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Football Leaks

maßlosen Verträge des Lionel Messi

Hundert Millionen Euro im Jahr – die
Unterhaltsgesetz
Wenn Kinder für ihre
Eltern zahlen müssen
Im Zeitalter von Feuer und Zorn

#MeToo

über Missbrauch zu reden

Nr. 3 / 13.1.2018
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Der Versuch, mit Woody Allen

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 Endlich einmal
Das deutsche Nachrichten-Magazin
gute
Hausmitteilung Nachrichten:
Betr.: Football Leaks, Woody Allen, „Dein SPIEGEL“, Zitate
WARUM ES
Lionel Messi ist einer der besten Fuß-
baller in der Geschichte des Sports,
von Millionen Fans wird er vergöttert. DER WELT
Das ist die eine, die glänzende Seite des
IMMER BESSER
MARTIN LUKAS KIM / DER SPIEGEL

Superstars. Den dunkleren Seiten spürte

ein SPIEGEL-Team gemeinsam mit seinen
Partnern vom europäischen Netzwerk
European Investigative Collaborations
monatelang nach. Ausgangspunkt der
Recherche war ein umfangreiches Daten-
GEHT
Buschmann, Naber, Wulzinger paket, das die Enthüllungsplattform Foot-
ball Leaks dem SPIEGEL übergeben hatte.
Nicola Naber und Michael Wulzinger werteten Verträge, E-Mails und behördliche
Urkunden aus. Die SPIEGEL-Rechercheure untersuchten anschließend mit ihren
Kollegen aus dem Investigativteam die dubiosen Geschäfte rund um die Familie
und stießen dabei auch auf ein bislang unbekanntes Steuerproblem des schon ein-
mal verurteilten Steuerhinterziehers Lionel Messi. Der FC Barcelona, Messis
Arbeitgeber, unterstützte den Spieler bei der Lösung dieses Problems mit frag-
würdigen Methoden. „Es wirkt, als gäbe es für die Messis kaum noch Grenzen.
Ihnen werden nahezu alle Wünsche erfüllt, seien sie noch so unmoralisch“, sagt
SPIEGEL-Reporter Rafael Buschmann. Seite 90

E s fühlte sich „beschissen an und ausweg-

los“, sagt New-York-Korrespondent Philipp
Oehmke. Er war auf dem Weg zu einem Treffen
mit Woody Allen. Oehmke hatte sich spontan zu 128 Seiten mit Abbildungen
einer „mission impossible“ entschieden: Er hatte Gebunden, A 14,99 (D)
sich vorgenommen, den von ihm bewunderten Auch als E-Book erhältlich
Regisseur auf die Vorwürfe der sexuellen Beläs-
tigung anzusprechen, die seine Adoptivtochter
Dylan Farrow gegen ihn erhebt und die in den Sterben heute mehr Menschen
vergangenen Wochen immer hitziger diskutiert
wurden. PR-Leute hatten Oehmke strengstens ver- durch Terror und Krankheiten
boten, das Thema anzusprechen, aber es nicht als früher? Stürzen mehr Flugzeuge ab?
zu tun, wäre unter diesen Umständen eine Farce Steigt die Kriminalität, oder sinkt sie?
gewesen. „Die dann folgenden 45 Minuten ge- Und müssen wir wirklich immer
hörten zu den unangenehmsten meines Berufs-
lebens“, sagt Oehmke. Seite 110 Allen, Oehmke mehr arbeiten? Unser Gefühl sagt oft,
dass die Welt sich zum Schlechteren

A frika ohne Elefanten – das kann und mag man sich

gar nicht vorstellen. „Dein SPIEGEL“, das Nachrich-
ten-Magazin für Kinder, erzählt diesen Monat, wie Wil-
verändert, doch dabei übersehen wir,
dass vieles seit langem immer besser
derer die Tiere gnadenlos jagen – und wie Artenschützer wird. SPIEGEL-Autor Guido Mingels
für das Überleben des größten Landsäugetiers kämpfen. zeigt anhand von 52 Grafiken, dass
Außerdem in der neuen Ausgabe: warum Russland bei wir allen Grund haben, optimistisch
den kommenden Olympischen Winterspielen nicht mit- zu sein. Denn früher war tatsächlich
machen darf, russische Sportler aber trotzdem am Start
sein werden. Und der Komiker Eckart von Hirschhausen
alles schlechter.
erklärt im Interview, was einen Witz überhaupt erst
CGS

witzig macht. Das Heft erscheint am Dienstag.

n eigener Sache: Der SPIEGEL war 2017 das meistzitierte Medium in Deutsch-
Iland. Auch in einer Langzeitanalyse, über zehn Jahre hinweg, dominierte das
Hamburger Nachrichten-Magazin das Zitate-Ranking von Media Tenor.

DER SPIEGEL 3 / 2018 3 www.dva.de

 Verrückt? Ich doch nicht!
Titel Ein Bestseller zeigt den US-Präsidenten als fern-
sehsüchtigen, senilen Nichtswisser. Donald Trump
ist wütend, Amerika verstört – und ein Ende dieser
irren Show nicht in Sicht. Dazu: ein Vorabdruck aus
dem Buch von David Cay Johnston über Trumps
zerstörerische Politik. Und der Wissenschaftler Mark
Lilla erklärt die Krise der Linken. Seiten 10, 16, 20

KEVIN DIETSCH / UPI / LAIF

PAUL-LANGROCK / AGENTUR ZENIT

MAURICE WEISS / DER SPIEGEL

Bezahlen für die Eltern Gespaltene Stadt Der Schiffbruch

Unterhalt Gabriele Dietz-Paulig (Foto, um
1964) wuchs im Kinderheim auf, sie wurde
von Nonnen großgezogen. Ihre Mutter
blieb zeitlebens eine Fremde für sie, trotz-
dem soll sie heute deren Pflegekosten über-
nehmen. So will es das Gesetz, doch Dietz-
Paulig zieht dagegen vor Gericht. Seite 36
Finanzplätze Frankfurt am Main rüstet
sich für den Ansturm Tausender Banker
aus London nach dem Austritt Groß-
britanniens aus der EU. Spekulanten und
Finanzlobbyisten hoffen auf das große
Geschäft. In der Bevölkerung wächst die
Angst vor sozialen Spannungen. Seite 56
Visionen Der französische Untergangs-
roman „Das Heerlager der Heiligen“ ist zur
Bibel der Rechten geworden, von Pegida
bis ins Weiße Haus. Der Schiffbruch von
Flüchtlingen, den Autor Jean Raspail darin
erfand, wurde Wirklichkeit. Die Gestran-
deten leben heute in Deutschland. Seite 82

4 Titelbild: Illustration: Edel Rodriguez für den SPIEGEL


Titel
USA Nach seinem ersten Jahr als Präsident
steht Donald Trump als Lügner,
Kriegstreiber und seniler Irrer da. Ein
Ende? Ist nicht in Sicht
Bücher Der US-Investigativjournalist
David Cay Johnston über „Trump
im Amt“ – ein exklusiver Vorabdruck
Intellektuelle Die Krise der amerikanischen
Linken
Deutschland
Leitartikel Das neue Netzgesetz ist keine
Zensur
Meinung Im Zweifel links / So gesehen:
Die Hundert-Tage-Bilanz der Regierung
Mehr Flüchtlinge nach Deutschland? /
Ökonomen fordern Ersatz für
Maastricht-Vertrag / Mafiosi mit eigener
Kryptosoftware
Kanzler Ein Dreierbündnis von Jens Spahn,
Alexander Dobrindt und Christian Lindner
arbeitet gegen Angela Merkel
Parteien Sahra Wagenknecht über ihre Pläne
für eine neue linke Volkspartei
Ministerpräsidenten Manuela Schwesig
plant von Schwerin aus ihren weiteren
Aufstieg in der SPD
Essay Wie soziale Medien die politische
Kommunikation verändern
Unterhalt Gabriele Dietz-Paulig wurde als
Säugling ins Heim gesteckt, nun soll
sie die Pflegekosten ihrer Mutter zahlen
Karrieren Jürgen Elsässers Wandlung
vom Kommunisten zum Chefideologen
der Neuen Rechten
Justiz Ein ehemaliger Dschihadist hilft der
deutschen Justiz als Zeuge – trotzdem wird
er hart bestraft und in der Haft schikaniert 42
Kriminalität Ein Ex-Dealer erklärt das
Millionengeschäft mit Drogen im Darknet 46
Schizophrenie Angehörige warnten Ärzte
und Behörden vor dem gewalttätigen,
psychisch kranken Felix B. – bis er tötete
Seuchen Tierarzt Thomas Blaha
will Wildschweine an den Ostgrenzen
abschießen lassen
Wirtschaft
Gemeinden sollen Geld für Windräder
bekommen / US-Steuerreform verstößt
gegen internationale Abkommen /
Kellerhals-Erben streiten weiter
Finanzplätze Frankfurt am Main bereitet
sich auf den Zuzug Tausender Investment-
banker vor
Altsponti Johnny Klinke schwärmt
von Frankfurt
Analyse Der Deutschen Bank droht
der Abstieg
Konzerne Die Bezahlung der Topberater der
Boston Consulting Group wirft Fragen auf
Industrie Finanzinvestor Cevian sorgt bei
ThyssenKrupp für Ärger
Kosmetik Weil die Luftverschmutzung
zunimmt, boomen Anti-Feinstaub-Cremes
Ausland
Warum Polens Nationalkonservative
gerade unbesiegbar sind / Auch
die Chinesen lieben Emmanuel Macron
Korea Kriegsangst und Krisenstimmung in
Seoul vor den Olympischen Winterspielen
Türkei SPIEGEL-Gespräch mit der
Journalistin Meşale Tolu über ihre Haft
In diesem Heft
Philippinen Die Stadt Marawi ist seit
Monaten vom IS befreit, die Gefahr, dass
die Islamisten das Land als neuen Rück-
zugsraum nutzen, aber noch nicht gebannt 76
10
Gesellschaft
JOHANNES ARLT / DER SPIEGEL
Früher war alles schlechter: Das Handy
16 als Motor des Fortschritts / Wie kann Kegeln
wieder hip werden? 80
20 Eine Meldung und ihre Geschichte Warum
ein ostdeutscher Bauernhof
zum Hochsicherheitstrakt wurde 81
Visionen Ein Roman, der als Bibel
6 der Rechten gilt, wurde Wirklichkeit 82 Manuela Schwesig
Kolumne Leitkultur 88
8 Sie sammelt als neue Minister-
Sport präsidentin in Schwerin Re-
Wie lange sich Dopingrekorde in der gierungserfahrung, während
Leichtathletik halten / Magische Momente: sich die führenden SPD-Ge-
24 Pole-Tänzerin Jeannine Wilkerling über nossen in Berlin verschleißen.
die Reize ihrer Sportart 89 So könnte die 43-Jährige es
Football Leaks Wie die Familie Messi den
28 in ihrer Partei ganz nach oben
FC Barcelona aussaugt 90
schaffen. Seite 32
31
Wissenschaft
Orang-Utans behandeln sich mit Heil-
32 pflanzen / Drogenpolitik-Experten fordern
die Legalisierung von Cannabis /
34 Kommentar: Eine Grippepandemie wie vor
100 Jahren wird kommen – und dann? 98
Neurowissenschaften Der US-Biologe
36 Anthony Zador will mit einem cleveren Trick
den Schaltplan des Gehirns enträtseln 100
LUKAS BARTH / EPD
Tiere Stinkende Blutsauger –
38 ein Insektenforscher kämpft gegen
den miesen Ruf der Wanzen 103
Archäologie Der weltweite CO²-Ausstoß
erschwert die Altersbestimmung
historischer Funde 104 Navid Kermani
Psychologie Ganz oben, ganz verwirrt –
Mediziner ergründen den Höhenwahn der Er ist Träger des Friedens-
Bergsteiger 106 preises des deutschen Buch-
50 handels; für den SPIEGEL
Kultur reiste der Schriftsteller durch
Rapperin Haiyti / Neue Humboldt-Forum- Osteuropa bis nach Iran. Da-
53 Chefin / Kolumne: Zur Zeit 108 bei entstand eine Serie, deren
#MeToo-Debatte Ein Treffen mit Woody letzte Folge nun erscheint,
Allen anlässlich seines neuen Films
„Wonder Wheel“ – und der Versuch, sie endet in Teheran. Seite 114
über die Missbrauchsvorwürfe gegen ihn
zu sprechen 110
54 Reise Navid Kermani in Teheran – das
Finale seines Tagebuchs 114
Bauen SPIEGEL-Gespräch mit BND-
56 Präsident Kahl und Architekt Kleihues über
die neue Geheimdienstzentrale in Berlin 118
60 Verantwortungsromantik Ist der Schriftsteller
Simon Strauß auf politischen Abwegen? 121
61 Literaturkritik Aharon Appelfelds kurz
YASIN AKGUL / AFP
vor seinem Tod erschienenes
62 Erinnerungsbuch „Meine Eltern“ 122
Würdigung Franziska Augstein zum Tod
66 von Johannes K. Engel (1927 bis 2018),
dem ehemaligen SPIEGEL-Chefredakteur 124
67 Meşale Tolu
Bestseller 113 Sie saß in türkischer Haft,
Impressum, Leserservice 123 mit dabei: ihr kleiner Sohn.
Nachrufe 125 Kürzlich wurde die Journa-
68
Personalien 126 listin entlassen, frei fühlt sie
Briefe 128 sich trotzdem nicht. Denn
70 Hohlspiegel / Rückspiegel 130 der Prozess geht weiter. Und
ihr Sohn fragt oft: Du kommst
74 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ aber wieder, Mami? Seite 74
DER SPIEGEL 3 / 2018 5
 Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Einmal tief durchatmen, bitte!

Die Kritik am neuen Netzgesetz ist völlig überzogen.

A
n einem mangelt es in der aktuellen Debatte über dungen, sondern nur, wenn die Betreiber kein funktionie-
die Meinungsfreiheit in Deutschland gewiss nicht: rendes Beschwerdeverfahren anbieten.
an lauten, zugespitzten, ja geradezu hysterischen Die aktuelle Hysterie geht auf die Erfahrungen der ers-
Meinungen. ten Tage zurück. Tatsächlich scheinen die betroffenen
Der schrillste Alarm dröhnt natürlich aus den sozialen Konzerne, allen voran Twitter, gerade von einem Extrem
Netzwerken: Wer in diesen Tagen bei Twitter unterwegs ins andere zu verfallen. Gehörte der Kurznachrichten-
ist, wähnt sich in einer anderen Republik. Das Grundrecht dienst im vorigen Jahr noch zu den Anbietern mit den
auf freie Rede sei passé, schäumen Nutzer, mit dem Jah- miserabelsten Löschquoten, schießt er nun über das Ziel
reswechsel sei ein Zeitalter der Zensur angebrochen. An- hinaus – und entfernte auch offenkundig satirische und
geführt wird die Empörung im Kern von einer ganz gro- definitiv nicht strafwürdige Beiträge.
ßen Koalition aus AfD-Funktionären, FDP-Politikern und Ziel der Zensurvorwürfe sind nicht etwa die Twitter-Ver-
Journalisten des Springer-Konzerns. AfD-Mann Alexan- antwortlichen und deren willkürliche und intransparente
der Gauland spricht von „Stasi-Methoden“. Und „Bild“- Löschpraxis – sondern der Justizminister und sein Versuch,
Chef Julian Reichelt bemüht gar Vergleiche mit den „fins- den Missständen mit den Mitteln des Rechtsstaats beizukom-
tersten Diktaturen der Welt“. men. Keine Frage, das NetzDG
Aber auch Juristen, Wirt- hat Schwächen. Sachliche Kri-
schaftsverbände sowie promi- tik ist notwendig und berech-
nente Linke und Grüne ge- tigt. Und natürlich wäre es am
ben sich alarmiert. besten gewesen, man hätte es
Was um Himmels willen ist gar nicht erst gebraucht.
da passiert? Aber die Selbstregulierung
Die meisten Bürger haben der Konzerne, die viele sich
es vermutlich noch gar nicht jetzt zurückwünschen, hat
bemerkt: Aber mit dem Jah- erwiesenermaßen nicht funk-
resbeginn ist das sogenannte tioniert. Das Gesetz war kei-
Netzwerkdurchsetzungsgesetz ne Übersprunghandlung aus
(NetzDG) in vollem Umfang notorischer Regulierungswut.
in Kraft getreten. Es soll Hass Der Staat hat lange tatenlos
JAAP ARRIENS / NURPHOTO VIA GETTY IMAGES

und Hetze in sozialen Netz- zugesehen. Die Unternehmen

werken wie Facebook wirk-
samer bekämpfen, die nicht
nur Individuen verleumden,
sondern eine zersetzende
Wirkung auf ganze Gesell-
schaften haben können.
Das Gesetz aus dem Haus
von Justizminister Heiko Maas
(SPD), im vorigen Juni mit
der Mehrheit der Großen Koalition beschlossen, formu-
liert dabei keine wesentlichen neuen Verbote. Twitter
und Co. waren eigentlich schon bisher gesetzlich ver-
pflichtet, strafbare Inhalte zu entfernen, wenn sie ihnen
gemeldet werden. Nur machten Betroffene bislang die
Erfahrung, dass verunglimpfende und verleumderische
Inhalte auch dann häufig noch lange online blieben. Allzu
oft erhielten verzweifelte Opfer von Facebook und
Co. nur die lapidare Nachricht, die gemeldeten Beiträge
verstießen nicht gegen die konzerneigenen Gemein-
schaftsstandards.
Es war also höchste Zeit für ein staatliches Einschreiten.
Zeit, dass die Unternehmen endlich gezwungen werden,
die deutschen Gemeinschaftsstandards zu respektieren: das
geltende Recht. Dafür setzt das NetzDG den Konzernen
knappe Reaktionsfristen und droht mit empfindlichen Buß-
geldern – allerdings nicht bei fragwürdigen Einzelentschei-
hatten ewig lange Gelegen-
heit, wirksame Lösungen
anzubieten. Stattdessen ver-
schlechterten sich ihre Lösch-
quoten teils sogar.
Für eine nüchterne Bilanz
ist es zu früh. Derzeit miss-
brauchen Aktivisten aller
Couleur die neuen Meldewe-
ge, um politische Gegner und das Gesetz selbst zu denun-
zieren. Es gibt in der Flut der Meldungen Fehlentschei-
dungen, sicher. Aber ist das eine Einschränkung der Mei-
nungsfreiheit? Eine Gesinnungspolizei wie in Diktaturen?
Wer wie die Chefs von AfD und „Bild“ so grotesk über-
zieht, hetzt jene Populisten auf, die sich gerade zu Unrecht
als Heroen der freien Rede aufspielen, und verhöhnt die
Opfer von Regimen, in denen abweichende Meinungen
üblere Folgen haben als eine zwölfstündige Twitter-Sperre,
die das Gesetz im Übrigen gar nicht verlangt.
Da sind sogar die Unternehmen selbst längst weiter.
Facebook-Chef Mark Zuckerberg hat „Missbrauch und
Hass“ gerade als Hauptproblem auf seiner Plattform be-
nannt und angekündigt, es zu beheben. Sollten dem Taten
folgen und sollte das deutsche Gesetz zu dieser plötzlichen
Einsicht auch nur etwas beigetragen haben, wäre das kein
kleines Verdienst. Marcel Rosenbach

6 DER SPIEGEL 3 / 2018

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 Meinung
Jakob Augstein Im Zweifel links
Deutsche Kindersoldaten
Um es gleich zu sagen:
Ich habe gedient. Das
ist für diesen Text
wichtig. Sonst heißt
es wieder, der ver-
wöhnte Salonsozia-
list weiß gar nicht,
wovon er redet. Also:
Grundwehrdienst in Neu-
münster, im tiefsten Winter, es war echt
kalt, ich muss immer daran denken, wenn
ich einen verschneiten Wald sehe. Was mir
noch in Erinnerung ist: Einmal hat der
Hauptfeldwebel zu mir gesagt: „Jäger Aug-
stein“ – das war ich –, „haben Sie mal
eine Zange?“ Ich: „Nein, Herr Hauptfeld-
webel. Warum?“ Er: „Damit ich mir die
Hose zumachen kann.“ Ich rätsele heute
noch, was das bedeuten sollte.
Ich war damals jung. Aber immerhin
volljährig. Anders als 2128 Rekruten, die
im vergangenen Jahr bei der Bundeswehr
ihren Dienst antraten. Die waren nämlich
noch keine 18. Nach einer Definition,
die Unicef benutzt, handelt es sich dann
um Kindersoldaten. Die Zahlen der jungen
Leute, die sich beim Bund melden, steigen.
Übrigens waren auch 448 Frauen dabei.
Offenbar zieht nicht nur der „Islamische
Staat“ Mädchen an, sondern auch der
demokratische.
Das klingt natürlich nicht schön: Kinder-
soldaten bei der Bundeswehr. Immerhin
handelt es sich um die Armee, von der Bun-
despräsident Gauck seinerzeit schwärmte:
„Eine Parlamentsarmee, an demokratische
Werte gebunden, an Grundgesetz und
Soldatengesetz; eine Armee unter der Be-
fehlsgewalt eines Zivilisten, rekrutiert aus
Kittihawk
8 DER SPIEGEL 3 / 2018
eigenverantwortlichen Bürgern und heute
auch Bürgerinnen, die zu kritischen Geis- Weiter so
tern ausgebildet werden …“ – der Überlie- So gesehen Die Hundert-
ferung nach wollte er noch mehr sagen, Tage-Bilanz der Regierung
aber der Rest der Rede ging in allgemeinem
Schluchzen unter. kann sich sehen lassen.
Es waren natürlich die Spielverderber Wie es bewährte journalisti-
von der Linkspartei, die nach der Zahl sche Praxis ist, gebührt auch
der Minderjährigen beim Bund gefragt hat- der geschäftsführenden Bun-
ten. Aber die Linken sind vorsichtig ge- desregierung eine Hundert-
nug, das Wort „Kindersoldat“ nicht in den Tage-Bilanz. Normalerweise
Mund zu nehmen. Denn es ist fraglos werden geschäftsführende
ein Unterschied, ob ein Achtjähriger mit Regierungen rasch vergessen,
Drogen und Gewalt gezwungen wird, weil sie nach wenigen Wo-
im Kongo auf Menschen zu schießen; chen von einer hauptamtli-
oder ob ein 17-Jähriger, der in Greifswald chen abgelöst werden. Bei
keinen Ausbildungsplatz findet, sich beim der Regierung Merkel 3½ ist
Bund meldet. das nicht der Fall.
Die Verteidiger der Anwerbepraxis sagen, An ihrer Spitze steht eine
der Bund sei ein Arbeitgeber wie jeder Kanzlerin, die Politik längst
andere, und immerhin kann man auch mit erfolgreich vom Konkreten
16 als Kochlehrling anfangen. Zweifellos ins Transzendente überführt
geht es in mancher Großküche härter zur hat. Als Gegenpol rast Außen-
Sache als in der Stabskompanie. Aber am minister Gabriel derzeit wie
Ende ist eben ein Kochlöffel kein Sturm- ein Duracell-Hase durch
gewehr, und dass jemand zwar an der Waf- die Welt. Regiert wird auch.
fe ausgebildet werden kann, aber noch Gerade hat die Regierung das
kein Auto fahren darf, leuchtet nicht so Streckennetz für Lang-Lkw
richtig ein. Die SPD hat vorgeschlagen, die ausgeweitet. Die Wirtschaft
Jugendlichen sollen beim Bund einen „zi- läuft, ach was, sie kesselt. Es
vilen Vorbereitungsdienst“ machen dürfen. ist der vielleicht beste Start,
Das ist eine typisch verschwurbelte den eine Regierung Merkel
SPD-Idee. Dabei lässt sich alles, was zu je hingelegt hat.
dem Thema zu sagen ist, mit einem Selbst eine Koalitionskrise,
Satz ausdrücken: Minderjährige haben beim die zu jeder lebendigen
Militär nichts zu suchen. Wegtreten! Regierung gehört, hat man
bereits erfolgreich gemeistert,
An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, als nämlich der Landwirt-
Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. schaftsminister mit dem Na-
men, den man immer ver-
gisst, dem Unkrautvernich-
tungsmittel Glyphosat in
Brüssel einen Freibrief gab.
Das war allein demokratie-
theoretisch löblich, weil der
Bürger nun sieht, dass sich
CDU, CSU und SPD in einer
Großen Koalition doch von-
einander abgrenzen können.
Sogar innovativ ist die Re-
gierung Merkel 3½. Wenn
die Kanzlerin mittwochs mit
ihren zwölf Ministern und
Ministerinnen zusammensitzt,
tagt das kleinste Kabinett seit
Jahrzehnten. Auf dem Weg
zum schlanken Staat wurde
sogar schon der Finanz-
minister eingespart. So kann
es gern weitergehen. Wir
freuen uns auf die nächsten
hundert! Markus Dettmer
 DER SPIEGEL
im Gespräch mit
Özdemir, Aydemir,
Popp: live
Harry Weber

Bradley Secker

Charlotte Schmitz
Cem Özdemir Fatma Aydemir Maximilian Popp

Verhaftungen deutscher Staatsbürger, Nazi-Vergleiche, Terrorvorwürfe: Das deutsch-türkische

Verhältnis erreichte 2017 einen Tiefpunkt. Gleichzeitig sind beide Länder aufeinander angewiesen.
In keinem anderen Land leben so viele Menschen türkischer Abstammung wie in Deutschland.
Wie geht es weiter in den Beziehungen zwischen beiden Ländern? Und wie wirkt sich die Krise
auf die deutsch-türkische Community aus? Darüber diskutieren Fatma Aydemir, Journalistin,
Autorin und Initiatorin des deutsch-türkischen Web-Portals taz.gazete, Cem Özdemir, Vorsitzender
der Grünen, und Maximilian Popp, Türkei-Korrespondent des SPIEGEL.
Moderation: Christiane Hoffmann, stellvertretende Leiterin des SPIEGEL-Hauptstadtbüros

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Eintritt: 15 Euro, ermäßigt 12 Euro, zzgl. Gebühren. Einlass ab 19 Uhr. Änderungen vorbehalten.
Titel
Das Weiße Irrenhaus
USA Der mächtigste Mann der Welt bestreitet, ein dummer, seniler, fernsehsüchtiger
Narzisst zu sein. Trotz der Vorwürfe wird Donald Trump, der Clown
mit dem Atomknopf, wohl im Amt bleiben. Zum Schaden Amerikas und der Welt.
S
tephen Miller ist einer von den Leu-
ten, die der Welt jetzt weismachen
müssen, alles sei in Ordnung und völ-
lig normal. Miller arbeitet als Redenschrei-
ber im Weißen Haus und soll live auf CNN
das Buch „Fire and Fury“, Feuer und Zorn,
des Journalisten Michael Wolff kommen-
tieren, das den Präsidenten als psychischen
Störfall beschreibt, als dumm, senil, unzu-
rechnungsfähig. Er sagt: „Man muss dieses
Buch als mies geschriebene Fiktion sehen.“
Als Trash eines „Schrottautors“.
Miller ist 32 Jahre alt, sieht mit seiner
Halbglatze und dem polierten Gesicht aber
aus wie Anfang 50. Während des Wahl-
kampfs flog er mit Trump quer durchs Land.
„Ich habe einen Mann erlebt, der ein politi-
sches Genie ist“, sagt Miller. Grotesk seien
die Anschuldigungen, vor allem die Aussa-
gen von Stephen Bannon, Trumps einstigem
Chefstrategen. Das sei Verrat, ruft Miller. Er
redet sich derart in Rage, dass ihm der Mo-
derator schließlich den Ton abstellen lässt.
Sicherheitsleute führen ihn aus dem Studio.
Millers Auftritt am vergangenen Sonntag
zeigt, welche absurden Züge die Debatte
angenommen hat. Einem Zuschauer aller-
dings gefällt Millers Wutausbruch. „Jake
Tapper von Fake News CNN wurde gerade
zerstört in seinem Interview“, schreibt Do-
nald Trump auf Twitter. Wenige Stunden
zuvor hat er der Welt in einer Kaskade von
verstörenden Nachrichten mitgeteilt, dass
er psychisch gesund sei. Die Demokraten
und ihre „Schoßhündchen“ in den Medien
würden seine Verfassung nur infrage stel-
len, weil die Russland-Ermittlungen sich
als Ente erwiesen hätten.
„Tatsächlich waren mentale Stabilität
und so richtig schlau zu sein bislang meine
hervorstechenden Eigenschaften“, twitter-
te Trump am Sonntagmorgen. Er sei von
einem sehr erfolgreichen Geschäftsmann
zum Fernsehstar und Präsidenten aufge-
stiegen. „Ich denke, das qualifiziert mich
nicht nur als klug, sondern als Genie ...
und ein sehr stabiles Genie noch dazu.“
So redet kein Gesunder, sondern ein Be-
sessener. Leider ist dieser Besessene der
mächtigste Mann der Welt. Ein Mann, den
selbst seine engsten Mitarbeiter verachten,
den sie als „Idioten“ (Finanzminister Steven
Mnuchin), als „dumm wie Scheiße“ (Wirt-
schaftsberater Gary Cohn) oder „Trottel“
(Sicherheitsberater Herbert Raymond
McMaster) bezeichnen. All diese Zitate fal-
10 DER SPIEGEL 3 / 2018
len in „Fire and Fury“ – und es kann keine
bessere Bestätigung für diese Aussagen ge-
ben als Trumps Wüten. Der Präsident zeigt
sich als Kindkönig, der sich in ein Buch ver-
beißt, das er nicht gelesen hat und wohl
auch nie lesen wird.
Die Realsatire, die Trump und seine Leu-
te derzeit aufführen, ist allerdings nicht
nur ein weiterer Fall von Irrwitz. Sondern
ein schwerwiegendes politisches Problem,
das grundsätzliche Fragen aufwirft.
Wie mächtig ist eine Supermacht, deren
Anführer so unzurechnungsfähig erscheint,
dass die Stimmen lauter werden, die seine
Absetzung fordern? Möglich wäre das, zu-
Trump zieht sich um 18.30
Uhr in sein Schlafzimmer
zurück, isst Cheeseburger,
sieht Fox News und twittert.
mindest theoretisch, durch ein Amtsent-
hebungsverfahren oder nach dem 25. Ver-
fassungszusatz, anwendbar dann, wenn ein
Präsident geistig oder körperlich nicht mehr
in der Lage ist, sein Amt auszuüben.
Und vor allem: Wie reagiert einer, der
sich schon von einem Buch derart provo-
zieren lässt, dann in einer echten Krise?
Was geschieht, wenn Nordkoreas Diktator
Kim Jong Un ihn herausfordert? Kann man
Trump wirklich die Macht über das Atom-
waffenarsenal überlassen?
Der Westen, so viel ist klar, befindet
sich mit diesem Präsidenten in einer ge-
fährlichen Situation. Trump hat mit seiner
irrlichternden Art die Allianz mit Europa
ins Wanken gebracht und so den Feinden
des Westens Auftrieb verschafft, den Au-
tokraten in China, Russland und Nahost.
Seine Reisen haben gezeigt, dass er sich
in Riad wohler fühlt als in Brüssel; dass er
mehr Spaß beim Schwerttanz mit Prinzen
hat als beim Abendessen mit Angela Mer-
kel. Damit hat Trump die USA zu einer
führungslosen Nation gemacht. Kaum ein
Diplomat oder Regierungschef nimmt
noch ernst, was der Präsident von sich gibt.
Auf Amerika ist kein Verlass mehr.
In nur zwölf Monaten im Amt hat
Trump einen Atomkrieg mit Nordkorea
denkbar gemacht und das Prinzip der in-
ternationalen Zusammenarbeit untergra-
ben, indem er Handelsverträge kündigte,
den Klimaschutz aufweichte, Uno-Organi-
sationen Gelder entzog und das Nuklear-
abkommen mit Iran infrage stellte. Damit
bringt er das westliche Modell, ja die ge-
samte liberale Demokratie in Gefahr.
Und all das, so zeigt es Wolffs Skandal-
buch, aus Unwissenheit, Narzissmus, Macht-
drang und mangelndem Mitgefühl. Die
Veröffentlichung markiert einen neuen
Tiefpunkt in der Geschichte der Vereinig-
ten Staaten, obwohl man schon dachte, tie-
fer gehe es mit diesem Mann nicht mehr.
Dabei lebten im Weißen Haus viele Prä-
sidenten, die krank, kompliziert und
schwer erträglich waren. Richard Nixon
galt als Lügner, aufbrausend und alkohol-
krank. Über den Gesundheitszustand von
Ronald Reagan wurde bereits vor seinem
Amtsantritt spekuliert. Bill Clinton nutzte
seine Macht für sexuelle Abenteuer.
Es ist auch nicht neu, dass Präsidenten
von Jasagern umgeben sind, die hinter
ihrem Rücken schlecht reden. Neu ist der
Zynismus, mit dem Trumps Berater einem
Mann dienen, den sie für unfähig, verrückt
und krank halten. Wolff sagt, im Weißen
Haus werde fast täglich diskutiert, welche
Aussagen oder Aktionen Trumps nun
schon wieder unter den 25. Verfassungs-
zusatz fallen könnten. Trump sei psychisch
nicht in der Lage, seinen Job auszuüben.
Er habe die Wahl auch nie gewinnen wol-
len. Sondern nur den Wert seiner Marke
„Trump“ erhöhen wollen.
Der Autor beschreibt ein dysfunktio-
nales Weißes Haus, das zwischen Hysterie
und Chaos pendelt. Er berichtet von den
Grabenkämpfen zwischen Bannon und
„Jarvanka“, Trumps Tochter Ivanka und
deren Ehemann Jared Kushner; er schreibt
von Fehden, Durchstechereien und einem
desinteressierten Präsidenten, der sich um
18.30 Uhr in sein Schlafzimmer zurück-
zieht, Cheeseburger isst, Fox News schaut,
mit Freunden telefoniert und twittert.
Wolffs Hauptfigur und mutmaßlich wich-
tigster Informant ist Stephen Bannon, der
bis zum August Trumps Chefstratege war
und als mächtigster Mann im Weißen Haus
galt, Trumps Mephisto. Es sind vor allem
Bannons Zitate, die Trump so wütend
machen. In einem offiziellen Statement
schrieb er, Bannon habe „nichts mit mir
DER SPIEGEL 3 / 2018
11
TOM BRENNER / NYT / REDUX / LAIF
Titel
„Today Show“-Moderatorin mit Autor Wolff: Er saß wochenlang auf einem Besuchersofa im Weißen Haus und sog Gerüchte auf
oder meiner Präsidentschaft zu tun. Als er
entlassen wurde, hat er nicht nur seinen
Job verloren, sondern den Verstand“. Es
ist der Bruch zwischen dem Präsidenten
und seinem Mastermind.
Joshua Green sagt, Bannon sei einfach
unvorsichtig gewesen, indem er mit Wolff
gesprochen hat. Green schreibt für
„Bloomberg Businessweek“ und kennt
Bannon so gut wie kaum ein anderer. Vo-
riges Jahr hat er einen Bestseller über die
Trump/Bannon-Allianz geschrieben, „De-
vil’s Bargain“, ein Abkommen mit dem
Teufel. „Bannons Ego ist so groß wie das
von Trump“, sagt Green. Am Ende sei er
zum Opfer seines Narzissmus geworden.
Inzwischen relativieren selbst einstige
Unterstützer Bannons Rolle. „Trumps Pro-
gramm war lange festgelegt, bevor Bannon
an Bord kam“, sagt der langjährige Trump-
Berater Roger Stone. Von Fox News bis in
die verschwörungstheoretischen Welten
von Websites wie „InfoWars“ und „Gate-
way Pundit“ wird Bannon nun als instabil
und egoistisch gebrandmarkt.
Green glaubt dagegen nicht, dass Ban-
nons Einfluss auf Trump überschätzt wur-
de. Der Präsident habe immer Angst ge-
habt, den Kontakt zu seiner Basis zu ver-
12 DER SPIEGEL 3 / 2018
NATHAN CONGLETON / AP
lieren; Bannon stellte mit Breitbart ein nach Hongkong, Tokio, Abu Dhabi. Autor
wichtiges Bindeglied zwischen Trump und Green sagt, er könne sich vorstellen, dass
seinen Wählern her. „Wolffs Buch aber hat Bannon ein Auge auf Europa geworfen
Trump so zornig gemacht, dass es ihm egal habe und populistische Parteien auf dem
war, Bannon zu verlieren.“ Kontinent beraten wolle. „Er hat die Kar-
Bannons Niedergang begann bereits im riere von Frauke Petry und der AfD genau
April vorigen Jahres, als ihn Kushner und verfolgt, von Marine Le Pen in Frankreich
McMaster aus dem Nationalen Sicherheits- und Beppe Grillo in Italien.“ Man müsse
rat drängten; im August musste er dann sich um Bannon keine Sorgen machen.
das Weiße Haus verlassen. Danach stand „Außerdem gibt es in den USA immer
Bannon noch mit Trump in Kontakt. Nun reiche Gönner, die jemanden wie ihn su-
wurde er jedoch von den Rechten exkom- chen, um politischen Einfluss zu erlangen.“
muniziert, da half auch seine halbherzige Der letzte Ideologe, der von Bannons
Entschuldigung nicht. Die Familie des erz- „nationalistischer Revolution“ übrig blieb,
konservativen Hedgefonds-Unternehmers ist Stephen Miller. Ein Mann, über den Au-
Robert Mercer, die Anteile an Breitbart tor Wolff lästert, er könne nicht in ganzen
hält und Trump im Wahlkampf mit Millio- Sätzen, sondern nur in Stichpunkten schrei-
nenspenden unterstützt hat, entzog Ban- ben. Bannon soll Miller „meine Schreib-
non endgültig das Vertrauen. Er musste kraft“ genannt haben. Er ist das Gegenteil
Breitbart verlassen, seine „killing machine“. eines Intellektuellen, steht Büchern ähnlich
Auch seine Radioshow wurde beendet. ratlos gegenüber wie der Präsident.
Der selbst ernannte Revolutionär und Viele Probleme, die Trump hat, lassen
Zerstörer des Establishments hat nun keine sich auf seine Unfähigkeit zurückführen,
Plattform mehr für seine Thesen von der fähige Mitarbeiter zu rekrutieren. Und
Abschottung Amerikas und der Größe, die selbst diejenigen, die hart für ihn arbeiten,
aus Isolation erwächst. Aber es sieht nicht behandelt er wie Leibeigene.
so aus, als würde er völlig verschwinden. Bezeichnend ist der Umgang mit Reince
Nach seinem Rausschmiss aus dem Wei- Priebus, seinem früheren Stabschef. Prie-
ßen Haus flog Bannon durch die Welt, bus wusste, dass er gefeuert werden würde,

