierenden übten sie sich darin, dem Tod als Freund zu begegnen. Dort wie auch im anschließenden
Interview waren sie tief beeindruckt von der Menschlichkeit und der mitfühlenden Präsenz Ostaseskis, durch die
er scheinbar jede Art von sonst üblichem Rollenverhalten ablegen konnte.

1987 haben Sie das Zen-Hospiz in San Franzisko gegründet. Was war Ihre Motivation?

Ich denke, es gibt eine Art natürliche Übereinstimmung zwischen Menschen, die durch die
Meditationspraxis den sogenannten „zuhörenden Geist“ entwickeln und den Menschen, die
gehört werden wollen, den sterbenden Menschen. Und so habe ich mich gefragt, wie diese
Beziehung wohl aussehen könnte. Angenommen, es gäbe eine Gruppe von Menschen, die
wirklich lernen würden, sehr sorgfältig zuzuhören, Menschen mit Meditationspraxis also, wie
würden die mit Sterbenden umgehen? Darauf war ich neugierig. Das war der erste Grund. Der
zweite war, dass, wie ich denke, selbstlose Hilfe ein wichtiger Aspekt für die Zukunft des
Buddhismus ist. Im Westen hat die Buddhistische Praxis oft noch eine große
Selbstbezogenheit, im Vergleich zu anderen Traditionen wie zum Beispiel dem Christentum,
wo die Nächstenliebe eine große Rolle spielt – wobei es für mich einen Unterschied gibt
zwischen Nächstenliebe und selbstloser Hilfe. Selbstlose Hilfe ist immer für beide Seiten eine
Bereicherung. Ich arbeite an mir selbst in meiner Meditationspraxis, um anderen besser helfen
zu können und durch meine Hilfe arbeite ich wiederum an mir selbst. So entsteht eine
wechselseitige Bereicherung.

Sie praktizieren schon seit langem Zen-Meditation. Wie vereinbart sich Meditationspraxis mit
der Hospizarbeit?

Tatsächlich war meine ursprüngliche Meditationspraxis Vipassana. Das Praktizieren lehrt uns,
achtsam zu sein in jedem Moment und alles, was sich uns zeigt, wahrzunehmen, ohne etwas
von uns wegzuschieben. Wenn jemand krank ist und stirbt, reagiert die Umgebung und oft
auch der Betroffene selbst, mit Ablehnung auf die Krankheit und den Sterbeprozess. Und so
sterben viele Menschen in einem Umfeld, das ihre verschiedenartigen Sterbeerfahrungen
ablehnt. Wenn wir dagegen ein Umfeld schaffen können, das offen für diese Erfahrungen ist
und diese annimmt, kann das den Sterbeprozess entscheidend verändern.
Außerdem lehrt uns die Meditationspraxis sehr eindrücklich die Wahrheit der
Vergänglichkeit. Wir stellen uns gerne vor, dass wir selbst unvergänglich sind und nur in einer
veränderlichen Welt leben. Bei der Arbeit mit Sterbenden erkennen wir, dass das nicht der
Wahrheit entspricht. Letztendlich lehrt uns die Meditationspraxis Selbsterkenntnis. Wenn man
sich um einen Sterbenden kümmert und ihm in die Augen blickt, ist das der klarste Spiegel in
den man schaut und man kann sich hinter nichts mehr verstecken. Ein Spiegel spiegelt immer
das Objekt wieder. Wenn ich also mit einem Sterbenden zusammen bin, spiegelt er mir meine
ursprüngliche Natur wider.

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Im Zen-Hospiz haben wir keine hierarchische Struktur. Wir sind ein Kreis und jeder hat
seinen Platz in der Runde, der Patient, die Angehörigen, der Arzt, die ehrenamtlichen Helfer.
Jeder dient jedem, keiner ist in der Mitte. Die Mitte ist leer. Wir alle dienen uns gegenseitig,
so dreht sich der Kreis. Ich denke, dass das Sterben uns eine außergewöhnliche Gelegenheit
bietet, um aufzuwachen und unsere wahre, ursprüngliche Natur zu erkennen und zwar sowohl
für den Pflegenden wie auch für den Sterbenden. Wenn du in die Nähe des Todes kommst, hat
das eine tief greifende Wirkung auf dich, selbst wenn du nur die Person bist, die den Boden
wischt. Der Tod hat die unglaubliche Kraft, unsere volle Aufmerksamkeit zu erzwingen, so
dass wir uns nicht mehr abwenden können. Das ist doch der Hauptgrund der
Meditationspraxis: das wahrzunehmen, was tatsächlich da ist und zu sehen, was wahr ist und
was nicht. Im Zusammensein mit einem Sterbenden wird dies sehr eindeutig. Früher gingen
die Mönche zu den Bestattungsplätzen, um den Tod und die Vergänglichkeit verstehen zu
lernen. Heute findet dieses Verstehen in den Hospizen statt.

2004 haben Sie das Alaya-Institut gegründet und damit die Aufmerksamkeit der Medien
erregt. Welche besonderen Inhalte werden an diesem Institut gelehrt?

Ich hatte das Projekt Zen-Hospiz begonnen, um eine Umgebung zu schaffen, in der neben
qualitativ ausgezeichneter Pflege auch ein achtsamer Umgang mit den Sterbenden praktiziert
wird: durch eine offene und annehmende Haltung für den Sterbeprozess. Das Alaya-Institut ist
eine Weiterentwicklung. Wir wollten die Erfahrungen, die am Bett der Sterbenden gesammelt
wurden, an eine viel größere Gruppe weitergeben, zum Beispiel durch meine Workshops, auf
Retreats und durch Veröffentlichungen und Artikel. Darüber hinaus wollten wir ein
Ausbildungsprogramm entwickeln, das einen transformativen Weg für die Teilnehmer und
deren Arbeit bietet.
So haben wir für Ärzte, Pflegepersonal, Seelsorger und Therapeuten eine einjährige
Ausbildung entwickelt, um ihnen die transpersonalen Dimensionen des Sterbens zu
vermitteln. Es geht also nicht um Schmerzbehandlung oder ähnliches, ich denke, das wird
bereits von anderen sehr gut gelehrt. Wir wollen so etwas wie Hebammen für Sterbende
ausbilden. Hebammen sind Lehrer, Fürsprecher und Führer. Lehrer, um aufzuzeigen, welche
Möglichkeiten im Sterben liegen: Möglichkeiten für Wachstum, Veränderung und
Transformation. Fürsprecher für die Seele, für die persönliche Art zu sterben. Und Führer im
Sinne von begleiten, so wie eine Hebamme die Gebärende begleitet und zurückführt zu ihren
eigenen Fähigkeiten, zurück zu ihrer eigenen Körperweisheit. So begleiten wir die
Sterbenden, wir führen sie zurück zu dem, was sie natürlicherweise schon wissen.
Stellen Sie sich vor, es wäre in ganz Amerika, in ganz Europa möglich, dass ein
Sterbenskranker sich an einen Helfer wenden kann, der ihm das alles erklärt, ihm die
verschiedenen Möglichkeiten aufzeigt und der ihm auch als Fürsprecher und Begleiter zur
Verfügung steht. Meiner Meinung nach ist die Hospizarbeit wunderbar entwickelt und
inzwischen auch in vielen Teilen der Welt weitläufig akzeptiert.
Aber was ist jetzt der nächste Schritt? Wir haben das Alaya-Institut gegründet, um diesen
vorzubereiten. Die meisten Hospize leisten hervorragende Pflegearbeit, doch überwiegend
orientieren sie sich an medizinischen Modellen. Sterben ist aber nicht nur ein medizinischer
Vorgang. Deshalb müssen wir neue Modelle einführen, spirituelle Modelle,
Beziehungsmodelle, mannigfaltige Modelle, nicht nur ein buddhistisches Modell. Deshalb
haben wir eine Ausbildung entwickelt, die diese verschiedenen Modelle lehrt und tatsächlich
versucht darüber hinauszugehen.
Die Teilnehmer lernen ein Jahr lang bei uns. Dann gehen sie zurück in ihre Gemeinschaften
und lehren dort andere, nicht unbedingt nach einer bestimmten Methode, doch durch ihre

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persönliche Veränderung hat sich auch ihre Art zu arbeiten transformiert. Ein Arzt, der andere
Ärzte und Medizinstudenten unterrichtet, kam zu unserem Training und ich sagte ihm, dies sei
eine Ausbildung zur Transformation und nicht so sehr Hospizpflege. Er sagte, er wolle keine
Transformation und ich sagte ihm, okay, Sie können gehen oder bleiben. Er entschied sich zu
bleiben.
Am Ende der Ausbildung bat ich ihn, zu unseren Spendenmitgliedern zu sprechen. Er fragte:
Warum ich, was soll ich denn erzählen? Ich sagte ihm, er solle nichts vorbereiten, sondern
einfach über seine Erfahrungen bei uns berichten. Auf der Fahrt zu der Veranstaltung hörte er
einen Radiobericht über einen Musiker aus New Orleans, dessen Piano durch die Flut zerstört
worden war. Der Musiker erzählte, dass er all die Jahre das Piano gespielt habe, aber jetzt
habe er verstanden, dass er selbst das Instrument sei. Bei seiner Rede sagte der Arzt: „All die
Jahre habe ich medizinisch gearbeitet, aber durch diesen Kurs habe ich verstanden, dass
tatsächlich ich selbst das Instrument der Heilung bin, nicht die Maschinen und auch nicht die
medizinische Arbeit.“ Das ist ein ganz anderes Verständnis von Medizin, eine ganz andere Art
zu arbeiten und so gesehen eine grundlegende Veränderung. Er wird seine Erfahrung nun an
junge Studenten weitergeben.

Ist die Ausbildung nur für Amerikaner möglich?

Zurzeit bieten wir die Ausbildung noch nicht für Europäer an. Wir denken darüber nach, aber
das Programm läuft erst seit drei Jahren. Ich müsste auch erst geeignete Institutionen in
Europa finden, mit denen wir gemeinsam die Ausbildung anbieten können. Es ist durchaus
möglich, und vielleicht sind wir in zwei Jahren soweit. Die Inhalte vermittle ich zum Teil
auch jetzt schon in meinen Workshops. Ich bin zum Beispiel Ehrenvorsitzender beim
Münchner Hospiz „Dasein“. Die Mitarbeiter haben in Workshops bei mir gelernt und wenden
das Vermittelte in ihrer Arbeit an, vielleicht etwas abgewandelt, aber für mich muss ein
Hospiz ja nicht buddhistisch geführt sein. Wir tragen nicht ständig ein buddhistisches Zeichen
an unseren Ärmeln wie man bei uns sagt, oder mit anderen Worten, sei ein Buddha und nicht
buddhistisch.

Kann man sich auf den Tod vorbereiten?

Ich bin ein ausgesprochener Pragmatiker, und ich hab es nicht so mit der Esoterik. Mir scheint
es, dass unsere Gewohnheiten eine sehr starke Triebkraft besitzen und diese Kraft bereitet uns
auch auf den Tod vor. Deshalb sollten wir uns die Frage stellen: Welche Gewohnheiten will
ich entwickeln? Die Gewohnheit alles zu kontrollieren, oder die Gewohnheit offen und
hingebungsvoll zu sein. Die Haltung, die wir jetzt haben, haben wir üblicherweise auch, wenn
wir sterben. Es gibt Fälle von beachtlicher Veränderung während des Sterbeprozesses, aber
meistens zeigt sich unsere gewohnheitsmäßige Haltung auch während unseres Sterbens.
Deshalb ist die beste Vorbereitung auf den Tod, das Leben voll und ganz zu leben, mit
Offenheit, Annahme und Furchtlosigkeit. In jede Erfahrung ganz reinzugehen mit allem, was
wir haben, mit ganzem Herzen, und auch mit unserem Körper.
Wenn wir jemanden lieben, dann sollten wir unsere Liebe ganz schenken und uns nicht durch
künstlichen Abstand zurückhalten. In Bezug auf das Sterben haben die meisten Menschen
sehr ähnliche Ängste. Zum ersten ist da die Angst vor Schmerz, den wir heute durch gezielte
Schmerztherapie sehr gut lindern können. Dann die Angst emotional alleine gelassen zu
werden, weil keine zukunftsfähige Beziehung mehr möglich ist. Wenn wir unsere Begleitung
anbieten, können wir auch diese Angst lindern.

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Die nächste Angst ist, dass ich verschwinden werde, meine Sinne werden sich auflösen. Nun
was kann da helfen? Der einzige Weg ist der Kontakt zu etwas, das größer ist als ich selbst
und zu dem ich dazugehöre. Als Pflegende können wir dabei hilfreich sein. Wenn wir
jemandem helfen, vom Bett zur Toilette zu gehen, nutzen wir unseren Körper, wir stellen ihn
dem anderen sozusagen als Hilfe zur Verfügung. Wir können dem anderen ebenso die
Stabilität unseres Geistes und die Furchtlosigkeit unseres Herzen zur Verfügung stellen. Wir
können unser Herz in einer Weise öffnen, die andere ermutigt, dasselbe zu tun. Das ist
wirklich sehr hilfreich. Die meisten Menschen sterben in Angst, denn sie sind von Menschen
umgeben, die sich fürchten. Wenn wir in unserem eigenen Leben üben, können wir vielleicht
mit Angst besser umgehen, statt nur darauf zu reagieren und können so jemanden
unterstützen, der sich fürchtet.

Können Sie beschreiben, wie der Tod die Transformation auf dem spirituellen Weg
unterstützen kann?

Wir sollten erkennen, dass der Sterbeprozess bestimmte Voraussetzungen erfüllt, die uns
helfen können aufzuwachen. In vielerlei Hinsicht unterscheidet sich der Sterbeprozess nicht
sehr von einem langen Retreat. Da ist zunehmende Stille, Innenschau, Schweigen, innere
Reflexion, ein sich Zurückziehen von der Welt. All dies hilft uns bei einem Meditationsretreat
aufzuwachen und ist auch im Sterbeprozess da. Alle Rollen, über die wir uns definiert haben,
wie, ein Vater, eine Mutter, ein Buddhistischer Lehrer zu sein, fallen durch die Krankheit weg
oder werden würdevoll abgegeben. Dann stellen wir uns die Frage, wer bin ich? Nun, ist das
nicht die grundlegende Frage auf dem spirituellen Weg?
Ist das nicht Ramana Maharshis Frage: Wer bist du? Er fragt dies viele, viele Male. Während
des Auflösungsprozesses der Identität passiert es häufig, dass die Menschen in ihrer
gewohnheitsmäßigen Sicht den bekannten Verhaltensmustern anhaften. Gleichzeitig
verringert sich beim Sterbeprozess die Fähigkeit zur Anhaftung an den Körper und auch an
den Geist. Das Verdrängen fällt schwer. So gesehen gibt es Umstände im Sterbeprozess, die
uns tatsächlich helfen können aufzuwachen. Aber im Allgemeinen bleiben diese Umstände
unbeachtet und werden nicht von außen unterstützt, sondern vielmehr als Probleme bewertet.
Wenn aber jemand im Raum ist, der darum weiß, kann er den Sterbenden auf die Möglichkeit
hinweisen, diesen Prozess anzuerkennen und sich ihm zu öffnen.

Hat sich in Ihrer umfassenden Erfahrung der Sterbebegleitung gezeigt, dass buddhistisch
Praktizierende besser loslassen können?

Das ist eine gute Frage, aber sie kann am besten mit einer Gegenfrage beantwortet werden.
Warum wollen Sie das wissen? Was veranlasst uns, diese Frage zu stellen? Welche
Geisteshaltung lässt diese Frage in uns entstehen? Die Grundlage für diese Frage ist nicht der
Glaube, sondern der Zweifel. Eines der fünf Hindernisse ist Zweifel. Welchen Beweis könnte
ich Ihnen geben, der diesen Zweifel entkräftet? Wenn ich zu Ihnen sagen würde,
neunundneunzig von hundert Buddhisten machen eine gute Erfahrung, würden Sie fragen,
aber was ist mit der einen Person? Denn das ist die Natur des Zweifels. Deshalb würde ich
diese Frage gerne auf eine andere Ebene bringen. Unsere Überzeugungen kommen und gehen,
wenn wir sterben. Überzeugung ist verschieden von Glauben. Überzeugung ist eine Idee,
vielleicht eine tiefe Idee, aber dennoch eine Idee. Es ist eine Geistesverfassung, die kommt
und geht wie jeder andere Gedanke.
Im Buddhismus gibt es das, was wir Glauben nennen. Glaube hat verschiedene
Entwicklungsstufen. Die erste Stufe nennen wir Inspiration. Die zweite Stufe nennen wir

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bewiesenen Glauben, mit anderen Worten, ich mache eine unmittelbare Erfahrung, auf die ich
vertrauen kann. Von dieser direkten Erfahrung aus können wir in den sogenannten
beständigen Glauben hineingelangen, der nicht auf Überzeugung basiert, sondern auf direkter
Erfahrung. Hilft Ihnen die buddhistische Praxis dabei, diesem Moment zu begegnen? Wir
wollen den Tod zu etwas Speziellem machen, doch er ist wie jeder andere Moment auch.
Jeder Moment kommt und geht. Ich habe Menschen mit ungeheuer tiefer religiöser Erfahrung
gesehen, buddhistisch, christlich und anderen Glaubensrichtungen zugehörig, die es schwer
hatten beim Sterben, denn sie hatten so viele Vorstellungen darüber, was während des
Sterbens geschehen sollte und was nicht geschehen sollte, und haben sich darin verstrickt.

