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Naturalismus

Eingangslesung: Beginn des Romans Verbrechen und Strafe [Schuld und Sühne] von Fjodor Dostojewskij
(1866) Erläuterungen dazu
In bewusster und provokanter Absetzung gegen die Strömung des Realismus entwickeln sich in
Deutschland zwischen 1880 und 1900 jene Tendenzen, die wir in der Literaturgeschichts-schreibung als
„Naturalismus“ klassifizieren. Wir entlehnen den Begriff der europäischen Literaturgeschichte, die ihn
vor allem an literarischen Strömungen in Frankreich, Russland und Skandinavien festmacht und dort
bereits früher ansetzt. Das heißt: als in Deutschland die naturalistische Literatur zu entstehen beginnt,
befindet sie sich in anderen europäischen Ländern bereits in großer Blüte und wird auch vor allem dort
programmatisch vertreten.
Die Vertreter des Naturalismus in Deutschland wenden hingegen diesen Begriff gar nicht auf sich
selber an bzw. lehnen seine Anwendung sogar ausdrücklich ab. Sie bezeichnen sich selbst als teils
„modern“, als „revolutionär“ oder sie nennen ihre Literatur „konsequenten Realismus“. Das ist eine
Konsequenz vor allem der außerliterarischen Bedingungen, nämlich der politischen Option der
Naturalisten, zwar einerseits die sozialen Verhältnisse im industriellen und imperialistischen Deutschland
anklagend zur Sprache zu bringen, andererseits damit aber insbesondere die „deutsche Nationalliteratur“
fördern zu wollen: die deutsche Literatur solle endlich „männlich“ werden, kernig und deutsch, aufrecht
und hart. Die „weichliche“ Art des Realismus und seine auf den deutschen Raum begrenzte Stoffwahl
und seine provinzielle Wirkung solle überwunden werden – Internationalisierung durch Öffnung der
Themen, nicht aber durch Abhängigkeit von den europäischen Einflüssen.
Das hat mit der politischen Situation um 1880 zu tun, die vom Wechsel der Regierungsmacht von
Bismarck auf Wilhelm II. und durch den wirtschaftlichen Aufschwung in Folge des „Sieges“ über
Frankreich im Krieg von 1870/71 geprägt ist. Deutschland tritt damals wieder einmal in der Haltung des
„Wir sind wieder wer!“ auf – und das schlägt sich auch in der Literatur der Naturalisten nieder. Diese
außerliterarische Entwicklung ist einer der wichtigen Beweggründe für die Hinwendung zu allem, was
mit „Volk“ zu tun, die wir in der naturalistischen Literatur finden: sei es auf der Ebene des Stoffes
(Themen aus dem Erleben der Massen), des Stils (Umgangssprache, Dialekt, bis hin zur Gossensprache)
oder auf der Ebene der Wirkungsabsicht: man will das Volk erreichen und für das Volk wirksam werden,
und nicht mehr im hermetischen Zirkel des Bildungsbürgertums wirksam sein. Dabei gehören die
Vertreter des Naturalismus durchweg dem Bürgertum an, wir können also nicht von „Arbeiterliteratur“
im eigentlichen Sinn sprechen. Sie entstammen jedoch weitgehend der jungen Generation, sind
ursprünglich eher mittellose Studenten und fühlen sich von daher der mittellosen Schicht zugehörig.
Wir können folgende Linien herausarbeiten, in denen sich der Naturalismus in Abgrenzung gegen des
Realismus konturieren lässt. Dabei sind die außerdeutschen europäischen Einflüsse von großer
Bedeutung, auch wenn sie von den Vertretern des deutschen Naturalismus selbst nicht gesehen oder gar
geleugnet werden.

Realismus Begriffsdifferenzierung Erläuterung


 „bürgerlich“
– Gestaltung des – Programmatischer
Alltäglichen Realismus – Autor und Text
– Abbild gesellschaftlicher werden als Teil der
Verhältnisse bürgerlichen Gesellschaft
– Tendenz zu Harmonie und gesehen – Stoffe und
Versöhnung Erzählweisen spiegeln die
– Ausgleich zwischen den Realität – Zielgruppe: das
Bürgertum, das „Volk“ –
Polen der objektiven Tendenz zu politisch-
Wirklichkeit und der gesellschaftlichem Ausgleich
subjektiven Wahrnehmung(en) (im Interesse des Bürgertums)

– Objektivierung und
 psychologisch“ Gestaltung des Subjektiven
– Darstellung des inneren,
subjektiven, seelischen
Erlebens