Beraterteam Miller, Bannon, Flynn, Kushner, Priebus im Februar 2017: Ein dysfunktionales Weißes Haus zwischen Hysterie und Chaos
wollte aber einen geordneten Übergang,
keinen hastigen Abtritt. Auf dem Flug zu-
rück von einem Termin in New York sagte
Trump in der Air Force One, Priebus solle
sich Zeit nehmen. „Sag mir, was am besten
für dich funktioniert. Lass uns das ordent-
lich machen.“ Wenige Minuten später,
nachdem sie gelandet waren, poppte der
neueste Tweet von Trump auf Priebus’ Mo-
biltelefon auf: Es gebe einen neuen Stabs-
chef, schrieb Trump. Er heiße John Kelly.
Wie fahrlässig der Präsident bei der Aus-
wahl seines engsten Kreises vorging, zeigt
die Rekrutierung seines Nationalen Sicher-
heitsberaters. Der Posten ist einer der wich-
tigsten Jobs im Weißen Haus. Der Sicher-
heitsberater präsentiert dem Oberbefehls-
haber Optionen, oft geht es um Geheim-
diensterkenntnisse und Militäroperationen.
Trumps erster Kandidat Michael Flynn
musste nach 24 Tagen zurücktreten, weil
er den Vizepräsidenten über sein Treffen
mit dem russischen US-Botschafter an-
gelogen hatte. Nach Flynns Abgang lud
Trump den früheren Diplomaten John Bol-
ton zum Vorstellungsgespräch. Bolton ist
ein Hardliner, erfahren in der Außen- und
Sicherheitspolitik, einst war er Amerikas
Botschafter bei den Vereinten Nationen in
New York. Etwas an dem Mann missfiel
dem Präsidenten jedoch, so schildert es
Wolff: ein weißer, dicker Balken über der
Oberlippe. „Trump denkt, er sieht einfach
nicht gut aus“, sagt Bannon. Damit war
Bolton raus. Wegen seines Schnauzers.
Kushner schlug dann McMaster vor, ei-
nen kleinen, stämmigen, glatzköpfigen
Golfkriegsveteranen, der eine Doktorar-
beit über den Vietnamkrieg verfasst hatte.
McMasters Schwäche ist jedoch sein Hang
zum Professoralen, beim Vorstellungs-
gespräch hielt er einen Vortrag über globale
Strategien. „Dieser Typ langweilt mich zu
Tode“, sagte Trump anschließend.
Als der General am nächsten Tag erneut
erschien, diesmal nicht in Uniform, son-
dern in einem etwas zu luftig geschnitte-
nen Anzug, bemerkte Trump, McMaster
sehe aus wie der Außendienstler einer
Brauerei. Der Präsident war erst beruhigt,
als er sah, dass McMaster in den Morgen-
sendungen eine passable Figur abgab.
Das Kabelfernsehen ist Trumps Fenster
in die Welt, drei Bildschirme nebeneinan-
der ließ er sich in seinem Schlafzimmer in-
stallieren. Wolff beschreibt genüsslich, wie
der Präsident abends mit stumm geschal-
tetem Ton mit seinem „Milliardärs-Chor“
MANDEL NGAN / AFP
telefoniert, seinen superreichen Freunden,
denen er sich am nächsten fühlt. Trump
und seine Frau Melania schlafen in getrenn-
ten Zimmern, was praktisch ist, wenn der
Gatte lange Gespräche führt.
Überhaupt widmet Wolff dem Schlafzim-
mer viel Platz. Trump erzähle gern, so der
Autor, dass das Leben besonders lebens-
wert sei, wenn man die Ehefrauen von
Freunden ins Bett bekomme. Schon als Ge-
schäftsmann hatte Trump an diesem Sport
unbändige Freude. Er horchte Freunde
über ihr Sexleben aus, während deren Frau-
en über den Lautsprecher seines Bürotele-
fons mitlauschten. So zerbrachen wohl Be-
ziehungen. Und Trump konnte den un-
glücklichen Ehefrauen Trost spenden.
Wolff schreibt, Trumps Hirn mangle es
an der Fähigkeit, die einfachsten Dinge zu
durchdringen. „Er ist unfähig vorauszupla-
nen, sich zu organisieren, aufmerksam zu
sein und zu reflektieren.“ Er kenne den
Zusammenhang von Ursache und Wirkung
nicht. Es fehle ihm zudem an jeglicher Em-
pathie, weshalb es manchmal zu beinahe
komischen Szenen komme.
Einmal, schreibt Wolff, standen Bannon
und Ivanka Trump im Oval Office, als Ban-
non sie anbrüllte: „Du bist eine verdamm-
DER SPIEGEL 3 / 2018 13
te Lügnerin.“ Anstatt seine Tochter zu ver-
teidigen, sagte der Präsident: „Ich habe
dir gesagt, das ist eine harte Stadt, Baby.“
Damit ist die Sache für ihn erledigt.
Es sind solche Szenen, die das Buch so
saftig machen. Überraschend Neues schil-
dert „Fire and Fury“ nicht; Politik kommt
nur am Rande vor. Wolff interessiert sich
vor allem für Intrigen, Affären und die Fra-
ge, wer wen hasst und weshalb. Der Autor
ist ein seltsames Gewächs aus dem New
Yorker Mediensumpf, glatzköpfig, klein,
mit wachen Augen. Ein Journalist, der
Journalisten verabscheut, vor allem, wenn
sie für die „New York Times“ arbeiten.
Wolff verachtet den, wie er es sieht, lau-
warmen, linksliberalen Konsens der poli-
tisch-journalistischen Elite in New York
und Washington. Er hat sich mit Kolumnen
eine Nische geschaffen, die polemisch bis
giftig sind und manchmal gegen Kollegen
gehen. Für vorsichtiges Abwägen ist er da-
gegen so wenig bekannt wie dafür, Diskre-
tion zu wahren. Damit bricht er die Regeln
des Geschäfts. Die Hauptstadtjournalisten
in Washington verachten ihn dafür.
So dauerte es nicht lange, bis sich die
Journalisten auf sein Buch stürzten und
Fehler fanden. Doch insgesamt sind sich
die meisten Kollegen einig, dass Wolffs Be-
schreibungen aus dem Inneren des Weißen
Hauses im Großen und Ganzen zutreffen.
Wolff liebt Gossip, diese Geschichten
über Gewinner und Verlierer. So kam er
schon an Rupert Murdoch heran, den me-
dienscheuen Medienmogul, über den er
2008 ein kritisches Buch schrieb. Murdoch
öffnete Wolff sämtliche Türen, am Ende
bekam dieser sogar ein Gespräch mit der
Mutter. Offenbar dachte der Unternehmer,
er könne den Reporter kontrollieren. Als
das Buch erschien, war Murdoch wütend,
er hasst Wolff bis heute abgrundtief.
Diese Episode ist deshalb aufschlussreich,
weil sie Parallelen zu Trump aufweist. Auch
hier dachte ein Milliardär, ein Journalist sei
ihm geneigt, er gewährte Wolff Zugang zum
Weißen Haus, wo dieser wochenlang auf
einem Besuchersofa herumsaß und Klatsch
und Tratsch aufsog. Keiner fragte ihn, was
er dort mache, alle gingen irgendwie davon
aus, dass seine Anwesenheit im Sinne des
Präsidenten sei. Der wiederum hatte Wolff
vermutlich längst vergessen.
Enthüllungsbücher aus dem Inneren der
Macht sind nicht ungewöhnlich. Bob
Woodward von der „Washington Post“,
der den Watergate-Skandal mit aufdeckte,
füllte mit Indiskretionen aus dem West
Wing viele Bücher. Jeder Präsident litt un-
ter dem Mitteilungsdrang von Vertrauten
und Angestellten. Paul O’Neill, Finanz-
minister unter George W. Bush, nannte
seinen früheren Chef in einem Buch „einen
Blinden in einem Raum voller Schwer-
höriger“. Bill Clintons früherer Berater
George Stephanopoulos zeichnete das we-
14 DER SPIEGEL 3 / 2018
nig schmeichelhafte Bild eines Präsidenten schlossenen Türen statt, Trump aber lud
im Strudel außerehelicher Affären. Und die Presse dazu. Es entstand die bizarre Si-
der frühere CIA-Direktor Leon Panetta be- tuation, dass die Senatoren vor laufenden
schrieb Barack Obama als übervorsichti- Kameras diskutierten, während Trump mit
gen, wankelmütigen Mann. verschränkten Armen dasaß und versuchte,
Kein Präsident schätzt es, wenn Berater den überparteilichen Präsidenten zu geben.
plaudern. Aber keiner hat auf Enthüllun- Am gleichen Tag kündigte er an, zum
gen so dünnhäutig und dramatisch reagiert Weltwirtschaftsforum nach Davos zu reisen,
wie Trump. Nach der Veröffentlichung von zum Treffpunkt der globalen Geld- und
Wolffs Buch kündigte er an, sich die Ver- Politikelite – für Leute wie Stephen Bannon
leumdungsgesetze „genau anzusehen“. die Wurzel allen Übels. Und am Mittwoch
Am liebsten würde er wohl seine Kritiker schien es plötzlich so, als würde Trump sich
vor Gericht zerren und ihre Veröffentlichun- den Ausstieg aus dem Pariser Klima-Ab-
gen verbieten – so wie das seine Freunde kommen doch noch überlegen. Dann, am
in Ankara und Moskau tun. Donnerstag, schien er kurzzeitig per Twit-
Trump denkt wie ein Autokrat, weder ter-Botschaft die Macht der Geheimdienste
kennt noch schätzt er die Verfassung be- beschränken zu wollen, um es sich einen
sonders. Und doch, das ist das Erstaunliche, halben Tag später wieder anders zu überle-
hält die Republikanische Partei zu ihm. In- gen. Kurz darauf fragte er wiederum, wa-
folge von Wolffs Buch hat eine bizarre So- rum die USA so viele Einwanderer aus
lidarisierungswelle eingesetzt. „Scheißländern“ aufnehmen müssten.
Der Senator Lindsey Graham sagte noch Es ist in diesen Tagen schwer zu sagen,
im Sommer: „Trump ist ein rassisten- was Trump will und wer er sein möchte.
freundlicher, ausländerfeindlicher Fanati- Ein Hardliner? Ein Dealmaker, der über
ker.“ Inzwischen wurde Graham zum ein- dem Gezänk der Parteien steht? Oder doch
gefleischten Fan des Präsidenten. Und sein ein Softie, der von allen gemocht wird?
Er weiß es vermutlich selbst nicht.
Nur eines gilt als sicher: In dem Moment,
in dem der Präsident am verwundbarsten
Will Trump ein Hardliner erscheint, ist eine Amtsenthebung unwahr-
scheinlicher denn je.
sein? Ein überparteilicher Der mangelnde Wille der Republikaner,
Dealmaker? Oder ein Softie, sich von Trump zu distanzieren, hat auch
der von allen gemocht wird? damit zu tun, dass dieser zwar für das
Land und die Welt fatal sein mag, der Par-
tei aber einige Herzensanliegen erfüllt.
Trump hat eine Steuerreform unterstützt,
Kollege Bob Corker, der Trump noch vor die vorgeblich die Mittelklasse entlastet,
wenigen Monaten in einer Tirade die geis- aber ein Milliardengeschenk für Reiche und
tige Stabilität absprach, Regierungsgeschäf- Konzernchefs ist. Der US-Wirtschaft geht
te auszuüben, stieg am Montag lächelnd es blendend, der Dow Jones bricht immer
mit Trump in die Air Force One. neue Rekorde. Er hat Beamte ernannt, die
Die beiden flogen zu Farmern in Ten- fleißig Umwelt- und Klimaschutz abschaf-
nessee, es war der Versuch von Trump, die fen, was die Republikaner als Abschütteln
Oberhand zu gewinnen, indem er neue unnötiger Regeln feiern – und was ihnen
Nachrichten produzierte. Wie immer stell- reiche Spender zutreibt. Da ist es unwich-
te er sich dabei nicht sonderlich geschickt tig, dass die Zustimmungswerte für den
an, er rief den Bauern zu: „Ihr hattet wirk- Präsidenten konstant niedrig sind.
lich Glück, dass ich euch das Privileg ge- Wenn die Republikaner Trump jetzt
geben habe, mich zu wählen.“ stürzten, wären die Zwischenwahlen im
In Washington sendet Trump in diesen November wohl verloren. Sie würden kei-
Tagen widersprüchliche Botschaften aus. nes ihrer wichtigen Projekte mehr durch-
Einerseits plädiert er für die Mauer an der setzen können, und auch die Präsident-
Grenze zu Mexiko und will 200 000 Ein- schaftswahl 2020 stünde auf der Kippe.
wanderer aus El Salvador abschieben. An- Den 25. Verfassungszusatz wird die Partei
dererseits sagt er, er sei offen für Kompro- daher nicht auslösen. Um den Präsidenten
misse, etwa bei den „Dreamers“, die als damit aus dem Amt zu kippen, brauchte
Kinder illegal in die USA kamen. es ohnehin die Zustimmung der Mehrheit
Am Dienstag lud er dann Demokraten seines Kabinetts oder ein Votum des Kon-
und Republikaner ins Weiße Haus ein, um gresses, wonach es nicht aussieht.
über das Thema zu verhandeln. Normaler- Nicht mal die Opposition scheint solche
weise finden solche Runden hinter ver- Hoffnungen zu haben. Während die Me-
dien tagelang über Wolffs Buch und
Video: Trumps Ausbrüche diskutierten, blieben
Trump vs. Reality die Demokraten seltsam zurückhaltend.
spiegel.de/sp032018trump Obamas früherer außenpolitischer Be-
oder in der App DER SPIEGEL rater Dan Restrepo meint, das sei die rich-

Familie Kushner-Trump mit Beratern Bannon, Priebus im Februar 2017: „Das ist eine harte Stadt, Baby“
tige Art und Weise, mit einem Populisten
umzugehen. „Die Demokraten konzentrie-
ren sich auf die Dinge, die die Menschen
im Land bewegen“, sagt er am Telefon.
„Sie machen das tägliche Trump-Theater
in Washington nicht mit, das ist strategisch
und taktisch die beste Lösung.“ Dass
Trump kein normaler Präsident sei, wisse
das Land ohnehin seit einem Jahr.
Es ist dennoch nicht ausgeschlossen,
dass Trump gehen muss. Der Sonder-
ermittler und Ex-FBI-Chef Robert Mueller
will den Präsidenten bald verhören, wo-
gegen sich Trump vehement zur Wehr
setzt. Bei Muellers Ermittlungen geht es
in erster Linie um die Frage, ob Trump
oder seine Mitarbeiter sich der Zusammen-
arbeit mit der russischen Regierung schul-
dig gemacht haben. Doch selbst wenn sich
das nicht bestätigt, könnten die Ermittlun-
gen dem Präsidenten gefährlich werden.
So lautet ein Verdacht, dass Trump ver-
sucht hat, voriges Jahr aktiv in die Russ-
land-Ermittlungen einzugreifen. Der Vor-
wurf der Justizbehinderung steht im
Raum – eine entsprechende Anklage, soll-
te es denn so weit kommen, würde Trump
wohl politisch nicht überleben. Eine der
Grundlagen dafür ist ein Fernsehinterview
Trumps aus dem vergangenen Mai, in dem
er unumwunden zugab, den damaligen
FBI-Chef James Comey wegen der Russ-
land-Affäre gefeuert zu haben. Obwohl er
zunächst behauptet hatte, Comey lediglich
aufgrund eines Ratschlags des Justizminis-
teriums entlassen zu haben.
Außerdem beschäftigt sich Mueller mit
möglichen Geldwäschegeschäften von
Trump und dessen Familie.
So warb Trumps Sohn vor zehn Jahren
um Investoren aus Russland, um Projekte
zu finanzieren. Tatsächlich strömte Geld her-
bei, nicht immer aus guten Quellen. Außer-
dem verkaufte Trump 2008 für knapp hundert
Millionen Dollar eine Villa in Palm Beach
an den russischen Oligarchen Dmitrij Rybo-
lowlew, der Präsident Wladimir Putin nahe-
steht und damals eine der größten Kali-Fir-
men des Landes besaß. Rybolowlews Name
tauchte auch im Zusammenhang mit Off-
shore-Konten in den „Panama Papers“ auf.
Mueller hat ein Team von Geldwäsche-
experten zusammengestellt, um herauszufin-
den, ob sich Trump mit seinen Verbindungen
nach Russland erpressbar gemacht hat. Auch
die Deutsche Bank, zu deren Kunden Trump
und dessen Schwiegersohn Jared Kushner
zählen, steht im Visier der Ermittlungen.
Titel
ANDREW HARNIK / AP
Das Herumwühlen in den Geschäften
der Familie könnte dem Image des Prä-
sidenten schaden und damit auch der
Marke „Trump“. Denn sein Unternehmen
lebt im Wesentlichen davon, Immobilien,
Parfum und Kleidung mit Trump-Etikett
zu verkaufen. Mueller könnte daher ge-
schäftsschädigend sein – und nichts in-
teressiert Trump mehr als Geld. So könn-
te ihm die Lust an seinem Amt bald ver-
gehen.
Schon jetzt verbringt Trump mehr Zeit
als früher vor den drei Fernsehern in sei-
nem Schlafzimmer. Sein Arbeitstag be-
ginnt oft erst um elf Uhr vormittags, vor-
her stehe auf seinem privaten Termin-
kalender meist „Executive Time“, Zeit für
Geschäftliches. Tatsächlich verbringe er
die Stunden mit dem Konsum von Talk-
shows, am Telefon und mit Twitter,
schreibt die Nachrichtenseite „Axios“.
Die nächsten Monate werden kaum
Entspannung bringen, weitere Bücher sind
längst in Arbeit. Der frühere FBI-Chef
James Comey schreibt „A Higher Loyal-
ty“, es soll Anfang Mai erscheinen. Wa-
shington wartet gierig auf den nächsten
Skandal. Christoph Scheuermann
Twitter: @chrischeuermann
DER SPIEGEL 3 / 2018 15
 Er kennt nur Rache und Gewalt
Bücher In „Trump im Amt“ beschreibt David Cay Johnston den US-Präsidenten als Mann, der gern
Diktator wäre, der nichts weiß, nichts wissen will – und Amerika zerstört. Ein Vorabdruck.
D
onald Trump ist absolut ungeeignet
für jedes öffentliche Amt. Das be-
weist er laufend durch seine eige-
nen Worte und Taten. Dass er im Sinne
der Verfassung legitim gewählt wurde,
steht zwar außer Zweifel, nur sollte mitt-
lerweile klar sein, dass er eine eminent
reale Gefahr für die ganze Welt bedeutet.
Es fehlt Donald Trump an der psy-
chischen Stabilität, am Wissen, am kriti-
schen Denken und an der Urteilsfähigkeit,
die ein verantwortungsvoller Oberbefehls-
haber der amerikanischen Streitkräfte
braucht. Emotional ist er immer noch der
13-jährige Rabauke, der von seinem Vater
in eine Militärakademie verfrachtet wurde.
Dort ging es Trumps eigenen Berichten zu-
folge ziemlich brutal zu. Fast 60 Jahre lang
im Niemandsland zwischen Kindheit und
Erwachsenenalter festzustecken ist ein
schlimmes Schicksal. Es hat Trumps Per-
sönlichkeit verbogen und erklärt weitge-
hend seinen Narzissmus, seine unreife Ein-
stellung zu Frauen und seine Missachtung
anderer Menschen. Wie unrealistisch er sei-
ne eigenen intellektuellen Fähigkeiten ein-
schätzt, zeigt sich unter anderem darin, dass
er bei fehlenden Argumenten mit trium-
phierendem Blick „Ich bin eben ein smarter
Typ!“ in die Runde ruft.
Am schwersten jedoch wiegt Trumps fal-
scher Patriotismus.
Dass er in einem Loyalitätskonflikt
steckt und Moskau offenbar etwas schul-
det, zeigt sich an den vielen lobenden Wor-
ten, die er für Wladimir Putin findet, an
seinen langjährigen lukrativen Finanztrans-
aktionen mit Russland und an der Ernen-
nung Paul Manaforts zu seinem Wahl-
kampfleiter. Während diese Zeilen ge-
schrieben werden, ist noch nicht ganz klar,
ob Trump einfach ein Narr oder doch ein
gut informierter Agent des Kreml ist. Mit
Sicherheit kann man bisher nur von fol-
genden Fakten ausgehen: Trumps Wahl-
kampfmanager warben im Kreml eifrig um
Unterstützung für den Kampf gegen Hil-
lary Clinton; sie versuchten, diplomatische
Kanäle für die versteckte Kommunikation
mit Moskau zu nutzen, und Trump war
direkt in die Lügen und Vertuschungs-
aktionen dieser geheimen Zusammen-
arbeit mit einer ausländischen Macht ver-
wickelt, die der Aufrechterhaltung libera-
ler Werte nicht wohlgesinnt ist.
Wie unfein die politische Klinge ist, die
Trump führt, zeigt sich an seiner wieder-
holt vorgetragenen Forderung, Hillary
Clinton einzusperren. Und dass er sich auf
16 DER SPIEGEL 3 / 2018
Veranstaltungen – oder, wie im Fall des
FBI-Direktors James Comey, auch gern ein-
mal unter vier Augen – nicht scheut, offen
Loyalität einzufordern, zeugt nicht gerade
von diplomatischem Feingefühl.
Diese Worte und Verhaltensweisen pas-
sen zu einem Diktator, nicht zu einem
amerikanischen Präsidenten. Aber sie ent-
sprechen eben Trumps persönlicher Le-
bensphilosophie. Seine Lebensanschauung
beruht auf Rache und Gewalt. Das ist eine
absolut unchristliche Haltung, die aber
viele prominente Fernsehprediger nicht da-
von abhielt, den Wählern den „untadelig
christlichen Familienvater“ Trump als Prä-
sidenten ans Herz zu legen.
Etwa ein Drittel der Amerikaner hält
bis heute eisern zu Trump. Viele seiner
Dass Millionen Menschen
einen Trickbetrüger gewählt
haben, sagt mehr über
Amerika aus als über Trump.
Anhänger sind alt genug, um noch den
Kalten Krieg zumindest teilweise erlebt zu
haben, und doch erklären einige von ihnen
gegenüber Journalisten und in Umfragen,
sie würden ebenso wie Trump dem Re-
gime Putins mehr vertrauen als den ame-
rikanischen Geheimdiensten. Es ist eine
Ironie der Geschichte, dass republikani-
sche Politiker zu Zeiten des Kalten Krieges
jeden, der es wagte, solche Ansichten zu
äußern, als nützlichen Idioten, Mitläufer
und Verräter brandmarkten.
Dieser harte Kern an Unterstützern –
fast alle Republikaner – hindert die Mit-
glieder des Repräsentantenhauses und des
Senats daran, gegen Trump zu mobilisie-
ren. Das könnten sie nur, wenn sie den
Sieg in den nächsten Vorwahlen bereits in
der Tasche hätten. So erklärte John Dan-
forth, ehemaliger republikanischer Senator
aus Missouri, dass er Trump deshalb be-
sonders heftig kritisiere, weil die Republi-
kaner im Kongress dies gar nicht können.
Ihr Nichtstun mag zu einem Teil reine Feig-
heit sein, aber es zeigt auch das schlechte
Funktionieren der Checks and Balances,
der gegenseitigen Kontrolle und Überwa-
chung der Staatsorgane.
Vielleicht ist Trump Teil eines größeren,
globalen gesellschaftlichen Trends, eines
politischen Tsunamis, der sich aus Angst,
Ablehnung der modernen Welt und dem
nostalgischen Wunsch nährt, in eine ver-
sunkene Welt der Einfachheit und des Frie-
dens zurückzukehren, die es so nie gege-
ben hat. Dieser Trend manifestiert sich im
Aufstieg fundamentalistischer Christen,
Hindus, Juden und Muslime wie auch in
einer neuen Ära der Autokraten, von Wla-
dimir Putin über Recep Tayyip Erdoğan
in der Türkei oder Abdel Fattah el-Sisi in
Ägypten bis hin zu Nationalisten wie dem
indischen Premierminister Narendra Modi.
Aber wie Tsunamis lassen sich auch ge-
sellschaftliche Monsterwellen nicht durch
das Hochhalten von Protestschildern stop-
pen. Diese Wellen tun ihre verheerende
Wirkung, bis ihre zerstörerische Energie
verebbt. Man muss hoffen, dass die Zu-
kunft wieder bessere und nicht noch
schlechtere Führungspersönlichkeiten her-
vorbringen wird.
Dann sind da noch Trumps zahlreiche
Hirngespinste. Trump behauptet allen
Ernstes, die Dschihadisten, die Gründer
des „Islamischen Staates“, besser zu ken-
nen als die Generäle der amerikanischen
Streitkräfte. Er beteuert zu wissen, wie
man mit dem verarmten Nordkorea zu ver-
fahren habe, räumt aber ein, bis zu einer
langen telefonischen Geschichtslektion,
die ihm der chinesische Staatspräsident er-
teilte, nichts über die Entwicklung des Kon-
flikts zwischen dem chinesischen und dem
koreanischen Volk gewusst zu haben.
Trump bezeichnet sich auch als den best-
informierten Steuerexperten der Welt. All
das ist Quatsch, reiner Schwindel. Die Leu-
te sollten ihn dafür eigentlich auslachen,
anstatt ihn zu wählen.
Erstaunlich ist, wie viele Menschen die-
sem Unsinn auf den Leim gehen. Aber na-
türlich ist Verleugnung ein starkes mensch-
liches Bedürfnis, und diese Massenreaktion
ist verständlich, sind die Menschen doch
nach fast vier Jahrzehnten Bereicherungs-
politik durch wenige zulasten der vielen
abgestumpft. Trump ist es gelungen, die
Malaise, die nach über drei Jahrzehnten
wirtschaftlicher Stagnation im Großteil des
Landes herrscht, brillant für sich zu nutzen.
I
ch warne nun schon seit über 20 Jahren
davor, dass sich die Frustration, die Wa-
shington und die Bundesstaaten mit ih-
rer intransparenten Politik zugunsten der
Reichen auslösen, eines Tages in einer Ex-
plosion Luft verschaffen und der Demo-
kratie großen Schaden zufügen wird.
TOM BRENNER / THE NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF
Präsident Trump mit Reportern in Washington: „Einige der unehrlichsten menschlichen Wesen auf der Welt“
Trump spielt meisterhaft auf der Klaviatur
der Angst der wirtschaftlich Benachteilig-
ten, die von den Demokraten weitgehend
im Stich gelassen wurden.
Einen Monat nach Trumps Amtsantritt
schrieben 35 Psychiater einen offenen
Brief an die „New York Times“: „Die
Sprechweise und die Handlungen von
Herrn Trump zeigen seine Unfähigkeit, an-
dere Meinungen zu ertragen, er reagiert
darauf mit Wutausbrüchen. Seine Aus-
drucksweise und sein Verhalten deuten auf
eine grundsätzliche Empathielosigkeit hin.
Personen mit diesem Charakter verzerren
die Realität, um sie ihrem Seelenzustand
anzupassen, sie stellen Fakten ebenso in-
frage wie jene, die sie verbreiten (Journa-
listen, Wissenschaftler). In einflussreichen
Führungspositionen werden die Angriffe
dieser Menschen wahrscheinlich stärker
ausfallen, weil sie sich in ihrem großartigen
Selbstbild bestätigt fühlen. Wir glauben,
dass die gravierende emotionale Instabili-
tät, die sich aus Herrn Trumps Reden und
Handlungen ablesen lässt, ihn unfähig
macht, das Präsidentenamt angemessen
auszuüben.“
Einige Monate später schlug die Psychia-
terin Prudence L. Gourguechon, die frü-
here Präsidentin der American Psychoana-
lytic Association, vor, man möge doch das
Feldhandbuch der US-Army für die Ent-
wicklung von Führungskräften zurate zie-
hen, um Trumps Eignung für das Amt zu
beurteilen. Sie leitete aus dem 135 Seiten
starken Handbuch fünf entscheidende
Eigenschaften ab, die eine Führungskraft
benötigt: Vertrauen; Disziplin und Selbst-
kontrolle; Urteilsvermögen und kritisches
Denken; Selbstreflexion; Empathie. Do-
nald Trump besitzt keine dieser Eigen-
schaften.
Vertrauen. Seit Jahren erklärt Trump in
Vorträgen und in seinen von Ghostwritern
verfassten Büchern, man könne nieman-
dem und am wenigsten jenen Menschen
trauen, die einem am nächsten stehen.
Disziplin und Selbstbeherrschung. Laut
Feldhandbuch müssen Führungskräfte
auch unter Druck Haltung bewahren und
dürfen „auf schlechte Nachrichten oder wi-
dersprüchliche Informationen weder in-
stinktiv noch wütend reagieren“. Weiter
heißt es, sie dürften sich in „ihren Entschei-
Titel
dungen und Reaktionen in aufgeladenen
Situationen nicht von persönlichen Emo-
tionen leiten lassen“. Damit beschreibt das
Handbuch das Gegenteil der Persönlich-
keit von Donald Trump.
Urteilsvermögen. Die Behauptung Trumps,
keine Experten zu benötigen, weil die bes-
ten Berater ohnehin in seinem Kopf säßen,
lässt nicht gerade auf ein ungetrübtes Ur-
teilsvermögen schließen.
Kritisches Denken. Das Feldhandbuch
fordert weiter, eine Führungskraft müsse
sich an neue Fakten anpassen können. An-
statt aber anhand von alternativen und
komplexen Szenarien verschiedene Optio-
nen zu erwägen, wählt Trump lieber einen
starren, singulären Ansatz. „Wir haben
keine Wahl“ lautet seine Analyse stets, ob
es nun um das Einreiseverbot für Muslime,
den Bau seiner Mauer an der Grenze zu
Mexiko oder um die Abschaffung von
Obamacare geht.
Selbstreflexion. Weil Trump geradezu
zwanghaft lügt und so viele frei erfundene
Geschichten, eingebildete Ereignisse und
absurde Märchen erzählt, verheddert er sich
häufig in seinen eigenen Aussagen. Dass
DER SPIEGEL 3 / 2018 17
Titel
Oberbefehlshaber Trump in Mar-a-Lago: Stecken geblieben im Niemandsland zwischen Kindheit und Erwachsenenalter
sich Trump laufend selbst widerspricht,
ohne sich dafür zu schämen, ohne dies
zu bedauern oder überhaupt zuzugeben,
erscheint wie die Paradedefinition mangeln-
der Selbstreflexion.
Bereits am ersten Tag nach Trumps
Amtsantritt bekam das Publikum die volle
Dosis an Lügen ab, die später zur Realität
erklärt wurden. Das erste offizielle State-
ment – verlesen von Sean Spicer, dem
damaligen Pressesekretär des Weißen Hau-
ses – enthielt die kühne Behauptung,
Trump hätte „die größte Menschenmasse
angezogen, die je einer Amtseinführung
beigewohnt hat. Punkt. Vor Ort und rund
um den Globus“.
Wer wollte sich schon daran stören, dass
Fotos und Fahrgastdaten genau das Gegen-
teil aussagten?
Spicers Rede, zu der Trump ihn offen-
sichtlich als eine Art Loyalitätstest verdon-
nert hatte und die Spicer eigenen Aussagen
zufolge nach seinem Rücktritt bedauerte,
enthielt eine ganze Litanei an Aussagen,
die man getrost als „alternative Fakten“
bezeichnen kann. Alles, was dabei nicht
mit Trumps Version der Realität überein-
18 DER SPIEGEL 3 / 2018
stimmt, als Fake News zu bezeichnen ist
Teil der Strategie, Verwirrung zu stiften
und in einer Welt der Heuchler als der ein-
zig Ehrliche dazustehen.
So bestand Trump, nachdem er die US-
Geheimdienste ausführlich beleidigt hatte,
darauf, die Medien hätten seine herabwür-
digenden Bemerkungen schlicht erfunden.
Er bezeichnete die Journalisten deshalb
auch als „einige der unehrlichsten mensch-
lichen Wesen auf der Welt“.
Empathie. Trump flog nach dem Hurri-
kan Harvey zweimal nach Texas. Beim ers-
ten Mal prahlte er, wie groß die Menschen-
menge gewesen sei, die ihn in Corpus
Christi empfangen hätte, während die wei-
ßen Sportschuhe seiner Frau von keinem
Schlammspritzer besudelt waren. Bei sei-
nem zweiten Besuch wünschte er den Men-
schen in der Schlange vor einer Essensaus-
gabe „viel Spaß“. Auch für die Bevölke-
rung von Puerto Rico hatte Trump nach
dem Hurrikan Maria, der die Insel dem
Erdboden gleichgemacht hatte, nur Spott
und Hohn übrig und amüsierte sich da-
rüber, wie der Name der Insel von ihren
Bewohnern ausgesprochen wird.
WHITE HOUSE / ZUMA / DDP IMAGES
Wie man es auch dreht und wendet –
wäre Trump Armeeoffizier geworden, an-
statt sich mit einem ärztlich attestierten
Knochensporn im Fuß der Musterung zu
entziehen, hätte er nach dem Feldhand-
buch der US-Armee für Führungskräfte
den Aufstieg niemals geschafft.
Während des gesamten Wahlkampfs er-
klärte Trump, seine Präsidentschaft würde
zu einer dichten Abfolge von Siegen wer-
den. „Wir werden so viel gewinnen, dass
es Ihnen vielleicht zu viel werden wird.
Dann werden Sie sagen, bitte, bitte, wir
gewinnen und gewinnen, mehr schaffen
wir einfach nicht mehr.“
Nun, diese Prognose hat sich nicht be-
wahrheitet. Trotzdem weigern sich viele
seiner Unterstützer bis zum heutigen Tag
zuzugeben, dass sie hereingelegt wurden.
So groß ist die Verehrung für Trump, den
Star, dass man sich an griechische Sagen
erinnert fühlt, in denen aus der intimen
Verbindung mit einem Gott ein Halbgott
hervorgeht.
Seine extremsten Unterstützer, die Neo-
nazis, bezeichnen ihn in ihren Online-
publikationen als „Erlöser“. Und Trump
 IN DER SPIEGEL-APP

beansprucht diesen Titel für sich, twitterte der Politikwissenschaftler Jason Johnson.
er doch als Kandidat: „Nur ich kann das „Darin besteht wohl die größte Gefahr, die
Problem des radikalen islamischen Terro- von ihm ausgeht, und auch sein größter
rismus lösen.“ Als er die Nominierung zum Schaden für unser Land.“

THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL

Präsidentschaftskandidaten der Republi- Laut Johnson zeigen die „Federalist Pa-
kaner annahm, erklärte er: „Nur ich allein pers“ – die strukturierte Debatte über die
kann die Dinge wieder in Ordnung brin- Frage, ob Amerika die Verfassung anneh-
gen.“ Anstatt mit diesem autoritären An- men sollte oder nicht –, dass die Verfassungs-
spruch auf Entrüstung oder schallendes väter zwar Präsidenten im Auge hatten,
Gelächter zu stoßen, wurde er von seiner „die unehrlich sein können und denen es
Partei, die ihren eigenen Angaben zufolge an beständigen ethischen Werten fehlt,
für Verantwortung und maximale indivi- dass sie aber nie an einen um sich selbst
duelle Freiheit steht (zu der natürlich auch kreisenden diktatorischen Kapitalisten
das offene Tragen geladener militärischer dachten. Unsere Regierungsform ist unge-
Waffen zählt), mit enthusiastischem App- eignet, um jemanden, der sich nichts aus
laus begrüßt. Regeln macht, in seine Schranken zu wei-
sen“. Denn in Amerika „hängt alles vom

T
rumps Wahlerfolg und die blinde Un- moralischen Willen der bestehenden poli-
terstützung durch ein Drittel der er- tischen Parteien und des Kongresses ab,
wachsenen Bevölkerung des Landes und wir alle leiden darunter, ob wir das
zeigen ein deutlich schlimmeres Problem nun zugeben oder nicht“.
auf: Donald Trump ist nicht die politische Johnson glaubt, dass das Versagen des
Krankheit, die Amerika befallen hat, er Kongresses, gegen Trumps Profitgier, seine
ist ihr Symptom. Machenschaften mit dem Kreml und seine
Dass Millionen Menschen für einen nar- Kriegslüsternheit aufzutreten, Amerika
zisstischen, von Faktenwissen unbeleckten noch lange nach dem Ende dieser Admi-

ERICH SCHUTT / DPA

nistration schaden wird. „Für die nächsten
vielleicht 35 Jahre ist der Standard dessen,
womit man davonkommt, wenn man nur
Trump nutzt sein Amt, die Macht hat, so tief gesunken, wie wir
uns das meiner Meinung nach heute noch
um sich zu bereichern und gar nicht vorstellen können“, sagt er.
all jene zu verleumden, Freiheitliche Verfassungen sollen den
menschlichen Geist freier machen, damit
die ihm widersprechen. die Staatsbürger und ihre Nachkommen
bessere Menschen werden können, als sie
es heute sind. Freiheit bedeutet Wahlfrei-
Trickbetrüger gestimmt haben, der sein heit, aber sie bedeutet auch, mit den Folgen
Verblühte
Leben lang andere beschwindelt und Men- der selbst getroffenen Wahl zu leben. Wenn
schen aus seiner Umgebung wiederholt zu wir uns entscheiden, die Unehrlichen, Landschaften
kriminellen Handlungen und Gewalt ge- schlecht Vorbereiteten, Herzlosen und emo- Warum sind so viele Menschen in
gen seine Kritiker genötigt hat, sagt mehr tional Unreifen an die Macht zu befördern, Ostdeutschland unzufrieden? Warum
über Amerika aus als über Trump. werden wir für einen solchen Umgang mit
Was die USA seit Watergate erleben, ist unserer Wahlfreiheit teuer bezahlen. haben besonders viele von ihnen die
ein immer breiter werdender Graben zwi- Trumps Präsidentschaft ist eine Heraus- AfD gewählt? Was hat das mit ihrem
schen den Anreizen, die die Kandidaten forderung für Amerika und die Welt. Für Leben in der DDR zu tun? Und wie könn-
in öffentlichen Ämtern sehen, und den In- welche Zukunft werden wir uns entschei- te eine neue Ostidentität Perspektiven
teressen der amerikanischen Bevölkerung. den? Wollen wir Amerika in dieser und in bieten? Der Fotograf Thomas Grabka
Diese politische Spaltung hat Trump er- zukünftigen Administrationen zu einer ist in der DDR aufgewachsen. Für den
kannt und nutzt sie brillant. Jetzt verwen- Autokratie umbauen? Welche Zeichen sen- SPIEGEL ist er mit seiner Kamera durch
det er sein Präsidentschaftsamt, um sich den wir damit an unsere Partner und um den Osten der Republik gefahren und
persönlich zu bereichern und all jene zu den Globus? Oder entscheiden wir uns
verleumden, die ihm widersprechen – ganz doch für eine Zukunft, die den mensch- traf Menschen, die von Nostalgie
wie es Diktatoren oder Möchtegern-Dik- lichen Geist freier macht? erzählen, von Wut – und von Hoffnung.
tatoren zu tun pflegen.
Die Verfassung der USA besagt, dass David Cay Johnston, gebo- Sehen Sie die Visual Story im
das amerikanische Volk sein politisches ren 1948, ist einer der re- digitalen SPIEGEL, oder scannen Sie
Geschick bestimmt. Wenn wir beschließen, nommiertesten US-Inves- den QR-Code.
uns unserer Verantwortung als Bürger zu tigativjournalisten; er be-
entziehen und sie den Machtbesessenen richtet seit Jahrzehnten
BONK JOHNSTON

zu übertragen, so steht uns das frei. De- über Donald Trump. Zuletzt
mokratien sterben nicht in einem drama- erschien von ihm 2016
tischen Akt. der Bestseller „Die Akte
Sie werden abgetragen wie Sand. Trump“. Sein neuestes
„Unsere Verfassung wurde nicht ge- Buch, „Trump im Amt“, erscheint am 16. Ja-
schrieben, um für den Umgang mit Leuten nuar in Deutschland. Ecowin; 440 Seiten;
wie Trump gerüstet zu sein“, erklärte mir 25 Euro. JE TZ T D I GI TA L L E S E N

DER SPIEGEL 3 / 2018 19

 Politik des Narzissmus
Intellektuelle Die Demokraten wüssten nicht, wie ein modernes Amerika aussehen könnte,
schreibt der Historiker Mark Lilla. Deswegen fänden sie kein Rezept gegen Trump.