Wie wirkt es sich in Ihrem persönlichen Leben aus, dass Sie ständig mit dem Thema Tod und
Sterben umgehen?

Wenn jemand stirbt und es vielleicht schwer dabei hat, dann macht mich das sehr traurig.
Oder vielleicht liebe ich diesen Menschen und weiß, dass ich ihn sehr vermissen werde. Ja,
dann macht mich das traurig, aber für mich ist das einfach ein natürliches menschliches
Verhalten und ich weiß, dass Traurigkeit nicht alles ist, was mich ausmacht. Traurigkeit
kommt und geht und wenn ich dieses Gefühl nicht ablehne, wird es ein Teil meiner
Lebenserfahrung und ich spüre, dass es mich weicher macht. Wenn wir bereit sind, die ganze
Palette menschlicher Emotionen zuzulassen, hilft es uns liebevoller zu sein. Das
Zusammensein mit Sterbenden hat mich gelehrt, freundlicher zu mir selbst und anderen zu
sein. Ich bin mir bewusst, wie wertvoll das Leben ist und möchte keinen Moment vergeuden.
Wenn ich einen Menschen liebe, sage ich es ihm und warte nicht. Und ich denke nicht, dass
ich ewig Zeit habe in diesem Leben, deshalb praktiziere ich, als würden meine Haare in
Flammen stehen.

Frank Ostaseski (Interview): Hebammen für Sterbende. Transformation durch Hospizarbeit, in: Buddhismus
aktuell Nr. 2/2006. Das Gespräch führten Michaela Doepke und Jeanette Riesch in Schondorf im Dezember
2005.

71
Meine wahren Lehrer sind die Sterbenden
Interview mit Frank Ostaseski

Der Dalai Lama hat Frank Ostaseski für seine Verdienste um die hohe Kunst der Sterbebegleitung ausgezeichnet.
Auch in Fachkreisen ist er heute weltweit bekannt für seine Pionierarbeit als Sterbebegleiter und Ausbilder in
dem von ihm gegründeten „Metta Institute“, USA. Wie er Menschen individuell auf dem letzten Weg in den Tod
begleitet, das verriet er Ulli Olvedi im Interview für Buddhismus aktuell.

Wir bezeichnen uns heute zwar als „aufgeklärte“ Menschen, aber Sterben und Tod werden in
den westlichen Industriegesellschaften immer noch tabuisiert. Wenn nun ein todkranker
Mensch zugibt, dass er sich vor dem Sterben schrecklich fürchtet, und man sich als Begleiter
nicht auf positive spirituelle Vorstellungen beziehen kann, wie soll man ihm dann helfen?

Bei Menschen, die sich als nicht religiös bezeichnen, ist einer der Bereiche, in denen ich mit
ihnen arbeite, der Bereich ihrer Beziehungen, denn ihr spirituelles Leben ist definiert durch
ihre Beziehungen – Familie und Freunde. Wenn sich also jemand sehr ängstigt, frage ich nach
individuellen Beziehungen, die helfen könnten. Wie es wäre, wenn diese oder jener bei ihm
wären. Eine weitere Möglichkeit wäre, sich mit der Angst zu befassen, sie zu untersuchen,
ihre Ursache herauszufinden. Es geht darum, dass diese Menschen etwas entdecken können,
was größer ist als sie selbst. Etwas, was die Angst umarmen, sie einbeziehen kann. Und ich
meine, die Liebe kann das. Ich würde also diese Person ermutigen, nach der Liebe zu fragen,
sie zu erforschen, sie zu erleben. Das kann die Angst in gewisser Weise ausgleichen. Denn
Liebe ist der ausgleichende Faktor für Angst.

Hilft es Ihrer Ansicht nach, wenn man eine Vorstellung davon entwickelt, wie man sterben
möchte – unter welchen Umständen, mit welchen Menschen und Ähnliches?

Ich glaube, wir haben alle irgendeine Vorstellung, wie wir sterben möchten. Und auch, wie
wir nicht sterben möchten. Ich vermute, dass beide Vorstellungen die Art und Weise
beeinflussen, wie wir dann tatsächlich sterben werden. Es geht nicht nur darum, eine positive
Vorstellung vom eigenen Tod zu entwickeln, sondern auch, die furchterregenden
Vorstellungen anzuschauen. Beide sind wichtig. Jedenfalls scheint es schon hilfreich zu sein,
wenn wir eine positive Sichtweise entwickeln. In gewisser Weise schafft das ein positives
Karma.

Wenn eine sterbende Person die Tatsache ihres Sterbens leugnet, wie sollen sich die
Begleiter, Verwandten und Freunde dann verhalten?

Das ist eine Frage, die oft gestellt wird. Das Leugnen wird ganz offensichtlich als Problem
betrachtet. Wir können einem anderen Menschen aber nicht beim Sterben helfen, indem wir
versuchen, sie oder ihn zu ändern. Wenn wir uns bemühen, ihn dazu zu bringen, seine
Situation nicht zu leugnen, stoßen wir ihn zurück. Am ehesten hilft wohl, wenn wir erkennen,
dass wir selbst immer wieder, tagtäglich, in einen Zustand des Leugnens verfallen. Ich denke
nicht, dass Leugnen so schlimm ist. Wir leben in gewisser Weise alle damit. Meiner Ansicht
nach kümmert sich der Sterbeprozess selber um das Leugnen. Es bricht dann ganz von selbst

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zusammen. Denn das Sterben ist stärker als alle Pläne der Sterbebegleiter. Die Idee, das
Leugnen loswerden zu müssen, ist ein Plan der Helfenden und Pflegenden.
Ich schaue mir in so einem Fall die Beziehungen zwischen der sterbenden Person und den
Pflegenden, den Angehörigen, den Freunden an. Irgendwie wollen sie nicht akzeptieren, wer
der andere ist. Sie leugnen die Fähigkeit des anderen zu sein, wer sie oder er ist. Das Leugnen
ist ein notwendiger und angemessener Zustand im Verlauf des Sterbeprozesses. Und es öffnet
den Weg zur nächsten Stufe genau dann, wenn der sterbende Mensch bereit ist.

Wie kann man Angehörigen helfen, die mit dem Sterben eines nahen Menschen nicht fertig
werden und nicht bei ihm oder ihr bleiben möchten?

Ich versuche grundsätzlich nicht, die Menschen zu verändern. Vielmehr bemühe ich mich, ein
Vorbild zu sein. Wenn ich also zum Beispiel ruhig und friedlich bei jemandem sitze, gebe ich
anderen die Möglichkeit, das Gleiche zu tun. Wenn ich mein Herz öffne, mag das andere dazu
anregen, ihr Herz ebenfalls zu öffnen.
Für manche ist es eine sehr aufregende und bedrohliche Erfahrung, mit jemandem im Zimmer
zu sein, der stirbt. Es ist etwas, worauf sie nicht vorbereitet sind. Wir können ihnen Beistand
geben, aber ich würde niemals jemanden nötigen, sich solch einer Konfrontation auszusetzen.
Ich habe jedoch die Feststellung gemacht, dass immer dann, wenn ich in einer Situation
natürlich und entspannt bin, die anderen meinem Beispiel folgen. Eine einzige ruhige Person
reicht aus, um die Situation zu bestimmen.
Man sollte auch fragen, wie die Beziehung zwischen dieser ängstlichen Person und dem
Sterbenden vor dem Sterben war. Dann sagt sie vielleicht: „Oh, sehr gut. Wir sahen uns oft,
redeten über die Familie und die Kinder.“ Dann sollte diese Person einfach dem gewohnten
Rhythmus der Beziehung folgen. Wir müssen den ganzen Menschen sehen, mit dem wir es zu
tun haben, nicht nur den Sterbenden. Wir beziehen uns also auf den ganzen Menschen, in
einer ganz normalen, natürlichen, entspannten Weise. Sterben ist etwas, das dem Menschen
geschieht – es ist nicht das, was er ist. Das wird oft verwechselt.

Frank, Sie sind Buddhist. Wenn Sie nun einen Christen, Muslim, Indianer oder Voodoo-
Anhänger begleiteten, gab es da wesentliche Unterschiede?

Als Erstes habe ich es mit menschlichen Wesen zu tun. Bevor sie Muslime oder was auch
immer waren, waren sie Babys. Einfach Menschen. Ich versuche erst einmal herauszufinden,
wie unsere natürliche Verbindung als Menschen ist. Jeder von uns hat das Bedürfnis nach dem
Guten. Und deshalb spreche ich mit Sterbenden von Gutem und versuche, sie dort zu
erreichen, ungeachtet ihrer Religion. Ich habe mit allen denkbaren Arten von Menschen
gearbeitet, Menschen mit sehr unterschiedlichem kulturellen und religiösen Hintergrund und
Lebensstil. Als ich jung war, begann ich mit meiner Arbeit auf der Straße bei den
Obdachlosen und Prostituierten, auf Parkbänken, in Absteigen. Was mir in diesem Prozess
hilft, ist Neugier, mein Interesse, diese Menschen kennenzulernen, herauszufinden, wer sie
sind, anstatt sie irgendwie zu kategorisieren. Ich möchte wissen, wie sie denken, wie sie
fühlen, auf welche Glaubensvorstellungen sie sich stützen. Ich denke, wir können immer zu
dem Grund des Wesens sprechen, den jeder von uns in sich hat. Es ist nicht nötig, sich in
religiöse Angelegenheiten zu verwickeln. Ich frage oft, wie sie etwas beschreiben würden, das
größer ist als sie, aber sie zugleich umfasst. Das ist eine Möglichkeit, mit ihnen über ihre
innerste Natur zu sprechen – oder sagen wir über Gott. Die Antworten darauf sind
faszinierend. Ich sagte schon, dass jeder Mensch eine Vorstellung davon hat, wie er sterben

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möchte. Und auch davon, was danach geschieht. Und ich denke, das beeinflusst die Art und
Weise, wie er stirbt.
Vor vielen Jahren begleitete ich den Präsidenten der amerikanischen Atheistischen
Gesellschaft in unserem Zen-Hospiz beim Sterben. Ich war, ehrlich gestanden, sehr stolz, dass
er ins Zen-Hospiz zum Sterben kam, weil er erkannt hatte, dass er bei uns nicht mit
irgendwelchen Dogmen konfrontiert würde, dass er so sterben durfte, wie er es brauchte. Wir
hatten faszinierende Gespräche. Ich fragte ihn: „Was meinen Sie, was wird geschehen, wenn
Sie gestorben sind?“ Er antwortete: „Nichts. Ich werde zu Molekülen und diese Moleküle
mischen sich unter alle Moleküle des Universums.“ Ich dachte, dass ich mir keine Sorgen um
ihn machen musste. Ich hatte kein Bedürfnis, ihn von etwas anderem zu überzeugen. Er fühlte
sich wohl damit und es war für ihn eine beruhigende Vorstellung.
Andererseits haben manche Menschen sehr starke religiöse Vorstellungen, die ihnen große
Angst machen können. Etwa islamische oder christliche oder sogar buddhistische
Fundamentalisten. Diese religiösen Missverständnisse können Sterbende in schrecklich
angstvolle Zustände bringen, sie fühlen sich isoliert und ausgeliefert. Ich bin der Meinung,
dass wir mit Sterbenden aufrichtige Gespräche über ihre Glaubenssysteme führen und
herausfinden sollten, was ihnen in ihrem Sterbeprozess wirklich helfen kann. Ich habe
Menschen begleitet, die entsetzliche Angst vor der Hölle hatten, vor der christlichen Hölle,
aber auch vor buddhistischen Höllen. Was sich da in ihnen abspielt, ist ihre innere Kritik, ihr
Urteil über sich selbst. Und das verursacht so viel Leiden. Wir sollten ihnen helfen, sich mit
dieser Kritik zu konfrontieren, ihr wirklich zu begegnen und zu erkennen, dass es nicht
Weisheit ist, die da spricht. Wir müssen diese Kritik infrage stellen und den Menschen helfen,
herauszufinden, was wirklich wahr ist.

Haben Sie erlebt, dass Menschen ganz allein sterben wollten?

Ja. Vor einigen Jahren kam ein Mann ins Hospiz und ich fragte ihn, wie er sterben wolle.
Diese Frage stelle ich oft: „Wie wollen Sie sterben?“ Und auch: „Was glauben Sie, was
geschieht, wenn Sie gestorben sind?“ Dieser Mann sagte: „Ich möchte allein sein, in Ruhe
gelassen werden, in meinem eigenen Bett sterben.“ Ich fragte, ob er seine Familie bei sich
haben wolle oder ob vielleicht ich bei ihm sein solle. „Nein, vielen Dank“, sagte er, „ich bin
ganz zufrieden mit mir selbst.“ Also hängte ich ein Schild an seine Tür: John stirbt, lasst ihn
in Ruhe. Aber alle die freiwilligen Helferinnen und Helfer regten sich fürchterlich auf. „Wie
kannst du das geschehen lassen“, sagten sie, „niemand sollte alleine sterben.“ Das war ihr
Slogan! Ich sagte: „Aber er will es so haben. Es ist nicht unsere Sache, ihm zu diktieren, wie
er sterben soll. Das müssen wir ihm überlassen.“ Natürlich schaute ich immer wieder mal
nach ihm, um sicher zu sein, dass das immer noch seine Version war. Und schließlich starb er,
wie ich annehme, ganz friedlich. Es ist nicht mein Job, zu entscheiden, wie jemand sterben
soll. Wir müssen unsere eigenen Ängste anschauen, die wir diesbezüglich haben. Denn viele
von uns fürchten sich davor, alleine zu sterben. Also glauben wir, andere sollten auch nicht
alleine sterben. Wir müssen sehr vorsichtig sein, unsere Ängste nicht auf andere zu
projizieren, vor allem nicht im Sterbeprozess. Aber wir müssen ebenso vorsichtig sein, nicht
idealistische oder religiöse Vorstellungen zu projizieren, wie gestorben werden sollte. Wir
sollten wirklich sehr vorsichtig sein und den armen Patienten im Bett nichts Derartiges
aufdrängen. Es ist ihr Sterben, nicht unseres.
Ich denke, es ist hilfreich, den Menschen zu zeigen: Schau, da ist eine Tür! Das bedeutet, es
gibt einen Weg, gelassen und ohne Angst zu sterben. Und ich untersuche mit ihnen
zusammen, mit welchen Mitteln wir das ermöglichen können. Ich meine, genau das ist meine
Verantwortung als Sterbebegleiter. Aber man sollte nichts aufdrängen. Wenn jemand

74
fernsehen will, während er stirbt, ist das für mich völlig in Ordnung. Es ist nicht die Art und
Weise, wie ich sterben möchte, aber wenn der andere es so haben will. Mir geht es darum,
dass die Sterbenden nicht im Stich gelassen werden. Ihre Art zu sterben ist anders als meine.
Wenn sie also beim Sterben fernsehen wollen, sitze ich bei ihnen und schau mit ihnen fern.
Ich würde auf keinen Fall das Zimmer verlassen, in einer Haltung demonstrativer Verurteilung
oder spiritueller Kritik. Das Wichtigste ist, dass wir auf die inneren Ressourcen eines
sterbenden Menschen vertrauen. Wenn eine Mutter ihr Kind zur Welt bringt, ist es die
Aufgabe der Hebamme oder des Arztes, der Mutter zu helfen, das zu entdecken, was sie
bereits zuinnerst über das Gebären weiß. Als Sterbebegleiter sind wir eine Art Hebammen für
die Sterbenden. Das ist unsere Aufgabe: den Sterbenden bei der Entdeckung ihres eigenen
Wissens zu helfen.

Welche Erfahrung haben Sie mit allgemeinen Symptomen, wenn sich der Tod nähert?

Es gibt natürlich die körperlichen Symptome in den letzten 24 bis 48 Stunden. Der Atem
verändert sich, auch die Farbe der Hände und Füße verändert sich manchmal und der
Sterbende schläft mehr. Das ist alles möglich, aber es muss nicht unbedingt bedeuten, dass der
Mensch stirbt. Dann kann es sein, dass sehr intensive Träume kommen, Bilder von dem
Geschehen nach dem Tod, Begegnung mit Verstorbenen und so weiter. Auch Träume sind
häufig, in denen man sich als Toten sieht. Es können Imaginationen auftauchen von religiösen
Bezugspersonen, spirituellen Lehrern.
Sehr häufig geschieht vor allem, dass sich vor dem Sterbeprozess eine Phase des Chaos
einstellt. Es ist gut, das zu erkennen. Denn bevor es zur Unterwerfung, zur Bereitschaft zum
Sterben kommt, gibt es oft Chaos – dann, wenn das Gefühl von Selbst nicht mehr
aufrechterhalten werden kann. Um dieses Gefühl von einem separaten Selbst
aufrechtzuerhalten, brauchen wir eine gewisse Menge Energie. Diese Energie hält eine Art
Deckel über den unbewussten Inhalten fest. Ist diese Energie nicht mehr vorhanden, kommen
die unterbewussten und unbewussten Inhalte hoch, und das erzeugt ein Gefühl von Chaos.
Denn das Gefühl von Selbst, wie wir es gekannt haben, verändert sich, wird zerbrochen. Dann
entsteht Angst und es kommt zu irrationalem Verhalten. Der Schatten der Person tritt heraus.
Dieser Schatten kann zum Beispiel aus unterdrückter Sexualität bestehen oder aus verdrängten
Erinnerungen, und das ist für die Angehörigen möglicherweise sehr peinlich. Doch in
Wirklichkeit kann das ein gutes Zeichen sein. Unser tatsächliches tieferes Wesen kommt zum
Vorschein. Also, Chaos ist möglich. Da sollte man sich keine Sorgen machen, sondern ganz
ruhig bei dem Patienten im Zimmer bleiben. Nicht weglaufen. Auf keinen Fall sagen: „Oh,
sprich nicht so!“ Oder: „So etwas solltest du nicht fühlen!“ Es ist wichtig, alles zuzulassen.

