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Grundlagen der Grammatik:

grammatikalische Spezifika in
den slawischen Sprachen

Jelena Simić
(Nach Vorlagen von Arno Wonisch und Boban Arsenijević)
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Plan der Klasse

1. Den Begriff der Grammatik kurz besprechen: Was ist Grammatik und
warum erforschen wir sie?

2. Jede der relevanten Grammatikstufen (und -disziplinen) auf ihre


Besonderheiten in slawischen Sprachen prüfen: Phonologie,
Morphologie und Syntax.

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Grammatik
• Hier – im Sinne einer Struktur, die auf verschiedenen Ebenen einer
natürlichen Sprache unterliegt.
• Die Menge der Regelmäßigkeiten (Regeln, Einschränkungen) die von
einem kompetenten Sprecher einer Sprache mental dargestellt wird.
• Die Menge der Regelmäßigkeiten (Regeln, Einschränkungen), die von
einer Gemeinschaft von Sprechern geteilt werden, von denen
angenommen wird, dass sie die gleiche Sprache sprechen.
• Ein Buch, das einige oder alle der oben genannten Phänomene
beschreibt oder diskutiert.

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Die Signifikanz
• Tiere kommunizieren, aber die sprachliche Kommunikation des Menschen
beinhaltet unvergleichlich komplexere Strukturen – eine folglich
unvergleichlich größere Menge an Informationen.
• Diese durch den Begriff der Grammatik abgedeckten Strukturen bieten
einen Einblick in die Besonderheiten der menschlichen Kognition.
• Wenn wir uns die Grammatik anschauen, können wir verstehen, welche
kognitive Berechnungen für unser Gehirn charakteristisch sind, und einen
Schritt in Richtung eines besseren philosophischen, aber auch
medizinischen Verständnisses unserer Spezies machen.
• Darüber hinaus können wir bessere Technologien entwickeln, um unser
Leben einfacher und komfortabler zu machen (maschinelle Übersetzung,
Sprachbefehl, Gedanken-zu-Sprache- Schnittstellen).
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Stufen der Grammatik
• Phonologie: die Regelmäßigkeiten in der Ordnung von und
gegenseitige Beziehungen zwischen Lautsegmenten.
• Morphologie: die Regelmäßigkeiten in der Ordnung von und
gegenseitige Beziehungen zwischen atomaren bedeutungsvollen
Einheiten.
• Syntax: die Regelmäßigkeiten in der Ordnung von und gegenseitige
Beziehungen zwischen Wörtern.
• Sehr schwer zu definieren was ein Wort ist => weiche Grenze
zwischen Morphologie und Syntax (Morphologie erzeugt Elemente,
die leichter im Lexikon gespeichert werden können).
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Die Architektur der Sprache
• Sprachproduktion Feste Klang-
• Sprachempfang Bedeutung-Paare:
Lexikologie

Kernzuordnungen:
Syntax + Morphologie

Finetuning für Klange: Finetuning für Konzepte:


Phonologie Semantik

Klang: Phonetik Konzepte:


kognitieve Psychologie
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Die Architektur der Sprache
• Sprachproduktion Feste Klang-
• Sprachempfang Bedeutung-Paare:
Lexikologie

Kernzuordnungen: Grammatik im
Syntax + Morphologie engeren Sinne

Finetuning für Klange: Finetuning für Konzepte:


Phonologie Semantik

Klang: Phonetik Konzepte:


kognitieve Psychologie
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Die Architektur der Sprache
• Sprachproduktion Feste Klang-
• Sprachempfang Bedeutung-Paare:
Lexikologie
Grammatik im
Kernzuordnungen: breiteren Sinne
Syntax + Morphologie

Finetuning für Klange: Finetuning für Konzepte:


Phonologie Semantik

Klang: Phonetik Konzepte:


kognitieve Psychologie
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Zwei Arten von Morphologie

• Es gibt eine Domäne der Morphologie, die atomare bedeutungsvolle


Einheiten (= Morpheme) kombiniert, um neue Wörter zu bilden (d.h.
sie füttert das Lexikon), und wir nennen es Wortbildung.
bedeutung + voll = bedeutungsvoll puno + značan = punoznačan
• Es gibt eine andere Domäne, die Morpheme kombiniert, um Formen
der existierenden Wörter zu bilden, die erforderlich sind, um
syntaktische Beziehungen auszudrücken (d. h. sie füttert die Syntax),
und wir nennen sie die Flexionsmorphologie.
bedeutungsvoll + e = bedeutungsvolle punoznačan + og = punoznačnog