A
m Tag fünf nach Veröffentlichung Aus seinem Zeitungskommentar, den er der Identitätspolitik ist geleitet von der
des bösen Buchs über das dysfunk- an zwei Nachmittagen heruntergeschrie- Annahme, dass jeder nur aus seiner eige-
tionale Weiße Haus steigt Mark ben hatte, machte er dann ein schmales, nen Perspektive sprechen kann. Im Sinne
Lilla in einen Zug Richtung Washington. polemisches Buch, das im August erschien von Identitätspolitik würde der Autor die-
Er soll dort bei einer Podiumsdiskussion und ihm relativ viel Ärger einbrachte. Es ses Textes als ein mittelalter, heterosexu-
der Hoover Institution, eines Thinktanks, heißt „The Once and Future Liberal. After eller weißer Mann beschrieben werden,
mal wieder erklären, warum die Katastro- Identity Politics“, wobei die amerikanische der als aus Westeuropa stammender Kor-
phe Trump auch die Katastrophe der De- Bezeichnung „Liberal“ hier etwas anderes respondent des SPIEGEL mit relativ viel
mokraten ist. meint als den deutschen FDP-Liberalen. Einfluss, Bildung, Ansehen und ökonomi-
Die Demokraten haben es ja nicht nur „Liberal“ im Amerikanischen ist ein häufig scher Kraft ausgestattet ist und deswegen
nicht geschafft, eine Partei, die mit einem von rechts gebrauchter, oft abschätziger die Sorgen, Verletzungen und Sensibilitä-
Clown als Kandidaten angetreten ist, zu Begriff für Linksliberale, etwa vergleichbar ten einer, sagen wir, lesbischen, illegal aus
stoppen. Ihnen ist es nach einem Jahr mit der altbundesrepublikanischen Be- Ecuador eingewanderten jungen Frau nie-
Trump ebenso wenig gelungen, eine wir- zeichnung „Sozi“. mals verstehen könnte. Er hat deswegen
kungsvolle Opposition gegen den Präsi- Wir, die einst stolzen und fortschritt- ihre Sorgen ernst zu nehmen und ansons-
denten zu organisieren. Man hofft irgend- lichen Liberals, so klagt Lilla in dem Buch, ten zu schweigen. Das killt natürlich jeden
wie auf Robert Mueller, den Russland-Son- sind zu Verlierern geworden, weil wir kei- Austausch. Ein Gespräch jedoch wäre eine
derermittler; man hofft auf Gloria Allred, ne für eine Mehrheit begreifliche Vorstel- wichtige Voraussetzung, um Wähler und
die Frauenanwältin, die den Präsidenten somit wieder Wahlen zu gewinnen.
wegen sexueller Belästigung vor Gericht Doch die Liberals haben in der letzten
bringen will; man hofft auf die Ultrarech- Zeit nicht besonders viel gewonnen. In
ten der Alt-Right-Bewegung, dass sie den Vielen Wählern ist nicht den acht Jahren, in denen Barack Obama
Trumpismus vielleicht doch noch zum Im- Präsident war, hat die Demokratische Par-
plodieren bringen. Nur ist das alles kein zu vermitteln, warum Trans- tei rund tausend Ämter verloren, vor allem
politisches Programm. sexuelle auf die Toilette bei Wahlen auf regionaler Ebene, wo der
Nun schien sich vergangene Woche aus Kontakt zwischen Wählern und Regieren-
dem Nichts wieder die Chance zu ergeben,
ihrer Wahl gehen sollten. den weniger abstrakt ist. Donald Trump
einen Zufallstreffer zu landen. Allerdings ist heute auch deswegen Präsident, weil
erinnerten die Demokraten dabei an eine es Millionen Wählern in den ländlicheren
Fußballmannschaft, denen der Ball durch lung mehr davon haben, wie das Land, in Regionen von Ohio, West Virginia oder
einen Querschläger vor das Tor des Geg- dem wir gemeinsam leben, eigentlich aus- Michigan nicht zu vermitteln war, warum
ners rollt, bevor dann alle verstolpern. sehen soll. Politik bedeutet für uns nicht es wichtig ist, dass transsexuelle Menschen
„Fire and Fury“, der Enthüllungsbestseller mehr den Versuch, eine Gemeinschaft zu auf die öffentliche Toilette des Geschlechts
des „Vanity Fair“-Journalisten Michael schaffen, die möglichst viele einschließt. ihrer Wahl gehen dürfen (und es ist wich-
Wolff beschrieb die Zustände in Trumps Stattdessen fallen wir auf unsere eigenen tig), wenn zur selben Zeit in manchen Ge-
Weißem Haus als derartig chaotisch, dass Befindlichkeiten zurück, vollziehen den genden West Virginias nur jeder Zweite
diesmal der Präsident wirklich erledigt Rückzug in gesellschaftliche Nischen. Arbeit hat und jeder Vierte abhängig von
schien. Wir blicken nicht nach außen, wir bli- Opioiden ist.
Mark Lilla winkt ab. Er hat das Buch cken nur auf uns selbst. Identity Politics und ihr bekanntestes
gar nicht erst gelesen. „Meinetwegen soll Wir sprechen nicht von anderen, son- Produkt, die ohnehin viel verspottete Poli-
es für sich arbeiten. Die Demokraten aber dern von uns. Wir behaupten, solange wir tical Correctness, sind in dieser Verkür-
sollten sich darauf konzentrieren, Wahlen nicht selbst Afroamerikaner seien, könn- zung ein einfaches Ziel, auf das jeder Trai-
zu gewinnen.“ ten wir ohnehin nicht nachvollziehen, was lerpark-Bewohner und Trump-Wähler in
Mark Lilla ist Professor für Ideenge- es bedeute, als schwarzer Autofahrer von Alabama inzwischen genüsslich draufhaut.
schichte in New York an der Columbia der Polizei gestoppt zu werden, also reden Stephen Bannon, Trumps ehemaliger
University, und seit er kurz nach der wir lieber von unseren eigenen Gefühlen. Chefstratege, ein Ultranationalist, hat vor
Trump-Wahl in der „New York Times“ in „Politik des Narzissmus“ nennt Lilla das. Kurzem, bevor seine Zitate über Trump
einem beißenden Gastkommentar die Mit- Die Linken stehen „ihrer Aufgabe, auf Mit- und dessen Familie ihm zum Verhängnis
schuld der amerikanischen „Liberals“, zu bürger jeder Gesellschaftsschicht zuzuge- wurden, in der ihm eigenen Offenheit zu
denen er sich selbst zählt, an dem Wahl- hen, indifferent gegenüber“. einem Interviewer gesagt: Solange die De-
desaster analysiert hat und damit der Die Politologie kennt einen Begriff für mokraten über Identity Politics sprächen,
Zeitung den meistgelesenen politischen diese Herangehensweise an Politik, in den habe er die unter Kontrolle. „Die sollen
Gastbeitrag des Jahres lieferte, ist Lilla so USA ist er inzwischen zu einem Kampf- ruhig jeden Tag von Rassismus reden. So-
etwas wie der Prophet der amerikanischen begriff geworden: Identity Politics. Politi- lange die Linke mit Rasse und Identität
Linken. Einer von ihnen, aber doch nicht sche Mobilisierung nicht durch eine Partei, ankommt und wir gleichzeitig mit ökono-
Teil des Politikbetriebs, sondern in der eine Ideologie oder wirtschaftliche Interes- mischen Nationalismus antreten, können
wissenschaftlichen Beobachterposition, sen, sondern durch Merkmale der eigenen wir die Demokraten zerquetschen.“
was eigene Probleme mit sich bringt. Dazu Identität wie Hautfarbe, Geschlecht oder Mark Lilla würde Bannon in dieser Be-
später. Sexualität. Die Weltsicht von Vertretern standsaufnahme zustimmen. Die Liberals
20 DER SPIEGEL 3 / 2018
JOSHUA LOTT / REUTERS
Protest der Black-Lives-Matter-Bewegung: „Weniger Demonstranten bitte, mehr Bürgermeister“
seien von einer moralisch begründeten
Panik ergriffen, bezüglich Hautfarbe, Ge-
schlecht oder Sexualität betreffender Iden-
tität; die Demokratische Partei sei nur noch
ein lockerer Zusammenschluss aus den ge-
bildeten Eliten der Küstenmetropolen und
aller Art von Minderheiten. Das verhinde-
re, dass der amerikanische Linksliberalis-
mus eine „vereinigte Kraft“ werden könne.
Ein paar Wochen vor der Aufregung um
Michael Wolffs Buch, hat Mark Lilla den
Vormittag über mit seinen Studenten an
der Columbia University über Alexis de
Tocqueville gesprochen, den französischen
Politologen. Tocqueville, erklärte Lilla, sei
in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhun-
derts in die USA gereist, eigentlich mit
dem Auftrag, dort das Strafvollzugssystem
zu studieren. Doch er kam wieder mit
einer Analyse „Über die Demokratie in
Amerika“, die heute als sein Hauptwerk
gilt. Darin hatte Tocqueville, trotz aller Be-
geisterung für die Demokratie, auch auf
ihre Gefahren hingewiesen und vor einer
„Tyrannei der Mehrheit“ gewarnt.
„Ich hatte Tocqueville seit 20 Jahren
nicht mehr aufgeschlagen“, sagte Lilla auf
dem Weg in sein Büro, Kent Hall, sechster
Stock, Blick über den Campus.
Wer hier oben sitzt, dem ist es gelungen,
sich ein komfortables Leben einzurichten.
Lilla sprach mit warmer, angenehmer Stim-
me und sagte, dass seit Trump nicht nur
er, sondern auch andere amerikanische In-
tellektuelle wieder Rat bei Tocqueville
suchten und seinen fast 200 Jahre alten
Schriften. Lilla hat einem Kapitel in sei-
nem neuen Buch ein Zitat vorangestellt,
in dem Tocqueville von dieser Tyrannei
der Mehrheit spricht, in der die Menschen
einander gleichen und sich jeder nur noch
um sich selbst dreht.
Die Tyrannei einer Mehrheit erscheint
plötzlich real in den USA; eine Mehrheit
aus dem amerikanischen Hinterland, den
sogenannten Rust-Belt-Staaten, wo die In-
dustrieanlangen verrotten, richtet mit ih-
rem Anführer Donald Trump das Land zu-
grunde – so empfindet es der linksliberale
Mainstream hier in New York. Deplorables,
Erbärmliche, hatte Hillary Clinton die
Menschen genannt, inzwischen bezeich-
nen sie sich gleichermaßen stolz und hass-
erfüllt selbst so. Dass in irgendeinem Best-
seller eines Journalisten aus New York
steht, alle im Weißen Haus hielten Donald
Trump für minderbemittelt, würden sie nie
ernst nehmen.
Titel
Ihr Hass gilt allem, was sie auch in Lillas
Uni, der Columbia University, sehen: einer
linksliberalen Ostküsteninstitution, Hei-
mat einer abgehobenen Elite aus reich ge-
wordenen Post-68er-Professoren und sen-
siblen, verwöhnten Studenten. Über den
Nachrichtensender Fox News, das Mega-
fon der Deplorables, haben auch die Leute
in Ohio oder Alabama mitbekommen, dass
es an der Columbia University Studenten
wie Emma Sulkowicz gibt, die monatelang
mit einer Matratze über den Campus lau-
fen, um so gegen eine angebliche Verge-
waltigung durch einen Kommilitonen zu
demonstrieren, die aber, zumindest laut
den Ermittlungen der Universität offenbar
gar nicht stattgefunden hatte.
Mark Lilla hat einen Großteil seines
Berufslebens in einem solchen Milieu ver-
bracht, an der Columbia University, in
Yale, bei Forschungssemestern in Paris
oder Berlin. Er ist 61 Jahre alt, trägt teure
Jeans, ein aufgeknöpftes weißes Hemd,
darüber ein eng geschnittenes marineblau-
es Sakko, die Haare länger, eine amerika-
nisierte Version des Franzosen Bernard-
Henri Lévy.
Inzwischen, ein gutes Jahr nach dem
Schock der Trump-Wahl, ist Lillas Fehler-
DER SPIEGEL 3 / 2018 21
 Titel
DREW ANGERER / GETTY IMAGES
Wahlverliererin Clinton, Historiker Lilla: Keine Idee, warum sie Präsidentin werden wollte
analyse zum gängigsten Erklärungsansatz
liberaler Fernsehkommentatoren gewor-
den. Wenn man als linksliberales Establish-
ment aufhöre, die weiße Unterschicht zu
verachten, sie nicht mehr als Rednecks
oder Deplorables beschimpfe und ein biss-
chen weniger über die LGBTQ-Communi-
ty (Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transgen-
der und Queer) redete, würden vielleicht
die Menschen jenseits der liberalen Küs-
tenstädte wieder zuhören.
Nur was sollte man den Leuten erzäh-
len? Die Kandidatin Hillary Clinton konn-
te anderthalb Jahre lang, bis zum Wahltag,
den Wählern nicht erklären, warum sie
Präsidentin werden wollte und was für ein
Amerika ihr vorschwebte. Hier berühren
sich die Probleme der amerikanischen Li-
berals mit denen der europäischen Sozial-
demokratie, die, wenn auch auf andere
Weise, ebenso wenig weiß, wie sie die The-
men Einwanderung, Gerechtigkeit, Europa
und Fortschritt zu einer stimmigen Ge-
schichte zusammenfügen könnte.
Mark Lilla nennt in seinem Buch zwei
Momente in der neueren amerikanischen
Historie, in denen ein politisches Lager
eine solche schlüssige Geschichte formu-
lieren konnte. Er spricht von zwei „Dis-
22 DER SPIEGEL 3 / 2018
pensationen“, zwei Zeitaltern oder – im
theologischen Zusammenhang – auch zwei
Glaubenssystemen. Die erste dieser Peri-
oden nennt Lilla die „Roosevelt Dispensa-
tion“, sie begann mit der Zeit des New
Deal in den Dreißigerjahren, hielt bis zur
Bürgerrechtsbewegung in den Sechzigern
und verkümmerte in den Siebzigern; da-
rauf folgte die „Reagan Dispensation“, von
Anfang der Achtzigerjahre bis zu Trump.
Jede dieser Dispensationen brachte ein „in-
spirierendes Bild von Amerikas Bestim-
mung und einen klaren Katechismus, der
die politische Debatte regulierte“ mit sich.
Die erste Dispensation erzählte die Ge-
schichte von dem gemeinsamen Projekt
namens Amerika mit seinem Höhepunkt
in den Fünfzigerjahren, einer Nation aus
Bürgern, die sich gegenseitig beschützten
und gemeinsam jede Einschränkung ihrer
Grundrechte verteidigten. „Die Signalwör-
ter lauteten Solidarität, Aufstiegschance
und Bürgerpflicht“, schreibt Lilla.
In dem Bild der Reagan-Dispensation
hingegen löst Individualismus den Kollek-
tivgedanken ab, jeder einzelne, jede Firma,
jede Familie sollte sich auf die Suche nach
ökonomischem Glück begeben, die Fesseln
eines regulierenden Staates wurden wei-
BEN SKLAR / DER SPIEGEL
testmöglich abgestreift. Die Signalwörter
hier lauteten „Eigenverantwortlichkeit und
ein minimaler Staat“.
Lilla wählt das sperrige Wort Dispensa-
tion mit seinen theologischen Konnotatio-
nen, weil sich die Merkmale dieser Erzäh-
lungen eher erfühlen als tatsächlich fak-
tisch hart machen lassen.
Es sind Romantizismen. Doch sie helfen
dabei, Politik zu machen, indem sie Wäh-
lern die Welt erklären.
Es ist die Psychologie eines Zeitab-
schnitts, die durch ein Bild oder eine Er-
zählung geprägt wird. Die Roosevelt-Dis-
pensation war eine der Demokraten, die
der Reagan-Zeit eine der Republikaner,
eine Vision kam von links, die andere von
rechts, doch das jeweils andere politische
Lager konnte sie mitleben.
Der Reagan-Dispensation hatte die Lin-
ke nie etwas entgegenzusetzen, und nun,
da sie ausgelaufen ist und ein neues Bild
von Amerika gesucht wird, haben sie erst
recht nichts anzubieten. Außer eben Iden-
tity Politics, doch die bewegen sich jenseits
des politischen Apparats. Sie sind nicht
Politik, sondern eine Bewegung. Wer aber
die Verhältnisse auch im Sinne der Min-
derheiten ändern will, muss nicht Demons-
trationen, sondern politische Mehrheiten schöpflichen finanziellen Ressourcen aus- diese Stadt überhaupt am Laufen halten,
organisieren. Der muss in die Landes- und gestattete geölte Wahlkampfmaschine, werden nicht abgeschoben. Lilla schaute
Bezirksparlamente gewählt werden, er ahnte man von alldem nichts. sich um und sagte: „Wir sind nicht mehr
muss Bürgermeister oder Sheriff werden Während sich das liberale Establish- die, die wir mal waren. Ehepaare lassen
oder zum Richter ernannt werden. „We ment nun selbst kasteit, zugunsten des sich scheiden, Kinder sind Einzelkinder,
need no more marchers“, schreibt Lilla, afroamerikanischen Großstadtschwulen die Hälfte unserer Existenz findet im In-
„we need more mayors.“ Weniger Demons- den ungebildeten weißen Hillbilly aus ternet statt, wir haben uns als Gemein-
tranten bitte, mehr Bürgermeister. Ohio vernachlässigt zu haben, kann der schaft atomisiert. Unsere beiden Parteien
Die Rechte tut derweil genau das. Der afroamerikanische Essayist Ta-Nehisi sind ein Vermächtnis einer Gesellschaft,
reaktionäre Flügel der Republikaner be- Coates sie beruhigen: Es sei nicht schuld die es nicht mehr gibt.“
sitzt nicht nur eine klare Vorstellung, wie der Demokraten, die Gründe für Trumps Die teils heftige Kritik an seiner Analyse
das neue Post-Obama-Amerika aussehen Wahl seien viel schwerwiegender. Neben habe ihn getroffen. Mit David Remnick,
soll (nämlich wie das alte, das vor der Lilla hat Coates den anderen heftig disku- dem Chefredakteur des „New Yorker“,
Bürgerrechtsbewegung), sondern versucht tierten Essay der letzten Zeit geliefert. Zentralorgan der Linksintellektuellen, ist
auch, auf allen Ebenen die Posten mit Coates ist bekannt für seine offenen Ras- er aneinandergeraten über die Rolle von
Trumpisten zu besetzen. 58 neue Bundes- sismusanalysen und ist seit seinem Buch Black Lives Matter, jener Protestbewegung
richter hat Trump allein bis November ver- „Zwischen mir und der Welt“ einer der afroamerikanischer Millennials gegen
gangenen Jahres ernannt, mehr als jeder Stars unter den Linksintellektuellen. In sei- Polizeigewalt, die Lilla ein „Schulbuchbei-
seiner Vorgänger. Trump baut damit das nem Essay „The First White President“ ver- spiel“ genannt hatte, dafür, „wie man eben
juristische Rückgrat des Landes im Sinne wirft Coates Lillas Bezichtigungen. Sie sei- keine Solidarität schafft“. In der „New
einer reaktionären Restauration um. en nur eine weitere Schutzbehauptung, York Times“ nannte eine Kollegin Lillas
Wie minutiös die Trump-Leute dabei damit Amerika nicht gezwungen sei, sich aus Yale sein Buch schlichtes „Trolling ge-
seit Jahren einem Masterplan folgen, hat mit einer deutlich schmerzhafteren Wahr- tarnt als Gelehrsamkeit“.
der Bloomberg-Reporter Joshua Green in heit und der wahren Realität der Trump- Natürlich ist Lillas Kritik auch die eines
seinem Buch „Devil’s Bargain“ beschrie- Wahl auseinanderzusetzen: dass Trump Professors, der kurz vor der Emeritierung
ben. Darin findet sich alles, was Mark Lilla von vorwiegend Weißen aus rein rassisti- steht, an einer neuen Generation Studen-
bei den Demokraten vermisst: eine Vision, ten. Identity Politics wird vor allem von
die mit Entschlossenheit umgesetzt wird. Millennial-Studenten an den privilegier-
Im Falle der Trumpisten ist dies die eines testen Universitäten des Landes betrieben:
restaurativen, von seinen bindenden Insti- Die Reaktion der Arbeiter- In Berkeley bei San Francisco, in Oberlin
tutionen befreiten Amerikas, das sich
politisch, militärisch und ökonomisch nach klasse basiere in Wahrheit in Ohio, Northwestern bei Chicago, überall
trifft man auf den gleichen Typus desillu-
außen abschottet, wo sich jeder mit seinen auf der Sehnsucht sionierten linksliberalen Babyboomer-Pro-
eigenen Waffen selbst verteidigt, das Chris- fessor, der von seinen Millennial-Studen-
tentum die dominierende Religion ist. Die
nach weißer Vorherrschaft. ten links überholt wurde. Diese Professo-
Errungenschaften von Identitätspolitik – ren können die Studenten, die sie abfällig
Gleichstellung von Frauen, Kompensatio- „social justice warriors“ nennen, nicht
nen für Afroamerikaner, Abtreibungsrech- schen Motiven gewählt wurde. Coates mehr verstehen, sondern fühlen sich von
te, Schwulenehe – sind abgeschafft. An schreibt: „Dem kollektiven Urteil zufolge ihnen bedrängt. Die Kritik der Studenten
der Umsetzung ihrer Vision, von der sie hat die Demokratische Partei sich irgend- am Umgang der Fakultät mit Hautfarbe,
später Millionen Amerikaner begeistern wo verloren, als sie alltägliche Wirtschafts- Geschlecht und Sexualität verstehen sie
konnten, haben kluge und mächtige Leute themen wie Arbeitsplatzbeschaffung auf- nicht. Sie selbst hatten gegen den Vietnam-
mindestens seit 2013 im Verborgenen ge- gegeben hat zugunsten der leichteren Kost krieg demonstriert, die Studenten heute
arbeitet. gesellschaftlichen Ausgleichs.“ Das aber aber redeten von Intersektionalität und
Stephen Bannon und der Mathematiker stimme nicht. Das, was von Leuten wie meinen, soweit die Professoren das verste-
und Hedgefonds-Milliardär Robert Mercer Lilla als Gegenreaktion einer verachteten hen, das Zusammenspiel verschiedener
haben keine Demonstrationen veranstaltet, weißen Arbeiterklasse politisiert und da- Identitätsmerkmale. Die alten Linken hal-
haben keine Bewegung gegründet und sind mit romantisiert werde, basiere in Wirk- ten die neuen für sensibel und verträumt.
nicht nach außen getreten. Stattdessen ha- lichkeit auf der Sehnsucht nach „white „Get real“, ruft Lilla ihnen an einer Stelle
ben sie, so beschreibt es Green in seinem supremacy“, nach weißer Vorherrschaft. im Buch zu.
Buch, Breitbart als Presseorgan in Stellung Am Abend nahm Mark Lilla von der Dann erzählte Mark Lilla von seiner
gebracht, das vermeintlich unabhängige Columbia University die U-Bahn Richtung Tochter. Sophie sei lesbisch, sagte er. Sie
Government Accountability Institute ge- Downtown. Er wollte im Greenwich Vil- habe überlegt, am Oberlin College zu stu-
gründet, dem es gelang, auch die seriöse lage seinen Verleger zum Abendessen tref- dieren. Bei einer Einführungstour hatte sie
Presse mit angeblich investigativen Ge- fen. Es herrschte Feierabendverkehr, der die Studentin, die die Führung leitete und
schichten über Regierungsmissbrauch der Zug war voll, Latinos, die aus der Bronx durch viele Buttons signalisierte, dass sie
Demokraten zu versorgen. Sie gründeten kamen, Afroamerikaner, die in Harlem zu- lesbisch ist, gefragt, wie das Verhältnis
eine Filmproduktion, die Dokumentatio- gestiegen waren, ein lesbisches Paar, das zwischen männlichen und weiblichen Stu-
nen wie „Clinton Cash“ während des Film- mit uns an Columbia einstieg, ältere weiße denten an der Uni sei. Die Führerin ant-
festivals in Cannes zeigte, und eine Firma Männer mit Schuhen aus Pferdeleder an wortete: Wer kann schon sagen, was männ-
zur Wähleranalyse und -manipulation na- der 72nd Street. All die verschiedenen lich oder weiblich ist? Das, so Lilla, habe
mens Cambridge Analytica. Als 2015 Hil- Identitäten. Vielen der Menschen in die- selbst seine Tochter abgeschreckt.
lary Clinton ihre Kandidatur wie erwartet sem Zug geht es besser, auch dank der Er- Und, was sagt sie zu seinem Buch?
bekannt gab, hatten Mercer und Bannon rungenschaften von Identitätspolitik: Das „Das steht drin.“
alle ihre Instrumente in Stellung gebracht. lesbische Paar könnte heiraten, wenn es Er hat es seiner Frau und seiner Tochter
Im Clinton-Lager, angeblich ja eine mit wollte, die vielleicht illegal eingereisten gewidmet: „In Loyal Opposition“.
allen Wassern gewaschene und mit uner- Latinos, die mit ihrer Arbeit in den Küchen Philipp Oehmke

DER SPIEGEL 3 / 2018 23

 MICHAEL REICHEL / DPA
Flüchtling in der Erstaufnahmestelle im thüringischen Suhl im Dezember 2016

Europäisches Parlament

Mehr Flüchtlinge nach Deutschland?

Unionspolitiker warnen vor neuen Regeln für Asylbewerber in Europa.

Die Bundesregierung fürchtet, dass Deutschland durch neue
Asylbestimmungen in Europa deutlich mehr Flüchtlinge auf-
gebürdet werden könnten. Hintergrund sind Änderungen,
die das Europäische Parlament an Gesetzesinitiativen der
Kommission zur Reform der Dublin-Regeln vornehmen will.
Danach soll nicht mehr automatisch das Land, in dem ein
Flüchtling die EU erreicht, für dessen Asylverfahren zustän-
dig sein, sondern unter Umständen das Land, in dem
Angehörige des Bewerbers bereits leben. Dadurch „müsste
Deutschland erheblich mehr Asylsuchende aufnehmen“,
heißt es in einem Vermerk des Bundesinnenministeriums.
Obergrenzen würden „zunichtegemacht“.
Besondere Sorge bereitet den Innenexperten, dass nach
den Parlamentsvorschlägen „faktisch die bloße Behauptung
einer Familienverbindung ausreichen“ soll: „Im Ergebnis
würde ein Mitgliedstaat, in dem sich bereits zahlreiche ,An-
kerpersonen‘ befinden, für weitreichende Familienverbände
zuständig.“ Die gewünschten Regelungen konterkarieren die
Bemühungen der Union, im Rahmen der Koalitionssondierung
einen Kompromiss mit der SPD zu finden, um den Familien-
nachzug zu begrenzen. „Wenn jeder der über 1,4 Millionen
Menschen, die seit 2015 in Deutschland Asyl beantragt haben,
zur Ankerperson für neu in der EU ankommende Schutzsu-
chende wird“, so Ole Schröder, Parlamentarischer Innen-
staatssekretär, „reden wir über ganz andere Größenordnun-
gen als bei der Familienzusammenführung.“
Pikanterweise haben auch EU-Politiker von Union und SPD
den Vorschlägen zugestimmt. Die Bedeutung für Deutschland
könne „nicht hoch genug“ eingeschätzt werden, mahnen
die Unionspolitiker Stephan Mayer und Stephan Harbarth per
Brief ihren Parteifreund Manfred Weber, Fraktionschef der
Europäischen Volkspartei: „Die Verhandlungen zum Gemein-
samen Europäischen Asylsystem dürfen auf keinen Fall dazu
führen, dass die ohnehin schon asymmetrische Lastenteilung
weiter verschärft wird.“ Deutschland setzt nun darauf,
dass der Rat die Vorschläge des Parlaments verhindert. mp

Euro-Reform
Ökonomen fordern
Maastricht-Ersatz
Führende Ökonomen aus
Deutschland und Frankreich
haben sich auf Vorschläge
für eine Reform der Eurozone
verständigt. In einem 33-seiti-
gen Papier, das nächste Woche
vorgestellt werden soll, for-
dern die Wissenschaftler, die
komplizierten Schuldenre-
geln des Maastricht-Vertrages
zu ersetzen durch ein System
mit einfacheren Vorgaben,
mehr Macht für Institutionen
der Eurozone und einer Insol-
venzordnung für Staaten.
Letztere soll verhindern, dass
Eurostaaten zu viele Kredite
aufnehmen. Benötigt werde
eine Kombination aus
„Marktdisziplin und Risiko-
teilung“, so das Papier. Zu-
gleich gehen die Ökonomen
auf Distanz zu einem eigenen
Haushalt für die Eurozone,
wie ihn Frankreichs Präsident
Emmanuel Macron vorge-
schlagen hat. Ein solches Bud-
get könne zwar die Konjunk-
tur stabilisieren, erfordere
aber Entscheidungen über die
Aufgabenteilung zwischen
Eurozone, EU-Kommission
und Nationalstaaten, die poli-
tisch gefällt werden müssten.
Stattdessen solle es einen be-
grenzten Schlechtwetterfonds
geben, aus dem Länder bei
tiefen konjunkturellen Krisen
Hilfen bekommen können.
Dauerhafte Transfers lehnen
die Ökonomen ab. Der Grup-
pe gehören sowohl marktlibe-
rale Wissenschaftler wie Ifo-
Chef Clemens Fuest als auch
Ökonomen wie Marcel Fratz-
scher oder Henrik Enderlein
an, die eher der SPD naheste-
len. Von französischer Seite
sind die Pariser Ökonomin
Agnès Bénassy-Quéré sowie
der Macron-Berater Jean
Pisani-Ferry beteiligt. msa, rei

24 DER SPIEGEL 3 / 2018 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel

Verbrechen
Eigens angereist
Den am Donnerstag gemelde-
ten Fall von Kindesmiss-
brauch im Raum Freiburg hal-
ten Ermittler für ungewöhn-
lich schwer. Nach Recherchen
der Frankfurter Zentralstelle
für Internetermittlungen,
des Bundes- und Landeskri-
minalamts und der Staats-
anwaltschaften Freiburg und
Karlsruhe reisten Pädophile
aus mehreren Staaten nach
Baden, um dort einen neun-
jährigen Jungen zu vergewal-
tigen. Dessen Mutter bot
ihn demnach in Pädophilen-
Foren an, worauf die hessi-
schen Fahnder aufmerksam
wurden. Die Mutter und ihr
Terrorismus
Zwölfjähriger baute
Bombengürtel
Im Fall des gescheiterten An-
schlags auf den Ludwigshafe-
ner Weihnachtsmarkt im Win-
ter 2016 werden neue Details
bekannt. Laut Ermittlungs-
akten plante der damals zwölf-
jährige Yad A. zunächst, einen
Selbstmordanschlag zu be-
gehen. Er bastelte einen Bom-
bengürtel und schickte dem
Wiener Islamisten Lorenz K.,
der ihn aus der Ferne angestif-
tet haben soll, am 24. Novem-
ber davon ein Foto. Auf die
Frage des mutmaßlichen Men-
Bundeswehr
Verlängerung für
Uralt-Helis
Bundesverteidigungsministe-
rin Ursula von der Leyen
(CDU) muss erneut bei einem
Rüstungsprojekt eine Schlap-
pe einstecken: Die Moderni-
sierung der Rettungshelikopter
für „Search and Rescue“-
Missionen (SAR) verzögert
sich, weil Bell und Airbus,
die Hersteller von Nachfolge-
modellen, sich vor der Ver-
gabekammer des Bundes
streiten. Nach Schätzungen
der Rüstungsabteilung ist mit
neuen SAR-Helikoptern da-
vorbestrafter Lebensgefährte
sollen bei den Taten anwe-
send gewesen und dreistellige
Geldbeträge verlangt haben,
teils sollen sie das Kind selbst
missbraucht haben. Neben
ihnen sitzen ein Deutscher
aus dem Raum Freiburg,
zwei Männer aus Schleswig-
Holstein, ein Spanier, ein
Schweizer und ein deutscher
Stabsfeldwebel in Untersu-
chungshaft. Der Junge befin-
det sich seit Monaten in
staatlicher Obhut. „Wir sind
nicht früher an die Öffent-
lichkeit gegangen, damit
von den Mitverdächtigen
niemand gewarnt wird“,
sagt der Sprecher der Staats-
anwaltschaft Freiburg,
Michael Mächtel. fri, ham, srö
tors, ob er bald zuschlagen
werde, schrieb der Junge, er
sprenge sich „spätestens über-
morgen“ in die Luft. Yad hatte
geplant, eine evangelische
Kirche in Ludwigshafen anzu-
greifen, und sich daher bereits
ein Bild der Kirche auf sein
Handy geladen. Doch K. emp-
fahl ihm per Telegram-Messen-
ger den Weihnachtsmarkt als
Ziel: „Ja, dann geh dort viel
mehr Menschen.“ A. legte eine
Tasche mit der Nagelbombe
auf dem Weihnachtsmarkt ab,
doch der Sprengsatz zündete
nicht. Lorenz K., 18, muss sich
bald vor dem Wiener Landes-
gericht verantworten. jdl, kaz
SAR-Helikopter vom Typ Bell UH-1D
Deutschland
SPD
Nahles weniger links
Andrea Nahles (SPD) lässt
ihre Mitgliedschaft in
der Parlamentarischen Linken
(PL) ruhen. Gegenüber
dem PL-Sprecher Matthias
Miersch begründete sie ihre
Entscheidung damit, als
Fraktionsvorsitzende Chefin
aller Abgeordneten zu sein.
In Teilen der PL und bei den
Jusos sorgt Nahles’ Schritt
für Irritationen. Dort sieht
HANNES JUNG / DER SPIEGEL
man ihre Entscheidung als
weiteren Versuch der Ex-Juso-
Chefin, das Image der linken
Frontfrau loszuwerden. Nah-
les sehe ihre linke Vergan-
genheit offenbar „immer mehr
Nahles als Ballast“, heißt es. vme
Bundespolizei Intern wird die Erprobung
Alibi-Test für nur als Alibi-Test gesehen,
weil zuvor der Personalrat
Motorola-Kameras scharfe Kritik an der un-
Die Bundespolizei soll nach- gewöhnlichen Entscheidung
träglich neue Körperkameras für Motorola geübt hatte.
von Motorola testen, die Die Bundespolizei hatte die
angeschafft wurden, ohne Kamera der Firma, für
dass sie zuvor der üblichen die Ex-Innenstaatssekretär
Praxisprüfung unterzogen August Hanning im Bundes-
worden waren. Die 285 be- innenministerium Lobby-
reits gekauften „Bodycams“ arbeit gemacht hatte
sollen Bundespolizisten drei (SPIEGEL 51/2017), bisher
Monate lang am Berliner nur im IT-Zentrum des Prä-
Hauptbahnhof einsetzen. sidiums getestet. Die für
Erst danach soll offiziell ent- die Praxistests zuständige
schieden werden, ob weitere Forschungs- und Erprobungs-
2000 Kameras angeschafft stelle in Lübeck blieb außen
werden. vor. it
her frühestens im Jahr 2020
zu rechnen. Bis dahin muss
die Truppe sich weiter mit
den altersschwachen Hub-
schraubern des Typs Bell
UH-1D behelfen. Die Bundes-
wehr hat das Modell seit
Ende der Sechzigerjahre im
Einsatz, in der Öffentlichkeit
THOMAS SCHOLZ / PICTURE ALLIANCE / DPA
sind die Bells auch durch
Bilder aus dem Vietnamkrieg
bekannt. Die Bundeswehr
wollte sie schon längst aus-
mustern und durch Euro-
copter-Flieger von Airbus
ersetzen. Nun müssen sie
mindestens zwei weitere Jah-
re kostenintensiv einsatz-
bereit gehalten werden. mgb
DER SPIEGEL 3 / 2018 25
 Deutschland
Anschlagskrater vor deutscher Botschaft in Kabul im Mai 2017
Afghanistan
Diplomatie aus
Containern
Das Auswärtige Amt (AA)
will die im vergangenen Mai
bei einem Anschlag zerstörte
deutsche Botschaft in Kabul
wiedereröffnen. Trotz der
angespannten Sicherheitslage
soll ein Kernteam von Diplo-
maten im Sommer 2018 den
Betrieb zunächst in Contai-
nern aufnehmen. Der Neu-
bau wird mindestens bis 2021
dauern – unter strengsten
Sicherheitsvorkehrungen.
Das alte Hauptgebäude, ein
zweigeschossiger Betonbau,
war bei der Explosion eines
mit Sprengstoff beladenen
Lasters schwer beschädigt
worden. Botschafter Walter
Haßmann arbeitet seitdem
Mafia
Gangster mit
Krypto-Code
Vor ihrem jüngsten Ermitt-
lungserfolg gegen den süd-
italienischen Mafiaclan
Farao-Marincola standen die
Fahnder vor einem bis dato
unbekannten Hindernis: Die
Mafiosi benutzten für ihre
Kommunikation eine Ver-
schlüsselung, die sie eigens
für ihre kriminellen Geschäf-
te von einer IT-Firma hatten
entwickeln lassen. Neben der
schriftlichen war auch die
mündliche Kommunikation
elektronisch verschlüsselt;
26 DER SPIEGEL 3 / 2018
Verkehr testweise unterwegs. Jetzt
Mehr Gigaliner auf gilt die Genehmigung unbe-
fristet, neu auch auf Autobah-
den Autobahnen nen in Nordrhein-Westfalen
Riesenlaster mit einer Länge und Rheinland-Pfalz. Die Las-
von über 25 Metern dürfen ter sind nicht nur sicherheits-
ihren Aktionsradius auf deut- technisch umstritten. Umwelt-
schen Straßen erweitern. schützer befürchten, dass
Der geschäftsführende Bun- der Transport auf der Schiene
desverkehrsminister Christian unattraktiver wird und der
Schmidt (CSU) hat kurz Lkw-Verkehr weiter zunimmt.
vor Weihnachten eine Verord- Bundesumweltministerin
nung abgesegnet, die soge- Barbara Hendricks (SPD) hat
nannte Lang-Lkw vom Typ 2 Schmidts Erlaubnis zuge-
auf bestimmten Schnellstra- stimmt. In der Begründung
RAHMAT GUL / AP
ßen erlaubt. Die Gigaliner steht hoffnungsvoll, der Las-
können schlechter durch enge ter werde wegen seiner unge-
Kurven fahren. Bislang sind lenken Dimensionen nur
kaum ein Dutzend Exemplare wenig eingesetzt werden. gt
mit einem kleinen Team in
der US-Botschaft; Visa-
Klinikbehandlung
Anträge werden von benach- ten geben müssen. Einer der
barten Ländern aus bear- Waffen Leibwächter flog mit den
beitet. Das AA setzte bei der Waffen zurück nach Teheran.
Kabuler Regierung durch, retour nach Iran Die anderen reisten nach
das Tor zur gesicherten Diplo- Nach ersten Protesten von Hannover weiter. Die Bun-
matenzone neben der deut- Exil-Iranern gegen Ex-Justiz- desanwaltschaft führt nach
schen Botschaft mit einer chef Mahmoud Shahroudi mehreren Strafanzeigen Vor-
rund vier Meter hohen Mauer schickte Teheran sechs be- ermittlungen wegen Verbre-
dauerhaft abzuriegeln. waffnete Leibwächter nach chen gegen die Menschlich-
US-Geheimdienste gehen Deutschland. Sie sollten den keit gegen den Iraner. Am
davon aus, dass der tödliche Ajatollah in der Hannovera- Donnerstag flog Shahroudi
Anschlag vom Terrornetz- ner Privatklinik Ini (Interna- zurück nach Teheran. gud
werk Haqqani mithilfe des tional Neuroscience Institute)
pakistanischen Geheim- beschützen. Doch als die
diensts ISI geplant wurde. Bodyguards am Freitag der
Dafür spricht das professio- Vorwoche in Frankfurt lande-
nelle Vorgehen: Die Täter ten, hielt die Bundespolizei
tarnten sich als Mitarbeiter sie auf. Sie hatten weder Ein-
der Abwasser-Entsorgungs- fuhrgenehmigungen noch
firma Ecolog und zeigten eine Erlaubnis zum Tragen
gefälschte Papiere für einen der Waffen beantragt, sodass
angeblichen Auftrag. mgb sie diese in Verwahrung hät- Shahroudi in Hannover
den Kriminalisten gelang es zaro hatte vergangenen rund 50 Millionen Euro be-
erst nach einigem Aufwand, Dienstag 169 mutmaßliche schlagnahmt. Unter den
den Krypto-Code zu kna- Mafiosi festnehmen lassen, Verdächtigen befindet sich
cken. Die Staatsanwaltschaft davon 11 in Deutschland, der ehemalige Stuttgarter
im süditalienischen Catan- und Vermögen im Wert von Prominentenwirt Mario L.,
ein einstiger Duzfreund von
EU-Kommissar Günther
Oettinger. Laut italienischer
Staatsanwaltschaft soll
der Farao-Marincola-Clan,
der zur Mafiaorganisation
’Ndrangheta gehört, ganze
Handelsketten für Fisch,
ANTONIO CAPRIA / ROPI
Olivenöl, Weizenprodukte
und Wein unter seine Kon-
trolle gebracht und Händler
und Gastronomen dazu
gezwungen haben, diese zu
Festnahme eines Mafioso im italienischen Catanzaro am Dienstag beziehen. aul
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Rosenzweig & Schwarz, Hamburg
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Deutschland

Vorwärts ins Gestern

Kanzler Ein Trio aus Alexander Dobrindt, Christian Lindner und
Jens Spahn macht sich daran, die Ära Merkel zu überwinden.
Die Männer bereiten ein konservatives Bündnis vor und wollen
die politischen Lagergrenzen wieder hochziehen.