Ich höre oft die Meinung, dass jemand, der ein friedliches Leben geführt hat, auch friedlich
sterben wird. Wird das durch Ihre Erfahrung bestätigt?

Nicht unbedingt. Denn es kann von außen nach einem friedlichen Leben aussehen, muss es
aber im Inneren nicht sein. Und es ist auch möglich, dass wir beim Sterben Ursachen und
Umständen begegnen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Manche Menschen sterben
unter schrecklichen Umständen. Und wenn sie ein friedliches Leben geführt haben, sind sie
vielleicht nicht vorbereitet, damit umzugehen. Die Herausforderung ist vielleicht zu groß für
sie.
Meiner Erfahrung nach ist es schon so, dass Menschen, die mit einer Haltung der
Selbstakzeptanz gelebt haben, leichter sterben. Ich würde so sagen: Die Gewohnheitsmuster
unseres Lebens sind sehr bestimmend. Also müssen wir uns fragen: Welche Muster will ich

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kultivieren? Gewohnheiten der Kontrolle, der Ablehnung? Oder Gewohnheiten des
Akzeptierens, der Liebe, des Friedens? Es gibt keine Garantie in der Art: So oder so werde ich
sterben, wenn ich so oder so gelebt habe. Aber es schadet gewiss nicht, unsere Chance ein
bisschen zu verbessern. Wichtig erscheint mir: Gib jede Idee von Kontrolle auf, was dein
Sterben betrifft. Ich habe keine Ahnung, wie ich sterben werde. Und was die Idee eines
friedlichen Todes betrifft – es ist vielleicht gar nicht das, was für mich nötig ist. Da kommen
wir natürlich in tiefere Bereiche wie Karma, und ich kann nicht behaupten, dass ich die
Komplexität dessen, was man Karma nennt, wirklich durchschaue. Aber wie gesagt, vielleicht
brauchen wir etwas anderes als einen friedlichen Tod. Ich möchte kein endgültiges Urteil über
die Art und Weise, wie jemand stirbt, abgeben. Das steht mir nicht zu. Es wäre schlichtweg
arrogant. Sterben ist kein Test, den wir bestehen oder bei dem wir durchfallen.
In spirituellen Gruppierungen habe ich erlebt, dass manche das Sterben als Test auffassten. Ist
er „gut gestorben“? Hatte sie „einen guten Tod“? Das wird dann als Maßstab für das Leben
der Verstorbenen genommen. Mit dieser Einstellung bin ich nicht einverstanden. Ich kannte
starke, fantastische spirituelle Lehrer, die es sehr schwer hatten beim Sterben. Das heißt nicht,
dass sie nicht großartige Lehrer oder liebevolle Menschen waren. Das Sterben ist eine
gewaltige Herausforderung und wir sollten respektieren, wie gewaltig sie ist. Und auch, wie
sehr wir konditioniert sind. Wir können diese Tatsachen nicht leugnen.

Frank Ostaseski (Interview): Meine wahren Lehrer sind die Sterbenden, in: Buddhismus aktuell Nr. 3/2010. Das
Gespräch führte Ulli Olvedi.

76
Tod in Afrika
Tineke Osterloh

„Es ist sinnvoll, sich regelmäßig allein zurückzuziehen und einen meditativen Selbst-Check vornehmen. Fragen
Sie sich dann in der Meditation oder bei einem stillen Waldspaziergang: „Wenn ich noch fünf Jahre zu leben
hätte – was würde ich ändern und was würde ich beibehalten wollen?“

Es war schon nach Mitternacht, als einige Männer vor der Tür des mit Stroh gedeckten
Rundhauses auftauchten. Sie sprachen laut und klopften dann aufgeregt an die Holztür:
Mervyn öffnete. Er schaute überrascht in die dunklen Gesichter der Arbeiter. Sie zogen ihn
am Ärmel und sagten, dass er gleich mitkommen solle: Manele, die vierjährige Enkeltochter
des Vorarbeiters habe einen Anfall und bekomme keine Luft mehr. Mervyn müsse sie mit dem
Auto ins Krankenhaus bringen.
Damals lebten wir in einem buddhistischen Seminarhaus in Südafrika etwa zwei Autostunden
von der Hafenstadt Durban entfernt am Fuße der mächtigen Drakensberge. Die Landschaft des
Vorgebirges ist geprägt durch verstreut liegende Zuludörfer, hoch wachsende Aloen mit
dicken, dornigen Blättern, durch Farmen, Kuhweiden und die Monokultur-Wälder der
Holzwirtschaft. Auf 1.500 Metern Höhe hielt unser kleines Team einen buddhistischen
Seminar- und Farmbetrieb aufrecht: ein ungewöhnliches Umfeld für Dharmapraxis.
Mervyn Croft ist geborener Südafrikaner. Seine ganze Lebenskraft ist der Praxis und
Vermittlung der buddhistischen Weisheitslehren gewidmet. Die Arbeiter respektieren ihn,
auch wenn er sich mehrmals am Tag auf sein Meditationskissen zurückzieht, die Augen
schließt und ganz still wird. Als sie ihn in jener Nacht um Hilfe baten, ging er sofort mit
ihnen.
Später erzählte er mir, was sich dann ereignete: In aller Eile luden sie die kleine Manele auf
den Pick-Up und rasten über die Schotterstraße zu dem schlecht ausgestatteten Krankenhaus
in Ixopo (der Name wird mit einem Schnalzlaut in der Mitte ausgesprochen und bedeutet
wörtlich: Geräusch, das eine Kuh macht, wenn sie durch den Matsch geht). Auf dem
Beifahrersitz saß Maneles Vater. Er hielt seine Tochter in den Armen. Sie rang um ihr Leben.
Im Krankenhaus von Ixopo wurde ihnen gesagt, man könne nicht helfen. Für Asthma-Notfälle
sei man nicht ausgestattet. Daraufhin jagten die Männer weiter in die 80 Kilometer entfernt
liegende Stadt Pietermaritzburg. Doch so sehr sie sich auch beeilten, für Manele kam jede
Hilfe zu spät. Sie starb in dieser Nacht.
Wenige Tage darauf fand die Trauerfeier statt. Das ganze Dorf kam zusammen, um den
Leichnam des Kindes zu beerdigen. Wir hatten den kurzen Weg zu der Feier zu Fuß
zurückgelegt und betraten nun ein schlichtes Haus, dessen Innenwände halb türkisfarben, halb
weiß gestrichen waren. In einem hellen Raum lag der leblose Körper des Mädchens auf einem
nackten Tisch. Ihre Gesichtszüge waren völlig entspannt. Nichts deutete mehr auf den
Todeskampf hin. Sie war auf eine merkwürdige Weise wunderschön.
Auf dem Boden saßen ihre Mutter und die Großmutter: Beide waren Köchinnen im
Seminarhaus. Mabel, die Großmutter, war als Frau des Vorarbeiters die Ranghöchste unter
den Zulu-Frauen, die für uns arbeiteten. Mehrere Nachbarinnen hatten sich ebenfalls
dazugesetzt. Seit Tagen weinten und klagten sie gemeinsam.
Als sie uns kommen sahen, drehten sie kurz ihre nass glänzenden Gesichter zu uns. Ich
erinnere mich, dass ich näher trat und eine weiße afrikanische Blüte neben den Kopf des toten
Kindes legte. Dann verneigte ich mich. Tränen liefen über mein Gesicht. Sie tropften still auf
den grauen Betonfußboden. Damals weinte ich um Manele und um ihre traurigen Eltern. Und

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ich weinte um alle kleinen Kinder auf der Welt, die so früh sterben müssen, und um ihre
Familien. Ich weinte über diesen verdammten Tod.

Blick in den Abgrund der Existenz


Jede Begegnung mit dem Tod reißt uns radikal aus der bequemen Sichtweise heraus, dass wir
morgen aufwachen und alles so weitergeht wie bisher. Für einen Moment blicken wir in den
Abgrund der Existenz. Es ist erstaunlich, wie leicht man wieder in die alte Trägheit
zurückfällt, sobald sich die Emotionen gelegt haben.
Die buddhistischen Weisheitslehren ermutigen jeden, genau hinzuschauen und ein klares
Bewusstsein zu entwickeln für Vergänglichkeit und Wandel, Tod und Geburt – sowie die
Dimension des Lebens, die frei ist von diesem Prozess. In dem Lotus-Sutra heißt es: „So sollt
ihr diese flüchtige Welt betrachten: als einen Stern in der Dämmerung, eine Luftblase in
einem Strom, als einen Blitzstrahl aus einer sommerlichen Wolke, eine flackernde Lampe, als
ein Trugbild und einen Traum.“
Der große tibetische Meister Dilgo Khyentse Rinpoche ermahnte seine Schüler, nicht zu
vergessen, wie schnell das Leben vorbei ist. Er sagte, selbst wenn man noch so geschickt sei,
könne man den Tod nicht überreden, sich noch für ein paar Jährchen zurückzuhalten. Nicht
einmal für eine einzige Sekunde. Der Tod ist gewiss, der Zeitpunkt des Todes jedoch völlig
ungewiss. Das Pali-Wort anicca bezeichnet eines der wesentlichen Merkmale unserer
Existenz und besagt: Was entsteht, wandelt sich beständig und zerfällt wieder bis zur
Unkenntlichkeit. Wie eine Welle, die an den Strand gespült wird und anschließend ins Meer
zurückfließt.
Niemand kann den Strom des Lebens aufhalten. Es ist ein endloser organischer
Entfaltungsprozess von Erblühen und Verblühen. Im ständigen Wandel von Werden und
Vergehen ist alles aufs Feinste miteinander verwoben. Sogar unsichtbare Dinge wie die
Tausende von Gedanken, Ideen und Gefühlen, die jeder von uns täglich erlebt, sind Aspekte
dieses Entfaltungsprozesses.

Aus einem Traum erwachen


Viele Krisen und Lebensprobleme haben ihre Wurzel in einer getäuschten Wahrnehmung der
Wirklichkeit. Es ist, als ob man im Traum in einem fremden Land ist, dessen
Gesetzmäßigkeiten man noch nicht vollständig erkannt hat, und daher immer wieder von dem
überrascht wird, was geschieht. So täuscht man sich schlichtweg, wenn man das, was
vergänglich ist, als unvergänglich wahrnimmt. Oder wenn man glaubt, dass es etwas gibt, was
man nur haben müsste, um wirklich glücklich zu sein. Oder wenn man annimmt, man könne
wirklich unabhängig vom Rest der Welt leben.
Das gesunde Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit ist ein Meilenstein in der
buddhistischen Weisheitspraxis. Es gibt viele unterschiedliche Wege, sich diesem
existenziellen Thema zu nähern und es zu erforschen. So gehört es zu den Aufgaben der
jungen tibetischen Mönche, die Verstorbenen zu bestatten. In anderen buddhistischen Ländern
ist es üblich, dass Nonnen und Mönche an Autopsien teilnehmen.
Das Satipatthana-Sutra der Mittleren Sammlung (Majjhima Nikaya 10) enthält eine detaillierte
Anleitung zur Achtsamkeitspraxis hinsichtlich der verschiedenen Zerfallstadien des Körpers.
Fortgeschrittene Meditierende der Theravada-Schule, die diese Achtsamkeitsübung unter
Anleitung praktizieren, erkennen ihre eigene Sterblichkeit und das Geschenk des Lebens.
Häufig entwickeln sie ein intensives Gefühl, lebendig zu sein, Dankbarkeit und den Wunsch,
ihr Leben sinnvoll auszurichten. Gleichzeitig durchlaufen sie oft eine gewisse Entzauberung
ihres Körpers.

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Der Strom des Lebens
Wer den Strom des Lebens sehr achtsam untersucht, kann drei charakteristische Merkmale
erkennen: Erstens verändern wir uns ständig (anicca). Zweitens sind wir eigentlich nie ganz
zufrieden. Oder wenn, dann bleiben wir es nicht (dukkha). Das Ausmaß an gröberen Formen
von Leid auf der Welt ist grenzenlos (dukkha-dukkhata). Und drittens gibt es kein
unabhängiges Selbst (anatta). Diese Merkmale kann man nicht verändern, sondern nur
akzeptieren. Man erkennt sie zum Beispiel in der Sprunghaftigkeit unserer Gedanken, an der
Kurzlebigkeit der Gefühle und dem Altern des Körpers oder an der Formbarkeit unserer
Beziehungen. Die ganze Welt verändert sich von Sekunde zu Sekunde. Wir stehen dabei mit
allem in uns und um uns herum in Verbindung und im Austausch. Wir setzen Ursachen und
Impulse in das „Web of Life“ – und werden ebenso von den vielen tausend Impulsen, die uns
täglich erreichen, geformt: sei es durch etwas, das jemand zu uns sagt, oder wie er uns
anschaut, sei es durch das Essen, das wir unserem Körper einverleiben, sei es durch ein
Lächeln oder eine Nachricht, an die wir vielleicht noch spät abends im Bett denken. Unser
persönliches Leben ist keineswegs unabhängig, sondern wird Moment für Moment von diesen
Impulsen geformt.
Darüber hinaus lässt sich noch eine weitaus subtilere Dimension wahrnehmen: eine völlig
unbewegte Stille. Sie wird nicht von dem Strom durchgewirbelt. Sie ist aber auch nicht
getrennt davon. Sie durchdringt alles. Diese Stille ist näher als der Gedanke an sie. Sie ist frei
von Geburt und Tod.
Es ist sinnvoll, sich regelmäßig allein zurückzuziehen und einen meditativen Selbst-Check
vornehmen. Fragen Sie sich dann in der Meditation oder bei einem stillen Waldspaziergang:
„Wenn ich noch fünf Jahre zu leben hätte – was würde ich ändern und was würde ich
beibehalten wollen? Mit wem würde ich meine Zeit am liebsten verbringen? Mit wem habe
ich noch etwas zu klären? Was ist wirklich wichtig – und was kann ich loslassen?“ Aus der
Fünf-Jahres-Perspektive verändern sich die Prioritäten. Probieren Sie es! Sprechen Sie
anschließend mit einer guten Freundin oder einem Freund darüber.
Das kleine Zulu-Mädchen Manele wurde im Garten ihrer Familie beerdigt. Vater und
Großvater wechselten sich beim Ausheben des Grabes ab. Auch der Sangoma (Schamane) des
Dorfes unterstützte sie. Er war ein großer Mann von beeindruckender, aufrechter Gestalt. Es
zerriss uns das Herz, als der kleine Holzsarg schließlich zugenagelt wurde, um ihn
hinabzulassen. Am Boden des drei Meter tiefen Grabes stand der Großvater und nahm den
Sarg mit dem Leichnam seiner Enkeltochter in Empfang. Die Frauen des Dorfes sangen
während der gesamten Abschiedszeremonie. Ich stand bei ihnen, war berührt von ihren
kraftvollen Stimmen und dem starken Zusammenhalt der Menschen. Als der Großvater später
eine kurze Ansprache hielt, sagte er: „Ich danke euch. Ich wusste nicht, wie viele Freunde wir
haben.“
Maneles Mutter hat zwei Jahre später wieder ein Kind zur Welt gebracht.

Tineke Osterloh: Tod in Afrika, in: Buddhismus aktuell Nr. 4/2009

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Warum es nützlich ist, sich den Tod bewusst zu machen
Oliver Petersen

Die Beschäftigung mit Tod und Sterblichkeit kann einen Impuls für die spirituelle Entwicklung setzen. Oliver
Petersen nennt fünf Gründe, warum es nützlich ist, sich den Tod bewusst zu machen.

