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Alois Steindl
TU-Wien
Ausgabe: 7. September 2015
2
3 Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1 Vorwort 8
2 Kinematik 10
2.1 Punkt-Bewegungen ([17]) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.1.1 Geschwindigkeit und Beschleunigung in kartesischen Koordinaten . . . . . 10
2.1.2 Geschwindigkeit und Beschleunigung in Polarkoordinaten . . . . . . . . . . . 11
2.1.3 Geschwindigkeit und Beschleunigung in natürlichen Koordinaten. Beispiel:
Zentralkraftbewegung (Keplerproblem) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.1.4 Grundaufgaben für Punktbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.1.5 Die Bewegung von Punktsystemen (Freiheitsgrad) . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.2 Übersicht: Die Spezielle Orthogonale Gruppe SO(3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
2.3 Kinematik des starren Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
2.4 Relativbewegung ([2]) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.4.1 Beschleunigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.4.2 Beispiele zur Kinematik starrer Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
2.4.3 Beispiel zur „Relativkinematik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.5 Kinematische Grundlagen des Kontinuums ([4]) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
2.5.1 Ableitungen nach der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.5.2 Der Verformungszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
2.5.3 Transformationsverhalten des Verzerrungstensors unter Rotationen . . . . 35
2.5.4 Geometrische Deutung der Verzerrungskomponenten . . . . . . . . . . . . . 36
2.5.5 Deformationsgeschwindigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
4 Massengeometrie 66
4.1 Schwerpunkt, Statisches Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
4.2 Trägheits- und Deviationsmoment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
4.3 Trägheitsmomente um parallele Achsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.4 Trägheitsmomente um gedrehte Achsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
4.5 Trägheitsellipsoid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
4.6 Trägheitstensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
6 Stabilität 105
6.1 Stabilitätsdefinition nach Ljapunov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
6.2 Stabilitätsuntersuchung durch Linearisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
6.2.1 Beispiel: Pendel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
6.2.2 Allgemeiner Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
6.3 Beispiel: Stabilität der Rotationen eines dreiachsigen momentenfreien Kreisels . . 108
Vorwort
Das vorliegende Skriptum umfasst den Stoff der Vorlesung
Der Inhalt ist aus den im Literaturverzeichnis angegebenen Lehrbüchern und den Unterlagen
von Prof. Hans Troger zusammengestellt. Die in eckigen Klammern angegebenen Nummern
lassen erkennen, aus welchen Quellen das entsprechende Kapitel zusammengestellt wurde.
Einzelne Abschnitte, die durch „? “ gekennzeichnet sind, sind als weiterführende Themen
im Skriptum aufgenommen, werden im Rahmen der Vorlesung aber nicht behandelt.
Alois Steindl
1 Vorwort 8
1 Vorwort
Die Mechanik ist nach Kirchhoff die „Lehre von den Bewegungen und den Kräften“. Man kann
die Mechanik nach zwei verschiedenen Ordnungssystemen einteilen. Eine erste Gliederung be-
trifft die Eigenschaften der betrachteten Körper. So behandelt die
• Stereomechanik: Punktmassen und starre Körper und die
Kinematik Dynamik
Statik Kinetik
Die Kinematik handelt von Bewegungen, die Dynamik von Kräften.
Mechanik ist unbeliebt, denn man hat es einerseits mit konkreten Problemen zu tun und
andererseits soll in der Mechanik das Denken in Formeln geübt werden. Genauer gesagt, es soll
eine technische Fragestellung, ein technisches Problem, in eine mathematische Formulierung
gebracht werden. Daran ist dann eine saubere mathematische Ausarbeitung mit einer Interpre-
tation der erhaltenen Ergebnisse anzuschließen.
Die Mechanik erfreut sich unter den Ingenieurstudenten eines üblen Rufes, denn sie erfor-
dert neben der Erfassung des Wesentlichen auch mathematische Grundkenntnisse, sowie die
Fähigkeit, den Sinn und die Gültigkeit der erhaltenen Resultate zu interpretieren. Aber der Weg
der Mathematisierung der Ingenieurwissenschaften ist nicht aufzuhalten und kann daher am
besten am Fach Mechanik erlernt werden, da dieses Probleme beschreibt, die uns im täglichen
Leben umgeben und für die wir ein großes Maß an innerer Anschauung und Intuition mitbrin-
gen. D. h. Mechanik ist neben der Erlernung eines wichtigen Grundlagenfaches für viele Fächer
des Maschinenbaues auch so etwas wie eine Trainingsmöglichkeit, die Problemlösungsfähigkeit
zu trainieren.
2. Der zweite Schritt zur Mathematisierung des Problems besteht in der Beschreibung des
Modells durch Gleichungen. Dies wird der Kern unserer Vorlesung und der Übungen sein.
Ihre Aufgabe wird es sein, für vorgegebene Modelle eine entsprechende mathematische
Formulierung und die anschließende Lösung mit Interpretation der Ergebnisse zu geben.
Hier ergeben sich für den Anfänger eine Reihe von Schwierigkeiten.
Grundsätzlich gilt hier wie überall im Leben die Regel: Übung macht den Meister. Problem-
lösungsfähigkeit gewinnt man dadurch, dass man Probleme löst. Dazu gibt es bestimmte
Techniken; hier sind ein paar ganz nützliche Regeln angeführt:
2 Kinematik
Aufgabe der Kinematik ist es, die Lage von Systemen im Raum, sowie die Lageänderungen als
Funktion der Zeit zu beschreiben. Kinematik kann daher als Geometrie von Lagebeziehungen
und Bewegungen aufgefasst werden. Nach der Ursache der Bewegungen wird dabei nicht ge-
fragt. Eine Bewegung kann durch verschiedene Beschreibungen erfasst werden. Dabei muss vor
allem die wichtige Frage nach der Wahl geeigneter Koordinatensysteme untersucht werden.
r(t)
tn
O
x
z
Abb. 2.1. Ortsvektor r(t) und Bahnverlauf
Die Geschwindigkeit v, mit der der Endpunkt des Ortsvektors r seine Bahn durchläuft, kann
aus dem Differenzenquotienten
r(t1 ) − r(t0 ) ∆r
= (2.1)
t1 − t0 ∆t
durch den Grenzübergang
∆r dr
lim = = ṙ = v (2.2)
∆t→0 ∆t dt
gewonnen werden. Diese momentane Geschwindigkeit ist im allgemeinen selbst wieder eine
Funktion der Zeit: v = v(t). Der Vektor ∆r = r(t1 ) − r(t0 ) hat die Richtung der Sekante und
fällt im Grenzübergang in die Tangente an die Bahn. Folglich hat auch der Vektor v nach (2.2)
stets die Richtung der Bahntangente; sein Richtungssinn ist gleich dem Durchlaufungssinn der
Bahn.
Der Vektorgleichung (2.2) entsprechen drei Koordinatengleichungen. Bei Verwendung eines
kartesischen Koordinatensystems gilt
r = [x, y, z] = xe x + ye y + ze z . (2.3)
Wenn das mit O verbundene Koordinatensystem unveränderliche Ausrichtungen hat, dann ist
ė x = ė y = ė z = 0, so dass v = [ẋ, ẏ, ż] erhalten wird. Man beachte, dass dieses Ergebnis nur
für Bezugssysteme mit raumfesten Achsrichtungen gilt.
Geschwindigkeitsvektoren können nach den Regeln der Vektorrechnung addiert werden.
Beispiel: Wenn sich ein Flugzeug relativ zur umgebenden Luft mit v F bewegt und eine Wind-
geschwindigkeit v W vorhanden ist, dann ist die Über-Grund-Geschwindigkeit des Flugzeuges
v GF = v F + v W (Abb. 2.2).
Die Beschleunigung a eines Punktes ist ein Maß für die zeitliche Änderung seiner Geschwin-
digkeit. Sie wird aus der Geschwindigkeit v in derselben Weise gebildet wie diese aus dem
Ortsvektor r. Es gilt demnach
v(t + ∆t) − v(t) dv
a = lim = = v̇, (2.4)
∆t→0 ∆t dt
oder mit (2.2)
dv d2 r
=
a= = r̈. (2.5)
dt dt 2
Für ein Bezugssystem mit raumfesten Achsrichtungen erhält man aus (2.3)
bestimmen.
y
v GF
vW Aϕ
eϕ A
Ar
r er
P
yP
ϕ
vF xP x
Abb. 2.2. Addition von Geschwindig- Abb. 2.3. Radial- und Transversalkomponenten
keitsvektoren eines Vektors
Es ist bei kinematischen Aufgaben häufig zweckmäßig, anstelle der kartesischen Koordinaten
geeignete andere Koordinaten zu verwenden. Hierzu sollen einige Beispiele betrachtet wer-
den, an denen zugleich gezeigt werden kann, wie die Koordinaten von Geschwindigkeit und
Beschleunigung bei zeitlich veränderlichen Richtungen der Bezugsachsen berechnet werden.
Bei Bewegung eines Punktes P in einer Ebene können Polarkoordinaten r und ϕ verwendet
werden, die mit seinen kartesischen Koordinaten durch
zusammenhängen (Abb. 2.3). Ein beliebiger Vektor A in P kann dann in eine radiale und eine
transversale Komponente zerlegt werden:
A = Ar + Aϕ = Ar e r + Aϕ e ϕ . (2.9)
dA
= Ȧ = Ȧr e r + Ar ė r + Ȧϕ e ϕ + Aϕ ė ϕ . (2.10)
dt
Da die Einsvektoren den konstanten Betrag 1 haben, ist ihre Ableitung nach der Zeit nur dann
von Null verschieden, wenn sich ihre durch ϕ bestimmte Richtung ändert.
Es gilt, wie man aus ∆e r = ∆ϕe ϕ und ∆e ϕ = −∆ϕe r durch Bezug auf die Zeit ∆t und
Grenzübergang ∆t → 0 erkennt:
Damit sind die Komponenten von Ȧ in Polarkoordinaten (die Radial- und die Transversal-Kom-
ponente) gefunden.
Die allgemeine Beziehung (2.12) soll nun auf den Ortsvektor r mit der Radialkomponente r
und der Transversalkomponente Null
r = r er (2.13)
Nochmaliges Anwenden von (2.12) auf den Vektor v = [ṙ , r ϕ̇] ergibt die Beschleunigung
Ortsvektor: r = [r , 0],
Geschwindigkeitsvektor: v = [ṙ , r ϕ̇], (2.16)
Beschleunigungsvektor: a = [r̈ − r ϕ̇2 , r ϕ̈ + 2ṙ ϕ̇].
Durch Hinzufügen der Koordinate z in Abb. 2.3 werden die Polarkoordinaten zu raumbeschrei-
benden Zylinderkoordinaten mit den Basisvektoren e r , e ϕ und e z . Da die z-Richtung unverän-
dert bleibt (ė z = 0), gilt jetzt für den
Ortsvektor: % = [r , 0, z],
Geschwindigkeitsvektor: v = [ṙ , r ϕ̇, ż], (2.17)
Beschleunigungsvektor: a = [r̈ − r ϕ̇2 , r ϕ̈ + 2ṙ ϕ̇, z̈].
13 2 Kinematik
m t (s+ds)
t (s)
t dt
n dϕ
P
s
r n
A ρ
O dϕ
Bei diesem Koordinatensystem werden die drei Grundvektoren mit dem sich bewegenden Punkt
fest verbunden und machen so seine Bewegung als begleitendes Dreibein mit. Wir bezeichnen
sie durch t, n, m (Abb. 2.4).
Der Vektor t wird in die Richtung der Kurventangente gelegt. Mit der Bogenlänge s der
Bahnkurve als Lagekoordinate ist also r = r(s), t = dr/ds. Der Hauptnormalenvektor n =
%dt/ds ist der Einheitsvektor in Richtung zum Krümmungsmittelpunkt der Bahn (Abb. 2.5). Er
steht senkrecht auf t. Der Normierungsfaktor % stellt den Krümmungsradius dar. Durch die
Vektoren t und n wird die Schmiegebene der Kurve aufgespannt.
Der dritte Vektor des begleitenden Dreibeins, der Binormalenvektor, ist durch m = t × n
bestimmt.
Wir können nun schreiben
dr ds
v= = ṡt = vt,
ds dt
(2.18)
dt ds v2
a = v̇ = s̈t + ṡ = v̇t +
n.
ds dt %
Der Beschleunigungsvektor liegt somit in der Schmiegebene der Bahnkurve. Seine Komponen-
ten sind die Tangentialbeschleunigung at = v̇ = s̈ in der Tangentialrichtung, und die Normal-
beschleunigung oder Zentripetalbeschleunigung an = v 2 /% in Richtung der Hauptnormalen.
Beispiel 1: Zentralbewegung. Bei dieser bewegt sich ein Massenpunkt P mit der Masse m in
der Ebene z = 0 so, dass seine Beschleunigung stets zu einem festen Punkt O gerichtet, also
aϕ ≡ 0 ist (Abb. 2.3). Aus aϕ von Gl. (2.15) folgt dann (ω = ϕ̇)
ϕ̈ ω̇ 2ṙ
= =− .
ϕ̇ ω r
1 P
dA= _2 r 2 d ϕ
a
dϕ r
ϕ
O r=r(ϕ)
Man kann der eben abgeleiteten Beziehung eine anschauliche geometrische Deutung geben:
Stellt A die bei der Bewegung des Massenpunktes vom Ortsvektor überstrichene Fläche dar, so
gilt (Abb. 2.6)
r2 dA r 2ω c
dA = ωdt oder = = . (2.19)
2 dt 2 2
Die Flächengeschwindigkeit dA/dt ist also bei der Zentralbewegung konstant („der Radiusvek-
tor überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen“). Dies ist das zweite Keplersche Gesetz der
Planetenbewegung.
Für die weitere Rechnung wollen wir nun annehmen, dass der Betrag der Beschleunigung dem
Gesetz
k
a=
mr 2
folgt, wobei k eine Konstante bedeutet. Setzt man jetzt ω = c/r 2 und ar = −a für ar in Gl.
(2.15) ein, so erhält man folgende nichtlineare Differentialgleichung für r (t):
c2 k
r̈ − + = 0. (2.20)
r 3 mr 2
Durch Einführung der neuen Variablen u = 1/r und Wahl des Winkels ϕ anstelle der Zeit t als
unabhängiger Koordinate lässt sich die Gleichung auf eine einfachere Form bringen. Mit
dr du d2 u
ω = cu2 , ṙ = ω = −c , r̈ = −c 2 u2
dϕ dϕ dϕ2
1 k
u= = + A cos ϕ + B sin ϕ. (2.21)
r mc 2
Die Planetenbewegung ist in erster Näherung eine Zentralbewegung mit dem angenommenen
Beschleunigungsgesetz, wobei die Sonne im Zentrum O steht. Die abgeleitete Beziehung stellt
somit die Gleichung der Planetenbahnen dar. Wie die analytische Geometrie lehrt, handelt es
sich dabei um Kegelschnitte. Der Ursprung O fällt mit einem Brennpunkt zusammen. Legt man
15 2 Kinematik
das Achsenkreuz so, dass der Winkel ϕ = 0 einem Scheitelpunkt der Bahn entspricht, dass also
dort dr /dϕ = 0 wird, so verschwindet B, und Gl. (2.21) kann in der Form
mc 2
r = (2.22)
k(1 + ε cos ϕ)
mr0 v02
ε= − 1. (2.23)
k
In der analytischen Geometrie wird gezeigt, dass die Größe ε in Gl. (2.22) die „numerische
Exzentrizität“ des Kegelschnittes darstellt, das ist das Verhältnis der Brennweite zur Scheitel-
weite. Für eine Ellipse ist ε < 1, für eine Hyperbel ist ε > 1 und für eine Parabel ist ε = 1. Beim
Kreis wird ε = 0. Wir sehen also, dass der Massenpunkt je nach der Größe der ihm erteilten
Geschwindigkeit eine geschlossene oder eine offene Bahn einschlägt. Die Grenzgeschwindig-
p Scheitelpunkt ϕ = 0 (der bei der Ellipse „Perihel“ genannt wird) ist durch ε = 1, also
keit im
v0 = 2k/r0 m gegeben. Ist v0 kleiner als dieser Wert, so ergibt sich eine elliptische Bahn.
Beispiel 2: Ein Punkt bewege sich mit konstanter Bahngeschwindigkeit auf einer Spirale, de-
ren Achse als z-Achse gewählt wird (Abb. 2.7). Zum Beschreiben der Bewegung werden zweck-
z
4 3
5
r2 2
R y
1 ϕ
x
vr = ṙ = 0, vϕ = r ϕ̇ = Rω, vz = ż = c,
)
(2.25)
ar = −r ϕ̇2 = −Rω2 , aϕ = 0, az = 0.
2 Kinematik 16
Zwei Arten von Aufgaben sind in der Kinematik zu lösen: Entweder ist die Bahn durch die
Funktion r(t) gegeben und es sind Geschwindigkeit und Beschleunigung zu bestimmen; oder
es sollen für gegebene Beschleunigungen a die Geschwindigkeiten und die Bahn berechnet
werden. Aufgaben der ersten Art können durch Differentiation
dr dv d2 r
v= , a= = (2.26)
dt dt dt 2
gelöst werden. Aufgaben der zweiten Art müssen umgekehrt durch Integration unter Berück-
sichtigung der jeweiligen Anfangsbedingungen gelöst werden. Diese Art von Aufgaben tritt
häufiger auf, weil aus kinetischen Überlegungen (siehe Kapitel 5) im Allgemeinen nur Aussagen
über die Beschleunigungen a gewonnen werden können. Dabei kommt es jedoch häufig vor,
dass a nicht als Funktion der Zeit, sondern als Funktion des Ortes oder auch der Geschwindig-
keit gegeben ist. Für gradlinige Bewegungen lassen sich dann die Lösungen explizit angeben.
Sie sind in Tabelle 2.1 für die wichtigsten vorkommenden Fälle zusammengestellt. Wenn die
Bewegung längs der x-Achse erfolgt, dann interessieren v = vx = ẋ und a = ax = ẍ. Ist von
den vier Variablen x, v, a, t eine als Funktion einer anderen gegeben, dann können die beiden
anderen daraus berechnet werden. Als wichtige Umformung wird dabei die Beziehung
dv dv dx dv d v2
!
a= = =v = (2.27)
dt dx dt dx dx 2
Viele einfache Beispiele in der Mechanik werden durch eine Differentialgleichung der Form
ẍ = f (x) (2.29)
beschrieben. Unter der kinetischen Energie (pro Masseneinheit) versteht man die quadratische
Form T = ẋ 2 /2, unter der potentiellen Energie die Funktion
Zx
V (x) = − f (ξ)dξ
x0
mit beliebiger Integrationsgrenze x0 . Das Vorzeichen von V ist so gewählt, dass die potentielle
Energie eines Körpers im Schwerefeld umso größer wird, je höher sich der Körper befindet. Die
Gesamtenergie ist die Summe E = T + V .
17 2 Kinematik
Gegebene
Nr. Gesuchte Funktionen
Funktion
dx d2 x
1 x(t) v= a=
dt Z dt 2
dv
2 v(t) x = x0 + v dt a=
ZZ dt Z
3 a(t) x = x0 + v0 (t − t0 ) + a(dt)2 v = v0 + a dt
dv dx
Z
4 v(x) a=v t = t0 +
sdxZ v
dx
Z
5 a(x) v = 2 a dx + v02 t = t0 + q R
2 a dx + v02
1 1 1 1
6 t(x) v= a=
dt/dx dt/dxZ dx dt/dx
v 1 dx
7 x(v) a= t = t0 + dv
dx/dv Z v dv
v dv dv
Z
8 a(v) x = x0 + t = t0 +
Z a a
dt 1
9 t(v) x = x0 + v dv a=
dv dt/dv
Wegen
d dV
(T + V ) = ẋ ẍ + ẋ = ẋ (ẍ − f (x)) = 0
dt dx
hängt die Energie E nicht von der Zeit t ab.
Die Gleichung (2.29) ist dem System der beiden Gleichungen
ẋ = v, v̇ = f (x) (2.30)
äquivalent. Nun betrachten wir eine Ebene mit den Koordinaten (x, v) und nennen sie die
Phasenebene von (2.29). Die Punkte dieser Phasenebene sind die Phasenpunkte. Die rechte Seite
des Systems (2.30) definiert in der Phasenebene eine Vektorfeld, das sogenannte Vektorfeld der
Phasengeschwindigkeit.
Die Lösung des Systems (2.30) ergibt die Bewegung ϕ : R → R2 eines Phasenpunktes in
der Phasenebene, wobei die Geschwindigkeit der sich bewegenden Punkte an jedem Zeitpunkt
gleich dem Vektor der Phasengeschwindigkeit an dem Ort ist, wo sich der Phasenpunkt augen-
blicklich befindet.
Die Abbildung ϕ liefert die Phasenkurve; ihre Parametergleichung lautet
x = ϕ(t), v = ϕ̇(t).
Der Energieerhaltungssatz erlaubt es, die Phasenkurven auf einfache Weise zu ermitteln.
Auf jeder Phasenkurve ist der Wert der Gesamtenergie E konstant. Deshalb gehört zu jeder
Phasenkurve eindeutig ein bestimmter Wert E(x, v) = h.
Bei bekanntem Verlauf des Potentials V (x) lässt sich der qualitative Verlauf der Trajekto-
rien einfach ermitteln: Lokale Extremwerte von V (x) entsprechen Gleichgewichtslagen. Liegt
2 Kinematik 18
3 1
2.5
2 x
1 2 3 4
V(x)
1.5
1 -1
0.5
0
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5 4 4.5 -2
x
Abb. 2.8. Potentielle Energie V (x) und Höhenschichtlinien der Gesamtenergie in der Phasenebene.
ein Minimum des Potentials vor, sind die benachbarten Höhenschichtlinien geschlossene Kur-
ven um das Gleichgewicht, während bei Maximalstellen von V Sattelpunktskurven entspringen:
die Lösungen entfernen sich exponentiell schnell aus einer Gleichgewichtslage, können aber
eventuell wieder zurückkehren.
Um den Zeitverlauf der Lösungen zu ermitteln, lösen wir die Gleichung E(x, v) = h nach
der Geschwindigkeit v = ẋ auf q
v(x) = 2(h − V (x)),
wodurch wir den Fall (6) in Tabelle 2.1 auf Fall (5) zurückgeführt haben. Nun trennen wir die
Variablen
dx dx
= v(x) ⇒ = dt
dt v(x)
und integrieren auf beiden Seiten
Zx
dξ
ψ(x, x0 ) := = t − t0 .
x0 v(ξ)
Wenn es nun gelingt, die Stammfunktion ψ(x, x0 ) von 1/v(x) analytisch zu berechnen und die
Gleichung ψ = t − t0 nach x aufzulösen, erhalten wir die explizite Abhängigkeit der Lösung x
als Funktion der Zeit.
Reale Systeme können als ein Verband von Punkten (Punkthaufen) aufgefasst werden. Ihr Be-
wegungszustand ist bekannt, wenn die Orte r i und die Geschwindigkeiten v i (i = 1, 2, . . . , n)
aller zum Verband gehörenden Punkte Pi für jeden Zeitpunkt bekannt sind. Die r i und v i sind
jedoch im Allgemeinen nicht voneinander unabhängig, weil jeder Verband einschränkenden
Bedingungen unterliegt. So behalten z. B. die Punkte eines starren Körpers stets ihren gegen-
seitigen Abstand bei. Die Räder eines Getriebes sind jedes für sich drehbar gelagert. Trotzdem
können sie sich nicht frei bewegen, weil sie miteinander verzahnt sind. Diese Einschränkungen
der Bewegungsmöglichkeit lassen sich durch Beziehungen zwischen den Ortsvektoren r i oder
19 2 Kinematik
ihren Koordinaten ausdrücken. Derartige Beziehungen sollen anschließend für den starren Kör-
per, später für kontinuierlich ausgedehnte Gebilde formuliert werden. Als wichtiger Hilfsbegriff
zur Beschreibung der Bewegungsmöglichkeiten von Systemen wird der Freiheitsgrad eingeführt
durch die
Definition: Die Zahl der Freiheitsgrade eines Systems ist gleich der Zahl der Koordinaten, die
notwendig sind, um die Lage des Systems eindeutig zu beschreiben.
Beispiele: Ein längs einer Kurve beweglicher Punkt (z. B. ein schienengebundenes Fahrzeug) hat
1 Freiheitsgrad, weil sein Ort durch Angabe der Kurvenlänge, von einem Bezugspunkt aus
gemessen, eindeutig gekennzeichnet werden kann. Ein im Raum frei beweglicher Punkt
besitzt 3 Freiheitsgrade. Ein System von 4 unabhängigen Punkten im Raum hat 12 Frei-
heitsgrade. Zwei durch eine starre Stange verbundene Punkte (Hantel), die sich sonst frei
im Raum bewegen können, haben 2 · 3 − 1 = 5 Freiheitsgrade. Zwischen den 6 skalaren
Koordinaten der beiden Punkte besteht die Beziehung
durch die die Konstanz der Länge L der Stange ausgedrückt wird. Diese skalare Bezie-
hung hat zur Folge, dass das System einen Freiheitsgrad weniger hat, als dies bei zwei
unabhängigen Punkten der Fall ist. Das lässt sich wie folgt einsehen: Die Lage eines der
beiden Punkte kann frei gewählt werden; damit ist über 3 Freiheitsgrade verfügt. Bei fest-
gehaltenem ersten Punkt kann sich der zweite nur noch auf der Fläche einer Kugel vom
Radius L bewegen. Die Lage dieses Punktes kann dann durch 2 Koordinaten, z. B. Längen-
und Breiten-Winkel eindeutig bestimmt werden. Das ergibt insgesamt 5 Freiheitsgrade.
Ergänzt man die Hantel durch Hinzunahme eines dritten Punktes, der nicht auf der Ver-
bindungslinie der beiden ersten liegt, zu einem starren Dreieck, dann hat man 3 · 3−3 = 6
Freiheitsgrade. Es sind 3 skalare Bedingungen vom Typ (2.31) vorhanden, die die Kon-
stanz der gegenseitigen Abstände der Punkte ausdrücken. Bei Festhalten zweier Punkte
kann sich der dritte nur noch auf einem Kreise in einer Ebene senkrecht zur Verbin-
dungslinie der ersten beiden Punkte bewegen. Dort kann seine Lage durch Angabe eines
Winkels beschrieben werden, so dass zu den 5 Freiheitsgraden der Hantel nur noch ein
weiterer Freiheitsgrad hinzukommt. Das starre, nicht-ausgeartete Dreieck kann zugleich
als Repräsentant eines starren Körpers aufgefasst werden, weil die Hinzunahme weiterer
Punkte mit festen Abständen zu den drei bereits vorhandenen keinerlei zusätzliche Be-
wegungsfreiheit mit sich bringt. Also besitzt ein frei im Raum beweglicher starrer Körper
6 Freiheitsgrade. Wird ein Punkt des Körpers festgehalten (Fixpunkt), dann reduziert sich
die Zahl der Freiheitsgrade auf 3. Ein System von zwei miteinander durch ein Kugelgelenk
verbundenen starren Körpern, die sich sonst im Raum frei bewegen können, hat 6 + 3 = 9
Freiheitsgrade. Bei kontinuierlich ausgedehnten Systemen, z. B. bei elastischen Körpern
oder Fluiden wird die Zahl der Freiheitsgrade unendlich groß.
Die Menge der orthogonalen Matrizen bildet mit der Matrixmultiplikation eine Gruppe:
Inverses Element: Mit B ist auch die Inverse B−1 = BT orthogonal: Aus (2.32) folgt durch Mul-
tiplikation mit B von links und BT von rechts BBT = E.
0 0 1 1 0 0 1 0 0 0 0 1
0 1 0 0 0 −1 6= 0 0 −1 0 1 0 .
−1 0 0 0 1 0 0 1 0 −1 0 0
Es sei nun B(t) eine differenzierbar von t abhängige Familie von orthogonalen Matrizen. Diffe-
renziert man (2.32) nach t, so ergibt sich
Ω̂x = Ω × x.
ḂBT = ω̂.
Ḃ = BΩ̂ = ω̂B,
also ω̂ = BΩ̂BT . Es lässt sich zeigen, dass diese Relation in Vektorschreibweise die einfache
Form
ω = BΩ (2.33)
21 2 Kinematik
annimmt. Der Vektor Ω (ω) gibt die momentane Rotationsachse und Winkelgeschwindigkeit
bezüglich des körperfesten (raumfesten) Koordinatensystems an.
Für schiefsymmetrische Matrizen S und orthogonale Matrizen B ist die Abbildung
d
(B1 (t)B2 (t)) = B1 S1 B2 (t) + B1 B2 S2 = B1 B2 AdBT2 (S1 ) + S2
dt
In Vektorschreibweise erhalten wir – wie bereits in (2.33) angegeben – die einfache Formel1
1 0 0
vP = ω × r P A (2.38)
a
ω
vP
A r PA
rA
a rP
O
Abb. 2.9. Geschwindigkeitsvektor v P und Winkelgeschwindigkeitsvektor ω bei der Drehung eines starren
Körpers
Wenn die Achse a-a der Drehung der Scheibe nicht festliegt, dann muss der von der Zu-
satzbewegung herrührende Anteil zu (2.38) hinzugefügt werden. Wenn der Bezugspunkt A die
Geschwindigkeit v A hat, dann folgt als Geschwindigkeit eines Punktes P der Scheibe
vP = vA + ω × r P A. (2.39)
Der Bewegungszustand der Scheibe setzt sich aus Parallelverschiebung oder Translation (Vek-
tor v A ) und Drehung oder Rotation (Vektor ω) zusammen. Die Formel (2.39) gilt nicht nur für
Scheiben, sondern allgemein für beliebige dreidimensionale Bewegungen starrer Körper.
Beispiel: Die Bewegung des Punktes P wird in k und K dargestellt (Abb. 2.11), wobei K gegen k
um die z-Achse rotiert. Für die Koordinaten ergibt sich der folgende Zusammengang:
x = X cos α − Y sin α
y = X sin α + Y cos α
z=Z
r = BR
23 2 Kinematik
BR=r
K
A
q
rA
P
k K
Abb. 2.10. Ortsfestes Bezugssystem k und bewegtes Bezugssystem K
Y y
P
α
x
Abb. 2.11. Um die z-Achse rotierendes Koordinatensystem
wobei
cos α − sin α 0
B = sin α cos α 0
0 0 1
eine orthogonale Matrix ist: BT B = E.
Nun berechnen wir die Geschwindigkeit des Punktes P durch Differentiation von (2.40). Wir
erhalten
v = q̇ = ṙ A + ḂR + BṘ. (2.41)
Zur Interpretation von (2.41) betrachten wir zwei Sonderfälle:
(1) Ḃ = 0; d. h. eine translatorische Bewegung von K gegen k. Dann ist ṙ A ∈ k die Geschwin-
digkeit des Koordinatensystems und BṘ ∈ k die Relativgeschwindigkeit.
(2) r A = 0 und Ṙ = 0; in diesem Fall dreht sich K um den Ursprung von k und der Punkt P
ist in K fixiert. Dann ergibt sich jedoch die Geschwindigkeit nach (2.38) zu
v = ṙ = ω × r
ṙ = ḂR = ω × r. (2.42)
2 Kinematik 24
v = q̇ ∈ k absolute Geschwindigkeit
BṘ ∈ k Relativgeschwindigkeit
ḂR = ω × (q − r A ) = ω × r ∈ k Drehgeschwindigkeit
2.4.1 Beschleunigung
Bevor wir (2.41) nochmals nach der Zeit t differenzieren, formen wir (2.41) etwas um. Mit ω =
BΩ schreiben wir (2.42)
ḂR = ω × (q − r A ) = ω × r = BΩ × BR = B(Ω × R)
Gebrauch gemacht. Gleichungen (2.43) und (2.44) geben die Geschwindigkeit und die Beschleu-
nigung des Punktes P im Inertialsystem k. Wir schreiben (2.44) noch in der in Mechaniklehrbü-
chern üblichen Form.
Setzen wir BṘ = v r und BR̈ = ar , so bleibt noch zu klären was BΩ̇ ist. Dazu differenzieren wir
ω = BΩ und erhalten
ω̇ = ḂΩ + BΩ̇ = ω × ω + BΩ̇ = BΩ̇.
Eingesetzt in (2.45) erhalten wir
a = r̈ A + ω × (ω × r) + ω̇ × r + 2ω × v r + ar
= af + ac + ar . (2.46)
af = r̈ A + ω × (ω × r) + ω̇ × r,
ac = 2ω × v r
ar = BR̈.
25 2 Kinematik
Beispiel: Seilzug
Aus der Annahme, dass die Scheibe ge-
genüber den Rollen keine Horizontalbe-
wegung ausführt (kein „Pendeln“) und
z v2 die Seillänge konstant bleibt, ergibt sich
v1 für die Geschwindigkeit v M des Mittel-
punkts
Beispiel: Seilrollen
2 Kreisscheiben (Radius a bzw. 3a) rollen auf ei-
ner rauen Unterlage. Auf der größeren Scheibe C
3a
ist eine weitere Scheibe mit Radius 2a befestigt, 2a
die gemäß Skizze durch ein undehnbares Seil mit D B
der kleinen Scheibe verbunden ist. Die Winkel- M2 ω1
a
geschwindigkeit der kleineren Scheibe sei ω1 (t).
Man ermittle den Bewegungszustand der größeren A M1
Scheibe.
Geg.: Radius a, 2a, 3a; momentane Position x(0) des Mittelpunkts und Winkelgeschwin-
digkeit ω1 (t) der rechten Scheibe; momentane Lage y der zweiten Scheibe.
Ges.:
1. Geschwindigkeitsvektoren v Mi , v A , v B , v C , v D ,
Winkelgeschwindigkeit ω2 der Scheibe 2,
2. Beschleunigungsvektoren aM2 , aA , aB , aC , aD ;
3. Die Beschleunigungsvektoren im Spezialfall ω1 = c für t = 0, dh. in der gezeich-
neten Lage.
Annahme: Die Punkte A . . . D befinden sich am Umfang der zweiten Scheibe.
Reines Rollen zwischen Scheiben und Seil.
2 Kinematik 26
Hinweise zur Lösung: Aus v M1 = aω1 e x und v A = 0 folgt aus der Abrollbedingung für
die größere Scheibe v M2 = 3aω1 e x und ω2 = ω1 . Mit aM2 = 3aω̇1 e x ermittelt man
nun leicht die restlichen Größen.
Beispiel: Rotierende Scheibe: Eine Scheibe rotiert nach einem vorgegebenen Gesetz (ϕ(t)) um
ihren Mittelpunkt. In einem radialen Schlitz der Scheibe bewegt sich reibungsfrei eine
Punktmasse mit vorgegebenem Abstand r (t) zum Mittelpunkt.
Man ermittle bei vorgegebenem Winkel ϕ(t) und Radialabstand r (t)
Mit r = r · e r , e r = (cos ϕ, sin ϕ)T und e ϕ = (− sin ϕ, cos ϕ)T ergibt sich
ṙ = ṙ · e r + r · e ϕ ϕ̇,
r̈ = r̈ · e r + 2ṙ · e ϕ ϕ̇ − r · e r ϕ̇2 + r · e ϕ ϕ̈.
Einsetzen von ṙ = aα cos αt, r̈ = −aα2 sin αt, ϕ̇ = β und ϕ̈ = 0 liefert die gefragten
Funktionen.
cos ϕ − sin ϕ 0 0 −1 0
B̈ = ϕ̈ · B · J3 + ϕ̇2 · B · J23 .
mit
ṙ = ḂR + BṘ,
r̈ = B̈R + 2ḂṘ + BR̈
Relativbeschleunigung ar = R̈.
Zeichnen Sie die Richtungen der diversen Beschleunigungsanteile in eine Skizze ein!
beruhen gerade darauf, dass die Wahl eines Körpers B, auf den z. B. gewisse Erhaltungssätze
angewandt werden, weitgehend in unser Belieben gestellt ist.
Zur Beschreibung von Lage und Bewegung der materiellen Punkte benötigt man ein Bezugs-
system. Hierzu eignet sich jedes starre System (starres Dreibein, starrer Körper), auf das man
Lage und Bewegung der Punkte beziehen kann. Nach Festlegung eines Bezugspunktes, oder
Nullpunktes, im Bezugssystem kann man die Lage aller materiellen Punkte durch ihre von die-
sem Bezugspunkt ausgehenden Ortsvektor x beschreiben. Unter einer Konfiguration des Kör-
pers B versteht man eine stetige und ein-eindeutige Zuordnung von Ortsvektoren x zu den
materiellen Punkten von B
x = χ(X). (2.47)
Die vorausgesetzte Stetigkeit bedeutet, dass „benachbarte“ materielle Punkte sich stets an be-
nachbarten Orten befinden, und die Ein-eindeutigkeit bedeutet, dass ein materieller Punkt nicht
an mehreren Orten sein kann und dass an einem Ort nicht mehrere materielle Punkte sein kön-
nen. Mit diesen Annahmen ist die Umkehrung von (2.47) möglich
Die Zuordnung (2.47) ist nach mathematischer Sprechweise eine topologische Abbildung oder
topologische Transformation der materiellen Punkte auf die Punkte des Raums; man nennt eine
solche Abbildung auch einen Homöomorphismus. Eine stetige zeitliche Aufeinanderfolge von
Konfigurationen heißt eine Bewegung des Körpers
Der Parameter t, von dem x stetig abhängen soll, bedeutet die Zeit.
Wir wählen nun die Kennzeichen X der materiellen Punkte in besonders einfacher und
zweckmäßiger Weise, indem wir sie mit den Ortsvektoren ξ identifizieren, die die Lage der
betreffenden Punkte zu einer fest gewählten Anfangszeit, oder Referenzzeit, t = τ geben. Die
Konfiguration eines Körpers B zur Zeit t = τ heißt Referenzkonfiguration. Die Bewegung von
B wird dann beschrieben durch
x = x(ξ, t; τ). (2.50)
(Zur Vereinfachung der Schreibweise identifizieren wir das Funktionssymbol x auf der rechten
Seite mit dem Symbol der abhängigen Größe, des Ortsvektors x, auf der linken Seite.) Durch
den Homöomorphismus (2.50) wird der durch den Vektor x gekennzeichnete Ort des durch ξ
gekennzeichneten materiellen Punktes zur Zeit t festgelegt. Die Referenzzeit τ geht als Para-
meter in diesen Zusammenhang ein, weil bei anderer Wahl von τ auch die Kennzeichen ξ der
materiellen Punkte wechseln. Gemäß obiger Einführung von ξ genügt (2.50) der Relation
x(ξ, τ; τ) = ξ. (2.51)
Zur Zeit t = τ stimmt nämlich der Ortsvektor des durch ξ gekennzeichneten materiellen Punk-
tes definitionsgemäß mit ξ überein. Die Umkehrung von (2.50) schreiben wir in der Form
Der Vektor ξ in (2.52) gibt den materiellen Punkt an, der sich zur Zeit t am Ort x befindet.
Hierbei gilt
ξ(x, t; t) = x. (2.53)
Zur Referenzzeit τ = t stimmt nämlich ξ mit dem Ortsvektor x des durch ξ gekennzeichneten
Punktes überein.
29 2 Kinematik
φM sei eine für jeden materiellen Punkt zu allen Zeiten angebbare Größe. Mit anderen Worten:
φM sei als Funktion der materiellen Koordinaten ξi und der Zeit t gegeben
Nach (2.52) oder (2.54) kann man die materiellen Koordinaten ξi durch die Ortskoordinaten xi
ersetzen2
φF (x, t) = φM (ξ(x, t; τ), t; τ). (2.56)
Man nennt (2.55) eine materielle Beschreibung der Größe φ und (2.56) eine Feldbeschreibung.
Die materielle Beschreibung gibt den Wert von φ für den materiellen Punkt ξ zur Zeit t an, die
Feldbeschreibung liefert den Wert von φ am Ort x zur Zeit t. Der Parameter τ, und häufig auch
die Zeit t, spielen im folgenden vielfach keine Rolle. In diesen Fällen wird τ, und oft auch t,
nicht explizit in den Formeln angegeben, selbst wenn eine explizite Abhängigkeit von diesen
Größen besteht.
Wir betrachten nun die skalare Feldgröße φ, die eine bestimmte Eigenschaft des Körpers B
beschreibt. Die materielle Ableitung φ̇M von φM liefert die zeitliche Änderung von φM für ein
festes materielles Teilchen. Da materielle Teilchen von B durch ihre Lage im Referenzzustand
bezeichnet werden, wird φ̇M so berechnet, dass für festgehaltenes ξ nach der Zeit t differen-
ziert wird. Das Resultat ist
φM (ξ, t + ∆t) − φM (ξ, t) ∂φM
φ̇M (ξ, t) = lim = (ξ, t). (2.57)
∆t→0 ∆t ∂t
Die selbe Größe in der räumlichen Beschreibung abgeleitet liefert
φF (x + v∆t, t + ∆t) − φF (x, t) ∂φF
φ̇F (x, t) = lim = {grad φF )(x, t)} · v(x, t) + (x, t) (2.58)
∆t→0 ∆t ∂t
2
Der Einfachheit halber wird oft dasselbe Funktionssymbol φ zur Beschreibung der Funktion φ(ξ, t) und
der Funktion φ(x, t) benutzt. Diese Notation führt aber zu unnötigen Verständnisproblemen und sollte daher
vermieden werden.
2 Kinematik 30
x = χ(ξ; t) (2.60)
∂2χ ∂V ∂v
A(ξ, t) = (ξ, t) = (ξ, t), a(x, t) = v̇ = + (grad v)v (2.62)
∂t 2 ∂t ∂t
Der Ausdruck in der räumlichen Beschreibung in (2.62) für die Beschleunigung setzt sich aus
zwei Anteilen zusammen. Nämlich aus der lokalen Beschleunigung ∂v/∂t und der konvektiven
Beschleunigung (grad v)v. Diese entsteht dadurch, dass ein Flüssigkeitsteilchen im Verlaufe
der Strömungsbewegung an einen Ort gelangt, für den eine andere Geschwindigkeit gilt. Selbst
wenn v nicht von der Zeit t abhängig ist, d. h. v = v(x) ist, ist die materielle Ableitung a = v̇
i. a. von Null verschieden, da die konvektive Ableitung i. a. von Null verschieden sein wird.
χ
V (ξ, t) = v(x, t)
B
Kurve χ(ξ, t) für
ξ x festes ξ
Ausgangs-
konfiguration
Körper zur Zeit t
Wenn wir zwei beliebige Lagen eines bewegten, verformbaren Körpers ins Auge fassen, von
denen er die erste etwa zur Zeit t = 0, die zweite zur Zeit t einnimmt, so werden wir feststel-
len, dass die Körperpunkte, die zur Zeit t = 0 auf einer Geraden P Q liegen, zur Zeit t eine
gekrümmte Linie bilden. Der Körper hat sich also deformiert. Nur beim starren Körper bleibt
P Q ständig gerade und von gleicher Länge. Andererseits ist es aber möglich, dass sich ein Teil
des Körpers starr bewegt und ein anderer Teil zur selben Zeit deformiert, d. h. – genauer aus-
gedrückt – verzerrt wird. Daher ist es nötig, die Verzerrung lokal für jeden Punkt des Körpers
zu definieren.
31 2 Kinematik
Wir betrachten nun ein beliebiges differentielles Bogenelement im Körper. Seine Länge zur
Zeit t = 0 (im „Anfangszustand“ des Körpers)3 sei d`0 , zur Zeit t sei sie d`. Der Unterschied
wird uns ein Maß für die Verzerrung des Körpers liefern.
t
t=0 P *’
Q*
Q dx
P’ P*
dξ w
u
P v
ξ3
x3
x1
ξ1
ξ2
x2
Wir beziehen die Lage des Körpers auf ein rechtwinkeliges kartesisches Koordinatensystem,
das sich selbst wieder beliebig bewegen kann (Abb. 2.13). Wie vorhin ausgeführt, seien die Ko-
ordinaten eines beliebigen Körperpunktes P in der Anfangslage ξ1 , ξ2 , ξ3 , im Zeitpunkt t seien
sie x1 , x2 , x3 . Die Bewegung des Punktes wird als stetige Abbildung in der Form
xi = xi (ξ1 , ξ2 , ξ3 , t) i = 1, 2, 3 (2.63)
dargestellt, wobei die Koordinaten des Punktes P ? im verformten Körper für jeden Zeitpunkt
t eindeutig aus seiner Lage im unverformten Körper hervorgehen. Außerdem soll die Funktion
(2.63) eine eindeutige stückweise glatte Umkehrfunktion
ξi = ξi (x1 , x2 , x3 , t) i = 1, 2, 3 (2.64)
besitzen. Die xi werden als Eulersche oder räumliche Koordinaten und die ξi als Lagrange oder
materielle Koordinaten bezeichnet.
Wir betrachten nun ein differentielles materielles Linienelement dξ = P P 0 , das nach der
Deformation in das differentielle Linienelement dx = P ? P ?0 übergeht. Es folgt aus (2.63)
X ∂xi X
dxi = dξj = Fij dξj i = 1, 2, 3
j
∂ξj j
oder
dx = Fdξ. (2.65)
Die Matrix Fij heißt Deformationsgradiententensor und beschreibt die lokale Deformation. Al-
lerdings stellt sie kein zufriedenstellendes Maß zur Beschreibung der Verzerrung dar, wie das
Beispiel der Starrkörperbewegung zeigt.