M
anchmal hat es auch für den Chef haben auch Freude daran gefunden, sich
der Liberalen Vorzüge, im kalten als eine Generation zu präsentieren, die
Wind des Kapitalismus auf einen in Merkel eine Kanzlerin sieht, die leider
Freund zählen zu können. Nach der Bundes- nicht verstanden hat, dass ihre Zeit ab-
tagswahl im vergangenen Herbst suchte gelaufen ist.
Christian Lindner eine neue Bleibe. Lange Die drei kennen sich seit Jahren. Do-
hatte er in einer kleinen Wohnung Unter- brindt und Lindner aus ihrer gemeinsamen
schlupf gefunden, die in einer ruhigen Zeit als Generalsekretäre. Spahn wieder-
Seitenstraße des Berliner Stadtteils Prenz- um zog wie Dobrindt 2002 erstmals in den
lauer Berg liegt. Bundestag ein, beide gehörten damals zu
Mit Einzug der FDP in den Bundestag den jüngsten Abgeordneten ihrer Parteien.
verlegte sich Lindners Leben in die Haupt- Das verbindet.
stadt. So traf es sich gut, dass der CDU- Und sie zelebrieren diese Verbunden-
Mann Jens Spahn gerade Ausschau nach heit gern. Im vergangenen April raunte
einem solventen Mieter für sein geräu- die „Bild am Sonntag“ von einem
miges Schöneberger Dachgeschoss hielt. „schwarz-schwarzgelben Geheimtreffen“,
Seit ein paar Wochen nun wohnt der Chef die Zeitung präsentierte dazu einen Foto
der Liberalen in einer Wohnung, die dem von Lindner, Dobrindt und Spahn bei
Mann gehört, der nach Ansicht mancher einem Italiener im feinen Grunewald. Es
in der CDU eines Tages ins Kanzleramt sah klandestin aus, nur hatte das Bild
einziehen könnte. kein Leserreporter geschossen, sondern
Ein politisches Statement? ein Fotograf des Blattes. Die politische
Spahn winkt ab. Reiner Zufall. Aber er Botschaft für den Wahlkampf war jeden-
will auch nicht verhehlen, dass es sich ganz falls gesetzt.
gut getroffen hat, dass er seine Wohnung Dobrindt, Spahn und Lindner eint die
einem Freund vermietet hat, den er seit Meinung, dass Merkel in der Flüchtlings-
Jahren kennt und duzt. krise ein heilloses politisches Chaos ange-
Es gibt nicht allzu viele Unionsleute, die richtet hat, eine Verwirrung, die erst die
im Moment Lindner als einen Freund be- AfD großgemacht habe und die nun dafür
zeichnen würden. Zu tief sitzt der Ärger, verantwortlich sei, dass das alte bürger-
dass die Liberalen im vergangenen Novem- liche Lager aus Union und FDP keine
ber die Verhandlungen für die Jamaika- Mehrheit mehr finde.
koalition platzen ließen. Man könne doch In Spahns Büro steht das Modell eines
nicht einfach aufstehen und weggehen, Smartphones in der Größe eines Kühl-
ärgerte sich damals Merkels Kanzleramts- schranks, auf dem Sideboard sind zwei der alle Konturen verschwimmen und in
chef Peter Altmaier. winzige Figuren drapiert, die Spahn und der man tausend Zugeständnisse machen
Nur einer war erstaunlich still: Spahn, seinen Partner Daniel Funke zeigen, den muss, nur um die SPD zu besänftigen?
der sich wie Lindner nie so recht für Berliner Büroleiter der „Bunten“, den er Merkel hat eine Generation von CDU-
ein kompliziertes Bündnis aus vier Par- kurz vor Weihnachten geheiratet hat. Auf- Politikern gefördert, die davon träumt, die
teien erwärmen konnte – und der frisch bruch und Beharrung liegen bei Spahn im- alten politischen Barrikaden wegzuräu-
gebackene CSU-Landesgruppenchef Ale- mer ganz nah beieinander. Er hat im Bun- men. Kanzleramtschef Altmaier gehört
xander Dobrindt, der es von Anfang an destag für die Ehe für alle gestimmt und dazu, Gesundheitsminister Hermann Grö-
für falsch hielt, mit den Grünen koalieren findet dennoch, dass es Merkel mit der he, auch Armin Laschet, der neue Minis-
zu wollen, und der mit seinen übellau- Modernisierung der CDU übertreibe. terpräsident Nordrhein-Westfalens. Schwarz-
nigen Kommentaren seinen Teil dazu bei- Es ist Mittwochmittag, Spahn muss Grün in Berlin hätte diesen Traum in
getragen hat, dass aus Jamaika nichts gleich rüber ins Konrad-Adenauer-Haus, Erfüllung gehen lassen, die Verbindung
wurde. die Sondierungsverhandlungen für die aus Wertkonservativen und ökologisch
Wenn eine Ära zu Ende geht, werden Große Koalition gehen weiter. Es ist kein Bewegten.
neue Bündnisse geschlossen und alte Projekt nach seinem Geschmack, daraus Nur leider reichte es bei der Bundestags-
brüchig. Dobrindt, 47, Lindner, 39, und hat er von Anfang an keinen Hehl ge- wahl nicht für ein Bündnis zwischen Union
Spahn, 37, verbindet nicht nur ein für macht. Wie, bitte schön, soll die Union und Grünen, Merkel musste die Liberalen
Politiker eher jugendliches Alter; alle drei von einer Koalition profitieren, in der wie- dazubitten, den alten Partner. Als Lindner
28 DER SPIEGEL 3 / 2018

Merkel-Kritiker Dobrindt, Spahn, Lindner im April 2017: Wenn eine Ära zu Ende geht, werden neue Bündnisse geschlossen
dann in jener dunklen Novembernacht
alles platzen ließ und die Schuld auf Mer-
kel schob, waren die Kanzlerin und ihre
Truppe endgültig davon überzeugt, dass
mit der FDP kein Staat zu machen sei.
Es war eine Analyse, die Dobrindt und
Spahn ganz und gar nicht teilten. Dobrindt
ist ein Mann, der sich äußerlich sehr ge-
wandelt hat, mit Anfang vierzig nahm er
19 Kilo ab, er kaufte sich eng geschnittene
Anzüge und schmale Krawatten. Dobrindt
wollte nicht zu einer Karikatur von Franz
Josef Strauß werden; ideologisch aber ist
er gefestigt.
In Dobrindts Welt sind die Grünen nicht
möglicher Koalitionspartner, sondern Geg-
ner. Es geht für ihn dabei nicht um Gefüh-
le, persönlich versteht er sich mit einigen
Grünen ganz ordentlich; aber wenn es um
die Macht geht, ist Dobrindt kalt bis ins
Herz. Er war vier Jahre lang CSU-General-
sekretär und hat gesehen, wie die Grünen
in Bayern ausgerechnet in wohlhabenden
Gegenden reüssierten.
Als im Bundestagswahlkampf 2013 be-
kannt wurde, dass Teile der Grünen An-
fang der Achtzigerjahre für eine Legalisie-
rung von Sex mit Kindern eintraten, star-
tete Dobrindt eine beispiellose Kampagne.
Er behauptete, dass der schwule Bundes-
tagsabgeordnete Volker Beck „Vorsitzen-
der der Pädophilen-AG bei den Grünen“
gewesen sei. Das stimmte nicht; Dobrindt
kassierte eine einstweilige Verfügung, die
ihm bei Androhung von sechs Monaten
Haft untersagte, die Aussage zu wiederho-
BILD AM SONNTAG
len. Aber der Generalsekretär hatte sein
Ziel erreicht: Die Grünen standen in einer
Ecke mit Kinderschändern.
Provokation ist ein Stilmittel, dass
Dobrindt, Lindner und Spahn eint. Wenn
Spahn ein Burkaverbot fordert oder mit
Blick auf den Islam erklärt, nicht jede Kul-
tur sei eine Bereicherung, dann weiß er,
welche Reaktion folgt. Je lauter der politi-
sche Gegner sich empört, desto besser.
Auch Lindner hält es für einen Wert an
sich, mit Positionen gegen den Mainstream
zu provozieren. Das der linksliberal sei,
darin ist er sich mit seinen politischen
Freunden einig.
Vergangene Woche veröffentlichte Do-
brindt in der „Welt“ einen Beitrag, in dem
er gegen die „linke Meinungsvorherrschaft“
DER SPIEGEL 3 / 2018 29

STEFFI LOOS / GETTY IMAGES
Regierungschefin Merkel: Alte politische Barrikaden wegräumen
der 68er wetterte. Es war ein Pamphlet,
aber weil in ihm der Begriff „konservative
Revolution“ vorkam, unter dem auch anti-
demokratische Strömungen in der Weima-
rer Republik zusammengefasst werden,
war die Aufregung riesig. Auf Dobrindts
Computer liefen lauter Glückwunschadres-
sen ein. Für ihn war das die Bestätigung,
dass er genau den richtigen Ton getroffen
hatte.
Merkels Methode ist es, möglichst keine
Erregung zu erzeugen. Aber Spahn und
Dobrindt sind inzwischen der Meinung,
dass Merkel damit nicht die Anhänger von
SPD und Grünen einschläfere, sondern die
eigenen Wähler. Sie sehnen sich zurück
zum alten Schlachtenlärm.
Ein Vorbild dafür ist Sebastian Kurz, der
neue Kanzler Österreichs. Kurz ist wie
Spahn für ein Burkaverbot, und er hat wie
kaum ein anderer europäischer Politiker
Merkels Flüchtlingspolitik kritisiert. Als
Kurz Mitte Oktober die Wahl in Österreich
gewonnen hatte, tauchte Spahn plötzlich
auf der Wahlparty der ÖVP auf. Er habe
zufällig am selben Tag einen privaten Ter-
min in Wien gehabt, so Spahn. Für ein
schönes Selfie mit Kurz auf Twitter war
dann ganz zufällig auch noch Zeit.
Spahn, Dobrindt und Lindner eint die
Ansicht, dass Merkels Entscheidungen im
Flüchtlingssommer 2015 ein Desaster wa-
ren. Der FDP-Chef forderte sogar schon
einen Untersuchungsausschuss zu den Vor-
gängen von damals. Im Frühjahr 2016 gab
Dobrindt dem SPIEGEL ein Interview und
warf Merkel vor, für den Aufstieg der AfD
verantwortlich zu sein.
Die CDU sei immer weiter in die Mitte
gerückt, klagte Dobrindt: „Wenn ein poli-
tisches Vakuum entsteht, dann wird es
irgendwann gefüllt.“ Dobrindt diente
Merkel damals noch als Verkehrsminister.
Viele in der CDU waren der Meinung, dass
Merkel ihn eigentlich aus dem Kabinett
30 DER SPIEGEL 3 / 2018
hätte werfen müssen. Aber sie wollte die
Dinge nicht auf die Spitze treiben.
Dobrindt ist wie Spahn überzeugt da-
von, dass die Union versuchen müsse, den
Rechtspopulisten Wähler abzujagen. Das
geht nach ihrer Auffassung nur, wenn
CDU und CSU konservative Bürger auch
wieder emotional an sich binden. Ihrer An-
sicht nach war es Merkels größter Fehler,
dass sie den Wählern der AfD nie ein An-
gebot gemacht habe. Am Ende war das
Ergebnis, dass die Partei mit 12,6 Prozent
in den Bundestag einzog.
Auch Lindner will die Lücke füllen,
die Merkel rechts gelassen hat. Wer aus
Ärger über Merkels Kurs nicht mehr die
Union wählt, ist bei den Liberalen will-
kommen. Er hat den Platz der FDP im
Parteienspektrum ein Stück nach rechts
verschoben.
Weil die AfD im Zentrum ihrer politi-
schen Analyse steht, grenzen sich Dobrindt,
Spahn und Lindner in zwei Politikberei-
chen von Merkel ab: in der Europa- und
der Zuwanderungspolitik. Es sind genau
die Felder, die erst zur Gründung der AfD
geführt und ihr dann zum Sprung in den
Bundestag verholfen haben.
Als CSU-Chef Seehofer bei den Jamaika-
verhandlungen Gesprächsbereitschaft beim
Familiennachzug für Flüchtlinge andeutete,
sagte Lindner, er vertrete zu 100 Prozent
die Position der CSU. Dobrindt hatte oh-
nehin erklärt, in dieser Frage werde sich
die Union nicht bewegen. Damit war auch
für Seehofer ein Einlenken nicht mehr
möglich.
Neben der Kritik an Merkel eint die
Männer auch ihr Ehrgeiz, alle drei finden,
dass sie das Dach ihrer Karriere noch nicht
erklommen haben. Der derzeit mächtigste
ist Dobrindt, der seit der Bundestagswahl
die 46-köpfige CSU-Landesgruppe führt.
Er hat als ehemaliger Minister und CSU-
Generalsekretär auch am meisten politi-
sche Erfahrung. Wenn Horst Seehofer als
CSU-Chef zurücktreten sollte, hätte Dob-
rindt wohl die besten Chancen auf die
Nachfolge.
Lindners Karriere verlief weniger ge-
radlinig. Er galt zu Zeiten der letzten
schwarz-gelben Koalition als große Nach-
wuchshoffnung. Doch als Generalsekretär
überwarf er sich sowohl mit Parteichef
Guido Westerwelle als auch mit dessen
Nachfolger Philipp Rösler. Nun hat er es
geschafft, die FDP wieder in den Bundes-
tag zu führen.
Spahn ist als Jüngster des Trios auch
derjenige, der politisch noch den weitesten
Weg vor sich hat. Als Mitglied des CDU-
Präsidiums hat er eine gute Plattform, um
sich zu allen politischen Fragen zu äußern.
Aber ihm fehlt ein Amt mit Einfluss. Er
ist Parlamentarischer Staatssekretär, das
ist ein schöner Titel, mehr nicht.
Spahn will Minister werden, daraus
macht er kein Geheimnis, und wenn er ge-
fragt wird, ob er eines Tages Kanzler wer-
den könnte, findet er das schmeichelhaft.
„Ohne Ehrgeiz schafft man kein Seepferd-
chen“, sagt er dann. Das klingt niedlich
und ist doch kein Nein.
Spahn ist von Merkel abhängig. Wenn
sie es will, bleibt er ein kleiner Staatsse-
kretär mit großen Träumen. Natürlich
weiß Merkel, dass es ein Affront wäre, wür-
de sie Spahn wieder übergehen. Anderer-
seits findet sie, dass er seinen Ehrgeiz et-
was zügeln könnte. „Er überdreht einfach“,
heißt es im Kanzleramt.
Merkel sieht, dass es Spahn nicht nur
um einen Posten geht, er und seine Freun-
de zetteln gerade einen Kulturkampf an.
Das Trio plant die Rückabwicklung einer
Ära, die merkelsche Unübersichtlichkeit
soll einem klaren, parteipolitischen Front-
verlauf weichen. Für die Kanzlerin ist es
ein gefährlicher Kinderglaube, sich die
Verhältnisse der Achtzigerjahre zurück-
zuwünschen. Hat sie nicht dafür gesorgt,
die CDU für neue Wähler zu öffnen? Soll
das alles aufgegeben werden, nur um den
Schreihälsen von der AfD hinterherzu-
laufen?
Merkel ist nicht der Typ für plumpe Ra-
cheaktionen. Eleganter ist es, eine Nach-
folgerin aufzubauen, die sich ihrem Werk
verpflichtet fühlt. Die saarländische Minis-
terpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbau-
er jedenfalls hat sich mit kritischen Einwür-
fen gegen Berlin immer zurückgehalten.
Wenn man Merkels Leute richtig versteht,
könnte für Kramp-Karrenbauer am nächs-
ten Kabinettstisch durchaus ein Platz frei
sein. Sie muss es nur wollen.
Ralf Neukirch, René Pfister, Christoph Schult
Aktuell: Die Entwicklung der
Berliner Sondierungsgespräche
spiegel.de/sp032018aktuell
oder in der App DER SPIEGEL

„Ich wünsche mir eine linke Volkspartei“
Parteien Fraktionschefin Sahra Wagenknecht, 48, über die Versäumnisse
der Linken, den Zustand der SPD und die Idee einer neuen sozialen Sammlungsbewegung
SPIEGEL: Frau Wagenknecht, Deutschland
könnte bald wieder von einer Großen
Koalition regiert werden. Kann die SPD
weitere vier Jahre unter einer Kanzlerin
Merkel überleben?
Wagenknecht: Wenn die SPD das wirklich
macht, möchte ich mir nicht ausmalen, wie
ihr nächstes Wahlergebnis aussieht. Mir ist
völlig schleierhaft, warum die Sozialdemo-
kraten nicht verstehen, weshalb sie in den
letzten Jahren so viele Wähler verloren
haben.
SPIEGEL: Wollen Sie es ihnen erklären?
Wagenknecht: Die SPD steht seit Gerhard
Schröder für eine Politik, die zu einer wach-
senden Ungleichheit und Lebensunsicher-
heit geführt hat. Weshalb sollen Menschen,
die unter niedrigen Löhnen und Renten lei-
den, eine Partei wählen, die das wesentlich
mitzuverantworten hat. Wenn eine sozial-
demokratische Partei sich zunehmend
einem neoliberalen Kurs verschreibt, dann
fühlen sich die Wähler irgendwann nicht
mehr vertreten. In Frankreich ist die Sozial-
demokratie so bei sechs Prozent gelandet,
in den Niederlanden bei fünf.
SPIEGEL: Das sind düstere Aussichten für
eine linke Machtoption in Deutschland.
Wagenknecht: Traditionell gab es überall
zwei große Parteien, die eine hat vor allem
die Arbeitnehmer, die andere die bürger-
lichen Wähler vertreten. Aber seit Jahren
ist es nahezu egal, welche dieser beiden
Parteien eine Regierung anführt. Es
kommt immer die gleiche Politik heraus,
die weder Arbeitnehmern noch kleinen
Selbstständigen nützt, sondern vor allem
die Interessen des großen Geldes bedient.
Dadurch entsteht ein demokratischer Leer-
raum, in dem sich auch rechte Parteien
tummeln. Deshalb würde ich mir wün-
schen, dass die SPD endlich Konsequenzen
zieht.
SPIEGEL: Was für Konsequenzen?
Wagenknecht: Es ist doch ein Trauerspiel.
Es gibt heute im Bundestag keine Mehrheit
für einen höheren Mindestlohn oder eine
Vermögensteuer für Superreiche. Es gibt
diese Mehrheiten aber in der Bevölkerung.
Doch solange das allein die Linke vertritt,
kann daraus keine Regierungspolitik wer-
den. Deshalb wäre es gut, wenn Politiker
unterschiedlicher Parteien, die für ein
solches Programm stehen, sich zusammen-
schließen.
SPIEGEL: Wollen Sie eine Neuordnung des
Parteiensystems und eine linke Samm-
lungsbewegung wie Ihr Mann, der Ex-Vor-
sitzende der Linken, Oskar Lafontaine?
Wagenknecht: Wir sehen doch, dass die tra-
ditionellen Parteien an Akzeptanz verlie-
ren. In dem Augenblick, wo etwas Neues
entsteht, wachsen die Chancen auf andere
Mehrheiten. In Frankreich hat Macron die
Präsidentschaftswahl gewonnen. Aber noch
bemerkenswerter war: Der Linke Jean-Luc
Mélenchon hat mit seiner Bewegung „La
France insoumise“ aus dem Stand knapp
20 Prozent erreicht.
SPIEGEL: Warum kann die Linke als Partei
diese Rolle nicht übernehmen?
Wagenknecht: Mit der Linken hat sich erst-
mals links von der SPD eine relevante
STEFFEN ROTH / DER SPIEGEL
Politikerin Wagenknecht
„Es muss ein Funke überspringen“
Kraft etabliert. Aber wir stehen bei zehn
Prozent. Das reicht nicht, um Politik wirk-
lich zu verändern. Um eine linke Volks-
partei zu werden, müssten wir noch viel
an Breite und Akzeptanz gewinnen. Das
wäre auch ein Weg, aber er würde länger
dauern.
SPIEGEL: Sie wollen also bei SPD und Grü-
nen wildern?
Wagenknecht: Ich bekomme viele Rückmel-
dungen von SPD-Wählern, auch von Mit-
gliedern – leider bisher nicht von Funktio-
nären. Aber dem Anspruch, sozialer Politik
in Deutschland wieder eine Machtoption
zu verschaffen, kann sich doch kein verant-
wortungsvoller Mensch entziehen.
SPIEGEL: Wie stellen Sie sich diese linke
Sammlungsbewegung vor?
Deutschland
Wagenknecht: Natürlich wünsche ich mir
eine starke linke Volkspartei. Am Ende
kann es nur funktionieren, wenn promi-
nente Persönlichkeiten mitmachen, die
den Menschen die Hoffnung zurückgeben,
dass sich politisch etwas in ihrem Sinne
bewegt. Wir müssen das weiterdenken und
dafür werben. Es muss ein Funke über-
springen. Wir haben doch eine Krise der
Demokratie, weil viele von der Politik gar
nichts mehr erwarten. Manche kreuzen
dann aus Wut AfD an.
SPIEGEL: Wie wollen Sie die entsprechen-
den Teile der SPD überzeugen?
Wagenknecht: Viele in der SPD sind unzu-
frieden. Wenn man gemeinsam etwas Neu-
es angeht, ist die Hürde vielleicht geringer,
als wenn man sie einfach nur auffordert,
in die Linke zu kommen.
SPIEGEL: Wie relevant ist das alte Rechts-
links-Schema für Parteien überhaupt
noch?
Wagenknecht: Die alten Interessengegen-
sätze existieren fort. Es gibt eine kleine
Schicht, die vom entfesselten Globalkapi-
talismus profitiert. Und es gibt eine Mehr-
heit, die in einem starken Sozialstaat mit
sicheren Jobs besser leben würde. Früher
bedeutete links, sich für diese Mehrheit
einzusetzen. Nachdem die Sozialdemokra-
tie die Seiten gewechselt hat, begann sie
in vielen Ländern, ihre neoliberale Politik
mit traditionell linken Begriffen wie Inter-
nationalismus, Solidarität oder Emanzipa-
tion aufzuhübschen, obwohl sie das ge-
naue Gegenteil bedeutete. Das hat viel
dazu beigetragen, dass die Leidtragenden
heute mit „links“ nicht mehr viel anfangen
können.
SPIEGEL: Dann entstand erst die Linke und
dann die AfD.
Wagenknecht: Die AfD hat leider viele an-
gesprochen, die sich seit Jahren von der
Politik im Stich gelassen fühlen.
SPIEGEL: Die Linke will doch genau diese
Menschen ansprechen. Wieso ist das nicht
gelungen?
Wagenknecht: Die Themen Migration und
Flüchtlingspolitik haben den Wahlkampf
in einer Weise geprägt, wie das nie zuvor
der Fall war. Die Linke hat da nicht nur
klug agiert. Wir müssen so sprechen, dass
uns auch einfache Leute verstehen. Welt-
offenheit etwa bedeutet in akademischen
Kreisen die Ablehnung von Fremdenfeind-
lichkeit und Nationalismus, bei Arbeitern
eher Schutzlosigkeit in einem globalen
Wettbewerb, bei dem der Billigste den
Zuschlag erhält. Interview: Nicola Abé
DER SPIEGEL 3 / 2018 31
Auf dem Küstenthron
Ministerpräsidenten Manuela Schwesig wurde Regierungschefin in Schwerin, weil ihr Genosse
Erwin Sellering erkrankte – ihre Bilanz entscheidet über ihren weiteren Aufstieg in der SPD.

S
eit Tagen kein Tweet von Manuela
Schwesig, merkwürdig, denn die
SPD-Politikerin twittert sonst gern,
sogar zu Weihnachten: „Liebe & Frieden
anstatt Hass & Gewalt“, mit Herzchen und
Tannenbaum. Oder am 1. Januar: „Happy
New Year!“, geschrieben in den Sand der
Insel Hiddensee, wo sie mit ihrer Familie
den Jahreswechsel verbrachte. Zuletzt lob-
te sie, dass nun der Auskunftsanspruch in
Kraft trete, der Frauen zu mehr Lohn-
gerechtigkeit verhelfen soll; es war ihre
Gesetzesvorlage als Familienministerin.
Sie hat 140 000 Follower, 109 800 mehr als
Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz,
aber viel weniger als SPD-Chef Martin
Schulz.
Doch nun sitzt Schwesig als SPD-Vize
in den Sondierungsgesprächen mit der
Union, und da gilt: keine Zwischenstände!
Nichts auf Social Media! Davor war sie im-
merhin noch im „Morgenmagazin“: „Wir
wissen noch nicht, ob die Gemeinsamkei-
ten ausreichen“, sagte sie, „ich teile die
große Skepsis für eine erneute GroKo.“
Schwesig versteht es, sich mit Wortbei-
trägen bemerkbar zu machen. Das muss
sie auch, denn Mecklenburg-Vorpommern
ist nicht so bedeutend, dass ihr das Amt
dort bundesweit Aufmerksamkeit sichern
würde. Nach der schweren Niederlage ih-
rer Partei bei der Bundestagswahl war sie
am Abend die Erste, die im ZDF erklärte:
„Für uns endet heute die Große Koalition.“
Als ein paar Herren aus dem SPD-Pen-
sionskader, Franz Müntefering, Gerhard
Schröder und Klaus von Dohnanyi, über
Schulz herzogen, watschte sie sie öffentlich
ab: Es könne nicht sein, dass einzelne So-
zialdemokraten von außen „jetzt schon
wieder Zensuren verteilen“. Sie hat den
Parteichef nicht verteidigt, weil sie ihn toll
findet. Aber sie glaubt, dass die SPD einig
auftreten muss. Die Partei durchlebt ihre
schwerste Krise, und Schwesig, 43, gehört
zu denen, die dafür sorgen sollen, dass sie
noch eine Zukunft hat. Dazu muss sie al-
lerdings erst einmal beweisen, dass sie ein
Bundesland erfolgreich regieren kann.
Seit sie 2003 in die SPD eintrat, hat die
einstige Finanzbeamtin einen bemerkens-
JOHANNES ARLT / DER SPIEGEL

werten politischen Aufstieg hingelegt: 2007

SPD-Stadtfraktionsvorsitzende in Schwe-
rin, 2008 Landessozialministerin, damals
die jüngste Ministerin Deutschlands. 2013
Bundesfamilienministerin und nun Minis-
terpräsidentin in Mecklenburg-Vorpom-
mern. Das war geplant, aber für später. Im Sozialdemokratin Schwesig in Schwerin: „Vor allem die Frauen haben wir nicht erreicht“
Mai vergangenen Jahres erkrankte der da-
32 DER SPIEGEL 3 / 2018

malige Ministerpräsident Erwin Sellering
an Krebs, und sie sprang ein.
Als Frank-Walter Steinmeier sie 2009 in
sein Wahlkampfteam rief, sah man sie vor
allem als jung und frisch. Sie aber hinter-
ließ so großen Eindruck, dass sie zur stell-
vertretenden Parteivorsitzenden aufrückte.
Inzwischen gilt sie als potenzielle Kandi-
datin für die Führung der SPD – und als
mögliche Kanzlerkandidatin. Ein Spitzen-
genosse sagt: „Die Manuela ist noch lange
nicht so weit.“
Schwesig meint: „Ich habe nie etwas an-
deres erlebt, als dass man am Anfang un-
terschätzt wird.“ Das sagte sie dem ARD-
Talker Reinhold Beckmann, das Thema:
Frauen und die Macht.
Es ist auch das Thema der SPD. Drei
Kanzlerkandidaten in Serie haben versagt:
Steinmeier, Peer Steinbrück, Schulz. Alles
Männer, keiner jünger als 60. Noch nie hat
in der 154-jährigen Geschichte der SPD
eine Frau die Partei geführt, noch nie gab
es eine Kanzlerkandidatin. „Es ist höchste
Zeit für eine Spitzenkandidatin“, sagt Elke
Ferner, sie führt die Frauenorganisation
der SPD, die ASF. Doch Zeit für wen? Zu
Namen und der Frage, ob eine Frau schon
bei Neuwahlen antreten sollte, will sich
Ferner nicht äußern.
Obwohl keinem Mecklenburger und kei-
nem Vorpommern entgangen sein dürfte,
dass es nun eine Ministerpräsidentin gibt,
betonte Schwesig in ihrer ersten Regie-
rungserklärung: „Mit mir steht erstmals
eine Frau an der Spitze der Landesregie-
rung.“ Eine Landeschefin, das ist beileibe
nichts Besonderes mehr. Es war eine An-
sage: Mit mir beginnt etwas Neues. „Vor
allem die Frauen haben wir nicht erreicht“,
schrieb Schwesig zum Jahresende auf
Facebook, „die SPD muss auch jünger und
weiblicher werden.“
Als er noch Parteichef war, nannte Ga-
briel die Genossin einmal „Erwins bestes
Stück“. Später bezeichnete er das als ein
„ziemlich verunglücktes Kompliment“.
Auch der langjährige CDU-Landeschef Lo-
renz Caffier sagt nicht mehr „Küsten-Bar-
bie“. Schwesig ist jetzt seine Chefin, als In-
nenminister sitzt er an ihrem Kabinettstisch.
„Man sieht sich immer zweimal im Leben“,
sagt Schwesig dazu. In der Boulevardpresse
ist sie zur „Küstenkönigin“ aufgestiegen.
Ein halbes Jahr ist sie nun Ministerprä-
sidentin, und ihre große Koalition arbeitet
nahezu geräuschlos. Auch wenn so man-
cher Christdemokrat dem fast präsidialen
Stil von Sellering hinterhertrauern mag,
öffentlich sagt das keiner. „Frau Schwesigs
Arbeitsstil unterscheidet sich natürlich von
dem ihres Vorgängers“, erklärt CDU-Frak-
tionschef Vincent Kokert, „an der guten
und vertrauensvollen Zusammenarbeit in
der Koalition ändert das aber nichts.“
Die Grünen gibt es nicht mehr im Land-
tag, und so geißelte die Linken-Fraktions-
chefin Simone Oldenburg jüngst die banale
Realität des Strategiefonds, mit dem
Schwesigs Koalition angeblich „Leucht-
turmprojekte“ fördern will. Hier eine Spen-
de fürs örtliche Tierheim oder die Geflü-
gelzucht, da ein Pferd für den Reitverein,
Geld für Ringermatten, einen Boxring, ein
Wasserskiboot, so Oldenburg. Sie könne
da nur eine Strategie erkennen: „Wie ge-
winne ich meinen Wahlkreis wieder?“
Freitag, 5. Januar, Schwesig besucht die
Kita Naturtalent in Ludwigslust, schöner
kann ein Termin kaum sein: Nackte kleine
Füße trappeln über geölten Holzfußboden,
ein paar Kinder hämmern in der Werkstatt,
eine Gruppe singt mit ihrem Erzieher zur
Gitarre. Hier gibt es einen 10 000 Quadrat-
meter großen Garten, ein Atelier, ein For-
scherlabor und eine Sauna. „Eine tolle
Kita“, lobt Schwesig, „da möchte man
gleich gerne hierbleiben.“ Es ist das per-
fekte Setting für ihre Botschaft: Liebe El-
tern, wir haben die Kita-Gebühren ge-
senkt! Bis zu 50 Euro im Monat, wie es im
Koalitionsvertrag steht.
„Mein Anspruch: versprochen, beschlos-
sen – und dann muss auch geliefert wer-
den“, sagt Schwesig. Sie würde die Gebüh-
ren gern gleich ganz abschaffen, aber dazu
fehlt ihr bisher das Geld. Dafür gibt es noch
Schwesigs Problem ist
ihre winzige Hausmacht,
sie führt den kleinsten
SPD-Landesverband.
ein paar schöne Fotos. „Ich bin Manuela,
und wie heißt du?“, fragt sie die Kinder.
Eigentlich wollte sie mal Erzieherin wer-
den. Doch weil sie so gut in Mathe war, er-
zählt sie, habe man ihr zu einer Laufbahn
in der Finanzverwaltung geraten.
Lange hieß es, sie könne besser rechnen
als reden. Sie habe viel gelernt in ihrer
Ministerzeit in Berlin, bescheinigen ihr
jetzt Beobachter. Sie ist durchsetzungsstark,
einen Parteitag begeistern kann sie nicht.
Sie ist kontrolliert, manchmal vielleicht zu
sehr. Sie hat etwas Aufgeräumtes, Klares.
Mehr Stringenz möchte sie auch in ihrer
Partei. „Die SPD muss klar sein und ihre
Positionen durchhalten.“ Auf dem Partei-
tag bekam sie ein gutes Ergebnis, das
zweitbeste sogar, 86 Prozent. Aber es war
keine Liebeserklärung wie an Malu Dreyer,
die Ministerpräsidentin aus Rheinland-
Pfalz, die mit 97,5 Prozent zur Vizepartei-
chefin gewählt wurde.
Schwesig hat das schwierigere Bundes-
land. Das Wirtschaftswachstum ist mit
1,3 Prozent niedriger als der Durchschnitt
der neuen Länder, die Arbeitslosigkeit lag
trotz Rückgangs 2017 noch bei fast neun
Prozent. Wirtschaft und Arbeit hat Schwe-
Deutschland
sig deshalb zu ihrem Schwerpunkt ge-
macht. Die Familienpolitikerin will sich
ein Wirtschaftsprofil aufbauen, das fehlt
der SPD. Nach einer Wahltagsumfrage
trauen nur 17 Prozent der Wähler der SPD
zu, die Wirtschaft voranzubringen.
Schwesig will Unternehmen anziehen,
sie kämpft aber gleichzeitig für höheren
Mindestlohn. In Mecklenburg-Vorpom-
mern liegt der Durchschnittslohn bei 2300
Euro, 800 weniger als im Westen, klagt
Schwesig. Um öffentliche Aufträge zu be-
kommen, sollen Unternehmen ihren An-
gestellten künftig mindestens 9,54 Euro
pro Stunde zahlen, 70 Cent mehr als der
gesetzliche Satz.
20,8 Prozent holte die AfD bei der Land-
tagswahl 2016, wohl auch Ausdruck von
Zukunftsangst. Bei der Bundestagswahl
kam die SPD im Land nur noch auf
15,1 Prozent, hinter CDU, AfD und Linken –
eine Warnung für Schwesig, die da noch
keine hundert Tage im Amt war. Auch im
jüngsten MV-Monitor gaben die Bürger der
Landesregierung schlechtere Noten: 63 Pro-
zent bewerteten die Arbeit positiv, vor zwei
Jahren waren es noch 70 Prozent.
Schwesig will das Vertrauen der Bürger
zurückgewinnen durch viele Gespräche,
Volksbefragungen, sie geht zu Praxistagen
in Betriebe. Sie kann gut zuhören.
Während sie nun den Breitbandausbau
auf dem Land vorantreiben und zusehen
muss, dass der zwei Meter tiefe Krater in
der Ostseeautobahn bei Tribsees repariert
wird, diskutiert Andrea Nahles in Berlin
die großen Themen, die Demokratisierung
der digitalen Wirtschaft, die Zukunft der
Gesundheitsversorgung.
Nahles dürfte ihre stärkste Konkurrentin
sein, wenn diese sich als Fraktionsvorsit-
zende bewährt. Malu Dreyer, die derzeitige
Königin der SPD-Herzen, sagt bisher, sie
wolle nicht nach Berlin. Schwesigs Problem
ist ihre winzige Hausmacht. Mecklenburg-
Vorpommern ist der kleinste SPD-Landes-
verband mit wenigen Delegierten und nur
2721 Mitgliedern, Stand 2016, Nordrhein-
Westfalen, der größte Verband, hat 108 205.
Platzten die Gespräche mit der Union
in Berlin und würde ein neuer SPD-Kanz-
lerkandidat gebraucht, könnte Schwesig
Olaf Scholz unterstützen. Sie ist klug genug,
jetzt nicht anzutreten. Sie predigt Verläss-
lichkeit, da kann sie ihr Land nicht schon
wieder verlassen. Sie ist ohne Wahl ins
Amt gekommen, sie muss beweisen, dass
sie es kann. Die nächste Landtagswahl ist
im September 2021, zeitgleich mit der Bun-
destagswahl, schwierig für eine Kandidatur.
Bliebe das Rennen um den Parteivorsitz.
Wenn Schwesig darüber spricht, was nö-
tig ist, um in der Politik Erfolg zu haben,
sagt sie: „Die Person muss stimmen – aber
auch ihre Bilanz.“
Das gilt dann auch für sie.
Annette Großbongardt
DER SPIEGEL 3 / 2018 33
 Der Echtzeitwahnsinn
Essay Wenn Kommunikationsmittel die Kommunikation verhindern.
Von Stefan Berg
D
as erste Opfer der neuen, unbegrenzten medialen
Möglichkeiten war der Freidemokrat Johannes
Schmalzl aus Stuttgart. Im September 2011 wollte
ihn die Bundesregierung zum Generalbundesanwalt
machen. Doch in den Ländern gab es Bedenken. Der
Kandidat, schrieb damals Brandenburgs Generalstaatsan-
walt Erardo Rautenberg an Bundesjustizministerin Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, verfüge nicht über aus-
reichende Erfahrungen.
Kaum hatten die Agenturen eine SPIEGEL-Meldung
über den Einspruch verbreitet, verfasste Schmalzl eine
wütende Mail an den Brandenburger Ermittler: „Nieder-
trächtig“ sei dessen Brief, dem Verfasser fehle „jegliche
charakterliche Eignung sogar zur Führung einer Kleinstbe-
hörde …“ Eine Sekretärin hätte womöglich gemahnt,
Schmalzl möge noch einmal nachdenken, doch er – ohne
Sekretärin, aber mit iPhone – drückte den Befehl „Sen-
den“. Damit war er als Kandidat erledigt. Die Schmäh-
Mail bestätigte nur die Bedenken. Ein Generalbundesan-
walt darf sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lassen.
MICHAEL KAPPELER / DPA
ODD ANDERSEN / AFP
Handynutzer im Bundestag: Medialer Fast-News-Wettbewerb
34 DER SPIEGEL 3 / 2018
Weitaus härtere Konsequenzen könnte nun ein soge-
nannter Tweet der AfD-Politikerin Beatrix von Storch
haben, in dem von „barbarischen, muslimischen, grup-
penvergewaltigenden Männerhorden“ die Rede ist. Die
Justiz wird klären, ob der Tatvorwurf der Volksverhetzung
erfüllt ist.
Vielen im politischen Berlin dämmert, dass sich die se-
gensreichen Wirkungen der neuen Medien in Grenzen
halten. Nicht in allem, auf dem „social“ draufsteht, ist
auch „sozial“ drin. Geschwindigkeit (wie im Fall Schmalzl,
versehentlich) und Verknappung (wie im Fall Storch, ab-
sichtlich) brutalisieren die Sprache. Sie zerstören die Kom-
munikation, der sie zu dienen vorgeben.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat in
einem Rundschreiben an die „sehr geehrten Kollegen und
Kolleginnen“ zur Handy-Enthaltsamkeit im Plenarsaal
aufgerufen. „Unerwünscht“ sei die Nutzung technischer
Geräte zum Versenden von Bildern oder Nachrichten aus
dem Plenarsaal. Damit verlangt Schäuble von den Volks-
vertretern nicht mehr als jeder Lehrer von seinen Schülern.
KRISZTIAN BOCSI / BLOOMBERG VIA GETTY IMAGES
HANNIBAL HANSCHKE / REUTERS
STEFANIE LOOS / REUTERS
CHRISTIAN DITSCH / EPD