Der Tod ist unausweichlich. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser Tatsache kann zu
einer Art spiritueller Erweckung führen. Wenn wir Altern, Krankheit und Tod nicht nur als
Prozess bei anderen sehen, sondern auch als das Ende unseres eigenen gegenwärtigen Lebens,
verliert er seine Abstraktheit.
Für unser „Ego“ ist der Tod, schlicht gesagt, die Katastrophe. All unsere lebenslangen
egoistischen Bestrebungen verlieren ihre Bedeutung. Angesichts dieser Gewissheit erscheint
vielen Menschen das Leben sinnlos. Gäbe es nichts über das „Ego“ hinaus, keine spirituelle
Entwicklungsmöglichkeit, dann gäbe es kaum Grund zur Hoffnung. Aber diese Vorstellung ist
zu eng. Religiöse Menschen machen die Erfahrung, dass es etwas gibt, was den Tod
transzendiert und was größer ist als dieses Leben.
Ich sehe fünf gute Gründe, sich mit dem Tod zu beschäftigen: 1. Die Vergegenwärtigung des
Todes führt aus Gewohnheit und Erstarrung heraus. 2. Wir unterlassen das Unheilsame. 3.
Wir konzentrieren uns auf das Wesentliche. 4. Wir entwickeln Mitgefühl. 5. Verdrängte
Ängste werden bearbeitet.
1. Wenn wir uns den Tod und die Flüchtigkeit dieses Lebens vergegenwärtigen, erleben wir,
dass nicht jeder Tag gleich ist. Langeweile wird uns nicht mehr ergreifen. Wir werden offen
für Erfahrungen jenseits unserer festgefahrenen Konzepte und fangen an, wirklich im Hier und
Jetzt zu sein. Gerade auch wenn wir den permanenten Wandel von einem Moment zum
nächsten betrachten, ist jeder Moment neu, und das Leben wird sehr facettenreich.
Oft empfinden wir die Konfrontation mit dem Tod als leidvoll. Wir wiegen uns in einer
Sicherheit, die aber nur ein Produkt unseres Greifens nach Dauerhaftigkeit ist. Sich die
vergängliche Natur bewusst zu machen, bedeutet loszulassen. Wir gewinnen langsam Freiheit,
indem wir das Klammern an Dauerhaftigkeit und Sicherheit, die es nicht gibt, überwinden.
Das macht unser Leben frischer, auch die Beziehungen zu anderen Menschen. Gerade wenn
wir Menschen schon lange kennen, empfinden wir manchmal ein Gefühl von Stagnation. Es
ist aber allein unsere konzeptuelle Wahrnehmung, die uns so denken lässt. Jedes Wesen
verändert sich in jedem Moment, nur erfassen wir dies nicht. Nur im Bewusstsein der
Vergänglichkeit erleben wir die Gegenwart eines Menschen immer wieder neu.
2. Die Bewusstheit des Todes lässt uns die Nachteile unheilsamen Verhaltens sehen. Wer
sieht, wie zerbrechlich sein Leben und das der anderen ist, wird sich davor hüten, andere zu
verletzen. Wir sehen sehr deutlich, dass unsere Handlungen Konsequenzen haben werden –
nun, da alle Fassaden einstürzen. In gewisser Weise zwingt uns der Tod, uns zu entwickeln, er
ist ein großer Katalysator. Wir werden demütiger und achtsamer. Gäbe es den Tod nicht,
würden wir vermutlich in unserem Egoismus erstarren. Denn natürlich wirft der Tod die Frage
auf: Was kommt danach? Selbst wenn wir nicht an ein Weiterleben nach dem Tod glauben, so
können wir uns niemals wirklich sicher sein. Folglich wird uns bewusst, dass wir für unsere
Handlungen Verantwortung übernehmen müssen. Buddhisten, die an Wiedergeburt und
Karma glauben, benutzen daher die Vergegenwärtigung des Todes, um unheilsames Verhalten
zu unterbinden und Heilsames zu stärken.
3. Indem wir uns des Todes erinnern, erfassen wir das Wesentliche. Viele Dinge, die wir
zuvor furchtbar ernst genommen haben, erscheinen uns plötzlich unwichtig. Wir jagen nicht

80
mehr den vergänglichen Dingen nach und streiten nicht mehr über Nebensächliches.
Stattdessen gewinnen die unspektakulären Momente des Alltags an Bedeutung: liebevolle
Gesten, spontane Hilfsbereitschaft und die Freude über Erfolge und Vorteile, die andere
Menschen genießen. Der Tod zeigt uns die Trivialität vieler Aktivitäten, besonders unsere
Zwanghaftigkeit, alles unter Kontrolle zu halten.
Wer den Tod ernst nimmt, kann auch etwas gegen die Faulheit tun, ein großes Hindernis für
die spirituelle Entwicklung. Sie zeigt sich in sinnlosen Aktivitäten und dem ständigen
Aufschieben der Praxis. Im Stufenweg zur Erleuchtung (Lamrim) meditiert man wieder und
wieder, dass der Tod gewiss ist und man die kostbare Lebenszeit nicht mit Belanglosigkeiten
vergeuden sollte. Und da der Todeszeitpunkt ungewiss ist, sollte man sofort mit der
spirituellen Praxis beginnen und in Dingen wie Besitz, Beziehungen, Macht und Schönheit die
Vergänglichkeit des Lebens erkennen.
4. Gedanken an unsere eigene Sterblichkeit fördern das Mitgefühl, denn die zerbrechliche
Natur eint uns mit allen Lebewesen. Auch Menschen, die uns im Moment vielleicht fremd
oder gar zuwider sind, müssen letztlich sterben. Wir sitzen alle im gleichen Boot. Wer sich
den Tod klar bewusst macht, wird Hass oder Rachegefühle nicht lange aufrechterhalten
können. Stattdessen wird natürlicherweise Mitgefühl das Herz bewegen. Gerade auch jene, die
viel Macht und Erfolg haben, betrachten wir mit Mitgefühl, denn wir wissen, dass sie dieses
Glück irgendwann wieder hergeben müssen.
5. Die Vergegenwärtigung des Todes kann verdrängte Ängste bewusst machen. Die
Verdrängung des Todes kostet viel Kraft. Jeder weiß, dass seine Lebenszeit begrenzt ist.
Wenn wir die Augen davor verschließen, müssen wir ständig gegen dieses innere Wissen
ankämpfen. In offenen therapeutischen Gesprächen geht es meist sehr schnell auch um Fragen
des Todes und verdrängter Ängste vor dem Sterben. Jede Angst hat wahrscheinlich auf der
tiefsten Ebene auch mit der Angst vor dem Tod zu tun, die, wenn sie nicht bewusst bearbeitet
wird; sich auch in Gewalttaten gegen andere äußern kann. Wenn man das Thema
ausklammert, wird man nicht in der Lage sein, die vielen Neurosen zu heilen.
Die Gedanken an den Tod führen uns zu wichtigen Erkenntnissen und humanen Handlungen;
eine Schulung des Geistes in Mitgefühl und Weisheit wird möglich. Je mehr wir den Tod
akzeptieren und seine Bedeutung für unser Leben erfassen, desto bewusster und lebendiger
sind wir. Es ist eine falsche Vorstellung zu glauben, dass man intensiver lebt, wenn man den
Tod verdrängt. Leben kann nur Leben sein vor dem Hintergrund des Todes. Wenn wir den
Tod nicht bewusst in unsere Mitte nehmen, leben wir kein freies, erfülltes Leben und schon
gar kein spirituelles oder ein heiliges Leben.

Oliver Petersen: Warum es nützlich ist, sich den Tod bewusst zu machen, in: Tibet und Buddhismus Nr. 4/2009

81
Über dem Tod von Mayum Künsang Detschen
Jürgen Pilartz

Als ich sie im April 1991 in Kathmandu besuchte, lag sie im Sterben. Zwei Jahre zuvor hatte
sie eine schwere Gallenoperation durchgemacht, von der sie sich nie ganz erholt hatte. Anfang
1991 war sie zum zweiten Mal operiert worden; dabei hatte man Krebs im ganzen Bauchraum
festgestellt und nur eine Entlastungsoperation vorgenommen.
Jetzt lag sie in ihrem Zimmer im Kloster, wurde von ihren Nonnen und einer französischen
Ärztin gepflegt und von ihrer Familie umsorgt. Sie hatte seit zwei Monaten keine feste
Nahrung zu sich nehmen können und das meiste, was sie trank, erbrach sie wieder. Sie erhielt
einen Liter Infusion täglich und geringe Dosen eines mittelstarken Schmerzmittels.
Als ich sie besuchte, war sie bei vollem Bewusstsein. Obwohl Bauchkrebs normalerweise mit
großen Schmerzen verbunden ist, war sie völlig ruhig und entspannt. Erst in den letzten Tagen
ihres Lebens bekam sie etwas stärkere Schmerzmittel. Sie war sehr abgemagert und in den
letzten Tagen wurde sie auch unruhiger. Ihre Familie schaute ständig nach ihr.
Ich kannte sie seit mehr als zehn Jahren. Sie hatte in der Nähe der Guru Rinpoche Höhle von
Pharping bei Kathmandu gelebt, allein mit einigen Begleitern. Sie baute in Pharping ihr
eigenes Kloster auf, das 1988 fertig geworden war. Ihr besonderes Anliegen war es immer
gewesen, sich für praktizierende Frauen einzusetzen und sie war Vorbild für viele tibetische,
aber auch westliche Frauen.
In den letzten Tagen vor ihrem Tod besuchten sie Tenga Rinpoche, Dilgo Khyentse Rinpoche
und Chatral Rinpoche, der ihr eine Einweihung und eine Meditationsübertragung gab, bei der
ich zugegen war. Es hieß, dass ihr Geist sich mit dem von Chatral Rinpoche vermischte und
dass sie lange auf einer hohen Stufe der Meditation mit Chatral Rinpoche verweilte. Das war
etwa eine Woche vor ihrem Tod.
Immer mehr Lamas kamen, um sie noch einmal zu sehen. Alle, die sie kannten, waren der
Meinung, dass ihr beim Tod nichts Schlechtes geschehen könne, da sie ihr ganzes Leben lang
praktiziert habe. Auch Chatral Rinpoche gab zum Ausdruck, dass sich ihr Tod auf einem
hohen Niveau ereignete.
Am Morgen des 11. Tages dieses tibetischen Monats ist sie entschlafen, wie man es bei uns
sagt. Ihre Atmung, Bewegungen, ihr Herzschlag, alles war immer langsamer geworden, bis
schließlich der Stillstand aller Lebensfunktionen eintrat. Ich stellte fest, wie Hände und Füße
kalt wurden, wie der Herzschlag aufhörte und die Atmung zum Stehen kam.
Sie war im völligen Frieden und schon seit einigen Tagen wie in einer ständigen Meditation.
Obwohl sie noch Tage zuvor gelegentlich diesen oder jenen Wunsch geäußert hatte, sagte sie
während der letzten Tage gar nichts mehr. In Meditation entschlief sie mit geschlossenen
Augen fast unmerklich. Ihr Sohn Chökyi Nyima Rinpoche bemerkte, dass sich Körper und
Geist trennten und er rief mehrmals „AH“ in ihr Ohr. Urgyen Tulku kam, und es wurde ein
Ritual mit allen ausgeführt. Danach wurde ihr Gesicht zugedeckt, und es kamen viele Leute
mit Kataks, um sich von ihr zu verabschieden. Am Nachmittag wurde eine weitere Puja
zusammen mit der gesamten Familie ausgeführt. Zur selben Zeit ging ein Unwetter mit Blitz
und Donner auf Kathmandu nieder. Danach waren Regenbogen zu sehen.
Danach wurde das Tuch von dem Gesicht der Mayum gezogen; ihr Mund war jetzt
geschlossen, und sie lächelte. Sie sah friedlich und entspannt aus, was sehr beeindruckend
war.
Sie lag zwei Tage auf ihrem Sterbelager und weiterhin kamen ständig Leute, die sich von ihr
verabschiedeten. Am Nachmittag des auf ihren Tod folgenden Tages, das heißt etwa 36

82
Stunden nach dem Tod, wurde ein Ritual ausgeführt, in dem ihr Geist aufgefordert wurde, den
Körper zu verlassen. Man ging davon aus, dass ihr Geist bis zu diesem Zeitpunkt in
Meditation in ihrem Körper verweilte. Am Ende des Rituals zog Urgyen Tulku am
Haarschopf des Leichnams. Danach floss Flüssigkeit aus ihrer Nase, zuerst rötliche
Flüssigkeit aus dem rechten Nasenloch und etwas später eine gräuliche Flüssigkeit aus dem
linken Nasenloch.
Für die Verbrennungszeremonie wurde ihr Körper in Meditationshaltung zusammengebunden,
das heißt, Arme und Beine waren überkreuz. Hier war deutlich keine Leichenstarre
vorhanden. Alle Finger, Arme und Beine waren ganz beweglich und ließen sich leicht
übereinander schlagen. Sie wurde mit Safranwasser abgewaschen. Dabei waren nicht wie
sonst üblich Leichenflecken zu sehen. Nur die oberste Haut hatte sich abgelöst und darunter
war strahlend weiße Haut, obwohl sie eine dunkelhäutige Tibeterin gewesen war. Bestimmte
Mandalas und Schriften wurden auf ihren Körper gebunden, und sie wurde in Tücher
eingehüllt. Glocke und Dorje wurden ihr in die Hände gelegt. Sie wurde in eine mit Bändern
geschmückte Kiste gesetzt, in der sie um das Kloster herum bis zu ihrer Verbrennungsstätte
getragen wurde. Diese hatte man direkt nach ihrem Tod im Innenhof des Klosters zu bauen
begonnen.
Die Verbrennungszeremonie war ähnlich wie bei Seiner Heiligkeit Karmapa. Es fanden fünf
Pujas gleichzeitig in den verschiedenen Himmelsrichtungen statt. Tenga Rinpoche war als
Vertreter der Kagyüpa gekommen, ein Repräsentant der Sakyapa-Schule, Mingling Trichen,
und einer seiner Söhne als hohe Vertreter der Nyingmapa. Chatral Rinpoche und Tulku
Urgyen Rinpoche saßen nebeneinander.
Sehr viele Leute kamen und nahmen Abschied. Sicherlich waren 300 Mönche da und
insgesamt an die 1000 Menschen, darunter auffällig viele Nepali, aber auch Tibeter und
Westler. Die Pujas begannen vormittags. Nach der Mittagspause kam die Kiste mit dem
Körper der Mayum in den Stupa-Ofen, und die Pujas gingen weiter. Viele Opfergaben,
Kräuter, Hölzer, Getreide und so weiter wurden in den Ofen hineingegeben. Nach Ende der
Pujas wurde der Ofen zugemauert. Einige Tage später wurde der Ofen wieder geöffnet. Es
sollen Reliquien gefunden worden sein.
Ich empfand es als besonders schön, dass ihre gesamte Familie während dieser Zeit anwesend
war. Tulku Urgyen Rinpoche war während all dieser Zeit in Bodhanath geblieben und hatte
sich öfters bei mir erkundigt, wie es seiner sterbenden Frau ging. Ihre Söhne, ihr Bruder und
die gesamte Verwandtschaft und ihre Diener waren beteiligt. Sie starb im Kreis ihrer Familie,
was sich sehr organisch anfühlte. Als sie starb, weinten einige, doch als die guten Zeichen
kamen, ging es allen wieder gut.
Ich habe ihren unmittelbaren Tod als Abschiednehmen in der Familie erlebt, die Verbrennung
als Abschied in einem öffentlichen Rahmen. Die Pujas, die nach ihrem Tod stattfanden,
schlossen ihr Leben ab.
Am meisten beeindruckte mich, dass sie so ruhig und entspannt war, und trotz großer
Schmerzen offenbar absolut klar in Meditation verweilte. Es war beeindruckend, wie sie
loslassen konnte und friedvoll einschlief.

Pilartz, Jürgen: Über dem Tod von Mayum Künsang Detschen Sangyum Kushuk, in: Dharma-Nektar, Nr. 2-
3/1991, S.45-46 (DBU)
Ruhe, Zeit und viel Praxis
Erfahrungen einer Bestatterin

Maren Repenning (Interview)

83
Was tut man als Buddhist zur Vorbereitung auf den Tod? Neben spezieller Praxis gibt es auch ganz praktische
Dinge zu regeln. Buddhismus aktuell sprach mit Maren Repenning über ihre Erfahrungen als Buddhistin und
Bestatterin.

In der westlichen Kultur werden Verstorbene ja oft beerdigt. Was aber macht ein Buddhist in
Deutschland?

Auch Buddhisten in aller Welt werden meistens beerdigt. Häufig hängt es von den Umständen
des Verstorbenen und seiner Angehörigen ab. Es gibt da keine festen Regeln.

Welche Möglichkeiten der „Beisetzung“ hat man als Buddhistin oder Buddhist und welche
gesetzlichen Richtlinien muss ich in Deutschland beachten?

Das Bestattungsrecht ist Ländersache. Aber viele Gegenden haben noch zusätzlich
Gewohnheitsrechte der Friedhöfe und Bestatter. Alle zulässigen Arten wie Erdbestattung oder
Feuerbestattung sind möglich. Die Asche kann in die Erde oder in die See gebracht werden.
Da sollte sich jeder im Vorfeld informieren und sich den Bestatter oder die Bestatterin
aussuchen, die einem am ehesten liegt.

Worauf sollte man besonders achten, wenn man als Buddhist seiner Tradition entsprechend
nach dem Tod „behandelt“ werden möchte?

Das hängt auch von der jeweiligen Tradition der Verstorbenen und ihrer Angehörigen ab. Das
Wichtigste für diesen Übergang sind friedvolle Umstände, eine liebevolle Atmosphäre sowie
Ruhe und Zeit. Es gibt ja auch in allen Gemeinschaften wiederum spezielle Lehren und
Praktiken für diese Phasen.

Du leitest ja selbst ein Bestattungsinstitut in Hamburg. Welche Erfahrungen mit Buddhisten


hast du bisher gemacht? Welche Wünsche kamen auf, welche Schwierigkeiten?

Wenn Angehörige oder Menschen am Ende ihres Lebens mit mir Kontakt aufgenommen
haben, um sich vorzubereiten und mit mir ihre Wünsche und Fragen zu besprechen, konnten
wir einen sinnvollen Weg für alle Beteiligten finden. Zum Beispiel eine Freundin, die im
Hospiz gestorben ist. Wir haben sie am Ende mit Praxis begleitet und einen Tag nach dem
Todeseintritt in meine Räume überführt. Dazu kam noch ein spiritueller Freund, der einen Tag
lang intensive Praxis für sie gemacht hat. Am Abend kamen weitere Freunde und
Wegbegleiter, um sich zu verabschieden. Wir haben mit ihr in der Mitte noch einmal
meditiert, bis wir sie dann zum Krematorium überführt haben. Dort haben wir die
Einäscherung mit ihrer Familie und Freunden begleitet, am Ende habe ich die Asche
mitgenommen, um sie dann nach ihrem Willen beizusetzen. Wir hatten alles im Vorfeld
besprochen, sodass zu dem Abschiedsschmerz nicht noch Ratlosigkeit gekommen ist, wie es
für sie weitergehen sollte. Zu ihrem Geburtstag oder an ihrem Todestag treffen wir uns mit ein
paar Begleitern, essen zusammen und erzählen, sodass sie nicht ganz aus unserem Leben
verschwunden ist.