3
Da wir alle Verformungen auf diesen Zustand beziehen, wollen wir ihn auch den „unverformten“ Zustand
nennen.
2 Kinematik 32
x = r A + Bξ (2.66)
gegeben, wobei r A die translatorische Bewegung eines Bezugspunktes und B die Rotationsma-
trix (Abb. 2.14) ist. Aus (2.66) folgt
P Bξ
r0 P*
ξ
x
∂xi
= Fij = Bij . (2.67)
∂ξj
B ist jedoch, wie wir im Kapitel 1.3 gesehen haben, eine orthogonale Matrix, die bei der Trans-
formation sowohl Längen wie auch Winkel ungeändert lässt und daher im anschaulichen Sinne
keine Verzerrung liefert.
Als Maß für die Verzerrung führt man nun die Änderung der Länge des Linienelementes
dξ ein. D. h., man bildet die Differenz der Längen im verformten und unverformten Körper
(d`)2 − (d`0 )2 wobei
d`2 = dx12 + dx22 + dx32
und
d`02 = dξ12 + dξ22 + dξ32
ist. In der Differentialgeometrie wird gezeigt, dass das Element d`2 = gij dxi dxj den me-
trischen Tensor gij definiert, der vollständig die metrischen Eigenschaften des gekrümmten
Raumes und somit sowohl die Längen- wie auch die Winkeländerung im Körper beschreibt.
Somit erhalten wir (über doppelt auftretende Indizes wird von 1 bis 3 summiert)
(d`)2 − (d`0 )2 = dxi dxi − dξi dξi = Fij Fik dξj dξk − dξi dξi =
= (Cjk − δjk )dξj dξk = 2ηjk dξj dξk
wobei
Cjk = Fij Fik
und
1
(Cjk − δjk ).
ηjk = (2.68)
2
Es ist lehrreich, diese Rechnung nochmals in Vektor- und Matrizennotation durchzuführen.
Aus (2.65) folgt
T T
d`2 = dx T dx = (Fdξ)T Fdξ = dξ FT Fdξ = dξ Cdξ
33 2 Kinematik
wobei
C = FT F
gesetzt wurde. Weiters ist
T T
d`02 = dξ dξ = dξ Edξ
mit der Einheitsmatrix E. Somit ergibt sich
T T
d`2 − d`02 = dξ (C − E)dξ = dξ 2Gdξ.
G heißt Greenscher Verzerrungstensor, dessen Komponenten ηij auf den unverformten Zu-
stand, d. h. die Lagrangeschen Koordinaten, bezogen sind. Dass diese Definition vernünftig ist,
zeigt das Beispiel der Starrkörperbewegung. Setzt man aus (2.67) in (2.68) ein, ergibt sich mit
BT B = E = δjk , dass ηjk = 0 ist und somit für die Starrkörperbewegung keine Verzerrung
vorliegt.
Genauso gut hätte man auf den verformten Zustand beziehen können und dann aus
∂ξi ∂ξi
!
2 2
X
(d`) − (d`0 ) = δjk − dxj dxk =
i,j,k
∂x j ∂xk
X X
= (δjk − C̃jk )dxj dxk = 2εjk dxj dxk
j,k j,k
erhalten, wobei C̃ = F−T F−1 mithilfe des Deformationsgradienten F−1 für die Abbildung (2.64)
gebildet wird. Komponentenweise erhalten wir
1
εij = (δij − C̃ij ).
2
A = (E− C̃)/2 ist der Almansische Verzerrungstensor, dessen Komponenten auf den verformten
Zustand (Eulersche Koordinaten) bezogen sind.
Für die Behandlung von konkreten Problemen ist es vorteilhaft, den Verschiebungsvektor
(u1 , u2 , u3 ) einzuführen (Abb. 2.13). Zur Festlegung des Verschiebungsvektors (u1 , u2 , u3 ) ha-
ben wir nun wieder die Möglichkeit, ihn entweder als Funktion der Koordinaten ξ1 , ξ2 , ξ3 und
der Zeit t oder als Funktion der Koordinaten x1 , x2 , x3 und der Zeit t aufzufassen. Wir erhal-
ten im Fall, dass wir auf den unverformten Körper beziehen, d. h. x1 = ξ1 + u1 , x2 = ξ2 + u2 ,
x3 = ξ3 + u3
∂xi ∂ui
= δij +
∂ξj ∂ξj
und im Fall, dass wir auf den verformten Körper beziehen, d. h. ξ1 = x1 − u1 , ξ2 = x2 − u2 ,
ξ3 = x3 − u3 verwenden
∂ξi ∂ui
= δij − .
∂xj ∂xj
In die Ausdrücke für ηij und εij eingesetzt, erhalten wir
1 ∂ui ∂u j
X ∂uk ∂uk
ηij = + +
2 ∂ξj ∂ξi k
∂ξi ∂ξj
beziehungsweise
1 ∂ui ∂uj X ∂uk ∂uk
εij = + − .
2 ∂xj ∂xi k
∂xj ∂xi
2 Kinematik 34
Wir wählen nun für eine explizite Darstellung statt u1 , u2 , u3 die Komponenten u, v, w als
Funktionen von x, y, z, da man üblicherweise die Spannungen auch in dieser Form angibt.
Dann gilt
∂u ∂u ∂u
dξ = dx − du = dx − dx − dy − dz,
∂x ∂y ∂z
∂v ∂v ∂v
dη = dy − dv = dy − dx − dy − dz,
∂x ∂y ∂z
∂w ∂w ∂w
dζ = dz − dw = dz − dx − dy − dz.
∂x ∂y ∂z
Wir bilden daher
1
(d`2 − d`02 ) = εxx dx 2 + εyy dy 2 + εzz dz2 + 2(εxy dxdy + εyz dydz + εzx dzdx), (2.69)
2
wobei die Komponenten εxx , εyy , εzz , εxy , εyz , εzx durch die Wahl des Faktors 1/2 so festgelegt
sind, dass mit der üblichen Definition von Dehnung und Gleitung, die die Längen und Winkel-
änderung darstellen, Übereinstimmung herrscht. Es ergibt sich damit für die Komponenten des
Verzerrungstensors
2 2 2 #
∂u 1 ∂u ∂v ∂w
"
εxx = − + + , (2.70a)
∂x 2 ∂x ∂x ∂x
!2 !2 !2
∂v 1 ∂u ∂v ∂w
εyy = − + + , (2.70b)
∂y 2 ∂y ∂y ∂y
2 2 2 #
∂w ∂u ∂v ∂w
"
1
εzz = − + + , (2.70c)
∂z 2 ∂z ∂z ∂z
∂u ∂v ∂u ∂u ∂v ∂v ∂w ∂w
!
2εxy = + − + + , (2.71a)
∂y ∂x ∂x ∂y ∂x ∂y ∂x ∂y
∂v ∂w ∂u ∂u ∂v ∂v ∂w ∂w
!
2εyz = + − + + , (2.71b)
∂z ∂y ∂y ∂z ∂y ∂z ∂y ∂z
∂w ∂u ∂u ∂u ∂v ∂v ∂w ∂w
2εzx = + − + + . (2.71c)
∂x ∂z ∂z ∂x ∂z ∂x ∂z ∂x
Man nennt die sechs Größen εij die Verzerrungen des Körpers. Sie sind Funktionen des Ortes
x, y, z und der Zeit t. Für den starren Körper verschwinden sämtliche Verzerrungen.
Hätten wir als Koordinaten die des unverformten Körpers gewählt, so hätten wir formal glei-
che Ausdrücke erhalten, mit ξ, η, ζ anstatt x, y, z in den Gl. (2.69) bis (2.71), aber mit positivem
anstatt negativem Vorzeichen vor den Klammern in den Gl. (2.70) und (2.71).
Der Verzerrungstensor ε ist symmetrisch, daher gilt
Die Eigenvektoren des Verzerrungstensors bilden daher eine orthogonale Basis. Diese Vektoren
heißen Verzerrungshauptachsen. Die zugehörigen Verzerrungen werden mit ε11 , ε22 und ε33
bezeichnet und heißen Hauptverzerrungen.
35 2 Kinematik
R P*
ϕ
ξ 2 ,x 2
P
ξ 1 ,x 1
Abb. 2.15. Eine dünne Blattfeder wird zu einem Halbzylinder gebogen.
Beispiel: Dass große Verschiebungen nicht zwangsmäßig große Verzerrungen bewirken, zeigt
das Beispiel einer ursprünglich geraden Blattfeder, die zu einem Halbzylinder mit Ra-
dius R gebogen wird (Abb. 2.15): Der Punkt P = (ξ1 , ξ2 ) wird dabei in den Punkt P ? =
((R − ξ2 ) sin ϕ, R − (R − ξ2 ) cos ϕ) mit ϕ = ξ1 /R verschoben. Die (ebenen) Verschiebun-
gen lauten
Wir untersuchen nun, wie sich der Verzerrungstensor transformiert, wenn wir das Koordina-
tensystem drehen: Es seien y = Bx und η = Bξ die raum- bzw. körperfesten Koordinaten im
gedrehten System, B sei eine orthogonale Matrix.
Für die Verschiebungen erhalten wir
)
x = ξ + u(ξ),
⇒ uB (η) = Bu(BT η).
y = η + uB (η)
2 Kinematik 36
P*"
P"
P*’
*
P
P P’
Abb. 2.16. Dehnung und Stauchung einer Abb. 2.17. Verzerrungen eines infinitesimal
rechteckigen Scheibe. Winkel- und Längenän- kleinen Rechtecks für kleine Verschiebungsgra-
derungen hängen von der Winkellage der Li- dienten.
nienelemente ab.
Für den Verschiebungsgradiententensor UB = ∂uB /∂η folgt daraus mithilfe der Kettenregel
∂u
UB = B BT .
∂ξ ξ=BT η
ηB = BηBT . (2.72)
In Abb. 2.16 ist ein Blatt skizziert, das horizontal gestreckt und vertikal gestaucht wird. Ein
achsenparallel eigezeichnetes Quadrat erfährt dadurch nur Längenänderungen, während ein
um 45◦ gedrehtes Quadrat hauptsächlich Schubverzerrungen erfährt. Die Komponenten des
Verzerrungstensors hängen von der Orientierung des Koordinatensystems ab.
Abb. 2.17 skizziert die Verformung eines infinitesimal kleinen Rechtecks unter einer kleinen
Deformation. Das ursprünglich horizontale Linienelement P P 0 der Länge dξ1 wird in erster
Näherung auf die Strecke P ? P ? 0 abgebildet. Analog ist das Bild der Strecke P P 00 der Länge dξ2
durch P ? P ? 00 gegeben. Mit
Ihre Dehnung
` − `0
ε1 =
`0
37 2 Kinematik
beträgt
(1 + ∂u1 /∂ξ1 )dξ1 − dξ1 ∂u1
ε= = = εxx .
dξ1 ∂ξ1
Analog lässt sich zeigen, dass die Dehnung der Strecke P P 00
∂u2
ε2 = = εyy
∂ξ2
beträgt.
Die ursprünglich horizontale Strecke P P 0 dreht sich um den Winkel
gegen den Uhrzeigersinn, während sich das vertikale Element P P 00 um den Winkel
im Uhrzeigersinn dreht. Der ursprünglich rechte Winkel bei P wird also um den Winkel α + β =
2εxy verringert.
Um die Längenänderung eines Elements zu berechnen, das vor der Deformation die Rich-
tung eines Einheitsvektors n besitzt, konstruieren wir eine Drehmatrix B, deren erste Spalte
durch n gegeben ist. Die Drehung des ursprünglichen Koordinatensystems Kξ in das neue Ko-
ordinatensystem Kη , in dem n als erster Basisvektor fungiert, wird durch die Inverse von B
bestimmt. Der Verzerrungstensor lautet nun gemäß (2.72), wobei wir B durch seine Inverse BT
zu ersetzen haben,
ηBT = BT ηB.
Speziell liefert das erste Diagonalelement dieses Tensors
ηnm = nT ηm.
2.5.5 Deformationsgeschwindigkeiten
d. h.
Ḟ = (grad v)F. (2.73)
3 Kräfte und Kräftegruppen ([21]) 38
∆F
∆A
R
F2 F1
Abb. 3.1. Definition der Kraft Abb. 3.2. Definition der Spannung
Kraft ist ein Vektor, der sich mit der Schwerkraft zusammensetzen lässt. Wir schreiben einer
solchen Einzelkraft noch einen Angriffspunkt zu, in dem sie am Körper angreift und an den sie
gebunden ist.
Ein solcher punktförmiger Angriff stellt allerdings eine Idealisierung dar, die in der Na-
tur nicht vorkommt. Dort gibt es nur räumlich verteilte Kräfte: Volumskräfte, und flächenhaft
verteilte Kräfte: Oberflächenkräfte. Solche vom ersten Typ sind etwa die Schwerkraft und elek-
tromagnetische Kräfte, solche vom zweiten Typ treten z. B. an der Berührungsfläche von zwei
gegeneinander gepressten Körpern auf. Wenn nun die Angriffsfläche im Verhältnis zu den sons-
tigen Abmessungen des Körpers sehr klein ist, kann man von ihrer Ausdehnung überhaupt
absehen und die gesamte Kraft in einem einzigen Punkt konzentriert angreifen lassen. Damit
kommt man zur oben erwähnten Einzelkraft.
Bei größerer Ausdehnung der Berührungsfläche darf diese Näherung nicht mehr gemacht
werden. Es ist dann notwendig, die Art der Verteilung der Kraft über die Fläche zu berück-
sichtigen. Dies geschieht durch Einführung des Begriffes der Spannung. Sie stellt die auf die
Flächeneinheit entfallende Kraft dar und wird wie folgt definiert: Man betrachtet ein Oberflä-
chenelement ∆A (Abb. 3.2). Auf dieses Element wirke die Gesamtkraft ∆F. Wir dividieren und
erhalten die mittlere Spannung σm = ∆F/∆A sowie nach Grenzübergang die örtliche Spannung
∆F
σ = lim .
∆A→0 ∆A
-F
Verhältnissen nichts geändert wird, müssen wir an den beiden Schnittufern die jeweils von
dem einen auf den anderen Teil ausgeübten inneren Kräfte bzw. die inneren Spannungen an-
bringen. Wir sehen unmittelbar, dass die an den beiden Schnittufern angreifenden Kräfte (und
da die Flächen dieselben sind, auch die Spannungen) entgegengesetzt gleich sein müssen. Denn
wenn wir die beiden Teile wieder zusammenfügen, so müssen sich die Kräfte gegenseitig auf-
heben. Dieser Satz von der Gegenseitigkeit der Spannungen (Reaktionsprinzip) gilt aber auch für
Fernkräfte, d. h. für solche Kräfte, die zwischen zwei nicht unmittelbar in Berühung stehenden
Körpern wirksam sind (Beispiel: Gravitationskräfte). Es lautet dann: Die Kräfte, die zwischen
zwei Punkten eines beliebigen Systems wirksam sind (Abb. 3.4), haben gemeinsame Wir-
kungslinie und sind entgegengesetzt gleich. Das Prinzip nimmt in dieser Verallgemeinerung
den Charakter eines Axioms an.
Innere und äußere Kräfte. Innere Kräfte sind die innerhalb, zwischen den Elementen eines
Systems wirksamen Kräfte, äußere Kräfte sind die von außen her auf das System einwir-
kenden Kräfte. Die Unterscheidung hängt also von der Abgrenzung des Systems ab.
Eingeprägte Kräfte und Reaktionskräfte (Zwangskräfte). Reaktionskräfte sind solche, die durch
einen dem System auferlegten Zwang, nämlich eine Einschränkung seiner Freiheitsgrade,
entstehen. Sie ergeben sich also aus kinematischen Bedingungen, beispielsweise vorge-
schriebenen Verschiebungen oder Drehungen. Alle anderen Kräfte sind eingeprägt. Sie
sind entweder bei der Problemstellung vorgegeben oder über ein gegebenes physikali-
sches Gesetz zu ermitteln. So ist z. B. die Kraft an einem festen Auflager eine Reaktions-
kraft, da sie durch eine Einschränkung der Freiheitsgrade entsteht, während sie am fe-
dernden Auflager, wo keine solche Einschränkung vorliegt, zur eingeprägten Kraft wird.
Sie ist jetzt aus dem Federgesetz zu bestimmen.
Kräfte, die Arbeit leisten, und leistungslose Kräfte. Diesbezüglich vergleiche man die Kapitel
Arbeit und Energie und Lagrange Gleichungen.
F3
R M
F4
F2 r
a
F1 -K
Abb. 3.5. Resultierende eines zentralen Abb. 3.6. Moment eines Kräftepaares
Kraftsystems
der Parallelogrammregel lassen sich die Kräfte zu einer einzigen Kraft, der Resultierenden R des
Systems zusammensetzen. Wir sagen, das Kraftsystem F1 , . . . , Fn und die Einzelkraft R sind
äquivalent, oder auch: das Kraftsystem wurde auf die Einzelkraft R reduziert. Es ist
n
X
R= Fi . (3.1)
i=1
R = 0, (3.2)
Fi Fi
-K ri
A
r1
+K r
+K
-K r2
-Fi
Abb. 3.7. Addition von Momenten Abb. 3.8. Moment der Einzel-
kraft Fi bezüglich A
Wirkungsebenen zum Schnitt und ersetzen die gegebenen Kräftepaare durch äquivalente, die
beide aus den Kräften K und −K bestehen, wie in Abb. 3.7 eingezeichnet. Ihre Momente sind
M1 = r 1 × K, M2 = r 2 × K. Nun heben sich aber die beiden in der Schnittlinie liegenden Kräfte K
und −K auf und es bleibt ein neues Kräftepaar mit dem Moment M = r × K. Wegen r = r 1 + r 2
ist aber in der Tat M = M1 + M2 .
Ebenso wie vom Moment eines Kräftepaares kann man auch vom Moment M = r × F einer
Einzelkraft F in bezug auf einen Punkt A sprechen. r ist dann der Ortsvektor von A nach einem
beliebigen Punkt auf der Wirkungslinie von F.
Nunmehr kehren wir zum allgemeinen räumlichen Kraftsystem zurück und versuchen, auch
hier gewisse für das System charakteristische resultierende Größen einzuführen. Dazu wählen
wir einen Bezugspunkt A und bringen in ihm zu jeder Kraft Fi (i = 1, 2, . . . , n) des Systems
zwei parallele Kräfte Fi und −Fi an (Abb. 3.8). Am Gesamtsystem hat sich dadurch nichts geän-
dert. Nun fassen wir die Kraft −Fi und die ursprüngliche Kraft zu einem Kräftepaar mit dem
Moment Mi = r i × Fi zusammen, wo r i der Ortsvektor vom Bezugspunkt A zu einem beliebi-
gen Punkt auf der Wirkungslinie der Kraft Fi ist. Schließlich setzen wir die neuen Kräfte Fi , die
durch Parallelverschiebung aus den ursprünglichen Kräften entstanden sind und ein zentra-
les Kraftsystem bilden, zur Resultierenden R und die Momente Mi , die wir gleichfalls nach A
verlegen, zum resultierenden Moment M zusammen:
X X
R= Fi , M= r i × Fi . (3.4)
i i
Das Verfahren wird als Reduktion des Kraftsystems bezeichnet. Die Einzelkraft R und das
Kräftepaar M nennen wir dem ursprünglichen Kraftsystem äquivalent. Damit sind also auch
allgemein zwei beliebige Kräftegruppen äquivalent, wenn sie bei Reduktion in den gleichen
Bezugspunkt die gleichen Reduktionsresultanten R und M ergeben.
Es muss aber ausdrücklich betont werden, dass die so definierte Äquivalenz (auch statische
Gleichwertigkeit genannt) nicht etwa in dem Sinne aufgefasst werden darf, als seien die bei-
den Kraftsysteme auch physikalisch gleichwertig. Dies trifft nur am starren Körper zu. Man
sieht dies sofort ein, wenn man das eben beschriebene Reduktionsverfahren auf eine Einzel-
kraft F anwendet und den Bezugspunkt A auf ihrer Wirkungslinie wählt. Man erhält dann, da
3 Kräfte und Kräftegruppen ([21]) 42
Fi
ri
r’i
A a A’
Abb. 3.9. Einfluss der Lage des Bezugspunktes auf das Moment
jetzt das Moment M verschwindet, als äquivalentes System einfach die nach A entlang ihrer
Wirkungslinie verschobene Kraft. Diese wird aber an einem verformbaren Körper ganz andere
Deformationen hervorbringen als die ursprüngliche Kraft. Das gleiche gilt beispielsweise für
zwei äquivalente Kräftepaare, die in verschiedenen Ebenen angreifen. Nur am starren Körper
besteht kein Unterschied.
Ändert man bei der Reduktion eines Kraftsystems den Bezugspunkt A, so erhält man gemäß
Gl. (3.4) zwar die gleiche Einzelkraft R, es ändert sich aber im allgemeinen das Moment M. Denn
bezeichnet r 0i den Ortsvektor vom neuen Bezugspunkt A0 (Abb. 3.9) und a den Vektor von A
nach A0 , so gilt wegen r i = a + r 0i für die neuen Reduktionsresultanten
R0 = R,
X X X (3.5)
M0 = r 0i × Fi = r i × Fi − a × Fi = M − a × R.
i i i
Nur wenn das System auf ein Kräftepaar führt, ist wegen R = 0 das Moment vom Bezugspunkt
unabhängig.
Eine Kräftegruppe, für die
R = 0, M=0 (3.6)
ist, wird Gleichgewichtssystem genannt. Die beiden Vektorgleichungen (3.6), denen sechs skala-
re Gleichungen entsprechen, bilden die Gleichgewichtsbedingungen. Wir werden nämlich später
zeigen, dass diese Bedingungen erfüllt sein müssen, wenn ein Körper unter der Wirkung des
Kraftsystems im Gleichgewicht bleiben soll. Für ein zentrales System ist die zweite Bedingung
identisch erfüllt, wie man sofort sieht, wenn man den Bezugspunkt mit dem Angriffspunkt zu-
sammenfallen lässt. Im übrigen folgt aus Gl. (3.5), dass die Bedingungen (3.6) von der Wahl des
Bezugspunktes unabhängig sind.
z σz
n
z
σn σy
y
x
σx
dA
y
x
Abb. 3.10. Spannungsvektor σn am Flächen- Abb. 3.11. Achsenparalleles Volumselement
element dA mit Normalenvektor n angreifend mit den Spannungsvektoren σx , σy , σz
nämlich
X
Xi = 0, (3.7a)
i
X
Yi = 0, (3.7b)
i
X
(xi Yi − yi Xi ) = 0. (3.7c)
i
3.6 Spannungszustand
3.6.1 Spannungstensor
Beim Studium kontinuierlicher Medien ist man oft mit der Frage konfrontiert, wie Kräfte durch
das Medium geleitet werden. Wie schon erwähnt, treten zwei Klassen von Kräften auf, die für
unsere Untersuchungen wichtig sind:
1. Volumskraft
Diese wirkt direkt durch die Masseverteilung im Definitionsbereich. Die Volumskraftver-
teilung k(x, y, z, t) ist eine Intensitätsfunktion und wird im allgemeinen pro Einheit der
Masse oder des Volumens des Materials auf das sie einwirkt, berechnet (z. B. Eigenge-
wicht).
2. Oberflächenkraft
Diese kann an der Körperoberfläche oder aber auch an einer „mathematischen“ Oberflä-
che, einem künstlich abgegrenzten Bereich im Körper, der für die jeweilige Aufgabenstel-
lung von Interesse ist, auftreten.
Die Oberflächenkraft ist ebenfalls eine Intensität pro Flächeneinheit und wird als Spannungs-
vektor σn (x, y, z, t) bezeichnet, wobei der Index n den Normalenvektor der Fläche angibt.
Daraus folgt auch, dass der Spannungsvektor nicht notwendigerweise in Richtung des Norma-
lenvektors zeigen muss.
3 Kräfte und Kräftegruppen ([21]) 44
Wir greifen nun ein rechteckiges Parallelepiped aus dem Kontinuum heraus, dessen Kanten
parallel zu den Koordinatenachsen x, y, z sind (Abb. 3.11).
Der Vektor σx hat dann die Komponenten (σxx , σxy , σxz )T . Insgesamt ergibt sich
Hier gibt der erste Index die Koordinatenrichtung der Normalen des Flächenelementes an und
der zweite Index die Richtung der Spannung (Kraftdichte).
σzz
z
σzx σzy σyz
σxz
y σyy
x σxy σyx
σxx
Die Größe Σ heißt Spannungstensor. Die normal zur Angriffsfläche gerichteten σii werden als
Normalspannungen bezeichnet und die in der Fläche liegenden σij (i ≠ j) heißen Schubspan-
nungen, wobei i = x, y, z. Die ersteren erzeugen eine Zug- oder Druckbeanspruchung, die
letzteren eine Schubbeanspruchung (Scherbeanspruchung).
Aus der Momentengleichgewichtsbedingung für ein sich im Ruhezustand befindendes Vo-
lumselement folgt, dass der Spannungstensor symmetrisch ist, Σ = ΣT . D. h.
σij = σji i = x, y, z, j = x, y, z.
Die Verallgemeinerung für den beliebig bewegten Körper erfolgt mittels des Boltzmann’schen
Axioms (Satz von den zugeordneten Schubspannungen): Der Spannungszustand in einem festen
Körper genügt den Symmetriebedingungen. In anderen Worten: In zwei zueinander senkrechten
Flächen sind die an der Schnittlinie angreifenden und zu ihr senkrechten Schubspannungskom-
ponenten gleich groß und entweder beide zur Schnittlinie hin oder beide von ihr weg gerichtet.
Eine wichtige Frage ist nun, wie sich aus der Kenntnis des Spannungstensors Σ der Span-
nungsvektor σn in einer beliebig geneigten Ebene mit dem Normalenvektor n = (nx , ny , nz )T
berechnet. Dazu setzen wir den in Abb. 3.13 aus dem Kontinuum herausgeschnittenen Tetra-
eder ins Gleichgewicht. Mit der Volumskraftdichte k erhalten wir
z σn
n
- σx
- σy
Weiters setzen wir dV = 13 dA dh wobei dh die Höhe des Tetraeders ist. Setzen wir (3.9) in (3.8)
ein, dividieren durch dA und führen den Grenzübergang dh → 0 durch, so erhalten wir
σn = σx nx + σy ny + σz nz =
σxx nx + σyx ny + σzx nz
Dies ist aber gleich dem Produkt des Spannungstensors mit dem Normalenvektor
σn = Σ T · n (3.10)
oder X
σni = σji nj i = x, y, z. (3.11)
j=x,y,z
3.6.2 Hauptspannungsrichtungen
Wir stellen nun die Frage, ob es im Punkt (x, y, z) eine Normalenrichtung n gibt, für die der
Vektor σn in die Richtung von n fällt? Eine solche Ebene, falls sie existiert, wird als Hauptnor-
malspannungsebene bezeichnet. Es müsste gemäß (3.10) gelten
σn = ΣT · n = σ · n, (3.12)
Dies ist ein homogenes Gleichungssystem für nx , ny und nz , das nur dann eine nichttriviale
Lösung besitzt, falls die folgende Determinante
σ 3 − I1 σ 2 + I2 σ − I3 = 0. (3.15)
Wegen σij = σji sind die drei Wurzeln σ1 , σ2 , σ3 der kubischen Gleichung (3.15) sämtlich re-
ell. Wir nennen sie die drei Hauptnormalspannungen und die zugehörigen drei Normalenrich-
tungen die Spannungshauptachsen in dem betreffenden Körperpunkt. Sie stehen aufeinander
senkrecht. Man kann dies direkt mit Hilfe der Gleichung (3.14) zeigen.
3 σn
n
σ
τ
1
Abb. 3.14. Aufspaltung des Spannungsvektors σn in Normalspannung σ und Schubspannung τ
Da die kubische Gleichung (3.15) unabhängig von der Wahl des Koordinatensystems x, y, z
stets die gleichen Hauptspannungen liefern muss, folgt, dass die Koeffizienten dieser Gleichung
bei einer Drehung der Koordinatenachsen ungeändert bleiben. Sie stellen also drei Invarianten
des Spannungszustandes dar und lauten5
Von besonderer Bedeutung sind die erste Invariante, die wir mit s bezeichnen, I1 = s, und die
zweite Invariante. Sie spielen eine wichtige Rolle in der Plastizitätstheorie.
Schubspannungsfreie Flächen sind stets Hauptnormalspannungsflächen und Hauptnormal-
spannungsflächen sind stets schubspannungsfrei. Man sieht dies sofort ein, wenn man die
x-Achse in die 1-Achse legt. Dann gilt σxx = σ1 , nx = 1, ny = nz = 0 und die erste der drei
Gleichungen (3.14) ist erfüllt, während die beiden anderen σxy = 0, σxz = 0 liefern.
Wählt man nun die Spannungshauptachsen als Koordinatensystem, dann ergibt sich eine
besonders einfache Form des Spannungstensors
σ1 0 0
Σ = 0 σ2 0
0 0 σ3
5
Eine Verwechslung mit den Trägheitsmomenten ist wohl nicht möglich.
47 3 Kräfte und Kräftegruppen ([21])
σ1 n1 σ 1 n1
σn = σ2 n2 = σ2 n2 ,
σ3 n3 σ 3 n3
n1
n = n2 .
n3
Gegeben ist der Kragträger nach Abb. 3.15, belastet mit den Kräften F1 , F2 (unter dem Winkel
α angreifend) sowie den Momenten M1 , M2 .
F2 F2
B M1 MA M1
A α Ax α
C x
M2 M2
a F1 z Az a F1
b b
Abb. 3.15. Kragträger, belastet mit Kräf- Abb. 3.16. Freigeschnittener Kragträger
ten und Momenten
Gleichgewicht
X
Fxi = 0 : −Ax + F2 cos α = 0,
X
Fzi = 0 : Az + F2 sin α + F1 = 0,
(A)
X
Mi =0: −MA − M2 + M1 + aF2 sin α + bF1 = 0.
Gleichungen lösen
Ax = F2 cos α,
Az = −F1 − F2 sin α,
MA = M1 − M2 + aF2 sin α + bF1 .
3 Kräfte und Kräftegruppen ([21]) 48
F2
MA M1
α
F2 cos α M2
F1
F1 + F2 sin α
Abb. 3.17. Lagerreaktionen am Kragträger
F
Ax
Az Bz Cz
ℓ ℓ ℓ
Abb. 3.18. Einfach statisch unbestimmt gelagerter Balken
F = Az + Bz + Cz
F ` = Bz 2` + Cz 3`.
Diese reichen für die Berechnung der drei Auflagerreaktionen nicht aus und, da drei Unbekann-
ten nur zwei Gleichungen gegenüberstehen, ist der Träger daher einfach statisch unbestimmt
gelagert. Die Berechnung der Auflagerreaktionen ist nur dann möglich, wenn wir annehmen,
dass der Träger ein verformbarer Balken ist. Dazu setzen wir elastisches Verhalten mit kleinen
Deformationen voraus. Wir nehmen nun eine überzählige Auflagerreaktion, zum Beispiel Bz ,
weg. Dann ergibt sich der Träger als statisch bestimmt gelagert, und wir bringen die Auflager-
Bz
Abb. 3.19. Statisch bestimmt gelagerter Ersatzbalken mit Bz als eingeprägter Kraft
49 3 Kräfte und Kräftegruppen ([21])
kraft als äußere Kraft auf den Träger auf. Unter der Belastung mit den Kräften F und Bz wird
sich der Träger verformen.
F w(x)
x
Bz
Abb. 3.20. Verformung des statisch bestimmt gelagerten Ersatzträgers
Offensichtlich erhalten wir nun eine Bedingung zur Berechnung von Bz indem wir verlangen,
dass im Kraftangriffspunkt von Bz die Durchbiegung verschwinden muss, d. h. w(2`) = 0.
Neben dieser anschaulichen Vorgangsweise, die wir später, wenn wir die Durchbiegung be-
rechnen, anwenden werden, gibt es eine Reihe anderer, rechentechnisch günstigerer Verfahren
(Energieverfahren) zur Behandlung statisch unbestimmter Systeme, die hier nicht besprochen
werden können.
Gegeben sei ein schlanker Balken unter der Einwirkung äußerer Lasten, wie er zum Beispiel in
Abb. 3.21 gezeigt ist.
Gesucht sind die durch die Last im Inneren des Balkens hervorgerufenen Kräfte und Momente.
Lösung:
Wir wenden das Schnittprinzip, nach dem wir bisher Körper von ihren Bindungen freige-
schnitten haben, nun auf den Körper selbst an: Wir schneiden den Balken senkrecht zu
seiner Achse an der Stelle x auf, trennen ihn in zwei Teile und machen dadurch die an
der Schnittstelle, an den Schnittufern, wirkenden Kräfte und Momente sichtbar.
3 Kräfte und Kräftegruppen ([21]) 50
Qz
Qy
S x My S
Mx N
dA σx
y Mz x
z
a b
Abb. 3.22. Verteilte Kräfte und Schnittgrößen am positiven Schnittufer
Abb. 3.22 a zeigt eine vergrößerte Ansicht des positiven Schnittufers (für das die Flächennorma-
le in die positive x-Richtung weist). Am Flächenelement ∆A greift die Kraft ∆F an. (Das Flächen-
element ist zu klein, um ein beachtenswertes Kräftepaar, also ein Moment, aufzunehmen.) Wir
fassen die über das Schnittufer verteilt angreifende Spannung σx im Querschnittsschwerpunkt
S zu einer resultierenden Kraft und einem resultierenden Moment mit je drei Komponenten
zusammen. Abb. 3.22 b zeigt im einzelnen
Z
N = N(x) = σxx dA Normalkraft in positive x-Richtung,
A
Z
Qy = Qy (x) = σxy dA Querkraft in positive y-Richtung,
A
Z
Qz = Qz (x) = σxz dA Querkraft in positive z-Richtung,
A
Z (3.17)
Mx = Mx (x) = (σxz y − σxy z)dA Moment in positive x-Richtung,
A
Z
My = My (x) = σxx zdA Moment in positive y-Richtung,
A
Z
Mz = Mz (x) = − σxx ydA Moment in positive z-Richtung.
A
Bei einer Belastung gemäß Abb. 3.21 treten nur die Schnittgrößen N(x), Qz (x) und My (x) auf.
Man vereinfacht dann die Notation und bezeichnet Qz = Q = Q(x) als Querkraft und My =
M = M(x) als Moment schlechthin. Wir beschränken uns im folgenden auf die Überlegungen zu
diesem vereinfachten Fall. (Der allgemeine Fall lässt sich in entsprechender Weise behandeln.)
Abb. 3.23 zeigt den so geschnittenen Balken.
x F
M MQ
α C
A N N B
Q
ℓ2
positives negatives
Schnittufer Schnittufer
Im Rahmen der vereinfachenden Annahme ersetzen die drei Schnittgrößen N, Q, M, wie sie
in Abb. 3.23 eingetragen sind, die inneren Kräfte.
Wichtig ist beim Schneiden von Körpern: Man muss in der Regel beide Schnittufer im Auge
51 3 Kräfte und Kräftegruppen ([21])
behalten und dabei das Reaktionsprinzip beachten: Die auf die beiden Schnittufer wirkenden
Kräfte und Momente sind jeweils entgegengesetzt orientiert.
Die durch den Schnitt entstandenen beiden Balkenteile müssen je für sich als starre Körper
unter der Wirkung der sonstigen Lasten, der Lagerreaktionen und der Schnittgrößen, die jetzt
als äußere Lasten aufgefasst werden, im Gleichgewicht sein.
Vorzeichenkonvention und Symbolik
Wir arbeiten mit der Vorzeichenkonvention gemäß obigen Bildern. Teilweise symbolisiert,
fasst man sie gemäß Abb. 3.24 oder Abb. 3.25 zusammen.
x M M Q
O
Q N N
z
Abb. 3.24. Schnitt mit positiven Schnittgrößen Abb. 3.25. Balkenelement mit positi-
ven Schnittgrößen
Hinweis: Die Gleichgewichtsbedingungen zu Punkt 3 kann man für den linken oder den rechten
Balkenteil (als freigeschnittenen starren Körper) ansetzen. Für den jeweils zweiten Teil ange-
schrieben, liefert sie dieselben Werte für die Schnittgrößen (Kontrollmöglichkeit!), denn der
Balken als Ganzes ist gemäß Punkt 1 im Gleichgewicht.
F
F cosα α
ℓ2 ℓ1
ℓ1 + ℓ2 F sinα ℓ1 + ℓ2 F sinα
ℓ1 ℓ2
Abb. 3.26. Balken mit Last und Lagerkräften
x Q F
M M
F cosα α
ℓ2 ℓ1
N N
ℓ1 + ℓ2 F sinα Q ℓ2 ℓ1 + ℓ2 F sinα
a
F Q
M M
F cosα α
ℓ2 ℓ1 ℓ1
N N
ℓ1 + ℓ2 F sinα
x Q ξ ℓ1 + ℓ2 F sinα
b
Abb. 3.27. Geschnittener Balken
M (x) = 0 : M − [x`2 /(`1 + `2 )]F sin α = 0, also M = [x`2 /(`1 + `2 )]F sin α.
X
4. Diagramme
Abb. 3.28 zeigt die Verläufe der gefundenen Schnittgrößen N(x), Q(x) und M(x)
mit den ausgezeichneten Werten.
Normalkraftfläche
F cos α
+
0
a ℓ1 ℓ1 + ℓ2 x
Q Querkraftfläche
ℓ2
ℓ1 + ℓ2 F sin α
+ F sin α ℓ1 + ℓ2
0
ℓ1 x
-
ℓ1
ℓ1 + ℓ2 F sin α
b
M Momentenfläche
ℓ1 * ℓ2
ℓ1 + ℓ2 F sinα
+
0
c ℓ1 ℓ1 + ℓ2 x
Abb. 3.28. Schnittgrößenverläufe: a Normalkraftlinie, b Querkraftlinie, c Momentenlinie
r
pϕ
σ σ
Zur Berechnung der Spannungen in einem zylindrischen Rohr der Länge `, mit dem Radius
r und der Wanddicke h unter konstantem Innendruck p schneiden wir, um die Umfangsspan-
nung σ zu berechnen, das Rohr durch eine Ebene, die die Rohrachse enthält. Das freigeschnit-
tene Rohr setzen wir gemäß Abb. 3.29 ins Gleichgewicht. Die Gleichgewichtbedingung liefert
Zπ π
pr
σ = .
h
3 Kräfte und Kräftegruppen ([21]) 54
Wäre das Rohr, an den Enden abgeschlossen, dann ergäbe sich auch eine Längsspannung σl , die
nun aus der Gleichgewichtsbedingung des mit einer Ebene senkrecht zur Rohrachse geschnit-
tenen Rohres folgt. Es ergibt sich
2r π hσl = r 2 π p
und daraus
pr
σl = .
2h
Die Längsspannung σl ist also nur halb so groß wie die Umfangsspannung. Dies wird durch
das Experiment bestätigt: Zu lange gekochte Frankfurter Würstchen platzen immer in Längs-
richtung.
Hätte man nun ein Rohr zu dimensionieren, muss man für gegebenes r und nach ent-
sprechender Werkstoffauswahl, die Wanddicke h berechnen. Für einen einachsigen Spannungs-
zustand (nur Umfangsspannung) ist dies unmittelbar möglich. Liegt jedoch ein mehrachsiger
Spannungszustand (hier ein zweiachsiger: Umfangsspannung und Längsspannung) vor, muss
aus diesem eine Vergleichspannung berechnet werden, die für die Dimensionierung des Rohres
maßgeblich ist. Wir gehen darauf nicht näher ein und verweisen auf die einschlägige Literatur,
zum Beispiel [21].
F
N
ϕ
R
N
ϕ n
R ρ
F 0
ϕ
G
Abb. 3.30. Kräfte im Kontaktpunkt zweier Kör- Abb. 3.31. Kräfte an einem Körper auf einer
per rauen schiefen Ebene
Man kann sich durch einen einfachen Versuch davon überzeugen, dass solche Kräfte auch
bei sehr glatten Oberflächen auftreten. Legt man nämlich einen Körper auf eine schiefe Ebene
55 3 Kräfte und Kräftegruppen ([21])
mit dem Neigungswinkel ϕ (Abb. 3.31) und lässt diesen Winkel von Null aus langsam anwach-
sen, so stellt man fest, dass der Körper nicht abgleitet, solange ϕ unterhalb eines bestimmten
Maximalwertes %0 beibt,
ϕ ≤ %0 . (3.18)
%0 hängt von einer Reihe von Umständen, wie Oberflächenbeschaffenheit, geschmierte oder
trockene Flächen usw. ab. Man nennt %0 den Haftgrenzwinkel und die Ungleichung (3.18) die
Haftbedingung6 . Sie sagt aus, dass für Haften die Auflagerkraft F innerhalb eines Kegels vom
halben Öffungswinkel %0 , des sogenannten Haftgrenzkegels, liegen muss.
Mit R = N tan ϕ kann die Haftbedingung auch in der Form
geschrieben werden, mit µ0 als Haftgrenzzahl. Einige µ0 -Werte für trockene Flächen sind in
Tab. 3.1 zusammengestellt.
Haftungszahlen µ0 > 1 sind möglich (man denke an Sandpapier auf den Kontaktflächen)!
Die Haftungskraft R ist eine Reaktionskraft, da sie aus der kinematischen Bedingung des
Verschwindens der Relativgeschwindigkeit in der Tangentialebene folgt. Wenn zur Erfüllung
dieser Bedingung ein größerer Wert als R = µ0 N erforderlich wird, tritt Gleiten ein.
Für die beim Gleiten wirksame Schubkraft, die wir Reibungskraft nennen, wird nach Cou-
lomb näherungsweise angenommen, dass sie erstens den Betrag R = µN besitzt, wo die Rei-
bungszahl µ sowohl von der Gleitgeschwindigkeit wie vom Normaldruck unabhängig ist, und
dass sie zweitens stets der Gleitgeschwindigkeit entgegengesetzt gerichtet ist. Sie ist also eine
eingeprägte Kraft. Die gemachten Annahmen entsprechen den in Wirklichkeit auftretenden, au-
ßerordentlich verwickelten Erscheinungen nur in sehr unvollkommener Weise. Sie haben sich
aber, von Sonderfällen abgesehen, ganz gut bewährt. Versuche zeigen, dass µ < µ0 ist, dass es
also einer größeren Kraft bedarf, einen Körper aus dem Zustand des Haftens in Bewegung zu
setzen, als ihn gegen die Reibung in Bewegung zu halten. Die Reibungszahl µ ist näherungswei-
se unabhängig von der Größe der Kontaktfläche, hängt aber stark von der Werkstoffpaarung,
dem Oberflächenzustand und auch von der Geschwindigkeit ab. Abb. 3.32 zeigt einen typischen
Verlauf einer Reibungs-„Kennlinie“. Das Fallen von µ mit steigendem v ist Ursache für eine Rei-
he von Ratter- und Quietschvorgängen (Kreide auf Tafel, knarrende Tür). Meistens approximiert
man µ(v) durch einen Mittelwert µ = µm (strichpunktiert, der Index wird nicht geschrieben).
Oft findet man auch µ = µm = µ0 gesetzt, ohne dass es ausdrücklich gesagt wird. Tab. 3.1 zeigt
einige µ-Werte (Mittelwerte).
Wir entwickeln das Vorgehen zur Lösung von Reibungsproblemen an Hand einiger Beispiele.
6
Häufig wird vom Reibungswinkel und von der Haftreibung gesprochen.
3 Kräfte und Kräftegruppen ([21]) 56
µ
µ0
Gegeben: In Abb. 3.33 steht ein Mann vom Gewicht G an der Stelle a auf einer Leiter der Länge
` (Leitergewicht vernachlässigbar), die unter dem Winkel α gegen eine Wand angelehnt ist.
Oben stützt sich die Leiter über eine Rolle gegen die Wand, am Fußboden soll sie haften.
Rolle
A C
A
G
Gℓ
a N
α µ0 α H H
B a N b
Abb. 3.33. An Wand gelehnte Leiter Abb. 3.34. Kräfte auf Leiter und Fußboden
Gesucht: Wie weit, bis zu welchem Wert a, darf der Mann die Leiter hinaufsteigen, ohne dass
sie zu rutschen beginnt?
Bezeichnung: Wir weisen auf haftende Flächen stets mit µ0 , der oben eingeführten Haftungs-
zahl, hin (vgl. Abb. 3.33).
Lösung:
Eine Haftungsaufgabe löst man in zwei aufeinanderfolgenden Schritten:
+
M (C) = 0 : Ga cos α − H` sin α = 0, also H = (a/`)G cot α.
X
Für den zweiten Schritt brauchen wir die Coulombsche Haftbedingung (siehe (3.19)).
Schritt 2: Haftungsbedingung.
Für die in Schritt 1 gefundene Normalkraft N = G und die Haltekraft H = (a/`)G cot α
lautet die (Coulombsche) Haftungsbedingung
Wegen H > 0 folgt daraus die gesuchte Aussage: Die Leiter rutscht nicht, wenn
a < µ0 ` tan α.
Damit man bis a = ` steigen kann, muss µ0 tan α > 1 sein; man muss die Leiter genügend
steil anstellen.
Gegeben: Ein Klotz, Gewicht G, wird nach Abb. 3.35 eine schiefe Ebene hinaufgezogen, Nei-
gungswinkel α, Reibungszahl µ.