Zum Wohle der Konzentrationsfähigkeit und der deut-
schen Sprache. Nach dem Motto: Lieber Old School als
gar keine Erziehung. Das ist konservativ im besten Sinn
des Wortes. Man muss ja nicht gleich von der guten alten
Zeit schwärmen.
Aber ein Blick zurück darf bei der heutigen Echtzeit-
besessenheit erlaubt sein. Wolfgang Schäuble wurde im
Jahr 1972 Bundestagsabgeordneter. Das Fernsehprogramm
endete damals noch, dann flimmerte ein Testbild. Die
Deutschen hielten Nachtruhe.
Natürlich war früher nicht alles besser. Im Fernsehen
wurde so gequalmt, dass es aus der Röhre herauszustinken
schien. Aber ab und an eine Sendepause? Einmal nichts
sagen, wenn es nichts zu sagen gibt? Aus dem Jahr 1972
stammt auch ein legendäres ARD-Interview. Da speist
Kanzler Willy Brandt den Re-
porter Friedrich Nowottny mit
Wie viel Tempo knappen Antworten ab: Ja. –
Doch. – Nein. – Ja. Wäre so et-
und Überreizung was heute noch denkbar? In der
Mediengesellschaft?
verträgt die Heute besteht eher mediale
Demokratie? Lawinengefahr: Es gibt „Brenn-
punkte“ zu Unwettern, die noch
nicht begonnen haben, Kom-
mentare zu Ereignissen, die noch nicht stattgefunden
haben, und Liveticker zur Beerdigung von Helmut
Schmidt, nicht erst, wie man glauben könnte, bei dessen
Auferstehung.
Es grassiert die Live-eritis. Beispiel: die schwarz-gelb-
grünen Sondierungsgespräche in Berlin. Der „Tages-
schau“-Sprecher erklärt, die Gespräche dauerten an, noch
seien keine Ergebnisse bekannt. Punkt. Punkt aus? I wo.
Wir schalten live zu unserem Reporter nach Berlin. Was
gibt’s vor Ort? Und dann erklärt der Kollege, nun ja, man
stehe hier und warte. Dazu Bilder, großer Schatten hinter
Gardine – vermutlich Peter Altmaier? Oder Claudia Roth?
Es sei leider noch nichts Genaues nach draußen ge-
drungen … Ergebnisse womöglich gegen Mitternacht. Und
damit zurück nach Hamburg. So ähnlich hatte es der Mann
im Studio auch gesagt.
Eine seltsame Ambivalenz prägt die Medienlandschaft.
Dank der unendlichen Weiten des Internets gibt es – ers-
tens – die Platzbeschränkung der traditionellen Medien
nicht mehr. Jeder kann schreiben, posten, versenden, so-
viel er will. Nur hat sich das, was es mitzuteilen gibt, nicht
im gleichen Maße vergrößert wie der Platz, der zur Ver-
fügung steht.
Z
weitens kann eine Nachricht – oder was dafür ausge-
geben wird – jederzeit herausgepustet werden. Doch
mit dem Abstand zwischen Ereignis und Berichter-
stattung schrumpfen auch die Zeiten, die dafür genutzt
werden könnten, Informationen zu verifizieren, einzuord-
nen und zu beurteilen.
Der Qualitätswettbewerb ist vor allem ein Tempowett-
bewerb. Jedes Medium kämpft um Zitate und Bilder, mög-
lichst originelle selbstverständlich. Und schon rollt die La-
wine los, ob Syrienkrieg, Sondierungen, Attentat oder An-
schlag. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht. Es
geht voran.
Selbstverständlich sind die politischen Akteure Haupt-
personen in diesem Wettlauf um Aufmerksamkeit. Denn
sie möchten den Raum in den neuen Medien nicht der
politischen Konkurrenz überlassen. Das physikalische
Gesetz gilt ja noch: Wo ein Körper ist, kann kein zweiter
Deutschland
sein. Wo meine Schlagzeile ist, kann keine andere hin.
Politiker wollen vor allem die Deutung der Geschehnisse
– den Spin – kontrollieren. Ist ein politisches Zugeständnis
ein kluger Kompromiss, oder ist da jemand umgefallen?
Wie einst im Western der Cowboy gewann, der zuerst
den Colt zog, gewinnt nun meist der Politiker, der zuerst
zum Handy greift.
Diese Art der Kommunikation verhindert Kommuni-
kation, weil die Kette von Ereignis, Kurznachricht, Reak-
tion, nächster Nachricht und Reaktion darauf zu einem
babylonischen Durcheinander geraten kann.
S
chon der Kurzzeit-SPD-Chef Matthias Platzeck hat
einmal darüber geklagt, dass er während einer Sit-
zung der Parteiführung bereits von draußen per SMS
mit den drinnen noch gar nicht gefassten Beschlüssen kon-
frontiert worden sei. Längst lief vor der Tür die Deutungs-
schlacht. Sie hatte ihr unbeherrschbares Eigenleben ent-
wickelt. Auf der Pressekonferenz war kaum Neues mitzu-
teilen. Die Ereignisse kamen gar nicht so schnell hinterher.
Walter Ulbrichts Wort bekommt da einen ganz neuen
Sinn: überholen, ohne einzuholen. Der Durst nach Neuem
ist unstillbar. Rasch ist etwas „durch“, wie wir Journalisten
sagen.
Die Folgen dieses Spektakels: Die Politik gibt den Raum
und die Zeit auf, die sie eigentlich zum Nachdenken, noch
besser: zum Vordenken, über ein überkomplexes Gesche-
hen benötigt.
Politiker tragen per Twitter zu dem Umstand bei, den
sie später beklagen: dass viele Leute sich nicht gründlich
genug informierten, so kurz dächten, wie ein Tweet lang
sei. Wer komplizierte Sachverhalte und Entscheidungsab-
läufe per Twitter kommentiert, muss sich deshalb über
den Erfolg der populistischen Vereinfacher nicht wundern.
Der Tweet ist Populärverknappung pur.
Diese Blitzkommunikation lässt die Entscheidungswege
als noch langwieriger erscheinen, als sie es in der Demo-
kratie ohnehin schon sind. Die altehrwürdige Regierungs-
maschinerie mit ihren Kontrollinstanzen wirkt plötzlich
total antiquiert.
Der mediale Fast-News-Wettbewerb um Aufmerksam-
keit spielt Schlagwortlieferanten in die Hand. Der Linken-
politiker Dietmar Bartsch, geschätzt wegen seiner Serio-
sität, brachte es vor Monaten auf den Punkt: Die Journa-
listen, so Bartsch, gingen schon gern mit ihm essen, um
sich zu unterhalten.
Interviewen würden sie am Ende dann doch Sahra Wa-
genknecht. Bartschs Vorwurf: An Differenzierung seien
viele Journalisten nicht interessiert. Hauptsache, das Ka-
russell drehe sich hübsch weiter.
Wie viel Tempo verträgt die Demokratie? Und was
macht die Reizüberflutung mit den Wählern? Ermüden
sie, erlahmt die Aufmerksamkeit? Macht die Überreizung
alles reizlos? Wird im großen Nachrichtenstrom am Ende
alles gleich wichtig und unwichtig? Und: Kann es sein,
dass nur Diktatoren mithalten können mit dem neuen
Tempo?
Sie brauchen nicht die endlosen und schwierigen Dis-
kussionsrunden, Sondierungsrunden und die Kompromiss-
formelfeilscherei. Sie entscheiden in Echtzeit.
Dabei ist der „Fortschritt eine Schnecke“. Das „Schne-
cken“-Tagebuch von Günter Grass endet mit der Mahnung:
Nur wer den Stillstand im Fortschritt kenne, wer schon
einmal, wer mehrmals aufgegeben habe, könne den Fort-
schritt ermessen. Das Buch erschien 1972. In dem Jahr, als
Wolfgang Schäuble Bundestagsabgeordneter wurde. I
DER SPIEGEL 3 / 2018 35
Deutschland
Albtraum wegen Mama
Unterhalt Gabriele Dietz-Paulig kam als Kind ins Heim. Ihre Mutter kümmerte sich nicht, trotzdem
soll sie heute deren Pflegekosten zahlen – vom Kampf gegen ein zweifelhaftes Gesetz.
A
m 8. August 2016 bekam Gabriele
Dietz-Paulig einen Brief, es waren
nur ein paar Sätze in Amtsdeutsch,
doch nachdem sie das Schreiben gelesen
hatte, besorgte sie sich einen Anwalt. Und
einen Psychotherapeuten.
Der Brief kam aus Offenburg, Absender
war das Amt für Soziales und Versorgung.
Oben stand fett gedruckt: Sozialhilfe für
Rosa Dietz, geboren am 1. März 1934.
Es war ein Name, den Gabriele Dietz-
Paulig lange nicht gehört hatte. Der Name
ihrer Mutter.
Darunter folgten diese Zeilen: „Wir tei-
len Ihnen mit, dass Ihre oben genannte
Angehörige Leistungen nach
den Bestimmungen des Sozi-
algesetzbuchs XII bezieht.
Der Aufwand beträgt monat-
lich circa 1800 Euro. Die oben
genannte Person hat dem
Grunde nach gegen Sie einen
Unterhaltsanspruch.“
Mit anderen Worten: Rosa
Dietz kann sich ihr Leben im
Alter nicht selbst leisten, des-
wegen bekommt sie Hilfe
vom Staat. Das Sozialamt im
baden-württembergischen Or-
tenaukreis bezahlte ihr zu-
nächst das Essen auf Rädern
und die ambulante Pflege, in-
zwischen übernimmt es Kos-
ten für das Heim, in dem die
Seniorin seit einigen Monaten
lebt. Das Geld dafür möchte
das Amt zurückhaben, von ih-
rer Tochter.
Zusammen mit dem Brief
bekam Dietz-Paulig einen
Fragebogen, sie sollte ange-
ben, was sie und ihr Ehemann
verdienen, welches Vermögen
sie besitzen. Sie sollten Versi-
cherungsscheine einreichen,
Steuerbescheide und Bilan-
zen. Das Schreiben endete
mit den Worten: „Wir gehen
davon aus, dass Sie dieser ge-
setzlichen Verpflichtung nach-
kommen.“ Andernfalls müsse
man „eine Zwangsgeldandro-
hung“ erlassen. Mit freundli-
chen Grüßen.
Dietz-Paulig hat den Brief
in den vergangenen Monaten
immer wieder zur Hand ge-
nommen und gelesen. Es sei
jedes Mal „wie ein Albtraum“,
36 DER SPIEGEL 3 / 2018
sagt sie. An einem Nachmittag im vergan-
genen Dezember sitzt sie in ihrem Wohn-
zimmer in Rodgau, einer Kleinstadt bei
Frankfurt am Main. Sie ist 55 Jahre alt,
eine zierliche Frau mit kurzen blonden
Haaren. Vor ihr liegt der Brief vom Amt,
daneben Ordner mit Bescheinigungen,
handgeschriebenen Briefen und Fotos aus
Dietz-Pauligs Kindheit. Es sind Dokumen-
te eines deformierten Lebens, so sieht
sie es.
Dietz-Paulig wuchs im Kinderheim auf.
Seit sich das Amt gemeldet hat, liege sie
fast jede Nacht wach, erzählt sie. Sie frage
sich, warum sie das Leben der Frau finan-
Klägerin Dietz-Paulig
„Ich fühlte mich ungewollt“
zieren soll, von der sie als Säugling weg-
gegeben und im Stich gelassen worden sei.
Die Frau, zu der sie nie „Mutter“ gesagt
habe, die sie nur als „diese Person“ be-
zeichnet. Sie sagt: „Diese Person ist meine
biologische Mutter, mehr ist sie nicht für
mich.“
Altwerden in Deutschland kann teuer
sein, auf mehr als 20 Milliarden Euro be-
laufen sich die Kosten für Pflege jedes Jahr.
2,2 Millionen Menschen über 65 Jahre müs-
sen zu Hause oder im Heim gepflegt wer-
den, doch ungefähr jeder Sechste kann
sich das allein nicht leisten, weil sein Ver-
mögen und die Renten nicht genug herge-
ben. In solchen Fällen springt
der Staat ein, die Sozialämter
zahlen pro Jahr mehr als
3 Milliarden Euro für die ar-
men Alten.
Es ist ein System, das bald
an seine Grenzen kommen
könnte. Bis 2030 werden vo-
raussichtlich schon 3,5 Millio-
nen Bürger in Pflege leben.
Die Sozialämter prüfen, ob
die Senioren Kinder haben,
auf die sie die Kosten umle-
gen können.
Töchter und Söhne sind ge-
setzlich zum sogenannten El-
ternunterhalt verpflichtet.
Und trotzdem streiten Juris-
ten seit Langem darüber.
Auch wegen Fällen, die Heim-
kinder wie Gabriele Dietz-
Paulig betreffen. Es geht um
die Frage, was Familie bedeu-
tet, wie weit der Staat bei sei-
nen Forderungen gehen darf.
Wann ist der Unterhalt der ei-
genen Eltern selbstverständ-
lich, und wann wird er zu ei-
ner Strafe für die Kinder?
In ihrem Wohnzimmer
tippt Dietz-Paulig mit dem
Finger auf ein Schwarz-Weiß-
Foto aus ihrer Kindheit, es
wurde in den Sechzigerjahren
aufgenommen: Sie steht im
Kreis von anderen Heimkin-
PETER JUELICH / DER SPIEGEL
dern und Nonnen. Das sei
ihre Familie, sagt sie.
Sechs Wochen nach ihrer
Geburt wurde sie in ein Säug-
lingsheim gegeben, später
kam sie ins Theresien-Kinder-
heim nach Offenbach. Sie
wuchs bei den Karmelitinnen
auf, einem strengen Orden der katholi-
schen Kirche.
Ihr Vater sei damals wegen Betrugs im
Gefängnis gewesen, sagt Dietz-Paulig,
ihre Mutter habe als Stationshelferin im
Krankenhaus gearbeitet und konnte sich
nicht um sie kümmern. So ist es auch in
ihrer Heimakte vermerkt, die sie aufge-
hoben hat.
Ihr Leben im Heim war hart, sie hatte
oft Brechanfälle, als Dreijährige litt sie an
einer offenen Tuberkulose und verbrachte
ein halbes Jahr in einer Kinderheilstätte.
Die Schwestern hielten in der Akte fest,
dass sie „sehr schwach“ sei, „auffallend
blass“ und „ein schlechter Esser“.
Dietz-Paulig erzählt von den Ratten, die
nachts durch den Schlafsaal im Heim lie-
fen. Und von der Leiterin, von der sie Ohr-
feigen bekommen habe, weil sie sich ge-
weigert hatte, die Straße zu kehren. An je-
dem zweiten Sonntag konnten die Eltern
ihre Kinder für Ausflüge abholen. Dietz-
Paulig sagt, dass sie an diesen Tagen als
Einzige im Heim sitzen geblieben sei. Ihr
läuft eine Träne über die Wange, als sie
von ihren Sonntagen berichtet.
Nur manchmal, an Weihnachten oder
in den Ferien, fuhr sie zu ihrer Mutter. Ein-
mal fragte sie nach: Warum hast du mich
weggegeben? „Sie meinte, dass sie arbei-
ten musste und dass ich es im Heim doch
gut gehabt hätte“, sagt Dietz-Paulig. „Ver-
trauen, Liebe, Zuneigung, das alles habe
ich von ihr nie bekommen. Ich fühlte mich
ungewollt und habe lange Zeit mir selbst
die Schuld dafür gegeben.“
Mit 18 Jahren zog sie aus dem Heim aus.
Sie begann eine Ausbildung als Lithografin,
das Jugendamt gab ihr 1000 Mark Starthil-
fe. Von ihrer Mutter, sagt Dietz-Paulig,
habe sie nie Geld bekommen. Sie wurde
Mediengestalterin, machte Karriere, heute
ist sie Abteilungsleiterin in einer Werbe-
agentur, die für Unternehmen wie Opel
arbeitet. Aus dem blassen Heimkind ist
eine Managerin geworden, doch das ist
jetzt auch ein Problem für sie.
Wer gut verdient, muss zahlen. Der El-
ternunterhalt richtet sich nach dem Ein-
kommen. 3240 Euro im Monat dürfen ver-
heiratete Kinder wie Dietz-Paulig mindes-
tens behalten, bei Alleinstehenden sind es
1800 Euro. Etwa die Hälfte des Restes steht
zur Disposition für die Eltern.
Die Berechnungen sind kompliziert und
können sich alle paar Monate ändern. Zur-
zeit möchte das Sozialamt 768 Euro im
Monat von Dietz-Paulig haben. Und weil
sie sich seit anderthalb Jahren dagegen
wehrt, sind die vermeintlichen Schulden
für ihre Mutter auf 13 038,79 Euro ange-
wachsen, plus Zinsen.
Es ist schwierig, die Ansprüche anzu-
fechten. Selbst Kinder, die jahrzehntelang
keinen Kontakt zu ihren Eltern hatten oder
enterbt wurden, müssen damit rechnen zu
Kindergruppe des Theresien-Heims*: „Meine Eltern waren verantwortungslos“
bezahlen. Das hat der Bundesgerichtshof
2014 so entschieden.
Nur wenn sich Mütter und Väter etwa
wegen „schwerer Verfehlungen“ an ihren
Kindern schuldig gemacht haben oder
wenn eine Unterhaltsforderung „grob un-
billig“ ist, kann das Recht auf Elternunter-
halt „verwirkt“ sein, so will es das Gesetz.
Dietz-Paulig ließ das Sozialamt wissen,
dass sie die ersten 18 Jahre ihres Lebens
im Heim verbracht hat, fast ohne Kontakt
zu ihrer Mutter. Daraufhin bekam sie
einen weiteren Brief aus Offenburg: „Im
vorliegenden Fall kann ein Härtefall nicht
bejaht werden“, schrieb das Amt. Was so
viel heißt wie: Bitte trotzdem zahlen.
„Der Gedanke, meine
Mutter nach dieser
Kindheit zu finanzieren,
bereitet mir Qualen.“
Bislang ließ sich aufseiten der Behörde
nicht aufklären, warum Dietz-Paulig im
Heim aufwachsen musste. Das Amt geht
erst mal davon aus, dass die Mutter „mög-
licherweise aus gesundheitlichen Gründen“
nicht in der Lage war, ihre Tochter selbst
zu betreuen. Daher treffe sie eventuell kei-
ne Schuld.
Dietz-Paulig muss an sich halten, wenn
sie so etwas hört. Sie sucht in ihrem Foto-
album nach Bildern ihrer Geschwister. Vier
Mädchen und einen Jungen hat ihre Mutter
zur Welt gebracht, vier Kinder wurden we-
nige Tage nach der Geburt weggegeben.
Sie landeten in verschiedenen Heimen oder
* Mit Gabriele Dietz-Paulig (3. v. r) Ende der Sechziger-
jahre.
in Pflegefamilien. Neben Dietz-Paulig ha-
ben auch zwei ihrer Schwestern im August
2016 Post vom Sozialamt bekommen.
„Meine Eltern waren nicht krank, son-
dern verantwortungslos“, sagt Dietz-Pau-
lig, „sie haben Kinder gezeugt, ohne über
die Konsequenzen nachzudenken. Meine
Mutter hat es verpasst, für ihren Lebens-
abend vorzusorgen, genauso wie sie es ver-
passt hat, für uns zu sorgen.“
Sie habe viel für die Fehler ihrer Mutter
bezahlt, als ehemaliges Heimkind würde
sie allem und jedem misstrauen. „Allein
der Gedanke daran, meine Mutter nach
dieser Kindheit zu finanzieren, bereitet
mir Qualen.“
Dietz-Paulig hat den Anwalt Michael
Klatt engagiert, einen Sozialrechtler aus
Oldenburg, der über tausend Mandanten
in ihrem Kampf gegen den Elternunterhalt
vertreten hat: Eine Frau aus Bremen wei-
gerte sich, für ihre Mutter zu bezahlen, da
sie bei ihren Großeltern aufgewachsen war.
In München stritt eine Frau mit dem Amt,
weil sie wie Dietz-Paulig in einem Heim
groß wurde. Die Stadt ließ die Forderun-
gen schließlich fallen.
Das Sozialamt in Offenburg will das
nicht, deswegen haben Dietz-Paulig und
ihr Anwalt jetzt Klage eingereicht. Die Sa-
che geht vor Gericht, kommende Woche
ist der erste Verhandlungstag.
Ihre Chancen stünden 50:50, glaubt ihr
Anwalt. Jeder Kontakt zwischen ihr und
ihrer Mutter wird vor Gericht erörtert wer-
den, jeder Besuch, jedes Telefonat bewer-
tet. Wollten sich die beiden irgendwann
versöhnen? War die Mutter tatsächlich zu
krank, um sich zu kümmern? Falls das Ge-
richt zu diesen Schlüssen kommt, könnte
Dietz-Paulig den Rechtsstreit verlieren.
An ihrem Wohnzimmertisch kramt sie
jetzt einen handgeschriebenen Brief her-
DER SPIEGEL 3 / 2018 37

vor, den sie 2006 an ihre Mutter geschickt
und vorher noch kopiert hat. Darin heißt
es: Du möchtest, dass ich Dir zum Mutter-
tag gratuliere? Der Muttertag gilt den vie-
len Müttern auf der Welt, die ihre Kinder
großgezogen haben. Also komm Du mir
bitte nicht mehr mit Muttertag!
Dietz-Paulig sagt, sie wolle das vor Ge-
richt vorlesen. Der Prozess zwingt sie dazu
zu zeigen, wie sehr sie ihre Mutter verach-
tet. Leicht fällt ihr das nicht, sie gehe zur-
zeit alle zwei Wochen zu einem Psycho-
therapeuten, sagt sie.
Die Politik hat sich immer wieder mit
dem Schicksal ehemaliger Heimkinder be-
schäftigt. 2012 richtete die Bundesregie-
rung Fonds ein, aus denen Betroffene ent-
schädigt werden sollten. Man wollte es
Menschen wie Gabriele Dietz-Paulig er-
leichtern, ihre Vergangenheit, ihre Trau-
mata zu verarbeiten. Doch ihr Fall wirft
auch die Frage auf, wie weit die Empathie
des Staates geht. Hört sie beim Streit um
den Unterhalt auf?
Ingrid Fischbach, CDU, ist Pflegebeauf-
tragte der Bundesregierung und eine Ver-
fechterin des Elternunterhalts. In Familien
müsse man Verantwortung füreinander
übernehmen, sagt sie. Eltern für Kinder,
aber auch Kinder für Eltern.
Die Verzweiflung von Dietz-Paulig kön-
ne sie trotzdem verstehen. „Vom Herzen
und vom Verstand her ist es schwer nach-
zuvollziehen, dass Kinder, wenn sie ohne
Notlage einst weggegeben wurden, später
für ihre Eltern aufkommen müssen“, sagt
Fischbach. Bei diesem Thema gebe es
„politischen Diskussionsbedarf“.
Rosa Dietz sitzt vor einer Tasse Kaffee
in ihrem Seniorenheim in Offenburg, ne-
ben ihr steht ein Rollator. Man kann sie
fragen, warum ihre Kinder nicht bei ihr
aufgewachsen sind und was sie davon hält,
dass ihre Töchter für sie Unterhalt bezah-
len sollen. Antworten bekommt man nicht.
Sie schafft es kaum, sich an die Namen
ihre Kinder zu erinnern.
Sie hat den Pflegegrad 3: erheblich
eingeschränkte Alltagskompetenz. Vor
Gericht wird sie deswegen nicht vernom-
men. Die Frau, um die so erbittert gestrit-
ten wird, bekommt davon nichts mehr mit.
Der Mann, mit dem sie verheiratet war, der
Vater von Dietz-Paulig, lebt nicht mehr.
Mutter und Tochter trafen sich zum letz-
ten Mal 2011, bei der Beerdigung einer
Verwandten. Dietz-Paulig sagt, sie hätten
sich damals kaum miteinander unterhalten.
In den vergangenen Jahren habe ihre
Mutter aber immer mal wieder bei ihr an-
gerufen. Einmal hinterließ sie eine Nach-
richt auf dem Anrufbeantworter der Toch-
ter: „Es tut mir leid. Ich weiß, dass ich
schuld bin.“
Gabriele Dietz-Paulig hat nie zurück-
gerufen. Lukas Eberle
Mail: lukas.eberle@spiegel.de
38 DER SPIEGEL 3 / 2018
Der Agitator
Karrieren Als Kommunist kämpfte Jürgen Elsässer gegen National-
staat und Familie. Heute ist er der Chefpropagandist der rechten
Szene und Wladimir Putins größter Fan. Von Melanie Amann
16. Juni 2015, 16.20 Uhr
Sehr geehrte Frau Amann,
wir stehen weder für Interviews
noch für Hintergrundgespräche zur
Verfügung, sofern der Anfrager,
wie in diesem Fall, die Lügenpresse
ist. Hätten Sie Berufsethos und
Courage, würden Sie beim Spiegel
kündigen. Dann können Sie sich
gerne noch mal melden.
Mit freundlichen Grüßen, Elsässer
E
in Jahr später, im Mai 2016, tritt Jür-
gen Elsässer in Magdeburg auf. Der
Veranstaltungsort, das Halber85, liegt
an einer vierspurigen Ausfallstraße. Hier
fährt vorbei, wer Magdeburg schnell in
Richtung Autobahn verlassen will. Eine
übermannshohe Weinflasche weist den
Weg in die alte Industriehalle, vorbei an
bulligen Sicherheitsmännern mit Klemm-
brettern. Drinnen dann Bierzeltatmosphä-
re, auf den langen Tischen liegen Gratis-
ausgaben von Elsässers Magazin „Com-
pact“ zwischen Flyern der AfD.
„Compact“ hat eine Lesung von Akif Pi-
rinçci organisiert. Gut hundert Gäste sind
gekommen, um sein Buch „Umvolkung“
kennenzulernen. Elsässer stellt Pirinçci vor
als einen „vom Volk geliebten, aber von
den Eliten gehassten Schriftsteller“.
Seine Aufführung hat drei Teile. Erster
Akt: ein Referat des rechten Verlegers
Götz Kubitschek. Er ist der Einzige, der
Pirinçcis Bücher noch veröffentlicht. Ku-
bitschek sagt: „Es geht letztlich nur noch
um die Verteidigung des Eigenen, nicht
mehr um das Aus- oder Übergreifen in an-
dere kulturelle Großräume.“
Zweiter Akt: Pirinçci. Er schimpft auf
die „millionenfache Moslem-Invasion“
und die „Fuck-and-forget-Strategie“ der
Afrikaner – „alles bezahlt vom deutschen
Depp“. Bei Kubitschek hatten viele Zuhö-
rer abgeschaltet, bei Pirinçci schauen sie
verschämt in ihre Biergläser. Der eine ist
zu intellektuell, der andere zu vulgär.
Elsässer, dritter Akt, trifft genau den
richtigen Ton. „Mein Name ist Jürgen El-
sässer, ich bin Deutscher, und ich will nicht
zulassen, dass dieses wunderschöne Land
vor die Hunde geht“, ruft er.
„Jawoll!“, schallt es zurück.
Elsässer spricht frei, ohne Manuskript,
ohne Stocken. Er ist das große Publikum
gewohnt, ein Mann für die Massen. Als
Einziger trägt er Anzug und Krawatte,
aber er steht so lässig am Rednerpult wie
andere an der Theke. Elsässers Auftritte,
eine Mischung aus evangelikalem Prediger
und Teleshopping-Moderator, funktionie-
ren unabhängig von seiner Botschaft. Die
hat sich mit den Jahren stark verändert.
Der Publizist ist politisch einen weiten
Weg gegangen, vom Kommunistischen
Bund durch die linken Zeitungsredak-
tionen der Republik bis ins Milieu der Ver-
schwörungstheoretiker, schließlich zu Pe-
gida und auf die Bühnen der AfD. Einmal
von linksradikal nach rechtsaußen.
Der alte Elsässer kämpfte gegen Kriegs-
treiber und Antisemiten, denen man nur
mit „Baseballschlägern“ beikommen kön-
ne. Die traditionelle Familie wollte er zer-
schlagen, und den Staat sowieso.
Der neue Elsässer ist Patriot, ein deut-
scher Stephen Bannon. Er vergöttert Wla-
dimir Putin und verabscheut Angela Mer-
kel. In seinem „Compact“-Magazin schreibt
er Sätze wie: „Wir leben in einer Bananen-
republik. Die Mutti an unserer Spitze leckt
die Stiefel – oder Schlimmeres – fremder
Despoten.“
Warum dieser Wandel? Welcher Elsäs-
ser ist der echte? Oder hat er sich vielleicht
gar nicht so sehr verändert? War der Weg
nach rechts für ihn nur ein kleiner Schritt?
17. Juli 2017, 11.19 Uhr
Liebe Frau Amann,
nachdem ich via XXX und YYY jetzt
Gutes über Sie erfahren habe …
will ich mich gerne mit Ihnen treffen,
wenn mal wieder was anliegt.
Herzlich, Elsässer
Das Treffen klappt vier Wochen später,
wieder in Magdeburg, wieder im Halber85,
wieder vorbei an der Riesenweinflasche
und den Sicherheitsleuten. An diesem Wo-
chenende richten Elsässer und die AfD-
Fraktion Sachsen-Anhalt hier einen „Russ-
landkongress“ aus. Mindestens 200 Gäste
sind dieses Mal gekommen, wieder viele
junge Leute und viel AfD-Prominenz.
Elsässer steht in einem schattigen In-
nenhof und raucht. Ein großer Mann mit
silbergrauer Mähne, er reckt das Kinn
vor und taxiert sein Gegenüber. „Ich weiß
gar nicht, was Sie eigentlich von mir wol-
len. Über mich ist doch alles bekannt. Ich
bin ein offenes Buch.“ Er grinst. Elsässer
lässt sich gern bitten, aber er erzählt auch
gern.
 Deutschland

Schließlich geht es um die größte denk-

bare Geschichte: sein Leben.
Aber erst muss er seine Rede halten.
„Wir Deutschen sind ein großes Volk“, sagt
Elsässer, aber: „Wir sind leider oft mit un-
serer politischen Führung, und damit mei-
ne ich nicht nur den Adolf, sondern auch
andere, zu mildtätig, zu schafsköpfig ver-
fahren. So konnten die uns und andere ins
Verderben führen.“ Er stellt Hitler in eine
Reihe mit den Kanzlern der Bundesrepu-
blik. Den Namen Merkel muss er gar nicht
mehr aussprechen.
Jürgen Elsässer wurde 1957 als Sohn eines
Uhrmachers und einer Sekretärin geboren.
Seine zwei Schwestern und er seien typisch
linke Spät-68er gewesen, erzählt er, der Va-
ter ein konservativer CDU-Wähler. „Sobald
es politisch wurde, haben wir uns gestritten.
Aber als Familie haben wir zusammenge-
halten. Die Eltern haben die Kinder geliebt,
und wir haben die Eltern geliebt.“
Zu den Linken findet Elsässer auf dem
Gymnasium in Pforzheim. Hier trifft er,
der bisher nur die braven Volksschüler in
seinem Heimatdorf kannte, plötzlich lang-
haarige Typen mit Jeans. Was für ein Le-
bensgefühl! Und Mädchen, die bei Partys
mit wehenden Haaren auf den Tischen tan-
zen. Wahnsinn, wie entfesselt!
Bald teilt er ihr Weltbild, den Zorn auf
den Vietnamkrieg und den US-Imperialis-
mus, die Angst vor dem Atomkrieg, die So-
lidarität mit Arbeitern und Hausfrauen. Aber
wichtig ist ihm auch, dass es Action gibt und
„ein bisschen Glamour“. Als seine Mitstreiter
später die Parole „Nie wieder Deutschland!“
ausgeben, klebt Elsässer dazu ein Bild von
Marlene Dietrich. „Die war auch gegen die
Nazis, aber kam nicht so verbiestert rüber.“
Elsässer wird Lehrer. Er entgeht knapp
dem Radikalenerlass, der Extremisten aus
dem öffentlichen Dienst ausschließt, leug-
net seine Verbindungen zum Kommunis-
tischen Bund und schwört auf die freiheit-
lich-demokratische Grundordnung. „Als
Kommunist darf man den Staat ja anlügen,
das war damals unsere Einstellung.“
Der Berufsschullehrer schreibt für linke
Blätter, 1994 gibt er die Sicherheit des Be-
rufsbeamtentums auf und zieht nach Ber-
lin. Er heuert bei der „Jungen Welt“ an,
einer linksradikalen Tageszeitung, die zu
DDR-Zeiten eine Millionenauflage hatte.
Ihr Slogan heute: „Sie lügen wie gedruckt.
Wir drucken, wie sie lügen.“
Der Verlag sitzt jetzt an der Torstraße
in Berlin-Mitte, gegenüber von einem
Prachtbau der Zwanzigerjahre, zeitweise
Sitz des SED-Zentralkomitees, jetzt das
HC PLAMBECK / DER SPIEGEL

SoHo House, ein edler Privatklub mit 1500

Publizist Elsässer: „Ein bisschen Glamour“
Euro Jahresbeitrag.
Dietmar Koschmieder, 62, Marxist und
Geschäftsführer der „Jungen Welt“, hat
zweimal versucht, mit Elsässer zusam-
menzuarbeiten. Er selbst kam als erster
Wessi in den Verlag, 1991, als die Auflage
DER SPIEGEL 3 / 2018 39
schon abstürzte. Elsässer kam drei Jahre
später.
Es war eine Zeit der Sinnsuche für Linke.
Ihre DDR, das gute, antifaschistische
Deutschland, war zusammengebrochen.
Aus linker Sicht hatten die Ostdeutschen
dem Sozialismus viel zu schnell abgeschwo-
ren und sich den westdeutschen Kapitalis-
ten an die Brust geworfen. Wofür, wogegen
sollten Linke noch kämpfen, fragten sie
sich? Viele sahen den Zug der Revolution
abgefahren, wollten nur noch das
Schlimmste verhindern, das System not-
dürftig mitgestalten – und sei es in der PDS.
Elsässer gehörte zu denen, die ihr Welt-
bild mit einer neuen Kampfansage retteten.
Dieses Mal eben gegen den wiedervereinig-