84
Kommt es auch vor, dass sich Angehörige von Sterbenskranken an dich wenden, die
eigentlich gar nichts über den Buddhismus wissen?

Ja. Ich erinnere mich an eine Frau, die zu mir Kontakt aufgenommen hat. Sie erzählte mir,
dass ihr Mann seit etwa 40 Jahren Buddhist sei. Sie wollte sich einmal informieren, weil er
bereits genaue Anweisungen gegeben hatte, wie er sich die Zeit nach seinem Tod vorstellte.
Wochen später rief sie mich erneut an und bestellte mich zu sich nach Hause. Ich solle
vorbeischauen, denn bald sei es soweit, und ihr Mann würde mich gerne noch kennenlernen.
Er wolle nun alles mit mir besprechen. Ich fuhr also hin. Der Mann war bettlägerig, bei klarem
Verstand und mit klaren Vorstellungen. Seine Frau und seine Familie waren keine
Buddhisten, und er wollte sie nicht belasten und seinen Abschied so gestalten, dass sie auch
ihren Weg darin finden konnten. Wir haben alles besprochen, kurz darauf ist er gestorben. Die
Familie hat sich zu Hause von ihm verabschiedet, wir haben ihn zum Krematorium überführt
und drei Wochen später im kleinen Familienkreis eine Gedenkfeier mit der Urne abgehalten.
Sein Wunsch war es, anonym beigesetzt zu werden.

Das ist ein sehr gelungenes Beispiel. Aber es gibt sicher auch schwierigere Situationen.

Ja sicher. Schwierig wird es, wenn Angehörige kommen und erklären: Unser Verstorbener
war Buddhist, und nun machen sie mal, was Buddhisten so am Ende machen. Dann ist es
nicht leicht, das Richtige vorzuschlagen. Denn Buddhisten und Bestattungskultur haben sich
meistens der Lebensumgebung angepasst. Da kann ich mich nur im Gespräch mit
Angehörigen orientieren, wie der Verstorbene gelebt hat und welcher Praxis er sich gewidmet
hat, um herauszufinden, was angemessen und was dann auch für die Familie hilfreich ist.

Welche Punkte gilt es von deiner Seite aus besonders zu beachten, wenn du zu einem
verstorbenen Buddhisten gerufen wirst?

Ich lege großen Wert auf einen achtsamen Umgang mit den Verstorbenen und den
Angehörigen. Das Allerwichtigste ist: Ruhe und Zeit zu lassen für den Übergang.

Wie kann ich einem verstorbenen Sangha-Freund bzw. -Freundin nach deren Tod helfen?
Welche wichtigen Rituale gibt es denn im Buddhismus für Verstorbene?

Viele Rituale hängen von der Praxis der jeweiligen Gemeinschaft ab. Aber ganz sicher ist es
immer gut, das Herz-Sutra zu rezitieren. Es gibt so unendlich viele verschiedene hilfreiche
Praktiken wie beispielsweise das Bewusstsein durch Lesen der Lehren oder mit Praxis zu
begleiten. Im tibetischen Buddhismus gibt es beispielsweise sehr sinnvolle Praktiken wie
Phowa oder Tonglen.

Wo gibt es buddhistische Gruppen oder Lehrer, die besonderen Fokus auf Themen wie
Sterbebegleitung, Hilfe für Trauernde oder Ähnliches legen?

Da gibt es verschiedene Gruppen, die sich dem Thema zugewandt haben. In der Nähe Berlins
entsteht beispielsweise derzeit ein neues Projekt von Rigpa, wo spirituelle Begleitung durch
Alter, Krankheit und Tod angeboten werden soll. Aber überall in Deutschland widmen sich
verschiedene buddhistische Gruppen – teilweise auch in Zusammenarbeit mit Hospizen – dem
Thema. Ich denke, über die Deutsche Buddhistische Union (DBU) kann man sich da am
besten informieren. Denn in den verschiedenen Zentren wird immer mehr zum Thema Alter,

85
Krankheit und Tod angeboten. Da auch die Sangha-Mitglieder älter werden und viele von
ihnen sich dem eigenen Ende nähern, möchten sie sich entsprechend vorbereiten und spirituell
begleitet werden.

Die Vorbereitung auf den Tod wird von allen buddhistischen Traditionen als wichtig erachtet.
Aber es gibt ja unterschiedliche Ebenen, z.B. praktisch, spirituell, emotional. Was sind aus
deiner Erfahrung im Umgang mit Sterbenden die wichtigsten Punkte für die Vorbereitung auf
den Tod?

Da alles voneinander abhängt, sollten wir uns auf allen drei Ebenen vorbereiten: Praktisch
schon mal dafür sorgen, dass wir ein Testament machen und Vollmachten
(Patientenverfügung, Betreuungs- und Vorsorgevollmachten) erteilen. Zudem sollten wir uns
emotional nicht zu sehr an Dinge und Menschen hängen bzw. in Frieden mit allem sein. Und
spirituell sollten wir unsere Praxis stabilisieren.

Wie gut fühlst du dich selbst auf deinen Tod vorbereitet?

Ich bin da vorsichtig geworden. Ich erlebe immer wieder, wie unsere Vorstellungen und die
Realität am Ende auseinanderfallen, wenn eine Krankheit eintritt. Wir sind dann auf ein gutes
soziales Netz angewiesen. Für mich bin ich da zuversichtlich, da ich in einer Gemeinschaft
eingebunden bin und weiß, dass im Notfall gleich für mich praktiziert wird. Theoretisch bin
ich ja vorbereitet und habe auch sinnliche Eindrücke, wie es sich anfühlt, wenn jemand diesen
Körper nicht mehr bewohnt. Aber die Frage ist dann: Wie gehe ich mit dem
Abschiedsschmerz meiner Kinder um, wenn ich jetzt gehen müsste? Kann ich loslassen? Was
passiert mit meiner Arbeit? Noch habe ich nicht dafür gesorgt, dass sie gut weitergehen kann.
Ich werde es loslassen müssen. Aber es wären sicherlich Hindernisse auf meinem weiteren
Weg aus diesem Leben.

Du beschäftigst dich täglich mit dem Thema Tod und Sterben – allein schon aus beruflicher
Sicht. Wie schaffst du es, dabei nicht abzustumpfen?

Mitgefühlspraxis und Meditationspraxis helfen dabei.

Wie bist du eigentlich zu deinem jetzigen Beruf als Bestatterin gekommen?

Durch eine Anzeige in einer Zeitung, die suchten eine Bestattungsberaterin. Voraussetzung
war eine kaufmännische Ausbildung, die hatte ich gerade in einer Umschulung abgeschlossen.

An welchen Punkten bist du in der Vergangenheit an deine eigenen Grenzen in Verbindung


mit dem Thema Tod gekommen? Was hat dir dann geholfen?

Bei Gewaltopfern oder bei Unfallopfern mit Verstümmelungen. Dann hilft mir nur meine
Praxis und wenn ich mir in Erinnerung rufe, dass es nur die körperliche Hülle ist. Für das
Bewusstsein können wir noch Praxis machen.

Was würdest du tun, wenn du die ziemlich sichere Diagnose „noch maximal zwei Monate“
erhalten würdest?

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Alles abschließen, um meinen Kindern nicht zu viel Arbeit zu hinterlassen und mich der
Praxis widmen.

.... und dein Lebensmotto lautet?

Carpe diem!

Maren Repenning (Interview): Ruhe, Zeit und viel Praxis. Erfahrungen einer Bestatterin, in: Buddhismus aktuelle
Nr. 3/2010. Das Gespräch führte Michael Kömpf.

87
Buddhistische Bestattungen in Deutschland
Axel Rodeck

I. Vorbemerkungen
Die tibetisch-buddhistische Gemeinschaft Chöling e.V. in Hannover hat eine Arbeitsgruppe
„Krankheit und Sterben“ gegründet, an der sich der Buddhistische Bund Hannover e.V. und
andere Interessierte aus dem buddhistischen Umfeld beteiligen. Aus dem umfangreichen
Themenkomplex wurde zunächst der Bereich „Buddhistische Bestattungskultur“ in Arbeit
genommen mit dem Ziel, eine westliche Gegebenheiten berücksichtigende Verfahrensweise
für alle buddhistischen Richtungen zu entwickeln, die der jeweiligen Schule entsprechend
ergänzt werden kann. Zu behandeln war also allein der zeitlich nach Sterbebegleitung und Tod
folgende Abschnitt.
Die Frage, ob der Bestattungsritus dem Verstorbenen, seinen Angehörigen oder beiden dient,
wird im Buddhismus unterschiedlich beantwortet. Fest steht lediglich, dass der Buddha zwei
Extreme abgelehnt hat, nämlich einerseits die Vorstellung, mit dem Tod sei alles Leben zu
Ende (Materialismus), andererseits die Vorstellung, es gebe eine ewige Seele (Eternalismus,
also monotheistische Religionen und Hinduismus). Dazwischen finden sich die
buddhistischen Schulen auf einem „mittleren Weg“ mit der Annahme, ein konditionaler
Prozess führe entweder unmittelbar oder mit zeitlicher Unterbrechung zur Wiedergeburt. Bei
Unmittelbarkeit der Wiedergeburt schließt an den letzten Moment des Sterbenden unmittelbar
– ohne Zwischenzustand – der erste Moment des im Mutterleib neu entstehenden Wesens an,
dem Verstorbenen geltende Rituale erscheinen daher zweifelhaft. Wird jedoch von einem
nachtodlichen Zwischenzustand ausgegangen – der nach tibetischer Ansicht bis zu 49 Tage
dauern kann – ist eine postmortale Beeinflussung des Verstorbenen möglich und
wünschenswert.
Ein beide Auffassungen berücksichtigender Entwurf muss sich außerdem mit der Frage
befassen, wie eine Einbindung buddhistischer Bestattungen in die hiesige Rechtsordnung
unter Berücksichtigung einheimischer Kultur erfolgen kann. Hier ist hilfreich, dass sich in
Deutschland in einem langen Ablöseprozess eine nichtkirchliche Bestattungskultur entwickelt
hat, auf die hiesige Buddhisten zurückgreifen können. Entsprechend der Verfahrensweise bei
christlichen Begräbnissen finden sich als Konstanten nichtkirchlicher Trauerfeiern die
Ansprache eines Redners, musikalische Umrahmung (etwa mit Lieblingsmusik des
Verstorbenen), Trauerzug zum Grab und dortige Rituale (wie der Erdwurf). An Stelle von
Psalmen und Bibeltexten werden andere Texte, auch Gedichte, verlesen, dabei ist unbedingt
auf eine klare Verständlichkeit des Vorgetragenen zu achten.
Die Arbeitsgruppe ist daher hinsichtlich ihres Entwurfs von folgenden Vorgaben
ausgegangen:

1. Es wird in Anlehnung an die deutsche nichtkirchliche Bestattungskultur ein zweiteiliger


Ritus durchgeführt, bestehend einerseits aus Ansprache(n) mit musikalischer Begleitung und
andererseits Prozession zum Grab bzw. Verabschiedung am Sarg.

2. Die Ansprache(n) werden, solange eigene Fachkräfte fehlen, von einem geeigneten, zum
Buddhismus positiv stehenden (freien) Redner gehalten und durch Musik und Rezitationen
von Sutras oder Gedichten ergänzt. Für letzteres müssten sich aus dem Sangha Kräfte finden
lassen.

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3. Der Inhalt der Rezitationen richtet sich nach der jeweiligen Buddhismusinterpretation des
Verstorbenen und/oder seiner Angehörigen. Dasselbe gilt für spezifische Riten (z.B.
Nachschicken von Verdienst, Lesung aus dem „Totenbuch“ usw.)
Material für die konkrete Ausgestaltung wurde der mit Sorgfalt von der DBU
zusammengetragenen Sammlung „Buddhistische Rituale“ entnommen.

II. Vorschlag einer buddhistischen Bestattungsfeier westlicher Art


1. Vor der Bestattung zu beachtende Aufgaben
Der Tod des (in diesem Sinne auch der) Verstorbenen kann vorhersehbar gewesen oder
überraschend gekommen sein, er kann im Hause oder im Krankenhaus oder anderswo erfolgt
sein. Deshalb sind die nötigen oder wünschenswerten folgenden Aufgaben organisatorischer
Art je nach vorhandener Situation auszuführen:

a) Kontaktaufnahme seitens des Sanghas mit den nächsten Angehörigen des Verstorbenen
(soweit bekannt) und Angebot der Hilfestellung bei buddhistischer Bestattung. Voraussetzung
für eine Hilfe ist, dass die verstorbene Person um eine Abschiedsfeierlichkeit im Stil einer
buddhistischen Abschiedsstunde gebeten hat oder sich dies aus den Umständen ergibt. Hier ist
dringend zu empfehlen, schriftlich eine „Regelung für meine Trauerfeier“ zu treffen und diese
bei dem jeweiligen buddhistischen Zentrum zu hinterlegen.

b) Bald nach dem Tod Einschaltung eines Bestattungsinstituts durch die Angehörigen zur
Durchführung der bei Sterbefällen unverzichtbaren Formalitäten und Handlungen (z.B.
Beantragung der ärztlichen Todesbescheinigung bei Sterbefall in der Wohnung, Veranlassung
der Überführung usw.), denn all diese Formalitäten sollten in der Hand eines professionellen
Bestatters liegen! Empfohlen wird die Beauftragung eines mit dem Sangha
zusammenarbeitenden und mit den buddhistischen Wünschen vertrauten Instituts.
Wünschenswert ist, dass ein Sangha-Mitglied beim Erstgespräch zwischen Angehörigen und
Bestattungsinstitut teilnimmt.

c) Ebenfalls bald nach dem Tod Benachrichtigung und Einbindung des mit dem Sangha und
dem Bestattungsunternehmen zusammenarbeitenden freien Redners. Erforderlich sind
Gespräche mit Freunden und Verwandten des Verstorbenen, um Daten und Fakten über den
Lebensweg zu erhalten. Organisation der gewünschten buddhistischen Riten durch Sangha-
Mitglieder oder buddhistische Mönche.

d) Im Benehmen mit den Angehörigen klären, ob im Haus/Sterbezimmer Blumenschmuck


usw. erfolgen soll, eventuell während der Aufbahrung bis zur Abholung.
Besonderheiten: Rezitationen und Vorlesungen am Leichnam nach jeweiliger
Buddhismusinterpretation, auch durch in Deutschland befindliche Mönche

e) Mit dem Bestattungsunternehmer und dem Redner die Einzelheiten der Bestattungsfeier
besprechen (z.B. Ausschmückung der Kapelle für die Abschiedsstunde, Bild einer
Buddhastatue, Blumenschmuck, Musik, Abstimmung auf den erwarteten Teilnehmerkreis).
Organisation des „Leichenschmauses“ nach der Bestattung.