Abb. 3.35. Klotz auf rauer schiefer Ebene Abb. 3.36. Freigeschnittener Klotz
tan ρ G
F
µ ρ
ρ π/2
a b
Abb. 3.37. Deutungshilfen. a Reibungswinkel %, b steilere schiefe Ebene
Ein Quader vom Gewicht G und mit der Grundrissbreite 2b ruht auf einer horizontalen rauen
Unterlage (Abb. 3.38). Er soll durch eine horizontale Kraft F umgeworfen werden. Wie groß
muss h mindestens sein?
S
b b
h
G
N
e
A R
Außer der Kraft F und dem Gewicht G wirken auf den Quader noch die von der Unterlage
herrührenden Reaktionskräfte, die wir sogleich durch ihre resultierende Normalkraft N und
Haftungskraft R ersetzen. Der Angriffspunkt A der Normalkraft hat die (vorläufig noch unbe-
kannte Exzentrizität e. Solange der Quader im Gleichgewicht ist, gilt mit A als Bezugspunkt
N − G = 0, R − F = 0, F h − Ge = 0.
Zunächst muss, damit der Block nicht wegrutscht, F < µ0 G sein. Weiters entnehmen wir der
dritten Gleichung, dass die Exzentrizität e (bei festem F ) mit wachsendem Abstand h anwächst.
Die Grenze, bei der Umkippen beginnt, ist erreicht für e = b. Somit muss e = F h/G ≥ b oder
h ≥ Gb/F sein. Der Kleinstwert von h tritt auf, wenn F seinen Größtwert F = µ0 G annimmt.
Wir erhalten also h ≥ b/µ0 .
Fachwerk, sonst von einem Raumfachwerk. Wir behandeln hier nur das ebene Fachwerk.
Wir treffen folgende idealisierende Annahmen:
3 Kräfte und Kräftegruppen ([21]) 60
3. Die Achsen sämtlicher an einem Knoten angeschlossenen Stäbe schneiden sich in einem
Punkt.
In den Stäben eines solchen idealen Fachwerkes treten nur Längskräfte, aber keine Biegemo-
mente auf. Diese günstige Beanspruchungsart stellt einen der Hauptvorteile der Fachwerks-
konstruktion dar.
Zur Berechnung der Stabkräfte denken wir uns einen beliebigen Knoten i aus dem Fach-
werksverband herausgeschnitten (Abb. 3.39). Die Kräfte in den an diesen Knoten angeschlosse-
nen Stäben werden dadurch zu äußeren Kräften, die ein zentrales Kraftsystem bilden. Da das
Fachwerk im Gleichgewicht sein muss, gilt dies auch für jeden Knoten. Es muss also gemäß Gl.
(3.2) für jeden der k Knoten sein
X
Fi + Sij = 0 (i = 1, 2, . . . , k).
j
Hierbei ist Fi die am Knoten i angreifende äußere Kraft und Sij die Kraft im Stab, der den
Knoten i mit dem Knoten j verbindet. Führen wir jetzt den Einheitsvektor e ij von i nach j
gemäß
rj − ri
e ij =
`ij
ein, wo `ij die Länge des Stabes zwischen i und j bedeutet, so können wir mit Sij = Sij e ij
schreiben
X Sij
(r i − r j ) = Fi (i = 1, 2, . . . , k). (3.20)
j
`ij
Wir erhalten somit ein lineares inhomogenes System von k Vektorgleichungen, also 2k skala-
ren Gleichungen für die unbekannten Stabkräfte Sij . In diesen 2k Gleichungen sind aber auch
die Auflagerreaktionen als Unbekannte enthalten. Ist z die Anzahl dieser Reaktionen und s die
Anzahl der Stäbe, so muss also, damit die Stabkräfte und Stützreaktionen aus den Gleichge-
wichtsbedingungen allein berechenbar sind, die Beziehung
s + z = 2k (3.21)
gelten und die Koeffizientendeterminante des Gleichungssystems (3.20) von Null verschieden
sein. Die beiden Bedingungen sind notwendig und hinreichend dafür, dass das Fachwerk sta-
tisch bestimmt ist. Bei statisch bestimmter Lagerung wird z = 3.
Beim sogenannten Dreiecksfachwerk, das durch Aneinanderreihung von Dreiecken entsteht,
sind beide Bedingungen stets erfüllt, falls das Fachwerk statisch bestimmt gelagert ist.
eines Seilstückes von der Länge ds (Abb. 3.40) mit qds als resultierender Belastung die Gleich-
gewichtsbedingung
S (s+ds)
ds q
- S (s)
q ds
Abb. 3.40. Kräfte am Seilelement
y-y0 V S
s q
a
x
Abb. 3.41. Wahl des Koordinatensystems und des Ursprungs der Bogenlänge
dH dV
= 0, = q. (3.23)
ds ds
3 Kräfte und Kräftegruppen ([21]) 62
Aus der ersten Gleichung folgt, dass der Horizontalzug H des Seiles konstant ist. Wir schreiben
die Konstante in der Form
H = qa, (3.24)
wobei a die Dimension einer Länge hat. Die zweite Gleichung liefert
V = qs. (3.25)
Die Integrationskonstante wurde gleich Null gesetzt. Mit der Zählung von s muss dann an der
Stelle V = 0, also im tiefsten Punkt des Seiles begonnen werden.
Zur Ermittlung der Seilkurve y = y(x) erinnern wir uns, dass die Seilkraft S die Richtung
der Kurventangente hat, also
dy V s
= =
dx H a
gilt. Differentiation nach x liefert
s
2
d2 y 1 ds 1 dy
= = 1 + .
dx 2 a dx a dx
Dies ist die Differentialgleichung der Seilkurve. Sie geht mit Einführung der neuen Variablen z
gemäß
dy d2 y dz
= sinh z, = cosh z
dx dx 2 dx
über in
dz 1
=
dx a
mit der Lösung
x
z = + c1 .
a
Wenn wir nun das Koordinatensystem in einer Weise wählen (Abb. 3.41), dass die tiefste Stelle
der Seilkurve, an der dy/dx = 0, also z = 0 gilt, durch x = 0, y = a gegeben ist, dann folgt
c1 = 0 und damit
dy x
= sinh .
dx a
Integration liefert
x
y = a cosh . (3.26)
a
Dies ist die gesuchte Gleichung der Seilkurve oder Kettenlinie. Für die Bogenlänge gilt
Zx s 2 Zx
dy x x
s= 1+ dx = cosh dx = a sinh (3.27)
0 dx 0 a a
oder
s 2 = y 2 − a2 . (3.28)
Für den Seilzug S erhält man aus den Gleichungen (3.24), (3.25) und (3.28) wegen S 2 = V 2 + H 2
S = qy. (3.29)
Als Beispiel berechnen wir den Durchhang f eines Seiles, das zwischen zwei in gleicher Höhe
liegenden Punkten aufgehängt ist (Abb. 3.42). Der Abstand der Aufhängepunkte sei 2b, die
Länge des Seiles 2`.
63 3 Kräfte und Kräftegruppen ([21])
y
b b
f
ℓ ℓ
a
x
Die Aufgabe ist im wesentlichen gelöst, wenn der Seilparameter a bestimmt ist. Nun ist
gemäß Gl. (3.27) für den Punkt x = b
b
` = a sinh .
a
Aus dieser transzendenten Gleichung ist a zu berechnen. Gl. (3.28) liefert dann, ebenfalls für
x = b angeschrieben,
`2 = (a + f )2 − a2 = f 2 + 2af
und damit den Durchhang p
f = −a + a2 + `2 .
Bei einem straff ausgespannten Seil, bei dem der Durchhang klein ist gegenüber der Spannweite,
darf man die Kettenlinie näherungsweise durch eine Parabel ersetzen:
x 1 x 2
" #
y = a cosh = a 1 + + ... .
a 2 a
Der Durchhang wird dann näherungsweise
2
a b
f =y −a=
x=b
2 a
y h
ξ
f h2
s
a
x
h1
b1 b2
b1 b2
` = a sinh + sinh
a a
b2 b1
h = a cosh − cosh
a a
b = b1 + b2
b1 b2 b1 + b2 b2 − b1
` = a sinh + sinh = 2a sinh cosh
a a 2a 2a
b2 b1 b1 + b2 b2 − b1
h = a cosh − cosh = 2a sinh sinh
a a 2a 2a
Daraus folgt
s
b1 + b2 `2 − h2 1 p 2
sinh = = ` − h2
2a 4a2 2a
v
!2 2
b b u
t ` h
u
sinh = −
2a 2a b b
65 3 Kräfte und Kräftegruppen ([21])
b b
sinh = 2.38.
2a 2a
Lösung der transzendenten Gleichung liefert
b
= 2.47.
2a
Mit b = 100mergibt sich
a = 20.3 m.
Division der beiden obigen Gleichungen für h und ` liefert
h b2 − b1 2b2 − b
= tanh = tanh
` 2a 2a
oder
h b
b2 = a Arth + = 56.3m.
` 2
Der Durchhang f ergibt sich zu
b1
f = a cosh − 1 = 69m.
a
4 Massengeometrie
A
r
rS dV
S γ dV
G
Abb. 4.1. Schwerpunkt (Massenmittelpunkt) eines Körpers
Z
G= γdV (4.1)
V
und für den Ortsvektor des Kräftemittelpunktes, der hier Schwerpunkt S genannt wird, gilt
1
Z
rS = rγdV . (4.2)
G V
Wenn das spezifische Gewicht von Punkt zu Punkt verschieden ist, spricht man von einem
inhomogenen, wenn es konstant ist, von einem homogenen Körper. Im letzteren Fall geht Gl.
(4.2) über in
1
Z
rS = rdV . (4.3)
V V
Der physikalische und der geometrische Schwerpunkt fallen dann zusammen. Geometrische
Schwerpunkte lassen sich im übrigen auch für Flächen und Linien definieren. Man hat bloß in
Gl. (4.3) an Stelle des Volumens V die Fläche F oder die Bogenlänge s zu schreiben.
Ersetzt man in Gl. (4.2) das spezifische Gewicht γ durch die spezifische Masse %, so erhält
man die Koordinaten des Massenmittelpunktes M
1 1
Z Z Z
rM = r%dV = rdm, m= %dV . (4.4)
m V m m V
m ist die Gesamtmasse des Körpers, %dV = dm ein Massenelement. Wir werden später se-
hen, dass zwischen spezifischem Gewicht und spezifischer Masse der Zusammenhang γ = g%
besteht, wobei g die Fallbeschleunigung bedeutet.
In einem homogenen Schwerefeld8 sind Schwerpunkt und Massenmittelpunkt identisch. Im
inhomogenen Feld trifft dies nicht mehr zu: Die näher zur anziehenden Masse (Erde) gelege-
nen Körperpunkte erfahren eine stärkere Anziehungskraft als die entfernter liegenden. Daher
7
Die Vektoren e sind allerdings in Wirklichkeit nicht genau parallel, sondern angenähert zum Erdmittelpunkt
gerichtet.
8
Dies ist ein solches, in dem außer der Parallelität der lotrechten Vektoren e auch g = konst. gilt.
67 4 Massengeometrie
ändert der Schwerpunkt bei einer Drehung des Körpers auch seine Lage im Körper. Allerdings
sind diese Effekte wegen der nur schwachen Inhomogenität des Schwerefeldes außerordentlich
klein und spielen bei technischen Problemen im allgemeinen keine Rolle. Eine Ausnahme sind
z. B. Satelliten. Wir werden im weiteren den Schwerpunkt mit dem Massenmittelpunkt gleich-
setzen.
Die Integrale Z Z Z
rγdV , r%dV , rdV
V V V
dm
s a
Das Trägheitsmoment einer Massenverteilung (Abb. 4.2) in bezug auf eine Achse a ist defi-
niert durch Z
Ia = s 2 dm, (4.5)
m
wo s der Abstand der Körperpunkte von der Achse ist. Im Gegensatz zum Massenmoment 1.
Ordnung treten also hier die Quadrate der Abstände auf.
Als Deviationsmoment der Massenverteilung in bezug auf zwei zueinander senkrechte Ebe-
nen definiert man Z
Ipq = pqdm, (4.6)
m
Massenmomente Flächenmomente
z
dm y
m x dA
z r y
y
x x
y A
x
Trägheitsmomente Trägheitsmomente
Z Z Z Z
2 2
Ix = (y + z )dm, Iy = (z2 + x 2 )dm, Jx = 2
y dA, Jy = x 2 dA
m m A A
Z
Iz = (x 2 + y 2 )dm Polares Trägheitsmoment
m
Z
Deviationsmomente Jp = r 2 dA = Jx + Jy
A
Z
Ixy = Iyx = xydm, Deviationsmomente
m
Z Z Z
Iyz = Izy = yzdm, Izx = Ixz = zxdm Jxy = Jyx = xydA
m m A
I = mi2 (4.7)
Tabelle 4.2. Trägheitsmomente für einige praktisch wichtige Körper und Flächen
ma2
Dünner Kreisring: Ix = Iy = , Iz = ma2
2
y
ma2 ma2
z Kreisplatte: Ix = Iy = , Iz =
x 4 2
a
2
Kugel: Ix = Iy = Iz = ma2
5
y
m`2
z Gerader Stab: Ix = Iy = , Iz = 0
1
2ℓ
1
2ℓ
12
m `2
!
Ix = Iy = a2 + ,
y Dünnwandiges Kreisrohr: 2 6
Iz = ma2
a
m `2
!
1
2ℓ Ix = Iy = a2 + ,
1 4 3
z 2ℓ x Vollzylinder:
ma2
Iz =
2
y mh2 mb2
Ix = , Iy = ,
h Rechteckplatte: 12 12
x m 2
Iz = (h + b2 )
b 12
Flächenträgheitsmomente
y
π d4 π d4
Kreisquerschnitt: Jx = Jy = , Jp =
d x 64 32
y bh3 hb3
Jx = , Jy = ,
h Rechteckquerschnitt: 12 12
x bh 2
b Jp = (h + b2 )
12
Die beiden Integrale stellen aber die y- bzw. z-Komponenten des statischen Momentes m rdm
R
A
η
ξ c
S
y
a
b
x
Abb. 4.3. Trägheitsmoment um parallele Achsen
Satz 4.1 (Satz von Steiner). Das Trägheitsmoment um eine beliebige Achse ist gleich der Summe
aus dem Trägheitsmoment um die parallele Schwerachse und dem Produkt aus der Masse des
Körpers mit dem Quadrat des Abstandes der beiden Achsen.
Wir entnehmen der Gl. (4.8), dass von allen Parallelachsen diejenige durch den Schwerpunkt
das kleinste Trägheitsmoment liefert.
Auch für die Deviationsmomente lässt sich eine analoge Aussage machen. Es gilt nämlich
mit Abb. 4.3
Z Z Z Z
Iξη = ξηdm = (x − a)(y − b)dm = Ixy + abm − a ydm − b xdm.
m m m m
Durch zyklische Vertauschung der Indizes ergeben sich die Formeln für die beiden anderen
Deviationsmomente.
Als Beispiel berechnen wir das Trägheitsmoment um die z-Achse eines aus einem Stab und
einer Kugel bestehenden Systems (Abb. 4.4). Es ist nach Gl. (4.8) mit den Werten von Tab. 4.2
für die Einzelträgheitsmomente
!2
m1 ` 2 ` 2 m1 ` 2 7 2
2 2 2
Iz = + m1 + m2 a + m2 (` + a) = + m2 ` + 2a` + a .
12 2 5 3 5
z P n
p
r
z nz
ℓ a
ny y
m1 nx
m2
x
Abb. 4.4. Anwendung des Steinerschen Satzes Abb. 4.5. Trägheitsmoment bezüglich einer
beliebigen Achse
Für das Deviationsmoment in bezug auf zwei zueinander senkrechte Ebenen mit den Norma-
lenvektoren n und m erhalten wir
Z Z
Inm = (r · n)(r · m)dm = (xnx + yny + znz )(xmx + ymy + zmz )dm.
m m
Fügen wir noch den Ausdruck − r 2 (nx mx + ny my + nz mz )dm hinzu, der wegen n · m = 0
R
m
verschwindet, so ergibt sich
4.5 Trägheitsellipsoid
Wir denken uns in einem beliebigen Körperpunkt A nach Wahl eines Koordinatensystem x,
y, z die Trägheits- und Devitationsmomente berechnet. Mit Hilfe der Gl. 4.10 können wir dann
für jede beliebige Achse n durch diesen Punkt (mit den Richtungs-kosinus nx , ny , nz ) das Träg-
heitsmoment In berechnen. Wenn wir dann aufpjeder dieser Achsen in einem passend gewählten
Maßstab von A aus eine Strecke AP = r = 1/ In auftragen, so bilden die Endpunkte P dieser
Strecken eine Fläche, deren Gleichung mit den Koordinaten x, y, z des Punktes P
nx ny nz
x = r nx = p , y = r ny = p , z = r nz = p
In In In
4.6 Trägheitstensor
Die Trägheitsmomente und (negativen) Deviationsmomente bilden, in einer Matrix zusammen-
gefasst, den Trägheitstensor
Ixx −Ixy −Ixz
I1 0 0
I = 0 I2 0
0 0 I3
Für die Trägheitsmomente und Deviationsmomente bezüglich gedrehter Achsen n und m er-
gibt sich in Matrixschreibweise
2r
2r r r
73 4 Massengeometrie
Gegeben sei das Hohlprofil mit den Abmessungen (in mm) a = 50, b = 30, c = 40, d = 8,
h = 80. Man ermittle die Schwerpunktskoordinate e1 und die Flächenträgheitsmomente.
Schwerpunktkoordinate:
Da das Deviationsmoment wegen der Symmetrie verschwindet, gilt für die skizzierte El-
lipse J1 = Jy , J2 = Jx .
Diese Rechnung lässt sich auch umkehren: Sind die Hauptflächenträgheitsmomente Jx
und Jy einer Fläche bekannt, so lassen sich daraus die Parameter a und b jener Ellipse
ermitteln, die dieselben Trägheitsmomente wie die gegebene Fläche besitzt:
v v
u 3 u 3
4 4 t Jy 4 4u Jx
a = ; b = t .
π Jx π Jy
75 5 Grundgleichungen der Dynamik ([21])
P ∆V
a
V
r
0
Abb. 5.1. Dynamisches Grundgesetz
gehörige Volumen und erhalten so eine mittlere Kraftdichte oder Kraftintensität ∆F/∆V = f m .
Jetzt lassen wir das Volumen auf den Punkt P zusammenschrumpfen und setzen voraus, dass
dabei ∆F → 0 geht (also keine Einzelkraft im Punkt P angreift) und
∆F
lim =f (5.1)
∆V →0 ∆V
existiert, unabhängig von der Wahl des Volumens ∆V . Den Vektor f nennen wir die (örtliche)
Kraftdichte. Nun postulieren wir: In einem Inertialsystem sind Kraftdichte und Beschleunigung
proportional,
f = %a. (5.2)
Dies ist das Grundgesetz der Dynamik. Der Proportionalitätsfaktor % wird im allgemeinen orts-
und zeitabhängig sein, % = %(r, t); er soll aber nicht von f und a abhängen!
Wir betrachten sogleich einen Sonderfall, nämlich den rein translatorisch bewegten Körper.
Dann ist a für jeden Punkt gleich und aus Gl. (5.2) folgt durch Integration über das gesamte
5 Grundgleichungen der Dynamik ([21]) 76
In dieser Form wurde das dynamische Grundgesetz von Newton 1687 aufgestellt. Der Faktor
m heißt die Masse des Körpers und % die Massendichte (spezifische Masse).
Die Erfahrung (Fallversuch und Schwingungsversuch) zeigt, dass m eine dem Körper eigen-
tümliche, vom Bewegungszustand unabhängige Konstante ist. Für % trifft dies natürlich nicht
zu, da sich ja bei der Bewegung der Körper im allgemeinen deformiert und somit sein Volumen
ändert. Zur Bestimmung von m kann man von einer Bewegung ausgehen, bei der sowohl die
Kraft als auch die Beschleunigung leicht gemessen werden können. Eine solche Bewegung ist
z. B. der freie Fall (im Vakuum). Die wirksame Kraft ist hier das Gewicht G des Körpers. Die
Messungen zeigen, dass die an verschiedenen Körpern am gleichen Ort hervorgerufenen Fall-
beschleunigungen alle gleich groß sind (alle Körper fallen gleich schnell), mit anderen Worten,
dass das Gewicht eines Körpers seiner Masse proportional ist:
G = mg.
Die Fallbeschleunigung9 g nimmt mit der geographischen Breite zu und mit der Höhe über
dem Meer ab. In Meereshöhe ist sie am Pol g = 9, 832 m/s2 , am Äquator g = 9, 780 m/s2 . Für
technische Rechnungen wird gewöhnlich g = 9, 81 m/s2 verwendet. Da die Masse eines Körpers
konstant ist, hängt sein Gewicht also vom Ort ab.
Wir wollen noch ein paar Bemerkungen zum Begriff Inertialsystem anschließen. In der Kine-
matik wurde häufig von Begriffen wie „raumfestes System“ und „bewegtes System“ Gebrauch
gemacht. Unter dem erstgenannten verstehen wir nun ein Inertialsystem, d.h. eines in dem das
Newtonsche Bewegungsgesetz
F = ma (5.3)
gültig ist. Ein System, das sich bezüglich eines Inertialsytems dreht, hat nicht diese Eigenschaft.
Man muss zu (5.3) Terme addieren, die die Wirkung der Drehung beschreiben. Andererseits
scheint ein System, das sich gleichförmig bezüglich eines „Raumsystems“ bewegt selbst ein
Inertialsystem zu sein. Wenn r 0 einen Radiusvektor vom Ursprung des zweiten Systems zu
einem gegebenen Punkt und r den entsprechenden Vektor im ersten System darstellen, vgl.
Abb. 5.2, dann scheint es offenbar zu sein, dass diese zwei Vektoren durch die Beziehung
r 0 = r − vt (5.4)
miteinander verknüpft sind. Da die Relativgeschwindigkeit konstant ist, lautet die zeitliche
Ableitung von (5.4)
ṙ 0 = ṙ − v (5.5)
Eine weitere Differentiation ergibt
a0 = a (5.6)
so dass die Beschleunigung in beiden Systemen gleich ist. Wenn das Newtonsche Gesetz (5.3)
in einem System gilt, sollte es auch in dem anderen gelten. Andererseits sagt die durch die
Gl. (5.4) und (5.6) dargestellte Transformation, die Galileische Transformation genannt wird,
dass die Lichtgeschwindigkeit in den zwei Systemen verschieden sein sollte. Nehmen wir an, im
Ursprung des ungestrichenen Systems befinde sich eine Lichtquelle, die sphärische Wellen aus-
sendet, die sich mit der Geschwindigkeit c fortpflanzen. Der Radiusvektor r sei der Ortsvektor
9
Da die Erde nur näherungsweise ein Inertialsystem darstellt, ist die „Fallbeschleunigung“ nicht identisch mit
der „Erdbeschleunigung“.
77 5 Grundgleichungen der Dynamik ([21])
r′
r
vt
eines Punktes auf einer gegebenen Wellenfläche. Dann ist die Geschwindigkeit des Punktes auf
der Wellenfläche im ungestrichenen System ṙ = cn. n ist ein Einheitsvektor längs r. Nach (5.4)
ist jedoch die entsprechende Wellengeschwindigkeit im gestrichenen System ṙ 0 = cn−v. In dem
System, das sich bezüglich der Lichtquelle bewegt, wird der Betrag der Wellengeschwindigkeit
im allgemeinen nicht gleich c sein; wegen der Richtungsabhängigkeit der Wellengeschwindig-
keit werden die Wellen nicht mehr sphärisch sein.
Eine große Anzahl von Untersuchungen, besonders die berühmten Experimente von Michel-
son und Morley, haben gezeigt, dass die Lichtgeschwindigkeit in allen Richtungen immer
gleich ist, und dass sie unabhängig von den relativen gleichförmigen Bewegungen des Beob-
achters, des übertragenden Mediums und der Lichtquelle ist. Die Galileische Transformation
kann deshalb nicht richtig sein und muss durch eine andere, die Lorentz-Transformation, er-
setzt werden, die die Lichtgeschwindigkeit in allen Systemen erhält. Einstein zeigte, dass eine
solche Transformation die Revision der gewohnten Begriffe von Zeit und Gleichzeitigkeit er-
fordert. Er ging noch weiter; aus der experimentellen Tatsache, dass die Lichtgeschwindigkeit
in allen Systemen konstant ist, verallgemeinerte er als grundlegendes Postulat, dass alle Er-
scheinungen der Physik in allen gleichförmig bewegten Systemen gleich erscheinen. Dieses sog.
Äquivalenzpostulat behauptet, dass es im Sinne einer physkalischen Messung unmöglich ist,
ein Koordinatensystem als wirklich „stationär“ oder „gleichförmig bewegt“ zu kennzeichnen;
man kann nur schließen, dass sich zwei Systeme relativ zueinander bewegen. Somit müssen
Messungen, die vollständig innerhalb eines gegebenen Systems gemacht werden, geeignet sein,
das System von allen anderen zu unterscheiden, die sich ihm gegenüber gleichförmig bewegen.
Das Äquivalenzpostulat fordert, dass alle phyiskalischen Gesetze für alle gleichförmig beweg-
ten Systeme in identischer Weise ausgedrückt werden müssen. Die Behauptung zum Beispiel,
dass die Lichtgeschwindigkeit überall c ist, bedeutet, dass eine Wellengleichung der Form
1 ∂2E
∇2 E − =0
c 2 ∂t 2
die Lichtfortpflanzung in allen Systemen beschreibt.
Wir haben gesehen, dass die Newtonschen Bewegungsgleichungen nur gegenüber einer Ga-
lileischen Transformation forminvariant sind, von der wir aber wissen, dass sie nicht richtig
ist. Es ist deshalb a priori außerordentlich wahrscheinlich, dass die Newtonschen Bewegungs-
gleichungen und vielleicht andere gemeinhin akzeptierte Gesetze der Physik gegenüber einer
korrekten Lorentz-Transformation ihre Form nicht beibehalten. Das Äquivalenzpostulat be-
hauptet, dass solche Gesetze ungenaue Darstellungen der experimentellen Erscheinungen sind
und auf geeignete Weise ihrer Form nach so verallgemeinert werden müssen, dass sie die richti-
gen Transformationseigenschaften haben. Natürlich müssen die Verallgemeinerungen so sein,
dass sie sich für Geschwindigkeiten, die viel kleiner als die des Lichtes sind, für die also die
Galileische Transformation näherungsweise richtig ist, auf die gewohnten Formen zurückzu-
führen lassen.
5 Grundgleichungen der Dynamik ([21]) 78
Das Programm der speziellen Relativitätstheorie ist deshalb ein zweifaches. Zuerst muss ei-
ne Transformation zwischen zwei gleichförmig bewegten Systemen gewonnen werden, die die
Lichtgeschwindigkeit erhält. Zweitens müssen die Gesetze der Physik bezüglich ihrer Transfor-
mationseigenschaften gegenüber dieser Lorentz-Transformation überprüft werden. Die Geset-
ze, deren Form nicht invariant ist, sind so zu verallgemeinern, dass sie dem Äquivalenzpostulat
genügen. Ein reichhaltiger experimenteller Nachweis wurde bisher für das physikalische Bild
erhalten, das sich aus diesem Programm ergibt, und letzten Endes ist das die einzige Rechtfer-
tigung, die für Einsteins grundlegende Annahmen notwendig ist.
Abschließend überlegen wir uns noch, was sich ändert, wenn wir die annähernd konstante
Drehung der Erde nicht vernachlässigen. In der klassischen Mechanik wird postuliert, dass
das zweite NEWTONsche Gesetz für ein Bezugssystem gilt, das im Zentrum der Sonne fixiert
ist und somit ein Inertialsystem gut approximiert. Terrestrische Messungen werden gewöhnlich
mit Bezug auf ein Koordinatensystem ausgeführt, das im Erdmittelpunkt festgelegt ist und sich
deshalb gleichförmig mit einer konstanten Winkelgeschwindigkeit ω relativ zum Inertialsystem
dreht. Für dieses nichtinertiale Bezugssystem können die Bewegungsgleichung für eine Masse
in der Form (5.3 geschrieben werden allerdings ist für a der Ausdruck (2.46) einzusetzen.
Dieser ergibt sich zu
a = ω × (ω × r) + 2ω × v r + ar = af + ac + ar .
a und ar sind die Teilchenbeschleunigungen in den beiden Systemen. Schließlich wird die
Bewegungsgleichung, die im Inertialsystem einfach
F = ma
lautet, durch die sich drehenden Koordinaten ausgedrückt und so in die Gleichung
F − 2mω × v r − mω × (ω × r) = mar
übergeführt. Einem Beobachter in dem sich drehenden System scheint es deshalb, als ob sich
das Teilchen unter dem Einfluss einer effektiven Kraft F eff bewegt
Die Bewegung des Körpers sei also auf ein kartesisches Koordinatensystem x, y, z bezogen,
das sich selbst beliebig bewegen kann, also nicht unbedingt ein Inertialsystem sein muss. Nun
greifen wir einen beliebigen Zeitpunkt t heraus und denken uns den Körper in Volumsele-
mente parallel zu den momentanen Koordinatenflächen zerlegt (Abb. 5.3). Auf jedes Element
wirken neben der Volumskraft dK noch an der Oberfläche die von den anschließenden Elemen-
ten ausgeübten Kräfte bzw. Spannungsvektoren σi , wobei der Index i die Normalenrichtung
des zugehörigen Flächenelementes angibt. Die auf gegenüberliegenden Flächen angreifenden
Spannungen erhalten dabei nach dem Reaktionsprinzip entgegengesetztes Vorzeichen und un-
terscheiden sich darüber hinaus noch ein wenig in Betrag und Richtung, da ja die zugehörigen
Flächenelemente in kleinen Abständen voneinander liegen. Wenn wir die σi (x, y, z) als stetige
und stetig differenzierbare Funktionen des Ortes voraussetzen, so können wir entwickeln10
∂σx
σx (x + dx) = σx (x) + dx + . . .
∂x
10
Die nicht angeschriebenen Glieder sind von höherer Ordnung in dx und fallen beim nachfolgenden Grenz-
übergang heraus.
79 5 Grundgleichungen der Dynamik ([21])
σz (z+dz)
− σx (x)
− σy (y) σy (y+dy)
dz
dx
nz
dy
σx (x+dx)
ny
nx − σz (z)
Abb. 5.3. Oberflächenkräfte am Volumselement
und erhalten damit nach Multiplikation mit den zugehörigen Flächen dy dz usw. die auf das
Volumselement wirkende resultierende Kraft dF:
k = dK/dV ist die örtliche Volumskraft pro Volumseinheit (beispielsweise das Gewicht k =
−γe z , mit γ als spezifischem Gewicht).
Das dynamische Grundgesetz (5.2) nimmt jetzt die Form an
a ist, daran sei nochmals erinnert, die von einem Inertialsystem gemessene Beschleunigung.
Der Vektorgleichung (5.8) entschprechen drei Komponentengleichungen. Bezeichnen wir die
Komponenten der Spannungsvektoren mit Doppelindizes, also
In Abb. 5.4 sind die positiven Komponenten auf den Flächen mit den Normalenvektoren e x ,
e y und e z eingetragen. Auf den gegenüberliegenden Flächen mit den Normalenvektoren −e x ,
5 Grundgleichungen der Dynamik ([21]) 80
σzz
σzy
σzx σyz
σxz
σyy
σxy σyx
z
σxx
A
y
x
Abb. 5.4. Spannungen
−e y , −e z haben die positiven Komponenten die entgegengesetzte Richtung. Die Symmetrie des
Spannungstensors, die im statischen Fall aus dem Momentengleichgewicht des differentiellen
Volumselementes folgte, muss nun im dynamischen Fall als Axiom, welches nach Boltzmann
benannt wird, eingeführt werden.
Zur Berechnung der 3 Komponenten des Verschiebungsfeldes u, v, w, der 6 Komponenten
des Verzerrungstensors εxx , . . . , εxz und der 6 Komponenten des Spannungstensors σxx , . . . , σxz ,
d. h. von 15 Unbekannten stehen uns vorläufig die drei Gleichungen (5.10) und die sechs Glei-
chungen (2.70) und (2.71) zur Verfügung. D. h. es fehlen noch 6 weitere Beziehungen. Diese
werden durch die Materialgleichungen geliefert.
Die Gleichungen (5.10) sind weitgehend frei von Voraussetzungen über Materialeigenschaften.
Das Ideal völliger Unabhängigkeit von Materialannahmen lässt sich nicht erreichen (Die „Bilanz-
gleichungen des universellen Kontinuums“ gibt es nicht, oder sie wären zu unhandlich.). In der
Kinematik werden bereits in bescheidenem Umfang Materialannahmen gemacht: Die Beschrän-
kung der Verschiebungen der materiellen Punkte auf reine Translationen bedeutet den Aus-
schluß polarer Materialien wie des Cosserat-Kontinuums oder mikromorpher Kontinua, deren
materielle Punkte starre Körper bzw. deformierbare Sub-Kontinua darstellen. Für die Klasse der
nichtpolaren Kontinua (Punktkontinua) sind die Bilanzgleichungen (5.10) allerdings universell.
Sie gelten für feste Körper, die unter der Wirkung äußerer Kräfte eine endliche Deformation er-
leiden, ebenso wie für Flüssigkeiten oder Gase (Fluide), die unter Schub unbegrenzt fließen. Da
verschiedene Materialien sich unter denselben äußeren Kraftfeldern unterschiedlich bewegen,
können die Bilanzgleichungen als Differential- oder Funktionalgleichungen zur Bestimmung
der Bewegung noch nicht ausreichen. Man kann sich auch durch Abzählen formal davon über-
zeugen, dass die Zahl der Gleichungen kleiner als die Zahl der gesuchten Funktionen ist; dieses
Kriterium ist aber weder notwendig noch hinreichend. Die fehlenden Gleichungen sind Material-
gleichungen (“constitutive equations”). Bei rein mechanischer Materialbeschreibung stellen sie
einen Zusammenhang zwischen den im Kontinuum wirkenden Spannungen und der Bewegung
des Kontinuums her. Beispiele für einen derartigen Zusammenhang sind das Hookesche Ge-
setz für elastische Festkörper und das Navier-Stokessche Reibungsspannungsgesetz für zähe
Fluide. Bei diesen Beispielen ist der Spannungstensor eine (linear-homogene, isotrope) Funk-
tion des Verzerrungstensors bzw. des Verzerrungsgeschwindigkeitstensors. Auf der höheren
81 5 Grundgleichungen der Dynamik ([21])
Elastisches Material. An elastischen Materialien lassen sich allgemeine Prinzipien der Materi-
altheorie gut plausibel machen. Wir definieren ein elastisches Material als ein solches, in dem
die (Cauchyschen) Spannungskomponenten σik (x, t) im Punkt x zur Zeit t nur von den Ele-
menten Fik (x, t) des Deformationsgradienten in diesem Punkt zu dieser Zeit abhängen
Diese Formulierung des Materialgesetzes setzt Homogenität des Materials voraus. Bei Inhomo-
genität müsste die Variable x auf der rechten Seite außer in den Fik auch noch explizit vorkom-
men. Außerdem ist Zeitunabhängigkeit der Materialeigenschaften (d. h. Homogenität bezüglich
der Zeit) vorausgesetzt, da andernfalls t auf der rechten Seite explizit als Argument auftauchen
müsste. Zur Vereinfachung schreiben wir (5.11) in symbolischer Form
Σ = f (F). (5.12)
f ist eine tensorwertige Funktion des tensorwertigen Arguments F in dem aus (5.11) ersichtli-
chen Sinn.
Stokessches Fluid. Fluide (tropfbare Flüssigkeiten und Gase) zeichnen sich dadurch aus, dass
der Spannungstensor im ruhenden Fluid kugelsymmetrisch ist. Daher zerlegt man den Span-
nungstensor in einem Fluid additiv wie folgt
Σ = −pE + S. (5.13)
Bei einem Gas versteht man unter p den thermodynamischen Druck, der über geeignete ther-
modynamische Zustandsgleichungen mit anderen Zustandsgrößen (Temperatur, Dichte) ver-
knüpft ist. Dann kann man allerdings nicht mehr zusätzlich über p dadurch verfügen, dass
man sp S = 0 fordert. In jedem Fall ist aber sp S = 0 im ruhenden Fluid. Hiernach ist es sinn-
voll, eine Klasse von Fluiden zu postulieren, bei denen S von Ḟ (2.73) abhängt, S = S(Ḟ), mit
S = 0 für Ḟ = 0.
Bevor wir uns ausführlicher mit dem Hookeschen Gesetz beschäftigen, wollen wir noch ganz
kurz einige weitere Werkstoffgesetze ansprechen. Hierzu verwenden wir eine einfache Darstel-
lung. Für alle folgenden ε, t Diagramme geben wir den folgenden Belastungsverlauf σ (t) vor.
σ
t
ta te
ε=σ/E E
σ t ε
ta te
ε σ
.
ε=σ/η
. η
oder τ=ηγ
.
σ t ε
ta te
η ε2
t t
σ ta te ta
Kriechen Relaxation
83 5 Grundgleichungen der Dynamik ([21])
E η
σ t
ta te
Hier lautet die Beziehung
σ = Eε + ηε̇.
Für einen gegebenen Spannungsverlauf σ (t) ist dies eine inhomogene lineare Differenti-
algleichung erster Ordnung für ε.
Poynting-Thomson Körper Die Materialgesetze von Kelvin und Maxwell können zB. auf fol-
gende Weise kombiniert werden:
E2
ε
ε1 ε2 σ
E1 η
Aus den Relationen
ε = ε1 + ε2 , σ = σ1 + σ2 ,
σ1 = E1 ε1 , σ1 = ηε̇2 ,
σ2 = E2 ε
F
ε
Reibung
5 Grundgleichungen der Dynamik ([21]) 84
F
Newtonsche Flüssigkeit
.
ε
Reibung
In Abb. 5.5 ist der Zusammenhang zwischen der Längsspannung und der Dehnung für einen
Zugstab aus Kohlenstoffstahl dargestellt. Ab der Proportionalitätsgrenze verhält sich das Mate-
rial nichtlinear; nach Überschreiten der Elastizitätsgrenze verformt sich das Material plastisch.
Für Spannungen, die größer als die Zugfestigkeit A sind, existiert keine stationäre Verformung.
Zur Ermittlung des Spannungs-Dehnungsdiagrammes von Abb. 5.5 führt man mit einem Pro-
σ
Zugfestigkeit A
Bruchfestigkeit
Y Streckgrenze
Elastizitätsgrenze
E
Proportionalitätsgrenze
P
bestab einen Zugversuch (oder einen Druckversuch) aus, indem man die Kraft F langsam bis
zum Bruch des Stabes erhöht und dabei die jeweilige Länge ` misst. Auf der Ordinate ist die
Spannung
F
σ = (A0 Ausgangsquerschnitt),
A0
auf der Abszisse die (Längs-) Dehnung
∆` ` − `0
ε= = (`0 Ausgangslänge)
`0 `0
85 5 Grundgleichungen der Dynamik ([21])
aufgetragen.
Wir diskutieren die σ -ε-Kurve von Baustahl für steigende (Zug-) Kraft F :
Von σ = 0 bis zu einem Wert σ = σP wächst die Dehnung ε proportional – linear – mit σ .
Der Index P kennzeichnet die Proportionalitätsgrenze.
Oberhalb σP wächst die Dehnung progressiv bis zum Punkt σE , der Elastizitätsgrenze. Bis
zu diesem Punkt wird die Kurve bei einer Verringerung von F „rückwärts“ durchlaufen, der
Probestab hat dann bei vollständiger Entlastung keine bleibenden Verformungen erlitten, er ist
„elastisch“.
Bei Belastungen über σE hinaus treten bleibende plastische Verformungen auf. An der obe-
ren Streckgrenze σY wächst die Dehnung sprungartig bei konstanter Last.
Oberhalb der Streckgrenze steigt die Kurve weiter an, kurz vor Erreichen eines Maximums
beginnt sich der Stab an einer Stelle merklich einzuschnüren, die auf den (festen) Ausgangs-
querschnitt A0 bezogene Spannung steigt noch etwas an – bis zur Zugfestigkeit σA – und fällt
dann auf den Punkt σB des Bruchs ab.
Die folgende Abb. 5.6 zeigt σ -ε-Linien für verschiedenartige Werkstoffe.
σ
a
b
Abb. 5.6. Spannungs-Dehnungs-Linien ver-
schiedener Werkstoffe:
a . . . hochfester Stahl
b . . . Baustahl
c d c . . . Grauguss
e d . . . Kupfer
e . . . Leder
ε
σ F
ε= oder σ = Eε mit σ = .
E A0
Das dreiachsige Hookesche Gesetz. Wir wollen annehmen, dass wir es mit homogenen und
isotropen Stoffen zu tun haben, d. h. mit solchen, die in jedem Punkt die gleichen physikalischen
Eigenschaften aufweisen, wobei diese Eigenschaften richtungsunabhängig sind. Mathematisch
ausgedrückt bedeutet Homogenität, dass alle Materialkenngrößen ki (x) = ki unabhängig vom
Ort sind. Die Bedingung der Isotropie ist beispielsweise gegeben, wenn man aus einem Material
eine kreisförmige Probe herausschneidet und die Materialeigenschaften von der Ausrichtung
der Scheibe in einem Druckversuch unabhängig sind. Holz beispielsweise, wie überhaupt Stoffe
mit Faser- oder Schichtstruktur, zeigt mehr oder minder stark ausgeprägte Anisotropie.
Das einfachste Spannungs-Verzerrungs-Gesetz ist der lineare Zusammenhang, das soge-
nannte Hookesche Gesetz11 . Werkstoffe, die diesem Gesetz gehorchen, nennt man vollkommen
elastisch. Es ist ein glücklicher Zufall, dass zu dieser Gruppe innerhalb gewisser Grenzen unsere
technisch wichtigsten Werkstoffe, die Metalle, gehören.
In Indexschreibweise ergibt sich aus (5.11) der lineare Zusammenhang zwischen Spannungs-
und Verzerrungstensor zu
σij = Cijk` εk` .
Cijk` ist ein Tensor 4. Stufe, dessen 21 Komponenten (wegen der Symmetrie) für einen ho-
mogenen isotropen Körper auf genau zwei reduziert werden können. Diese sind z. B., wie im
folgenden ausgeführt wird, Elastizitätsmodul E und Querdehnzahl µ oder die Lamé-Konstanten
λ (Gleitmodul) und G (Schubmodul).
Zur Formulierung des Hookeschen Gesetzes im dreidimensionalen Fall gehen wir nicht den
formalen Weg, sondern überlegen uns zuerst, dass in einem isotropen Körper Spannungs- und
Verzerrungshauptachsen zusammenfallen müssen. Denn in einem solchen Körper kann ein
reiner Zug oder Druck auf die Seitenflächen eines Rechtkants nur Änderungen der Seitenlängen,
aber keine Winkeländerungen bewirken. Weiters zeigt die Erfahrung, dass eine Zugspannung σ1
in der 1-Richtung eine Dehnung, in der 2- und 3-Richtung aber eine Zusammenziehung erzeugt.
Entsprechendes gilt für σ2 und σ3 . Wir setzen also an
1
ε1 = [σ1 − µ(σ2 + σ3 )],
E
1
ε2 = [σ2 − µ(σ3 + σ1 )], (5.14)
E
1
ε3 = [σ3 − µ(σ1 + σ2 )],
E
wobei E und µ Proportionalitätsfaktoren sind. Wenn wir nach den Spannungen auflösen, so
erhalten wir mit der neuen Konstanten
E
G= (5.15)
2(1 + µ)
µ
!
σ1 = 2G ε1 + e ,
1 − 2µ !
µ
σ2 = 2G ε2 + e , (5.16)
1 − 2µ !
µ
σ3 = 2G ε3 + e ,
1 − 2µ
wobei e = ε11 + ε22 + ε33 = εxx + εyy + εzz die erste Invariante des Verzerrungstensors ist,
analog zur ersten Invarianten I1 des Spannungstensors (3.16). Die Gln. (5.14) und (5.16) gelten
11
Robert Hooke veröffentlichte 1678 das Gesetz in seiner einfachsten Form als „Proportionalität zwischen
Kraft und Ausdehnung“.
87 5 Grundgleichungen der Dynamik ([21])
zunächst nur für die Hauptachsenrichtungen. Wir drehen nun das Koordinatensystem. Dabei
transformieren sich die Spannungen und die Verzerrungen (2.70) und (2.71) gemäß (3.10) zu
n ist dabei ein Einheitsvektor in Richtung x, m ein solcher in Richtung y. Setzen wir σ1 , σ2
und σ3 nach Gl. (5.16) in (5.17) ein, so folgt mit n21 + n22 + n23 = 1, n1 m1 + n2 m2 + n3 m3 = 0,
usw.
µ
!
σxx = 2G εxx + e , σxy = 2Gεxy ,
1 − 2µ !
µ
σyy = 2G εyy + e , σyz = 2Gεyz , (5.18)
1 − 2µ !
µ
σzz = 2G εzz + e , σzx = 2Gεzx .