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Semantik und Pragmatik
• Semantik und Pragmatik sind keine Grammatikstufen, sondern
unabhängige Module / Repräsentationsebenen von Sprache.
• Semantik steht für die Bedeutungsebene, die vollständig durch den
linguistischen Inhalt bestimmt ist (die Bedeutung von grammatikalischen
Strukturen und darin eingefügten Inhalten).
Semantisch, "Es ist laut hier." bedeutet, dass die Geräusch im Raum höher als
üblich ist.
• Pragmatik steht für die Bedeutungen, die sich im Zusammenspiel von
sprachlichem Material und Welt(wissen) ergeben.
Pragmatisch, "Es ist laut hier." bedeutet, z.B, dass ich vorschlage, die Tür oder
das Fenster zu schließen oder dass das Publikum plappert.
• Es gibt jedoch eine starke und reiche Interaktion vor allem zwischen
Semantik und Grammatik, aber auch zwischen Pragmatik und Grammatik.
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Grammatikalische Spezifika
slawischer Sprachen

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Phonologische Besonderheiten der slawischen
Sprachen
• Abgesehen von den relativ universellen konsonantischen Oppositionen wie
Stimmhaftigkeit oder Behinderung des Luftstroms ist die Palatalisierung
eines Konsonanten in allen slawischen Sprachen die prominenteste
phonologische Eigenschaft.
• In einigen, wie Russisch, ist es die Hauptopposition, und Phonemen sind
systematisch kontrastiert entlang dieser Dimension.
Russ: мат = Schachmatt, мать = Mutter
• In anderen Fällen ist Palatalisierung eher ein hochgradiger und produktiver
phonologischer Wechsel: eine Veränderung, die eine Menge von
Konsonanten in einer Reihe von Kontexten beeinflusst.
BKS: vuk- ’zieh-’, vuk + em = vučem ’ziehe 1Sg’, vuk + iti = vući ’ziehen Inf’

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Phonologische Besonderheiten der slawischen
Sprachen
• Alle slawischen Sprachen zeigen auch starke Ablautprozesse (oder
Spuren davon).
прозрачный ’durchsichtig’, кругозор ’Aussicht’,
озарить ’starkes Licht auf eetwas werfen’, зурить ’anstarren’,
зыркать ’schnelle Blicke werfen’ (Russ)

• Diese Eigenschaft teilen sie mit germanischen Sprachen.


sterben, starb, gestorben; finden, fand, gefunden

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Phonologische Besonderheiten der slawischen
Sprachen – lexikalische Prosodie
• Es gibt slawische Sprachen mit einem festen Akzent und mit einem
freien lexikalisch kodierten Akzent, der den Ton beinhaltet oder nicht.
• Polnisch: Akzent auf der Penultima (niewiarygodnie wielu urzędników
uczestniczyło), Mazedonisch: Akzent auf der Antipenultima
(неверојатно многу службеници присуствуваа на партијата),
Tschechisch: Akzent auf der Anfangssilbe (neuvěřitelně mnoho
úředníků se zúčastnilo večírku).
• Russisch (любовный, маленькая), Bulgarisch (любов, къща): freier
lexikalisch kodierter Akzent.
• BKS (und einige Slowenische Dialekten): freier lexikalisch kodierter
Akzent mit Ton (zaboravljen, negovan, jednostavnost).
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Morphologie - Wortbildung
• Suffigierung ist die vorherrschende Form der Ableitung (Präfigierung
nur bei Verben – wenn das echt Ableitung ist) und sogar Wortbildung
(Rindfleisch vs. BKS goved-ina).
• Die Komposition ist vorhanden, aber nicht besonders produktiv. Sie ist
auch sehr begrenzt in der Anzahl der Zyklen (eine, selten zwei
Kompositionszyklen), BKS: miš-o-lov-ka ’Maus-o-jag-ka = Mausefalle’
• Sowas wie
Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz,
d.h. [[[[[rind + fleisch] + etikett-ier-ung-s] + über-wach-ung-s] + auf-
gab-en] + über-trag-ung-s]] + ge-setz] ist in slawischen Sprachen
undenkbar.

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Morphologie (Morpho-Syntax) – Nomina
• Geschlecht:
Masculinum,
Femininum,
Neutrum
in allen
slawischen
Sprachen.

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Morphologie (Morpho-Syntax) – Nomina
• Numerus: Singular, Plural, Paukal / Dual, (Kollektiv).
• Slowenisch:
Študent bere knjigo. (Ein Student liest ein Bush.)
Študenta bereta knjigo. (Zwei Studenten lesen ein Buch.)
Študenti berejo knjigo. (Die Studenten lesen ein Buch)
• BKS:
Vlastelin je otišao u rat. (Ein Adliger zog in den Krieg.)
Vlastelini su otišli u rat. (Adlige zogen in den Krieg.)
Vlastela je otišla u rat. (Adlige_KOLL zogen in den Krieg.)