CHRISTIAN DITSCH / IMAGO

ten Staat: „Deutschland, halt’s Maul!“ Der
neue Elsässer wertet solche Antifa-Slogans
als Volksverrat.
Um solche Grundfragen geht es aber
nur vordergründig, als sich Koschmieder
und Elsässer 1997 überwerfen. Sie verkei- Antideutscher Elsässer 1998 in Berlin: Die Familie zerschlagen
len sich im Streit über die Blattlinie der
„Jungen Welt“ und um die Machtstruktu- auf dem Balkan verhindern, notfalls mit die nach alternativen Fakten dürsten.
ren der Redaktion. Nato-Bombern. Die anderen, darunter El- Um sie zu erreichen, braucht es nur ein
„Elsässer wollte aus uns eine massen- sässer, wollen lieber Frieden mit dem Modem.
taugliche, linke ,Bild‘-Zeitung machen“, Kriegsverbrecher. In Milošević sieht Elsäs- Bis heute propagiert Elsässer, dass 9/11
sagt Koschmieder. Kein Aufklärungs-, son- ser einen Staatenlenker, der den USA die ein „Inside-Job“ war, eingefädelt nicht
dern ein Unterhaltungsblatt, eine „Quick“ Stirn bietet und zum Wohl seines Volkes zuletzt von der „Israel-Lobby“. Deshalb
für das Volk, linker Populismus der feins- sogar mit politischen Todfeinden koaliert – erklärte er damals auch den Irakkrieg für
ten Sorte. Koschmieder will lieber einfach in einer „Querfront“-Regierung, über alle ein Verbrechen und für Verrat an der lin-
weitermachen wie immer, die Redaktion Lagergrenzen hinweg. ken Idee des Pazifismus. Sein Chef bei
mit einer neuen Führung auf kommunis- Elsässer bewundert Milošević, wird ein „konkret“, Hermann L. Gremliza, sah das
tisch-orthodoxen Kurs zwingen. Sprachrohr des Despoten in Deutschland. völlig anders und feuerte ihn schließlich.
Der Streit wächst sich zum Krieg aus, In den serbischen Lokalen von Berlin küs-
wochenlang wird die „Junge Welt“ von sen ihm Mütterchen mit Kopftuch gerührt 13. Dezember 2017, 11.15 Uhr
Streiks erschüttert. Eine Kampfabstim- die Hand: „Sie sind der einzige Freund un- Werte Frau Amann,
mung des Belegschaftskollektivs, die Ko- seres Volkes.“ Herr Gremliza hat uns gebeten,
schmieder klar gewinnt, bringt keinen Frie- Elsässer badet in der Wärme dieser Men- Ihnen für Ihre freundliche Anfrage
den. Denn Elsässers Leute hatten das Vo- schen, so wie später im Strom der „herzens- zu danken und Sie um Verständnis
tum boykottiert. Sie gehen schließlich mit guten“ Pegida-Demonstranten: „Ich mag zu bitten, dass er Vertreterinnen
einem Knall von Bord und gründen eine diese einfachen Leute, die mehr fühlen als oder Vertretern des rechten Milieus,
neue Zeitung. argumentieren. Die vor harter Arbeit gar kämen sie nun von Focus, Compact
Von da an beginnen Elsässers Wanderjah- keine Zeit haben zu denken, die aber jede oder Spiegel, nicht erklären will,
re nach rechts. Jede politische Kehrtwende Bedrohung sofort instinktiv spüren.“ wie einer oder eine Nazi wird. Sie
führt zum Bruch mit einer anderen Redak- Sein Heft ermutigt diese Leute, ihren kämen, meint er, noch ganz von
tion: Von der „Jungle World“ geht er zu Instinkten zu trauen, die Bedrohung ernst selber drauf.
„konkret“, wieder zurück zur „Jungen Welt“ zu nehmen. „Compact“ bringt die Volks-
und dann zum „Neuen Deutschland“. 2010 seele auf Betriebstemperatur für den Gremliza, eine Ikone der Linksintellek-
gründete er schließlich „Compact“. „Kampf ums Abendland“. tuellen, ist seit 1974 Herausgeber von „kon-
Elsässer selbst teilt sein Leben in Phasen Elsässers nächste „Phase“ bricht mit den kret“. Das Zerwürfnis mit ihm kostete El-
ein und kann jede ausführlich und eindring- Anschlägen vom 11. September 2001 an. sässer mehr als den Job, die beiden Män-
lich erklären. Wer ihm zu lange zuhört, dem Sie bringen das Weltbild des Antiamerika- ner waren Verbündete, Weggefährten,
erscheint es irgendwann geradezu zwin- ners ins Wanken: Sollten die USA Opfer Freunde. „Damals gab es den Ausspruch:
gend, dass jemand vom Kommunisten zum sein? Die islamistischen Mudschahidin Gremliza ist der Prophet und Elsässer sein
Rechtsideologen mutieren muss. kennt der Journalist nur zu gut aus seiner scharfes Schwert. Auf Hermann lasse ich
Mitte der Neunzigerjahre beginnt Elsäs- Balkanzeit, schlimme Typen, findet er. auch nichts kommen“, sagt Elsässer. Aber
sers „serbische Phase“, wie er sie nennt. Aber dann entdeckt er Leute, die ihm er leide nicht unter dem Verlust. „Inner-
Der Antideutsche erkennt plötzlich, dass den Weg zurück auf antiamerikanischen halb der Linken wird ja ständig miteinan-
Nationalstolz nichts Böses sein muss. In Kurs weisen. Propagandisten, deren Strahl- der gebrochen.“
Serbien regiert Slobodan Milošević, von kraft sogar Elsässer imponiert: die Ver- Die letzten linken Freunde verliert El-
dessen Herrschaft die Deutschen im Fern- schwörungstheoretiker. Sie erreichen ihr sässer in seiner dritten, der „souveränis-
sehen Massengräber sehen, geschändete Publikum ohne Journalisten, im Internet. tischen Phase“: Diether Dehm, Andrej
Leichen, zerstörte Städte. Damals muss Elsässer begriffen haben, Hunko, Oskar Lafontaine. Nun will Elsäs-
Die deutsche Linke ist wieder gespalten. dass es Zehntausende Menschen da ser den deutschen Staat gegen die Heu-
Die einen wollen ein „zweites Auschwitz“ draußen gibt, vielleicht Hunderttausende, schrecken der Wall Street verteidigen, und
40 DER SPIEGEL 3 / 2018

„Compact“-Titelbilder: Auf Betriebstemperatur für den Kampf ums Abendland
wenn auf seinen Demos auch die NPD mit-
läuft, stört es ihn nicht mehr.
Am 21. April 2014 hält er eine Rede am
Potsdamer Platz in Berlin. Er prangert die
globale Finanzelite an, „die nur dem einen
Götzen huldigen, dem kalten Mammon“.
Und zwar: „die Herren Rockefeller, Roth-
schild, Soros, Chodorkowski“. Das engli-
sche und das saudische Königshaus nennt
er auch noch, sicher ist sicher.
„Warum soll es Antisemitismus sein“,
fragt Elsässer die Menge, diese Raffkes an-
zuprangern? Der alte, linke Elsässer, der
hinter jeder Straßenecke Antisemiten wit-
terte, hätte ihm das erklären können.
In dieser Phase entdeckt der Ex-Kom-
munist auch die Religion wieder für sich,
tritt einer evangelischen Gemeinde in
Kreuzberg bei, die heute Yoga und
Deutschkurse für Flüchtlinge anbietet. Ge-
nau die Sorte Kirche also, die „Compact“
als „linksversifft“ geißeln würde. Aber der
Chefredakteur liebt die christlichen Ritua-
le, die Lieder. Er träumt von einer kirchli-
chen Hochzeit, seiner dritten. Noch ist er
nicht wieder aus der Kirche ausgetreten.
„Wenn Sie mich fragen, hat der Elsässer
gar keine Überzeugungen“, sagt Dietmar
Koschmieder. „Er ist ein Experte für Emo-
tionalisierung, der seine Botschaft dem je-
weiligen Ziel und Publikum anpasst.“
Elsässer nennt Koschmieder einen
„DKP-Betonkopf“ und sich selbst prinzi-
pientreu: „Ich war früher gegen das Sys-
tem und bin es noch immer.“ Nicht er habe
sich geändert, sondern die Machthaber.
„Da sind neue Torwächter aufgezogen, die
wollen die Diskurshoheit mit Sprachver-
boten an sich reißen. Aber das Volk sagt
trotzdem ,Neger‘, ohne es bös zu meinen.“
Elsässer wohnt in einer hellblau getünch-
ten Villa im brandenburgischen Falkensee.
Nur eine Hecke trennt das Haus von der
HC PLAMBECK / DER SPIEGEL
friedlichen, baumgesäumten Straße, es ist
mit Kameras ausgerüstet, aber es gibt kei-
nen Zaun und keine Alarmanlage.
Elsässers Haus ist auch der Redaktions-
sitz von „Compact“, im Erdgeschoss und
im Keller wird gearbeitet und gefeiert, im
Obergeschoss wohnt er mit seiner Freun-
din. Deshalb bemüht er sich lange, die
Adresse geheim zu halten, legt falsche
Fährten, vereinbart Treffen am anderen
Ende von Falkensee.
18. Dezember 2017, 8.41 Uhr
Liebe Frau Amann,
nachdem gestern die erste Antifa-
Demo vor unserem Haus war,
ist die Konspiration eh für die Katz.
Sie können also gerne kommen
und mich am Schreibtisch fotografie-
ren, oder an der nahen Pferdekoppel.
Herzlich, J. E.
Der Hausherr öffnet die Tür, im Mund-
winkel eine brennende Zigarette. Seine
Parfumwolke – „Aramis“ von Estée Lau-
der – vermischt sich mit dem Geruch von
kaltem Zigarettenrauch im Haus.
Etwas verquollen sieht Elsässer aus. Die
Partys der Redaktion gehen lang. Im Flur,
wie für den Besuch aufgebaut, ein kitschi-
ges Stillleben: ein Weihnachtsschlitten mit
Stapeln goldener Geschenkboxen und Ted-
dybären. Dahinter ein Plakat, auf dem der
islamische Halbmond über dem nächtli-
chen Reichstag prangt: „Fremd im eigenen
Land. Wie wir unsere Heimat verlieren“.
Wenn die „Compact“-Redakteure sich
in der Küche Kaffee kochen, sehen sie
durch das Fenster eine Fahne der Europäi-
schen Union, die ein Nachbar demonstra-
tiv in seinem Vorgarten gehisst hat. „Das
war höchstwahrscheinlich der, der uns der
Antifa verraten hat“, knurrt Elsässer.
Deutschland
Das Wohnzimmer dominiert eine rote
Ledersitzgruppe unter einer Weltkarte von
„National Geographic“. Von der Wand ge-
genüber lächelt milde der russische Präsi-
dent von einem „Compact“-Poster.
Mit einem gekachelten Fußboden wirkt
der Raum kalt und ungemütlich, die Schreib-
tische an den Stirnseiten wie eine Bühnen-
kulisse. Doch, hier arbeite er, beteuert El-
sässer, unter dem Bild des preußischen
Generalfeldmarschalls Blücher auf dem Weg
in die Schlacht gegen Napoleon.
Kaum ein „Compact“-Leser weiß wohl,
dass Elsässer sein Magazin gemeinsam mit
einem Muslim gründete: Andreas Abu
Bakr Rieger, Jurist, überzeugter Europäer,
Herausgeber der „Islamischen Zeitung“.
Die Partner hätten „Compact“ als Me-
dium der Verständigung konzipiert, sagt
Rieger, das Rechte und Linke, religiös oder
nicht, zusammenführt. Es war eine Quer-
front-Ideologie, nur ideologiefrei und to-
lerant. Doch von Anfang an stritten die
Partner, fühlte Rieger sich ständig über-
gangen. „Fraglos wollte Elsässer das Ma-
gazin schlussendlich vollständig unter sei-
ne Kontrolle bringen.“
Als nach einem Relaunch plötzlich das
Motto „Magazin für Souveränität“ auf-
tauchte, warf Rieger endgültig hin.
„Elsässer hat mir gegenüber nie ange-
deutet, dass er ein Problem mit Auslän-
dern, Flüchtlingen oder Muslimen habe.“
Die Anti-Islam-Propaganda von „Com-
pact“ hält Rieger deshalb für Opportunis-
mus, für ein Mittel, die Auflage zu steigern.
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlings-
krise verkauften sich die „Compact“-Hefte
85 000 Mal. Heute seien es rund 40 000, so
Elsässer. Und 2016 sei mit zwei Millionen
Euro Umsatz das bisher stärkste Jahr des
Verlags gewesen. „Die Auflage vom Grem-
liza habe ich locker überholt“, sagt er zu-
frieden. Tatsächlich meldete „konkret“ zu-
letzt eine verkaufte Auflage von 42 000.
Elsässer behält die alten Freunde im
Auge, aber er braucht sie nicht mehr. Er
hat jetzt neue. Und feuern kann ihn nie-
mand mehr. Wie in den Siebzigerjahren
sieht sich Elsässer ganz vorn dabei, an der
Spitze einer neuen Bewegung. Wieder geht
es gegen das Establishment. Wieder im Na-
men des Volkes. Auf dem rechten Markt-
platz gibt es Wachstum und Bewegung, nur
der Glamour fehlt vielleicht noch.
Dafür entfaltet der Publizist echte poli-
tische Wirkmacht. AfD-Leute suchen sei-
nen Rat, er schulte mehrere Bundestags-
kandidaten. Im Gegensatz zu den Kom-
munisten von einst sitzen seine neuen
Freunde im Bundestag.
Zum Abschied begleitet Elsässer seine
Gäste an die Straße. Er will zum Brief-
kasten. „Wollen wir doch mal sehen, ob
da eine Bombe drinsteckt“, sagt er. Aber
es ist nur die „Frankfurter Allgemeine
Zeitung“. I
DER SPIEGEL 3 / 2018 41
Deutschland

SEBASTIAN WIDMANN / ACTION PRESS

Rückkehrer Fani während seines Prozesses 2015: „Perspektivlos und sinnlos“

Gefesselt, drei Tage lang

Justiz Ein Dschihadist kehrt geläutert aus dem Kampfgebiet zurück und packt als Zeuge in vielen
Verfahren aus. Trotzdem wird er hart bestraft, in der Haft empfindet er vieles als Schikane.

E
r musste metallene Fesseln tragen, schwarze Trainingshose, kurze Haare, kur- Fani hat in Syrien für die islamistische
an den Händen, an den Füßen, sie zer Bart. Terrorgruppe Dschunud al-Scham ge-
wurden nie abgenommen, nicht Er sitzt in einem Besucherraum der Jus- kämpft. Er war an dem Angriff des Zen-
als er zur Toilette ging, nicht zum Essen, tizvollzugsanstalt (JVA) Straubing, wo er tralgefängnisses von Aleppo beteiligt und
nicht zum Schlafen, irgendwann in dem Bayerischen Rundfunk und dem feuerte eine Mörsergranate mit rund neun
diesen drei Tagen schwollen seine Arme SPIEGEL sein erstes Interview gibt. Sein Kilogramm Sprengstoff ab. Im Frühjahr
an, irgendwann halfen nur noch Schmerz- echter Name ist ein anderer. Er möchte 2014 kehrte er frustriert zurück. Er schwor
mittel, so erzählt er es ein knappes Jahr unerkannt bleiben, denn er hat viele Fein- dem radikalen Islam ab, nannte ihn eine
danach. de, im Gefängnis und draußen. „dreckige Ideologie“ und wurde für die Er-
Selbst als vier Beamte der Krimi- mittlungsbehörden zu einem wichti-
nalpolizei zu ihm ins Krankenzim- gen Zeugen. Knapp ein Dutzend Mal
mer kamen und um seine Hilfe ba- hat er gegenüber Beamten ausgesagt.
ten, als sie ihn zu seiner Zeit in Sy- Auch in seinem eigenen Prozess
rien befragten, nach Namen anderer hatte er seine Taten „sehr umfang-
Terroristen, und er ihnen sagte, was reich“ eingestanden, wie der Richter
er wusste, blieben die Fesseln dran. lobte. Dennoch verurteilte er ihn am
Erst später stellte ein Gericht fest, 15. Juli 2015 zu elf Jahren Haft. Auch
dass dies rechtswidrig war. wenn man Fani nicht nachweisen
In dieser Zeit, sagt Bilal Fani, konnte, einen Menschen umgebracht
habe er sich gefragt, warum er das zu haben, hielt ihn das Gericht des
alles macht. Warum er dem Staat versuchten Mordes und der Beihilfe
hilft, wenn der Staat ihn nach wie zum versuchten Mord für schuldig.
vor als Feind betrachtet. Warum er Sein Fall wirft ein Licht auf den
alles erzählt, wenn der Dank nur schwierigen Umgang mit islamisti-
Härte ist. „Es ist perspektivlos und schen Rückkehrern aus Syrien und
sinnlos, das hat mich psychisch Irak. Welche sind gefährlich, welche
sehr fertiggemacht“, sagt Fani, Kämpfer der Dschunud al-Scham: „Dreckige Ideologie“ sind geläutert? Welche kann sich der
42 DER SPIEGEL 3 / 2018
Deutsche Bank

Was Anleger 2018 erwartet

Im Umfeld einer dynamisch wachsenden Weltkonjunktur ist die Deutsche Bank trotz des einge-
leiteten geldpolitischen Wandels für 2018 grundsätzlich positiv gestimmt. Die zuletzt ungewöhnlich
geringe Schwankungsintensität an den Kapitalmärkten dürfte auf ein normales Niveau steigen.

14.100
Punkte erwartet die
Deutsche Bank Ende
2018 beim DAX.
3,8 %
soll die Weltwirtschaft im kommenden 1,20
Jahr gegenüber 2017 laut Deutsche Nach einem etwas
Bank wachsen. Trotz politischer schwächeren Rund
Unsicherheiten sollte auch die Eurozone 1. Halbjahr ist Ende
dazu maßgeblich beitragen. 2018 wieder mit
einem stärkeren
Euro im Bereich
von 1,20 US-Dollar
10 %
Gewinnsteigerungen
zu rechnen. werden für Unternehmen
2018 weltweit erwartet.
Das sollte für weiteres
Kurspotenzial an den
Aktienmärkten sprechen.

deutsche-bank.de/jahresausblick2018
Staat zunutze machen, in der
juristischen Aufarbeitung, in
der Deradikalisierung, in der
Prävention? Was muss er ih-
nen dafür bieten? Einen Plan
dafür gibt es nicht, obwohl er
nötig wäre.
Mehr als 960 Männer und
Frauen sind laut Bundes-
kriminalamt seit 2012 aus
Deutschland aufgebrochen,
um den „Islamischen Staat“
(IS) und andere Terrorgruppen
zu unterstützen. Rund 150 sol-
len tot sein, ein Drittel ist wie-
der zurück, weitere werden er-
wartet. Zwar liefen beim Ge-
neralbundesanwalt 2017 rund
tausend Ermittlungsverfahren
gegen Islamisten, wie viele da-
von Rückkehrer sind, sagt die
Statistik nicht.
Eine Anfrage des Bayeri-
schen Rundfunks und des
SPIEGEL in allen Bundeslän-
dern ergibt, dass offenbar bis-
her nur wenige der Rückkeh-
rer in Haft sind. In Hamburg
sind 80 Männer und Frauen
Richtung Syrien und Irak aus-
gereist, 25 zurückgekehrt, da-
von sitzt nur einer in Untersu-
chungshaft. In Bayern sind bis-
lang 22 Islamisten zurückge-
kommen, 2 von ihnen wurden
verurteilt und befinden sich in
Strafhaft, mindestens ein wei-
terer ist in Untersuchungshaft.
In Baden-Württemberg gebe es eine
„niedrige einstellige Anzahl“ der Inhaftier-
ten, teilen die Behörden mit, die „mög-
licherweise für den IS in Syrien oder im
Irak gekämpft“ haben. In Rheinland-Pfalz
ist von drei Rückkehrern nur einer im Ge-
fängnis. In Niedersachsen bewegt sich die-
se Zahl ebenfalls im „einstelligen Bereich“,
obwohl rund ein Drittel der 80 von dort
seit 2014 Ausgereisten wieder in Deutsch-
land ist.
Die Zahlen ergeben keine belastbare
Statistik. In vielen Fällen können die Län-
der nicht gesichert sagen, ob unter anderen
wegen Terrordelikten Inhaftierten sich wei-
tere Rückkehrer befinden. Doch das Er-
gebnis offenbart ein Problem. Es fehlen
oft die Beweise, dass die Ausgereisten tat-
sächlich Mitglieder einer terroristischen
Vereinigung waren oder diese unterstützt
haben. Laut der hessischen Behörden zum
Beispiel liegen für die Hälfte der rund
35 Rückkehrer in dem Bundesland „keine
belastbaren Informationen vor, dass sie
sich aktiv an Kampfhandlungen in Syrien
oder Irak beteiligt haben“.
Aussteiger wie Fani können solche In-
formationen liefern. Wie Anfang Dezem-
ber, als er in München gegen drei Männer
44 DER SPIEGEL 3 / 2018
Angeklagte Mikail S., Nils D.
Frage nach dem Strafmaß ähnelt einer Lotterie
aussagt, darunter ein islamischer Prediger
und ein Amateurfußballer.
Die Angeklagten sollen an die Dschu-
nud al-Scham Jeeps und Krankenwagen
geliefert haben. Einen von ihnen, den Pre-
diger, erkennt Fani wieder. Er habe ihn
zweimal persönlich getroffen, erzählt er,
einmal in einer Schleuserwohnung in der
Türkei, einmal in Syrien. Er könne sich so-
gar daran erinnern, was der Mann trug,
eine schwarze Hose mit einem Gürtel vol-
ler Munition. Und er habe eine Pumpgun
in der Hand gehalten.
Es ist für eine Gesellschaft viel verlangt,
sich auf Menschen einzulassen, die losgezo-
gen waren, um gegen „Ungläubige“ zu
kämpfen und sie womöglich zu töten. Kann
man ihnen die Abkehr vom Bösen glauben?
Der Staat könne von Aussteigern profi-
tieren, sagt der Islamwissenschaftler Guido
Steinberg von der Stiftung Wissenschaft
und Politik, der in vielen Terrorprozessen
als Gutachter auftritt. Er hat Fani auf der
Anklagebank erlebt und im Zeugenstand.
Die Behörden hätten dank ihm ihr relativ
beschränktes Wissen über die Dschunud
al-Scham „deutlich aufgebessert“.
Das Urteil gegen Fani könne er zwar
nachvollziehen, sagt Steinberg, dennoch
habe es ein negatives Signal
in die islamistische Szene ge-
sendet. „Da haben die Leute
den Eindruck, wenn sie denn
nun auspacken, geht es ihnen
schlechter, als wenn sie gar
nichts sagen.“ Ein politisches
Signal, „dass Kooperation be-
lohnt wird“, wäre wünschens-
wert gewesen.
Vor deutschen Gerichten
FEDERICO GAMBARINI / DPA
aber folgt die Frage nach dem
Strafmaß für ehemalige An-
gehörige oder Unterstützer
von Dschihadisten-Milizen
wie dem IS keinem einheitli-
chen Muster. Sie ähnelt eher
einer Lotterie.
So wurde im vergangenen
Mai der damals 19-jährige
Mikail S. aus Duisburg zu
einer Jugendstrafe von drei
Jahren verurteilt. Er hatte
KAI KITSCHENBERG / FUNKE FOTO SERVICE / ACTION PRESS
Texte für ein IS-Propaganda-
Magazin übersetzt. Die Rich-
terin hatte ihm die Abkehr
vom radikalen Islam nicht ab-
genommen. Dass dieselbe
Richterin auch milde urteilen
kann, zeigte sie, als Nils D.
aus Dinslaken vor ihr stand.
Er war Mitglied des berüch-
tigten IS-Sicherheitsapparats,
sagte aber umfangreich aus,
konnte das Gericht von seiner
Läuterung überzeugen und
kam mit viereinhalb Jahren
Haft davon.
Auch Harry S. kassierte in Hamburg nur
drei Jahre, obwohl er im Ausbildungscamp
einer IS-Spezialeinheit war. Kurz nach dem
Urteil wurde ein Video publik, das zeigt,
wie Harry S. Gefangene ihrer Hinrichtung
zuführte. Auf den Bildern ist auch zu sehen,
wie er offenbar auf Menschen schießt. Der
Bundesgerichtshof muss nun entscheiden,
ob er erneut angeklagt werden darf.
Bilal Fani hat nicht nur mit seiner langen
Zeit in Haft zu kämpfen, auf salafistischen
Facebook-Seiten wird gegen ihn gehetzt,
im Gefängnis wurde er bespuckt. „Gott
möge dich vernichten“, habe einer gerufen,
erzählt Fani. Auch später, wenn er frei-
kommt, muss er aufgrund seiner Aussagen
mit Racheakten rechnen. „Ich finde, dass
man ein solches Risiko honorieren sollte,
auch in der Behandlung im Gefängnis“,
sagt Guido Steinberg, der Terrorexperte.
„Meines Erachtens ist das kein islamisti-
scher Terrorist mehr.“
In seiner JVA sehen das offenbar nicht
alle so, wie der Vorfall mit der Fesselung
zeigt. Im vorigen Februar wurde Fani we-
gen einer Lungenkrankheit aus der JVA
in das städtische Krankenhaus verlegt. Er
bezog ein gesichertes Krankenzimmer, be-
wacht von Beamten. Dass er dennoch drei
 Deutschland

Tage lang gefesselt wurde, begründete die Anwalt Ahmed. Fani sagt, er kämpfe da- den. Bei ehemaligen Islamisten sind die
JVA mit Fluchtgefahr. Sie stuft ihn als „gro- rum, nicht in sein altes Schema zu fallen. Behörden zurückhaltend, wie die Umfrage
ben Gewaltstraftäter“ ein. „Manchmal habe ich mir gedacht: Scheiß unter den Bundesländern zeigt.
Fanis Anwalt Adam Ahmed legte Be- auf alles, lass dir den Bart wachsen und Die Schwierigkeiten, eine Distanzierung
schwerde ein, schließlich beschäftigte sich gib ihnen das, was die wollen.“ von der Szene glaubhaft nachzuweisen,
das Oberlandesgericht Nürnberg mit dem Noch aber hofft er, dass er sich irgend- „gelten für Rückkehrer in besonderer Wei-
Fall. Es stellte fest, dass die gleichzeitige wann dafür einsetzen kann, andere von se“, schreibt das Innenministerium in
Fesselung an Händen und Füßen nicht rech- dem Weg abzuhalten, den er gegangen ist. Schleswig-Holstein. In Niedersachsen zei-
tens war. Völlig unverständlich sei sie bei Er kann davon gut erzählen, zum Beispiel, gen die Behörden in ihrer Präventions-
der Vernehmung durch die Kripobeamten warum Syrien so verlockend war. arbeit zumindest Filme, „in denen Ausstei-
gewesen. Es sei nicht ersichtlich, heißt es Er hatte seinen Job verloren, ließ sich ger aus der islamistisch-dschihadistischen
in dem Beschluss, „warum es vier Krimi- scheiden, und es gab Ärger mit der Polizei. Szene eine wichtige Rolle spielen“. Nord-
nalbeamten nicht möglich gewesen sein „Dann hatte ich immer dieses Theologische rhein-Westfalen setzt für Vorträge und In-
sollte, etwaige Fluchtversuche des Antrag- im Kopf von den ganzen Predigern. Du formationsveranstaltungen bereits „gefes-
stellers sofort zu unterbinden“. Die JVA musst helfen, wie rechtfertigst du dich vor tigte und langjährig betreute Aussteiger“
Straubing wollte sich dazu nicht äußern. Gott, wenn du mal stirbst.“ Er sei nach Sy- ein, um „einen authentischen Blick zu ver-
Für viele der JVA-Beamten sei er nach rien gereist, um den Muslimen dort zu hel- mitteln“. Kriegsrückkehrer mit IS-Erfah-
wie vor der „Oberterrorist hoch zehn“, fen, auch die Kampfausbildung habe ihm rungen seien aber noch nicht dabei.

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sagt Fani, sie hielten seine Abkehr vom anfangs gefallen. „Ich war gerne dreckig, Der Islamwissenschaftler Steinberg sagt,
Dschihadismus für Tarnung. Für manche ich wusste, ich mache hier was für Gott, die Zahl an Islamisten sei in Deutschland
Mitgefangene sei er ein Frauen- und Kin- die Welt und für mich selbst. Das hat gut- zu groß, als dass diese allein durch die Si-
dermörder, „weil sie zu viel fernschauen“. getan, das muss ich leider zugeben.“ cherheitsbehörden bewältigt werden könn-
Selbst seine Familie verstehe ihn nicht, Die Ernüchterung habe sich schnell ein- ten. Spätestens wenn Ex-Kämpfer aus dem
sagt Fani. Sein Vater finde seine Aussagen gestellt. Die Einheimischen hätten sie ge- Gefängnis kämen, seien Deradikalisie-
sicher moralisch verwerflich, seine Mutter hasst, für die Anführer seien sie Kanonen- rungsprogramme wichtig. Dabei könnten
sage, sie machten ihm doch nur Probleme. futter gewesen. „Die Prediger saßen ir- auch Aussteiger glaubwürdig vertreten,
Es gibt nicht viele, denen Fari vertraut. gendwo weit entfernt, wo die Kugeln nicht „dass es Mist ist, bei Organisationen wie
Seinem Anwalt, der ihn ermuntert, weiter hinkommen.“ Die Gemeinschaft sei nichts dem IS mitzumachen“.
auszusagen. Einem Mitarbeiter des anderes gewesen als eine Sekte, sagt Fani, Bilal Fani hat in der JVA unterdessen
Violence Prevention Network (VPN), ei- „alles nur Lug und Trug“. mit anderen Problemen zu tun. Neulich
nem Verein, der sich bundesweit um Rück- Wie wertvoll islamistische Aussteiger wurde er aufgefordert, 125 Euro zu bezah-
kehrer kümmert. Mit ihm, einem Muslim, für die Präventionsarbeit sein können, zei- len, um Termine seines therapeutischen
könne er auch über seinen Glauben reden, gen Beispiele aus anderen Ländern. In Trainings nachholen zu können. Die davor
sagt Fari, er habe dabei viel gelernt. Mit Großbritannien haben ehemalige Islamis- hatte er verpasst. Er stand vor Gericht, als
dem Psychologen der Anstalt dagegen ten vor gut zehn Jahren die „Quilliam Zeuge der Anklage.
komme er nicht klar. Foundation“ gegründet. Sie gilt als kom- Martin Knobbe, Fidelius Schmid
„Wenn immer nur gegen ihn gearbeitet petenter Ansprechpartner für Medien und
wird, wenn er keine Unterstützung be- Politik. In Deutschland gibt es gute Erfah- Sendehinweis
kommt, ist es schwer, seinen Willen zur rungen mit rechtsextremistischen Ausstei- B5 aktuell: Sonntag, 9.15 Uhr und 12.15
Aufklärung aufrechtzuerhalten“, sagt sein gern, die für die Prävention eingesetzt wer- Uhr, Livestream b5aktuell.de/funkstreifzug
DER SPIEGEL 3 / 2018 45
Deutschland
Breaking Bad in Bayern
Kriminalität Drogenhändler verdienen im Darknet Hunderte Millionen Euro.
Erstmals spricht ein Dealer offen über das Geschäft.
I
rgendwann hatte Sascha Flamm so viel
Geld, dass er kaum mehr wusste, wohin
damit. Wenige Monate zuvor hatte er
noch von Schüler-Bafög und Kindergeld
gelebt. Nun mietete er sich einen schwar-
zen Bentley mit mehr als 500 PS und raste
über die Autobahn, hörte Songs vom
Gangster-Rapper Haftbefehl. In den Gar-
ten baute er sich einen Whirlpool, Urlaub
machte er in der Karibik, vier Wochen
Punta Cana, fünf Sterne plus.
Das plötzliche Luxusleben möglich
machte: das Darknet. Flamm war inner-
halb weniger Monate zu einem der
größten deutschen Händler auf der
Silk Road geworden, dem ersten gro-
ßen Untergrundmarktplatz im Netz,
eine Art Ebay für Drogen. Verbote-
ne Waren im Wert von mindestens
213 Millionen US-Dollar wurden
weltweit über das Darknet-Portal
verkauft, bis das FBI es im Oktober
2013 dichtmachte.
Flamm erwischte es schon drei
Monate davor. An einem Sommer-
morgen pirschten sich Polizisten mit
schwarzen Sturmhauben an seine
Wohnung, zertrümmerten die Ter-
rassentür und nahmen ihn fest.
Seit wenigen Wochen ist Sascha
Flamm, 28, wieder in Freiheit. Von
seinen siebeneinhalb Jahren Strafe
musste er nur einen Teil im Gefäng-
nis verbüßen und sich einer Sucht-
therapie unterziehen. Nun ist er auf
Bewährung raus – und möchte re-
den. Darüber, wie aus einem jungen
Mann aus der bayerischen Provinz
ein global agierender Darknet-Dro-
gendealer wurde.
Es ist das erste Mal, dass ein
Händler aus dieser Schattenwelt so
offen spricht. Zudem konnte der SPIEGEL
Hunderte Seiten Akten deutscher, öster-
reichischer und US-amerikanischer Behör-
den auswerten und tiefe Einblicke in eine
verborgene Szene gewinnen.
Es ist eine Welt, in der Geschäfte ano-
nym über verschlüsselte Kanäle und digi-
tales Geld abgewickelt werden. Und jeder
mit etwas Grips und wenig Skrupel zum
Cyberkriminellen werden kann. Das Dark-
net steht somit für eine neue Form des
Verbrechens.
Flamm hat als Treffpunkt ein Oma-Café
in Deggendorf ausgesucht, am Rand des
bayerischen Walds. Es gibt gedeckten
Apfelkuchen, im Radio läuft The Police,
„Roxanne“. Flamm fällt hier schon durch
46 DER SPIEGEL 3 / 2018
seine Statur auf. Er ist ein wuchtiger Kerl,
1,75 Meter groß, rund 120 Kilo schwer, mit
Oberarmen dick wie Anakondas.
Die Geschichte seines Lebens ist die
eines jungen Mannes, der immer hoch
hinauswollte, aber nicht viel auf die Reihe
brachte. Der fantastische Pläne schmiede-
te, aber an der Wirklichkeit scheiterte.
Flamms Traum war es, American-Foot-
ball-Profi zu werden. Und kurz sah es so
aus, als ob er in dem Sport Karriere machen
könnte. Er spielte in der Jugendnational-
mannschaft, später in der Bundesliga, bis er
Ex-Häftling Flamm: „Ein geiles Gefühl“
sich mit zwanzig beide Kreuzbänder riss.
Danach sei er monatelang nur herumgele-
gen, habe Ballerspiele gezockt und im Inter-
net gesurft. Vom Gymnasium war er geflo-
gen, sein Realschulabschluss war miserabel,
eine Ausbildung endete in der Probezeit. Er
wusste nur, was er nicht sein wollte: „Anti-
Opfer“ hat er auf seinen Körper tätowiert.
Ihm kam die Idee, Geld mit dem Anbau
von Gras zu verdienen. Flamm stöberte in
Hanfforen, kaufte sich ein paar Setzlinge,
zog sie groß und verkaufte die Blüten. Es
Video:
Drogen per Darknet
spiegel.de/sp032018darknet
oder in der App DER SPIEGEL
war ein Geschäft, wie es viele Kleinstadt-
dealer betreiben. Dann stieß er online auf
einen Text über ein neues Phänomen: Dro-
genhandel im Darknet, über eine ominöse
Plattform namens Silk Road, bezahlt wer-
de in der Digitalwährung Bitcoin.
Es dauerte keine Viertelstunde, bis
Flamm den Tor-Browser zum Surfen im
Darknet installiert hatte. Als er die Seite
aufrief, konnte er es kaum glauben: Gras,
Kokain, Speed, Heroin, LSD, offen an-
geboten, anonym verkauft. Weltweit und
angeblich todsicher. Innerhalb weniger
Monate stieg Flamm zu einem der
fleißigsten Händler der Drogenplatt-
form auf, sein Online-Tarnname:
„Pfandleiher“.
Er fand Großlieferanten für
MDMA, den Wirkstoff für Ecstasy,
in der Szene auch „Molly“ genannt.
Er schaffte sich eine Maschine an,
mit der er den Stoff in Tabletten-
form presste, das Mischverhältnis re-
cherchierte er im Netz. Eine leer ste-
hende Fabrikhalle wurde zu seiner
Drogenwerkstatt. Die Pillenpresse
lief teils die ganze Nacht. Breaking
Bad in Bayern.
Nach vier Monaten, so stellten die
bayerischen Ermittler später fest,
hatte der „Pfandleiher“ sich in das
obere ein Prozent der Händler auf
der Silk Road hochgearbeitet, über
DOMINIK BUTZMANN / DER SPIEGEL
tausend Likes erhielt er von seinen
Kunden. „Alles bestens! Immer wie-
der gerne :)“, jubelte ein Käufer. Ein
mexikanisches Lifestylemagazin ent-
deckte den „Pfandleiher“ bei einer
Recherche und nannte ihn den
„Capo Nummer 1“ unter den Netz-
dealern – ohne zu wissen, wer sich
hinter der digitalen Maske verbarg.
Im echten Leben war Flamm nie viel ge-
lungen, doch in der Schattenwelt des Dark-
net war er plötzlich wer. „Auf einmal so
eine Riesennummer zu sein, das reißt
einen total in so einen Bann“, erinnert er
sich. „Es war ein geiles Gefühl. Leider hat
es noch viel mehr den Ehrgeiz geweckt.“
Das Dealen wurde wie eine Sucht. Im
Darknet-Forum beklagte sich Flamm, dass
er kaum mehr hinterherkomme, die Be-
stellungen abzuarbeiten. Immer häufiger
griff er auch selbst zu Drogen, vor allem
Kokain. Das half ihm dabei, die Nächte
durchzuarbeiten, doch die Nebenwirkun-
gen waren heftig. Er entwickelte Angstzu-
stände, starrte panisch aus dem Fenster:
Ist die Polizei schon hinter mir her?
Die Anonymität des Darknet
Normales Internet Der Internetdienstanbieter er-
kennt die IP-Adresse des Benutzers. Jeder Besucher
einer Webseite lässt sich so zurückverfolgen.
Darknet
Über den Browser Tor gelangen Nutzer
anonym ins Darknet. Alle Daten laufen mehr-
fach verschlüsselt über wechselnde Server.
Wer an Drogenhandel denkt, denkt an
Organisierte Kriminalität, die Mafia, Ro-
ckerbanden. Und an finstere Gestalten, die
in Parks „pst, pst, brauchst du was“ flüs-
tern. Doch mit dem Internet wandelt sich
auch die Kriminalität – und die Kriminel-
len. Wer ein bisschen technisches Know-
how hat, kann groß ins Geschäft einsteigen.
So wie der Kellnerlehrling aus Leipzig, der
als „Shiny Flakes“ Hunderte Kilogramm
Drogen übers Netz verkaufte – aus seinem
Kinderzimmer (SPIEGEL 34/2015). In Pots-
dam wurde vor einigen Monaten ein Bun-
deswehr-Feldwebel verurteilt, parallel zum
Dienst fürs Vaterland hatte er im Darknet
Drogengeschäfte organisiert. Er hatte dafür
eigens zwei Mitarbeiter eingestellt, einen
Schulfreund und einen Kumpel vom
„Counterstrike“-Zocken.
Die Denkfabrik „Rand“ hat eine Studie
zur dunklen Seite des Netzes erstellt und
dafür auch anonyme Interviews mit Dea-
lern und Fahndern geführt. Demnach sind
Darknet-Drogenhändler vorwiegend jung,
männlich, intelligent, technikaffin. Kon-
takte ins kriminelle Milieu hatten sie vor-
her oft keine. Sie sind Do-it-yourself-
Gangster. „Zum Teil sind das fast schon
IT-Nerds“, sagt ein Darknet-Ermittler.
Allein auf der Silk Road waren mehr als
170 Dealer aus Deutschland unterwegs, un-
ter Tarnnamen wie „MadeInGermany“,
„CrystalMethCat“ oder „Karotte“. Und
das war erst der Anfang. Nach dem Ab-
schalten des Portals tauchten Dutzende
Nachfolgeseiten auf, sie nannten sich Ago-
ra, Black Market Reloaded oder Utopia.
Manche Plattformen waren nur kurz im
Netz, andere hielten sich Jahre und erziel-
ten Umsätze von mehreren Hundert Mil-
lionen Dollar. Vergangenen Sommer ge-
lang US-amerikanischen und europäischen
Polizeibehörden dann ein Doppelschlag:
Innerhalb weniger Wochen konnten sie Al-
pha Bay und Hansa Market dichtmachen,
Durch den Tor-Browser getarnte Surfer ge-
langen zu versteckten Marktplätzen. Dort
werden Drogen, Waffen und andere illegale
Waren angeboten.
kein Darknet-
Zugang
Empfänger
Bezahlt wird über Kryptowährungen wie Bitcoin.
Das Geld wird zurückgehalten, bis der Kunde die Ware
bekommen hat. Danach kann es der Dealer auf legalen
Börsen in normale Währung umtauschen.
zwei der größten Schwarzmarktportale im Es war nur eine Frage der Zeit, bis er
Darknet. festgenommen werden sollte. So sicher
Die mutmaßlichen Betreiber saßen in das verschlüsselte Bestellsystem über das
Thailand und in Deutschland. „Das war Darknet in der Theorie war: In der Wirk-
ein großer Ermittlungserfolg, der die Szene lichkeit machte Flamm einen Fehler nach
verunsichert hat“, sagt Oberstaatsanwalt dem anderen. Er traf sich offline mit Kun-
Georg Ungefuk von der Zentralstelle zur den aus Österreich, sie erfuhren seinen
Bekämpfung der Internetkriminalität in echten Namen und verrieten ihn später
Hessen. Doch früher oder später entstün- den Behörden, die Anonymität des Dark-
den wieder neue Untergrundmärkte mit net war zerstört. Ein verdeckter Ermittler
Zehntausenden Kunden weltweit. „Das bestellte Gras und Kokain beim „Pfand-
Modell ist einfach zu verlockend.“ leiher“, als die Sendungen eintrafen, kleb-
Die Silk Road ist inzwischen im Netz ten Flamms Fingerabdruck und DNA
zur Legende geworden. Das liegt auch an daran.
dessen Erfinder, Ross Ulbricht, einem Phy- Als alles vorbei war und Flamm längst
sikabsolventen aus Texas. Auf Netflix läuft hinter Gittern saß, ging ein bayerischer
eine Doku über ihn, auch Hollywood plant Finanzbeamter noch mal alle Akten durch.
einen Spielfilm über Ulbricht. „Angesichts des komplexen Systems“, so
Der schmächtige Mann führte die Be- befand er, „konnte nur ein Bruchteil der
hörden an der Nase herum und überhöhte verkauften Drogen auch vor Gericht di-
seinen Untergrundmarkt mit anarcholiber- rekt nachgewiesen werden.“ Er schätzte
tären Ideen: Was verboten ist, entscheiden Flamms Gewinn auf fast eine Viertelmil-
wir, nicht der Staat. Gleichzeitig machte lion Euro und kam auf nicht bezahlte Steu-
er Millionen, an jedem Gramm Gras, an ern in Höhe von 82 462 Euro, inklusive
jeder Ecstasy-Pille, an jedem Briefchen Ko- Soli. Deutsche Finanzämter sind penibel,
kain, das Händler über sein Portal verkauf- auch bei Drogengeldern.
ten, verdiente er Provision. US-Richter ha- Nach seiner Entlassung versucht Flamm
ben ihn zu lebenslang verurteilt. nun, ein normales Leben zu führen. Er hat
Dem FBI gelang es, die Silk-Road-Ser- einen Job gefunden und arbeitet im
ver anzuzapfen, auch ein Teil von Sascha Schichtdienst in einer Kunststoffrohrfabrik.
Flamms Aktivitäten konnte so rekonstru- Er hat geheiratet, seit Kurzem haben er
iert werden. Demnach wurden über seine und seine Frau ein Kind, neulich waren
Händleraccounts mindestens 2906 Trans- sie beim Babyschwimmen.
aktionen abgewickelt. Nur manchmal ertappt er sich bei dem
Die deutschen Ermittler vermuteten zu- Gedanken, was wäre, wenn er all die Bit-
nächst, dass er Drogen im Wert von bis zu coins aus den Drogendeals gebunkert hätte,
5,4 Millionen Euro verkauft haben könnte, statt sie zu verprassen. Als er ins Darknet-
aber damit lagen sie wohl deutlich zu hoch. Geschäft eingestiegen ist, lag der Kurs der
Flamm sagt, er habe im besten Monat viel- Digitalwährung bei knapp fünf Euro das
leicht 120 000 Euro verdient, wie viel es Stück. Heute ist ein Bitcoin 2700-mal so
insgesamt war, könne er nicht mehr sagen. viel wert.
Es habe Zeiten gegeben, in denen er meh- Rafael Buschmann, Wolf Wiedmann-Schmidt
rere Tausend Euro im Geldbeutel mit sich
herumgetragen habe. „Ich war einfach ein Sendehinweis
Scheißprolet“, sagt Flamm heute. SPIEGEL TV Magazin: Sonntag, 22.10 Uhr, RTL
DER SPIEGEL 3 / 2018 47
Wecker sagt
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Tatort in Reinbek, Verdächtiger Felix B. bei Festnahme, Psychiaterin Saimeh: „Wir lassen sie mit ihrer Krankheit allein“
Der fremde Sohn
Schizophrenie Angehörige warnten vor Felix B.: Er sei krank, gefährlich, gehöre eingesperrt.
Doch er blieb in Freiheit – und erschlug offenbar seinen Stiefvater. Von Bruno Schrep
B
ei einem Einkaufsbummel schöpfte
Patricia B. erstmals Verdacht. In der
Hamburger Innenstadt bemerkte
sie, dass ihr Sohn Felix jedes Mal die
Straßenseite wechselte, wenn ihm ein
Asiate entgegenkam. Zur Begründung er-
klärte er: „Ich bin in Japan als Staatsfeind
registriert.“ Damals, im Juli 2015, hoffte
die Mutter noch, der Sohn wolle sie ver-
albern.
Als Felix jedoch nur noch selten aus
dem Haus ging, sich auf der Straße seine
Baseballcap tief ins Gesicht zog und sich
hinter einer riesigen Sonnenbrille versteck-
te, ahnte sie, dass etwas nicht stimmte. Zu-
mal Felix sich ständig argwöhnisch um-
drehte und hinter jeder Ecke eine Bedro-
hung vermutete: „Die sind hinter mir her,
die wollen mich umbringen.“
Dann unterstellte er der Mutter, mit seinen
Feinden unter einer Decke zu stecken. Als
er sie der Mitgliedschaft einer gefährlichen
Sekte verdächtigte, wurde ihr endgültig klar,
dass im Leben ihres Sohnes nichts mehr war
wie zuvor. „Das war nicht der Felix, den ich
kannte“, sagt sie, „das war ein Fremder.“
50 DER SPIEGEL 3 / 2018
Die 57-Jährige sitzt in der Wohnung von
Freunden in Hamburg-Blankenese: ver-
stört, verletzt, für immer gezeichnet. Sie
hat eine schlimme Geschichte zu erzählen.
Dieser Fremde, der einmal ihr Sohn war,
richtete Unheil an: Er tötete wohl seinen
Stiefvater, misshandelte seine Freundin,
versetzte seine Schwester in Todesangst,
zerstörte seine Familie.
Felix B. trägt allerdings an dem Desaster
wohl keine Schuld. Ärzte diagnostizierten
schon vor mehr als zwei Jahren eine schwe-
re seelische Erkrankung. Der 31-Jährige
hört Stimmen, die andere nicht hören,
flieht vor Feinden, die nur in seiner Fanta-
sie existieren, ängstigt sich vor Verschwö-
rungen, die er sich nur einbildet.
Paranoide Schizophrenie ist eine unheim-
liche Krankheit, oft schleichend, in Schüben
fortschreitend, selten völlig heilbar. Für Lai-
en schwer erkennbar, für Mediziner oft
schwer zu behandeln. Niemand weiß sicher,
wodurch sie ausgelöst wird, vielleicht durch
Drogenmissbrauch, vielleicht sind es erb-
liche Ursachen. Rund 800 000 Deutsche er-
leben irgendwann in ihrem Leben eine schi-
HAMBURGNEWS
PETER WUEST / RTN / PICTURE ALLIANCE
DOMINIK ASBACH / LAIF
zophrene Episode, pro Jahr kommen etwa
15 000 neue Erkrankungen dazu.
Bei nur wenigen Patienten äußert sich
der Ausbruch durch Aggressivität und Ge-
walttätigkeit, Experten gehen von etwa
400 Fällen aus. Felix B. ist einer davon.
Sein Schicksal zeigt, was passieren kann,
wenn die Krankheit nicht behandelt wird.
Viele wussten von seinem Zustand, Poli-
zisten, Mediziner, Juristen. Die Angehöri-
gen des jungen Mannes drängten darauf,
den Kranken in einer geschlossenen Ab-
teilung zu behandeln, ihn zumindest eine
Zeit lang einzusperren. Heute sind die Ver-
wandten verbittert und richten schwere
Vorwürfe an die Behörden.
Doch die Hürden für eine Einweisung sind
hoch, wenn der Betroffene nicht will. „Die
Freiheit der Person ist ein so hohes Rechtsgut,
dass sie nur aus besonders gewichtigem
Grund angetastet werden darf“, entschied
das Bundesverfassungsgericht in einem ähn-
lichen Fall. Bei Felix B. wurde ein derart ge-
wichtiger Grund lange Zeit nicht gesehen.
Erstmals auffällig wird der intelligente
Junge mit 16 Jahren. Da wohnt er mit seiner
 Deutschland