1 − 2µ
Die Form des Hooke’schen Gesetzes mit den Lamé-Konstanten erhält man unmittelbar aus
(5.18) zu
σij = λeδij + 2Gεij
mit λ = 2Gµ/(1 − 2µ). E und µ sind mit G und λ durch
G(3λ + 2G) λ
E= , µ=
λ+G 2(λ + G)
verknüpft.
Zur Lösung eines Problems der Elastizitätstheorie stehen somit mit den Gleichungen (2.70),
(2.71), (5.10) und (5.18) 15 Gleichungen für die Unbekannten ui , σij und εij zur Verfügung.
Diese Gleichungen sind nichtlinear. Zusätzlich sind Form und Lage der Körperoberfläche, an
der die Randbedingungen angeschrieben werden müssen, wegen der unbekannten Deformation
noch unbekannt und ergeben sich erst mit der Lösung. Daher sind exakte Lösungen nur für
einfache Probleme bekannt und man ist i. a. auf numerische Lösungsverfahren angewiesen.
Der Index nach dem Beistrich bedeutet Differentiation nach der Koordinate. Es sind dies 15
skalare Gleichungen für die 15 Unbekannten εij , σij , ui i, j = x, y, z, die unter Beachtung
der entsprechenden Randbedingungen, die nun wegen der Voraussetzungen am unverformten
Körper angeschrieben werden können, und Anfangsbedingungen gelöst werden müssen.
Mit %dV = dm gilt für das Integral auf der linken Seite
d2 r d2 d2
Z Z Z Z
%adV = adm = dm = rdm = mr M = maM .
m dt dt 2 m dt 2
2
V m
m ist die Gesamtmasse des Körpers, aM die auf ein Inertialsystem bezogene Beschleunigung
des Massenmittelpunktes. Die Differentiation durfte mit der Integration vertauscht werden, da
m eine Konstante ist. Das erste Integral auf der rechten Seite von Gl. (5.21) ist die resultieren-
de Volumskraft. Das noch verbleibende Integral über die Spannungen lässt sich mit Hilfe des
Gaussschen Integralsatzes umformen.
Wir geben eine kurze Herleitung. Ausgehend von
Z Z
div bdV = b · ndO (5.22)
V O
betrachten wir nun eine skalare Größe g und nur die x-Komponente der Gleichung (5.22)
∂g
Z Z
dV = gnx dO.
V ∂x O
Nun ersetzen wir g der Reihe nach durch die Komponenten bx , by , bz des Vektors b:
∂bx
Z Z
dV = bx nx dO · e x
V ∂x O
∂by
Z Z
dV = by nx dO · e y
∂x
ZV ZO
∂bz
dV = bz nx dO · e z
V ∂x O
89 5 Grundgleichungen der Dynamik ([21])
n ist der nach außen gerichtete Normalenvektor am Flächenelement der Oberfläche O (Abb. 5.7).
Das Flächenintegral ist über die gesamte Körperoberfläche zu erstrecken, was durch das Zei-
σn 0
Hierbei wurde von Gl. (3.10) Gebrauch gemacht. Das entstandene Integral bedeutet aber die
Resultierende der auf den Körper wirkenden äußeren Oberflächenkräfte. Zusammen mit der
resultierenden Volumskraft ergibt sie die Resultierende R aller äußeren Kräfte. Somit folgt aus
(5.21)
maM = R.
Dies ist der
Satz 5.1 (Massenmittelpunktsatz). Die Massenmittelpunktsbeschleunigung ist proportional der
Resultierenden aller äußeren Kräfte.
Wenn wir noch mit im allgemeinen für technische Anwendungen vollkommen ausreichen-
der Genauigkeit (Ausnahme siehe die Bemerkungen in Kapitel 3.1) den Schwerpunkt mit dem
Massenmittelpunkt zusammenfallen lassen, so folgt schließlich
maS = R. (5.24)
Wir betrachten einen ausgedehnten Körper mit der Masse m(t) in Translationsbewegung (d.h.
wir gehen auf die Drehbewegung des Körpers nicht ein), dessen Masse sich durch Ausstoßen
von Masse verkleinert oder umgekehrt durch Einzug vergrößert. Ein Beispiel wäre eine Rakete.
Das kinetische Problem bei veränderlicher Masse wird so betrachtet, als ob der Masse m(t) auf
dem Wege kontinuierlicher, infinitesimaler plastischer Stöße Massenelemente dm0 hinzugefügt
werden, von denen jedes zum Zeitpunkt der Berührung eine neue Geschwindigkeit zusammen
mit der Masse annimmt, mit der es sich vereinigt.
Wir behandeln den Einzug und den Ausstoß von Masse getrennt.
m(t)
dm 0
v v0
Abb. 5.8. Der Massenmittelpunkt von m(t) bewegt sich mit der Geschwindigkeit v und dm0 mit v 0
1. Massenbilanz
Masse zum Zeitpunkt t: m(t) + dm0
Masse zum Zeitpunkt t + dt: m(t + dt)
Erhaltung der Masse liefert
2. Impulsbilanz
Impuls zum Zeitpunkt t: m(t)v(t) + dm0 v 0
Impuls zum Zeitpunkt t + dt: m(t + dt)v(t + dt)
Der Impulssatz lautet
dv dm dm dv dm
R=m + v− v0 = m − (v 0 − v) (5.28)
dt dt dt dt dt
1. Massenbilanz
Masse zum Zeitpunkt t: m(t)
Masse zum Zeitpunkt t + dt: m(t + dt) + dm0
Erhaltung der Masse liefert
2. Impulsbilanz
Impuls zum Zeitpunkt t: m(t)v(t)
Impuls zum Zeitpunkt t + dt: m(t + dt)v(t + dt) + dm0 v 0
Der Impulssatz lautet
dv dm dm0
m + v+ v 0 = R.
dt dt dt
Aus der Massenbilanz für dm0 eingesetzt, folgt wiederum Gleichung (5.28).
Das heißt, dass (5.28) sowohl für Ausstoß wie auch Einzug von Masse gültig ist. Wir führen
nun mit
u = v0 − v
Der Impulssatz für ein System mit veränderlicher Masse nimmt somit die Form
dv dm dm
m = (v 0 − v) +R=u +R (5.29)
dt dt dt
an.
Wir diskutieren die Terme in (5.29) für eine sich geradlinig bewegende Rakete. Da sich
die Masse der Rakete im Laufe der Zeit vermindert ist dm dt
< 0. u = v0 − v ist die
Strahlgeschwindigkeit, d.h. die Relativgeschwindigkeit des ausgestoßenen Gases gegen-
über der Rakete. Die Geschwindigkeit des ausgestoßenen Gases gegenüber dem Raum ist
v0 = v + u. Sie kann in die Richtung der Geschwindigkeit der Rakete v oder dagegen
zeigen. Dies hängt von der Größe und der Richtung von u ab. Der Term u dm dt
beschleu-
nigt die Rakete, wenn er positiv ist, d.h. wenn u in die entgegengesetzte Richtung zu v
zeigt. Wird das Gas in Flugrichtung ausgestoßen (v und u zeigen in die selbe Richtung)
vermindert es die Geschwindigkeit der Rakete (z.B. Bremsraketen bei Raumkapseln).
5 Grundgleichungen der Dynamik ([21]) 92
Gegeben: Ein Düsenflugzeug fliegt mit v = 1000 km/h. Die relative Strahlgeschwindigkeit
uS = 500 m/sec. Die Querschnittsfläche des Lufteinlasskanales ist A = 3 m2 . Der Brenn-
stoffverbrauch ist 3 kg/s. (%Luft = 1.25 kg/m3 ).
dv dm dm
m(t) = (v0 − v) =u
dt dt dt
v
µ = 3 kg/sec
u1 u2
1 2
Abb. 5.9. Ein- und austretende Gasmassen bei einem Strahltriebwerk
Querschnitt 1: v0 = 0, u = −v
dm dm
S = −v + (v0 − v)
dt 1 dt 2
dm
= %Av
dt 1
dm
= −(%Av + µ) = −(%Av + 3)
dt 2
S = −%Av 2 − (%Av + 3)u
1000 2 1000
= −1.25 · 3 · + 1.25 · 3 · + 3 500 ≈ 233.000N.
3.6 3.6
5.4 Drallsatz
Wir greifen wieder auf das dynamische Grundgesetz (5.8) zurück, kreuzen aber jetzt beide
Seiten der Gleichung mit dem auf den beliebigen Punkt A bezogenen Ortsvektor r (Abb. 5.10)
und integrieren über das Gesamtvolumen V :
P
a P
M
r
A aA
Nun gilt aber für ein beliebiges Vektorfeld b mittels partieller Integration und Anwendung des
Gaussschen Satzes
∂b ∂ ∂r
Z Z Z
r× dV = (r × b)dV − × bdV =
V ∂x IV ∂x Z V ∂x
= (r × b)nx dO − e x × bdV .
O V
Wegen Gl. (5.21) stellt das Oberflächenintegral das Moment der am Körper angreifenden Ober-
flächenkräfte um den Bezugspunkt A dar. Wir fassen es mit dem Moment der Volumskräfte
V r × kdV zu resultierenden Moment mA der äußeren Kräfte zusammen. Das noch verbleiben-
R
Es folgt schließlich
Z Z
r × adm = mA + [(σzy − σyz )e x + (σxz − σzx )e y + (σyx − σxy )e z ]dV . (5.30)
m V
Zufolge der Symmetrie des Spannungstensors (im dynamischen Fall muss die Symmetrie als
Axiom, benannt nach Boltzmann, gefordert werden) verschwindet das Volumsintegral und
Gl. (5.30) geht jetzt über in den
Satz 5.3 (Momentensatz). Das Moment der Massenbeschleunigung ist gleich dem Moment der
äußeren Kräfte Z
r P A × aP dm = mA (5.31)
m
Die Indizes wurden eingefügt, um eine eindeutige Festlegung der Größen zu gewährleisten
(Abb. 5.11). Die Beschleunigung ist natürlich wieder auf ein Inertialsystem zu beziehen.
Der Momentensatz lässt sich mit Einführung des Dralles d noch in etwas bequemere Form
schreiben. Wir definieren als Drall oder Impulsmoment eines Körpers um einen Punkt A die
Summe der Momente der Impulse v P A dm der Volumselemente
Z
dA = r P A × v P A dm. (5.32)
m
5 Grundgleichungen der Dynamik ([21]) 94
rPA P
A rPM
rMA M
rA rP
rM
Wegen der Konstanz der Masse und mit dr P A /dt = v P A = v P −v A , dv P A /dt = aP A = aP −aA
wird dann
ddA dr P A
Z Z Z
= × v P A dm + r P A × aP A dm = r P A × aP dm − mr MA × aA .
dt m dt m m
ḋA = mA (5.35)
95 5 Grundgleichungen der Dynamik ([21])
wobei die Kleinbuchstaben angeben, dass alle Größen auf das Inertialsystem k : (x, y, z) be-
zogen werden. Für die Berechnung der Drehbewegung des Körpers ist jedoch (5.35) nicht gut
geeignet. Wir zeigen dies durch Betrachtung des Dralles dA , der folgend definiert ist
Z
dA = (r P A × v P A )dm =
Zm (5.36)
= (r P A × (ω × r P A ))dm
m
wobei für die Geschwindigkeit v P A der Ausdruck (2.38) für den starren Körper verwendet wur-
de. Mithilfe der Hutabbildung lässt sich der Integralterm in (5.36) folgendermaßen umformen:
T
r P A × (ω × r P A ) = −r P A × (r P A × ω) = r̂ P A r̂ P A ω.
T
Da ω nicht von der Ortskoordinate abhängt, erhält man wegen I = r̂ P A r̂ P A dm
R
m
dA = Iω,
wobei
Ixx −Ixy
−Ixz
I = −Iyx Iyy −Iyz . (5.37)
−Izx −Izy Izz
Da die Koordinaten von P , gegeben durch r P A , mit der Zeit t veränderlich sind, sind auch die
Größen in (5.37) mit der Zeit veränderlich. Nur wenn wir ein Koordinatensystem K : (X, Y , Z)
verwenden, das fest mit dem Körper verbunden ist, sind die Abstände in den Integralen von
der Zeit unabhängig.
Die Transformation auf ein körperfestes System erfolgt dadurch, dass wir dA = BD, r P A =
BR, mA = BM, ω = BΩ in (5.35) und (5.36) einsetzen. Wir erhalten
(BD) · = BM
ḂD + BḊ = BM
weiters gilt:
ḂD = BΩ̂D = B(Ω × D).
Eingesetzt liefert dies:
BḊ + B(Ω × D) = BM
oder
Ḋ + Ω × D = M (5.38)
wobei M die Komponenten des äußeren Momentes im körperfesten Koordinatensystem sind.
Für den Drall erhalten wir jetzt aus (5.36)
Z
BD = (BR × (BΩ × BR))dm =
m
Z Z
= (BR × B(Ω × R))dm = B (R × (Ω × R))dm
m m
oder Z
D= (R × (Ω × R))dm.
m
IXX −IXY
−IXZ
I = −IY X IY Y −IY Z (5.39)
−IZX −IZY IZZ
I1 0 0
I = 0 I2 0 .
0 0 I3
D = I2 Ω2
I3 Ω3
und die Gleichungen (5.38) lauten
5.6 Beispiele
5.6.1 Abrollen einer Walze
y
m
ϕ a
x Ges.: 1. Bewegungsgleichungen
2. µ0 , sodass reines Rollen
garantiert wird.
α
Rollbedingung: ẋ = aϕ̇ daher nur 1 Freiheitsgrad
Kräfte an der Walze:
mg
N R
Schwerpunktsatz:
x-Richtung: mẍ = mg sin α − R
y-Richtung: 0 = −mg cos α + N
97 5 Grundgleichungen der Dynamik ([21])
Drallsatz: I ϕ̈ = Ra
1
Homogene Walze: I = ma2
2
Elimination von R liefert
m
mẍ = mg sin α − aϕ̈
2
3
mẍ = mg sin α
2
Reines Rollen ist garantiert, falls R < µ0 N
R ẍ 1
µ0 > = = tan α
N 2g cos α 3
5.6.2 Schwingerkette
Geg.: 3 Massen mi gleiten reibungsfrei auf der glatten Unterlage unter der Wirkung der Kräfte
Ki (t). Die Massen sind durch lineare Federn (Steifigkeit ci ) und Dämpfer (ki ) gekoppelt
Das System hat 3 Freiheitsgrade: die Verschiebungen der Massen xi (t). Wir zählen diese aus
jener Lage, für die alle Federn entspannt sind. Weiters erteilen wir der Kette eine Verschiebung
x3 (t) > x2 (t) > x1 (t).
Die Feder- und Dämpferkräfte ergeben sich zu
F1 = c1 x1 D1 = k1 ẋ1
F2 = c2 (x2 − x1 ) D2 = k2 (ẋ2 − ẋ1 )
F3 = c3 (x3 − x2 ) D3 = k3 (ẋ3 − ẋ2 )
m1 m2 m3
F2+D2 F3+D3
F1+D1 F2+D2 F3+D3
x1 x2 x3
m1 ẍ1 = F2 + D2 − F1 − D1 + K1 (t)
m2 ẍ2 = F3 + D3 − F2 − D2 + K2 (t)
m3 ẍ3 = −F3 − D3 + K3 (t).
5 Grundgleichungen der Dynamik ([21]) 98
Für die Fi und Di eingesetzt, ergibt sich ein gekoppeltes, lineares Differentialgleichungssystem
mit konstanten Koeffizienten und zeitabhängiger Erregung
Gegeben ist das Pendel nach Abb. 5.12, an dessen Aufhängepunkt, der sich in der Führung
reibungsfrei bewegen kann, in horizontaler Richtung die gegebene Kraft Fy angreift. Gesucht
sind die Bewegungsgleichungen. Aus Abb. 5.12 folgt sofort
y(t)
A Fy
z y
s P ℓ/2
Fx ϕ ℓ
S
x mg
Abb. 5.12. Pendel mit bewegtem Aufhängepunkt A
` `
r SA = cos ϕe x + sin ϕe y
2 2
` `
v SA = − ϕ̇ sin ϕe x + ϕ̇ cos ϕe y .
2 2
Aus (5.36) folgt
Z`
m`2
" #
dA = %F (cos2 ϕ + sin2 ϕ)ϕ̇s 2 ds e z = ϕ̇e z
0 3
aA = ÿe y .
m`2 ` `
ϕ̈ + m cos ϕÿ = −mg sin ϕ (5.41)
3 2 2
99 5 Grundgleichungen der Dynamik ([21])
oder
` 2
−m ϕ̇ cos ϕ + ϕ̈ sin ϕ = Fx + mg (5.42)
2
` 2 `
!
m ÿ − ϕ̇ sin ϕ + ϕ̈ cos ϕ = Fy . (5.43)
2 2
Die Kraft Fx ist die Reaktionskraft in der Führung und kann aus Gleichung (5.42) berechnet
werden, wenn y(t) und ϕ(t) aus (5.41) und (5.43) berechnet sind.
Wir betrachten ein elastisches, mathematisches Pendel der Masse m, Federsteifigkeit c und
ungedehnter Länge `0 . Als Freiheitsgrade wählen wir die Verdrehung ϕ aus der Vertikalen und
die Länge x des Pendels.
η
x
c,ℓ 0
ξ
ϕ
mg
Abb. 5.13. Ebenes Federpendel
a = BA = B(Ω × (Ω × R) + 2Ω × Ṙ + Ω̇ × R + R̈)
A = Ω × (Ω × R) + 2Ω × Ṙ + Ω̇ × R + R̈
cos ϕ − sin ϕ
!
B=
sin ϕ cos ϕ
!
0 −1
ḂB−1 = ϕ̇
1 0
x
R = 0
0
r = BR
ṙ = ḂR + BṘ
− sin ϕ − cos ϕ x cos ϕ − sin ϕ ẋ
! ! ! !
ṙ = ϕ̇ +
cos ϕ − sin ϕ 0 sin ϕ cos ϕ 0
−x ϕ̇ sin ϕ ẋ cos ϕ
! !
v = ṙ = +
x ϕ̇ cos ϕ ẋ sin ϕ
0 0 x 0 ẋ
+ϕ̈ 0 × 0 + 0
1 0 0
0 0 0 0 ẍ
2
= B ϕ̇ 0 × x + 2ϕ̇ ẋ + ϕ̈ x + 0
1 0 0 0 0
1 0 0 1
2
= B −x ϕ̇ 0 + 2ϕ̇ ẋ + x ϕ̈ 1 + ẍ 0
0 0 0 0
1 0 0 1
ma = f
1 cos ϕ
mA = F
oder
mA = BT f .
ẍ − x ϕ̇2 cos ϕ 1
mgL
I ϕ̈ = cos ϕ − γϕ
2
mit I = mL2 /3. Die Gleichgewichtslagen erhält man durch Nullsetzen der rechten Seite:
mgL
g(ϕ) := cos ϕ − γϕ = 0. (5.44)
2
3
1
Schnittpunkte der Geraden y1 = cos ϕ und
0
y2 = βϕ für verschiedene Werte von β.
−1
Für große Werte der dimensionslosen Steifig-
keit β = 2γ/(mgL) existiert nur ein Schnitt-
−2 punkt. Gefüllte Kreise (leere Quadrate) be-
zeichnen stabile (instabile) Gleichgewichtsla-
−3
−10 −5 0 5 10 gen. Die durch leere Kreise dargestellten Be-
ϕ rührungspunkte sind linear neutral stabil.
Die Linearisierung an einer Gleichgewichtslösung ϕ0 führt auf die lineare Gleichung
mgL
I ψ̈ = − sin ϕ0 + γ ψ = g 0 (ϕ0 )ψ.
2
Der Ansatz ψ(t) = eλt ψ0 liefert λ2 = g 0 (ϕ0 )/I. Somit treten für gp0 (ϕ0 ) < 0 rein komplexe
Eigenwerte und für g 0 (ϕ0 ) > 0 ein Paar reeller Eigenwerte λ1,2 = ± g 0 (ϕ0 )/I auf. Die Gleich-
gewichtslage ϕ0 ist also für g 0 (ϕ0 ) < 0 linear neutral stabil, und für g 0 (ϕ0 ) > 0 instabil.
1. Das skizzierte System setzt sich, aus der Ruhe losgelassen, in Bewegung. Masse m2 be-
wegt sich abwärts; Masse m1 ist eine homogene Scheibe mit konstanter Dicke. Die Berühr-
stelle zwischen Seil und Scheibe m1 ist stets schlupffrei.
5 Grundgleichungen der Dynamik ([21]) 102
2. Die Rolle ist wie skizziert sowohl am Zapfen von einem Faden umschlungen, als auch am
äußeren Umfang von einem weiteren Faden, der mit einer Feder der Steifigkeit c verbun-
den ist. Das Gebilde führt im Schwerefeld Vertikalschwingungen aus, deren Frequenz zu
berechnen ist. Die Feder ist in der gezeichneten Lage entspannt.
Ges.: Freiheitsgrade, R
r
Gleichgewichtslage,
m
Kreisfrequenz der Vertikalschwingung.
Lösung: Als Freiheitsgrad wird die Verschiebung x des Scheibenmittelpunkts aus der
gezeichneten Lage nach unten gewählt. Die Anwendung des Schwerpunkt- und Drallsatzes
liefert die Bewegungsgleichung
I (R + r )2
m + 2 ẍ + c x − mg = 0.
r r2
Im Gleichgewicht ergibt sich
mgr 2
x0 =
c(R + r )2
Für die Kreisfrequenz ergibt sich nach Division der Gleichung durch (m + I/r 2 )
c(r + R)2
ω2 =
mr 2 + I
3. Wir betrachten analog zum Beispiel der abrollenden Walze einen Keil mit der Masse m1 ,
der sich reibungsfrei auf der Unterlage bewegen kann und auf dem eine Masse m2 rei-
bungsfrei abrutscht. Gesucht sind die Beschleunigungen der beiden Massen.
Lösung: Wäre der Keil festgehalten (m1 = ∞) ergäbe sich für die Beschleunigung der
Masse m2 :
ξ̈ = g sin α.
103 5 Grundgleichungen der Dynamik ([21])
x2
x1
m2 g
y2 Ν
ξ Ν
m1 Abb. 5.14. Abrutschende Masse
α
α m2 auf Keil m1 .
Mit den Bezeichnungen von Abb. 5.14 lauten die Schwerpunktsätze der Massen
m1 x¨1 = −N sin α
m2 x¨2 = N sin α (5.45)
m2 y¨2 = m2 g − N cos α
Unter Verwendung der Koordinate ξ entlang des Keils ergeben sich die folgenden Bezie-
hungen zwischen den Koordinaten
x2 = x1 + ξ cos α
y2 = ξ sin α (5.46)
m2 ξ̈ sin α = m2 g − N cos α
m1 m2 cos α
m2 ξ̈ sin α = m2 g − cos α ξ̈
m1 + m2 sin α
Schließlich ergibt sich
m1
ξ̈(sin2 α + cos2 α) = g sin α
m1 + m2
Im Grenzübergang m1 → ∞ erhalten wir den eingangs ermittelten Wert.
4. Wir untersuchen die Dynamik der auf einem Keil abrollenden homogenen Walze Abb. 5.15.
Gesucht sind die Beschleuinigungen der beiden Massen.
x2
x1
r, m2 g
y2 R Ν R
ξ Ν
m1 Abb. 5.15. Homogene Walze, die
α
α auf einem Keil abrollt.
5 Grundgleichungen der Dynamik ([21]) 104
x2 = x1 + ξ cos α, (5.48a)
y2 = ξ sin α, (5.48b)
ξ̇ = r ω (5.48c)
m2 ξ̈
= R, (5.49a)
2
3
m2 ξ̈ sin α = −N cos α + m2 g. (5.49b)
2
Einsetzen von (5.48a) und (5.49a) in (5.47a) und (5.47b) liefert die beiden Gleichungen
3
m2 ẍ1 + ξ̈ cos α = N sin α, (5.50a)
2
1
m1 ẍ1 − m2 ξ̈ cos α = −N sin α, (5.50b)
2
aus denen wir durch Addition die gekoppelte Bewegungsgleichung
erhalten. Multiplikation von (5.49b) mit sin α und von (5.50a) mit cos α ergibt die zweite
Bewegungsgleichung
3
m2 ẍ1 cos α + ξ̈ = m2 g sin α. (5.52)
2
Aus den beiden linearen Gleichungen (5.51) und (5.52) lassen sich die gesuchten Beschleu-
nigungen ermitteln:
2
ξ̈ = g sin α und ẍ1 = 0.
3
Die Normalkraft N kann nachträglich z.B. aus (5.49b) bestimmt werden.
105 6 Stabilität
6 Stabilität
Der Begriff Stabilität ist von wesentlicher Bedeutung für den praktischen Nutzen einer Lösung
der Bewegungsgleichungen eines Systems.
mg
Um uns das klar zu machen, betrachten wir als mechanisches System ein ebenes, star-
res Pendel mit masseloser Stange (Abb. 6.1). Die Bewegungsgleichung folgt aus dem Drallsatz
(5.34). Der Drall ergibt sich zu
dA = m`2 ϕ̇e z .
Das Gewichtsmoment um den Aufhängepunkt ist (siehe Beispiel 5.6.3)
Weiters führen wir noch ein Dämpfungsmoment im Aufhängepunkt mD = −λϕ̇e z ein. Aus dem
Drallsatz ergibt sich dann
ϕ̈ + kϕ̇ + ω2 sin ϕ = 0, (6.1)
wobei k = λ/m`2 und ω2 = g/` ist.
Von großer Wichtigkeit ist nun festzuhalten, dass wir nicht ein System auf Stabilität un-
tersuchen, sondern immer nur bestimmte Lösungen (Zustände) der Bewegungsgleichungen des
Systems. Solche Lösungen können etwa stationäre Zustände (Gleichgewichtslagen), instationäre
Zustände (Schwingungen) sein. Für (6.1) können wir sofort zwei einfache aber wichtige statio-
näre Zustände angeben, nämlich die Gleichgewichtslagen. Sie sind durch Setzen von ϕ̈ = ϕ̇ = 0
in der Bewegungsgleichung definiert. Somit folgt aus (6.1)
sin ϕ = 0
ẋ = f (x) (6.3)
heißt stabil, falls für jedes ε > 0 ein δ(ε, t0 ) > 0 existiert, sodass für jede zum Zeitpunkt t0
benachbart startende Lösung x(t), ausgedrückt durch
folgt, dass
kx(t) − x 0 (t)k < ε
für alle t aus t0 ≤ t < ∞ (Abb. 6.2).
kx(t0 ) − x 0 (t0 )k bedeutet den euklidischen Abstand zwischen den beiden Lösungen x(t)
und x 0 (t).
x(t)
ε
x(t0 )
x0(t)
δ x 0(t0 )
Definition 6.2. Die Lösung x 0 (t) heißt asymptotisch stabil, wenn zusätzlich
gilt.
Verbal ausgedrückt bedeutet das, dass für eine stabile Bewegung für ein fix vorgegebenes
ε > 0 es immer ein δ > 0 geben muss, sodass für alle t > t0 der Abstand zwischen den beiden
Bewegungen nicht größer als ε wird. Existiert kein solches δ > 0, dann ist die Bewegung instabil.
Wir linearisieren die Pendelgleichung bezüglich der Lagen (i) ϕ0 = 0 und (ii) ϕ0 = π und
erhalten mit ϕ = ϕ0 + ψ
(i) ψ̈ + ω2 ψ = 0 und
107 6 Stabilität
(ii) ψ̈ − ω2 ψ = 0
Es ist offensichtlich, dass nur die Lösung (i) beschränkt ist, während (ii) nicht beschränkt bleibt.
Es bleibt noch die Frage zu beantworten, welchen Einfluß Dämpfung auf das gewonnene
Resultat besitzt. Die Pendelgleichung lautet dann
ϕ̈ + kϕ̇ + ω2 sin ϕ = 0
s 2 + ks + κω2 = 0.
Wir gehen von (6.3) aus und berechnen uns als erstes die Gleichgewichtslage x 0 . Diese ist durch
die Lösung von
f (x 0 ) = 0 (6.4)
gegeben. Wir führen nun lokale Koordinaten ξ bezüglich der Gleichgewichtslage x 0 durch
x = x 0 + ξ, (6.5)
(a) x 0 ist stabil, falls alle Eigenwerte der Matrix A (6.7) negative Realteile besitzen,
(b) x 0 ist instabil, falls ein Eigenwert von (6.7) einen positiven Realteil besizt.
6 Stabilität 108
(c) Ein kritischer Fall im Sinne von Ljapunov liegt vor, falls der Realteil von einem oder meh-
reren Eigenwerten Null ist, während die verbleibenden Eigenwerte alle negative Realteile
haben.
Bemerkenswert ist, dass dieses Theorem nicht nur für das lineare System, sondern für das
nichtlineare System gültig ist.
Wir können dies verbal folgend formulieren. Die Stabilitätsuntersuchung durch Linearisie-
rung liefert: Besitzt das bezüglich der untersuchten Lösung linearisierte System nur Eigenwerte
mit negativen Realteilen, dann ist die untersuchte Lösung asymptotisch stabil. Ist auch nur ein
Eigenwert positiv, ist die untersuchte Lösung instabil. Nach dem Satz von Ljapunov gilt dies
sogar auch für die Gleichgewichtslagen des nichtlinearen Systemes, das durch Linearisierung
bezüglich der Gleichgewichtslage untersucht wurde. Allerdings kann durch Linearisierung kei-
nerlei Hinweis darüber erhalten werden, wie groß die Störungen sein dürfen, dass die Stabilität
für das nichtlineare System erhalten bleibt.
Wir streichen nun die in den Störgrößen quadratischen Glieder und erhalten
I1 ν̇ = 0,
I2 λ̇ − (I3 − I1 )µΩ10 = 0,
I3 µ̇ − (I1 − I2 )λΩ10 = 0.
Aus der ersten Gleichung folgt ν = konst. Die Störbewegung um die 1-Achse bleibt beschränkt
und dauernd gleich dem Anfangswert ν(0). Aus der zweiten und dritten Gleichung folgt durch
Elimination von µ bzw. λ
2 2
(I1 − I2 )(I1 − I3 )Ω10 (I1 − I2 )(I1 − I3 )Ω10
λ̈ + λ = 0, µ̈ + µ = 0.
I2 I3 I2 I3
Setzen wir
2
(I1 − I2 )(I1 − I3 )Ω10
− = p2,
I2 I3
dann lauten die Lösungen dieser beiden Gleichungen
λ = A1 ept + A2 e−pt ,
µ = B1 ept + B2 e−pt ,
wobei die Konstanten A und B durch die Anfangswerte von µ und λ gegeben sind. Damit die
Störbewegung beschränkt bleibt, muss p rein imaginär, p 2 also negativ sein; für reelles p geht
stets eine der beiden Exponentialfunktionen mit wachsendem t gegen Unendlich. p 2 ist aber
genau dann negativ, wenn I1 entweder das größte oder das kleinste der drei Hauptträgheitsmo-
mente ist.
Zusammenfassend können wir also sagen: Die Drehung des momentenfreien Kreisels um
die Achse des größten und des kleinsten Hauptträgheitsmomentes ist stabil, die Drehung um
die Achse des mittleren Trägheitsmomentes ist instabil.
Allerdings haben wir hier einen kritischen Fall im Sinne von Liapunov, der einer nichtlinea-
ren Untersuchung bedarf, die das selbe Resultat liefert.
7 Verformung gerader Stäbe 110
R
M
Komponente von R in Richtung der Stabachse (also senkrecht zum Querschnitt) nennen wir Axi-
alkraft (auch Normalkraft oder Längskraft), die Komponente senkrecht zur Stabachse (also in
der Querschnittsebene) Querkraft. Die erste beansprucht den Stab (in dem betreffenden Quer-
schnitt) auf Zug oder Druck, die zweite auf Abscheren. Ebenso zerlegen wir den Momentenvek-
tor M in eine Komponente in Richtung der Stabachse, das Drehmoment oder Torsionsmoment,
und in eine Komponente senkrecht zur Stabachse, das Biegemoment. Die erste beansprucht
den Stab auf Verdrehung (Torsion), die zweite auf Biegung.
Nun hängt allerdings das Kräftepaar M (nicht die Resultierende R) von der Wahl des Be-
zugspunktes ab. Man wählt hierfür gewöhnlich den Querschnittsschwerpunkt S. So erhält man
das korrekte Biegemoment. Für die Ermittlung des Torsionsmomentes bei nichtsymmetrischen
Querschnitten, die wir hier nicht behandeln werden, muss anstelle des Schwerpunktes der
Schubmittelpunkt genommen werden ([21]).
Auf die Endflächen des Stabes wirken zwei entgegengesetzt gleiche Axialkräfte N (Abb. 7.2).
Wenn der Stab konstanten Querschnitt A besitzt, wird man annehmen dürfen, dass sich die
Aσx
N x N
u
ℓ
Abb. 7.3. Verschiebung u in
Abb. 7.2. Axial beanspruchter Stab x-Richtung
111 7 Verformung gerader Stäbe
Axialspannungen, zumindest in einiger Entfernung von den Stabenden, gleichmäßig über den
Querschnitt verteilen. Dann ist
N
σx = , (7.1)
A
während die übrigen Spannungen verschwinden. Die resultierende Axialkraft N muss durch
den Querschnittsschwerpunkt gehen, damit keine Biegebeanspruchung auftritt.
Wir gehen in drei Schritten, wie im Kapitel 5.2 ausgeführt, vor.
∂u
εx =
∂x
2. Das Materialgesetz (5.14) liefert den Zusammenhang zwischen Dehnung und Spannung
σx µσx
εx = , εy = εz = − .
E E
Aus diesen Gleichungen folgt für eine ruhenden Last die Verschiebung
Nx
u(x) = + u(0)
EA
und die Stabverlängerung
N`
∆` = u − u(0) = εx ` = . (7.2)
x=` EA
Ist N nicht konstant, sondern zeitabhängig, dann treten Beschleunigungen auf und σx ist nicht
mehr konstant über die Stablänge. Weitere Spannungen kommen hinzu und das Problem wird
sehr verwickelt. Um zu einer Näherungslösung zu gelangen, nehmen wir an, dass im Falle eines
nur schwach veränderlichen oder konstanten Querschnittes die Axialspannung σx zumindes-
tens in einiger Entfernung von den Stabenden gleichmäßig über die Querschnittsfläche verteilt
ist und dass die Stabquerschnitte eben bleiben. Somit können wir die Bewegungsgleichungen
nicht mit den Spannungen selbst, sondern mit deren Resultierender Aσx ansetzen (Abb. 7.3).
Damit ist die folgende einfache Herleitung für die Longitudinalschwingung des geraden Stabes
möglich.
Wie zuvor gehen wir in drei Schritten vor:
1. Formänderung
∂u
εx =
∂x
2. Materialgesetz
σx = Eεx
7 Verformung gerader Stäbe 112
u(x)
(σx A)(x+dx)
x
dx
Abb. 7.4. Spannungen am infinitesimalen Stabelement
3. Bewegungsgleichung
∂ 1 ∂2
(σx A)(x + dx) = (σx A) + (σx A)dx + (σx A)dx 2 + . . .
∂x 2 ∂x 2
∂ 1 ∂2
%dV ax = (σx A)dx + (σx A)dx 2 + . . . | : dx, lim
∂x 2 ∂x 2 dx→0
∂
%Aax = (σx A)
∂x
∂2u 2
2∂ u
= c , (7.3)
∂t 2 ∂x 2
wobei c = E/% die Wellenausbreitungsgeschwindigkeit ist.
p
Diese Gleichung ist eine eindimensionale Wellengleichung. Sie hat abhängig von den Rand-
bedingungen sowohl stehende als auch laufende Wellen als Lösung. Wir interessieren uns hier
nur für die laufenden Wellen.
Für die Lösung u(x, t) machen wir den Ansatz
ξ = x − ct
η = x + ct
u(x, t) in u(ξ, η). Zur Berechnung von (7.3) in den (ξ, η) Koordinaten berechnen wir zuerst die
Ableitungen
∂u ∂u ∂ξ ∂u ∂η ∂u ∂u
= + = −c +c ,
∂t ∂ξ ∂t ∂η ∂t ∂ξ ∂η
∂u ∂u ∂ξ ∂u ∂η ∂u ∂u
= + = + ,
∂x ∂ξ ∂x ∂η ∂x ∂ξ ∂η
∂2u ∂2u ∂2u ∂2u
= c 2 2 − 2c 2 + c2 2 ,
∂t 2 ∂ξ ∂ξ∂η ∂η
∂2u 2
∂ u 2
∂ u 2
∂ u
= +2 + .
∂x 2 ∂ξ 2 ∂ξ∂η ∂η2
113 7 Verformung gerader Stäbe
u
g(x)=g(x-c0)
g(x-c ∆t)
x
∆x
∂2u
4c 2 =0
∂ξ∂η
Zur Interpretation dieser Lösungen nehmen wir nun die Funktion g(x −ct) (Abb. 7.5). Für einen
festen Wert t, z. B. t = 0, ist dies eine Funktion von x und kann durch ihren Graphen dargestellt
werden.
Wir lassen nun das Zeitintervall ∆t verstreichen. Dann lautet das Argument von g : x −
c∆t. Die gezeichnete Funktion behält ihre Gestalt, wenn man sie um ∆x = c∆t nach rechts
verschiebt, denn dann ergäbe sich wiederum x −c∆t +∆x = x. Somit kann die Lösung g(x −ct)
als eine mit der Geschwindigkeit c nach rechts laufende Welle betrachtet werden. Genauso ist
h(x + ct) eine nach links laufende Welle.
Wichtig ist es, zwischen der Wellengeschwindigkeit c und der materiellen Geschwindigkeit
u̇ zu unterscheiden.
u̇ σx
u̇ = ch0 , σx = Eu0 = Eh0 = E , u̇ = c.
c E
Wir betrachten nun die Reflexion einer Welle an einem freien und einem festgehaltenen Staben-
de.
7 Verformung gerader Stäbe 114
c
σ2
σ1
σ1
σ2
σ2
σ1
Freies Ende
Am freien Ende (Abb. 7.8) gilt die Randbedingung, dass die Spannung gleich Null ist. Dies kann
fiktiv dadurch realisiert werden, dass z. B. einer nach rechts laufenden Druckwelle eine nach
links laufende Zugwelle gleichen Betrages so überlagert wird, dass sie sich am Rand auslöschen.
Somit liefert die Reflexion am freien Rand das Ergebnis, dass eine Druckwelle als Zugwelle und
umgekehrt reflektiert wird. Die Geschwindigkeit des Stabes beträgt daher nach der Reflexion
2u̇.
115 7 Verformung gerader Stäbe
Festgehaltenes Ende
Nun lautet die Randbedingung (Abb. 7.9), dass die Verschiebung bzw. die Geschwindigkeit
gleich Null ist. Fiktiv kann dies dadurch realisiert werden, dass einer nach rechts laufenden
Druckwelle eine nach links laufende Druckwelle gleichen Betrages überlagert wird. Dann ergibt
sich für den Rand u̇ = 0. D. h., an einem festen Rand wird eine Druckwelle als Druckwelle und
eine Zugwelle als Zugwelle reflektiert.
v1 v2=0
Abb. 7.10. Ein Stab mit Geschwindigkeit v1 stößt gegen einen gleichlangen ruhenden Stab
Wir betrachten die Situation von (Abb. 7.10). Aus Gründen der Stetigkeit muss die Geschwin-
v1 + v2
digkeit der Kontaktfläche = , denn dafür dass die beiden Flächen in Kontakt bleiben,
2
v1 − v2
müssen zwei Wellen loslaufen, die den Teilchen die relative Geschwindigkeit erteilen.
2
Es gilt dann
v1 − v2 v1 + v2 v1 − v2 v1 + v2
v1 − = , v2 + = ,
2 2 2 2
d. h., die Teilchen an der Trennfläche haben für beide Stäbe dieselbe Geschwindigkeit (Abb. 7.11).
Sind die beiden Stäbe verschieden lang, dann nimmt nach der Trennung der kürzere Stab
eine gleichförmige Endgeschwindigkeit an, während der längere Stab in einem schwingenden
Zustand verbleibt.
Neben Kräften sind auch Temperaturänderungen Ursache von Verformungen. Die Tempera-
tur hat in zweierlei Weise Einfluß. Erstens sind die Werkstoffkennwerte E, G und µ von der
7 Verformung gerader Stäbe 116
a) σ c v c
c c
v1 v1/2 0
-ℓ 0 ℓ x -ℓ 0 ℓ x
b) c σ c c v c
0 v1/2 v1
-ℓ 0 ℓ x -ℓ 0 ℓ x
Abb. 7.11. Spannungs- und Geschwindigkeitsverlauf während des Stoßvorgangs. a) Unmittelbar nach
dem Stoß breiten sich in den beiden Stäben nach außen laufende Druckwellen aus; die Geschwindigkeit
nach dem Durchlauf dieser Welle beträgt jeweils v1 /2. b) Nach der Reflexion der Druckwellen an den
freien Enden fällt die Geschwindigkeit des linken Stabes auf 0, während die des rechten Stabes auf v1
ansteigt. Sobald die reflektierte Welle die Kontaktstelle erreicht, trennen sich die beiden Stäbe und die
nächste Reflexion am nunmehr freien Ende bewirkt, dass die Spannungen in den Stäben verschwinden.
Temperatur abhängig. Dieser Effekt ist in einem verhältnismäßig großen, für jeden Werkstoff
verschiedenen Temperaturbereich vernachlässigbar. Z. B. ist E bei vielen Stählen bei 200◦ C nur
um etwa 5 % kleiner als bei 20◦ C. Zweitens verursachen Temperaturänderungen auch in Abwe-
senheit von Spannungen Verformungen. Bei homogenen und isotropen Werkstoffen sind die
Dehnungen in allen Richtungen gleich groß, und Scherungen sind nicht vorhanden. Das muss
aus Symmetriegründen so sein. Wenn nämlich z. B. Scherungen aufträten, dann wäre die Ver-
formung einer ursprünglich quadratischen Platte entweder nach Abb. 7.12 a oder b möglich, in
denen nur das Vorzeichen verschieden ist. Dieses Vorzeichen kann aber nicht durch die Tem-
(a) (b)
Abb. 7.12. Zur Begründung, warum bei Temperaturdehnungen eines allseitig freien Körpers keine Sche-
rungen auftreten
peraturänderung bestimmt sein, sondern nur durch die Anisotropie des Werkstoffes, die hier
aber ausgeschlossen wurde. Mit der Abwesenheit von Scherungen folgt, dass alle Achsen im
Körper Dehnungshauptachsen sind (den entsprechenden Fall, dass alle Achsen in einem Kör-
per Spannungshauptachsen sind, gibt es auch. Er liegt vor, wenn der Körper einem allseitig
gleichen Druck ausgesetzt ist).
Wie die Temperaturdehnung von der Temperaturänderung abhängt, wird experimentell an
einem Probestab festgestellt, auf den keine äußeren Kräfte wirken. Zwei Messmarken auf dem
Stab haben bei einer beliebig gewählten Ausgangstemperatur T0 den Abstand `. Die Verände-
rung ∆` des Abstandes wird als Funktion der Temperatur T gemessen. Man stellt fest, dass die
daraus bestimmte Temperaturdehnung
∆`
εT =
`
117 7 Verformung gerader Stäbe
bei den meisten Werkstoffen in einem weiten Temperaturbereich proportional zur Temperatur-
differenz T − T0 ist. Sie hängt nicht davon ab, wie die Temperatur als Funktion der Zeit von T0
auf den Wert T gebracht wird. Sie ist deshalb Null, wenn die Temperatur nach einer Änderung
wieder auf den Ausgangswert T0 eingestellt wird. Das gesuchte Stoffgesetz hat also die lineare
Form
εT = α(T − T0 ). (7.4)
Darin ist α eine Werkstoffkonstante (linearer Wärmeausdehnungskoeffizient), deren Größe sich
aus dem Versuch ergibt. Sie hat die physikalische Dimension [1/K]. Für Stahl ist α ≈ 11 · 10−6 /K.
Wenn ein Körper durch die gemeinsame Wirkung von Spannungen und Temperaturände-
rung verformt wird, dann sind seine Dehnungen ebenso groß, als würde man ihn einmal nur
den Spannungen und einmal nur der Temperaturänderung aussetzen und die dabei auftreten-
den Dehnungen addieren. Diese Superposition ist möglich, weil sowohl das Hookesche Gesetz
(5.18) als auch das Stoffgesetz (7.4) linear ist. Die Gesamtdehnungen bei gemeinsamer Wirkung
von Spannungen und Temperaturänderung sind also
1
εxx = [σxx − µ(σyy + σzz ] + α(T − T0 ), (7.5a)
E
1
εyy = [σyy − µ(σzz + σxx ] + α(T − T0 ), (7.5b)
E
1
εzz = [σzz − µ(σxx + σyy ] + α(T − T0 ), (7.5c)
E
σxy σyz σzx
εxy = , εyz = , εzx = (7.5d)
2G 2G 2G
Diese Gleichungen werden als Hookesches Gesetz bei Berücksichtigung von Temperaturdeh-
nungen bezeichnet. Sie sind nur in einem Temperaturbereich gültig, in dem E, µ und α als
temperaturunabhängig angesehen werden können.
Die anderen beiden Beziehungen der linearisierten E-Theorie, die Verzerrungs-Verschie-
bungsbeziehungen (5.19) und die Bewegungsgleichungen (5.20) bleiben ungeändert.
und um die Temperatur ∆T = T − T0 erwärmt wird. Gesucht ist die Beanspruchung bzw.
die Verformung des Stabes.