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Dual im Slowenischen
Singular Dual Plural
Substantiv
korak („Schritt“ – maskulin) koraka („beide Schritte“) koraki („Schritte“)
lipa („Linde“ – feminin) lipi („beide Linden“) lipe („Linden“)
mesto („Stadt“ – neutral) mesti („beide Städte“) mesta („Städte“)
Verb
grem („ich gehe“, 1. Person) greva („wir beide gehen“) gremo („wir gehen“)
greš („du gehst“, 2. Person) gresta („ihr beide geht“) greste („ihr geht“)
gre („er geht“, 3. Person) gresta („sie beide gehen“) gredo („sie gehen“)
Possessivpronomen
moj („mein“, 1. Person) najin („unser beider“) naš („unser“)
tvoj („dein“, 2. Person) vajin („euer beider“) vaš („euer“)
njegov/njen („sein/ihr“, 3. Person) njun („ihr beider“) njihov („ihr“) 18
Morphologie (Morpho-Syntax) – Nomina
• Kasus (Fall): alle slawische Sprachen außer Mazedonisch und
Bulgarisch haben die gleichen 6 Fallformen:
Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Instrumental, Lokativ/Präpositional
• Zusätzlich haben einige auch den Vokativ
• Ist Vokativ echt ein Kasus?
• Gibt es echt kein Vokativ im Russischen? (Бог: Боже, мама: мам,
папа: пап, дядя: дядь, Маша: Маш).
• Deklinationsklassen: Sätze von Kasussuffixen, die mit einem
deklinierten Lexem verknüpft sind.

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Ist Vokativ ein Kasus?

• „Vokativ“ bedeutet etymologisch „Ruf-Form“; gehen wir für das


Weitere zu nächst von dem üblichen Verständnis aus, dass mit dem
Gebrauch des Vokativs jemand gerufen wird. In Bezug auf die
Ausdrucksseite sprechen wir von einer Wortform des Wortes, die
durch eine eigene Endung charakterisiert wird (hier: -o, -e), die sie
gegen andere Formen abgrenzt.
• Der Vokativ kann in der Sprachgeschichte entfallen, ohne die
restlichen Kasus zu tangieren – Beispiel Russisch.
• Die restlichen Kasus können entfallen, ohne den Vokativ zu tangieren
– Beispiel Bulgarisch.
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Mazedonisch und Bulgarisch
• Unterscheiden sich stark von den anderen slawischen Sprachen.
• Artikel
• Zusammenfall von Genitiv und Dativ
• Verlust der Kategorie des Kasus beim Substantiv
• Objektverdoppelung
• Verlust des Infinitivs beim Verb

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Artikel im Mazedonischen
• Im Unterschied zum Deutschen hat das Mazedonische nur einen
bestimmten Artikel, der in der Postposition steht. Er wird als eine
Endung dem Nomen angehängt. In Opposition zum bestimmten
Artikel steht im Deutschen ein unbestimmter Artikel (ein oder eine),
im Mazedonischen dagegen gar kein Artikel. Der bestimmte Artikel
kommt in drei Formen vor, abhängig von dem Abstand des Sprechers
zu dem Objekt.

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Morphologie (Morpho-Syntax) – Nomina
• Belebtheit: belebt und unbelebt (nur leichte grammatische Effekte,
z. B. der Unterschied zwischen den Akkusativformen in der männlichen
Deklination).
Russ: Я вижу бык*(-а). ’Ich sehe einen Stier.’
Я вижу дымоход(*-a). ’Ich sehe einen Schornstein.’
• Bestimmtheit: im Bulgarischen und Mazedonischen – ein postpositiver
Artikel taucht auf dem ersten nominalen Miglied in einem nominalen
Ausdruck au.
Bulg: път ’eine Straße’ пътят ’die Straße’;
• In ost- und anderen südslawischen Sprachen – ein Suffix auf dem Adjektiv,
empfindlich für feinere semantische Nuancen.
BKS: visoki soliter ’ein besonderer / der hoher Wolkenkratzer’,
visok soliter ’ein hoher Wolkenkratzer’
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Morphologie (Morpho-Syntax) – Verben
• Aspekt: Perfektiv : Imperfektiv
• Perfektiv: Das Ereignis wird von außerhalb des Ereignisses als Ganzes
betrachtet, d.h. von einem Zeitpunkt nach seiner Fertigstellung.
• Imperfektiv: Das Ereignis (oder die Serie von Ereignissen in Iterativen)
wird während der Entfaltung betrachtet, d.h. von einem Zeitpunkt
innerhalb der Zeit des Ereignisses selbst.
B/K/S: Pevao sam pesmu. ’I was singing the song’ (Impf)
Otpevao sam pesmu. ’I sang the song’ (Perf)
• Der Aspekt ist durch verbale Präfixe, Suffixe und Ablaute
gekennzeichnet: čitaoIMPF, učitaoPERF, učitavaoIMPF, izučitavaoPERF.