2. Ablauf der Feier


Im Regelfall wird die Feier in der Kapelle eines kommunalen Friedhofs stattfinden. Die
äußeren Gegebenheiten (schnell entfernbare buddhistische Gegenstände, keine
Räucherstäbchen usw.) und der zeitliche Rahmen (in Großstädten in der Regel eine halbe

89
Stunde) sind damit vorgegeben. Auszugehen ist von einer Verabschiedung am Sarg, gleich ob
Erd- oder Feuerbestattung. Die Feierlichkeit sollte in meditativer Ruhe abgehalten werden.
Ruhige, langsame Sprechweise, deutliche Ausdrucksweise, so dass jeder Teilnehmer die
Worte verstehen kann.

a) Versammlung: Statt der üblichen drückenden Stille zwischen Öffnung der Kapelle und
Beginn der Feier sollte während der Ansammlung der Trauergäste die für den Verstorbenen
als adäquat gehaltene oder von ihm gewünschte Musik (weder lustig noch traurig) gespielt
werden.
(veranschlagte Zeit: neun Minuten)

GONG
Ein Gongschlag leitet die Feierlichkeit ein.

b) Begrüßung der Trauergäste und Vorlesen eines buddhistischen Verses, etwa aus dem
Dhammapada, (oder auch, bei überwiegend buddhistischen Trauergästen, des Buddhistischen
Bekenntnisses) durch ein Sangha-Mitglied.
(veranschlagte Zeit: drei Minuten)

Beispiel: Liebe Freundinnen und Freunde, wir sind heute zusammen gekommen, um dem von
uns gegangenen (Vorname und Name) ein letztes Geleit zu geben. Der Verstorbene hat zu
seinen Lebzeiten den Weg zur Lehre des Buddha gefunden und darum gebeten, unsere
Feierstunde im Sinne dieser Lehre zu gestalten. Die buddhistischen Schriften befassen sich
tief und umfangreich mit dem jedem Wesen bestimmten Schicksal des Todes, und wir lesen im
Samyutta-Nikaya:

GONG
(eventuell anderer Sprecher)

Alle Wesen sind dem Tode unterworfen, enden im Tod,


können dem Tode nicht entgehen.
Wie jedes irdene Gefäß,
gebildet von des Töpfers Hand,
ganz einerlei, ob klein ob groß,
am Ende zerbrechen muss.
Genau so auch sind alle Wesen dem Tode unterworfen,
enden im Tode, können dem Tode nicht entgehen.
(Gruppierte Sammlung 33,22)

GONG

c) Ansprache durch den freien Redner (oder, falls geeignet vorhanden, ein Sangha-Mitglied)
(Schilderung des Lebenslaufs unter besonderer Berücksichtigung der Konversion zum
Buddhismus)
(veranschlagte Zeit: fünf Minuten)

GONG

d) Vortrag eines Sutras oder sonstigen Werkes durch ein Sangha-Mitglied

90
(veranschlagte Zeit: fünf Minuten)

Beispiel: Drei Schrecken aber gibt es, ihr Mönche, wobei Mutter und Sohn einander nimmer
helfen können. Welche drei? Den Schrecken des Alters, den Schrecken der Krankheit, den
Schrecken des Todes.
Nicht kann, ihr Mönche, die Mutter bei ihrem alternden Sohne dies erreichen: „Ich altere
zwar, doch nicht möge mein Sohn altern!“ Und auch der Sohn kann es bei seiner alternden
Mutter nicht erreichen: „Ich altere zwar, doch nicht möge meine Mutter altern!“
Nicht kann, ihr Mönche, die Mutter bei ihrem erkrankten Sohne dies erreichen: „Ich erkranke
zwar, doch nicht möge mein Sohn erkranken!“ Und auch der Sohn kann es bei seiner
erkrankten Mutter nicht erreichen: „Ich erkranke zwar, doch nicht möge meine Mutter
erkranken!“
Nicht kann, ihr Mönche, die Mutter bei ihrem sterbenden Sohne dies erreichen: „Ich werde
zwar sterben, doch nicht möge mein Sohn sterben!“ Und auch der Sohn kann es bei seiner
sterbenden Mutter nicht erreichen: „Ich werde zwar sterben, doch nicht möge meine Mutter
sterben!“
Diese drei Schrecken gibt es, wobei Mutter und Sohn einander nimmer helfen können. Es gibt
aber, ihr Mönche, einen Weg, es gibt einen Pfad, der zum Vermeiden und Überwinden dieser
drei Schrecken führt. Welches aber, ihr Mönche, ist dieser Weg? Es ist eben dieser edle
achtfache Pfad, nämlich: rechte Erkenntnis, rechte Gesinnung, rechte Rede, rechtes Tun,
rechter Lebensunterhalt, rechte Anstrengung, rechte Achtsamkeit und rechte Sammlung. Dies,
ihr Mönche, ist der Weg, dies ist der Pfad, der zum Vermeiden und Überwinden dieser drei
Schrecken führt, bei denen Mutter und Sohn einander nimmer helfen können.
(Angereihte Sammlung 3,63)

GONG

e) Besonderheiten: Ansprache oder Rezitationen gemäß der jeweiligen


Buddhismusinterpretation durch Sangha-Mitglied oder Ordinierten, z.B. Anrede gemäß
Tibetischem Totenbuch
(veranschlagte Zeit: vier Minuten)

Beispiel: Höre mich! Höre, bevor du dich auf den Weg durch das Zwischenreich der
Reinigung begibst! O Sohn (Tochter) aus edler Familie: Du hast den irdischen Leib abgelegt,
um dich einer neuen Geburt zuzuwenden. - Als dir der Schreck des körperlichen Todes die
Sinne raubte, hat dein Bewusstsein mit dem letzten Atemzug die körperliche Hülle verlassen.
Als dir das Erkennen wiederkam, glaubtest du geschlafen zu haben; aber bald erkanntest du,
dass man dich nicht mehr wahrnehmen konnte.
Noch siehst du uns, noch hörst du uns; aber schon stehst du an der Schwelle des
Zwischenreiches, das 49 Tage andauern wird. Du wirst durch ein Reich friedlicher Gottheiten
gehen; aber beachte, dass dies deine eigenen Bewusstseinsgestaltungen sind. Beachte es jetzt,
solange du uns noch wahrnimmst. - Dann wirst du durch das Reich der furchterregenden
Gottheiten gehen. Auch dort werden es nur deine eigenen Bewusstseinsgestaltungen sein, die
dir diese Bilder vorgaukeln. Denke jetzt aufmerksam daran, damit du dich dort nicht
fürchtest.
Nur kurze Zeit werden diese Vorstellungen andauern; aber der Zeitbegriff des irdischen
Daseins hat in diesen Zuständen des Zwischenreichs keine Gültigkeit mehr und du wirst keine
Wahrnehmung einer Zeitdauer haben. Denke schon jetzt daran, dass dieser Zustand nur von
kurzer Dauer ist. - Nach Ablauf dieser 49 Tage seit dem Tag deines irdischen Abscheidens

91
wirst du in einem neuen Mutterschoß eintreten. Wisse, dass dich auf diesem Wege unsere
liebevollsten Wünsche begleiten, denn wir wissen: Auch wenn du dann nicht mehr den Namen
tragen wirst, eines Tages wird uns ein Kind begegnen, und du wirst es sein; aber du wirst es
nicht wissen.
Immer wollen wir daran denken, dass in jedem Kinde, das uns entgegentritt, das sein kann,
was wir in dir geliebt haben. Etwas von dir, das in uns allen ist: eine göttliche Kraft, die des
Namens und nicht des Bildes bedarf, um uns Gewissheit zu geben, dass wir alle Brüder und
Schwestern sind, gespeist aus der gleichen Quelle eines unteilbaren Lebens.
Mögen unsere guten Wünsche den (die) Dahingegangene(n) begleiten. Möge die
Buddhaweisheit bald in ihm(ihr) aufleuchten. Möge er(sie) die Heiligkeit erringen und
erkennen: „Vollbracht ist die Aufgabe, getan ist, was zu tun war, vollendet ist das
Reinheitsleben - nicht mehr ist diese Welt!“

GONG

f) Gemeinsame Meditation (Leitung durch Sanghamitglied, eventuell Ordinierten)


(veranschlagte Zeit: drei Minuten)

Beispiel: Liebe Freundinnen und Freunde unseres (Vorname und Name)! Wir wollen uns
zunächst mit unseren geistigen Kräften an die weltliche Persönlichkeit, das Charakteristische
des Verstorbenen erinnern. Lassen wir das Bild vor unserem Geist aufsteigen. Betrachten wir
es aufmerksam. (Pause). Lasst uns nun für einige Minuten meditativ über das Kommen und
Gehen im Kreislauf der Wiedergeburten sinnen.

GONG
kurze Meditation

GONG

g) Verabschiedung am Sarg. Eventuell leise Hintergrundmusik.


(veranschlagte Zeit: drei Minuten)

Beispiel: Wir alle sind traurig, wenn wir von einem lieben Menschen Abschied nehmen
müssen. Dies war auch dem Buddha klar, weswegen er kurz vor seinem Parinirvana seinen
Lieblingsjünger Ananda ermahnte:
„Sei nicht traurig, Ananda, jammere und klage nicht! Habe ich dir nicht schon früher gesagt,
dass man von allem, was einem lieb und wert ist, scheiden und sich trennen muss, und dass
alle unsere Beziehungen sich wandeln? Auch ist es unmöglich und ganz ausgeschlossen, dass
das, was geboren, entstanden, bedingt und der natürlichen Vernichtung anheim gegeben ist,
nicht zerfiele.
Lange Zeit, Ananda, hast du dem Erwachten zur Seite gestanden, warst um sein Wohl und
sein Glück besorgt, mit liebevollen Taten von Körper, Mund und Gedanken. Du hast Gutes
getan, Ananda, sei eifrig bestrebt, dann wirst auch du auf gutem Wege sein.“
(Längere Sammlung 16)

GONG

Die Trauergäste verabschieden sich mit stummem Gruß und Niederlegung von Blumen vom
Sarg, bevor dieser zum Einäscherungsort gefahren wird. Musik im Hintergrund.

92
h) Ende der Feier. Aufbruch zum Leichenschmaus in Gaststätte, Buddhistisches Zentrum oder
Privatwohnung (Fahrgemeinschaften bilden!)

Axel Rodeck: Buddhistische Bestattungen in Deutschland, in: Der Mittlere Weg (Majjhima Patipada) Nr. 1/2007

93
Am Sarg meiner Mutter
Ekkehard Saß

Zuerst sitze ich am Kopfende des Sarges. Allein mit der Mutter. Allein mit ihrem Leichnam.
Ja, das ist noch ihr Gesicht. Es ist schön in seiner unbeweglichen Ruhe. Fast noch lebendig -
und doch ganz ohne Leben.
Es ist gut, ohne Furcht hier neben der Mutter zu sitzen. Ihren Tod wahrzunehmen, der auch
mein Tod sein wird. Es ist gut, jetzt nicht auszuweichen und davonzugehen, sondern
stillzustehen, stillzusitzen, um diesen Lebensaugenblick auszuhalten. Lebensaugenblick des
Todes. Was erblickt mein Auge?
Die guten Menschen, deren Beruf es geworden ist, Leichen zu versorgen, haben sich Mühe
gegeben, diesen Augen-Anblick „schön“ zu gestalten. Der Körper der Mutter ist wirklich in
den Sarg „gebettet“. Ein weißes Tuch bedeckt sie, ihre Hände sind gefaltet. Ein Tannenzweig
steckt in ihnen. Ein paar Blumen sind auf dem Tuch verteilt. In der linken Ecke des Raumes
brennen drei Kerzen.
Ich streiche behutsam über die Hände der Mutter, spüre ihre Kälte.
Ich hole den Stuhl an die Seite des Sarges und setze mich gerade so neben die Mutter, wie ich
im Heim immer neben ihrem Bett gesessen habe. Betrachte das Antlitz der toten Mutter. Eine
Leichenbetrachtung im Sinne des Buddha.
Diese Stunde im Leben soll nicht so rasch vergessen werden. Was die Mutter mit ihrem
geduldigen Sterben lehrte, schließt nun mit dem Tod ab. Und weil ich in all diesen letzten
Jahren nicht weggesehen habe, gelingt es mir, den Schrecken zu bannen. Ruhig kann ich
neben dem Leichnam sitzen, den Tod so annehmen, wie er ist: Leiden hat aufgehört, das
Lebensfieber brennt nicht mehr, nur noch unbewegliche Stille. Und in diesem Schweigen das
Abbild, die letzte für mich sichtbare Zeichnung des Wesens der Mutter. Klar, schön,
überhaupt nicht hässlich.
Auch hier schieben sich zwei Bilder übereinander: das Totenschädelschattenhafte beim
Betrachten von vorn, das fast noch Lebenspulserfüllte beim Anschauen des Gesichtes von der
Seite. Der Nachhall der Lebenskräfte scheint wie eine feine Bewegung über die Wangen zu
ziehen.
Kann man den „Tod“ sehen? Sehe ich hier ein Ende? Was sehe ich denn überhaupt? Einzig
Ruhe, Stille, Unbeweglichkeit. Ja, es ist etwas zu einem Ende gekommen. Vor allem hat
Leiden aufgehört. Leiden, das sich zuletzt mit jedem Lebenstag steigerte, als wollte es sagen:
Ist es nun nicht genug mit dem Lebensdurst?
Warum sollte es nicht wohl tun, das brüchig gewordene Körpergehäuse loszulassen? Doch das
scheint nicht so leicht zu sein, wenn wir es allzu sehr geliebt haben.
„Schwer stirbt, wer am Leben hängt.“
Ein Leben ist vorbei. Mein Leben steht diesem Vorbei gegenüber. Und Leben rings umher.
Im Hause des Leichenbestatters spielen die Kinder über meiner toten Mutter und mir, über
dem Tod und dem Leben.
Der Wind heult um das Haus.
Es wird hier klar, dass ich nicht weiß, was Leben ist und auch nicht weiß, was Tod ist.
Nichtwissen wird offenbar am Sarg mit dem Leichnam der Mutter.
Jetzt muss sich der Wert einer Anschauung zeigen. Sehe ich den Tod nicht erst jetzt, sondern
sind mir seine Anzeichen seit langem vertraut, kann er nicht mehr so schrecklich fremd und
unverständlich sein. Muss er vielleicht sogar etwas Vertrautes für mich haben.

94
Waren Stille und Frieden am Bett meiner sterbenden Mutter immer anziehender geworden,
kann der Frieden des Todes nichts Abstoßendes an sich haben. Wie sollte diese Ruhe keine
Botschaft für mich haben?
Die erhabene Stille des mütterlichen Leichnams spricht von der uralten Wahrheit, die so
schwer zu verstehen ist:

„Kein Leben gibt es ohne Tod.


Vergänglich ist ja, was erscheint,
Nur Werden zum Gewesensein:
Entstanden, muss es untergehn.“

Jetzt ist der Augenblick, diese Wahrheit ein für allemal zu begreifen. Die Nähe des Buddha
will mir alle Trauer in Freude verwandeln: „Freut euch! Geöffnet sind zum Todlosen die
Tore!“
Als Prinz hatte er noch beim Anblick eines Toten geklagt: „O Schande über die Geburt, dass
sie mit dem Tod endet!“ Als Erwachter ist er voller Freude, weil er den Weg gefunden hat,
den immer wieder eintretenden Tod zu besiegen.
„Todesmacht bezwungen!
Höchster Sieg errungen!
Frei von allem Werden für immer!“ (Ud 3,10)
Wenn ich diesem Weg nachfolge, kann auch ich das „Reich der Freiheit“ gewinnen. Dieses
Reich der Freiheit ist nicht von dieser Welt.
Ich kann den Leichnam der Mutter mit den Augen der Welt betrachten: dann kommen Trauer,
Klage, Jammer auf. „Die Arme, sie kann nun nicht mehr genießen, was mir alles noch
zufällt!“ Und ich kann den Leichnam der Mutter mit den Augen der Weltüberwindung
betrachten: dann entstehen Freude und Heiterkeit und Dankbarkeit. „Die Glückliche geht nun
hellere Wege, ist frei vom Leiden an diesem Leben!“ Wie sollte ich mich nicht für sie freuen!
Ihr mit meiner Freude nahe sein!
Diese Augen allerdings müssen erst geöffnet werden. Von „Natur aus“ sind sie geschlossen.
Und darum eben ist Leiden nicht zu überwinden. Immer leide ich, wenn ich mit den Augen
der Welt sehe. Immer überwinde ich Leiden, wenn ich mit den Augen der Weltlosigkeit sehe.
„Über alles in der Welt wird sich mein Herz erheben.“ Auch über die immer wiederkehrende
Totenklage.
Neben dem Leichnam der Mutter gilt es, das unerschütterliche Vertrauen zum Buddha zu
bewahren, zu vertiefen. Und das wächst gerade im Annehmen und Erkennen der
Vergänglichkeit. Mit dem Vergänglichen sich einzulassen, ist nicht gut. Das führt nicht zum
Frieden, zum Nirwahn. Über das Vergängliche hinauszusehen, sich klarzumachen, dass diese
Materieform hier nicht alles ist, das macht fähig zum Loslassen und bringt mich dem Frieden,
dem Nirwahn, näher.
Nur der Durst nach Dasein lässt Klage und Jammer aufkommen. Das Versiegen des Durstes,
seine allmähliche Abschwächung, führt immer näher an das Nirwahn heran.
Sollte mir nicht in diesem Lebenstodesanblick der Durst ein wenig vergehen?
Ich will mir das Bild der toten Mutter gut einprägen und nicht so leicht vergessen.
„Alle diese Daseinsweisen, - unbeständig sind sie, leidvoll, dem Verwehen unterworfen.“
In wenigen Tagen schon werden die Flammen des Brennofens die Gestalt der Mutter
auslöschen. Ein Häufchen Asche mit ein paar Knochen bleibt von ihr zurück. Wie sollte das
identisch sein mit ihrem Wesen, mit dem, was ihr Leben ausgemacht hat! Mit dem, was von
ihr gerade jetzt fortlebt, indem ich es in mir sehe und fühle!

95
Wenn es jetzt ganz still in mir wäre, dann könnte ich noch eine andere Art von Fortleben
wahrnehmen, jene Art, von welcher der Buddha immer sprach.
Er sah die Wesen kommen und gehen, sah die Wirkung ihrer Taten, sah das endlose Kreisen.
Und in diesem Anblick war es „nichts besonderes, dass ein Menschenwesen zum Sterben
kommt.“ Es konnte gar nicht anders sein. Wo Leben gewollt wird, muss Sterben eintreten.
„Es gibt eine Betrachtung, die, wenn entfaltet und häufig geübt, zu gänzlicher Abwendung
führt, zur Loslösung, Erlöschung, zum Frieden, zur Durchschauung, zur Erwachung, zum
Nibbana. Welches ist diese eine Betrachtung? Die Betrachtung über den Tod.“ (A I,26)
Das habe ich mir gemerkt und bin der Empfehlung gefolgt. So ist es nun kein schwerer
Augenblick, neben dem Leichnam der Mutter still zu sitzen. Vielleicht hat sich meine
Wahrnehmung schon etwas geändert unter der Wegweisung des Erwachten. Ich sehe keinen
Schrecken mehr in diesem Bild. Ich kann ganz ruhig sein, mich zum Frieden führen lassen. In
den Friedensbereich eintreten, den der Tod um mich ausbreitet.
Mutter und Sohn sind sich nicht so fern, wie es aussieht. Ich selbst bin älter geworden mit
dem Altern der Mutter. Sie ist mit einem langen Leben vorausgegangen. Ich folge nach und
weiß nicht die Zeit. Dann bin ich einer, der vorausgeht, und andere folgen nach.
„Das Rauschen des endlosen Stromes der Vergänglichkeit reißt alles mit sich fort“ (Georg
Grimm).
Nur wenn ich diese Betrachtung häufig übe, kann ich zum Frieden gelangen. Wenn ich es
zulasse, dass sich der Tod wieder verheimlicht, kann ich ihn nicht besiegen. Der Buddha sagt,
ich muss ihn festhalten und so gründlich betrachten, dass er mutlos von dannen zieht. Tod
kann immer nur sein, wenn ich Leben ergreife. Wenn das Willensfeuer brennt. Höre ich auf zu
ergreifen, gibt es kein Werden mehr (Ud 3,10). Und ohne Werden gibt es keinen Tod, der
immer wieder unterbricht, anfangen lässt, unterbricht, anfangen lässt.
Geburtsstunde - Todesstunde. Zeit, die uns unerreichbar bleibt. Wir lassen uns selbst und
unsere Spuren zurück in der Welt. Eine Weile gehen die anderen mit unseren Spuren um,
dann verwehen auch sie.
Es ist nicht erklärbar: Die Stunde am Sarg meiner Mutter tat nicht weh. Mutter und Sohn
hatten den Abschied geübt in den vergangenen drei Jahren. Ein letztes Mal sind ihre Körper
nahe beieinander.
Ich stehe auf, küsse die kalte Stirn der Mutter und sage tief innen: „Ich danke Dir!“
Dann verlasse ich langsam den Raum und das Haus.