∂u
εxx = = 0
∂x
1
σxx + α∆T = 0
E
σxx = −Eα∆T
(b)
σxx = 0
∂u
εxx = α∆T , = α∆T
∂x
7 Verformung gerader Stäbe 118
(a)
(b)
(c)
c
ℓ
Abb. 7.13.
u(x) = α∆T x
u(`) = α∆T `
(c) Dieses System ist einfach statisch unbestimmt. Die Normalkraft kann nur aus einer
Verformungsbedingung berechnet werden.
1
εxx = σxx + α∆T
E
∂u 1N
= + α∆T
∂x EA
1N
u = + α∆T x + C u(0) = 0 : C = 0
EA
Es muss an der Schnittstelle Stab–Feder gelten:
uS + uF = 0
wobei
1N
uS = + α∆T `
EA
N
uF = .
c
Eingesetzt erhalten wir
1N −N
+ α∆T =
EA c`
−α∆T c`EA
N =
c` + EA
c = 0: N = 0
c = ∞: N = −α∆T EA
119 7 Verformung gerader Stäbe
Formänderung. Wir setzen voraus, dass ebene Querschnitte, die vor der Verformung senk-
recht auf die Stabachse standen, auch nach der Verformung eben bleiben und weiterhin senk-
recht auf die verformte Stabachse stehen. Dies ist die Bernoulli-Euler-Stabtheorie, bei der der
Einfluß der Schubspannung im Querschnitt auf die Verformung vernachlässigt wird. Sie liefert
die exakte Verformung unter einer Belastung nur durch Biegemomente. Bei einer Belastung
durch Querkräfte liefert sie für lange schlanke Stäbe eine ausreichend gute Übereinstimmung
mit dem Experiment. Unter der weiteren Voraussetzung, dass w(x) und ∂w/∂x klein sein sol-
len, erhalten wir nach Abb. 7.14 für die Axialverschiebung u und die Dehnung εx
∂w
u = −z
∂x
∂u ∂2w
εx = = −z
∂x ∂x 2
y
x,u
z,w
∂w
∂x
z
u = -z ∂ w
∂x
∂2w
Z Z
Mz = − yσx dA = E yzdA
A ∂x 2 A
Wir sehen, dass Mz = 0 falls die z-Achse Symmetrieachse des Querschnitts ist, denn dann ver-
schwindet das Flächendeviationsmoment. Ist dies nicht der Fall, dann ist Mz ≠ 0 und der Stab
biegt sich aus der (x − z) Ebene heraus (schiefe Biegung). Das Moment Mz verschwindet auch,
wenn die z-Achse keine Symmetrieachse des Querschnitts ist wohl aber die y-Achse eine Sym-
metrieachse des Querschnitts ist. Dann jedoch müssen die vernachlässigten Schubspannungen,
die i.a. nicht symmetrisch sein werden, berücksichtigt werden. Eine genauere Untersuchung
wird notwendig.
Wir setzen nun weiterhin einen bezüglich der z-Achse symmetrischen Querschnitt voraus.
Schließlich liefert das resultierende Schnittmoment um die y-Achse
∂2w ∂2w
Z Z
My = M = zσx dA = −E z2 dA = −EJ (7.6)
A ∂x 2 A ∂x 2
Abschließend sei noch bemerkt, dass wir aus dem Hookeschen Gesetz keine resultierende
Querkraft berechnen können, da durch unsere kinematische Annahme des Ebenbleibens des
Querschnittes keine Schubverformung auftritt. Allerdings müssen wir die Querkraft im nächs-
ten Abschnitt (Bewegungsgleichungen) zur Erfüllung der Gleichgewichtsbedingungen weiterhin
mitführen.
q
Q+ ∂ Q dx+...
∂x
M S M+ ∂ M dx+...
Q ∂x
ẅ
x
dx
Abb. 7.15.
∂2w ∂Q
%A dx = −Q + Q + dx + . . . + q dx
∂t 2 ∂x
∂Q ∂2w
= %A 2 − q.
∂x ∂t
Bei Vernachlässigung der Rotationsträgheit liefert der Drallsatz, der sich auf das Momenten-
gleichgewicht reduziert,
∂M
= Q.
∂x
121 7 Verformung gerader Stäbe
∂2 ∂2w ∂2w
!
EJ = q − %A . (7.7)
∂x 2 ∂x 2 ∂t 2
∂4w ∂2w EJ
c2 + =0 mit c2 = .
∂x 4 ∂t 2 %A
Die Berechnung der Durchbiegung im statischen Fall erfordert nur die Integration von Glei-
chung (7.6) unter Berücksichtigung der entsprechenden Randbedingungen.
Lagerung von Stäben und die zugehörigen kinematischen und dynamischen Randbedingun-
gen sind in Tab. 7.1 zusammengestellt.
Tabelle 7.1. Kinematische und dynamische Randbedingungen für verschiedene Lagerungen von Stäben
Kinematisch Dynamisch
w ∂w/∂x M Q
Freies Ende – – 0 0
Frei drehbar
0 – 0 –
gestütztes Ende
Eingespanntes Ende 0 0 – –
Masselose Federstütze,
– – 0 −cw
Federkonstante c
Masselose Federstütze,
– – 0 +cw
Federkonstante c
Federnde Einspannung, ∂w
0 – +γ –
Drehfederkonstante γ ∂x
Federnde Einspannung, ∂w
0 – −γ –
Drehfederkonstante γ ∂x
Innengelenk (Gerberträ-
stetig – 0 stetig
ger)
7 Verformung gerader Stäbe 122
x
f
ψ
ℓ
w F
Abb. 7.16. Kragbalken mit Endlast
Gesucht: Biegelinie w(x), insbesondere die Auslenkung f := w(`) und der Winkel ψ :=
ϕ(`) = w 0 (`).
7.2.3 Beispiel: Freie Schwingung eines beidseitig gelenkig gelagerten Trägers ohne Belas-
tung (q = 0)
Die Rand- bzw. Anfangsbedingungen, die zur vollständigen Formulierung des Schwingungspro-
blemes benötigt werden, lauten:
R. B.: w(0, t) = w(l, t) = 0
w 00 (0, t) = w 00 (l, t) = 0
(7.8)
A. B.: w(x, 0) = φ(x)
ẇ(x, 0) = ψ(x)
Wir versuchen einen Lösungsansatz in Form eines Produktes (Bernoullischer Ansatz)
w(x, t) = f (x)g(t)
und erhalten nach Einsetzen in (7.7) und Division durch f g
c 2 f (4) g̈
= − = ω2 .
f g
Der von f abhängige Ausdruck hängt nur von x, der von g abhängige nur von t ab. Beide
können daher nur dann für alle x und t gleich sein, wenn sie gleich einer Konstanten ω2 sind.
Wir erhalten somit die beiden gewöhnlichen Differentialgleichungen
g̈(t) + ω2 g(t) = 0
(7.9)
f IV (x) − γ 4 f (x) = 0
123 7 Verformung gerader Stäbe
wobei γ 2 = ω
c
ist.
Die allgemeine Lösung von (7.9) lautet
B+D = 0
γ 2 (−B + D) = 0
(7.11)
A sin γ` + B cos γ` + C sinh γ` + D cosh γ` = 0
2
γ (−A sin γ` − B cos γ` + C sinh γ` + D cosh γ`) = 0
zur Berechnung von A, B, C, D. Aus den ersten beiden Gleichungen folgt sofort
B = D = 0.
Somit bleibt
A sin γ` + C sinh γ` = 0
(7.12)
−A sin γ` + C sinh γ` = 0.
Für eine nichttriviale Lösung muss die Koeffizientendeterminante verschwinden. D. h.
(7.13) heißt Frequenzgleichung. Da ` ≠ 0, wäre eine Lösung γ = 0. Aber diese Lösung schließen
wir aus, da aus ihr ω = 0 folgt. Nach (7.10) würde dies bedeuten, dass g(t) nicht von der Zeit
t abhängig wäre. D. h. der Stab ist in Ruhe.
Da sinh γ` nur für γ` = 0 verschwindet, werden die Lösungen der Frequenzgleichung mit
γ` ≠ 0 durch
sin γ` = 0
geliefert und wir erhalten die Eigenwerte γn aus
γn ` = nπ n = 1, 2, . . .
oder
nπ
γn = .
`
Zu den Eigenwerten γn folgen die Eigenfrequenzen
EJ nπ 2
s
2
ωn = cγn = . (7.14)
%F `
Wir setzen nun die Eigenwerte γn in die Gleichung (7.12) ein. Dies liefert
A sin γn ` + C sinh γn ` = 0
und es ist klar, dass auch C = 0 sein muss, sonst ist die Gleichung nicht erfüllt. Somit erhalten
wir
nπ x
fn (x) = An sin
`
als Eigenfunktionen, Eigenschwingungsformen oder Eigenmoden zur zugehörigen Eigenfre-
quenz ωn . Eine mögliche Lösung mit der Frequenz ωn ist
7 Verformung gerader Stäbe 124
πx EJ π2
C1 sin ω1 =
ℓ ρF ℓ 2
2πx EJ 4 π2
C2 sin ω2 =
ℓ ρF ℓ2
3πx EJ 9 π2
C3 sin ω3 =
ℓ ρF ℓ 2
nπ x
wn (x, t) = sin (Rn cos ωn t + Sn sin ωn t), (7.15)
`
wobei An in den Konstanten Rn und Sn enthalten ist. Anstelle von (7.15) können wir auch
nπ x
wn (x, t) = sin (Cn cos(ωn t − αn ))
`
nπ x
= sin Cn (cos αn cos ωn t + sin αn sin ωn t)
`
nπ x
= sin (Rn cos ωn t + Sn sin ωn t)
`
schreiben, wobei
q
Cn = Rn
2 + S2
n
Sn
αn = arctan .
Rn
Man könnte daher sagen, dass die Bewegung des Balkens im n-ten Mode eine Schwingung mit
der Frequenz ωn und der räumlichen Struktur fn zwischen den entsprechenden Extremwerten
der Amplituden darstellt.
Die allgemeine Schwingung des Balkens ist eine Überlagerung all dieser Moden, wobei jeder
die entsprechenden Werte Cn und αn (oder Rn und Sn ) besitzt. D. h.
∞
X nπ x
w(x, t) = sin (Cn cos(ωn t − αn )) oder
n=1
`
∞ (7.16)
X nπ x
w(x, t) = sin (Rn cos ωn t + Sn sin ωn t).
n=1
`
125 7 Verformung gerader Stäbe
Die unendlich vielen Konstanten Cn und αn oder Rn und Sn müssen so festgelegt werden, dass
die Anfangsbedingungen erfüllt werden, d. h.
w(x, 0) = φ(x)
∂w
(x, 0) = ψ(x).
∂t
Setzen wir in (7.16) ein, erhalten wir
∞
X nπ x
φ(x) = sin (Rn )
n=1
`
∞ (7.17)
nπ xX
ψ(x) = sin (ωn Sn ).
n=1
`
Für die Berechnung der unendlich vielen Konstanten Rn und Sn aus (7.17) überlegen wir uns
das endlich dimensionale Analogon nach Abb. 7.18.
r = r1 e 1 + r2 e 2 + r3 e 3 . (7.18)
Zur Berechnung von r1 , r2 , r3 multiplizieren wir (7.18) der Reihe nach mit e 1 , e 2 , e 3 . Z. B. erhalten
wir
r · e 1 = r1 , usw.
Ganz analog erfolgt dies im unendlich dimensionalen Fall dadurch, dass wir jede Gleichung mit
sin(mπ x/`) multiplizieren und von 0 bis ` integrieren. Mit der Beziehung
e3
r3
r
r2 e2
r1 e1
Abb. 7.18. Orthogonale Zerlegung eines Vektors
Z`
nπ x mπ x `
sin sin dx = δmn
0 ` ` 2
wobei δmn das Kroneckersymbol ist, erhalten wir
Z`
2 mπ x
Rm = φ(x) sin dx
` 0 Z ` (7.19)
`
2 mπ x
Sm = ψ(x) sin dx.
ωm ` 0 `
Somit ist das Anfangs-Randwertproblem vollständig gelöst und die Balkenschwingung setzt
sich aus jenen Eigenmoden zusammen, die durch die Anfangsbedingungen angeregt wurden.
Allgemein kann man sagen, dass ein kontinuierliches System abzählbar unendlich viele Ei-
genfrequenzen besitzt.
Abhängig von den Randbedingungen ergeben sich für verschiedene Lagerungen des Bal-
kens verschiedene Frequenzgleichungen. Diese sind in Tabelle 7.2 mit ihren Wurzeln für einige
wichtige Lagerungsarten dargestellt.
7 Verformung gerader Stäbe 126
Tabelle 7.2. Frequenzgleichungen und ihre Wurzeln für verschiedene Lagerungsarten. Für n ≥ 4 kann
die in der letzten Zeile angegebene asymptotische Formel verwendet werden.
EJ
q
ω = γ2 %F
Frequenzgleichung n γn l
Beiderseits 1 4.730
frei oder 1 − cos γl cosh γl = 0 2 7.853
beiderseits 3 10.996
eingespannt n (2n + 1)π /2
1 π
Beiderseits sin γl = 0 2 2π
frei drehbar 3 3π
n nπ
Ein Ende 1 1.875
eingespannt 1 + cos γl cosh γl = 0 2 4.694
das andere 3 7.855
frei n (2n − 1)π /2
Ein Ende 1 3.927
eingespannt tan γl = tanh γl 2 7.069
das andere 3 10.210
frei drehbar n (4n + 1)π /4
x
MT ℓ MT
Abb. 7.19. Stab unter Einwirkung eines Torsionsmomentes
Dabei beschränken wir uns auf Stäbe mit Kreis- oder Kreisringquerschnitten, weil die Tor-
sion von Stäben mit allgemeineren Querschnittsformen einen erheblich umfangreicheren Auf-
wand an mechanischen und mathematischen Überlegungen erfordert.
Die folgende Aufgabenstellung ist für Torsionsbeanspruchung typisch:
Gegeben ist ein zylindrischer Torsionsstab vom Radius R, der Länge `, den Konstanten E und
G zur Beschreibung der elastischen Eigenschaften, vgl. Abb. 7.19. (Statt M schreibt man
auch MT , wenn Verwechslungsmöglichkeiten mit dem Biegemoment bestehen.)
ϕ
A
γ ∆ϕ
A A’
r x
∆r
∆x
Abb. 7.20. Herausgeschnittener Hohlzylinder
Verformungen
Eine im unbelasteten Element zur Achse parallele Mantellinie A – A geht bei Belastung in die
Linie A – A0 über. Ferner bleiben alle auf einem Strahl durch die Mittelachse liegenden Punkte
eines Quer-Schnittes aus Symmetriegründen auch bei Belastung auf einem Strahl, der Winkel ϕ
ist also unabhängig von r . Aus der Skizze liest man ab
∆ϕr = γ∆x.
Daraus folgt
dϕ
γ = γ(r ) = r = r ϕ0 .
dx
Der Winkel ϕ = ϕ(x) ist der (Ver-) Drehwinkel, seine Ableitung ϕ0 = dϕ/dx nennt man
Drillung.
Schubspannungen
Ein an der Mantellinie liegendes, ursprünglich rechteckiges Element des Hohlzylinders ist nach
der Belastung um den Winkel γ verschoben, Abb. 7.21.
τ γ
τ
τ
A A’ A
τ A’
a b
Abb. 7.21. Verformung eines Elementes des Hohlzylinders
τ = Gγ = Gr ϕ0 .
Gleichgewicht
Das Stabelement nach Abb. 7.22 zeigt am negativen Schnittufer die Schubspannungen – ge-
zeichnet sind sie nur für ein Flächenelement ∆A im Abstand r von der Stabachse – und am
7 Verformung gerader Stäbe 128
r τ M
∆r R
A
Abb. 7.22. Momentengleichgewicht am Torsionsstab
positiven Schnittufer das (Dreh-) Moment M. Die Bedingung für das Momentengleichgewicht
um die x-Achse liefert Z
M= r τdA.
A
Der Integralausdruck ist das in Abschnitt 3 eingeführte polare Flächenmoment zweiten Grades
Z
Jp = r 2 dA.
A
Man erhält für die Drillung eines Stabes mit dem Flächenmoment Jp und dem Schubmodul G
infolge des Momentes M den Ausdruck
M
ϕ0 = . (7.20)
GJp
Die Drillung ist umso kleiner, je größer das Produkt GJp ist, deshalb heißt GJp Drillsteifigkeit.
R Ra
a b Ri
Abb. 7.23. Voll- und Hohlzylinder
Die polaren Flächenmomente von kreis- und kreisringförmigen Querschnitten, vgl. Abb. 7.23,
ergeben sich zu
π 4 π 4
Jp = R = d für Vollzylinder,
2 32
π π
Jp = (Ra4 − Ri4 ) = (Da4 − Di4 ) für Hohlzylinder.
2 32
Hinweis 1: Obige Überlegungen lassen sich nicht auf Stäbe mit anderen als kreisförmigen Quer-
schnitten übertragen. Allerdings gilt auch für sie eine Beziehung ϕ0 = M/(GJT ). Dabei ist der
Torsionssteifigkeit GJT das JT eine Rechengröße von der Dimension eines Flächenmomentes
zweiten Grades, und nur für Kreisquerschnitte gilt JT = Jp .
129 7 Verformung gerader Stäbe
Schubspannungsverlauf
τ (r)
Ra
Sie nimmt außen, bei r = Ra , den Größtwert τmax an. Mit dem Torsions-Widerstandsmoment
Jp
Wp :=
Ra
erhält man
M MRa
τmax = = .
Wp Jp
Hinweis 2: Bei anderen als kreisförmigen Querschnitten sind die Schubspannungen im allge-
meinen nicht linear über dem Querschnitt verteilt und haben ihre Extrema auch nicht an den
Punkten mit der größten Entfernung vom Querschnittszentrum.
7.3.2 Differentialgleichung für Torsionsschwingungen des Stabes mit Kreis- oder Kreis-
ringquerschnitt
Wir können die Gleichung für die Drehschwingungen von Stäben mit kreisförmigen oder kreis-
ringförmigen Querschnitt auch für über die Stabachse veränderlichem Querschnitt aufstellen,
indem wir den Drallsatz bezüglich der Stabachse (siehe Abb. 7.25) auf ein Stabelement von der
Länge dx anwendet. Mit dem Drall %Jp (∂ϕ/∂t)dx und der Differenz zwischen den links und
rechts am Element angreifenden Drehmomenten folgt
∂2ϕ
%Jp dx = MT (x + dx) − MT (x)
∂t 2
∂2ϕ ∂MT
%Jp 2 dx = MT (x) + dx + O(dx 2 ) − MT (x).
∂t ∂x
∂ϕ
Division durch dx und Grenzübergang dx → 0 liefert, wenn wir für MT = GJp ∂x setzen
∂2ϕ ∂MT ∂ ∂ϕ
%Jp 2 = = GJp . (7.21)
∂t ∂x ∂x ∂x
Jp ist das polare Trägheitsmoment des Stabquerschnittes um die Drehachse. Hat der Stab kon-
stanten Querschnitt, so vereinfacht sich Gl. (7.21) mit c 2 = GJp /%Jp = G/% zu
∂2ϕ 2
2∂ ϕ
= c . (7.22)
∂t 2 ∂x 2
Man beachte die mathematische Identität dieser Gleichung mit der Gleichung für die Longitu-
dinalschwingungen des Stabes.
7 Verformung gerader Stäbe 130
MT (x)
MT (x+dx)
x dx
Abb. 7.25. Differentielles Stabelement belastet mit Torsionsmomenten
Eine Welle mit Kreisquerschnitt ist an einem Ende eingespannt und trägt am anderen Ende eine
starre Schwungscheibe (Abb. 7.26). Das System führt freie Drehschwingungen aus.
x l
IS
Für die Welle gilt die Bewegungsgleichungen (7.22). Wir setzen ihre Lösung in Form eines
Produktes an,
ϕ(x, t) = X(x) cos(ωt − ε)
Somit ist
X = A sin λx + B cos λx.
Die Konstanten A und B sind so zu bestimmen, dass die Randbedingungen erfüllt werden.
Diese lauten hier mit dem Drallsatz Gl. (5.34) und (7.20)
ϕ = 0 in x = 0,
2
∂ ϕ
−IS = MT = GJp ϕ0 in x = l.
∂t 2
IS ist das Massenträgheitsmoment der Scheibe um ihre Achse und MT das von der Scheibe auf
die Welle ausgeübte Drehmoment. Aus der ersten Bedingung folgt B = 0, während die zweite
die Frequenzgleichung
IW
λl tan λl =
IS
zur Bestimmung der unendlich vieler Eigenwerte λ bzw. der entsprechenden Eigenfrequenzen
ω liefert. IW = %lJp ist das Massenträgheitsmoment der Welle.
131 7 Verformung gerader Stäbe
7.4 Knickung
Wenn man einen Stab auf Zug beansprucht, erhält man einen eindeutigen Zusammenhang zwi-
schen äußerer Last und Stabverlängerung. Dabei sind die Verformungen so klein, dass man die
Gleichgewichtsbedingungen am unverformten System aufstellen darf. Beim Druckstab braucht
dagegen der Zusammenhang zwischen Last und Verformung nicht eindeutig zu sein. Ab be-
stimmten Drucklasten treten weitere Gleichgewichtslagen auf, die mit seitlichen Ausbiegungen
verbunden sind. Diese Erscheinung, die besonders bei schlanken Stäben zu beobachten ist,
heißt Knicken. Wir wollen im folgenden die zugehörigen Knicklasten berechnen. Dabei muss
man die Gleichgewichtsbedingungen nun am verformten System aufstellen.
Zur Vorbereitung für die Behandlung des Knickstabes wollen wir zunächst den ebenen Fall ei-
nes starren Stabes mit elastischer Lagerung unter axialer richtungstreuer Drucklast betrachten.
Für dieses Problem ist bekannt, dass es unter gewissen Bedingungen bei gleicher Last mehrere
Gleichgewichtslagen gibt. Wir betrachten jetzt einen starren Stab unter einer Last F , der im
F F
F F
instabil
ϕ
ℓ Fkrit
stabil
ϕ
stabil
MT
ϕ
a b c d
Abb. 7.27. Starrer Stab belastet mit F und gehalten durch eine Drehfeder, die das rückdrehende Moment
MT (ϕ) liefert
Lager durch eine elastische Drehfeder, die das rückdrehende Moment MT liefert, gehalten wird
(Abb. 7.27 a). Dabei sei vorausgesetzt, dass die vertikale Last bei einer seitlichen Auslenkung
vertikal bleibt (Kraft ist richtungstreu). Wir wollen die Gleichgewichtslagen ermitteln.
Dazu bilden wir das Momentengleichgewicht um den Drehpunkt. Dieses liefert
− F ` sin ϕ + MT = 0. (7.23)
Für eine lineare Drehfeder erhalten wir MT = γ1 ϕ. Dann ist (7.23) für ϕ = 0 erfüllt. D. h. unab-
hängig von den Parametern F , ` und γ1 erhalten wir als erste Gleichgewichtslage die senkrechte
Lage
ϕ1 = 0. (7.24)
Eine zweite Gleichgewichtslage folgt nach (7.23) aus der Bedingung
ϕ2 F`
= . (7.25)
sin ϕ2 γ1
Für ϕ2 ≠ 0 ist ϕ2 / sin ϕ2 > 1. Eine ausgelenkte Lage ϕ2 kann daher nur für F `/γ1 > 1 auftre-
ten. Für F `/γ1 = 1 wird sin ϕ2 = ϕ2 = 0, d. h. beide Gleichgewichtslagen gehen dann ineinander
über.
7 Verformung gerader Stäbe 132
7.4.2 Nachbeulverhalten
Für den Fall, dass das System nach Stabilitätsverlust eine benachbarte Gleichgewichtslage be-
sitzt, können wir auch das Systemverhalten über den kritischen Wert hinaus berechnen. Für
unser Modellproblem folgt aus dem Momentengleichgewicht die Beziehung
Zuerst untersuchen wir für die linearen Felder MT (ϕ) = γ1 ϕ, ob neben ϕ = 0 weitere Lösungen
der Gleichung
γ1 ϕ = F ` sin ϕ
existieren. Dies ist offensichtlich nur dann der Fall, wenn F ` > γ1 , denn nur dann schneidet die
Gerade γ1 ϕ den Sinus in zwei weiteren benachbarten Punkten.
Aus (7.26) können wir nun aber mehr als nur die Stabilitätsgrenze, die aus der linearisierten
Betrachtung folgt, herausholen. Insbesondere interessiert uns ja das Verhalten des Stabes für
Werte ϕ ≠ 0, d. h. beispielsweise, ob das System über den Wert F = Fk hinaus belastbar ist. Als
Lösungen suchen wir daher eine Funktion F (ϕ), für die wir einen Reihenansatz
F (ϕ) = Fk + F1 ϕ + F2 ϕ2 + . . . (7.27)
mit vorerst unbestimmten Koeffizienten Fk , F1 , F2 , . . . machen. Wir setzen nun (7.27) in (7.26)
ein, entwickeln sin ϕ ebenfalls in seine Potenzreihe um den Nullpunkt und erhalten
ϕ3
!
2
(Fk + F1 ϕ + F2 ϕ + . . .)` ϕ − + . . . = γ1 ϕ + γ2 ϕ 2 + γ3 ϕ 3 + . . . (7.28)
6
Wir sind somit in der Lage, die Lösung für F (ϕ) mit beliebiger Genauigkeit anzugeben. Für
kleine Auslenkungen ϕ entscheiden die niedersten, nicht verschwindenden Terme in (7.27)
über das Verhalten des Stabes nach Stabilitätsverlust der Gleichgewichtslage ϕ = 0.
Aus (7.29) folgt der bereits erhaltene Wert für die kritische Belastung Fk , für den der Stabili-
tätsverlust auftritt. Hätten wir eine unsymmetrische Feder, für die γ2 ≠ 0 ist, erhalten wir die in
Abb. 7.28 dargestellte Lösung. Ausgezogene Linien kennzeichnen stabile und strichlierte Linien
instabile Lösungsäste. Für γ2 = 0, d. h. eine symmetrische Federkennlinie, müssen wir bis zu
Termen zweiten Grades in (7.27) gehen und erhalten die in Abb. 7.29 dargestellte Lösung, wobei
die ausgezogene Parabel für F2 > 0 und die strichlierte Parabel für F2 < 0 gültig ist. Der Punkt
F = Fk entspricht einem Verzweigungspunkt, von dem benachbarte Lösungen abzweigen. Be-
trachten wir Abb. 7.29, so sieht man, dass das Systemverhalten grundsätzlich verschieden ist,
ob F2 > 0 oder F2 < 0 ist. Im ersteren Fall besitzt das Stab–Federsystem eine Belastbarkeit
über den kritischen Parameterwert Fk hinaus, während es im Falle F2 < 0 (strichlierte Kurve
133 7 Verformung gerader Stäbe
Abb. 7.29. Belastungs–Verformungsdiagramm für eine symmetrische Feder. Die ausgezogene Linie ent-
spricht dem Knickstab
in Abb. 7.29) keine benachbarte stabile Gleichgewichtslage gibt. In diesem Falle treten große
Deformationen auf und für wirkliche Systeme kann dies zu einem katastrophalen Versagen
der Konstruktion führen. Man spricht im Falle F2 > 0 von einem unkritischen und im Falle
F2 < 0 von einem kritischen Nachbeulverhalten. Die Bedeutung dieser nichtlinearen Untersu-
chung wird voll ersichtlich, wenn man eine imperfekte Struktur behandelt. Abschließend muss
noch angemerkt werden, dass diese Vorgangsweise in strengem Sinne keine Stabilitätsuntersu-
chung darstellt, sondern nur eine Aussage über die Existenz benachbarter Gleichgewichtslagen
macht. Falls das Stabilitätsverhalten abzweigender Lösungen nicht unmittelbar klar ist, muss
noch eine Stabilitätsuntersuchung, zum Beispiel durch Linearisierung der Bewegungsgleichun-
gen um die neue Gleichgewichtslage und Berechnung der Lösung, durchgeführt werden.
Das einfachste Stabilitätsproblem eines elastischen Körpers bietet der schon von L. Euler be-
handelte Fall des axial zentrisch gedrückten geraden Stabes aus einem Werkstoff, der dem
Hookeschen Gesetz unbeschränkt gehorcht. Wir haben gesehen, dass eine mögliche Gleichge-
wichtslage die ist, bei der die Stabachse gerade bleibt und der Stab nur axial zusammengedrückt
wird. Wir untersuchen nun, ob auch noch andere, ausgebogene Gleichgewichtslagen existieren
(Abb. 7.30). Dabei wollen wir stets Biegung um eine Trägheitshauptachse voraussetzen.
Ist w(x) die Ausbiegung, dann wird an der Stelle x, wenn wir an den Stabenden gelenkige
Auflagerung voraussetzen, und das Kräftegleichgewicht p am verformten Stab aufstellen, ein
Biegemoment M = F w wirksam. Mit der Abkürzung α = F /EJ lautet die Differentialgleichung
7 Verformung gerader Stäbe 134
F
Abb. 7.30. Eulerscher Knickstab
M = P w + Hx − M0 = P w + H(x − l),
H
w 00 + α2 w = (l − x) (7.34)
EJ
135 7 Verformung gerader Stäbe
x
z
H
M0
P
Abb. 7.31. Knickung eines Stabes mit eingespannt-gelenkiger Lagerung
w = 0, w 0 = 0 . . . in x = 0,
w = 0, M = 0 . . . in x = l.
Die vierte Bedingung ist bereits erfüllt. Die übrigen liefern die folgenden drei homogenen Glei-
chungen für die drei Konstanten A, B und H/P
H H
A+l = 0, αB − = 0, A cos αl + B sin αl = 0.
P P
Damit eine nichttriviale Lösung existiert, muss die Koeffizientendeterminante verschwinden
1 0 l
0 α −1 = 0, oder αl = tan αl.
cos αl sin αl 0
Praktisch maßgebend ist wieder nur die kleinste nichttriviale Nullstelle α1 l ≈ 4.49 dieser Glei-
chung. Die zugehörige Knicklast ist
π 2 EJ
Pk = α21 EJ ≈ 2.04 . (7.36)
l2
8 Arbeit und Energie 136
F
P dr
0
Abb. 8.1. Arbeit dA der Kraft F bei der Verschiebung um dr
Wir definieren als Arbeit einer Einzelkraft F bei einer infinitesimalen, d. h. gegen Null gehen-
den Verschiebung dr ihres Angriffspunktes (Abb. 8.1) die skalare Größe
dA = F · dr. (8.1)
Legt nun der Angriffspunkt ein bestimmtes Stück ∆r = r 2 − r 1 seiner Bahn zurück, so ist die
dabei von der Kraft insgesamt geleistete Arbeit
Z r2
A1→2 = F · dr. (8.2)
r1
dA
= F·v (8.3)
dt
geschrieben werden. Gl. (8.2) lautet dann
Z t2
A1→2 = F · vdt. (8.4)
t1
Die Größe dA/dt = L wird Leistung (Arbeit pro Zeiteinheit) genannt. Für ein Kräftepaar mit
dem Moment M gilt L = M · ω, wo ω die Winkelgeschwindigkeit bedeutet, mit der sich die
Ebene des Kräftepaares dreht.
In gleicher Weise, wie für die Einzelkraft, lassen sich Arbeit und Leistung auch für verteilte
Kräfte definieren. Ist f die Kraftdichte in einem beliebigen Körperpunkt und v dessen Ge-
schwindigkeit, so nennen wir f · v die örtliche Leistungsdichte (Leistung pro Volumseinheit).
Durch Integration über das Gesamtvolumen V folgt sofort die Leistung aller am Körper wirken-
den inneren und äußeren Kräfte zu
dA
Z
= f · vdV . (8.5)
dt V
Dies ist das Analogon zu der für eine Einzelkraft gültigen Gl. (8.3). Die Arbeit im Zeitintervall
(t1 , t2 ) ist dann Z t2 Z
A1→2 = dt f · vdV . (8.6)
t1 V
137 8 Arbeit und Energie
Man beachte, dass beim verformbaren System auch die inneren Kräfte Arbeit leisten.
Die Kraft F oder die Kraftdichte f wird sich im allgemeinen während der Bewegung des
Körpers ändern, also vom Ortsvektor r abhängen. Wir sprechen von einem Kraftfeld, und zwar
von einem stationären Kraftfeld, wenn f nur vom Ort abhängt, f = f (r). Ändert sich f darüber
hinaus bei festgehaltenem Ort auch als Funktion der Zeit, f = f (r, t), so liegt ein instationäres
Kraftfeld vor.
Kräfte, die bei der Bewegung des Systems keine Arbeit leisten, wollen wir leistungslos nen-
nen. Die wichtigsten dieser Kräfte sind:
1. die Reaktions- oder Zwangskräfte an einem glatten starren Körper, der längs einer glatten,
starren und raumfesten Fläche gleitet. Dies folgt aus Gl. (8.4) wegen F ⊥ v;
2. die Reaktionskraft an einem starren Körper, der auf einer starren und raumfesten Fläche
abrollt (Abb. 8.2). Dies folgt aus Gl. (8.4) wegen v G = 0;
3. die beiden Reaktionskräfte zwischen zwei in Kontakt befindlichen bewegten starren Kör-
pern, die relativ zueinander reibungsfrei gleiten oder aufeinander abrollen. Denn sind v 1
und v 2 die Geschwindigkeiten im Berührungspunkt, so wird mit F1 = −F2 = F
Z t2 Z t2
A= (F · v 1 − F · v 2 )dt = F · v r dt = 0, wegen: F ⊥ vr oder v r = 0;
t1 t1
4. die inneren Kräfte eines starren Körpers. Die innere Arbeit ergibt sich als Produkt aus
Spannungen und Verzerrungen. Für den starren Körper verschwinden aber die Verzer-
rungen.
1
Z
T = v 2 dm. (8.7)
2 m
Für den starren Körper läßt sich (8.7) weiter umformen. Die Geschwindigkeit v eines beliebigen
Körperpunktes kann durch die Geschwindigkeit eines körperfesten Bezugspunktes A und die
Winkelgeschwindigkeit ω der Drehung des Körpers um A ausgedrückt werden, v = v A + ω ×
8 Arbeit und Energie 138
r, wo r der Ortsvektor des Körperpunktes gegen A ist. Machen wir A zum Ursprung eines
Koordinatensystems (x, y, z), so gilt
v 2 = vA2 + 2v A · (ω × r) + (ω × r)2 =
= vA2 + 2(v A × BΩ) · r + (B(Ω × R))T (B(Ω × R)) =
= vA2 + 2(v A × BΩ) · r + (Ω × R)2 =
= vA2 + 2(v A × BΩ) · r + (Ωy z − Ωz y)2 +
+(Ωz x − Ωx z)2 + (Ωx y − Ωy x)2 .
m 2
Z
T = vA + (v A × ω) · rdm +
2 m
1
Z Z
2 2 2 2
+ Ω (y + z )dm + Ωy (z2 + x 2 )dm+
2 Zx m m
Z
+Ωz2 (x 2 + y 2 )dm − 2Ωx Ωy xydm −
m
Z Z m
− 2Ωy Ωz yzdm − 2Ωz Ωx zxdm .
m m
Das zweite Glied können wir durch entsprechende Wahl des Bezugspunktes A zum Verschwin-
den bringen:
1. v A × ω = 0. Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn A ein raumfester Punkt ist oder
auf der Zentralachse der Bewegung liegt, also beispielsweise bei der ebenen Bewegung mit
dem Geschwindigkeitspol G zusammenfällt.
2. rdm = 0. Dies tritt ein, wenn als Bezugspunkt A der Massenmittelpunkt M des Körpers
R
m
gewählt wird.
Wir wollen für das weitere den Bezugspunkt A stets so annehmen, dass entweder (1.) oder
(2.) zutrifft. Beachten wir noch, dass die Integrale in der eckigen Klammer die Trägheits- bzw.
Deviationsmomente darstellen, so erhalten wir
1 1
T = mvA2 + (Ix Ωx2 + Iy Ωy
2
+ Iz Ωz2 −
2 2 (8.8)
−2Ixy Ωx Ωy − 2Iyz Ωy Ωz − 2Izx Ωz Ωx ).
Die kinetische Energie eines starren Körpers läßt sich somit aufspalten in einen translatori-
schen und einen rotatorischen Anteil.
Legen wir die Koordinatenachsen in die Trägheitshauptachsen (1,2,3) des Körpers, so ver-
schwinden die Deviationsmomente und der Ausdruck für die kinetische Energie vereinfacht
sich zu
1 1
T = mvA2 + (I1 Ω12 + I2 Ω22 + I3 Ω32 ). (8.9)
2 2
Dreht sich das System um eine feste Achse a, so reduziert sich Gl. (8.8) wegen ω = ωe a , vA = 0
auf
1
T = Ia ω2 . (8.10)
2
139 8 Arbeit und Energie
Geg.: m, `, r , a, ω, ϕ(t).
m, ℓ
ω Ges.: T .
Wir verwenden die Formel
m 2 1
T = v + (I1 Ω12 + I2 Ω22 + I3 Ω32 ).
2 S 2
In Zylinderkoordinaten (gemessen vom Mittelpunkt des Führungsarms, z-Achse zeigt nach
oben) lauten die Schwerpunktskoordinaten:
Setzen wir nun voraus, dass die Bewegung auf ein Inertialsystem bezogen ist, so gilt in jedem
Körperpunkt das dynamische Grundgesetz f − %a = 0. Dann wird mit Gl. (8.5)
dT dA
Z
= v · f dV = .
dt V dt
Integration über das Zeitintervall (t1 , t2 ) liefert den
8 Arbeit und Energie 140
Satz 8.1 (Arbeitssatz). Die Zunahme der kinetischen Energie eines Körpers in einem beliebigen
Zeitintervall ist gleich der von den inneren und äußeren Kräften in diesem Zeitintervall geleiste-
ten Arbeit.
T2 − T1 = A1→2 . (8.11)
Die Bewegung ist dabei auf ein Inertialsystem zu beziehen.
Wir nehmen an, dass ein Fahrzeug mit dem Gewicht G, das wir als Punktmasse modellieren,
aus der Geschwindigkeit v geradlinig abgebremst wird. Die Bremskraft R setzen wir als Glei-
treibungkraft für das gesamte Fahrzeug mit R = µG mit dem Gleitreibungskoeffizienten µ an.
Mit T1 = mv 2 /2 und T2 = 0 erhalten wir aus (8.11) für den Bremsweg s
v2
s= .
2gµ
CII 2
CI
1
Abb. 8.3. Zur Wegunabhängigkeit der Arbeit
Bekanntlich ist ein Kurvenintegral dann und nur dann wegunabhängig, wenn der Ausdruck
unter dem Integralzeichen ein vollständiges Differential darstellt, also
∂V ∂V ∂V
f · dr = Xdx + Y dy + Zdz = −dV = − dx − dy − dz
∂x ∂y ∂z
gilt. Das Minuszeichen ist an sich willkürlich und wird hier nur aus Gründen der physikalischen
Bedeutung von V eingeführt. Es folgt sofort
∂V ∂V ∂V
X=− Y =− Z=− . (8.12)
∂x ∂y ∂z
141 8 Arbeit und Energie
Die drei Komponenten der Kraftdichte müssen sich also als die partiellen Ableitungen einer
skalaren Funktion V (r) nach den Koordinaten x, y, z, bzw. nach den Komponenten u, v, w
des Verschiebungsvektors ∆r darstellen lassen.
Es ist klar, dass nicht jedes beliebige Kraftfeld diese Eigenschaft haben wird. Existiert hinge-
gen eine Funktion V (sie ist nur bis auf eine additive Konstante bestimmt), die den Bedingungen
(8.12) genügt, so nennen wir sie das Potential des Kraftfeldes.
Es ist bequem, die Gln. (8.12) in der Form
dV
f =− = −∇V (8.13)
dr
zu schreiben, wobei man den Vektor
∂V ∂V ∂V
∇V = ex + ey + ez
∂x ∂y ∂z
als Gradienten der Funktion V bezeichnet. ∇ hat also die Bedeutung eines vektoriellen Opera-
tors13 ,
∂ ∂ ∂
∇ = ex + ey + ez .
∂x ∂y ∂z
Bildet man mit ihm das äußere Produkt ∇ × f , den Rotor des Feldes f , so gilt
∂Z ∂Y ∂X ∂Z ∂Y ∂X
! !
∇×f = − ex + − ey + − ez . (8.14)
∂y ∂z ∂z ∂x ∂x ∂y
Wir benötigen jetzt einen wichtigen Satz der Vektoranalysis, den Stokesschen Integralsatz. Mit
Hilfe des ∇-Operators läßt er sich folgendermaßen schreiben:
Z I
(∇ × f ) · ndA = f · dr. (8.15)
A C
Hierbei ist C eine beliebige geschlossene Kurve im Raum und A eine beliebige, von C berandete
Fläche14 . n ist der Normalenvektor am Flächenelement dA; er bildet mit dem Umlaufsinn von
C eine Rechtsschraube (Abb. 8.4).
n
C
Abb. 8.4. Zum Stokesschen Integralsatz
Aus dem Stokesschen Satz entnehmen wir nun sofort, dass die Bedingung
∇×f =0 (8.16)
notwendig und hinreichend dafür ist, dass ein Kraftfeld f (r) ein Potential besitzt. Wenn die
Arbeit vom Weg unabhängig ist, muss C f · dr = 0 sein längs jeder geschlossenen Kurve C.
H
Dann muss aber, da A und C beliebig sind, überall im Feld ∇ H× f = 0 gelten. Die Bedingung
ist also notwendig. Umgekehrt wird, falls ∇ × f = 0 ist, auch C f · dr = 0 für jede beliebige
Kurve. Die Bedingung ist also hinreichend.
Man nennt ein Feld, welches die Bedingung (8.16) erfüllt, drehungsfrei15 bzw. wenn es sta-
tionär ist, aus einem später ersichtlichen Grund auch konservativ.
Für die Bewegung eines Körpers in einem konservativen Kraftfeld gilt also nach Integration
über das gesamte Körpervolumen
Z2
A1→2 = − dV = V1 − V2 : (8.18)
1
Die vom Kraftfeld geleistete Arbeit ist gleich der Abnahme der potentiellen Energie des Körpers.
Alle angegebenen Beziehungen gelten auch für Einzelkräfte. Wir haben nur F anstatt f zu
schreiben. Es bedeuten dann X, Y , Z die Komponenten der Einzelkraft und V ihr Potential.
Die Gln. (8.12) und damit der Begriff des Potentials bleiben auch im Fall eines instationären
Feldes f (r, t) sinnvoll. V ist dann aber explizit von der Zeit abhängig und die Gl. (8.18) verliert
ihre Gültigkeit, weil jetzt
∂V ∂V
dV = dr + dt ≠ −dA
∂r ∂t
wird. Ein solches Feld ist zwar drehungsfrei, aber nicht mehr konservativ.
Ein wichtiges Beispiel eines konservativen Kraftfeldes ist das homogene Schwerefeld g =
konst. Hier haben wir, wenn wir die z-Achse in die Vertikale legen (positiv nach oben) X = Y =
0, Z = −%g. Das zugehörige Potential ist also V = %gz + C. Ersetzen wir die über das Volumen
verteilten Gewichtskräfte durch die im Schwerpunkt angreifende Einzelkraft mg, so lauten die
entsprechenden Ausdrücke X = Y = 0, Z = −mg. Das Potential ist jetzt V = mgz + C.
Auch ein kugelsymmetrisches Zentralkraftfeld F = F (r ) rr ist stets konservativ mit V (r ) =
− F dr + C. Es gilt nämlich ∇V (r ) = dV ∂r
∇r = −F (r )∇r und ∇r = e x ∂x ∂r
+ e z ∂r
R
dr
+ e y ∂y ∂z
=
x y z r r
e x r + e y r + e z r = r . Somit −∇V = F (r ) r = F.
In Abb. 8.5 sind zwei Doppelpendel, die als diskretisierte Modelle eines kontinuierlichen Stabes
betrachtet werden können, unter Druckbelastung gezeichnet. In Abb. 8.5a ist die Last richtungs-
treu, d.h. nach Ausknicken des Stabes, bei Erreichen der kritischen Belastung, behält die Last
ihre vertikale Richtung. Hingegen ist in Abb. 8.5b die Last eine Folgelast. D.h. die Richtung der
Last ist immer in Richtung der Endtangente gerichtet. Man überlegt sich leicht durch Wahl spe-
zieller Arbeitswege, dass die Belastung (a) konservativ und die Belastung (b) nichtkonservativ
ist.
8.5 Energiesatz
Für ein konservatives Kraftfeld nimmt der Arbeitssatz Gl. (8.11) eine außerordentlich handliche
Form an, die als Energiesatz bezeichnet wird. Setzen wir voraus, dass sowohl die äußeren wie
die inneren Kräfte ein Potential besitzen, so ergibt sich durch Kombination von Gl. (8.11) mit
Gl. (8.18)
T2 − T1 = A1→2 = V1 − V2 oder T1 + V1 = T2 + V2 ,
15
Die Bezeichnung ist der Strömungslehre entnommen.