– Wunsch nach „Verklärung“ der


Wirklichkeit (Erbe der
 „poetisch“ Romantik) – ästhetische Mitte
zwischen den Extremen – Humor
als Stilmittel der Versöhnung und
Distanzierung

In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts differenziert sich diese Bewegung des Realismus
nochmals weiter aus:
 die Tendenzen zur Darstellung des „objektiv Gegebenen“ führen zum Naturalismus und
radikalisieren sich dort
 die Tendenzen zur Ausgestaltung der „subjektiven Wahrnehmungen“ setzen sich in der Literatur
des Impressionismus und des Fin de siècle fort

Als Ausgangspunkt zur Erläuterung des Naturalismus wähle ich eine Definition, die der bedeutende
französische Naturalist Emile Zola in seinem Essay Le roman expérimental (1880) und in seinem Roman
Les Rougon-Macquart (1871/93) gibt: Die Aufgabe des Schriftstellers bestehe, so Zola, darin, „alle
Ereignisse auf den erfahrungsgemäß richtigen Beweggrund zurückzuführen“.
An dieser Beschreibung sind alle Einzelbegriffe wichtig und charakteristisch:
 roman: die zunächst wichtigste Textsorte des europ. Naturalismus, in Dtschld. auch Drama
 expérimental: Naturalismus versteht sich als experimentelle, moderne und revolutionäre Literatur
Wirkungsabsichten: schockieren, anklagen, aufrütteln, verändern (Zola und die Affaire Dreyfus:
„J’accuse!“; Auswirkungen auf Heinrich Mann u.a.)
 Aufgabe des Schriftstellers: der Autor wird mit einer Funktion für die Gesellschaft versehen,
nicht als „inspiriertes Genie“ gedacht
 alle Ereignisse: wie schon der Realismus, nur radikaler und konsequenter, greift der Naturalismus
reale Ereignisse aus dem gesellschaftlichen Leben auf; Stoffe werden z.T. aus Zeitungen
geschöpft
 auf den erfahrungsgemäß richtigen Beweggrund zurückführen: der Schriftsteller wird als eine Art
Natur-Wissenschaftler oder Forscher gesehen, der die Erscheinungen der Realität untersucht und
ihre Ursachen ergründet, Gesetzmäßigkeiten herausarbeitet und sich dabei auf die Empirie
(„erfahrungsgemäß“) stützt; Ziel ist die Ermittlung und Aufdeckung des „richtigen
Beweggrundes“, also der wesentlichen Ursache für menschliches Handeln, Erleben und Erleiden.
 Die wichtigsten Bereiche der „erfahrungsgemäß richtigen Beweggründe“ entstammen den
aktuellen Wissenschaften der Zeit: den Natur- und Sozialwissenschaften sowie der Technik
 Der Mensch wird gezeigt in seiner Abhängigkeit von den (naturgesetzlichen) Bedingungen
(dahinter die Leitidee des Darwinismus): – Trieb (Liebe als Folge des Triebbegehrens, der
„rohen“ Sexualität) (Beispiel: Bahnwärter Thiel von Gerhart Hauptmann) – Natur in ihren
dunklen, gefährlichen Aspekten (Bedrohung, Krankheit, Verfall, Tod) Faszination für das
Hässliche und Abstoßende – Soziale Determiniertheit, der „Held“ als Teil seiner Klasse, nicht als
individuell handelndes unabhängiges Subjekt
 Einbeziehung völlig neuer Gruppen und Typen als Protagonisten der Literatur: Dirnen, Mörder,
Kranke, Hässliche, Trunksüchtige, Krüppel, Versager etc. (Beispiel: Gedicht Sünderin von
Gerhart Hauptmann; siehe unten)
 Entsprechende Stilmittel: Tendenz zu versachlichendem deskriptivem Stil (im deutschen
Naturalismus jedoch stark das Erbe der Romantik spürbar) Einbeziehung von Umgangssprache,
„Gossensprache“, Dialekt, Körperlauten, Sprachfehlern etc.

Gerhart Hauptmann

Sünderin

Die mich lieben, sollen dankbar finden!


Blondes Liebchen bin ich ihnen allen.
Liebe lohnen, Mädchen, heißet fallen:
Und so stolp’r ich, fall’ ich gleich der Blinden.
Und sie schwelgen an den toten Blüten
Und den weißen Früchten unverwehret.
Jeder Rüssel gierig wühlt und zehret.
Süß und schrecklich ist der Gäste Wüten.
Und mein weites Auge schmerzlich offen,
Hungert in die Ferne ungestillet.
Meine Seele ist mit Nichts erfüllet
Und von keinem Lebensstrahl getroffen.

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