Mutter und seiner älteren Schwester Laila seine Schwester Laila, die sich Sorgen zinerin, „wir machen auch sie zu Opfern.“
in einem Hamburger Vorort, der Vater lebt um seinen Zustand macht, unangemeldet Wenn sie in ihrem Wahn ein Verbrechen
in Berlin. Der Jugendliche, bis dahin ein gu- besucht, tickt er aus. Er bedroht die junge begingen, würden sie zwar meist als „nicht
ter Schüler, verliert jegliches Interesse am Frau mit einem Küchenmesser, stößt sie schuldfähig“ eingestuft. Doch was bedeute
Lernen, wirkt oft apathisch, reagiert mal ag- die Treppe hinunter. das? „Sie landen für viele Jahre in der fo-
gressiv, mal depressiv. Er geht anderen Men- Felix B., inzwischen 29 Jahre alt, wird rensischen Psychiatrie.“
schen zunehmend aus dem Weg. Und spricht erstmals in ein psychiatrisches Kranken- Kritiker argwöhnen allerdings, dass nicht
manchmal von geheimnisvollen Verfolgern, haus eingeliefert. Die Ärzte diagnostizie- zu wenige, sondern viel zu viele Menschen
was damals niemand ernst nimmt. ren eine paranoide Störung mit Verfol- in geschlossene Einrichtungen geschickt wer-
Er beginnt, exzessiv Cannabis zu rau- gungswahn. Und entlassen ihn am nächs- den. Immerhin werden in Deutschland jähr-
chen. Ob er kifft, weil sich das Leiden an- ten Vormittag. lich mehr als 100000 Personen gegen ihren
bahnt, weil er mit dem Konsum die Nur einen Tag später übernachtet er in Willen eingesperrt. Der Grat, auf dem sich
bedrohlichen Bilder in seinem Kopf ver- der Uni, um am folgenden Morgen einem Mediziner und Juristen bewegen, ist schmal:
scheuchen will, oder ob der Stoff die Er- seiner Professoren aufzulauern. Er glaubt, zwischen dem Recht auf persönliche Frei-
krankung mit auslöst, ist ungeklärt. Tatsa- dieser schulde ihm Hunderttausende Euro heit und dem Schutz der Gesellschaft.
che ist jedoch, dass viele psychisch Kranke für verdeckte Ermittlungen. Er beschimpft Im Fall Felix B. beantragen seine Schwes-
eine Drogenvorgeschichte haben. und bedroht den Mann, wieder landet der ter Laila und der leibliche Vater, Klaus B.,
Felix B. kann der Krankheit zunächst Student in der Psychiatrie. Wieder wird er Ende 2015 beim Amtsgericht Charlottenburg,
zeitweise entkommen. Er stabilisiert sich, Stunden später entlassen. Wieso? den psychisch kranken Studenten unter Be-
die Schübe werden weniger. Er meldet Nachdem sich Felix B. beruhigt hat, se- treuung zu stellen. Sie haben inzwischen
sich freiwillig zur Fallschirmjägertruppe der hen die Ärzte keine akute Gefahr mehr Angst vor ihm. „Eile ist geboten“, schreiben
Bundeswehr, spezialisiert sich als Funker. für die Allgemeinheit. Nur eine solche wür- sie an das Gericht, „Felix ist gewalttätig.“
„Das war seine beste Zeit“, sagt die Mutter, de rechtfertigen, einen Gerichtsbeschluss Der ist stinksauer über dieses Ansinnen
„er konnte endlich wieder lachen, hatte einzuholen, ihn länger einzusperren. „Da der „asozialen Scheißfamilie“ und entrüs-
wieder Freunde.“ Fotos aus dieser Zeit zei- muss einer schon drohend mit dem Messer tet sich später in einer Mail. „Ich will nicht
gen einen schneidigen, gut aussehenden oder dem Revolver herumfuchteln“, sagt in einem schwarzen Loch landen“, schreibt
jungen Mann mit weinrotem Barett, er lä- die Ärztliche Direktorin der forensischen er. „Mein Hirn funktioniert einwandfrei,
chelt freundlich, scheint voller Optimismus. Psychiatrie im westfälischen Lippstadt- keine irreparablen Schäden, keine unge-
Nach Ende seiner Dienstzeit holt Felix Eickelborn, Nahlah Saimeh. Sie bemängelt: wöhnlichen Nervenverbindungen, das wur-
B. auf einer Abendschule sogar das Fach- „Hier gibt es eine Gesetzeslücke.“ de alles in der Klapse mehrfach überprüft.“
abitur nach. Ab 2013 studiert er an einer Sie schlägt vor, die gesetzlichen Voraus- An einem Märztag 2016 findet ihn eine
Berliner Hochschule und entscheidet sich setzungen zur Unterbringung zu erweitern; Spaziergängerin blutüberströmt in einem
ausgerechnet für Sicherheitsmanagement Berliner Park. „Ich bin überfallen worden“,
– mit Fächern, die seine Verschwörungs- sagt er der Polizei. Schnell stellt sich he-
fantasien womöglich noch befeuern. Er „Mein Hirn funktioniert raus, dass er sich die Tatwaffe, ein scharfes
lernt, wie man sich tarnt, wie man ver- Messer, selbst in den Oberkörper gerammt
deckt ermittelt, wie man drohende Ge- einwandfrei, das hat, zweimal. Ärzte in der Berliner Charité
fahren erkennt und untertaucht. Solche wurde alles in der Klapse diagnostizieren als Ursache des Selbsttö-
Szenarien werden, von seinem Umfeld tungsversuchs eine „paranoide Psychose
zunächst unbemerkt, nach und nach zu
mehrfach überprüft.“ des schizophrenen Formenkreises“.
seinem Lebensthema. Eine Richterin des Amtsgerichts Char-
Eigentlich soll er das Studium 2016 mit von der bisher erforderlichen „akuten Ge- lottenburg ordnet die zwangsweise Unter-
einem Bachelorabschluss beenden. Doch fahr“ zu einer „latenten Gefahr“ für die bringung in einer geschlossenen psychiatri-
lange zuvor wird er immer massiver von Allgemeinheit. Damit würden auch Men- schen Station der Charité an. Es bestehe
der Krankheit beherrscht. Ab Mitte 2015 schen erfasst, bei denen die Krankheit die Gefahr, dass Felix B. „sich selbst tötet
verschreckt er Freunde und Verwandte mit nicht eruptiv verlaufe, sondern eher wie oder einen erheblichen gesundheitlichen
kruden Geschichten. Er raunt von gefähr- ein Schwelbrand. Diese seien aber nicht Schaden zufügt“. Weil er sich bereit er-
lichen Geheimdienstaufträgen, von russi- weniger gefährlich. Auch brauche die Be- klärt, in der Klinik zu bleiben, wird der
schen und chinesischen Verfolgern, die ihm handlung eine gewisse Zeit, mindestens Beschluss vier Wochen später aufgehoben.
nach dem Leben trachteten, von einer acht Wochen: „Erst dann kann man eine Tage danach verlässt der Patient das Kran-
Welt, die von Spionen und düsteren Mäch- Besserung erzielen.“ kenhaus auf eigenen Wunsch.
ten beherrscht werde. Noch Anfang der Neunzigerjahre habe Das ist möglich, weil eine Unterbrin-
Vorlesungen besucht er kaum noch. Sei- die Therapie von Schizophreniepatienten gung nach dem Betreuungsrecht eine
ne Berliner Wohnung, die von der Mutter in der Regel mehrere Monate lang gedau- Eigengefährdung voraussetzt. Besteht die
finanziert wird, ist vermüllt. Er wäscht und ert, sagt Saimeh. Zeit genug, um die Pa- nach Meinung der Mediziner nicht mehr,
rasiert sich nur noch selten, trägt schmut- tienten auf Medikamente einzustellen, die kann der Betroffene nicht gegen seinen
zige Klamotten, ernährt sich notdürftig. den Verfolgungswahn und die Ängste zu- Willen festgehalten werden.
Besucht er seine Mutter im schleswig- mindest dämpfen können, und für psycho- „Ich habe die Ärzte beschworen, meinen
holsteinischen Reinbek, verlangt er Geld therapeutische Sitzungen, die neben Psy- Bruder nicht gehen zu lassen“, sagt seine
und stiftet Unfrieden. Regelmäßig kommt chopharmaka als Erfolg versprechendste Schwester Laila B., „ich wusste genau, das
es zum Streit mit seinem Stiefvater Gun- Behandlung gelten. wird schiefgehen.“ Sie habe die Mediziner
nar G., einem Pädagogen, den er als „tü- Inzwischen jedoch würden die Kranken auf seine Fähigkeiten hingewiesen, die
ckisch und hinterhältig“ beschimpft. In sei- oft schon nach zwei Wochen entlassen: „In Krankheit zu verbergen, mithilfe seiner
ner Fantasie wird der Stiefvater offenbar dieser Zeit kann man keine Schizophrenie Redegewandtheit von seinen Problemen
zu seinem schlimmsten Feind. behandeln.“ Menschen wie Felix B. seien abzulenken – vergebens. Keiner habe die
Im Oktober 2015 wird Felix B. erstmals die Leidtragenden. „Wir lassen sie mit ih- Verantwortung übernehmen wollen, ihren
zu einem Fall für die Behörden. Als ihn rer Krankheit allein“, kritisiert die Medi- Bruder wegzusperren. Nach seinem Suizid-
DER SPIEGEL 3 / 2018 51

Vater Klaus B.: „Es gibt Grenzen für das, was man ertragen kann“
versuch wird dem Studenten im März 2017
ein Berliner Anwalt als Betreuer zugeteilt.
Der soll sich um seine maroden Finanzen
kümmern, ihn bei Behörden vertreten, da-
rauf achten, dass er rechtzeitig zum Arzt
geht und seine Pillen schluckt. Das macht
Felix B. wütend. Er will sich nicht kontrollie-
ren lassen, hat keine Lust, über jeden Schritt
Rechenschaft abzulegen.
Tatsächlich ist er dazu nicht verpflichtet.
Die Betreuung dient nur seinem eigenen
Schutz, er muss nicht mitarbeiten.
Wenn der Betreuer an seiner Wohnungs-
tür klingelt, macht er nicht auf. Wenn der
Betreuer ihm schreibt, wirft er die Briefe
weg. Wenn der Betreuer anruft, schaltet
er das Handy ab. „Ich kann nicht hinter
jedem Mandanten herlaufen“, sagt der An-
walt, der noch viele andere Personen be-
treut. Der Einzelne müsse sich helfen las-
sen wollen, er könne ihn nicht zur Zusam-
menarbeit zwingen. Felix B. verschwindet
nach und nach vom Radar des Betreuers.
Das hat Folgen.
Zunächst für Dunja T. Die junge Frau
aus Hamburg kennt Felix B. von der
Abendschule, hat ihn als attraktiven Mann
in Erinnerung. Als er sie Jahre später un-
vermutet einlädt, mit ihm ins neue Jahr
2017 zu feiern, sagt sie spontan zu, fährt
mit ihm nach Amsterdam. Und nimmt ihn
Anfang des Jahres in ihrer Wohnung auf.
Sie weiß anfangs nichts von seinem Selbst-
tötungsversuch, hat keinen Schimmer von
den Betreuungsmaßnahmen, ahnt nichts von
seiner Erkrankung. Wundert sich nur über
seine verstörenden Marotten, ist manchmal
unsicher, ob sie lachen oder weinen soll.
Nach wenigen Tagen beginnt sie zu bereuen,
sich auf ihn eingelassen zu haben.
Ihr neuer Mitbewohner trägt auch in der
Wohnung immer einen Schal um den Kopf,
wegen vermeintlicher feindlicher Strahlen.
Um den Hals hat er eine batteriebetriebe-
ne Lichterkette geschlungen. Blinken die
Lichter grün, nimmt angeblich das Bun-
52 DER SPIEGEL 3 / 2018
GORDON WELTERS / DER SPIEGEL
deskriminalamt Kontakt zu ihm auf. Auf
der Straße filmt er mit seinem Handy frem-
de Passanten. „Er fühlte sich verfolgt, ge-
jagt, beschattet“, erinnert sie sich heute.
Sie besorgt ihm einen Therapieplatz, er
geht nur einmal hin. Sie redet stundenlang
auf ihn ein, er hört nicht zu. Sie fleht ihn
an, seine Tabletten zu nehmen, er wirft
sie in den Müll. Stundenlang starrt er an
die Wand, tagelang sagt er kein Wort.
Er schreibt der jungen Frau vor, wie sie
sich in ihrer eigenen Wohnung zu bewegen
habe, überwacht jeden Schritt. Duldet kei-
ne Geräusche. Verbietet ihr zu verreisen,
kontrolliert genau, ob sie pünktlich von
ihrem Job in der Flüchtlingshilfe nach Hau-
se kommt. Widersetzt sie sich, schlägt er
wütend zu, ins Gesicht, auf den Oberkör-
per, tritt gegen die Beine. Mehrmals alar-
mieren Nachbarn, von den Schreien auf-
geschreckt, die Polizei. Schließlich flieht
die Frau zu einer Freundin.
Erst durch einen Gerichtsbeschluss ge-
lingt es ihr, Felix B. loszuwerden. Ihm wird
untersagt, die Wohnung wieder zu betre-
ten und Dunja T. zu misshandeln, ansons-
ten droht ihm ein Ordnungsgeld von bis
zu 250 000 Euro. Die Prügelattacken wer-
den nicht weiter verfolgt. Die Hamburger
Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren we-
gen Körperverletzung ein, „mangels öf-
fentlichem Interesse“. Dunja T. wird frei-
gestellt, gegen ihren Peiniger zu klagen.
Doch die junge Frau sinnt nicht auf Ra-
che, sie will Felix B. helfen. Sie hat längst
erkannt, dass der Ex-Freund nicht aus Bos-
heit handelt. „Ihr Schutzbefohlener ist psy-
chisch schwer krank“, schreibt sie dem Be-
treuer in Berlin. Erforderlich sei die sofor-
tige Behandlung in einer Psychiatrie,
notfalls durch „Zwangseinweisung“.
Auch der leibliche Vater will Schlimme-
res verhindern, legt über jeden seiner
Schritte eine Datei an: über seine Warnun-
gen bei der Polizei, über die Telefonate
mit dem Betreuer, über die Arztbesuche.
Bis heute kommt er nicht darüber hinweg,
wie übel ihn sein Sohn deshalb beschimpft:
„Es gibt Grenzen für das, was man ertragen
kann“, sagt der Vater.
Die Mutter, Patricia B., fleht die zustän-
dige Richterin in Charlottenburg immer
wieder an, ihren Sohn festzusetzen und in
einer geschlossenen Abteilung behandeln
zu lassen. In stundenlangen Telefonaten
beschreibt sie seine Gewaltfantasien, seine
Wut, seine Wahnvorstellungen. Und schil-
dert ihre Angst, dass er etwas Schreckli-
ches anrichten könnte: „Es darf nicht sein,
dass er frei herumläuft.“
Genau dies ist jedoch der Fall. Seit
Februar 2017, seit seinem Rausschmiss bei
Dunja T., ist Felix B. spurlos verschwun-
den. Er meldet sich nicht mehr bei seiner
Mutter, wird in seiner Berliner Wohnung
nicht mehr gesehen. Wo er sich in den Mo-
naten danach aufhält, ob er im Freien
schläft, wie seine Angehörigen vermuten,
ob er irgendwo Unterschlupf findet, ist
nicht bekannt. Jedenfalls wird Felix B., ob-
gleich er schwer krank ist, in dieser Zeit
wohl nicht behandelt.
Am 17. August 2017, einem Donnerstag,
taucht er wieder auf. Und tötet offenbar
seinen Stiefvater.
Als seine Mutter, Patricia B., nach der
Arbeit nach Hause kommt, findet sie ihren
Ehemann Gunnar G. regungslos im Garten
liegen, notdürftig mit ein paar Zweigen be-
deckt. Sein Kopf ist voller blutiger Wun-
den, neben ihm liegt eine Axt. Er ist er-
schlagen worden. Gegenüber den Polizei-
beamten, die kurz darauf zum Tatort
kommen, äußerst Patricia B. einen erschüt-
ternden Verdacht: „Das war mein Sohn.“
Die Öffentlichkeitsfahndung nach Felix B.
führt schnell zum Erfolg. Zeugen erkennen
ihn schon einen Tag später beim Versuch,
seine Kleidung in einem kleinen See zu wa-
schen. Der inzwischen 31-Jährige bestreitet
die Tat, doch die Indizien sind erdrückend.
Obwohl Felix B. nach Überzeugung der
Staatsanwaltschaft Lübeck einen Menschen
heimtückisch getötet hat, wird er nicht we-
gen Mordes angeklagt. Eine Gutachterin
bescheinigte ihm, den Stiefvater „im Zu-
stand der Schuldunfähigkeit“ erschlagen
zu haben. Er stelle jedoch „eine Gefahr für
die Allgemeinheit“ dar. Deshalb hat die
Ermittlungsbehörde ein sogenanntes Siche-
rungsverfahren mit dem Ziel beantragt, Fe-
lix B. in einer geschlossenen Psychiatrie
unterzubringen. Ob er dort bleiben muss,
wird beim Prozess vor dem Landgericht
Lübeck entschieden, der bald beginnen soll.
Nur einen Tag bevor er mutmaßlich
seinen Stiefvater tötete, war Felix B. in
Berlin zu einer Anhörung geladen. Wegen
der Warnungen der Familie und der Ex-
Freundin sollte geprüft werden, ob es
erforderlich sei, ihn auf Dauer in die
geschlossene Abteilung einer Psychiatrie
einzuweisen.
 Deutschland

„Alles abschießen“
Seuchen Tierschützer Thomas Blaha warnt vor der in Polen grassierenden Afrikanischen
Schweinepest und schlägt vor, Schwarzwild gezielt an den Ostgrenzen zu jagen.

Blaha, 70, ist emeritierter eines fairen Abwägungsprozesses stehen, Auslaufhaltung unterbunden werden – und
Professor der Tierärztlichen bei dem die Tierrechte berücksichtigt wer- zwar im ganzen Land, nicht nur an der
Hochschule Hannover und den, aber nicht das einzige Kriterium sind. Grenze.
IPON / IMAGO

seit 2007 Vorsitzender der
„Tierärztlichen Vereinigung
für Tierschutz“.
SPIEGEL: Vielerorts in Deutschland wird zur
Jagd auf Schwarzwild aufgerufen. Was hal-
ten Sie als Tierschützer davon?
Blaha: Lassen wir den Tierschützer erst mal
weg, von Haus aus bin ich ja Epidemiologe.
Die Afrikanische Schweinepest kommt,
wenn sie kommt, am wahrscheinlichsten
über das Wildschwein. Sie kommt eher
nicht, weil irgendein Mensch das Virus in
den Stall trägt. Diese Gefahr der Übertra-
gung ist geringer als bei der Klassischen
Schweinepest, die bei uns in
den Neunzigern wütete. Da-
mals galt: Wenn ein infiziertes
Tier sich in einem Stall an einen
Menschen geschmiegt hat,
dann konnte der noch 24 Stun-
den später andere Schweine an-
stecken. So übertrug sich die
Seuche von Hof zu Hof.
SPIEGEL: Die Afrikanische
Schweinepest ist also weniger
ansteckend?
Blaha: Ja, zumindest auf dem
eben beschriebenen Weg. Wir
müssen unsere Präventions-
maßnahmen auf die Wild-
schweinpopulationen konzen-
trieren. In einer idealen Welt
Konsens ist immer noch, dass wir Fleisch
essen. Konsens ist, dass wir jagen, um
Wildpopulationen in einer vernünftigen
Dichte zu halten, damit wir Menschen und
die Wildtiere in einer guten Koexistenz
zusammenleben können.
SPIEGEL: Statt eines großen Schießens an
der Grenze finden aber gerade überall in
Deutschland Drückjagden statt …
Blaha: … da es nicht ganz einfach ist, die
Jägerschaft zu koordinieren. Die ist nicht
deutschlandweit organisiert, das sind Pri-
vatleute, Menschen mit unterschiedlichen
Interessen. Außerdem: Generelle Jagdan-
strengungen sind ja nicht falsch. Wir haben hoch organisierten Landwirtschaft. Da lau-
SPIEGEL: Heißt das, Biobauern sollten ihre
Schweine nur noch in Ställen halten?
Blaha: Nein. Da reicht eine doppelte
Einzäunung. Die Klassische Schweinepest
tritt ja seit Langem nicht mehr auf, weil
alle dazugelernt haben. Weil die Landwirte
seitdem Biosicherheitsmaßnahmen streng
berücksichtigen, sich etwa umziehen, wenn
sie in den Stall gehen.
SPIEGEL: Wie kommt dann das Wildschwein
heute überhaupt noch zum Hausschwein?
Blaha: Unter der Afrikanischen Schweine-
pest leiden Georgien, Russland, Polen und
Tschechien – Länder mit einer nicht so
fen mancherorts noch Schweine
ums Haus. Wenn so eine Haus-
sau dann rauscht, riecht das ein
Keiler noch auf einen Kilometer
Distanz. Und so ein junger be-
haarter Wildschweinkeiler fin-
det eine nackte Hausschwein-
sau absolut appetitlich. Was
meinen Sie, wie viele gestreifte
Mischlingsferkel es früher in der
DDR gab – ohne dass es der
Verkäufer des Fleisches wusste.
Er war ja nicht dabei, als der
Keiler nachts die Sau beglückte.
SPIEGEL: Die Länder, die die
Afrikanische Schweinepest ha-
ben, halten die Tiere also ver-
gleichsweise extensiv. Ist die
HANSJOERG HOERSELJAU

würde man an der Grenze zu Gefahr in Deutschland dann

Polen und zur Tschechischen nicht geringer als befürchtet we-
Republik, wo die Seuche schon gen der Intensivhaltung?
auftritt, die Wildschweine der- Blaha: Ja, wir haben hier kein
artig bejagen, dass sie nicht hohes systemisches Risiko.
über die Grenze kommen. Wildschweine in Polen: „Fairer Abwägungsprozess“ Nicht auszuschließen sind aber
Außer einer ferkelführenden einzelne, unüberlegte und dum-
Bache müsste man in einem Sicherheits- eine viel zu hohe Wildschweindichte, sonst me Handlungen beziehungsweise „Zufäl-
gürtel – ich sag’s mal so lax – alles ab- würden die Tiere nicht in den Großstädten le“. Bei der Afrikanischen Schweinepest
schießen. auftauchen. Gegen eine Ausbreitung der besteht die eigentliche Krux aber darin,
SPIEGEL: Aber würden Bache und Frisch- Afrikanischen Schweinepest helfen solche dass andere Länder Importverbote verhän-
linge dann nicht die Seuche einschleppen? Drückjagden allerdings nur bedingt. gen, wenn die Schweinepest auch nur ein-
Blaha: Wenn Jagddruck da ist, bleibt die SPIEGEL: Als Prävention reichte Ihrer Mei- mal nachgewiesen wurde. Und da wir viel
Bache eher fern. Schweine sind intelligent. nung nach die Jagd an den Grenzen? exportieren – nach China gehen etwa alle
Viele Menschen meinen, dass Wildschwei- Blaha: Plus intensiver Schulung und Auf- die Innereien, die wir nicht essen –, wäre
ne Dämmerungstiere seien. Ein Irrglaube! klärung der Jäger! Wenn etwa ein jagender eine Sperre ökonomisch gesehen eine
Sie sind einfach so klug, dass sie wissen, Landwirt ein infiziertes Wildschwein aus- ziemlich schlimme Sache.
dass der Jäger sie im Hellen sieht. Deshalb weidet, trägt er in der Tat eine relevante SPIEGEL: Sobald ein einziges Schwein infi-
kommen sie erst bei Dunkelheit raus. Viruslast, mit der er den eigenen Bestand ziert ist, drohen ganz Deutschland Han-
SPIEGEL: Ist ein derartiges Massentöten von anstecken könnte. Bei der Klassischen delssperren?
Wildtieren nicht trotzdem ein Frevel? Schweinepest ist das tatsächlich passiert. Blaha: Ja. Sogar dann, wenn nur Wild-
Blaha: An erster Stelle muss doch der ge- Wir müssen alles dafür tun, dass Wild- schweine infiziert sind – das ist den Polen
sellschaftliche Konsens auf der Grundlage schwein- und Hausschweinkontakte bei passiert. Interview: Annette Bruhns

DER SPIEGEL 3 / 2018 53

 BRENDAN SMIALOWSKI / AFP
Gesetzesunterlagen im Repräsentantenhaus

Steuerreform

Amerikanischer Amok
Die USA könnten auf der schwarzen Liste der EU für Steueroasen landen.

Die Steuerreform von US-Präsident Donald Trump ver-
stößt nach Einschätzung des Bundesfinanzministeriums
(BMF) gleich gegen mehrere internationale Vereinbarun-
gen. So kollidiert das Vorhaben der Amerikaner, Unter-
nehmen für weltweite Erträge aus Patenten und Lizenzen
einen ermäßigten Steuersatz von rund zehn Prozent einzu-
räumen, mit Beschlüssen der G20 und der Industrieländer-
vereinigung OECD. Diese Übereinkünfte verbieten solche
Steuersparmodelle zwar nicht generell, lassen sie aber nur
in jenem Land zu, in dem tatsächlich Erträge anfallen.
Mit ihren Plänen für sogenannte Patentboxen legten es die
Amerikaner darauf an, diese Erträge aus allen anderen
Ländern abzusaugen und sie so in den USA zu versteuern,
argwöhnen Experten des Bundesfinanzministeriums. Mit
einem solchen Verstoß gegen OECD-Standards laufen die
USA Gefahr, auf der schwarzen Liste der EU für Steuer-
oasen zu landen.
Weil der Steuersatz für Lizenz- und Patenterträge wegen
der Reform sinkt, je mehr ein Unternehmen exportiert, hal-
ten die BMF-Experten die Vorgabe außerdem für eine un-
zulässige Ausfuhrsubvention. Sie würde Vereinbarungen im
Rahmen der Welthandelsorganisation WTO zuwiderlaufen.
Darüber hinaus verstößt die von den USA verabschiedete
Mindestbesteuerung auf konzerninterne Zins- und Service-
zahlungen bei ausländischen Unternehmen nach Ansicht
des Bundesfinanzministeriums gegen deutsch-amerikani-
sche Steuerabkommen. Diese sollen eine doppelte Besteue-
rung von Gewinnen in beiden Ländern vermeiden. rei

Media Saturn
Ceconomy streitet
mit Kellerhals-Erben
Der Konflikt zwischen den
Eigentümern der Media
Saturn Holding (MSH) geht
weiter – obwohl Firmen-
patriarch Erich Kellerhals an
Weihnachten verstorben ist.
MSH gehört nun zu gut 20
Prozent seinen Erben und zu
knapp 80 Prozent der börsen-
notierten Ceconomy, die aus
der Abspaltung von Metro
hervorgegangen ist. Noch vor
der Beerdigung Kellerhals’ an
diesem Freitag hat Cecono-
my der Familie offenbar per
E-Mail mitgeteilt, man sei
weiter daran interessiert, den
Mediationsprozess fortzuset-
zen. In den Gesprächen geht
es darum, die Familie bei
MSH herauszukaufen. Doch
Ceconomy stellt den Keller-
hals-Erben eine Bedingung:
Sie müssten endlich den
längst vorliegenden Jahres-
abschluss unterschreiben und
somit die vorgesehene Aus-
schüttung des Gewinns an die
beiden Eigentümer beschlie-
ßen. Der Kellerhals-Clan ver-
weigert dies bisher unter Ver-
weis auf Bewertungsfragen.
Für Ceconomy ist das miss-
lich, weil der Vorstand den
Aktionären eine Dividende
versprochen hat, die im We-
sentlichen aus dem MSH-Ge-
winn stammt. Gibt die Keller-
hals-Familie das Geld bis zur
Hauptversammlung der Ceco-
nomy am 14. Februar nicht
frei, müsste der Konzern sei-
ne Ausschüttung womöglich
anders finanzieren – gefähr-
det ist die Dividende nach
Angaben aus Finanzkreisen
nicht. Die Streitparteien
äußern sich dazu nicht. mhs

54 DER SPIEGEL 3 / 2018


Rettungspaket
Griechenland in
Verzug
Griechenland hinkt bei der
Umsetzung seiner Reform-
versprechen massiv hinterher.
Von 110 sogenannten vor-
dringlichen Maßnahmen, zu
denen sich die Regierung von
Ministerpräsident Alexis Tsi-
pras verpflichtet hat, sind erst
51 verabschiedet. Das geht
aus der dritten Überprüfung
des aktuellen Hilfspro-
gramms hervor, das die EU-
Kommission, die Europäische
Zentralbank und der Interna-
tionale Währungsfonds er-
arbeitet haben. „Die übrigen
59 Maßnahmen sind als un-
Unternehmen
Bogner könnte
Stiftung werden
Willy Bogner prüft die Um-
wandlung seiner Modefirma in
eine Stiftung. Eine Sprecherin
des Unternehmens erklärt, es
gehe darum, wie der „Fortbe-
stand“ der Firma „für die Zu-
kunft gesichert werden kann“.
Bogner wird in diesem Monat
76 Jahre alt. Der frühere Ski-
fahrer, Filmemacher und
Action-Kameramann („James
Bond 007 – Im Angesicht des
Umweltzerstörung
„Den Schaden
kleingerechnet“
Godwin Ojo, 51, Di-
L. COUSIN / HAYTHAM-REA / LAIF
rektor von Friends
of the Earth Nigeria,
über den Prozess
gegen den Ölgigan-
ten Eni, der diese
Woche in Mailand
begonnen hat
SPIEGEL: Warum ziehen Sie
gegen den italienischen Öl-
konzern Eni vor Gericht?
Ojo: Wir haben das für die
Bewohner von Ikebiri getan,
eine Dorfgemeinschaft im
Niger-Delta. Ein Leck in der
Pipeline der nigerianischen
Eni-Tochter NAOC hat im
April 2010 ihre Lebensgrund-
erledigt anzusehen, die grie-
chischen Behörden haben sie
noch nicht vollständig um-
gesetzt“, heißt es in dem Be-
richt. Dazu zählen beispiels-
weise Teile der Steuerreform.
Tsipras bleibt nicht mehr viel
Zeit. Seine Regierung muss
ihre Zusagen bis zum 22. Ja-
nuar erfüllen, sonst kann die
nächste Tranche des Hilfspa-
kets in Höhe von rund sieben
Milliarden Euro nicht fließen.
Dann beraten die Finanz-
minister aus der Eurozone
über deren Auszahlung. Die
Tranche ist Teil des dritten
Hilfspakets für Griechenland,
das ein Volumen von 86 Mil-
liarden Euro hat und bis Ende
August 2018 läuft. rei
Todes“) versucht seit Jahren,
das kriselnde Unternehmen,
das ihm und seiner Tochter ge-
hört, neu aufzustellen. Zuletzt
wurden Läden geschlossen,
der Vertrieb wurde verschlankt.
Im November wechselte Bog-
ner nach gerade einem Jahr
den Vorstandsvorsitzenden
aus; zuvor hatte der Senior das
Unternehmen selbst geleitet.
2015 war der Versuch geschei-
tert, an ein Konsortium zu ver-
kaufen, dem Daimler-Boss Die-
ter Zetsche und Ex-Fußballer
Philipp Lahm angehörten. akü
lagen zerstört. Das Unterneh-
men hat dafür auch die
Verantwortung übernommen.
Viel mehr ist aber bisher
nicht passiert.
SPIEGEL: Wie viele Menschen
sind betroffen?
Ojo: Es geht um Fischer,
Farmer und Kanubauer mit
ihren Familien, insgesamt
mindestens 5000 Menschen.
SPIEGEL: Hat Eni eine Entschä-
digung angeboten?
Ojo: Abgesehen von den etwa
6000 Euro für Hilfsgüter
wurde der Schaden klein-
gerechnet. Sie haben ein Al-
mosen von 14 000 Euro an-
geboten – für die ganze
Gemeinde.
SPIEGEL: Warum haben Sie
nicht vor einem nigeriani-
schen Gericht geklagt?
Wirtschaft
PAUL LANGROCK / AGENTUR ZENIT
Windkraftpark in Brandenburg
Energie lagen errechnen. Außerdem,
Entschädigung so fordern die Experten der
Denkfabrik, die auch die Bun-
für Windräder desregierung berät, müssten
Kommunen sollen Geld für die Bürger schon vor der
die Windräder auf ihrem Ge- förmlichen Antragstellung für
meindegebiet erhalten. Das eine neue Windkraftanlage
ist ein Vorschlag der Denk- angehört werden. „Die Men-
fabrik Agora Energiewende, schen vor Ort müssen mehr
um Bürger zu besänftigen, die davon haben, wenn neue
gegen Windanlagen in der Windräder in ihrer Nähe auf-
Nähe ihrer Wohnorte kämp- gestellt werden“, sagt Agora-
fen. Gemeinden könnten für Chef Patrick Graichen, etwa
jeden Höhenmeter der Wind- durch Geld für neue Kinder-
räder 100 Euro erhalten, für gärten oder eine neue Stadt-
jedes Betriebsjahr könnten halle. Die Politik müsse Vor-
zehn Euro pro Meter folgen. kehrungen treffen, um die bis-
Dazu kämen die Abgaben, lang hohe Zustimmung zum
die sich aus der Leistung der weiteren Ausbau der Wind-
rund 200 Meter hohen An- energie abzusichern. gt
Ojo: Wir haben das erwogen, gegen Shell ein Verbot, Gas
allerdings werden Urteile hier im Niger-Delta abzufackeln.
nicht durchgesetzt. 2005 etwa Auf seine Vollstreckung war-
verhängte der Federal Court ten die Bewohner der Ge-
gend bis heute.
SPIEGEL: In Italien ist bisher
noch kein Unternehmen we-
gen Menschenrechtsverletzun-
gen in Übersee erfolgreich
verklagt worden. Was hat Sie
zu dem Schritt ermutigt?
ROBIN VAN LONKHUIJSEN / ANP PHOTO / ACTION PRESS
Ojo: Der sogenannte Bodo-
Shell-Fall in London. Auch
da ist mit einer verseuchten
Gemeinde im Niger-Delta ein
David gegen einen Goliath
angetreten. Auch Shell ver-
suchte, die verursachten
Schäden kleinzurechnen.
5000 Dollar hatten sie zuerst
angeboten. Am Ende muss-
ten sie 83 Millionen Entschä-
Ölverschmutzung im Niger-Delta digung zahlen. nkl
DER SPIEGEL 3 / 2018 55
Stadt unter Strom
Finanzplätze Frankfurt boomt, wegen des Brexit kommen Tausende Investmentbanker
in die Main-Metropole. Damit wächst die Kluft zwischen Arm und Reich, die
sozialen Spannungen nehmen zu. Über allem schwebt ein Mann ohne Macht und Vision.