143 8 Arbeit und Energie
Abb. 8.5. Doppelpendel belastet mit (a) konservativer (richtungstreuer) Kraft, (b) nichtkonservativer
Kraft (Folgelast)
also
T + V = konst. = E. (8.19)
Diese Gleichung drückt den Satz von der Erhaltung der mechanischen Energie aus: In einem
konservativen Kraftfeld ist die Summe aus kinetischer und potentieller Energie konstant.
Die Bezeichnung konservatives Kraftfeld ist damit gerechtfertigt.
Wenn bei einer Bewegung Reibung auftritt, haben wir stets ein nichtkonservatives Kraftfeld
vor uns. Die Reibungsarbeit wird nicht mehr als mechanische Energie zurückgewonnen, son-
dern geht in Wärme über. Wir sprechen von Dissipation der Energie und nennen ein solches
Kraftfeld auch dissipatives Feld.
Die Bewegungsgleichungen (dynamisches Grundgesetz) enthalten die Beschleunigungen, sind
also Differentialgleichungen zweiter Ordnung. Im Arbeitssatz und Energiesatz treten nur die
Geschwindigkeiten auf. Sie sind somit Differentialgleichungen erster Ordnung und stellen Ers-
tintegrale der Bewegungsgleichungen dar. Zur Untersuchung eines Systems von einem Frei-
heitsgrad reichen sie vollkommen aus.
Eine Feder mit der Federkonstanten c und der ungedehnten Länge ` ist nach Abb. 8.6 mit
ihren Enden an zwei Scheiben befestigt. Untere Scheibe und Führungsstab haben zusammen
das Gewicht G1 , die obere Scheibe hat das Gewicht G2 . Auf welche Länge xu muss die Feder
zusammengedrückt werden, damit nach Loslassen der oberen Scheibe das ganze System gerade
von der Unterlage abhebt? Das Gewicht der Feder werde vernachlässigt.
Lösung: Nach dem Loslassen wird G2 auf- und abschwingen. Das System hebt offenbar dann
von der Unterlage ab, wenn die Federkraft F0 in der oberen Umkehrlage x0 größer wird als G1 ,
F0 = c(x0 − `) ≥ G1 .
Eine weitere Gleichung liefert der Energiesatz (8.19). Da die kinetische Energie für die Umkehr-
lagen xu und x0 verschwindet, bleibt
Vu = V0
8 Arbeit und Energie 144
Abb. 8.6.
oder
c c
G2 xu + (xu − `)2 = G2 x0 + (x0 − `)2
2 2
und nach Elimination von x0
G1 + 2G2
xu ≤ ` − .
c
145 9 Formulierung der Bewegungsgleichungen aus einem Variationsprinzip ([25])
m3
" #
14
G = 3.986 · 10 .
sec2
Die entsprechende Bewegungsgleichung lautet
ma = F
ar r̈ − r ϕ̇2
! !
a= = (9.1)
aϕ r ϕ̈ + 2ṙ ϕ̇
gegeben ist.
Das Problem mit dieser Formulierung ist, dass hier das Reaktionsprinzip auf eine Aktion
von Kräften über eine endliche Distanz erweitert ist.
9 Formulierung der Bewegungsgleichungen aus einem Variationsprinzip ([25]) 146
(2) In der Feldformulierung wird jedem Punkt im Raum eine Zahl zugeordnet, die sich mit
der Lage der Masse im Raum ändert. Die Kraft, die vom Feld auf die Masse ausgeübt wird,
wirkt in jene Richtung in der sich die Zahlen am stärksten ändern. Man nennt das Feld
ein Potentialfeld. Für die Bewegung der Masse im zentralen Gravitationsfeld W lautet die
Bewegungsgleichung
∂W
ma = −
∂x
T
wobei für Polarkoordinaten x = (r , ϕ) , die Beschleunigung durch (9.1) und das Potential
W (r ) durch
Gm
W =−
r
gegeben sind.
Der wesentliche Unterschied zu Newton’s Kraftgesetz ist, dass das Potentialfeld nur lokale
Eigenschaften in der Umgebung der Masse benützt.
(3) In der Beschreibung durch ein Extremalprinzip wird weder eine Aktion über eine Distanz
(Newton) noch eine Aussage über das lokale Verhalten (Potential) gegeben, sondern es
wird die Bewegung der Masse zwischen zwei im Raum fixierten Punkten betrachtet. Die
Frage ist: Welche Bahn wird die Masse nehmen? Dazu vergleicht man verschiedene mögli-
che Bahnen und berechnet für die Bewegung entlang jeder Bahn eine bestimmte noch zu
definierende Größe. Jene Bahn, die den kleinsten möglichen Wert jener Größe liefert, ist
jene, die die Masse dann tatsächlich nimmt.
Alle drei Beschreibungen sind im Rahmen der klassischen Mechanik äquivalent aber grund-
sätzlich verschiedener Natur. Einmal sprechen wir von der Wirkung einer Kraft über eine große
Entfernung, sodann über ein lokales Potentialfeld und schließlich über die Auswahl aus einer
Reihe möglicher Bahnen.
Hier ist auch ersichtlich, dass die Frage nach den „fundamentalen Axiomen“ nicht wirklich
relevant ist, solange man von einer Formulierung durch mathematisch korrekte Überlegungen
zu einer anderen übergehen kann.
Abschließend sei bemerkt, dass dies ein schönes Beispiel für den weiten Rahmen der Be-
schreibungsmöglichkeiten der Natur ist: Es ist einmal Kausalität (Newton) möglich, oder eine
lokale Feldbeschreibung oder ein Extremalprinzip.
Die Frage, die sich dann stellt ist: Welche der drei Beschreibungen ist die korrekte? Wä-
ren diese drei Beschreibungen nicht mathematisch exakt äquivalent, was im Rahmen der klas-
sischen Mechanik der Fall ist, dann könnte nur ein Experiment darüber entscheiden, welche
tatsächlich richtig ist.
Wenn nun aber alle drei äquivalent sind, stellt sich die weitere Frage: Ist eine besser als die
andere? Dies führt weg von der naturwissenschaftlichen zu einer philosophischen Diskussi-
on. Einstein hat allerdings festgestellt, dass elektrische Signale nicht rascher als mit Lichtge-
schwindigkeit übertragen werden können. Daraus hat er dann geschlossen, dass dies auch für
die Gravitation gültig sein muss und daher auch Kraftwirkungen über größere Entfernungen
nicht instantan wirksam werden können. In der Tat haben genaue Messungen der Bewegung
des Planeten Merkur ergeben, dass kleine Abweichungen zu den Vorhersagen mittels der New-
ton’schen Gravitationstheorie vorliegen. Einstein’s Allgemeine Gravitationstheorie sagte diese
Abweichungen genau voraus und damit war Newton’s Gravitationstheorie als nicht richtig nach-
gewiesen. Würde man nun die Newtonschen Gesetze um diesen Effekt erweitern, würde diese
Theorie enorm kompliziert werden. Da die Abweichungen jedoch sehr klein sind, benützt man
weiterhin für die meisten praktischen Berechnungen Newton’s Gravitationstheorie. Allerdings
ist für Fragen, wo solche Effekte eine Rolle spielen, die Kraftformulierung auszuscheiden, wäh-
rend die lokale Feldbeschreibung und das Minimalprinzip weiterhin gültig bleiben.
147 9 Formulierung der Bewegungsgleichungen aus einem Variationsprinzip ([25])
1. Sie soll geometrisch möglich, also mit den Auflagerungs- und Führungsbedingungen und
den sonstigen geometrischen Eigenschaften des Systems verträglich (kompatibel) sein. Im
übrigen ist sie aber nur gedacht, braucht also keineswegs mit einer wirklich eintretenden
Verschiebung zusammenfallen. Die Bezeichnung virtuell (im Gegensatz zu aktuell) soll
das zum Ausdruck bringen.
Mathematisch gesprochen werden bei einer virtuellen Verschiebung die Ortskoordinaten des
Systems bei festgehaltener Zeit t variiert. Wir bezeichnen die Variation des Ortsvektors r, also
die virtuelle Verschiebung des betreffenden Systempunktes mit δr.
Für jeden „materiellen“, d. h. mit Masse behafteten Systempunkt gilt das dynamische Grund-
gesetz f = %a. Somit gilt auch
(f − %a) · δr = 0
bei beliebigem δr. Integrieren wir jetzt diese Gleichung über das gesamte Volumen V des Sys-
tems, so erhalten wir Z
(f − %a) · δrdV = 0.
V
Überlegen wir nun, welche physikalische Interpretation wir dieser Gleichung geben können. Wir
bemerken zunächst, dass Z
δA = f · δrdV (9.2)
V
identisch ist mit der Arbeit, die von sämtlichen am System wirksamen Kräften bei der virtuellen
Verschiebung geleistet wird. Wir können δA sofort aufspalten in die Arbeit δA(i) der inneren
und δA(a) der äußeren Kräfte. Dann ergibt sich mit %dV = dm das d’Alembertsche Prinzip
Z
δA(i) + δA(a) − a · δrdm = 0. (9.3)
m
Diese Gleichung gilt noch ganz allgemein, auch für Systeme mit unendlich vielen Freiheitsgra-
den.
Das Prinzip gilt natürlich auch in der Statik, (a ≡ 0) also für den Sonderfall des in Ruhe und
im Gleichgewicht befindlichen Systems. Es wird dann Prinzip der virtuellen Verschiebungen
oder Prinzip der virtuellen Arbeiten genannt und lautet
Satz 9.1 (Prinzip der virtuellen Verschiebungen). Bei einer virtuellen Verschiebung eines Systems
aus einer Gleichgewichtslage heraus ist die von den inneren und äußeren Kräften insgesamt
geleistete Arbeit gleich Null.
δA ≡ δA(i) + δA(a) = 0. (9.4)
9 Formulierung der Bewegungsgleichungen aus einem Variationsprinzip ([25]) 148
Für die Anwendungen wertvoll ist das Prinzip vor allem dann, wenn gewisse Kräftegruppen
virtuell leistungslos sind, d. h. bei einer virtuellen Verschiebung keine Arbeit leisten. Sie fallen
dann aus den Gleichungen überhaupt heraus. Man beachte, dass es dabei gleichgültig ist, ob
diese Kräfte bei der wirklichen Bewegung Arbeit leisten oder nicht. Der Unterschied wird deut-
lich, wenn man etwa das Gleiten eines Körpers längs einer glatten Führung betrachtet, wobei
diese Führung selbst wieder nach einem von der Körperbewegung unabhängig vorgegebenen
Gesetz bewegt wird, also keinen Freiheitsgrad besitzt. Die am Körper angreifende Reaktions-
kraft ist nicht leistungslos, da sich ja ihr Angriffspunkt bewegt. Sie ist aber virtuell leistungslos,
weil die virtuelle Verschiebung bei festgehaltener Zeit vor sich geht, Lageänderungen somit nur
dort vorgenommen werden können, wo Freiheitsgrade vorhanden sind. Die Führung muss also
dabei stillstehen. Wir wollen Führungen, deren Reaktionskräfte virtuell leistungslos sind, ideale
Führungen nennen.
Eine weitere Vereinfachung bei der Anwendung des Prinzips tritt ein, wenn einzelne oder
alle auftretenden Kräfte ein Potential besitzen, also konservativ sind. Für die inneren Kräfte
eines elastischen System trifft dies beispielsweise zu. Wir bezeichnen dieses Potential mit U
und nennen es die Verzerrungsenergie des Systems.
Es gilt dann δA(i) = −δU und Gl. (9.3) geht über in
Z
(a)
δA − a · δrdm = δU .
m
Die virtuelle Arbeit der äußeren und der Trägheitskräfte ist gleich der Änderung der Ver-
zerrungsenergie.
Wir werden später16 die Verzerrungsenergie für den elastischen Körper berechnen. Bei Sys-
temen mit endlich vielen Freiheitsgraden steckt die Verzerrungsenergie nur in den masselosen
elastischen Bindegliedern, die wir uns als Federn denken können. Bedeutet s den vom span-
nungslosen Zustand aus gemessenen Verschiebungsweg des Federendes einer solchen Feder,
so gilt mit c als Federkonstante, also mit der von der Feder ausgeübten Kraft F = −cs,
Zs Zs
cs 2
U = − F ds = c sds = . (9.5)
0 0 2
Die Verzerrungsenergien sämtlicher Federn sind zu addieren.
Wie eingangs erwähnt, soll uns das d’Alembertsche Prinzip in erster Linie als Ausgangs-
punkt zur Aufstellung des Hamiltonschen Prinzips und der Lagrangeschen Gleichungen die-
nen. Darüber hinaus erweist es sich aber als ein sehr wirksames Werkzeug bei der Bearbeitung
spezieller Probleme. Wir geben deshalb zunächst eine Anwendung in der Statik.
Eine aus n gleichen Stäben der Länge ` und dem Gewicht Q bestehende Kette hängt mit einem
Ende an einem festen Punkt A0 . Am anderen Ende wirkt eine horizontale Kraft F (Abb. 9.1). Man
finde die Winkel α1 , . . . , αn für Gleichgewicht.
Die y-Koordinaten der Angriffspunkte der Gewichtskräfte sind
cos αi
yi = ` cos α1 + cos α2 + . . . + ,
2
während die x-Koodinate des Angriffspunktes An gegeben ist durch
x
A0
α1
A1
ℓ
α2
Q A2
α3
y αn An
Q F
Abb. 9.1. Gleichgewichtslage einer Stabkette belastet durch eine horizontale Endkraft
Damit wird die bei einer virtuellen Verschiebung von den Kräften Q und F geleistete Arbeit
n
X
δA = Q δyi + F δxn =
i=1
"
1
= −`Q sin α1 δα1 +
2
1
+ sin α1 δα1 + sin α2 δα2 +
2
+ .............................. +
#
1
+ sin α1 δα1 + sin α2 δα2 + . . . + sin αn δαn +
2
+`F [cos α1 δα1 + cos α2 δα2 + . . . + cos αn δαn ] = 0.
1 3
F cos α1 − n − Q sin α1 δα1 + F cos α2 − n − Q sin α2 δα2 +
2 2
1
+ . . . + F cos αn − Q sin αn δαn = 0.
2
Die Winkel α1 , . . . , αn sind voneinander völlig unabhängig und ihre Variationen δαi können
unabhängig voneinander willkürlich gewählt werden. Die obige Beziehung kann daher nur dann
bestehen, wenn die Koeffizienten der δαi sämtlich verschwinden. Dies ergibt die gesuchten
Winkel
2 F 2 F F
tan α1 = , tan α2 = , . . . tan αn = 2 .
(2n − 1) Q (2n − 3) Q Q
Wir erinnern uns, dass a auf ein Inertialsystem bezogen ist und setzen ohne Einschränkung der
Allgemeinheit der Einfachheit halber voraus, dass r und a in kartesischen Koordinaten durch
gegeben sind. Weiters sei das Kraftfeld ein Potentialfeld. D. h., wir betrachten ein konservatives
System. Aus der letzten Voraussetzung folgt sofort
δA = −δV . (9.7)
Nun betrachten wir den Trägheitsterm in (9.6), den wir gemäß der gemachten Voraussetzungen
in der Form
a · δr = (ẍδx + ÿδy + z̈δz) (9.8)
schreiben können. Wir betrachten nun die Identität
d2 x d dx dx d
δx = δx − (δx).
dt 2 dt dt dt dt
Im letzten Term dürfen wir die Differentiation nach der Zeit t mit der Variation vertauschen,
da sich letztere nicht auf t bezieht. Es gilt
d dx
(δx) = δ . (9.9)
dt dt
Dies ist ein wichtiger Schritt und er kann streng in der folgenden Weise bewiesen werden. Wir
betrachten x(t) als stetige Funktion von t und gleichzeitig eine beliebige benachbarte Kurve
x(t). Die Differenz der Funktionswerte zur selben Zeit t bezeichnen wir (Abb. 9.2) mit
dx
δ( ) = δẋ = ẋ(t) − ẋ(t)
dt
d d d d
= x− x= (x − x) = δx.
dt dt dt dt
Hier ist wichtig, dass x(t) und x(t) zum selben Zeitpunkt t gehören. Somit folgt aus (9.8)
x
_
x
δx
x
t
Abb. 9.2. Die Differenz δx zwischen variierter Bahn x(t) und ursprünglicher Bahn x(t) wird zur selben
Zeit t genommen
151 9 Formulierung der Bewegungsgleichungen aus einem Variationsprinzip ([25])
d2 x d2 y d2 z
Z Z !
a · δrdm = δx + δy + δz dm =
Zdt dt 2 dt 2
2
m m
d dx dy dz
= δx + δy + δz dm −
dt (m Z dt" dt dt (9.11)
2 2 2 #
dx dy dz
)
1
−δ + + dm =
Z 2 m dt dt dt
d
= ṙ · δrdm − δT .
dt m
Da die linke Seite ein vollständiger Differentialquotient nach der Zeit ist, so liegt es nahe, ei-
ne Integration nach der Zeit auszuführen. Wir integrieren zwischen den Zeiten t0 und t1 und
erhalten Z Z t1 t1
ṙ · δrdm = δ(T − V )dt. (9.12)
m t0 t0
Bisher haben wir über die virtuelle Verrückung keine spezielle Voraussetzung gemacht. Wir
wählen sie nun so aus, dass alle variierten Bahnen in den Zeitpunkten t0 und t1 durch die
selben Punkte r(t0 ) und r(t1 ) gehen (Abb. 9.3). Das bedeutet aber, dass δr(t0 ) = δr(t1 ) = 0
und dass daher die linke Seite in (9.12) verschwindet. Somit bleibt
x(t)
t0 t1 t
Abb. 9.3. Zulässige variierte Bahnen, die in den Zeitpunkten t0 und t1 mit der wirklichen Bahn zusam-
menfallen
Z t1
δ (T − V )dt = 0. (9.13)
t0
Hier konnten wir die Reihenfolge der Variation und Integration vertauschen, da sich die Varia-
tion nicht auf die Zeit t erstreckt.
(9.13) stellt das Hamiltonsche Prinzip der stationären Wirkung dar. Setzt man
Z t1 Z t1
S= (T − V )dt = Ldt (9.14)
t0 t0
mit der Lagrangefunktion L = T − V und der Wirkungsfunktion S, dann kann man das Hamil-
tonsche Prinzip
δS = 0 (9.15)
folgendermaßen formulieren:
Satz 9.2 (Hamiltonsches Prinzip). Unter allen möglichen Bewegungen, die ein konservatives Sys-
tem aus einer gegebenen Anfangslage in gegebener Zeit in eine gegebene Endlage führen, ist
diejenige die in der Natur eintretende, für die die Wirkungsfunktion S einen stationären Wert
(Extremwert) annimmt.
9 Formulierung der Bewegungsgleichungen aus einem Variationsprinzip ([25]) 152
Wesentlich ist, dass die Formulierung (9.13) unabhängig vom Koordinatensystem ist und
auch für kontinuierliche Systeme (unendlich viele Freiheitsgrade) gültig ist. Weiters ist auch
eine Erweiterung auf nichtkonservative Systeme möglich, indem man es in der ursprünglichen
Form Z t1
[δT + δA]dt = 0 (9.16)
t0
belässt.
Wir formen nun den letzten Ausdruck durch partielle Integration um. Dies liefert
Z t1 t1 Z t1
∂L d ∂L d ∂L
!
(δqi )dt = δqi − δqi dt.
t0 ∂ q̇i dt ∂ q̇i t0 t0 dt ∂ q̇i
Da für t0 und t1 die Variationen verschwinden müssen, verschwinden die Randterme. In (9.17)
eingesetzt folgt
Z t1 X
∂L d ∂L
!
− δqi dt = 0. (9.18)
t0
i
∂q i dt ∂ q̇i
Da der Integrand eine stetige Funktion der Zeit ist, könnte man — wenn er von Null verschieden
wäre — das Zeitintervall von t0 bis t1 , das ja beliebig ist, so wählen, dass er sein Voreichen nicht
ändert. Dann aber könnte (9.18) nicht bestehen. Daher muss der Integrand gleich Null sein. Dies
liefert
X ∂L d ∂L
!
− δqi = 0. (9.19)
i
∂q i dt ∂ q̇i
Die qi (t) sind die n Freiheitsgrade, die definitionsgemäß voneinander unabhängig völlig frei
wählbar sind. Man könnte nun zunächst meinen, dass dies dann auch für ihre Variationen δqi
gilt. Das ist aber nur bedingt richtig. Es gibt nämlich Systeme, die im „Kleinen“ weniger Frei-
heitsgrade besitzen als im „Großen“ und zwar immer dann, wenn durch Führungsbedingungen
ein Zusammenhang zwischen den verallgemeinerten Geschwindigkeiten q̇i gegeben ist, der sich
nicht durch Integration auf eine Beziehung zwischen den Koordinaten zurückführen lässt und
der daher nicht durch entsprechende Wahl der Lagekoordinaten berücksichtigt werden kann.
Solche Systeme heißen nichtholonom.
153 9 Formulierung der Bewegungsgleichungen aus einem Variationsprinzip ([25])
Abb. 9.4. Gekrümmte Schneide, die über eine Ebene ohne zu Kratzen geführt wird
Wir betrachten als einfaches Beispiel eines nichtholonomen Systems ein Messer (Schlittschuh
auf Eisfläche) (Abb. 9.4), das mit seiner gekrümmten Schneide über eine Fläche geführt wird. Es
kann sich in Richtung der Schneide bewegen und seine Richtung ändern, da das gekrümmte
Messer sich um die vertikale Achse drehen kann. Ihm ist nur das Kratzen, d.h. die Bewegung
quer zur Schneide, verboten. Mathematisch bedeutet dies ein Linienelement mit den Koordina-
ten x0 und y0 und der Richtung ϑ gegen die positive x-Achse. Das Element darf keine Bewe-
v dy 0
P
dx 0
y0
ϑ
x0 x
gung senkrecht zu seiner Richtung ausführen. Es existiert eine Führungsbeziehung (Abb. 9.5),
die einen Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit v und den Komponenten ẋ0 und ẏ0
herstellt
ẋ0 = v cos ϑ, ẏ0 = v sin ϑ
Anders ausgedrückt muss immer dy0 = dx0 tan ϑ sein. Die Verschiebungen sind nicht mehr
frei; es gilt auch für die virtuellen Verschiebungen δy0 = δx0 tan ϑ. Dies ist eine Differentialbe-
ziehung zwischen den Lagrangeschen Koordinaten x0 , y0 , ϑ. Wir haben ein nichtholonomes
System vor uns, wenn wir noch zeigen können, dass sich die Differentialbeziehung nicht auf
ein endliches Gesetz zurückführen lässt.
Den Beweis führen wir zunächst rein arithmetisch. Wir nehmen an, es ließe sich ein endli-
ches Gesetz f (x0 , y0 , ϑ) = const. finden, das die Differentialbeziehung ersetzt. Dann ließe sich
dieses total differenzieren:
∂f ∂f ∂f
δx0 + δy0 + δϑ = 0,
∂x0 ∂y0 ∂ϑ
und diese Gleichung müsste, bis auf einen gemeinsamen Faktor, mit der Differentialbeziehung
9 Formulierung der Bewegungsgleichungen aus einem Variationsprinzip ([25]) 154
∂f ∂f ∂f
!
+ tan ϑ δx0 + δϑ = 0
∂x0 ∂y0 ∂ϑ
∂f
für die nun freien δx0 und δϑ erfüllt sein. Daraus würde folgen ∂ϑ
= 0, also f = f (x0 , y0 ).
Andererseits wäre aber
∂f ∂f
+ tan ϑ = 0,
∂x0 ∂y0
und dies ist jetzt nur dann erfüllt, wenn f auch nicht von x0 und y0 abhinge. Damit haben
wir einen Widerspruch, denn eine wirkliche Beziehung δy0 = δx0 tan ϑ kann nicht durch eine
Konstante ersetzt werden.
Den Beweis können wir auch noch geometrisch anschaulich bringen. Wir nehmen wieder an,
Abb. 9.6.
es sei möglich, ein f (x0 , y0 , ϑ) = const. zu finden, und dieses sei nach ϑ auflösbar. Dann müss-
te zu jedem Punkt eine bestimmte Richtung vorgeschrieben sein, und das ist ein Widerspruch,
denn wir können mit der Schneide aus jeder Anfangslage in jede Endlage gelangen (Abb. 9.6).
Dazu brauchen wir nur eine Kurve durch die vorgegebene Anfangs- und Endlage zu legen, die
in beide tangential einmündet.
Das System ist also nichtholonom.
Wir betrachten nun weiter nur holonome Systeme, d. h. solche für die bei n Freiheitsgraden
qi auch die n Variationen δqi voneinander unabhängig sind, dann zerfällt die Summe (9.19)
wegen der Unabhängigkeit der δqi wieder in der Weise, dass jeder Koeffizient von δqi für sich
verschwindet. Somit erhalten wir
∂L d ∂L
− =0 i = 1, 2, . . . , n.
∂qi dt ∂ q̇i
d ∂T ∂T ∂V
− + = 0, i = 1, 2, . . . , n.
dt ∂ q̇i ∂qi ∂qi
Für den Fall, dass die Kräfte kein Potential besitzen, können wir die zu den Freiheitsgraden qi
verallgemeinerten Kräfte Qi durch Anschreiben der virtuellen Arbeit
X
δA = Qi δqi
i
d ∂T ∂T
− = Qi i = 1, 2, . . . , n.
dt ∂ q̇i ∂qi
155 9 Formulierung der Bewegungsgleichungen aus einem Variationsprinzip ([25])
nützlich, bei der jene Kräfte, die ein Potential besitzen, in V und jene, die keines besitzen,
durch die Qi erfasst werden.
M
F(t)
η
k
ℓ
ϕ
mg
ξ
Abb. 9.7. Anfahrende Krankatze mit pendelnder Last
1 1 1
T = M ẋ 2 + mv 2 + I ϕ̇2
2 2 2
wobei sich mit
` `
ξ = cos ϕ ξ̇ = − ϕ̇ sin ϕ
2 2
` `
η = x + sin ϕ η̇ = ẋ + ϕ̇ cos ϕ.
2 2
für
`2 2
!
2 2 2 2
v = ξ̇ + η̇ = ẋ + `ẋ ϕ̇ cos ϕ + ϕ̇
4
ergibt.
Für die Energien U und W folgt
`
U = 0, W = −mg cos ϕ.
2
9 Formulierung der Bewegungsgleichungen aus einem Variationsprinzip ([25]) 156
Die Antriebskraft und das Dämpfungsmoment führen wir mit den verallgemeinerten
Kräften Qi ein
δA = Qx δx + Qϕ δϕ = F (t)δx − kϕ̇δϕ.
In die Lagrangeschen Gleichungen
d ∂T ∂T ∂V
!
− + = Qi
dt ∂ q̇i ∂qi ∂qi
1 1 1 2 2 1 m`2 2
T = M ẋ 2 + m ẋ 2 + `ẋ ϕ̇ cos ϕ + ` ϕ̇ + ϕ̇ =
2 2 4 2 12
1 1 1 2 2
= M ẋ 2 + m ẋ 2 + `ẋ ϕ̇ cos ϕ + ` ϕ̇
2 2 3
∂T 1 2 2
= m `ẋ cos ϕ + ` ϕ̇
∂ ϕ̇ 2 3
∂T 1
= M ẋ + m(2ẋ + `ϕ̇ cos ϕ)
∂ ẋ 2
∂T 1
= − m`ẋ ϕ̇ sin ϕ
∂ϕ 2
∂T
= 0
∂x
1 2 2 1 `
m `ẍ cos ϕ − `ẋ ϕ̇ sin ϕ + ` ϕ̈ + m`ẋ ϕ̇ sin ϕ + mg sin ϕ = −kϕ̇
2 3 2 2
1
(M + m)ẍ + m`(ϕ̈ cos ϕ − ϕ̇2 sin ϕ) = F (t)
2
m 2 1 1
` ϕ̈ + m`ẍ cos ϕ + mg` sin ϕ + kϕ̇ = 0
3 2 2
1
(M + m)ẍ + m`(ϕ̈ cos ϕ − ϕ̇2 sin ϕ) = F (t)
2
Beispiel: Seilrollen
Ein undehnbares Seil der Länge L wird über zwei Rollen
(Masse m1 , Radius r , Trägheitsmoment I = m1 r 2 /2) ge-
führt. Am Ende des Seils hängen zwei durch ein Feder-
ℓ g Dämpfersystem (Steifigkeit c, Dämpferkonstante k, un-
gedehnte Länge `0 ) verbundene Massen m2 . Man er-
L mittle die Bewegungsgleichungen des Systems nach La-
grange.
r,m 1 r,m 1 Geg : L, `, r , m1 , m2 , c, k, `0 , g;
Als Freiheitsgrade können wir zB. die positiv nach oben gezählten Auslenkungen x1 und
x2 der beiden Massen m2 aus der gezeichneten Lage wählen. Wird die obere Masse um
x1 nach oben bewegt, so dreht sich die rechte Rolle um den Winkel x1 /r gegen den
Uhrzeigersinn, während die linke Rolle sich um x1 /2 nach unten bewegt und um den
Winkel x1 /(2r ) im Uhrzeigersinn dreht.
Die kinetische Energie lautet also
1 m1 m1 m1 m2 ẋ22
T = m2 + + + ẋ12 + = M1 ẋ12 + m2 ẋ22 /2.
2 4 2 8 2
Die potentielle Energie ergibt sich aus dem Gewicht und der Federkraft
wobei vereinfachend angenommen wurde, dass die Feder in der gezeichneten Lage ent-
spannt ist. Aus der virtuellen Arbeit der Dämpferkraft δA = −k(ẋ1 − ẋ2 )(δx1 − δx2 )
erhalten wir die verallgemeinerten Kräfte
dL X ∂L dqi X ∂L dq̇i ∂L
= + +
dt i
∂qi dt i
∂ q̇i dt ∂t
Mit
∂L d ∂L
!
=
∂qi dt ∂ q̇i
folgt
dL X d ∂L X ∂L dq̇i ∂L X d ∂L ∂L
! !
= q̇i + + = q̇i +
dt i
dt ∂ q̇i i
∂ q̇i dt ∂t i
dt ∂ q̇i ∂t
oder
d X ∂L ∂L
q̇i − L + =0 (10.1)
dt | i
∂ q̇i ∂t
{z }
h(q,q̇,t)
T = T0 + T1 + T2
geschrieben werden, wobei T0 = T0 (q); T1 = T1 (q, q̇) ist linear in den q̇i und T2 (q, q̇) ist eine
quadratische Funktion in den q̇i . Für Kräfte, die von Potentialen, die nicht von q̇i abhängen,
hergeleitet werden können, kann auch die Lagrangefunktion aufgeteilt werden:
L2 ist eine homogene Funktion von 2. Grad in q̇, während L1 homogen vom 1. Grad in q̇ ist.
Eine Funktion ist homogen vom Grad n in xi falls gilt:
X ∂f
xi = nf .
i
∂xi
Wenden wir dies nun auf h (10.1) an, wobei (10.2) gelten soll, erhalten wir
X ∂L X ∂L2 X ∂L1
h= q̇i −L = q̇i + q̇i −L2 − L1 − L0 = L2 − L0
i
∂ q̇i ∂
i | {z }
q̇ i ∂ q̇
i | {z } i
2L2 L1
h = L2 − L0 .
10 Erhaltungssätze und Symmetrieeigenschaften ([9]) 160
Falls die Ortsvektoren als Funktion der Lagekoordinaten r = r(q1 , . . . , qn , t) nicht explizit von
t abhängen, gilt
T = T2
und wenn das Potential nicht von der Geschwindigkeit abhängt
L2 = T , L0 = −V ,
und daraus
h = T + V = E.
Zusammenfassend können wir sagen, dass die Abwesenheit einer bestimmten Koordinate in
der Lagrangefunktion bedeutet, dass die Lagrangefunktion bei einer Transformation, die diese
Koordinate betrifft, nicht geändert wird. D. h., das System ist invariant oder symmetrisch gegen
diese Transformation. Aus der Invarianz der Lagrangefunktion gegen eine Zeittransformation
folgt der Energieerhaltungssatz.
die glatt von einem Parameter s abhängt. Diese Koordinatentransformation besitze folgende
Eigenschaften:
2. h0 q = q.
∂h(q, s)
q̇ , dhs · q̇ := q̇. (10.4)
∂q
Die Koordinatentransformation (10.3) ist eine Symmetriegruppe für das betrachtete System,
wenn sich die Lagrangefunktion L(q, q̇) unter der Transformation nicht ändert:
Satz 10.1 (Satz von Noether). Es seien der Zustandsraum M = {(q1 , q2 , . . . , qn )}, die Lagrange-
funktion L(q, q̇) und eine einparametrige Gruppe hs : M → M, s ∈ R, h0 = E gegeben. Lässt hs
die Lagrangefunktion L(q, q̇) invariant, d.h. ist
dann besitzt das entsprechende System von Lagrangeschen Gleichungen ein erstes Integral I der
folgenden Form
∂L ∂hs (q)
I(q, q̇) = . (10.7)
∂ q̇ ∂s s=0
161 10 Erhaltungssätze und Symmetrieeigenschaften ([9])
Beweis des Satzes von Noether. Wir differenzieren I(t) gegeben durch (10.7) und erhalten
Für den ersten Summanden erhalten wir aus den Lagrangen Gleichungen
∂L d ∂hs (q) ∂L ∂ d s
!
= h (q) (10.10)
∂ q̇ dt ∂s s=0
∂ q̇ ∂s s=0 dt
∂ ∂ 2 2
indem wir von der Vertauschbarkeit der Differentiationsreihenfolge ∂t∂s = ∂s∂t Gebrauch mach-
ten. Schließlich ist
d s
h (q) = dhs (q)q̇ (10.11)
dt
entsprechend Gleichung (10.4). Nun liefern die obigen Beziehungen und die Kettenregel
∂L ∂hs (q) ∂L ∂ ∂
İ(q, q̇) = + (dhs (q)q̇) = L(hs (q), dhs (q)q̇) = 0 (10.12)
∂q ∂s s=0
∂ q̇ ∂s s=0
∂s s=0
entsprechend (10.6).
Beispiel:
Es sei
m 2
M = {(q1 , q2 , q3 )}, L= (q̇ + q̇22 + q̇32 ) − V (q2 , q3 ).
2 1
das System erlaubt die Verschiebung
hs : (q1 , q2 , q3 ) → (q1 + s, q2 , q3 )
∂L dhs (q) ∂L
|s=0 = 1
∂ q̇1 ds ∂ q̇1
10.3 Beispiel: Lagrange Gleichung des Pendels mit vertikal erregtem Auf-
hängepunkt
Die Pendelstange sei starr und masselos und der Endkörper eine Punktmasse. Wir betrachten
nur eine ebene Bewegung.
1
T = m(ẋ 2 + ẏ 2 )
2
V = −mgx
y
ξ
ϕ
x
mg
m 2
T = (ξ̇ − 2`ξ̇ ϕ̇ sin ϕ + `2 ϕ̇2 )
2
V = −mg(ξ + ` cos ϕ)
m 2
L=T −V = (ξ̇ − 2`ξ̇ ϕ̇ sin ϕ + `2 ϕ̇2 ) + mg(ξ + ` cos ϕ)
2
d ∂L ∂L
!
− =0
dt ∂ ϕ̇ ∂ϕ
∂L m
= −2`ξ̇ sin ϕ + 2`2 ϕ̇
∂ ϕ̇ 2
d ∂L
!
= m −`ξ̈ sin ϕ − `ξ̇ ϕ̇ cos ϕ + `2 ϕ̈
dt ∂ ϕ̇
∂L m
= −2`ξ̇ ϕ̇ cos ϕ − 2g` sin ϕ
∂ϕ 2
g ξ̈
!
ϕ̈ + − sin ϕ = 0 (10.13)
` `
g aν 2
!
ϕ̈ + + cos νt sin ϕ = ϕ̈ + ω2 (t) sin ϕ = 0. (10.14)
` `
163 11 Hamiltonsche Gleichungen ([9])
d ∂L ∂L
!
− = 0, i = 1, . . . , n. (11.1)
dt ∂ q̇i ∂qi
Da die Gleichungen von zweiter Ordnung sind, ist die Bewegung des Systems nur dann für alle
Zeit vollständig festgelegt, wenn für alle n qi und alle n q̇i Anfangswerte vorgegeben werden.
In diesem Sinne bilden die Koordinaten qi zusammen mit den Geschwindigkeiten q̇i einen voll-
ständigen Satz von 2n unabhängigen Variablen, die zur Beschreibung der Systembewegung not-
wendig sind. Die Lagrangesche Formulierung (in der nichtrelativistischen Theorie) kann somit
als eine Beschreibung der Mechanik mit Hilfe der generalisierten Koordinaten und Geschwindig-
keiten mit der Zeit als Parameter angesehen werden. Wir suchen nun nach einer Formulierung,
in der die unabhängigen Variablen die generalisierten Koordinaten und die generalisierten Im-
pulse pi sind, definiert durch
∂L(qj , q̇j , t)
pi = . (11.2)
∂ q̇i
Die Basisänderung von dem Satz (q, q̇, t) auf den Satz (q, p, t) kann am besten mit einem
mathematischen Verfahren ausgeführt werden, das als Legendresche Transformation bekannt
ist. Sie ist gerade diesem Typ der Variablenänderung angepasst.
Betrachten wir eine Funktion von nur zwei Variablen f (x, y), so dass ein Differential von f
die Form hat:
df = udx + vdy, (11.3)
wobei
∂f ∂f
u= , v= . (11.4)
∂x ∂y
Wir wollen nun von der Basis x, y auf die unabhängigen Variablen u, y übergehen, so dass
differentielle Größen durch die Differentiale du und dy ausgedrückt werden können. g sei
eine Funktion von u und y, definiert durch die Gleichung
g = f − ux. (11.5)
dg = df − udx − xdu
Das hat genau die gewünschte Form. Die Größen x und v sind nun Funktionen der Variablen
u und y, die durch die Beziehungen
∂g ∂g
x=− , v= (11.6)
∂u ∂y
gegeben sind. Sie sind im wesentlichen die Umkehrung der Gl. (11.4).
Beispiel: Finde die Legendre-Transformation von f (x, y) = x 2 .
Antwort: g = x 2 − ux = x 2 − (2x)x = −x 2 = −1/4u2 , denn die Legendretransformierte g
von f muss durch die neue Variable u = 2x ausgedrückt werden.
H wird die Hamilton-Funktion genannt. Man erkennt in ihr die gleiche Funktion H wieder,
die in (10.1) aufgetreten ist. Sieht man sie als eine Funktion nur von p, q und t an, so ist das
Differential von H gegeben durch
X ∂H X ∂H ∂H
dH = dqi + dpi + dt. (11.8)
i
∂qi i
∂pi ∂t
Die Terme mit dq̇i in Gl. (11.9) heben sich auf infolge der Definition des generalisierten Impul-
ses:
X X ∂L
pi dq̇i − dq̇i = 0,
i i
∂ q̇ i
∂L
= ṗi .
∂qi
Ein Vergleich mit (11.8) liefert den folgenden Satz von 2n + 1 Beziehungen, die analog den Gl.
(11.6) sind:
∂H ∂H
q̇i = , −ṗi = , (11.11)
∂pi ∂qi
∂L ∂H
− = . (11.12)
∂t ∂t
165 11 Hamiltonsche Gleichungen ([9])
Die Gl. (11.11) heißen die kanonischen Hamiltonschen Gleichungen; sie bilden einen Satz von
2n Bewegungsgleichungen erster Ordnung, die an die Stelle der Lagrangeschen Gleichungen
treten. Im Prinzip besteht der erste Schritt bei der Lösung mechanischer Probleme in dieser
kanonischen Formulierung darin, die Lagrange-Funktion L als L(q, q̇, t) aufzustellen. Durch
Verwendung der Gl. (11.2) erhält man dann die kanonischen Impulse, und mit ihrer Hilfe wird
die Hamilton-Funktion gemäß der Definition (11.7) gebildet. Die Bewegungsgleichungen, die
nun von erster Ordnung sind, folgen dann durch Substitution von H in die Gl. (11.11).
Es ist interessant, dass die Hamiltonschen Gleichungen aus der Minimumbedingung der
Wirkung S (9.14) formal abgeleitet werden können, wenn man letztere nach (11.7) folgend
schreibt:
Z t1 X
S= pi dqi − Hdt
t0
i
und die Koordinaten und Impulse als unabhängig voneinander zu variierende Größen betrach-
tet. Wir nehmen der Kürze halber an, dass im ganzen nur eine Koordinate (und ein Impuls)
vorhanden ist. Für die Variation der Wirkung ergibt sich
Z t1 (
∂H ∂H
)
δS = δpdq + pdδq − δqdt − δpdt
t0 ∂q ∂p
An den Integrationsgrenzen ist δq = 0 zu setzen, so dass das integrierte Glied wegfällt. Der
restliche Ausdruck kann bei beliebigen unabhängigen δp und δq nur unter der Bedingung
verschwinden, dass die Integranden in beiden Integralen zu Null werden, also
∂H ∂H
dq = dt, dp = − dt,
∂p ∂q
ergibt sich
∂L
p= = m(−`ξ̇ sin ϕ + `2 ϕ̇).
∂ ϕ̇
Nach ϕ̇ aufgelöst erhalten wir
p ξ̇
ϕ̇ = + sin ϕ.
m`2 `
In
H = p ϕ̇ − L(ϕ, ϕ̇, t)
11 Hamiltonsche Gleichungen ([9]) 166
1 p2 1 p ξ̇ 1
H= + mξ̇ 2 sin2 ϕ + sin ϕ − mξ̇ 2 − mgξ − mg` cos ϕ.
2 m` 2 2 ` 2
Die Hamiltonschen Gleichungen lauten
∂H p ξ̇
ϕ̇ = = + sin ϕ
∂p m` 2 `
∂H p ξ̇
ṗ = − = −mξ̇ 2 sin ϕ cos ϕ − cos ϕ − mg` sin ϕ.
∂ϕ `
γ Geg.: `, `0 , m1 , m2 , γ, c, k, Erdbeschleunigung g.
m1 `12 ϕ̇2 m2 2
T = + (ẋ + x 2 ϕ̇2 ). (11.13)
6 2
Potentielle Energie:
γ 2 c
V = −g(m1 `1 /2 + m2 x) cos ϕ + ϕ + (`1 − x − `0 )2 . (11.14)
2 2
Virtuelle Arbeit der Dämpfung
δA = −kẋδx.
Legendretransformation
m1 `12
pϕ ϕ̇
! ! !
+ m2 x 2 0
= 3 . (11.15)
px 0 m2 ẋ
Daraus folgt ϕ̇ = pϕ /(m1 `12 /3 + m2 x 2 ) und ẋ = px /m2 . Die kinetische Energie in kanonischen
Variablen lautet daher
2
pϕ px2
T = + . (11.16)
2(m1 `12 /3 + m2 x 2 ) 2m2
Mit H = T + V lauten die Bewegungsgleichungen für die Impulse
z m
r Zwei homogene Scheiben (Massen m, M, Radien r , R) sind wie
ϕ skizziert durch eine masselose Stange verbunden.
ξ
Geg.: R, r , M, m,
x
R Ges.: Kinetische Energie T , Bewegungsgleichungen nach Hamil-
M
ψ ton,
m M
2 2 2 2
T = 3(r + R) ϕ̇ + 3R (1 + )ψ̇ + 2R(R + r )[2 cos ϕ − 1]ψ̇ϕ̇ .
4 m
V = W = mg(R + r ) cos ϕ.
Daraus ergibt sich mit ∆ = det M = 1/4 mR 2 (r + R)2 (6m + 9M + 2m(2 cos ϕ − cos 2ϕ))
2
ψ̇ m R) r )[2 ϕ p
! ! !
1 3(r + −R(R + cos − 1] ψ
= M−1 p =
ϕ̇ ∆ 2 −R(R + r )[2 cos ϕ − 1] 3R 2 (1 + M/m) pϕ
Die kinetische Energie besitzt wegen 2T = q̇ · Mq̇ die Gestalt 2T = p · M−1 p. Die Gesamtenergie
ist H = T + V .
Die Bewegungsgleichungen für die Impulsvariablen pψ und pϕ nach Hamilton lauten
ṗψ = ∂H/∂ψ = 0,
ṗϕ = ∂H/∂ϕ.
Wegen der Symmetrie (H hängt nicht von ψ ab), ist pψ konstant. Bei festem pψ hängen die
Hamiltonschen Bewegungsgleichungen nur von den Variablen ϕ und pϕ ab. Ist die Lösung für
diese Variablen bekannt, kann die Gleichung für ϕ integriert werden. Da das System konserva-
tiv ist, ist die Hamiltonfunktion H konstant. Für festes pψ verläuft die Dynamik des Systems
auf Höhenschichtlinien von H. Abbildung 11.1 zeigt typische Phasenportraits für verschiedene
Werte von pψ : Für pψ = 0 (links) sieht das Phasenportrait dem des einfachen Pendels sehr ähn-
lich. Für moderat große Werte von pψ existieren weiterhin asymmetrische Gleichgewichtslagen.
11 Hamiltonsche Gleichungen ([9]) 168
7.5
5
5
2.5
0
pj
pj
-2.5 -5
-5
-10
-7.5
-3 -2 -1 0 1 2 3 -3 -2 -1 0 1 2 3
j j
Abb. 11.1. Phasenportraits für das Walzenbeispiel: Links für pψ = 0, rechts für pψ > 0.
169 12 Poissonsche Klammern ([14])
df ∂f X ∂f ∂f
!