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Verb-Präfigierung
• Slawische Sprachen sind charakteristisch für ihr reichhaltiges und
produktives System der Verb-Präfigierung mit systematischen
Aspektwirkungen und subtilen semantischen Nuancen.

do-baci(va)ti ’zu-werfen’ pod-baci(va)ti ’unter-werfen’


pre-baci(va)ti ’über-werfen’ na-baci(va)ti ’auf-werfen’
iz-baci(va)ti ’aus-werfen’ od-baci(va)ti ’von-werfen’
za-baci(va)ti ’hinter-werfen’ u-baci(va)ti ’ein-werfen’
raz-bacivati ’um-werfen’
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Morphologie (Morpho-Syntax) – Verben
• Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
• Im Russischen: Präteritum(?), Präsens, Futur
In BKS: Präsens, Perfekt, Imperfekt, Aorist, Plusquamperfekt, Futur I
(Kondizional? und Futur II?)
Im Slowenischen: Präteritum, Präsens, Futur
• Verschiedene Wege, um die Zukunft aufzubauen:
1. Präsens der Perfektionsvariante (Russ: Я это запишу)
2. Perfektive Variante des Hilfsverbs 'sein' + Partizip / Infinitiv (Russ: Я
буду писать, BKS: kad budem pisao)
3. Modaler Hilfsverb / Partikel 'wollen' + Partizip / Infinitiv (BKS: sutra
ću pisati)
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Morphologie (Morpho-Syntax) - Verben
• Person - finite und infinite Formen, d.h. Formen die Person zeigen und
Formen die das nicht machen.
• Person ist auf dem Verb nicht interpretierbar: sie trägt in keiner Weise
zur Bedeutung des Verbs bei, sondern stellt nur eine Beziehung zum
Subjekt her (syntaktisch bedingt).
• Werten der Person: erste (der Sprecher), zweite (der Hörer), dritte
(unmarkierte Person, d.h. Abwesenheit davon).
Russ: я кричу, ты кричишь, он кричит,
мы кричим, вы кричите, они кричат (schreien)

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Syntax: Wortstellung
• In slawischen Sprachen ist die Wortstellung relativ frei:
Иван пишет письмо, Иван письмо пишет, Пишет Иван письмо,
Пишет письмо Иван, Письмо Иван пишет, Письмо пишет Иван
• Bei denen, die Klitika haben, ist ihre Position festgelegt.
• Im BKS nehmen sie zum Beispiel die zweite Position im Satz ein:
Ivan (mu je) napisao (*mu je) pismo (*mu je).
• Im Bulgarisch und im Mazedonisch kommen sie vor dem Verb:
Иван (му го) написа (*му го) писмото (*му го).
Иван (*му го) писмото (му го) написа (*му го).
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Syntax: Kongruenz
• In slawischen Sprachen kongruiert das attributive Adjektiv mit dem
Nomen in Genus, Numerus (und Fall) :
ovoj plavoj svesci, ’diese.LocFSg blau.LocFSg Notizbuch.LocSg’
*ove plave svesci ’diese.GenFPl blau.GenFPl Notizbuch.LocSg’
• Das predikative Verb in einem Satz kongruiert mit dem Subjekt in
Person und Zahl, und ein Partizip innerhalb der Verbalphrase
kongruiert in Genus, Numerus (und Fall).
Я вижу вас ’Ich sehe.1Sg Sie’ Она вас видела ’Sie sah.FSg Sie’
*Я видите вас ’Ich sehe.2Pl Sie’ *Она вас видел ’Sie sah.MSg Sie’

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Syntax: Negative Übereinstimmung
• In slawischen Sprachen müssen unspezifische unbestimmte
Ausdrücke innerhalb eines negativen Satzes auch eine negative
Markierung aufweisen.
Niko nikoga nikad ničim nije uvredio.
’ Niemand hat irgendjemanden mit irgendetwas irgendwann beleidigt.’
Neko nekoga nekad nečim nije uvredio.
’Jemand hat einmall jemanden mit etwas nicht beleidigt.’
niko = niemand, nikad = nie, ništa = nichts
neko = jemand, nekad = irgendwann, nešto = etwas

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Variation
• Slawische Sprachen sind grammatikalisch sehr ähnlich.

• Es gibt immer noch bedeutende und interessante Unterschiede


zwischen ihnen.

• Dies wird das Thema einiger zukünftiger Klassen sein.

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