Saß, Ekkehard: Am Sarg meiner Mutter, in: Weil, Alfred (Hrsg.): Im Spiegel des Todes. Beiträge zu Tod und
Sterben aus buddhistischer Sicht, München 1995 (DBU)

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Wir wollen achtsame Partner des Sterbenden sein
Interview mit Peter Tamme

Das Hauptproblem für Sterbende ist die Angst. Der Schmerztherapeut und Buddhist Dr. Peter Tamme spricht im
Interview über Sterbehilfe, Dosierung von Medikamenten, Achtsamkeit und die spirituelle Praxis am Ende des
Lebens.

Unter welchen Umständen sterben Menschen heute?

Die häufigste Todesursache sind Herz- und Kreislauferkrankungen. Die Betroffenen sterben
z.B. durch einen Schlaganfall, ohne Vorankündigung. An zweiter Stelle steht Krebs, hier
liegen oft Monate oder Jahre zwischen der Diagnose und dem Tod.
Es ist selten, dass Patienten in einer behüteten Atmosphäre zu Hause sterben und sich in einer
guten sozialen und spirituellen Verfassung befinden. Das andere Extrem ist ebenso selten,
dass Menschen die letzte Zeit ihres Lebens völlig vereinsamt durchstehen müssen, womöglich
abgeschoben ins Badezimmer eines Krankenhauses. Für die unheilbar Kranken ist das Sterben
humaner geworden, auch dank der vielen Möglichkeiten der Palliativmedizin.
Das Hauptproblem für die Sterbenden ist die Angst. Die Ärzte lösen dieses Problem, indem
sie sedierende [beruhigende] Mittel verabreichen. Man muss allerdings wissen, dass dadurch
die Angst nicht wirklich beseitigt wird. Sie ist weiterhin tief im Bewusstsein des Patienten
vorhanden, er kann sie aufgrund der Medikamente nur nicht mehr äußern. Ich halte das für
Augenwischerei, denn was nützt es dem Betroffenen, wenn er ruhig gestellt ist, aber weiterhin
Angst empfindet? Die Sedierung nutzt dann eher den Begleitern, da sie nicht mehr mit den
starken Emotionen konfrontiert werden.

Was würde passieren, wenn man keine Beruhigungsmittel gäbe?

Die Frage ist, wie weit ich mich als Begleiter empathisch mit dem Sterbenden verbinden kann.
Die Angehörigen, die ja auch verunsichert sind, wollen am liebsten „action“ sehen, der Arzt
soll Spritzen geben, Infusionen anlegen, Flaschen anhängen usw. Das wird als Kriterium für
sein Können bewertet. Die Ärzte treten auf als „Macher“. Und natürlich benötigt der Patient
die medizinische Betreuung. Vor allem aber braucht er Zuwendung und Kontakt. Die
Kernfrage ist: Wie kann ich sein Vertrauen gewinnen, so dass er sich aufgehoben fühlt?
Der Patient nimmt wahr, dass er einer großen Gefahr ausgesetzt ist, und auch alle, die ihn
umgeben, sind sich dessen bewusst. Daher ist es wichtig, sich auch um die Angehörigen zu
kümmern, denen die Situation ja ebenfalls Angst macht. Pflegepersonal und Angehörige
müssen zum Wohle des Patienten zusammenwirken, so dass sie imstande sind, den Kranken
in seinem Sterbeprozess zu begleiten und zu unterstützen. Wenn die Situation eskaliert, ist
dies sehr nachteilig für den Patienten.
Als Arzt kann ich durch die Sedierung die Symptome lindern, aber ich kann in dieser akuten
Situation auch in Bezug auf die Angst kausal etwas tun. Ich habe Kollegen erlebt, die als
ruhiger, verständnisvoller Partner des Sterbenden viel erreicht haben, einfach durch ihre
Präsenz. Vertrauen kann sich innerhalb weniger Sekunden bilden und mehr helfen als
Beruhigungsmittel. Wir wollen achtsame Partner des Sterbenden sein. In der Palliativmedizin
fragen wir: Was braucht der Patient in diesem Moment? Was äußert er? Wir werden Helfer
und Partner des Patienten.

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Heißt das auch, dass der Patient mehr Eigenverantwortung hat?

Ja, und diese trägt er gern. Er äußert seine Wünsche sehr präzise, wenn Raum dafür da ist.
Zum Beispiel kann es sein, dass ein Sterbender mit einem Notar sprechen möchte, ein anderer
will ein Bad nehmen, obwohl er einen offenen Bauch hat. Und ich muss mir überlegen, wie
ich das umsetzen kann. Der Fokus liegt nicht darauf, was ich davon halte, ob das z.B. für den
Patienten gut wäre, sondern auf dem, was er selbst wünscht und äußert. Der Arzt als solcher
tritt zurück, er wird zum Helfer und Begleiter.
Wenn der Patient merkt, dass der Therapeut sich wirklich ernsthaft darum bemüht, seine
Wünsche zu erfüllen, entsteht eine feste Gemeinschaft, eine intensive Beziehung entsteht, und
ein Gefühlsaustausch findet statt. Es ist auch für den Arzt eine Erleichterung, wenn nicht mehr
von ihm erwartet wird, dass er einen aussichtlosen Kampf fortsetzt, und es hilft den
Angehörigen, die Situation zu akzeptieren.

„Es ist möglich, schmerzfrei zu sterben.“

Man hört immer, das Ziel sei, ohne Schmerzen zu sterben. Ist es überhaupt realistisch,
schmerzfrei zu sterben, gerade bei Krebs?

Ja, es ist möglich, schmerzfrei zu sterben. Aber es hat seinen Preis, denn schmerzlindernde
Opiate verkürzen das Leben und vernebeln den Geist. Es gibt Situationen, in denen der
Schmerz so groß ist, dass er nur in narkoseähnlichen Zuständen nicht mehr wahrgenommen
wird. Der Patient muss entscheiden. Ich spreche das offen an und erkläre die Alternativen:
entweder Schmerzen ertragen und bei wachem Bewusstsein bleiben oder Schmerzen lindern -
auf die Gefahr hin, das Leben um ein paar Tage zu verkürzen.

Wie wirken schmerzlindernde Medikamente, was machen sie mit dem Geist?

Schmerzlindernde Medikamente sind zentral wirkende Medikamente, das heißt, die


Konzentrations- und Denkfähigkeit verlangsamen sich. Die Mittel nehmen mir zwar nicht
meinen Intellekt, aber er funktioniert langsamer. Ich betreute einmal einen Kranken, der den
starken Wunsch hatte, noch zu meditieren. Er wollte nur so viele Medikamente, dass ihm dies
noch möglich war. Das bedarf einer engen Kooperation zwischen Arzt und Patienten, denn
der Betroffene muss sich mitteilen und Auskunft über sein Schmerzempfinden und seine
Wachheit geben.

Was wäre die Alternative zu sedierenden Medikamenten? Kann man starken Schmerzen
geistig beikommen, oder würde man sich zu viel zumuten?

Die Annahme, man könne bei starken Schmerzen meditieren, ist ein Fehlschluss. Wir
brauchen einen Mittelweg, bei dem wir ein bestimmtes Maß an Schmerz und an Müdigkeit
tolerieren. Das ist von Patient zu Patient unterschiedlich. Es gibt die verschiedensten Arten
von Tumoren, etwa solche, die aus dem Körper herauswachsen, und trotzdem haben die
Patienten keine Schmerzen. Andere Kranke sind äußerlich nicht beeinträchtigt und erleben
doch unbeschreibliche Qualen. Die Frage ist: Ist es Schmerz oder ist es Leiden, ist es physisch
oder mental? Ist es nur ein elektrischer Impuls auf der Schmerzleitungsbahn, oder ist es das,
was als Gefühl, als Reaktion auf diese Schmerzmeldung im Gehirn entsteht und was ich als
Leiden bezeichne?

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Wenn ein Mensch früh genug im Leben Achtsamkeit als Methode in sich verankern kann, ist
das ungemein hilfreich, weil er dann selbst differenzieren kann, was eigentlich schmerzt. Ist es
dieser krampfartige Oberbauchschmerz, oder ist es das leidvolle Gefühl, dass dieser
körperliche Schmerz die unausweichliche Trennung ankündigt und mit der Ungewissheit
einhergeht, was danach kommt? Indem ich es anschaue, sehe ich die eigenen Anteile. Ich kann
erkennen, in welchem Ausmaß mein körperlicher Schmerz durch seelische Faktoren wie
Wehmut, Angst und Trauer verstärkt wird, ich sehe, was mein Geist aus dem Signal macht.
Ich untersuche das Gesamtpaket meines Leidens. Wenn die seelischen Anteile überwiegen,
bringt es nichts, den Schmerz mit Opiaten unterdrücken zu wollen. Herrschen Angst oder
Depression vor, wäre pharmakologische Hilfe möglich. Wenn man die Achtsamkeitspraxis
geübt hat, ist dies nicht notwendig. Wenn Therapeut und Patient gemeinsam dieses Gefühl
betrachten. wird das Leid transformiert, und der Betroffene will gar keine Spritze mehr.
Früher habe ich den Patienten gefragt, wo auf einer Skala von eins bis zehn er seinen Schmerz
einordnet. Bei Schmerzstufe acht habe ich das Opiat entsprechend dosiert. Wenn der Patient
seinen Schmerz heute als „acht“ einstuft, setze ich mich zu ihm, lasse eine Pause entstehen
und rede mit ihm. Ich bitte ihn, das Leiden zu beschreiben. Empfindet er den Schmerz als
„schneidend, hämmernd, pochend“, so sind dies sensorische Beschreibungen. Schmerzen
dieser Art können mit Medikamenten behandelt werden. Wenn er aber antwortet. „Der
Schmerz ist entsetzlich, mörderisch, grausam“, so sind dies affektive, wertende
Beschreibungen, und ich komme mit Medikamenten nicht weiter. Ich frage ihn: „Welche
Farbe hat das Gefühl, wie groß ist der Schmerz – wie ein Tennisball oder ein Fußball? Wie
groß wäre er hier im Raum?“, und so erhalte ich eine plastische Darstellung seines
Schmerzerlebens. Der Patient weint und ich weine, wir halten uns an der Hand. Diese Nähe
ermöglicht Linderung.

Achtsamkeit – das Element einer buddhistischen Palliativmedizin

Was wäre eine buddhistische Palliativmedizin?

In einer buddhistischen Palliativmedizin wäre die Praxis der Achtsamkeit das zentrale
Element. Ich finde die sonst in der Palliativmedizin verbreiteten „Trostgespräche“ nicht
hilfreich. Wie soll ich jemanden trösten, der stirbt? Es ist unauthentisch, fast wie ein
Schauspiel, das Arzt und Patient sich gegenseitig bieten.
Hilfreicher ist es, wenn Arzt und Patient die Gefühle im Licht der Achtsamkeit anschauen.
Die Achtsamkeitspraxis hat verschiedene Elemente: Am Anfang steht das nicht wertende
Beobachten, das dazu führt, dass wir uns der Gefühle, Gedanken und körperlichen
Verspannungen gewahr werden. Das bloße Wahrnehmen, ohne zu urteilen, mündet in die
Disidentifikation: „Ich spüre Schmerz, aber ich bin nicht der Schmerz, ich hin nicht der
Körper. Ich spüre Angst, aber ich bin nicht dieses Gefühl.“ Ganz natürlich entsteht daraus
Akzeptanz: Ich habe nicht mehr das Verlangen, die Situation zu verändern und nehme sie an,
wie sie ist. Diese Schritte münden in das Loslassen. Ich lasse mein bisheriges Leben los und
bereite mich auf den Übergang vor. Patient und Arzt durchlaufen diese Stufen, und auch die
Angehörigen sollten diese Schritte mitgehen. Dazu muss man kein Buddhist sein.

Wir hatten über die Problematik der Sterbehilfe im Zusammenhang mit hoher Dosierung von
Beruhigungsmitteln gesprochen. Was ist aktive, was passive Sterbehilfe?

Aktive Sterbehilfe ist eine aktive Handlung durch eine andere Person, die direkt den Tod des
Patienten herbeiführt. Sie ist in Deutschland verboten, was übrigens auch für den Tatbestand

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der Tötung auf Verlangen gilt. Bei der passiven Sterbehilfe lässt man den Tod eines
Schwerkranken zu, indem man zum Beispiel lebensverlängernde Maßnahmen beendet oder
gar nicht erst aufnimmt. Bei der indirekten Sterbehilfe unterlasse ich eine Therapie oder
verabreiche Medikamente, welche zwar die Qualität des Lebens verbessern, aber das Risiko
beinhalten, dass sie das Leben verkürzen.
Die aktive Sterbehilfe, die man aufgrund von unerträglichen Schmerzen wünscht, ist unnötig
geworden, da wir die Palliativmedizin haben. Diese ist in Deutschland in den vergangenen
zehn Jahren flächendeckend vorhanden und stellt sicher, dass schwerkranke Menschen keine
körperlichen Schmerzen mehr erleiden müssen. Alles, was im Sterbeprozess physisch als
quälend empfunden wird, kann gelindert werden.
Die passive Sterbehilfe setzt voraus, dass wir den Willen des Patienten kennen und sein
Einverständnis haben, z.B. durch eine Patientenverfügung, die er selbst verfasst hat, oder
durch eine Vorsorgevollmacht, aufgrund derer ein Nahestehender entscheiden kann. Es reicht
nicht aus, dass die Angehörigen aus Überforderung nach Wegen suchen, endlich dem Leiden
– nicht zuletzt ihrem eigenen Leiden – ein Ende zu setzen. Eine solch frustrierende Situation
wäre ein Versagen der Palliativmedizin. Ein Behandlungsabbruch ist immer dann
problematisch, wenn kein Patientenwille erkennbar oder bekannt ist.

Wie treffen wir die richtige Entscheidung?

Das hängt von der Motivation ab. Mein Ziel als Arzt sollte sein, die Lebensqualität des
Kranken zu verbessern, und hier kann indirekte Sterbehilfe geraten sein. Wenn ein Patient
unter Atemnot leidet und Angst hat zu ersticken, können wir diese Symptome mit
Medikamenten lindern. Kein Mensch muss einen Erstickungstod sterben, der als die
schlimmste Art zu sterben gilt. Die Gabe von Medikamenten kann allerdings dazu führen,
dass das Leben verkürzt wird.

Wie ist die Sterbehilfe aus buddhistischer Sicht zu beurteilen?

Eine buddhistische Sterbehilfe von Seiten des Arztes sollte sich an der buddhistischen Ethik
ausrichten: die Bejahung des menschlichen Lebens und das Nicht-Verletzen. Eine aktive
Tötung mit meinem Zutun ist damit ausgeschlossen, das gilt auch für die Beihilfe zum
Selbstmord. Passive und indirekte Sterbehilfe wären möglich. Das Tolerieren eines
Selbstmords müsste man differenzierter sehen. Jeder Mensch hat die Verantwortung für sein
eigenes Leben. Nehmen wir als Beispiel einen Menschen mit einer fortschreitenden und
irreversiblen Schädigung der Nervenzellen. Er hat Lähmungen, und diese steigen im Laufe der
Zeit den Körper hoch, bis er nicht mehr schlucken und irgendwann auch nicht mehr atmen
kann.
Als Arzt darf ich ihm Schmerzmittel für einen Monat verschreiben, ich weiß natürlich nicht,
ob er nicht die ganze Monatsdosis auf ein Mal nimmt, um sich zu töten. Doch das würde ich
als Buddhist und Arzt in diesem Fall tolerieren. Die oberste Prämisse, an der wir uns
orientieren sollten, ist der Wille des Kranken. Entscheidend für mich ist dabei meine
aufrichtige Motivation, dem anderen helfen zu wollen.

Würden Sie selbst in so einer Situation Ihrem Leben ein Ende bereiten?

Nein, das würde ich nicht. Ich würde es annehmen als eine Aufgabe, die ich bewältigen muss,
und mir vergegenwärtigen, dass es mein Karma ist.

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Gäbe es keine Situation, in der Sie sich selbst töten würden?

Nein, das wäre gegen meine buddhistische Ethik. Außerdem habe ich einen Sohn, und das
könnte ich ihm nicht antun. Im Buddhismus wird die Eigenverantwortung stark betont, und
danach handle ich.