= + q̇k + ṗk .
dt ∂t k
∂qk ∂pk
Einsetzen der Ausdrücke für q̇k und ṗk aus den Hamiltonschen Gleichungen (11.11) liefert
df ∂f
= + {H, f }, (12.1)
dt ∂t
wobei die Bezeichnung
∂H ∂f ∂H ∂f
!
X
{H, f } = − (12.2)
k
∂pk ∂qk ∂qk ∂pk
eingeführt worden ist. Der Ausdruck (12.2) wird als Poissonsche Klammer für die Größen H
und f bezeichnet.
Funktionen von dynamischen Veränderlichen, die bei der Bewegung eines Systems konstant
bleiben, heißen, wie wir aus Kapitel 10 wissen, Bewegungsintegrale. Aus (12.1) sehen wir, dass
man die Bedingung dafür, dass die Größe f ein Bewegungsintegral ist (df /dt = 0), in der Form
∂f
+ {H, f } = 0 (12.3)
∂t
schreiben kann. Wenn das Bewegungsintegral nicht explizit von der Zeit abhängt, so wird
{H, f } = 0, (12.4)
{f , g} = −{g, f }, (12.6)
{f , c} = 0. (12.7)
Ferner gilt
∂ ∂f ∂g
{f , g} = ,g + f, . (12.10)
∂t ∂t ∂t
12 Poissonsche Klammern ([14]) 170
Wenn eine der Funktionen f oder g ein Impuls oder eine Koordinate ist, reduzieren sich die
Poissonschen Klammern einfach auf partielle Ableitungen, nämlich
∂f
{f , qk } = , (12.11)
∂pk
∂f
{f , pk } = − . (12.12)
∂qk
Die Formel (12.11) z. B. erhält man, wenn man in (12.5) g = qk nimmt; die ganze Summe redu-
ziert sich dabei auf ein einziges Glied, denn es gilt ∂qk /∂q` = δk` und ∂qk /∂p` = 0. Wenn wir
in (12.11) und (12.12) die Funktion f gleich qi bzw. pi setzen, erhalten wir
Zwischen den Poissonschen Klammern, die aus drei Funktionen gebildet sind, besteht die Be-
ziehung
{f , {g, h}} + {g, {h, f }} + {h, {f , g}} = 0; (12.14)
sie heißt Jacobische Identität.
Zu ihrem Beweis bemerken wir folgendes. Nach der Definition (12.5) sind die Poissonschen
Klammern {f , g} bilineare homogene Funktionen der ersten Ableitungen von f und g. Infolge-
dessen stellt z. B. die Klammer {h, {f , g}} eine lineare homogene Funktion der zweiten Ablei-
tungen von f und g dar. Die gesamte linke Seite der Gleichung (12.14) ist eine lineare homogene
Funktion der zweiten Ableitungen aller drei Funktionen f , g, h. Wir sammeln nun die Glieder,
die zweite Ableitungen von f enthalten. In der ersten Klammer kommen keine davon vor in
ihr treten nur die ersten Ableitungen von f auf. Die Summe der zweiten und dritten Klammer
schreiben wir in eine symbolische Form um, wobei wir die linearen Differentialoperatoren D1
und D2 gemäß
D1 (ϕ) = {g, ϕ}, D2 (ϕ) = {h, ϕ}
einführen. Dann ergibt sich
Es ist jedoch leicht zu sehen, dass eine solche Kombination von linearen Differentialoperatoren
keine zweiten Ableitungen von f enthalten kann. Denn diese linearen Differentialoperatoren
haben die allgemeine Form
X ∂ X ∂
D1 = ξk , D2 = ηk ,
k
∂xk k
∂xk
ist wiederum ein Operator, der aber nur erste Ableitungen enthält. Das bedeutet, dass sich auf
der linken Seite der Gleichung (12.14) alle Glieder mit zweiten Ableitungen von f gegensei-
tig aufheben. Da dasselbe offenbar auch für die Funktionen g und h gilt, wird der gesamte
Ausdruck identisch gleich Null.
Eine wichtige Eigenschaft der Poissonschen Klammern besteht darin, dass die aus zwei Be-
wegungsintegralen f und g gebildeten Klammern wiederum ein Bewegungsintegral darstellen,
d. h.
{f , g} = const. (12.15)
(sogenanntes Poissonsches Theorem).
Der Beweis dieses Theorems ist sehr einfach, wenn f und g nicht explizit von der Zeit
abhängen. Wenn wir in der Jacobischen Identität h = H setzen, erhalten wir
Hieraus sieht man, dass {H, {f , g}} = 0 aus {H, g} = 0 und {H, f } = 0 folgt, was zu beweisen
war.
Wenn die Bewegungsintegrale f und g explizit von der Zeit abhängen, schreiben wir nach
(12.1)
d ∂
{f , g} = {f , g} + {H, {f , g}}.
dt ∂t
Mit Formel (12.10) und nach Ersetzen der Klammer {H, {f , g}} durch zwei andere mittels der
Jacobischen Identität ergibt sich
d ∂f ∂g
{f , g} = ,g + f, − {f , {g, H}} − {g, {H, f }}
dt ∂t ∂t
∂f ∂g
= + {H, f }, g + f , + {H, g} = 0
∂t ∂t
oder
d df dg
{f , g} = ,g + f, = 0, (12.16)
dt dt dt
woraus der Beweis des Poissonschen Theorems im allgemeinen Falle folgt, da jede Klammer
für sich verschwindet.
Die Anwendung des Poissonschen Theorems liefert selbstverständlich nicht immer neue
Bewegungsintegrale, da deren Anzahl begrenzt ist (es gibt 2s − 1 Stück, wobei s die Anzahl
der Freiheitsgrade bedeutet). In einigen Fällen kann sich das triviale Resultat ergeben, dass die
Poissonschen Klammern auf eine Konstante führen. In anderen Fällen kann sich zeigen, dass
das neue Integral einfach eine Funktion der Ausgangsintegrale f und g ist. Wenn weder das eine
noch das andere zutrifft, liefern die Poissonschen Klammern ein neues Bewegungsintegral.
Die Bedeutung der Formulierung der Bewegungsgleichungen mittels der Poissonklammern
(12.11) und (12.12)
∂H
q̇k = {H, qk } =
∂pk
∂H
ṗk = {H, pk } = −
∂qk
liegt darin, dass die Poissonklammern in der klassischen Mechanik den Kommutatoren der
Quantenmechanik entsprechen. Somit ist erkennbar, dass die Bewegungsgleichungen der klas-
sischen und der Quantenmechanik dieselbe Struktur besitzen.
13 Kanonische Transformationen 172
H = H 0 (P1 , . . . , Pn ) (13.1)
∂H 0
Q̇i = = ωi (P ) (13.2a)
∂Pi
∂H 0
Ṗi = − =0. (13.2b)
∂Qi
D. h. aus Ṗi = 0 folgt, dass die Pi = konst. sind. Daraus folgt aber, dass die Gleichungen
Qi (t) = ωi t + βi , (13.4)
wobei die βi Integrationskonstante sind, die aus den Anfangsbedingungen bestimmt werden.
Es ist klar, dass im allgemeinen kaum Probleme auftreten werden, für die alle Koordinaten
zyklisch sind. Aber ein bestimmtes Problem kann durch mehr als einen Satz verallgemeiner-
ter Koordinaten beschrieben werden. Zum Beispiel kann man die Bewegung eines Punktes in
der Ebene durch kartesische Koordinaten x1 , x2 oder durch Polarkoordinaten r , ϕ beschrei-
ben. Bewegt sich der Punkt in einem Zentralfeld, dann ergibt sich für x1 , x2 keine zyklische
Koordinate, wohl jedoch ist ϕ in Polarkoordinaten zyklisch.
Beispiel: Kepler-Problem
y
m Wir untersuchen die Bewegung einer Punktmasse in der
Ebene unter dem Einfluss der Gravitationskraft
f
∂V k
− = f = − 2 er (13.5)
r ∂r r
mit V = −k/r .
ϕ x
Kartesische Koordinaten:
m 2
T = (ẋ + ẏ 2 )
2
k
V = −q
x2 + y 2
m 2 k
L = T −V = (ẋ + ẏ 2 ) + q
2 x2 + y 2
173 13 Kanonische Transformationen
∂L px
px = = mẋ ẋ =
∂ ẋ m
∂L py
py = = mẏ ẏ =
∂ ẏ m
m 2 k
H = px ẋ + py ẏ − (ẋ + ẏ 2 ) − √ 2 =
2 x + x2
1 k
= (px2 + py2 ) − q
2m x2 + y 2
Polarkoordinaten:
x = r cos ϕ , y = r sin ϕ
ẋ = ṙ cos ϕ − r ϕ̇ sin ϕ
ẏ = ṙ sin ϕ + r ϕ̇ cos ϕ
m k
L = (ṙ 2 + r 2 ϕ̇2 ) + (13.6)
2 r
∂L
pr = = mṙ
∂ ṙ
pϕ = mr 2 ϕ̇
m 2 k
H = pr ṙ + pϕ ϕ̇ − (ṙ + r 2 ϕ̇2 ) − =
2 r!
2 2
pr2 pϕ m pr2 2
p ϕ k
= + − + r −
m mr 2 2 m2 m2 r 4 r
2
pr2 pϕ k
= + −
2m 2mr 2 r
Da die Variable ϕ in H nicht auftritt, ist die Größe pϕ konstant. Daher kann der Term
2
pϕ /(2mr 2 ) wie ein zusätzlicher Energieterm (“Amended Potential”) behandelt werden
und aus dem Energiesatz H = h folgt bereits die (Vorstufe der) Lösung des Systems:
q
pr 2mh + 2mk/r − pϕ 2 /r 2
ṙ = = .
m m
1 d
r · ṙ = (r · r) = r ṙ
2 dt
und dass der Drallvektor d konstant ist, folgend geschrieben werden
d ṙ r ṙ d r
(p × d) = −mf (r )r 2 − 2 = −mf (r )r 2 . (13.9)
dt r r dt r
Für die weitere Rechnung müssen wir nun f (r ) spezifizieren. Mit (13.5) kann (13.9) sofort
integriert werden. Es ergibt sich nämlich
d d mkr
(p × d) = ,
dt dt r
r · (p × d) = d · (r × p) = d2 .
Hier wird mit d der Betrag des Dralls bezeichnet. Eingesetzt in (13.12) folgt
Ar cos ϕ = d2 − mkr .
oder
1 mk A
= 2 1+ cos ϕ . (13.13)
r d mk
Vergleichen wir (13.13) mit (2.22), so sehen wir, dass der Runge-Lenz Vektor eine andere Mög-
lichkeit der Herleitung der Orbitgleichung für das Keplerproblem liefert. Der Vergleich mit den
im Abschnitt 2.1.3 verwendeten Bezeichnungen zeigt, dass
mk
ε= . (13.14)
A
und der Vektor A in Richtung des Ortsvektors zum Perihel zeigt.
Weiters sei bemerkt, dass auch der Runge-Lenz Vektor einer Symmetrie entspricht17 (([20]
S.335), die nicht mit den üblichen geometrischen Symmetrien des Systems, sondern mit dem
17
Gemäß http://en.wikipedia.org/wiki/Laplace-Runge-Lenz_vector ist das Keplersche Problem äqui-
valent zur freien Bewegung einer Punktmasse auf einer Einheitskugel im 4-dimensionalen Raum.
175 13 Kanonische Transformationen
inversen quadratischen Abstandsgesetz der Schwerkraft zusammenhängt und die daher auch
als „versteckte Symmetrie“ bezeichnet wird ([8]).
Für das Kepler Problem haben wir somit zwei vektorielle Konstanten d und A und als skala-
re Konstante die Energie E. Da jeder Vektor drei unabhängige Komponenten besitzt, entspricht
dies sieben Erhaltungsgrößen. Allerdings hat ein Problem wie dieses mit drei Freiheitsgraden
nur sechs unabhängige Konstanten der Bewegung, entsprechend den jeweils drei Komponenten
der Anfangslage und Anfangsgeschwindigkeit. Weiters sind die Bewegungskonstanten, die wir
gefunden haben, alle algebraische Funktionen von r und p, die den Orbit als Ganzes beschrei-
ben (Orientierung im Raum, Exzentrizität, usw.), keine von den sieben Konstanten bezieht sich
darauf, wo sich das Teilchen am Orbit zur Anfangszeit befindet. Diese Information muss bei-
spielsweise in der Angabe der Zeit T , wann das Teilchen durch das Perihel geht, gegeben sein.
Daraus folgt, dass nur fünf unabhängige Konstante bleiben, die die Größe, Form und Orientie-
rung das Orbits beschreiben. Das heißt, dass d, A und E nicht unabhängig voneinander sein
können, es müssen zwischen ihnen zwei Beziehungen bestehen. Eine ist die Orthogonalität von
d und A, gegeben durch (13.11). Die zweite folgt aus (13.14), wenn man die Exzentrizität ε
durch d und E ausgedrückt.
Qi = Qi (q, p, t) (13.15a)
Pi = Pi (q, p, t) (13.15b)
∂H 0 ∂H 0
Q̇i = , Ṗi = − (13.16)
∂Pi ∂Qi
Qi und Pi sind kanonische Koordinaten, falls sie, wie im Abschnitt 10 gezeigt, ein modifi-
ziertes Hamiltonsches Prinzip
Z t2 X
δ Pi Q̇i − H 0 (Q, P, t) dt = 0 (13.17)
t1
i
erfüllten. Aus der gleichzeitigen Gültigkeit von (13.17) und (13.18) folgt nicht, dass die Inte-
granden gleich sind. Addiert man einen Ausdruck, der eine totale Zeitableitung einer Funktion
F ist, wobei F von den kanonischen Variablen abhängt, so folgt wegen des Verschwindens der
Variationen am Rand zufolge der kanonischen Variablen, dass kein Beitrag zu den Gleichungen
geliefert wird. Wir erhalten daher
X X dF
pi q̇i − H = Pi Q̇i − H 0 + . (13.19)
i i
dt
Wie gerade erwähnt, trägt die Funktion F zur Variation des Wirkungsintegrals dann nichts
bei, falls sie eine Funktion der (q, p, t) oder (Q, P, t) oder eine Mischung der Phasenraumkoor-
dinaten ist, da deren Variationen an den Endpunkten verschwinden. Da außerdem (13.15) eine
invertierbare Punkttransformation sein muss, kann F auch in Ausdrücken teilweise in den al-
ten Variablen und teilweise in den neuen Variablen ausgedrückt werden. Tatsächlich ist F nur
dann nützlich, falls abgesehen von der Zeit t eine Hälfte in den alten und die andere Hälfte in
den neuen Variablen ausgedrückt wird.
Man nennt dann F eine generierende Funktion.
Wir wählen
F = F1 (q, Q, t) . (13.20)
Aus (13.19) folgt dann
X X dF1 X ∂F1 X ∂F1 X ∂F1
pi q̇i − H = Pi Q̇i − H 0 + = Pi Q̇i − H 0 + + q̇i + Q̇i , (13.21)
i i
dt i
∂t i
∂qi i
∂Qi
die Beziehungen
∂F1
pi = (q, Q, t), (13.22a)
∂qi
∂F1
Pi = − (q, Q, t), (13.22b)
∂Qi
∂F1
H0 = H + . (13.22c)
∂t
177 13 Kanonische Transformationen
(13.22a) sind n Gleichungen, die die pi als Funktion der qj , Qj und t definieren. Unter der Vor-
aussetzung, dass sie nach Qj aufgelöst werden können, erhalten wir die Qj als Funktion der
qj , pj und t. Somit hätten wir die erste Hälfte der Transformation. Dieses Ergebnis in (13.22b)
eingesetzt, liefert dann die Pj und somit die gesamte Variablentransformation. (13.22c) liefert
den Zusammenhang zwischen H 0 und H, wobei (13.22c) wie folgt zu verstehen ist: Zuerst wer-
den q, p durch Funktionen von Q, P in H durch Invertierung von (13.15) ausgedrückt. Dann
wird q in ∂F1 /∂t durch Q, P ausgedrückt und schließlich werden die beiden Funktionen addiert
um H 0 (Q, P, t) zu liefern.
Diese Prozedur zeigt, wie man ausgehend von einer generierenden Funktion die Transforma-
tion (13.15) erhält. Umgekehrt kann man jedoch ausgehend von den Transformationsgleichun-
gen (13.15) versuchen, eine geeignete generierende Funktion F herzuleiten. Die Gleichungen
(13.15) werden invertiert, um pi und Pi als Funktionen von q, Q und t auszudrücken. Glei-
chungen (13.22)1,2 sind dann ein Satz von partiellen Differentialgleichungen 1. Ordnung, die
im Prinzip integriert werden können, um F1 zu finden, vorausgesetzt, dass die Transformation
kanonisch ist. Oft ist es nicht vorteilhaft, F = F1 von q, Q abhängen zu lassen. Es gibt noch drei
weitere Fälle: F2 (q, P, t), F3 (p, Q, t) und F4 (p, P, t).
F2 zum Beispiel wird aus F1 durch eine Legendre Transformation bezüglich Q der Form
X
F2 (q, P, t) = Qi Pi + F1 (q, Q, t)
i
hergeleitet. Denn wenn man das Differential dF2 bildet, erhält man mit (13.22b)
∂F1
= −Pi
∂Qi
genau die richtige Abhängigkeit. Nun ist F2 als Funktion von q, P zu betrachten, denn es gilt
X X
dF2 = dF1 + Qi dPi + Pi dQi =
i i
∂F1 ∂F1
!
X
= dqi + Qi dPi + dt .
i
∂qi ∂t
X X X X dF2 (q, P, t)
pi q̇i − H = Pi Q̇i − H 0 − Q̇i Pi − Ṗi Qi +
i i i i
dt
mit
dF2 X ∂F2 X ∂F2 ∂F2
= q̇i + Ṗi +
dt i
∂q i i
∂P i ∂t
ergibt sich
∂F2 ∂F2 ∂F2
!
X X
pi − q̇i − −Qi + Ṗi + H 0 − H − =0
i
∂qi i
∂Pi ∂t
13 Kanonische Transformationen 178
und daraus
∂F2
pi = (q, P, t) (13.23a)
∂qi
∂F2
Qi = (q, P, t) (13.23b)
∂Pi
∂F2
H0 = H + . (13.23c)
∂t
Wie vorhin kann man (13.23a) invertieren und Pi als Funktion von qi und pi ausrechnen. Aus
(13.22b) erhält man den 2. Teil, wenn man in F2 die Pi einsetzt. Für generierende Funktionen
der Gestalt
F2 (q, P, t) = P · q + εF2,1 (q, P, t)
erhält man die „identitätsnahen“ Transformationen
Qi = qi + ε∂F2,1 /∂Pi ,
pi = Pi + ε∂F2,1 /∂qi .
Denselben Typ von generierenden Funktionen – allerdings mit vertauschten Rollen von „alt“
und „neu“ – erhält man, indem man mittels (13.22a) die Legendretransformation von F1 bezüg-
lich q bildet:
F3 (Q, p, t) = p · q − F1 (q, Q, t).
Mit dF1 /dt = ṗ · q + p · q̇ − (∂F3 /∂Q)Q̇ − (∂F3 /∂p)ṗ − ∂F3 /∂t ergeben sich durch Einsetzen in
(13.19) und Koeffizientenvergleich die Gleichungen
Den vierten Typ von kanonischen Transformationen erhält man schließlich, indem man zB.
die Legendretransformation von F2 bezüglich der Variablen q bildet:
Mit dF2 /dt = ṗ · q + p · q − (∂F4 /∂p)ṗ − (∂F4 /∂P)Ṗ − ∂F4 (p, P, t)/∂t ergeben sich auf dieselbe
Weise wie vorher die Transformationsgleichungen
Hier sind gegenüber den generierenden Funktionen von Typ 1 die Rollen von Lage- und Impuls-
koordinaten vertauscht.
Die verschiedenen Typen von generierenden Funktionen können auch kombiniert ange-
wandt werden, z.B. Typ 2 für (q1 , p1 ), Typ 4 für (q2 , p2 ).
kanonisch wird. Dabei betrachten wir (r , ϕ) = (Q1 , Q2 ) als „neue“ Zustandsvariable und
entsprechend (pr , pϕ ) = (P1 , P2 ) als „neue“ Impulsvariable.
Aus der „umgekehrten“ Transformationsgleichung
q1 = Q1 cos(Q2 ),
q2 = Q1 sin(Q2 )
Nun müssen wir in diesen Gleichungen noch die Qi durch die alten Koordinaten aus-
drücken:
q2
q
Q1 = q12 + q22 , Q2 = arctan , cos(Q2 ) = q1 /Q1 , sin(Q2 ) = q2 /Q1 .
q1
Hätten wir die kartesischen Variablen (q1 , q2 , p1 , p2 ) als „neue“ Variable betrachtet, wäre
die generierende Funktion natürlich vom Typ F2 , an den Rechnungen hätte sich nichts
geändert.
Selbstverständlich wäre auch die Funktion
q2
q
F = P1 q12 + q22 + P2 arctan
q1
Der folgende Text ist dem sehr lesenswerten Buch „Averaging Methods in Nonlinear Dynamical
Systems“ von J.A. Sanders und F. Verhulst, Springer-Verlag, entnommen und adaptiert.
Gegeben sei eine „gestörte“ Hamiltonfunktion
mit dem Störparameter ε 1 und der ungestörten Hamiltonfunktion H0 (q, p). Mittels einer
kanonischen Koordinatentransformation, die durch eine erzeugende Funktion
des Typs 2 bestimmt wird, soll die Hamiltonfunktion in eine einfachere Gestalt transformiert
werden.
13 Kanonische Transformationen 180
H 0 = H0 + εH10 + ε2 H20
annimmt, sind die partiellen Differentialgleichungen für F210 und F211 zu lösen:
∂F210
H10 = H10 + {H0 , F210 } + , (13.34)
∂t
∂F211
H20 = H̃11 + {H0 , F211 } + , (13.35)
∂t
mit
Der Störterm H̃11 besteht also aus dem Koeffizienten H11 von ε2 in der ursprünglichen Hamil-
tonfunktion und Termen, die durch die erste Koordinatentransformation neu erzeugt wurden.
Alle diese Terme lassen sich berechnen, sobald F210 bekannt ist.
Wir nehmen nun an, dass wir die ursprüngliche Hamiltonfunktion bereits auf Wirkungs-Winkel-
Variable (ϕ, I) transformiert haben
H0 = Ho (I), (13.36)
sodass İ = 0 und ϕ̇ = ω(I) = ∂H0 /∂I.
Wir betrachten nun eine kleine Störung des Systems
wobei die Störung periodisch in den Winkelvariablen ϕ sein soll, und suchen eine kanonische
Transformation zu neuen Variablen (J, ψ), die die Störterme vereinfacht.
Mit dem üblichen Ansatz
F2 (ϕ, J) = ϕ · J + εF21 (ϕ, J) (13.38)
erhalten wir mit (13.34) die Gleichung
∂F21
H10 (J, ψ) = H1 + {H0 , F21 } = H1 + · ω(J). (13.39)
∂ψ
Für den Spezialfall, dass in H1 nur ein Winkel ϕ1 auftritt18 und ω1 = ∂H0 /∂I1 6= 0, können wir
(13.39) folgendermaßen lösen: Wir spalten H1 in seinen Mittelwert über eine Periode
Z 2π
1
H 1 (I) = H1 (I, ϕ1 )dϕ1 ,
2π 0
wobei die langsam veränderliche Wirkungsvariable I als konstant betrachtet wird, und den
variablen Anteil mit Mittelwert 0
da F21 (I, 2π ) = F21 (I, 0), weil der Mittelwert von H̃1 über eine Periode verschwindet. Wäre F21
nicht periodisch in ϕ1 , wäre die dadurch definierte Koordinatenstransformation nicht für alle
Werte von ϕ1 gültig.
Die neue Hamiltonfunktion H 0 = H0 + εH 1 hängt wieder nur von den neuen Wirkungsvaria-
blen J ab. Diese Wirkungsvariablen sind auf einem Zeitintervall der Länge O(1/ε) annähernd
konstant; man nennt sie adiabatische Veränderliche.
Durch die Mittelungsmethode wurde die Bewegung des ursprünglichen Systems in eine lang-
same Evolution und eine überlagerte Oszillation zerlegt.
Bemerkung: Zeitlich periodische Störungen lassen sich durch eine passende zeitlich periodi-
sche Erzeugende oder durch folgenden Trick behandeln: Wir betrachten t als zusätzliche Im-
pulsvariable pn+1 , führen eine zusätzliche Zustandsvariable qn+1 ein und erweitern die Hamil-
tonfunktion
K(q̂, p̂) = H(q, p, t) − qn+1
mit q̂ = (q1 , . . . , qn , qn+1 )T und p̂ = (q1 , . . . , qn , t)T . Damit bleibt die ursprüngliche Form der
Hamiltonschen Gleichungen erhalten; für die neue Zustandsvariable qn+1 lautet die Differenti-
algleichung
q̇n+1 = ∂H/∂t.
Die neue Zustandsvariable ist also bis auf eine uninteressante additive Konstante der Wert der
Hamiltonfunktion.
Beispiel: Generierende Funktion für den linearen Oszillator Die Hamiltonfunktion für eine ein-
dimensional bewegliche, elastisch fixierte Masse lautet
p2 cq2
H= + .
2m 2
q2
F1 = −α tan Q.
2
√
Aus H 0 = H folgt mit α = mc
c
r
H =P
0
.
m
Damit ergeben sich die Differentialgleichungen für die Winkelvariable Q und die Wir-
kungsvariable P :
c
r
Q̇ = ω = , Ṗ = 0.
m
Rücktransformation auf die alten Koordinaten liefert die Beziehungen
q = 2αP cos Q,
p
p = − 2P /α sin Q.
p
Beispiel: Erzeugende Funktionen für Rotationen Wir suchen generierende Funktionen für die
Rotationen
Q cos α − sin α q c −s q
! ! ! ! !
= =: (13.40)
P sin α cos α p s c p
für einen festen Wert von α.
Um eine Erzeugende des Typs F1 (q, Q) zu verwenden, lösen wir (13.40) nach p und P auf
und erhalten mit (13.22)
TT JT = J.
AT J + JA = 0.
13 Kanonische Transformationen 184
Die symplektischen Matrizen sind regulär mit Determinante 1 und bilden bezüglich der
üblichen Matrixmultiplikation eine Gruppe. Ist λ ein Eigenwert einer symplektischen Matrix, so
ist auch 1/λ ein Eigenwert. Die Transponierte und die Inverse einer symplektischen Matrix sind
ebenfalls symplektisch und es gilt
T−1 = JT TT J.
Die Jacobimatrizen von Hamiltonschen Differentialgleichungen sind infinitesimal symplek-
tische Matrizen. Die Eigenwerte von infinitesimal symplektischen Matrizen liegen symmetrisch
zu 0: Ist λ ein Eigenwert von A, so ist auch −λ ein Eigenwert. Hamiltonsche Systeme können
daher niemals asymptotisch stabil sein.
Definition 13.2. Eine Abbildung (q, p) , (Q, P) = F(q, p) heißt symplektisch, falls ihre Jaco-
bimatrix symplektisch ist.
Mithilfe der Matrix J und der Variablen z = (q, p) lassen sich Hamiltonsche Differentialglei-
chungen in der Form
T
∂H
ż = J (13.43)
∂z
schreiben. Für autonome Systeme und Koordinatentransformationen lautet die Hamiltonfunk-
tion in den neuen Variablen Z = F(z)
∂H 0 ∂H ∂z
= ,
∂Z ∂z ∂Z
sodass
∂H ∂H 0 ∂F
=
∂z ∂Z ∂z
In den neuen Koordinaten lauten die Bewegungsgleichungen
T T T
∂F ∂H 0 ∂F ∂F ∂F ∂H 0
Ż = J = J .
∂z ∂Z ∂z ∂z ∂z ∂Z
das heißt, das transformierte Differentialgleichungssystem ist wieder eine Hamiltonsche Diffe-
rentialgleichung.
185 14 Hamilton-Jacobi Theorie ([14])
2. Man sucht eine kanonische Transformation von Koordinaten und Impulsen (q, p) zur Zeit
t zu einem Satz von Größen (Q, P), die für beliebiges t konstant sind. Die Konstanten sind
aus den 2n Anfangswerten (q0 , p 0 ) zur Zeit t = 0 zu bestimmen.
Wir betrachten zuerst den 2. Fall, da er der allgemeinere ist und auch anwendbar ist, wenn die
Hamiltonfunktion explizit von t abhängt.
Man wählt nun die Transformation so, dass
Qi = βi = const.
Pi = αi = const..
Die Lösung des Problems ergibt sich dann durch Umkehrung der Transformation (13.15)
qi = qi (β, α, t)
pi = pi (β, α, t).
∂F
H(q, p, t) + =0 (14.2)
∂t
erfüllen. Wir nehmen nun F als Funktion von qi , Pi an, d. h. F = F2 (qi , Pi , t). Dann können wir
die Beziehung (13.23)1
∂F2
pi =
∂qi
benützen und in (14.2) eingesetzt folgt
(14.3) heißt die Hamilton-Jacobische Gleichung. Sie ist eine nichtlineare, partielle Differential-
gleichung 1. Ordnung für die gesuchte generierende Funktion F2 in (n+1) Variablen q1 , . . . , qn , t.
Nichtlinear ist sie, da H quadratisch von den Impulsen und damit quadratisch von ∂F2 /∂qi ab-
hängt.
Die Integration von (14.3) liefert nur eine Abhängigkeit von den alten Koordinaten und der
Zeit t. Im ersten Moment ist es nicht klar, wie die neuen Impulse Pi in der Lösung enthalten
sind. Tatsächlich sind die Pi vorläufig noch nicht spezifiziert, außer dass sie konstant sind. Die
Form der Lösung gibt jedoch einen Hinweis, wie die Pi gewählt werden können.
Die Hamilton-Jacobi Gleichung (14.3) enthält n + 1 verschiedene Ableitungen der gesuchten
Funktion F2 . Daher treten nach der Integration n + 1 Konstante auf. Die Lösung ist von der
Form
F2 = S(q1 , . . . , qn ; α1 , . . . , αn ; t) + αn+1 . (14.4)
α1 , . . . , αn+1 sind die n + 1 unabhängigen Integrationskonstanten. (14.4) wird als vollständige
Lösung bezeichnet. Eine der Integrationskonstanten ist trivial additiv, denn F2 selbst taucht
in der Differentialgleichung nicht auf. Somit ist S + αn+1 ebenfalls eine Lösung. Diese additi-
ve Konstante hat jedoch keinen Einfluss auf die Transformation, da dort nur die Ableitungen
wichtig sind. Daher können wir die Lösung S, die als Hamiltonsche Prinzipalfunktion oder Wir-
kungsfunktion bezeichnet wird, in der Form
S = S(q1 , . . . , qn ; α1 , . . . , αn ; t) (14.5)
schreiben. (14.5) liefert S genau in der Form, wie sie für F2 gefordert wird, nämlich als eine
Funktion von n alten Koordinaten, der Zeit t und n unabhängigen konstanten Größen αi . Wie
haben daher die Freiheit, die n Konstanten als die neuen Impulse
Pi = αi (14.6)
zu nehmen.
Die Transformationsgleichungen (13.23)1 lauten daher
∂S(q, α, t)
pi = . (14.7)
∂qi
Für den Wert t = t0 erlauben die n Gleichungen (14.7) einen Zusammenhang herzustellen zwi-
schen den Integrationskonstanten αi und den Anfangsbedingungen qi (t0 ), pi (t0 ). Die zweite
Hälfte der Transformation, die die neuen konstanten Koordinaten liefert, ist
∂S(q, α, t)
Qi = βi = . (14.8)
∂αi
Die Konstanten βi werden in analoger Weise von den Anfangsbedingungen bestimmt, einfach
durch Berechnung der Werte auf der rechten Seite von (14.8) für t = t0 , mit den bekannten
Anfangswerten von qi . Auflösen von (14.8) nach den qi liefert
(14.9) und (14.10) sind die gewünschte vollständige Lösung der Hamiltonschen Bewegungsglei-
chungen.
187 14 Hamilton-Jacobi Theorie ([14])
Die Hamiltonsche Prinzipalfunktion ist somit die Erzeugende einer kanonischen Transfor-
mation zu konstanten Koordinaten und Impulsen.
Löst man somit die Hamilton-Jacobi Differentialgleichung, so löst man gleichzeitig auch
ein mechanisches Problem. Mathematisch ausgedrückt liegt eine enge Beziehung zwischen 2n
kanonischen Bewegungsgleichungen, die von 1. Ordnung sind, und einer partiellen Differenti-
algleichung 1. Ordnung vor.
Ein weiterer Einblick in die physikalische Bedeutung von S(q, α, t) wird durch ihre totale
Zeitableitung geliefert:
dS X ∂S ∂S
= q̇i + (14.11)
dt i
∂q i ∂t
Aus (14.7) und (14.3) folgt
dS X
= pi q̇i − H = L. (14.12)
dt i
D. h., die Hamiltonsche Prinzipalfunktion differiert vom unbestimmten Integral über die La-
grange Funktion nur um eine Konstante
Z
S = Ldt + konst. (14.13)
Das Hamiltonsche Prinzip ist eine Aussage über das bestimmte Integral von L. In (14.13) liegt
dasselbe Integral in unbestimmter Form vor. Für die tatsächliche Lösung eines Problemes ist
(14.13) wertlos, da das Integral nur nach der Zeit integriert werden kann, falls qi und pi als
Funktionen der Zeit t bekannt sind, d. h. wenn das Problem gelöst ist.
m 2
q T = q̇
2
c 2
c m V = q
2
m 2 c 2
L = T −V = q̇ − q
2 2
∂L p
p= = mq̇ ⇒ q̇ = ,
∂ q̇ m
p2 m 2 mω2 2
!
1
H= − q̇ − q = (p 2 + m2 ω2 q2 ) = E mit ω2 = c/m.
m 2 2 2m
Die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung für S erhalten wir, indem wir für p = ∂S/∂q in
der Hamiltonfunktion einsetzen. Die Forderung, dass die neue Hamiltonfunktion verschwinden
soll, liefert !2
1 ∂S ∂S
+ m 2 ω2 q 2 + = 0. (14.14)
2m ∂q ∂t
Eine Lösung dieser Gleichung wird durch den Ansatz
S(q, t) = W (q) + S0 (t)
erhalten. Eingesetzt ergibt sich
!2
1 ∂W ∂S0
+ m 2 ω2 q 2 + = 0.
2m ∂q ∂t
14 Hamilton-Jacobi Theorie ([14]) 188
Da der erste Term nur von q und der zweite Term nur von t abhängt, müssen sie jeweils
konstant sein. D.h. !2
1 ∂W
+ m 2 ω2 q 2 = α
2m ∂q
∂S0
= −α.
∂t
Aus der zweiten Gleichung folgt sofort S0 = −αt. Damit lautet die allgemeine Lösung
∂S
H+ = 0 → H = +α
∂t
Integration der ersten Gleichung liefert
!2
∂W mω2 2
!
2 2 2
= 2mα − m ω q = 2mα 1 − q
∂q 2α
s
mω2 q2
Z
W = 2mα dq
p
1−
2α
und in S eingesetzt s
mω2 q2
Z
S = 2mα
p
1− dq − αt.
2α
Wir brauchen die Integration nicht durchzuführen, da wir nicht S sondern nur die Ableitung
∂S/∂α benötigen.
∂S m dq
r Z
β= = −t
∂α 2α mω2 q2
q
1− 2α
Integration liefert s
1 mω2
t+β= arcsin q
ω 2α
oder s
2α
q= sin ω(t + β).
mω2
Formal erhalten wir nun die Lösung für den Impuls aus
∂S ∂W q
p= = = 2mα − m2 ω2 q2 .
∂q ∂q
Wir müssen nun noch die Konstanten α und β mit den Anfangsbedingungen q0 und p0 zur Zeit
t = 0 verknüpfen. Man erhält durch Quadrieren
Pi = konst., Qi = νi t + βi .
Diese Transformation ist dann möglich, wenn H(q, p) nicht explizit von t abhängig ist. Dann
folgt, dass H(q, p) = E. Weiters ist dann die generierende Funktion F2 (qi , P) ebenfalls nicht
explizit von der Zeit abhängig. Wir bezeichnen diese nun mit
∂W ∂W ∂W
!
H (P ) = H q1 , . . . , qn ,
0
,..., +
∂q1 ∂qn ∂t
∂W ∂W
!
= H q1 , . . . , qn , ,..., = E = α1
∂q1 ∂qn
wobei wir die spezielle Wahl treffen, die Konstante E = α1 zu setzen. D.h., dass H gleich dem
neuen Impuls sein soll. Wir erhalten die folgende partielle Differentialgleichung
∂W ∂W
!
H q1 , . . . , qn ; ,..., = H 0 (α1 , . . . , αn ) = α1 , (14.15)
∂q1 ∂qn
da W die Zeit t nicht explizit enthält und damit die neue und die alte Hamiltonfunktion gleich
sind. Bei der Lösung treten nur n − 1 Konstante auf, die wir mit α2 , . . . , αn bezeichnen, da
eine additive Konstante zu W belanglos ist, da nur die Ableitungen von W in der Differential-
gleichung auftreten. Wir benützen nun W als generierende Funktion. Da die Pi Konstante sind,
setzen wir W = W (qi , . . . , qn ; α1 . . . , αn ). Aus (13.23) folgt sofort
∂W
pi = (q1 , . . . , qn ; α1 , . . . , αn ) (14.16)
∂qi
∂W
Qi = (q1 , . . . , qn ; α1 , . . . , αn ). (14.17)
∂αi
14 Hamilton-Jacobi Theorie ([14]) 190
Die Funktion W erzeugt nun eine spezielle Transformation, in der alle neuen Koordinaten zy-
klisch sind. D. h.
∂H 0
Ṗi = − = 0, Pi = αi
∂Qi
∂H 0 1, für i = 1
Q̇i = =
∂αi 0, für i 6= 1
∂H 0
Q̇i = = νi und Qi = νi t + βi .
∂γi
Für ein System von mehr als einem Freiheitsgrad ist eine Lösung von (14.15) nur möglich, wenn
das System die Eigenschaft der Separierbarkeit besitzt.
schreiben und die Hamilton-Jacobi-Gleichung zerlegt sich in zwei Gleichungen — eine getrennt
für S1 und die andere für S 0 .
Die Hamilton-Jacobische Gleichung heißt vollständig separierbar oder einfach separabel,
falls alle Koordinaten separabel sind. Eine Lösung
n
X
S= Si (qi ; α1 , . . . , αn ; t)
i=1
∂S1 ∂Sn ∂S
!
H q1 , . . . , qn ; ,..., + =0
∂q1 ∂qn ∂t
191 14 Hamilton-Jacobi Theorie ([14])
∂Si
!
Hi qi ; ; α1 , . . . , αn − αi = 0, i = 1, . . . , n..
∂qi
Da für ein konservatives System H nicht explizit von der Zeit t abhängt, lautet die Hamilton-
Jacobische Gleichung
∂W ∂S0
!
H qi , + = 0.
∂qi ∂t
Der erste Term ist von t unabhängig und nur von qi abhängig. Der zweite Term ist nur eine
Funktion von t. Daher müssen beide Terme einer Konstanten gleich sein
∂S0
= −α1
∂t!
∂W (14.19)
H qi , = +α1 .
∂qi
Die erste Gleichung liefert S0 = −α1 t, während die zweite die Hamilton-Jacobi-Gleichung für W
ist. Daher ist die Konstante α1 gleich dem konstanten Wert von H. Im allgemeinen wird dieser
Wert gleich der Energie sein. Eine analoge Separation in W ist nun möglich, falls alle außer einer
verallgemeinerten Koordinate zyklisch sind. Es sei q1 die einzige nicht zyklische Koordinate.
Wir setzen X
W = Wi (qi , Pi )
i
mit
∂Wi
= pi = αi . i≠1 (14.20)
∂qi
Die nichttriviale Beziehung reduziert sich auf
∂W1
!
H q1 , , α2 , . . . , αn = α1
∂q1
und ist durch Quadratur lösbar. Die Gleichungen (14.20) sind trivial lösbar mit Wi = αi qi und
W ergibt sich zu
Xn
W = W1 + αi qi .
i=2
S = −α1 t + W (q1 , . . . , qn ; α1 , . . . , αn )
∂W
!
H qi , = α1 (14.21)
∂qi
14 Hamilton-Jacobi Theorie ([14]) 192
geschrieben werden kann. Dies ist der Fall, falls die kinetische Energie von der Form
!2
X ∂W
T = Ak (qk )
k
∂qk
an. Diese kann immer mit dem Ansatz (14.22) gelöst werden. Denn es ergibt sich
!2 !2 !2
dW1 dW2 dWn
A1 + A2 + . . . + An + V1 (q1 ) + . . . + Vn (qn ) = α1 . (14.24)
dq1 dq2 dqn
sieht man, dass durch Addition Gleichung (14.24) erfüllt ist, falls
α01 + α2 + . . . + αn = α1 .
Damit ist W und folglich auch S gegeben und man gewinnt die Integrale der Bewegungsglei-
chungen durch Ausführung von Differentiationen.
193 14 Hamilton-Jacobi Theorie ([14])
Wir betrachten nochmals die ebene Bewegung einer Masse im Zentralkraftfeld als Beispiel der
Lösung der Hamilton-Jacobischen Gleichung durch Separation der Variablen. Die Hamilton-
funktion ergab sich zu
2
pϕ
!
1 2
H= pr + 2 + V (r ).
2m r
Wie schon früher bemerkt, ist ϕ eine zyklische Koordinate. Wir machen den Ansatz für die
charakteristische Funktion W in der Form
W (q, α) = W1 (ϕ, α) + W2 (r , α)
∂W ∂W
pr = , pϕ = ,
∂r ∂ϕ
2 !2
∂W2 ∂W1
2 2 2
r + 2mr V (r ) − 2mα1 r = − = −α2ϕ ,
∂r ∂ϕ
wobei der linke Ausdruck nur von r und der mittlere nur von ϕ abhängt. Daher müssen beide
gleich einer Konstanten sein, die wir α2ϕ nennen. Es ergeben sich somit zwei Differentialglei-
chungen für W1 und W2 . Die nichttriviale Differentialgleichung für W2 lautet
2
∂W2 α2ϕ
+ 2m(V (r ) − α1 ) + =0
∂r r2
oder s
∂W2 α2ϕ
= 2m(α1 − V (r )) − .
∂r r2
Nach Integration ergibt sich mit W1 = αϕ ϕ aus der trivialen Gleichung für W1 der gesamte
Ausdruck für W zu s
α2ϕ
Z
W = dr 2m(α1 − V ) − 2 + αϕ ϕ .
r } | {z }
W
| {z
1
W2
Q̇1 = 1, Q1 = t + β1
andererseits ist
∂W mdr
Z
Q1 = = (14.26)
∂α1
r
α2ϕ
2m(α1 − V ) − r2
14 Hamilton-Jacobi Theorie ([14]) 194
und
Q̇2 = 0
∂W αϕ dr
Z
Q2 = β2 = =− + ϕ. (14.27)
∂αϕ
r
α2ϕ
r 2 2m(α1 − V ) − r2
Aus (14.26) folgt r als Funktion von t. Aus (14.27) folgt sofort ϕ = ϕ(r ).
An diesem einfachen Beispiel wird die Leistungsfähigkeit und die Eleganz der Hamilton-
Jacobi Theorie bereits erkennbar. Nur einige wenige Rechenschritte erlauben bereits die Ab-
hängigkeit von r und t und der Orbitgleichung ((14.26) und (14.27)) zu ermitteln, die in der
klassischen Newtonschen Mechanik einige Rechenschritte erfordern.
∂Wi
!
Hi qi , = αi
∂qi
X
wobei αi = α = E.
i
Der Zusammenhang zwischen den alten und neuen verallgemeinerten Koordinaten ist durch
∂W ∂W
pi = , Qi = , H0 = α
∂qi ∂αi
gegeben. Die Wahl der Separationskonstanten αi als neue Impulse ist beliebig. Man könnte
genauso als neue Impulse n Größen Ji nehmen, die unabhängige Funktionen der αi sind:
Ji = Ji (α1 , . . . , αn ).
αi = αi (J1 , . . . , Jn ).
Für vollständig separable periodische Systeme ist man oft nicht an Einzelheiten der Bahn son-
dern nur an Frequenzen interessiert. Dann ist eine spezielle Wahl der Ji als Funktion der αi
möglich. Dazu haben wir vorerst zu beachten, dass wir zwei verschiedene Arten periodischer
Bewegungen haben:
195 14 Hamilton-Jacobi Theorie ([14])
1. Librationen, bei denen die Bewegung — wie beim harmonischen Oszillator — zwischen
zwei Nullstellen der kinetischen Energie abläuft. Die Bahn im Phasenraum ist eine ge-
schlossene Kurve.
2. Rotationen, bei denen — wie beim überschlagenden Pendel — zwar die Koordinate nach
jeder Rotation um 2π anwächst, die Systemkonfiguration aber im wesentlichen unverän-
dert bleibt. Im Phasenraum ergibt sich keine geschlossene Bahn, p wird eine Funktion von
q sein.
∂W
!
H q, = α = H 0 (J).
∂q
∂
J˙ = − H 0 (J) = 0
∂ϕ
∂ 0
ϕ̇ = H (J) = ν(J),
∂J
J = konst.
ϕ(t) = ν(J)t + β
• Wir betrachten den bereits mehrmals behandelten harmonischen Oszillator. Die entspre-
chende Hamilton-Jacobi-Gleichung lautet
!2
1 ∂W
+ m2 ω2 q2 = α = E.
2m ∂q
wobei die geschlossene Kurve C einen vollen Schwingungszyklus zwischen den Umkehr-
punkten s
2E 1
±q0 = ±
mω
umfasst. Die Integration liefert
s
1 2E
I
J = mω − q2 dq =
2π C mω2
q0
1 +q0 mω q
Z q q
2
= 2 mω a − q dq =
2 2 q a − q + a arcsin
2 2
2π −q0 2π a −q0
q
2E
mit a = mω 2 ergibt sich
mω 2E q0 2E E
J= 2 arcsin = arcsin 1 = .
2π mω2 a πω ω
Somit ergibt sich α = E = H 0 (J) = Jω. Die generierende Funktion W (q, J) folgt zu
Zq s
1
W (q, J) = 2m Jω − mω q dq.2 2
q0 2
∂W (q,J)
Aus der Gleichung ϕ = ∂J
folgt sofort
Zq
mωdq
ϕ = r =
q0 1 2Jω
2m 2 mω mω2 − q
2 2
Zq q
dq q
= = arcsin
a
q
q0 a2 − q 2
q0
2J
mit a2 = mω
. Daraus ergibt sich
q
ϕ = arcsin −β
a s
2J
q = a sin(ϕ + β) = sin(ϕ + β)
mω
q
wobei β = arcsin a0 eine konstante Phasenverschiebung ist, die sich aus der Anfangsbe-
dingung errechnet.
197 14 Hamilton-Jacobi Theorie ([14])
• Wir geben noch eine einfachere Behandlung des Beispiels des harmonischen Oszillators.
Bei einem Umlauf auf der geschlossenen Kurve Cα der Libration nimmt das Integral pdq
um den Wert Cα pdq zu. Das ist aber der Inhalt F der von Cα eingeschlossenen Fläche.
H
1
I
Ji = pi (qi , α1 , . . . , αn )dqi
2π Ci
wobei die Ci geschlossene Wege sind, die einer vollen Periode entsprechen. Ji in W eingesetzt,
liefert dann
n
∂W X ∂
ϕi = = Wj (qj , J1 , . . . , Jn ).
∂Ji j=1
∂Ji
∂H 0
ϕ̇i = = νi (J1 , . . . , Jn )
∂Ji
∂H 0
J˙i = − =0
∂ϕi
Ji = const.
ϕi = νi t + βi .
Um diese Forderung zu erfüllen, ist es hinreichend, zu verlangen, dass die neue Hamilton-
Funktion
14 Hamilton-Jacobi Theorie ([14]) 198
H 0 = 0. H 0 = H 0 (Pi ) = α1 .
∂H 0 ∂H 0
Q̇i = = 0, Q̇i = = νi ,
∂Pi ∂Pi
∂H 0 ∂H 0
Ṗi = − =0 Ṗi = − =0
∂Qi ∂Qi
Qi = βi , Qi = νi t + βi ,
P i = γi . Pi = γi .
∂S ∂S ∂W
! !
H q, ,t + = 0. H q, − α1 = 0.
∂q ∂t ∂q
Pi = γi (α1 , . . . , αn ). Pi = γi (α1 , . . . , αn ).
Somit können die vollständigen Lösungen der Hamilton-Jacobischen Gleichung als Funktio-
nen der neuen Impulse angesehen werden:
Insbesondere können für die γi die αi selbst gewählt werden. Eine Hälfte der Transformations-
gleichungen:
199 14 Hamilton-Jacobi Theorie ([14])
∂S ∂W
pi = pi =
∂qi ∂qi
ist automatisch erfüllt, da sie bei der Konstruktion der Hamilton-Jacobischen Gleichung ver-
wendet wird. Die andere Hälfte
∂S ∂W
Qi = = βi Qi = = νi (γj )t + βi
∂γi ∂γi
kann nach den qi als Funktion von t und den 2n Konstanten βi , γi aufgelöst werden. Die Lösung
des Problems wird vervollständigt, indem man diese 2n Konstanten durch die Anfangswerte
(qi0 , pi0 ) der Koordinaten und Impulse ausdrückt.
Wenn die Hamilton-Funktion die Zeit nicht explizit enthält, sind beide Methoden geeignet,
und die Erzeugenden stehen dann in folgendem Zusammenhang:
S(q, P , t) = W (q, P ) − α1 t.
Abschließend halten wir noch eine bemerkenswerte Eigenschaft der klassischen Dynamik in
der Hamiltonschen Formulierung fest. Nämlich, dass zwei skalare Funktionen das Problem
vollständig beschreiben: Einmal die Hamiltonfunktion H(q, p, t), aus der die Bewegungsglei-
chungen folgen. Zweitens, im integrablen Fall, die entsprechende Erzeugende (S oder W ). Diese
Erzeugende definiert eine Koordinatentransformation, die die Hamiltonschen Gleichungen in
eine Form überführt, in der sie direkt integrierbar sind. Die Erzeugende ergibt sich als Lösung
einer partiellen Differentialgleichung. Somit wird die Lösung des Systems der kanonischen Glei-
chungen auf das Problem der Lösung einer partiellen Differentialgleichung zurückgeführt.
15 Eigenschaften integrabler Systeme ([28]) 200
2
1
0
v -1
-2
-4 -2 0 2 4
j
p2
Abb. 15.1. Höhenschichtlinien der (dimensionslosen) Energie H = 2 − cos ϕ eines einfachen Pendels.
{H, Fi } = 0 . (15.1)
identisch verschwindet. Man sagt nun, dass n Funktionen Fi miteinander in Involution stehen,
wenn die entsprechenden Poissonklammern
{Fi , Fj } = 0 , i = 1, . . . , n, j = 1, . . . , n (15.2)
verschwinden.
Es gilt dann der folgende Satz:
Satz 15.1 (Satz von Liouville über integrable Systeme). Ein Hamiltonsches System mit n Frei-
heitsgraden ist vollständig integrabel durch Quadraturen20 , falls n unabhängige Bewegungsin-
tegrale F1 , . . . , Fn , existieren, die miteinander in Involution stehen.
Wir geben keinen Beweis (siehe z.B. ([2])), sondern machen uns den Satz nur plausibel. Die
Eigenschaft, dass die Integrale unabhängig sind bedeutet, dass die ∇Fi linear unabhängig sind.
Die Eigenschaft miteinander in Involution zu stehen, bedeutet, dass alle Fi miteinander kom-
mutieren, d.h. dass die entsprechenden Poissonklammern verschwinden.
Aus der Existenz der n Integrale Fi folgt, dass die Phasenraumtrajektorien auf eine n-
dimensionale Mannigfaltigkeit
2 2
1 1
0 0
-1 -1
1 1
-2
-1 0.5 0.5 1-2
-0.5 0 0 0.5
0 -0.5 -0.5 0
0.5 -1 -1 -0.5
1 -1
im 2n-dimensionalen Phasenraum beschränkt werden (analog zum System mit einem Freiheits-
grad, bei dem die Existenz eines Bewegungsintegrales die Bewegung auf eine invariante (eindi-
mensionale) Kurve beschränkt).
Die Niveaulinien Mf der Energie eines einfachen Pendels in der (ϕ, p)-Ebene sind in Abb. 15.1
dargestellt: Für −1 < f < 1 sind diese Niveaulinien geschlossene Kurven, für f > 1 periodi-
sche, in ϕ unbeschränkte Kurven. Der heterokline Orbit für f = 1 trennt die beiden Bereiche.
Da sich dieser Orbit bei (ϕ, p) = ((2k + 1)π , 0) selbst schneidet, ist M1 keine Mannigfaltig-
keit im mathematischen Sinn. Trajektorien, die auf M1 starten, konvergieren gegen die obere
vertikale Position des Pendels.
Da sich die Energie des Pendels nicht ändert, wenn man es um 360◦ dreht, können wir diese
Positionen identifizieren und erhalten den Einheitskreis S 1 , bzw. 1-Torus T 1 als Konfigurati-
onsmannigfaltigkeit:
S 1 = T 1 = R/Z = {ϕ ∈ [0, 2π )}.
Zwei Punkte werden identifiziert, wenn sie sich um einen Winkel 2kπ mit k ∈ Z unterscheiden.
Die Mannigfaltigkeiten Mf im zylindrischen Phasenraum T 1 × R sind in Abb. 15.2 dargestellt:
Nun sind auch die Kurven Mf für f > 1 geschlossen.
Für das in Abb. 15.3 skizzierte Problem einer Punktmasse, die von 4 symmetrisch ange-
ordneten identischen linearen Federn elastisch im Koordinatenursprung fixiert wird, lautet die
Hamiltonfunktion, nachdem das Modell dimensionslos gemacht wurde
1 2
H= p1 + p22 + x12 + x22 ,
2
wobei x1 und x2 die Auslenkungen in horizontale, bzw. vertikale Richtung und die pi die
zugehörigen Impulse bedeuten. Die nichtlinearen Rückstellkräfte werden dabei vernachlässigt;
alternativ können auch die Federn „sehr lang“ gewählt werden, oder es können unendlich viele
identische Federn in einem Kreis angeordnet werden.
Außer der Energie H besitzt das System wegen der Rotationssymmetrie den Drall
d = x1 p2 − x2 p1
Abb. 15.3. Modell eines symmetrischen 2- Abb. 15.4. Schnitte durch Tori des 2-
dimensionalen harmonischen Schwingers dimensionalen harmonischen Schwingers
1
!
0 E ..
, (15.3)
J= E= .
−E 0
1
ξi = J · ∇Fi , i = 1, . . . , n (15.4)
wobei ∇ = (∂/∂qi , . . . , ∂/∂qn , ∂/∂p1 , . . . , ∂/∂pn ). Falls es ein i gibt mit Fi = H, dann definiert
(15.4) den Hamiltonschen Fluss, der wegen der Konstanz der Integrale F1 , . . . , Fn , vollständig
auf M liegen muss. Daher ist das Vektorfeld ξi tangential zu M. Tatsächlich sind alle n „Ge-
schwindigkeitsfelder“ ξi tangential zu M und da alle Integrale Fi in Involution stehen (15.2),
kommutieren die Vektorfelder ξi : Bewege ich mich von einem Punkt x0 zuerst ε Zeiteinheiten
203 15 Eigenschaften integrabler Systeme ([28])
entlang einer Lösung des Vektorfelds ξi , danach δ Zeiteinheiten entlang einer Lösungskurve
des Feldes ξj , so erreiche ich denselben Punkt x1 , wie wenn ich mich zuerst entlang der Tra-
jektorie von ξj , dann entlang von ξi bewegt hätte (siehe Abb. 15.5). Die Lösungstrajektorien
können als lokale Koordinatenlinien gewählt werden. Ein grundlegender Satz aus der Topo-
logie sagt nun aus, dass eine beschränkte n-dimensionale Mannigfaltigkeit M, für die man n
unabhängige tangentiale Vektorfelder konstruieren kann, die Topologie eines n-dimensionalen
Torus besitzt. Den Beweis dieses Satzes findet man zB. in [2].
Obwohl die Mannigfaltigkeit M im Allgemeinen nicht beschränkt ist, – im Zentralkörperpro-
blem sind die parabolischen und hyperbolischen Bahnen zum Beispiel unbeschränkt –, nehmen
wir im Folgenden der Einfachheit halber an, dass M die Topologie eines Torus besitzt.
Die Existenz dieser Tori im Phasenraum ermöglicht die Definition von Wirkungsvariablen
in invarianter (d. h., repräsentationsunabhängiger) Weise. Der n-Torus ist eine in natürlicher
Weise periodische Struktur und kann als das direkte Produkt von n unabhängigen 2π periodi-
schen Strukturen angesehen werden. In anderen Worten, man kann n topologisch unabhängige
geschlossenen Pfade Ck auf dem Torus definieren von denen keiner stetig in einen anderen
deformiert werden kann oder auf einen Punkt zusammengezogen werden kann (see Abb. 15.6).
Die Wirkungsvariablen können damit folgend definiert werden
n
1
I X
Jk = pm dqm (15.5)
2π Ck m=1
Von der generierenden Funktion W = W (q1 , . . . , qn , J1 , . . . , Jn ), erhält man dann die konjugier-
ten Winkelvariablen
∂
ϕk = W (q1 , . . . , qn , J1 , . . . , Jn ) . (15.6)
∂Jk
Die Hamiltonschen Gleichungen in Wirkungs und Winkelvariablen lauten dann
∂
J˙k = − H 0 (J1 , . . . , Jn ) = 0
∂ϕk (15.7)
∂
ϕ̇k = H 0 (J1 , . . . , Jn ) = νk (J1 , . . . , Jn ) .
∂Jk
Es ist wichtig anzumerken, dass falls das System vollständig integrabel ist, die Transformation
auf Wirkungs- und Winkelvariable eine globale ist. D. h. der gesamte Phasenraum wird durch
Tori gefüllt und eine gegebene Trajektorie wird für immer auf einem bestimmten Torus liegen.
Gegebene Anfangsbedingungen (q1 (0), . . . , qn (0), p1 (0), . . . , pn (0)) legen die Werte fi der Inte-
grale fest, d. h. fi = Fi (p(0), q(0)). Diese fi bestimmen, auf welchem Torus die Trajektorie liegt
(d. h., die aktuellen Werte der Wirkungsvariablen Ji , i = 1, . . . , n). Die Werte der Winkelvariablen
ϕi bestimmen für einen bestimmten Zeitpunkt die Lage des Punktes auf dem Torus.
15 Eigenschaften integrabler Systeme ([28]) 204
E = H(p1 , . . . , pn , q1 , . . . , qn ) (15.8)
welches vollständig integrabel ist, können die folgenden wichtigen Dimensionen angegeben
werden
1. Phasenraum: 2n-dimensional
2. Energiefläche: 2n − 1-dimensional
3. Tori: n-dimensional
Eine Reihe wichtiger Schlussfolgerungen kann aus dieser Tabelle gezogen werden. Einmal, dass
für ein System mit einem Freiheitsgrad die Energiefläche und der Torus die selbe eindimensio-
nale Mannigfaltigkeit sind. Formal bedeutet dies, dass diese Systeme ergodisch21 sind. Weiters
sind die zweidimensionalen Tori für n = 2 in der dreidimensionalen Energiefläche eingebettet.
D. h. sie trennen die Energiefläche in einen inneren und einen äußeren Teil. Falls es eine „Lücke“
zwischen Tori gibt (dies passiert für nichtintegrable Systeme), dann kann eine Trajektorie, die
in dieser Lücke liegt, nicht aus ihr entkommen. Schließlich können für n ≥ 3, Trajektorien in
Lücken zwischen höherdimensionalen Tori in andere Bereiche auf der Energiefläche entkom-
men. Dieses Phänomen wird als Arnold-Diffusion bezeichnet.
(i)
ausgedrückt werden. Die Fourierkoeffizienten ak1 ,...,kn , die von den Wirkungsvariablen abhän-
gen, werden durch
Z 2π Z 2π
(i)
ak (J) = dϕ1 . . . dϕn qi (J, ϕ)ei(k1 ϕ1 +...+kn ϕn ) (15.10)
0 0
21
In der statistischen Mechanik bedeutet ergodisch, dass jede Systemtrajektorie die Energiefläche „gleichför-
mig“ überdeckt. Gleichförmig bedeutet, dass der „Zeitmittelwert“ einer gegebenen Größe, z.B. f (p, q), gleich
dem „Ortsmittelwert“ ist.
Für Bewegungen auf einem Torus bedeutet dies unter Benützung der Wirkungs- und Winkelvariablen
1 T
Z 2π
1
Z
lim f (p(t), q(t))dt = f (p(J, ϕ), q(J, ϕ))dϕ
T →∞ 2T −T (2π )n 0
205 15 Eigenschaften integrabler Systeme ([28])
bestimmt. Die Bezeichnung qi (J, ϕ) drückt aus, dass qi (t) als Funktion der Wirkungs- und Win-
kelvariablen eingesetzt wird. Variable, die durch solche mehrfache Reihen ausgedrückt werden,
werden als mehrfach periodisch bezeichnet. Ihr Verhalten wird durch die Werte der Frequen-
zen νi bestimmt. Falls die Frequenzen zueinander nicht in einem rationalen Verhältnis stehen,
wird sich die Bewegung auf einem gegebenen Torus (d. h., dem Torus mit den Frequenzen νi )
nie genau wiederholen. Solche Bewegungen nennt man üblicherweise quasiperiodisch. Das be-
deutet, dass eine einzige Bahn schließlich den Torus gleichförmig überdecken wird. Der Fluss
ist somit ergodisch am Torus. Für den 2-D Fall sieht man dies leicht ein, denn dann ist der
2-Torus topologisch dem Einheitsquadrat mit identifizierten Kanten (see Abb. 15.7) äquivalent.
Falls das Verhältnis ν1 /ν2 irrational ist, kann die Ergodizität der Bewegung leicht festgestellt
ϕ2
ϕ1
Abb. 15.7. Äquivalenz zwischen einem 2-Torus und einem Einheitsquadrat, bei dem die gegenüberlie-
genden Kanten miteinander identifiziert werden
werden. Falls jedoch alle Frequenzen in einem rationalen Verhältnis zueinander stehen, wird
sie sich wiederholen und man erhält geschlossene Bahnen. Im zweidimensionalen Fall erfordert
dies nur eine einzige Relation der Form
ν1 m1
= mit m1 , m2 ∈ Z. (15.11)
ν2 m2
Für einen Fluss am Torus mit diesem Frequenzverhältnis wird sich die Bahn nach m2 Umdre-
hungen von ϕ1 und m1 Umdrehungen mit ϕ2 schließen. Für den n-dimensionalen Fall erfordert
eine geschlossene Bahn, dass eine Beziehung der Form
n
X
ki νi = 0 . (15.12)
i=1
erfüllt ist. Dies garantiert, dass die Frequenzen von Torus zu Torus variieren (d. h., das System
ist nichtlinear). Somit werden auf einer gegebenen Energiefläche einige Tori mit geschlossenen
Bahnen bedeckt sein, während andere mit quasiperiodischen Bahnen bedeckt sind. Obwohl es
unendlich viele rationale Zahlen gibt, bilden sie dennoch nur eine Menge vom Maß Null im Raum
der reellen Zahlen. D. h. sie bilden eine verschwindende Minderheit gegenüber den irrationalen
Zahlen. Somit wird für ein nichtdegeneriertes System die Menge der Tori mit geschlossenen
Bahnen, obwohl dicht liegend, von jener mit quasiperiodischen Bahnen in ihrer Zahl unendlich
15 Eigenschaften integrabler Systeme ([28]) 206
übertroffen. Dennoch spielen die Tori, auf denen periodische Bahnen liegen, eine wesentliche
Rolle, wenn man die Eigenschaften integrabler Systeme unter kleinen Hamiltonschen Störungen
studiert.
Wir wissen, dass für ε = 0 die Lösungen auf Tori liegen und abhängig davon, ob die Bezie-
hungen (15.12) erfüllt sind, entweder periodisch oder quasiperiodisch sind. Die Frage, die sich
nun stellt, ist: Bleiben diese Lösungen (Tori) erhalten, falls ε ≠ 0 aber klein ist? Die Antwort
liefert die KAM-Theorie22 , die besagt, dass die Tori, auf denen periodische Lösungen liegen,
durch die Störung verloren gehen und nur jene Tori erhalten bleiben, für die quasiperiodische
Lösungen vorliegen. Da man aber jede irrationale Zahl mehr oder weniger gut durch rationale
Zahlen approximieren kann, stellt sich die Frage, ob diese Unterscheidung praktisch überhaupt
relevant ist. In der KAM-Theorie wird nun gezeigt, dass man bei den irrationalen Zahlen zwi-
schen solchen, die sich gut durch rationale Zahlen mit kleinem Nenner approximieren lassen
und solchen, für die das nicht der Fall ist, unterscheiden muss. Diese letzteren sind die soge-
nannten diophantischen Zahlen, die sich sehr schlecht durch einen Bruch mit kleinem Nenner
approximieren lassen 23 . Gerade diesen Zahlen entsprechende Frequenzverhältnisse stellen Be-
wegungen dar, die sich kleinen Störungen gegenüber als robust erweisen.
Wichtige praktische Anwendungen sind die Frage nach der Stabilität des Sonnensystems
oder nach der Stabilität von geladenen Teilchen in ringförmigen Teilchenbeschleunigern. Nicht
selten vollführen Protonen in einem Speicherring 1011 Umläufe. Vergleicht man einen Umlauf
mit einem Umlauf der Erde um die Sonne, dann sind dies schätzungsweise 20mal soviele Um-
läufe als jene der Erde seit ihrer Existenz. Die KAM Theorie erlaubt, eine theoretische Abschät-
zung für den praktischen Betrieb zu geben.
Für alle erwähnten nichtlinearen Fälle liegt die benötigte Anzahl an Erhaltungsgrößen vor.
Wir betrachten einige Beispiele:
1. Der symmetrische Kreisel hat drei Freiheitsgrade und genau drei Erhaltungsgrößen, näm-
lich die Energie, den Drall um die vertikale Achse im Raum und den Drall um die Figuren-
achse.
Um das System im Fall d 6= 0 weiter zu vereinfachen, wählt man die Orientierung des
Koordinatensystems derart, dass d = ce3 gilt. Die Konstante c = |d| entspricht dabei, wie
in (2.19), der doppelten Flächengeschwindigkeit.
Die Gleichungen
d1 = q2 p3 − q3 p2 = 0,
d2 = q3 p1 − q1 p3 = 0
lassen sich nun als homogene Bestimmungsgleichungen für q3 und p3 interpretieren, die
wegen c 6= 0 die eindeutige Lösung q3 = p3 = 0 besitzen. Die Bewegung des reduzierten
Systems findet also in der Ebene q3 = 0 statt. Aufgrund der Rotationssymmetrie um die
vertikale Achse führt man nun Polarkoordinaten (r , ϕ) für (q1 , q2 ) ein. Für die Impulse
liefert (13.26) die geeignete kanonische Transformation. In diesen Variablen ist ϕ wegen
der Rotationssymmetrie zyklisch und pϕ = c ist die entsprechende Erhaltungsgröße.
Die dreiparametrige Rotationssymmetrie reduziert die Ordnung des Systems daher nur
um 4, da die Integrale nicht in Involution sind.
Eine weitere Erhaltungsgröße ist die Energie, sodass das System integrabel ist.
nicht in Involution sind, erhalten wir durch das stufenweise Vorgehen, indem wir zu-
erst die Translationssymmetrie ausnützen und die Bewegung des Massenmittelpunkts
eliminieren, die volle Reduktion. Der mathematische Grund dafür ist, dass die Trans-
lationsgruppe eine „normale“ Untergruppe der Euklidischen Gruppe (Translationen und
Rotationen) ist.
15.5 Virialsatz
Da die Eigenschaft der Integrabilität nur für spezielle Systeme gegeben ist, versucht man für
solche Fälle, für die keine Integrabilität vorliegt, auf andere Weise zu qualitativen Aussagen
über das Systemverhalten, zum Beispiel, ob die Bewegung beschränkt bleibt, zu kommen. Ein
solcher Weg wird im folgenden mit dem Virialsatz beschrieben. Er liefert eine statistische Aus-
sage, denn er befasst sich mit Zeitmittelwerten verschiedener mechanischer Größen.
Wir betrachten ein System von Massenpunkten mit den Ortsvektoren r i und den angewen-
deten Kräften Ri (einschließlich Zwangskräften). Die Bewegungsgleichungen lauten
ṗ i = Ri (15.14)
das sogenannte Virial, wobei die Summe über alle Teilchen im System zu nehmen ist. Die Zeita-
bleitung von G liefert
n
X n
X
Ġ = r˙i · p i + ṗ i · r i . (15.15)
i=1 i=1
Wir bilden nun den Zeitmittelwert von (15.16) über das Zeitintervall τ, indem wir beide Seiten
über t von 0 bis τ integrieren und durch τ dividieren:
Zτ n
1 dG dG X
dt = = 2T + Ri · r i .
τ 0 dt dt i=1
209 15 Eigenschaften integrabler Systeme ([28])
n
X 1
2T + Ri · r i = [G(τ) − G(0)]. (15.17)
i=1
τ
Ist die Bewegung periodisch, d.h., kehren alle Koordinatenwerte nach einer gewissen Zeit wie-
der und wird τ gleich der Periode gewählt, dann verschwindet die rechte Seite von (15.17).
Zu einem ähnlichen Schluss kommt man auch dann, wenn die Bewegung nicht periodisch ist,
vorausgesetzt, dass die Koordinaten und Geschwindigkeiten für alle Teilchen endlich bleiben,
sodass es eine obere Grenze für G gibt. Wählt man τ hinreichend groß, so kann die rechte Seite
von (15.17) beliebig klein gemacht werden. In beiden Fällen folgt dann
n
1X
T =− Ri · r i . (15.18)
2 i=1
Gleichung (15.18) wird als Virialsatz bezeichnet und hat eine grosse Bedeutung in der kineti-
schen Theorie der Gase.
16 Erhaltung des Phasenraumvolumens 210
gegeben (hier ist t kein Exponent, sondern das Argument). Dabei gilt für zwei beliebige Zahlen
s und t
g t g s = g t+s , g −t = (g t )−1 .
Eine einparametrige Gruppe von Transformationen einer Menge ist das mathematische Äqui-
valent des physikalischen Begriffes eines deterministischen Prozesses. Dabei ist M der Phasen-
raum des Prozesses.
Der Vektor der Phasengeschwindigkeit v des Flusses {g t } im Punkte x ist durch
∂H
d ∂p
v(x) = (g t x) = ∂H = I∇H, (16.2)
dt t=0
− ∂q
gegeben und stellt die Austrittsgeschwindigkeit des Punktes g t x aus x dar. Dabei wird die
bereits in (15.3) verwendete, und im Kapitel 16.3 nochmals eingeführte Matrix I, benützt. Die
Vektoren der Phasengeschwindigkeit des Flusses bilden ein glattes Vektorfeld, das Feld der
Phasengeschwindigkeit. Wir fixieren einen Punkt x 0 und betrachten seine Bewegung unter der
Wirkung des Phasenflusses g t . Anders formuliert, betrachten wir die Abbildung ϕ : R → M,
die durch ϕ(t) = g t x 0 gegeben ist (Abb. 16.3). Dann gilt: Die Abbildung ϕ ist eine Lösung der
Differentialgleichung ẋ = v(x) mit den Anfangsbedingungen ϕ(0) = x 0 .
v
g’D
p(t),q(t)
p(0),q(0) D
Abb. 16.1. Phasenfluss ([2]) Abb. 16.2. Erhaltung des Phasenraumvolumens ([2])
Eine wichtige Frage haben wir noch zu beantworten: Was ist das Bild des Vektors v(x) unter
einer glatten Abbildung f : M → N ?
v(x) ist der im Punkte x der Urbildmenge M angeheftete Vektor, also ein Pfeil, der von x
ausgeht. Dann befindet sich im Punkt f (x) im Gebiet N ebenfalls ein Vektor, den wir mit df v
bezeichnen und der das Bild des Vektors v unter der Abbildung f ist.
In anderen Worten: das Bild des Vektors v(x) unter einer glatten Abbildung f ist der Vektor
der Geschwindigkeit, mit der f (ϕ(t)) den Punkt f (x) verlässt, wenn ϕ(t) den Punkt x mit der
Geschwindigkeit v verlässt:
d d
df v = f (ϕ(t)), wobei ϕ(0) = x, ϕ(t) = v (16.3)
dt t=0 dt t=0
211 16 Erhaltung des Phasenraumvolumens
df v
v
x f f(x)
N
M
ϕ f ˚ϕ
0
t
Abb. 16.3. Transformation des Geschwindigkeitsvektors unter einer glatten Abbildung
D.h. die Matrix des Operators df besteht aus den partiellen Ableitungen (∂fi /∂xj ).
ẋ = v(x)
gegeben. Falls div v = 0 erhält der zugehörige Fluss {g t } das Phasenraumvolumen. Sei
und D(0) ein Bereich im Phasenraum und V (0) sein Volumen, dann gilt für div v ≡ 0
V (t) = V (0)
falls g t D(0) = D(t) ist und V (t) das Volumen von D(t) bezeichnet.
Wir verwenden die Transformationsregel für Volumsintegrale.
∂(g1 , . . . , gn )
Z Z
f (y1 , . . . , yn )dy1 · · · dyn = f (g(x1 , . . . , xn )) dx1 · · · dxn
B A ∂(x1 , . . . , xn )
g g
x y
xi yi
a b
A B
y = g(x)
Zb Zβ
f (y)dy = f (g(x))g 0 dx
a α
a = g(α)
b = g(b)
∂g t (x) ∂v
det = 1 + t Sp + O(t 2 ) .
∂x ∂x
Aber
n
∂v X ∂vi
Sp = = div v .
∂x i=1
∂xi
Daher ist
Z
V (t) = (1 + t div v + O(t 2 ))dx
D(0)
dV
Z
= div vdx
dt t=0 D(0)
Abb. 16.5. Erhaltung des Phasenraumvolumens für das mathematische Pendel: Das ursprünglich kreis-
förmige Gebiet wird wegen der unterschiedlichen Periodenlänge verzerrt, seine Fläche bleibt aber kon-
stant.
Satz 16.2 (Rekurrenzsatz von Poincaré). Es sei g ein volumserhaltender Fluss, der einen be-
schränkten Bereich D des Euklidischen Raumes auf sich selbst abbildet
gD = D .
Dann gilt, dass in jeder Umgebung U eines beliebigen Punktes von D ein Punkt x ∈ U liegt, der
zu U zurückkehrt. D. h.
gnx ∈ U für ein n>0.
Beweis des Rekurrenzsatzes. Wir betrachten die Bilder eines Bereiches U: gU , g 2 U , . . . , g n (U).
Alle Iterationen haben voraussetzungsgemäß dasselbe Volumen. Damit sie sich nie schneiden
dürften, müsste D unbeschränkt sein. Da jedoch D als beschränkt angenommen wurde, werden
Zahlen k ≥ 0, ` ≥ 0 existieren mit k > `, sodass gilt
gkU ∩ g` U ≠ 0 .
gU
n
g U
2
g U
...
Dieser Satz gilt auch für den Phasenfluss g t eines Systems mit zwei Freiheitsgraden, dessen
Potential V (q1 , q2 ) → ∞ geht für (q1 , q2 ) → ∞. In diesem Fall wird der invariante beschränkte
Bereich D im Phasenraum durch die Bedingung
D = {q, p : T + V ≤ E} ,
gegeben. Der Poincaré’sche Satz liefert eine noch schärfere Aussage, dass fast jeder sich bewe-
gende Punkt wiederholt in die Nachbarschaft seiner ursprünglichen Ausgangslage zurückkehrt.
Abb. 16.7. Die konservative Bewegung einer Punktmasse in einer nichtsymmetrischen Schale stellt einen
nicht-integrablen Fall dar. Das heißt, es existiert keine analytische Lösung für die Bewegung der Masse,
dennoch sagt das Poincarésche Theorem eine Rückkehr in die Umgebung der Ausgangslage voraus.
Beispiel: Sei D ein Kreis und g die Rotation um den Winkel α. Falls
m
α = 2π ,
n
n
dann ist g die Identität und der Satz ist offensichtlich. Falls α nicht komensurabel
mit 2π ist dann liefert der Rekurrenzsatz: Zu jedem δ > 0 existiert ein n sodass gilt:
|g n x − x| < δ.
Folgerung: In diesem Falle liegt die Menge der Punkte g n x dicht am Kreis.
Eine paradoxe Anwendung dieses Satzes ist das berühmte Gasbehälter Problem von
Ludwig Boltzmann. Öffnet man die Verbindungswand zwischen dem gasgefüllten Teil
und dem Vakuum, dann müssten nach einiger Zeit die Gasmoleküle wieder alle in die
linke Hälfte zurückgekehrt sein. Dieses Beispiel hat zur Kritik K. Poppers an der Irre-
Abb. 16.8. Boltzmann’sches Gasbehälterexperiment: Alle Moleküle kehren, wenn man die Trennwand
entfernt, irgendwann wieder in die linke Kammer zurück ([2])
versibilitätserklärung Boltzmann’s geführt. Eine Erklärung für dieses Paradoxon ist, dass
„nach einiger Zeit“ sehr lange sein kann. In [22], Seite 315, wird die Zeit für die Rückkehr
von Luft bei Raumtemperatur und Atmosphärendruck in einem würfelförmigen Behälter
von 1 m3 in den Ausgangszustand abgeschätzt. Als Ausgangszustand ist angenommen,
26
dass die Luft in einer Ecke in 1 cm3 komprimiert war. Es ergibt sich t = 1010 Jahre.
Prinzipiell kann man sagen, dass gewisse physikalische Gesetze (2. Hauptsatz, Entropie-
zunahme) nur mit sehr großer Wahrscheinlichkeit gültig sind.
215 16 Erhaltung des Phasenraumvolumens
Ein Beispiel für eine symplektische Mannigfaltigkeit ist durch die 2-dimensionale Ebene mit
einer Flächenform gegeben. Wir schreiben
q
( ! )
R2 = : q ∈ R, p ∈ R
p
q1 q2
! !!
, → q1 p2 − q2 p1 ,
p1 p2
ein. Dies ist der Phasenraum eines Teilchens (Punktmasse), das sich auf einer Linie bewegt.
Die Funktion A wird als Flächenform bezeichnet, denn |A(v, w)| ist die Fläche eines Paral-
lelogramms, das von den beiden Vektoren v und w aufgespannt wird. Es gilt nämlich
q1 q2 q2
! ! !
0 1
q1 p2 − q2 p1 = det = q1 p1
p1 p2 −1 0 p2
Wie man leicht überprüft, stellt A(v, w) die orientierte Fläche des Parallelogramms dar, das
durch die beiden Vektoren v und w aufgespannt wird.
− dp ∧ dq (16.5)
schreiben können.
Dazu führen wir eine neue Notation für Vektoren parallel zu den Achsen in R2 ein
∂ ∂
! !
1 0
:= and :=
∂q 0 ∂p 1
∂ ∂
Somit kann man einen beliebigen Vektor (v1 , v2 )T in der Form v1 ∂q + v2 ∂p schreiben. Man
2
beachte, dass wir Vektoren in R als Spaltenvektoren schreiben.
Als Nächstes führen wir den dualen Raum zu R2 ein, der als (R2 )∗ bezeichnet wird und die
Menge der linearen reellen Funktionen in R2 enthält. Jede lineare reelle Funktion auf R2 kann
als ein 1 × 2 Vektor geschrieben werden. Anders ausgedrückt können wir die Elemente von
(R2 )∗ als Zeilenvektoren bezeichnen. Die Basiselemente bezeichnen wir mit
dq := (1 0) and dp := (0 1)
16 Erhaltung des Phasenraumvolumens 216
∂ ∂
und nennen sie die duale Basis zu ( ∂q , ∂p ), denn es gelten die folgenden Relationen
∂
! !
1
dq = (1 0) =1
∂q 0
∂
! !
0
dq = (1 0) =0
∂p 1
∂
! !
1
dp = (0 1) =0
∂q 0
∂
! !
0
dp = (0 1) =1
∂p 1
∂ ∂ v1
! !
α1 dq + α2 dp v1 + v2 = α1 v1 + α2 v2 = (α1 α2 ) .
∂q ∂p v2
Es ist leicht einzusehen, dass das Keilprodukt antisymmetrisch ist, d.h. dass α ∧ β = −β ∧ α
und dass A = dq ∧ dp.
Die Verallgemeinerung für den Rn ist ohne Schwierigkeit möglich. So ergibt sich für den
Phasenraum von n Teilchen, die in R durch die Positions-Impuls Paare (q1 , p1 )T , · · · , (qn , pn )T
festgelegt werden, die kanonische symplektische Form
wobei E die n-dimensionale Einheitsmatrix ist. Die in (16.7) auftretende Matrix I wurde bereits
in (15.3) benützt.
∂f
Wir betrachten noch das Differential der Funktion f (q, p) und bezeichnen df = ∂q dq +
∂f ∂f ∂f
∂p
dp als die Gradienten 1-Form der Funktion f . D.h. wir schreiben df := ( ∂q , ∂p ) und bilden
∂f ∂f v1
! !
df (v) = , . (16.8)
∂q ∂p v2
Wir betrachten weiterhin die Bewegung eines Teilchens der Masse m in R, dessen Zustand
1
durch die Position q und den Impuls p gegeben ist. Die kinetische Energie ist dann 2m p 2 und
das Potential bezeichen wir mit V (q) : R → R. Für ein konservatives System stellt die Hamilton-
funktion
1 2
H := p + V (q) (16.9)
2m
d
die totale Energie dar. Bilden wir die totale Zeitableitung von H, so erhalten wir dt H = 0.
Wir betrachten nun nochmals wie schon im Kapitel 12 durchgeführt, die Ableitung einer
Funktion F (q, p), die wir als
d ∂F dq ∂F dp
F (q, p) = + (16.10)
dt ∂q dt ∂p dt
anschreiben. Offensichtlicht macht es Sinn das ebene Vektorfeld
d dq ∂ dp ∂
= + (16.11)
dt dt ∂q dt ∂p
zu definieren. Führen wir nun die Hamiltonschen Gleichungen, die für den betrachteten Fall die
Form
dq ∂H dp ∂H
= , =− (16.12)
dt ∂p dt ∂q
haben, in (16.11) ein, so können wir (16.12) in der Form
d ∂H ∂ ∂H ∂
= − (16.13)
dt ∂p ∂q ∂q ∂p
schreiben. Das Vektorfeld (16.13) heißt Hamiltonsches Vektorfeld und wird üblicherweise mit
XH bezeichnet. D.h. wir können schreiben
∂H ∂ ∂H ∂
XH = − (16.14)
∂p ∂q ∂q ∂p
16 Erhaltung des Phasenraumvolumens 218
Wir schreiben nun die Hamiltonschen Gleichungen in formaler Form der symplektischen Geo-
metrie. Der Phasenraum ist R2 mit der symplektischen Form ω = dp ∧ dq. Das Differential
der Hamiltonfunktion dH, das eine 1-From darstellt, kann in der Form dH = ∂H
∂p
dp + ∂H
∂q
dq
geschrieben werden. Wir wenden nun die symplektische 2-Form auf XH an und erhalten
∂H ∂ ∂H ∂
!
dp ∧ dq(XH , · ) = (dp ∧ dq) − ,·
∂p ∂q ∂q ∂p
∂H ∂H
= − dp( · ) − dq( · )
∂p ∂q
∂H ∂H
= − dp − dq = −dH( · )
∂p ∂q
In dieser Gleichung ist der Punkt Platzhalter für ein beliebiges Vektorfeld (siehe die Beispiele
am Ende des Kapitels). Mit der Notation ω := dp ∧ dq können wir auch schreiben
Als letzten Schritt, den wir hier als eine spezielle Notation betrachten können, führen wir noch
ein inneres Produkt ein. Wir benützen die Bezeichnung iXH ω := ω(XH , · ) um die 1-Form zu
bezeichnen, die man erhält, wenn man das Vektofeld XH in den ersten Platz von ω einsetzt.
Man bezeichnet dies als das innere Produkt von XH und ω. In Matrizenschreibweise verlangt
die Formel iXH ω den Zeilenvektor (XH )t mit der Matrix, die der 2-Form ω entspricht, zu mul-
tiplizieren um einen neuen Zeilenvektor zu erhalten. Die Hamiltonschen Gleichungen können
nun als
iXH ω = −dH (16.16)
geschrieben werden.
Wir fassen zusammen: Jede unendlich oft differenzierbare Funktion H auf einer symplek-
tischen Mannigfaltigkeit M mit der symplektischen Form ω erzeugt ein eindeutiges Hamil-
tonsches Vektorfeld. Damit ist es sinnvoll ein Hamiltonsches System als Triple (M, ω, H) zu
definieren. M ist die Mannigfaltigkeit, ω ist die symplektische Form auf M und H ist eine
unendlich differentierbare reelwertige Funktion auf M. Wenn die symplektische Form durch
dp ∧ dq gegeben ist, dann sind die Gleichungen (16.12) der Gleichung (16.16) equivalent. Für
jede andere symplektische Form muss man (16.16) benützen. Das bedeutet, dass die symplek-
tische Form eine entscheidende Rolle spielt: die selbe Hamiltonfunktion kann für verschiedene
ω verschiedene Flüsse XH induzieren.
16.3.4 Beispiele
1. Als erstes Beipiel betrachten wir die lineare Bewegung eines freien Teilchens. Dann sind
M = R2 = (q, p), ω = dp ∧ dq und
1 2
H= p .
2m
Wir benützen (16.16) um das Hamiltonsche Vektorfeld XH zu bestimmen. Wir setzten
allgemein an
∂ ∂
XH = x q + xp . (16.17)
∂q ∂p
Außerdem führen wir für die Berechnung noch einen beliebigen Vektor
∂ ∂
v = vq + vp
∂q ∂p
219 16 Erhaltung des Phasenraumvolumens
∂ ∂ ∂ ∂
!
iXH ω(v) = dp ∧ dq(XH , v) = dp ∧ dq xq + xp , vq + vp = xp vq − xq vp
∂q ∂p ∂q ∂p
(16.18)
Andererseits gilt
1 1
−dH(v) = − pdp(v) = − pvp .
m m
Aus der Beziehung iXH ω(v) = −dH(v) für jedes Vektorfeld v folgt, dass für jede Wahl
von vq , vp die Gleichung
1
xp vq − xq vp = − pvp
m
1
bestehen muss. Daraus folgt, dass xp = 0 und xq = m
p ist. Somit hat das Hamiltonsche
Vektorfeld die Form
1 ∂
XH = p .
m ∂q
2. Als zweites Beispiel betrachten wir den harmonischen Oszillator. Die Hamiltonfunktion
ist durch
1 2 c 2
H= p + q .
2m 2
gegeben. Wir setzen wieder allgemein für XH nach (16.17) an und erhalten für (16.18) den
selben Ausdruck. Für dH erhalten wir jetzt
1 1
−dH(v) = − pdp(v) − cqdq(v) = − pvp − cqvq .
m m
Koffizientenvergleich liefert das Hamiltonsche Vektorfeld
1 ∂ ∂
XH = p − cq .
m ∂q ∂p
1
q̇ = p ṗ = −cq.
m
.
3. Im dritten Beispiel betrachten wir ein Teilchen in einem konstanten magnetischen Feld.
Da das magnetische Feld nicht konservativ ist, müssen wir diesen Effekt in der symplek-
tischen Form berücksichtigen. Das heißt, obwohl die magnetische Kraft nichtkonservativ
ist, kann sie im Rahmen der Hamiltonschen Mechanik behandelt werden, wenn man sie
als Teil der Kinematik des Teilchens ansieht. Wir bezeichnen mit r die Ladung des Teil-
chens und mit B = (Bx , By , Bz )T den magnetischen Feldvektor. Die Kraft, die auf ein sich
bewegendes Teilchen ausgeübt wird, ist durch
r T
p ×B
m
gegeben. Die anderen Kräfte sollen von einem Potential V (q) herleitbar sein. Damit ergibt
sich die Bewegungsgleichung aus dem dynamischen Grundgesetz
r T
mq̈ = p × B − ∇V (16.19)
m
16 Erhaltung des Phasenraumvolumens 220
Wir leiten nun die zu (16.19) äquivalenten Hamiltonschen Gleichungen her. Dazu nehmen
wir als symplektische Form
1
−dH = − (px dpx + py dpy + pz dpz ) − dV
m
wobei dV die Gradienten 1-Form nach 16.8 darstellt. Setzt man iXH ω mit −dH gleich,
erhält man
1 ∂ 1 ∂ 1 ∂
XH = px + py + pz
m ∂qx m ∂qy m ∂qz
r ∂V ∂
+ (py Bz − pz By ) −
m ∂qx ∂px
r ∂V ∂
+ (pz Bx − px Bz ) −
m ∂qy ∂py
r ∂V ∂
+ (px By − py Bx ) − .
m ∂qz ∂pz
Wichtige Folgerungen der symplektischen Formulierung sind die Erhaltung der Energie und der
symplektischen Struktur, die beide beispielsweise bei der numerischen Integration Hamilton-
scher Bewegungsgleichungen zu beachten sind.
Beweis. Es sei g t nach (16.1) die Lösung der Bewegungsgleichungen. Dann ist der Vektor v nach
(16.2) gleich dem Hamiltonschen Vektorfeld XH . Somit haben wir
d
XH H = H(g t ) = dH(v) = dH(XH ) = −iXH ω(XH ) = −ω(XH , XH ) = 0
dt
da ω eine antisymmetrische 2-Form ist.
Satz 16.4. Es sei (M, ω, H) ein Hamiltonsches System. Dann erhält der Hamiltonsche Fluss g t die
symplektische 2-Form ω.
Für den Beweis wird auf die Literatur, zum Beispiel [2] verwiesen.
221 Literatur
Literatur
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Göttingen – Heidelberg, 2001.
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Springer-Verlag Berlin . . . Budapest, 1991.
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cations of Vector Fields, Applied Math. Sciences, 42, Springer-Verlag, Berlin – Heidelberg
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trum der Wissenschaft, 12, 86-96, 1994.
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Literatur 222
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