Sie haben schon viele Menschen sterben sehen. Was hilft in diesem Prozess am meisten?

Es ist wichtig, gerade weil z.B. bei Herzinfarkt oder Schlaganfall der Sterbeprozess ganz
plötzlich einsetzen kann, sich schon im Leben mit dem Tod und Sterben auseinander zu
setzen. Es hilft auch, wenn man weiß, dass man Fürsorge getroffen hat für die Menschen, die
einem nahe stehen. Am meisten hilft eine spirituelle Praxis, ganz gleich in welcher Religion,
an die ich mich im Leben gewöhnt habe und auf die ich dann zurückgreifen kann.

Wie haben Sie das Sterben Geshe Thubten Ngawangs (1932-2003) erlebt, den Sie in seinen
letzten Wochen als Arzt betreut haben?

Die Begegnung mit ihm war für mich eine Weichenstellung, obwohl ich nur eine kurze Zeit
mit ihm zusammen war. Ich habe ihn als Arzt ja erst in den Wochen seines Sterbens
kennengelernt. Geshe-la hat in gewisser Weise vorgegeben, in welche Richtung mein Leben
weitergehen soll, vor allem durch die Art, wie er mit dem Sterben umging.
Alle Menschen in dieser Situation, die ich bisher erlebt habe, waren verstrickt in den Prozess
von Krankheit, Trennung und Sterben. Sie hatten keine Freiheit und pendelten zwischen
Anhaftung an dieses Leben und Ablehnung, zwischen Nichtwahrhabenwollen ihrer
derzeitigen Lage und Angst vor dem Ungewissen. Dieses Wechselspiel wird nirgends so
deutlich wie im Sterben.
Bei Geshe-la war das nicht zu beobachten, er zeigte völligen Gleichmut, auch wenn er noch
vieles ausprobierte, um sein Leben zu verlängern. Es hat mich so berührt, dass er – schon an
der Grenze des Todes – sich noch um mich gekümmert hat, mehr als ich mich um ihn. Er
hatte eine unglaublich starke Intuition für das, was der andere empfindet. In der Begegnung
mit ihm habe ich „Liebe“ ganz neu entdeckt. Ich empfand zum ersten Mal eine Liebe frei von
Anhaftung, ohne Sexualität, ohne Elternliebe. Ich habe zum ersten Mal das Ausmaß meiner
Liebesfähigkeit erkannt, und diese Begegnung hat mich bis ins Mark erschüttert. Ein Moment
der Liebe kann alles verwandeln.

Könnten Sie sterben wie er?

Nein, nicht so würdevoll, bei mir hätte das Sterben sicher viele jämmerliche Facetten. Ich
bereite mich eher darauf vor wie ein Sportler auf die Olympiade.

Peter Tamme (Interview): Wir wollen achtsame Partner des Sterbenden sein, in: Tibet und Buddhismus Nr.
4/2009. Das Gespräch führte Birgit Stratmann.

Wenn die Todesstunde naht


Einfühlsame Sterbebegleitung

Thich Thien Son

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Wie sie vielleicht wissen, bin ich mit den Bootflüchtlingen aus Vietnam gekommen, bin also
sozusagen einer der „Boatpeople“. Das ist sicher auch der Grund, weshalb ich mich so frei
fühle wie ein Boot auf dem offenen Meer. Denn in einem kleinen Boot auf dem offenen Meer
kann man nicht wirklich bestimmen, wo man landen soll.
Auf die Flucht aus Vietnam waren wir nicht gut vorbereitet. Wir hatten lediglich eine Idee,
was Freiheit ist und was der Westen sein könnte. Dennoch haben wir diese Flucht angetreten
und mussten feststellen, dass alles gar nicht so war, wie wir es gedacht hatten.
Es war überhaupt nicht schön, aus unserem winzigen Schiff heraus auf vierstöckige
Wasserberge zu sehen, und wir hatten große Angst. Wir fühlten uns völlig verloren, weil wir
nicht erkennen konnten, wo – wenn wir überhaupt überlebten – uns die wilde Natur an Land
werfen würde.
So stelle ich es mir vor, wenn ein Mensch nach einem langen Leben auf seine vorläufig letzte
Reise geht, bei der sich alles auflösen wird. Dann ist er genau so unvorbereitet wie wir es auf
dem Meer waren. Man denkt sicher viel darüber nach, was sich ereignen könnte, wie das
Sterben ist. Man hat eine gewisse Vorstellung darüber, dass und wie man den Körper verlässt,
und dann ist alles ganz anders.
Ich hatte einige Gelegenheiten, Sterbende zu begleiten. Monatelang bevor sie sterben,
machten sie Pläne, was sie im Augenblick des Todes alles tun möchten. Sie wollten vielleicht
eine Kerze angezündet oder eine Blume an ihrer Seite haben. Das klingt sehr schön, vielleicht
sogar romantisch. Doch wenn sich dann die Tage nähern, wenn Schmerzen kommen oder
stärker werden und die Sterbestunde näher rückt, kann alles ganz anders sein.

Auf das Loslassen vorbereiten


Trotzdem kann man sich, sofern man noch bei klarem Verstand ist, immer wieder klar
machen, dass das Leben vergänglich ist und dass man auf das Loslassen vorbereitet ist. Je
näher der Sterbetag kommt, um so deutlicher spürt man, wie die Kräfte nachlassen und sich
auflösen. Wie das, was wir unser Selbst nennen, langsam immer weniger wird und schwindet.
In jeder Religion weiß man davon, dass die Menschen Angst haben sich aufzulösen, zu
verschwinden. Doch je näher die Todesstunde kommt, um so weniger klar wird alles. Das
Bewusstsein hat keine Struktur mehr, und es bleiben nur noch die Gefühle. Man fühlt den
eigenen Körper, ist verwirrt und fühlt die Auflösung. Angst steigt hoch. Da der Sterbende
meist wenig von seinem Körper bei diesem Auflösungsprozess weiß, versucht er, sich an die
Menschen um ihn herum festzuklammern.
Als ich eine Frau auf dem Weg zum Sterben begleiten durfte, sagte sie mir bis eine Stunde vor
ihrem Tode, dass sie loslassen möchte und könnte. Doch alsbald fühlte ich, dass sie mit aller
Kraft noch am Leben hing. Sie hielt meine Hand ganz stark fest und wünschte sich, noch
dieses oder jenes zu sehen und zu fühlen. Ich musste ihr ganz sanft sagen, dass es Zeit sei zu
gehen.
Je besser wir Begleiter uns in den Körper des Sterbenden hineinfühlen können, um so besser
können wir ihn verstehen, mit ihm sprechen. Wir können verstehen und fühlen, was ihn am
Loslassen hindert.

Negative Gefühle beeinflussen die Organe


Aus der Sicht der traditionellen chinesischen Medizin sehen wir, dass Menschen gesund
geboren werden, sich aber auf ihrem Lebenswege bis zum Tode hin allmählich mit negativen
Gefühlen selbst vergiften. Natürlich haben wir im Leben nicht nur negative Gefühle, sondern

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auch glückliche Momente. Gefühle, die nicht verarbeitet werden, lagern sich in den
entsprechenden Organen ein.
Trauer und Verletzungen der Gefühle verursachen Herzschmerzen. Unsicherheit,
Minderwertigkeitsgefühle und Nervosität lassen den Magen krampfen. Wenn wir diese
Probleme nicht bearbeiten, werden wir von ihnen krank und schlussendlich davon nicht nur
zum Tode gebracht, sondern müssen sie auch weiter mitnehmen. Angst verursacht
Darmprobleme, in extremen Fällen stellt sich Durchfall ein.
Dauern Ängste zu lange an, so werden wir das an den Nieren spüren. Wir spüren hier, dass
wir von Menschen nicht so akzeptiert werden, wie wir sind. Vielleicht, dass wir im Stich
gelassen werden oder meinen, nicht alleine bestehen zu können.
Männer mit einem Prostataproblem oder Frauen mit Problemen an den Geschlechtsorganen,
hatten Schwierigkeiten, sich mit ihrer geschlechtsspezifischen Kraft zu verständigen. Männer
glaubten, ihre Männlichkeit beweisen zu müssen. Frauen konnten sich vielleicht nie wirklich
erlauben, ein Mädchen oder eine Frau zu sein. Nicht einmal in einer Ehe.
Wenn wir in der Lage sind, die einzelnen Organe den unterschiedlichen Gefühlen zuzuordnen,
können wir besser mit den Sterbenden sprechen, wenn sie nicht loslassen können.
Patienten mit Leberproblemen halten Trauer und Wut zurück. Diese Patienten kann ich nur
dazu ermutigen, ihre Wut auszuleben, obwohl immer wieder zu hören ist, wie schlecht Wut
sei und wie sie einen Menschen herunterziehen würde. Aber, wenn ein Sterbender im
Rückblick auf sein Leben, in dieser häufig beim Sterbeprozess stattfindenden Rückblende, die
Wut gefangen hält, können wir als Begleiter nicht so grausam sein und ihm zumuten, die Wut
hinunterzuschlucken und dadurch in ein anderes Leben mitzunehmen. Wir können ihn ruhig
dazu ermutigen, wütend zu sein. Denn was er hier erlebt hat, sind nur Augenblicke, und es ist
besser in einem noch winzigeren Augenblick, dem vor dem Tod, wütend zu sein und diese
Wut dann loszulassen, als ein ganzes Paket Wut mitzunehmen in ein anderes Leben.
Meist ist es am Ende des Lebens so, dass Gläubige einen Mönch oder Priester rufen und ihn in
den für sie schwer wiegenden Problemen mit ihrer Familie befragen. Häufig sind jedoch keine
Familienmitglieder anwesend. Dann muss der Begleiter dem Sterbenden die eigene
Kompetenz zurückgeben. Jedoch steht es uns in keinem Falle zu, ihm kluge Ratschläge zu
geben wie: Lass jetzt los, du wirst erlöst sein oder du wirst befreit sein. Denn dann dreht sich
alles ins Gegenteil um. Der Betroffene wird einfach nur noch trauriger und wütender.

Liebevolle Betreuung der Angehörigen


Soweit möglich, sucht der Begleiter ein Gespräch mit der Familie, damit sie aufgeklärt und
unterwiesen werden kann, was in diesem Prozess wirklich vorgeht. Er versucht Ihnen
beizubringen, mit dem Toten langsam und leise zu sprechen. Wenn bei dem Sterbenden
Minderwertigkeitsgefühle oder Versagensängste hochkommen, sollten die Angehörigen ihm
klar machen, wie er sich sein ganzes Leben lang bemüht hat, alles für die Angehörigen zu tun.
Sie könnten ihm sagen, dass es für sie ein Glück war, dass er mit ihnen gelebt hat. So entsteht
eine gute Verbindung, den Sterbenden auf dem weiteren Weg zu begleiten.
Wir müssen im Augenblick des Sterbens endlich einmal nicht mehr davon reden, was Eltern,
Partner, Kinder, Freunde, Arbeitskollegen oder Nachbarn uns alles nicht gegeben haben. Wir
könnten und sollten geduldig bei dem Sterbenden bleiben und in der so erzwungenen Zeit des
stundenlangen oder gar tagelangen Sterbens uns Zeit dafür nehmen, mit dem Sterbenden
darüber zu sprechen, was er in vielen Jahren oder auch nur Momenten des Zusammenlebens
uns gegeben hat.
Wir könnten dankbar dafür sein, dass sein Tod uns zwingt innezuhalten. Dankbar, dass er uns
die größte Nähe gewährt, die ein Mensch gewähren kann und dankbar, dass unser Ego endlich

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einmal auf einen anderen Platz verwiesen wird. Wir sollten nicht danach fragen, was könnte
ein anderer für uns sonst noch alles tun, sondern, was hat er bereits getan.
In der konkreten Hilfe können wir den Sterbenden auf seinen Atem aufmerksam machen,
denn dann kann der Sterbende selbst bemerken, wann er sich auflöst. Wir können dabeisitzen
und geduldig dabeisitzen bleiben. Denn wir können nicht wissen, wann der Augenblick
kommt. Deshalb bleiben wir bei dem Sterbenden und bei uns selbst.

Die letzte Stunde


Wenn es möglich ist, sitzen wir ganz nah am Ohr, denn ob der Sterbende bei Bewusstsein ist
oder auch nicht, meist kann er noch ganz gut hören. Wir bereiten ihn dann auf die letzte
Stunde vor und sagen: „Konzentriere dich auf deinen Atem, und wenn du jetzt aus diesem
Leben austrittst, wirst du aus deinem Kronenchakra austreten. Die verletzten Gefühle halten
sich von der Magengegend her, vom Solarplexusbereich, und es wäre angebracht, wenn man
von der Stelle, aus der man austritt, beim Kronenchakra, also vom Verstand her, ein wenig mit
auf die Reisen nehmen würde. Aber vielleicht kennt er den Begriff Kronenchakra gar nicht.
Deshalb müssen wir dorthin ganz leicht klopfen. „Hieraus sollst du gehen. Da ist deine Tür.“
Und dann können wir erklären, dass wir beim Hinausgehen Amida Buddha mit seinen auf den
Menschen gerichteten Strahlen sehen werden. Wir können dem Sterbenden sagen, er solle sich
auf das Licht von diesem Buddha konzentrieren. Es ist golden oder weiß. Man ist noch nicht
gestorben und noch nicht wieder geboren. In dieser Phase ist man in einem Zwischenzustand
und es kommen sehr viele Ängste und Gefühle hoch. Denn wenn es stockfinster in ihm ist,
versucht der Sterbende sich an das Nächsterreichbare anzuklammern. Macht er hier eine
falsche Entscheidung, so wird er wiedergeboren und wir können nicht wissen wie und als was.
Wenn wir aber vorbereitet sind und von goldenem Licht sprechen und an goldenes Licht
denken, so finden wir eine Ebene, auf der wir besser praktizieren können.

„Lass mich in Ruhe!“


Viele Menschen, viele Buddhisten bitten uns zu beten und Sutren zu rezitieren. Manchmal
müssen wir das tun, denn es gehört sich, dass ein Mönch betet oder rezitiert. Aber ich denke,
es sind häufig Texte, die nicht leicht zu verstehen sind, denn die Sutrensprache ist eine
besondere Sprache. Und wenn wir diese Texte dann stundenlang rezitieren würden, so glaube
ich, dass der Sterbende bald sagen würde; „Lass mich in Ruhe!“
Mit den Gebeten, die wir sprechen, sollten wir unsere Energie bündeln und dann zu dem
Sterbenden schicken. Wir sollten auf keinen Fall laut sein oder Lärm machen. Beim Sterben
sollten wirklich nur Familienangehörige, gute Freunde und vielleicht ein Geistlicher dabei
sein. Mit dem Beten sollten wir nicht warten, bis wir in Schwierigkeiten kommen. Im
Chinesischen gibt es ein Sprichwort: „Du sollst Buddhas Füße nicht berühren, wenn du
Schwierigkeiten hast.“ So wird es für den Sterbenden auch sein. Er braucht unsere
Ermahnungen an den Buddha, die Gebete und die Sutren nicht, denn er wird kaum Sammlung
finden, so sehr ist er mit seinen eigenen Gefühlen beschäftigt. Wir sollten uns darauf
konzentrieren, ihn zu begleiten. Beten können wir später immer noch.
Wir haben hier in der Pagode (Phat Hue in Frankfurt; Anm. d. Red.) einen Altarraum mit
vielen Bildern von Verstorbenen. Dorthin kommen die Angehörigen sieben Wochen lang und
beten für die sterbende Seele.
Wir wissen, es wird 49 Tage dauern, bis der Mensch sich von diesem irdischen Körper ablöst.
Diese Tage können wir aber nicht wie unsere normalen Tage zählen. Es kann auch eine sehr
viel kürzere Zeit sein, denn das hängt jeweils vom Karma ab, und auf dieser Ebene existiert
Zeit in unserem Sinne ohnehin nicht. Wenn sich der Verstorbene nur sehr schwer lösen kann,

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dann dauern diese von uns so beschriebenen 49 Tage erheblich länger. Vielleicht fünf Jahre,
zehn Jahre oder auch hundert Jahre. Deshalb ist eine gute Begleitung so wichtig.
Noch wichtiger wäre es, wenn wir uns jeden Tag darauf vorbereiteten und bereits im Alltag
unsere Wut und unsere vermeintlichen Sicherheiten loslassen könnten.

Thich Thien Son: Wenn die Todesstunde naht. Einfühlsame Sterbebegleitung, in: Buddhismus aktuell Nr.
2/2006; nach einem Vortrag in Frankfurt im Oktober 2004

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Hinweise

Wir danken den Autorinnen und Autoren sowie den Verlagen für die freundliche Kooperation
bzw. für die Überlassung der Texte.
Die Beiträge sind (unter vereinfachender Einbeziehung der Ehrentitel) in alphabetischer
Reihenfolge der Autoren wiedergegeben.
Pali-Worte erscheinen (in der Regel) in vereinfachter Umschrift.
Die Rechtschreibung älterer Texte wurde (teilweise) angepasst.
Die bei den Quellenangaben mit „(DBU)“ gekennzeichneten Titel sind zusammen mit
weiteren Texten in einem Sammelband erschienen: Alfred Weil (Hrsg.): Im Spiegel des
Todes. Beiträge zu Tod und Sterben aus buddhistischer Sicht, München 1995 (DBU)
Vergleiche Texte unter: „Tod, Fortexistenz, Wiedergeburt“

Bearbeitung: Alfred Weil – Stand: 18.11.2010

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