PAUL LANGROCK / AGENTUR ZENIT

Neubau der Deutschen Bank: 4000 Mitarbeiter will der Konzern nach Frankfurt versetzen

56 DER SPIEGEL 3 / 2018

 Wirtschaft

D
er Mann, der Frankfurt groß ma- meisterin Petra Roth. Er will vor allem beitsproduktivität, Nähe zur EZB, IT-Infra-
chen soll, liebt sein Wohnzimmer. Frieden in seinem Wohnzimmer; manche struktur, Internationalität, Frankfurts über-
So nennen Einheimische den Rö- nennen ihn deshalb einen Sozialroman- schaubare Größe – „die kleinste Weltstadt,
merberg, den von nachgebauten Fachwerk- tiker und halten ihn für ein politisches die es gibt“, schwärmt Väth.
häusern gesäumten Rathausplatz. Peter Leichtgewicht. „Es geht um die richtige Doch es fehlt an politischer Unterstüt-
Feldmann gefällt es, sich hier vor seinem Balance“, sagt Feldmann. „Natürlich wird zung. Während andere Städte Regierungs-
Dienstsitz ablichten zu lassen. Aber an die- Frankfurt vom Brexit profitieren. Aber das chefs und Minister schickten, kam für
sem Tag im Advent schieben sich dort Tau- darf keinesfalls auf Kosten der Bevölke- Deutschland Hubertus Väth. „We do it
sende Asiaten, Amerikaner, Bayern und rung geschehen.“ differently in Germany“, sagte er in
Hessen über den Weihnachtsmarkt, der Doch beides zugleich wird schwer gelin- London. Schließlich rief er doch um Hilfe,
Oberbürgermeister muss drinnen bleiben. gen, dafür sind die Interessen in der Stadt in der Staatskanzlei in Wiesbaden. Minis-
Die Kulisse liefert ihm das Stichwort, zu unterschiedlich. Die Gräben zwischen terpräsident Volker Bouffier flog nach
um mit glänzenden Augen über Chancen Kapitalismuskritikern und Bankern, Ar- New York, trommelte Vorstände der fünf
und Herausforderungen seiner Stadt zu men und Reichen, Profiteuren und Abge- größten US-Banken zusammen und über-
sprechen. Feldmann hat die Anzugjacke hängten werden tiefer. Und der Zuzug aus brachte Grüße von Bundeskanzlerin
abgelegt und beugt sich über die Tischplat- London liefert einen Sündenbock, den Angela Merkel: „Wir wollen, dass ihr
te. „Frankfurt ist die internationalste, die man für die Entwicklung verantwortlich kommt, und werden euch herzlich will-
globalste Stadt Deutschlands“, sagt er und machen kann: Investmentbanker. kommen heißen.“
fügt im hessischen Singsang gleich noch Wer der Stadt den Puls fühlt, der spürt Aber reicht das? Selbst die eigene Bran-
ein paar Großartigkeiten hinzu. Etwa dass den Aufbruch. Aber auch, dass die Stim- che lässt Väth hängen. „Es gab hier lange
Frankfurt bald die erste deutsche Groß- mung rasch kippen kann. nur bei wenigen die Identifikation mit dem
stadt sein könnte, die Arbeitslosigkeit zum Standort“, beklagt er. Einst war der Chef
Fremdwort erklärt. Der Lobbyist der Deutschen Bank Frankfurts Gesicht in
All das, was jetzt wegen des Brexit aus Keine zwei Kilometer von Feldmann ent- der Welt. Rolf Breuer, der den Konzern
London auf Frankfurt zukomme – der Zu- fernt, auf der anderen Mainseite, hat die um die Jahrtausendwende führte, trägt
zug von Managern und der Zufluss an Lobbyorganisation Frankfurt Main Finance noch heute gern den Titel „Mr Finanz-
Geld, die Wohnungsknappheit, der Ein- ihre Büros. Vis-à-vis der Europäischen platz“. Doch er und sein Nachfolger Josef
fluss anderer Kulturen –, sei für die alte Zentralbank (EZB), die ihre Macht auswei- Ackermann machten aus der Deutschen
Handelsstadt nichts Neues. Auch die Inte- tete und der Stadt einen Schub gab, als Bank eine angelsächsische, deren Hirn von
gration von mehr als 5000 Flüchtlingen der Niedergang der Großbanken sie London aus lenkte, während ihr Herz in
habe seine 730 000 Einwohner zählende schwächte. Frankfurt verkümmerte.
Stadt spielend bewältigt. Jahrelang werkelte Main-Finance-Ge- Selbst in den Tagen nach dem Brexit-
Mit seiner ostentativen Gelassenheit schäftsführer Hubertus Väth, 57, vor sich Beschluss sollen sich Schlüsselfiguren der
bringt Feldmann viele in der Stadt gegen hin, um Frankfurts Image zu verbessern – Frankfurter Bankenszene abfällig zum
sich auf. Denn seit die Briten am 23. Juni mit überschaubarem Erfolg. Bis ihm der Standort geäußert haben. Dabei könne der
2016 den Austritt aus der Europäischen Brexit die Chance seines Lebens bescherte. Brexit der ganzen Stadt einen Schub ge-
Union beschlossen haben, vibriert Frank- In der Nacht der Entscheidung hatte er ben, sagt Väth. Er könne Kaufkraft und
furt. Die Businesselite will, dass der OB bis zwei Uhr im Restaurant Main Nizza Innovationen bringen, und vor allem: wie-
den Brexit nutzt und die Stadt endlich zur gesessen und das Referendum am Fern- der mehr Relevanz in der Bankenwelt.
wichtigsten Finanzmetropole des Konti- seher verfolgt. Als er ins Bett ging, stand „Für Frankfurt ist das eine Chance“, sagt
nents macht. Der Bedeutungszuwachs, vor es 52:48 für einen EU-Verbleib der Briten. Väth beschwörend. Die Banken hätten zu
allem aber die Aussicht auf Tausende zah- Kurz nach sechs Uhr rief ein Journalist lange zu viele Talente verloren. „Frankfurt
lungskräftige Banker, die teuren Wohn- an. Was er davon halte, dass die Briten war im internationalen Geschäft häufig
raum mieten und die Spesenrestaurants pro Brexit gestimmt hätten. „15 Minuten zum Appendix von London geworden.“
bevölkern, freut Spekulanten. später war ich im Büro“, erzählt Väth. Väth glaubt, dass sich das ändern könn-
Andererseits verstärkt der Brexit die Ab- „Wir starteten vorbereitete Kampagnen te, jetzt. Weil Frankfurt eine Stadt der Wie-
stiegsängste der Normalverdiener. Die lei- über die sozialen Netzwerke und schalte- deraufsteher sei. Ausgebombt nach dem
den heute schon darunter, dass Leben und ten ein Callcenter live. Unsere Botschaft: Krieg, lebe man nicht von der Geschichte,
Wohnen in der Mainmetropole immer teu- Welcome to Frankfurt.“ Bis heute habe er sondern vom Hier und Jetzt. „Ich habe
rer wird, während die Gehälter stagnieren. fast 800 Interviews gegeben. Frankfurt keine Angst, wenn Investmentbanker mit
Seit Jahren ziehen Jahr für Jahr bis zu Main Finance sei in 5700 Artikeln erwähnt Know-how kommen.“
15 000 Einwohner neu in die Stadt. Wohn- worden, von 2000 Medien aus 94 Ländern.
raum ist knapp, in ehemaligen linksalter- Väth hantiert gern mit Zahlen. Er war Der Skeptiker
nativen Vierteln wie Bockenheim und Nor- Marktforscher, Berater, Kommunikator. Lothar Reininger hat auch keine Angst vor
dend ist er für Normalverdiener kaum Kurz nach dem Brexit-Votum setzt er zwei Investmentbankern. Aber der Vorsitzende
noch erschwinglich. Schulen und Kinder- Zahlen in die Welt, die seitdem in allen des Club Voltaire findet, dass Frankfurt
gärten sind überfüllt. Im Bahnhofsviertel, Köpfen stecken: 25 000 Mitarbeiter der nicht noch mehr von ihnen braucht. Die
berüchtigt für seine Drogen- und Rotlicht- Finanzbranche würden London in den Kleinkunstkneipe in einer Seitenstraße zur
szene, machen sich Hipsterlokale breit. kommenden fünf Jahren verlassen, 10 000 Flaniermeile Fressgass ist eine der letzten
Spekulanten kaufen sich ein, die Angst vor davon an den Main kommen. Er glaubt zu Keimzellen linker Protestkultur. Neulich
Gentrifizierung greift um sich. wissen, welche Jobs in die EU verlegt wer- war hier ein Wegbegleiter von Che Gue-
Viele deutsche Metropolen kämpfen den müssen, wenn die Banken, Fonds und vara zu Gast, der Klub war gerammelt voll
mit ähnlichen Problemen. Aber in Frank- Versicherungen in Europa im Geschäft blei- mit Leuten, die das Gefühl eint, für eine
furt kommt der Brexit hinzu, das macht ben wollen. Und er will so viele wie mög- bessere Welt zu kämpfen.
die Situation einzigartig. Und mittendrin lich von ihnen nach Frankfurt locken. Doch eigentlich will Reininger – ein 68er
steht Feldmann, 59, seit 1974 SPD-Mitglied Der Lobbyist versucht, mit ökonomi- mit Vollbart, hoher Stirn und Kapuzenpulli
und seit 2012 Nachfolger der CDU-Bürger- schen Argumenten zu überzeugen: Ar- – mehr politischen Diskurs mit Leuten, die
DER SPIEGEL 3 / 2018 57
 KATRIN BINNER / DER SPIEGEL

KATRIN BINNER / DER SPIEGEL

KATRIN BINNER / DER SPIEGEL

Oberbürgermeister Feldmann, Lobbyist Väth, Klubchef Reininger: Kampf um den sozialen Frieden in der Stadt

im Voltaire nicht nur ihre Weltsicht bestä- Der Chemiekonzern Hoechst wurde über- Wohnraum zu erstellen. Außerdem baue
tigt bekommen. nommen, viele Stellen fielen weg. Auch die Stadt Tausende neue Wohnungen, und
Linker Protest ist rar geworden in Frank- Firmen wie VDO, Telenorma, Hartmann endlich gebe es auch für private Investoren
furt. Man kann sich kaum noch vorstellen, & Braun, Triumph Adler bauten ab, zogen die Auflage, bei Neubauten knapp ein Drit-
dass das edle Nordend Keimzelle der Stu- auf die grüne Wiese oder machten dicht. tel geförderte Wohnungen zur Verfügung
dentenbewegung und der Außerparlamen- Reininger war damals Betriebsratsvorsit- zu stellen. „Trotz unserer Auflagen wird
tarischen Opposition gewesen ist. Dass hier zender der Adler-Werke und organisierte fleißig investiert“, sagt Feldmann.
Häuser besetzt, Straßenschlachten geschla- den Widerstand gegen den Abbau, dessen Doch so glatt, wie er es darstellt, läuft die
gen, RAF-Terroristen beherbergt wurden. Folgen bis heute nachwirken. Stadtentwicklung nicht. „Es gab in Frankfurt
Heute beschränkt sich der Protest auf Viele Frankfurter haben den Wandel zur einmal 40 000 Sozialwohnungen, heute sind
Stadtteilinitiativen, die mit friedlichen De- Dienstleistungsgesellschaft mit Einkom- es nur noch 20 000 bis 23 000, weil immer
monstrationen auf die Wohnungsnot auf- mensverlusten bezahlt. 30 bis 40 Prozent mehr Wohnungen aus der Sozialbindung he-
merksam machen. 68er wie Joschka Fi- der Bürger, rechnet Reininger vor, hätten rausfallen“, sagt Reininger. Die Stadt habe
scher, Daniel Cohn-Bendit oder Johnny in den vergangenen 25 Jahren keine Real- es versäumt, rechtzeitig selbst zu bauen.
Klinke (siehe Interview Seite 60) sind lohnsteigerung erfahren, die Hälfte verdie- Im Umland stößt Frankfurt auf wider-
längst Teil des Establishments. ne netto kaum mehr als 2000 Euro. Zu- spenstige Gemeinden. Feldmann möchte
Erst die Finanzkrise von 2008 brachte gleich strömen Gutverdiener in die Stadt vor dem Taunusdörfchen Steinbach ein
die Leute wieder auf die Straße. Doch der und ihr Umland. Vor allem, seit die EZB Wohnviertel hochziehen, doch die Kommu-
Lärm von Blockupy verhallte so schnell in der Stadt residiert, sind Tausende Geld- ne will sich die grünen Wiesen und den frei-
wie die Reuebekundungen der Manager. politiker, Ökonomen, Bankenaufseher und en Blick auf Frankfurt nicht verbauen lassen.
Nach der Krise, erzählt Reininger, seien andere hoch qualifizierte und gut bezahlte Zwar funktioniere die Zusammenarbeit
auch Banker ins Voltaire gekommen. Auf Menschen hinzugekommen. mit Gemeinden wie Offenbach besser, wie
Sinnsuche, ergänzt der Klubchef amüsiert. Seit Jahren stiegen die Mieten drama- Feldmann betont. Aber reicht das?
Doch die meisten hätten bald wieder an tisch, sagt Reininger, immer mehr Frank- Nein, ist Reininger überzeugt. Der Bre-
den Stehtischen auf der Fressgass gestan- furter hätten das Gefühl, vom Wohlstand xit bringe die Stadt aus dem Gleichgewicht.
den und Champagner geschlürft. der Stadt ausgeschlossen zu sein. „Allein „Noch 10 000 Banker mehr, das würde
Reininger hat die Finanzkrise nicht ver- die Aussicht auf den Zustrom nach dem Frankfurt sozialpolitisch den Rest geben.“
gessen. Deshalb versteht er Leute wie Väth Brexit hat die Preise und Mieten weiter
nicht. „Es wäre verrückt, die Zeit zurück- steigen lassen. Es hat sich Goldgräberstim- Profiteure und Pendler
zudrehen und Frankfurt zur europäischen mung breitgemacht“, klagt er. Ganz anders sieht das Ulrich Höller. Der
Finanzhauptstadt machen zu wollen.“ Die Gefahr, dass der Immobilienboom drahtige Manager mit schwerem Pfälzer
Durch die Krise haben die Banken in die Stadt spaltet, sieht auch Oberbürgermeis- Zungenschlag ist Chef der German Estate
Frankfurt wirtschaftlich an Gewicht ver- ter Feldmann. Doch er signalisiert: Wir ha- Group (GEG), eines der großen Immobi-
loren, 40 Prozent der Gewerbesteuerein- ben es im Griff. „Der Brexit-Hype findet lienentwickler in Frankfurt. Sein neues,
nahmen kommen mittlerweile aus der vor allem in den Köpfen der Immobilien- vielleicht spektakulärstes Projekt nennt
Industrie. Aber der Brexit-Boom, fürchtet spekulanten statt“, sagt er. „Wir müssen sich Riverpark Tower und war früher ein
Reininger, könnte die Struktur wieder jetzt die Ventile aufmachen, um Dampf Bürogebäude – das vielleicht hässlichste
Richtung Banken verschieben. Ausgerech- aus der Immobilienblase abzulassen.“ der Stadt, aber mit unschlagbarem Blick
net jetzt, da viele Gurus vor dem nächsten Feldmann verweist darauf, dass es für auf den Main und Sachsenhausen.
Crash warnen. „Und wie tief geht es dann die 52 000 Wohnungen der städtischen Jetzt baut er den 95 Meter hohen Tower
für die Stadt, wenn es wieder knallt?“ Wohnungsbaugesellschaft ABG einen für 220 Millionen Euro in einen Wohnturm
In den Neunzigerjahren erlebte Frank- Mietpreisstopp gebe sowie die Auflage, bei um, nach Plänen des in Asien populären
furt eine Phase der Deindustrialisierung. Neuprojekten 40 Prozent preiswerten Architekten Ole Scheeren. Ein „Landmark
58 DER SPIEGEL 3 / 2018

KATRIN BINNER / DER SPIEGEL
Immobilieninvestor Höller, Vermieter Schramm, Vorstandsmitglied Matherat: Warten auf den Ansturm aus London
Building“ mit asymmetrisch versetzten
Etagen, transparent, ohne Fassade. Wie
ein „Jenga“-Spielturm kurz vor dem Ein-
sturz. Und wie gemacht für Interessenten
mit vollen Taschen, von denen bald ein
paar mehr in der Stadt leben werden.
Noch gebe es kaum Anfragen von Bre-
xiteers, räumt Höller ein. „Aber das wird
kommen.“ In ganz Frankfurt werden in
den nächsten Jahren mindestens zehn
Wohntürme bezugsfertig. Tausende Luxus-
apartments kommen auf den Markt, zu
Quadratmeterpreisen von 5000 bis 18 000
Euro – zu teuer für Durchschnittsverdiener,
Schnäppchen im Vergleich zu London.
Investoren wie Höller umwerben nicht
nur umzugsbereite Brexit-Banker. Schließ-
lich boomt die Stadt ohnehin, und auch
im deutschen Finanzgewerbe wird noch
immer weit überdurchschnittlich gezahlt.
„Hier wird viel verdient, leben Ge-
schäftsleute aus aller Welt. Die wollen stan-
desgemäß wohnen“, sagt Höller. Dass
Zehntausende Normalverdiener auf der
Suche nach bezahlbarem Wohnraum sind,
weiß auch er. Das aber sei in erster Linie
Aufgabe der Politik. Frankfurt und die um-
liegenden Kommunen müssten sich enger
abstimmen, genügend Bauland und Flä-
chenreserven seien vorhanden.
In den Riverpark Suites, die er am Fuße
des Towers baut, hat Höller 30 Prozent
des Wohnraums für sozial Schwache reser-
viert. „Das senkt natürlich meine Rendite“,
sagt Höller. Andererseits: Das nächste Pro-
jekt kommt bestimmt, da kann ein gutes
Verhältnis zur Stadt wertvoll sein.
Mit dem knappen Gut Wohnraum ver-
dient er auch privat. Höller ist Miteigen-
tümer eines sogenannten Boarding House
im schicken Westend, in einem der möb-
lierten Apartments wohnt er selbst. Haupt-
vermieter ist Michael Schramm, Ex-Chef
KATRIN BINNER / DER SPIEGEL
der Privatbank Hauck & Aufhäuser. 2016
hat er sich vom Banking verabschiedet und
auf Immobilien umgesattelt. Heute gehö-
ren ihm 15 Boarding-Häuser mit rund 550
Apartments sowie drei Hotels, überwie-
gend in Frankfurt. Sein Geschäftspartner
ist Hasan Salihamidžić, besser bekannt als
Sportdirektor des FC Bayern.
Vom Verkauf seiner Anteile an Hauck
& Aufhäuser leistete sich Schramm 2012
die ersten vier Häuser und stellte seinen
Fahrer als Hausmeister ein. Seinen Durch-
bruch hatte Schramm, als er 2014 die Aus-
schreibung der EZB gewann. Die Noten-
bank musste Hunderte neue Mitarbeiter
in Frankfurt unterbringen, als die Banken-
aufsicht an den Start ging. Jetzt haben
Schramm und Salihamidžić 150 Apart-
ments allein an die EZB vermietet. „Das
sind rund 250 000 Euro pro Monat von
Europas bonitätsstärkstem Mieter.“
Und demnächst wird er seinen Bestand
um hundert Apartments erweitern. Ein chi-
nesischer Investor habe bereits angefragt,
ob er einsteigen könne. „Die haben durch-
gerechnet, wie sie in Frankfurt am besten
vom Brexit profitieren können. Das Ergeb-
nis war eindeutig: mit Boarding Houses.“
Zwar spürt Schramm die große Nachfra-
ge nach Wohnraum für Brexit-Flüchtlinge
noch nicht, hält das aber für eine Frage der
Zeit. „Viele werden bald befristet nach Frank-
furt versetzt. Die werden nicht gleich ihre
ganze Familie nachholen, sondern am Wo-
chenende zurück auf die Insel pendeln.“
Wie es laufen könnte, zeigt das Beispiel
Deutsche Bank. Vor einem Dreivierteljahr
ließ Sylvie Matherat, erste Französin im
Vorstand des Geldkonzerns und zuständig
für Regulierung und Einhaltung von Re-
geln (Compliance), bei einer Finanzkonfe-
renz durchblicken, was der Brexit für die
Deutsche Bank bedeutet.
Wirtschaft
THILO RÜCKEIS / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Rund 4000 Mitarbeiter, so Matherat,
werde die Deutsche Bank von London
nach Frankfurt holen müssen: Kundenbe-
treuer, IT-Experten, Risikomanager. Denn
die Finanzaufsicht bei der EZB mit Mathe-
rats Landsfrau Danièle Nouy an der Spitze
verlangt von den Banken, die ihre Europa-
geschäfte von London aus machen, dass
sie entscheidende Funktionen wie das
Risikomanagement in den Euroraum ver-
lagern. Auch Matherats Compliance-Ab-
teilung, einer der wenigen Bereiche, die
bei der Deutschen Bank noch wachsen,
dürfte in Frankfurt mehr Leute brauchen.
Aber werden sich diese Banker nach
Jahren in London mit Kind und Kegel am
Main ansiedeln? Wahrscheinlich ist das
nicht. Etliche führende Deutsche-Bank-
Manager leben es vor, selbst einige der
Vorstände haben nicht einmal mehr ihren
Hauptwohnsitz am Main. Die weltgewand-
te Matherat, seit 2014 bei der Deutschen
Bank, gibt an, meist nur zwei Tage in der
Woche in Frankfurt zu sein, sie jettet viel
durch die Welt oder ist in ihrer Heimat-
stadt Paris. Sie gilt als modebewusst, ist
tief in den französischen Eliten verwur-
zelt – und kaum an der unglamourösen
Mainmetropole interessiert.
So werden sich auch viele der niedriger
angesiedelten Mitarbeiter eher proviso-
risch in Frankfurt einrichten. Die Deutsche
Bank soll ihren Mitarbeitern in den Ar-
beitsverträgen möblierte Apartments zu-
gesichert haben.
Der Banker
Einer, der den Schritt von London nach
Frankfurt schon gemacht hat, ist Sven
Baumann. Der 48-Jährige wechselte 2015
nach zwölf Jahren in London von Merrill
Lynch zum Rivalen Citigroup und verant-
wortet heute als Co-Chef das deutsche
DER SPIEGEL 3 / 2018 59
 „Lasst sie kommen!“
Metropolen Lokalpatriot und Ex-Sponti Johnny Klinke erklärt,
warum Frankfurt am Main überhaupt nicht uncool ist.
M. GOTTSCHALK / PHOTOTHEK / GETTY IMAGES
Straßenkämpfer, veau. Die Kultur schafft die innere
Hausbesetzer, Verbindung zwischen den Menschen
Ex-Kommunarde von aus aller Welt. Der Kulturhaushalt ist
Joschka Fischer: im Vergleich deutscher Städte uner-
Klinke, 67, ist einereicht. Entscheidend war, dass Frank-
Legende der furt seit den Siebzigerjahren an den
Frankfurter Sponti- Main zurückgefunden hat. Im Som-
Szene – und seit mer fühlt es sich dort an wie an der
30 Jahren erfolg- Seine in Paris. Warum die Frankfur-
reicher Unternehmer:ter trotzdem oft schlecht gelaunt
Sein „Tigerpalast“-Varieté hat Weltrang, sind, hat mein Freund, der Kabaret-
das Café Siesmayer ist das Frühstückslo- tist Matthias Beltz, beantwortet:
kal der Banker. Der gebürtige Berliner „Wir haben keinen Zugang zum Mit-
lebt seit 1960 in Frankfurt. Er liebt dietelmeer.“
SPIEGEL: Jetzt übertreiben Sie.
Stadt, leidet aber daran, dass sie es sich
im Erfolg zu bequem macht. Klinke: Nein! Wir haben alles, was
man braucht. Nur eines stört mich.
SPIEGEL: Herr Klinke, wegen des Bre- SPIEGEL: Was meinen Sie?
xit kommen Tausende Investmentban- Klinke: Wirtschaft, Institutionen und
ker aus London nach Frankfurt. Zeit Menschen haben Erfolg in Frankfurt.
für einen neuen Klassenkampf? Alles bewegt sich in irrem Tempo.
Klinke: Die Zeiten sind vorbei. Frank- Aber in dieser Stadt gibt es auch eine
furt ist so international und integrativ verborgene Sehnsucht nach Glanz,
wie keine andere deutsche Stadt. Das nach einer emotionalen Zuspitzung
fing mit den Amerikanern nach dem für große Momente. Wir müssen ein
Krieg an, hier leben heute Menschen Zeichen setzen, so wie Bilbao mit
aus 190 Ländern, konfliktgeübt auf en- dem Guggenheim-Museum oder Ham-
gem Raum, ohne Gettos. Das ist ein- burg mit der Elbphilharmonie.
zigartig in Deutschland. Diese Stadt SPIEGEL: Die hätte den Stadtetat bei-
bricht nicht auseinander. Daran wer- nahe ruiniert ...
den die Brexit-Banker nichts ändern. Klinke: Das interessiert doch fast nie-
Lasst sie kommen! manden mehr. Wichtig ist: Das Ding
SPIEGEL: Erstaunlich. Immerhin war steht jetzt da und leuchtet in die Welt
Frankfurt in den Siebzigerjahren die hinaus. So ein Zeichen fehlt uns. Da-
Hauptstadt des antikapitalistischen bei konkurrieren wir mit Barcelona
Widerstands. Sind die alten Recken und Mailand, Paris und London, den
schlachtenmüde? anderen wirtschaftlichen Kraftzentren
Klinke: Ab 1968 war Frankfurt Labora- in Europa.
torium der modernen Demokratie SPIEGEL: Wer soll es richten?
und der europäischen Großstadt. Das Klinke: Die Politik kann es nicht. Wir
hat die Stadt und ihre Bewohner auf haben seit dem Abgang von Ober-
verträgliche Weise konfliktfähig ge- bürgermeisterin Petra Roth keine
macht. Die Rebellen von damals sind langjährige Repräsentantin des inter-
heute Anwälte, Krankenschwestern, nationalen Frankfurt mehr, die Partei-
Ärzte, Unternehmer, Sozialarbeiter, en spielen keine Rolle. Zukunftsideen
Lehrer, Beamte, in den Medien. Sie müssen aus der Bürgergesellschaft
bilden das Rückgrat dieser Stadt. Hier kommen. Aus einem neuem Bündnis
bricht nichts auf- oder auseinander, von Wirtschaft und Kultur.
nur weil ein paar Banker mehr hier SPIEGEL: An was denken Sie?
sind. Klinke: Ein europäisches Kulturfestival
SPIEGEL: Die kommen in eine Stadt, mitten auf dem Main, mit schwim-
die im Vergleich zu London ein Dorf mender Bühne, Tribünen und Som-
ist und in Deutschland als uncool mernachtsgastronomie am Fluss, mit
gilt. Klassik, Oper, Ballett und Varieté in
Klinke: Quatsch. In der Rhein-Main- höchster Qualität. Mit der Skyline im
Region leben 5,5 Millionen Men- Hintergrund würden die Bilder um
schen, Frankfurt ist nur die Innen- die Welt gehen. Meine Idee ist längst
stadt. Museumsufer, Opernhaus, Alte vorbereitet. Jetzt kommt es auf den
Oper, Senckenberg-Institut, Tiger- richtigen Zeitpunkt an. Wir müssen es
palast haben europäisches Topni- nur wollen! Interview: Tim Bartz
60 DER SPIEGEL 3 / 2018
Geschäft mit der Beratung von Firmenkun-
den. Insofern ist er eine Art Ein-Mann-
Spähtrupp der britischen Investmentban-
ker-Gilde, auch wenn er den städtischen
Wohnungsmarkt nicht direkt belastet: Mit
Frau und drei Kindern wohnt er in Kron-
berg im Hochtaunuskreis, wo mehr Ein-
kommensmillionäre zu Hause sind als in
Frankfurt.
Glaubt er, dass sich seine Kollegen aus der
Londoner City mit dem Gedanken anfreun-
den können, nach Frankfurt zu ziehen?
„Wer kann, wird es vermeiden. Und wer
muss, kommt als Schichtarbeiter“, sagt
Baumann. „Es gibt definitiv mehr offene
Stellen als Kandidaten.“ Auch deshalb,
weil exzellent bezahlte Jobalternativen in
London nach wie vor zahlreich sind.
Oft werde er von Kollegen und Freun-
den gefragt, ob Frankfurt nicht öde sei.
Abstreiten kann er das nicht. „Gastrono-
misch und vom Kulturangebot her hinkt
die Stadt hinterher, so multikulturell wie
London ist sie auch nicht. Dort habe ich
mich als Weltbürger gefühlt, hier als Deut-
scher.“ Provinzieller sei Frankfurt, aber
angenehmer für Familien. Die Lebensqua-
lität sei höher, der Leistungsdruck für Kin-
der geringer als in Londons Privatschulen.
„Frankfurt ist der gefühlte Kompromiss.“
Es ist ein Dilemma.
Der Mann, der die widerstreitenden In-
teressen bündeln müsste und den Weg vor-
geben sollte, ist Oberbürgermeister Feld-
mann. Auf ihm ruhen die Hoffnungen de-
rer, die bezahlbaren Wohnraum suchen.
Aber gleichzeitig die der Finanzlobby, die
den Brexit für sich nutzen will.
Feldmanns Problem ist nicht nur, dass
er am 25. Februar zur Wiederwahl steht.
Die größere Hürde ist: Selbst wenn er woll-
te, der OB kann nicht durchregieren. Die
Stadtverfassung sieht vor, dass der direkt
gewählte Oberbürgermeister mit der Mehr-
heit im Römer klarkommen muss. Derzeit
ist das eine schwarz-rot-grüne „Kenia“-
Regierung, die damit zu zwei Dritteln aus
politischen Gegnern besteht.
Auch in der Region fehlt ihm der Durch-
griff: „Es gibt kein Regionalparlament, kei-
nen Hauptverantwortlichen für die Ge-
samtregion Frankfurt/Rhein-Main“, sagt
Feldmann. Das würde Hessens Landes-
regierung kaum zulassen, egal wer regiere.
Auf die Bundesregierung braucht er
auch nicht zu hoffen – mit dem Kampf für
Investmentbanker gewinnt man keine
Wählerstimmen. Als es darum ging, die
Bankenaufsicht EBA von London herüber-
zuholen, ließen die Berliner Koalitions-
sondierer Feldmann allein, Frankfurt kam
nicht einmal in die Endrunde.
Seine Stadt ist in einer historisch einma-
ligen Situation, ihr droht die Zerreißprobe.
Doch Peter Feldmann, der Mann, der alle
miteinander versöhnen muss, ist ein König
ohne Land. Tim Bartz, Martin Hesse

Lebenslügen
Analyse Die Deutsche Bank steckt seit Jahren in der personellen und strategischen
Sackgasse. Findet sie keinen Ausweg, wird es ihr ergehen wie dem Britischen Empire.
I
m Jahr 1987 veröffentlichte Paul Kennedy sein bis heute
aktuelles Buch „Aufstieg und Fall der großen Mächte“.
Darin beschreibt der britische Historiker einprägsam
die Phasen (Aufstieg, Überdehnung, Erschöpfung, Ab-
stieg), die Imperien durchlaufen, bevor sie oft schleichend,
manchmal krachend implodieren und in relative Bedeutungs-
losigkeit zurückfallen. Unter anderem die Habsburger Mo-
narchie, das Britische Empire und das Deutsche Reich be-
legen Kennedys Theorie des „imperial overstretch“.
Das Phänomen der imperialen Überdehnung existiert
auch in der Wirtschaft. Die Unternehmensgeschichte ist
voll von Konzernen, die erst zu mächtig und dann zer-
schlagen wurden (Standard Oil Company) oder so träge
und schlecht geführt waren, dass sie trotz ihrer einstigen
Ausnahmestellung irrelevant wurden (Eastman Kodak).
Auch die Deutsche Bank war einmal mächtig, weit über
die Grenzen ihrer Heimat hinaus. Sie hat dafür Sachen
gemacht, für die sie bis heute in Form
milliardenteurer Rechtsvergleiche zahlt.
Mit dem Aufstieg zur Weltfinanzmacht,
vor allem aber der anschließenden Veränderung gegenüber Juli 2015
Überdehnung, begründet die aktuelle
Führung, warum die Bank noch in der
zum Vergleich: Bankenindex
Phase der Erschöpfung steckt. 2017 hat „Stoxx Europe 600 Banks“
sie zum dritten Mal in Folge einen Jah-
resverlust produziert.
Das Schlusskapitel, den Abstieg, will
der Konzern mit aller Macht verhin-
dern. Und weil in der Wirtschaft wie
in der Politik zunehmend die Narrative
das Faktische überlagern, hat sich auch
die Deutsche Bank eine Erzählung zu-
Quelle: Thomson Reuters Datastream
rechtgelegt, in der das Morgen heller
scheint als das Heute und vor allem
das Gestern. Sie wäre gern Europas führende Universal-
bank, rundum geläutert und renditestark. Mit starker Kun-
denbasis im Inland und abgespeckter, aber immer noch
wuchtiger Präsenz im globalen Kapitalmarktgeschäft.
Doch nicht nur die aktuellen Zahlen, vor allem strate-
gische und personelle Gründe sprechen dagegen, dass es
so kommt. So gibt es keine vergleichbare europäische
Bank mehr, die in allen Disziplinen des Bankings vorn
dabei sein will. Ob im Privat- und Firmenkundengeschäft,
dem Zahlungsverkehr, Wertpapierhandel oder Fondsab-
satz: Die Deutsche Bank ist der Adabei der internationalen
Finanzszene. Aber wofür sie steht, weiß niemand.
Ihre Strategie stammt aus der Zeit vor der Finanzkrise,
doch heute ist die Regulierungswelt eine andere. Sie be-
vorteilt US-Banken, so ungerecht das angesichts deren
Schlüsselrolle in der Jahrhundertkrise ist. Vor allem haben
die neuen Regeln den Handel mit Wertpapieren aller Art
enorm verteuert – jener Disziplin, in der die Deutsche
Bank einst stark war, auch wenn sie praktisch alle Gewin-
ne an ihre Investmentbanker ausgeschüttet hat.
In diesem Kapitalmarktgeschäft, das noch immer die
Konzern-DNA ist, hat die Deutsche Bank im Schlussquar-
Wirtschaft
tal 2017 fast ein Viertel weniger umgesetzt als vor Jahres-
frist. Ein dramatisches Signal. Aber nicht das erste für
den Bedeutungsverlust der Sparte, die entscheidend ist
für das Schicksal der Bank und das auch bleiben soll.
Zugleich schafft es das Management nicht, die Kosten
so drastisch zu senken, wie es andere längst getan haben
und es zur Kompensation der fortwährenden Umsatzaus-
fälle nötig wäre. Dabei haben viele erfolgreiche und damit
teure Banker das Unternehmen längst verlassen.
Das führt zu den personellen Gründen, warum der Kon-
zern ausblutet. Er wird seit 2012 mut- und visionslos ge-
führt; erst von den Vorstandschefs Anshu Jain und Jürgen
Fitschen, seit 2015 von John Cryan, immer aber vom Auf-
sichtsratsvorsitzenden Paul Achleitner. Keiner hatte die
Absicht oder den Mut, die Bank organisatorisch und per-
sonell so zu verschlanken, wie es nötig gewesen wäre, um
die Investoren wieder von sich zu überzeugen. Wie das
geht, zeigt Ex-Bundesbankpräsident
Axel Weber, seit 2012 Verwaltungsrats-
Deutsche-Bank-Aktie chef der Schweizer UBS. Ihn wollte
sich die Deutsche Bank nicht zumuten.
(Amtsantritt von John Cryan) Imperien scheitern meist an Eitelkeit
und Größenwahn ihrer Führer. Cryan,
der aktuelle Vorstandschef, zeichnet
weder das eine noch das andere aus.
Er ist ein etwas spleeniger Brite, der oft
–38,4% das Richtige sagt, dem aber nichts folgen
lässt. So findet er, dass Banker zu viel
verdienen, Boni im Prinzip überflüssig
sind und die Deutsche Bank wohl auch
mit der Hälfte ihrer 100 000 Mitarbeiter
auskommen könnte. Trotzdem will er
gerade die Boni wieder erhöhen. Das
wäre weniger schlimm, wenn die Bank
genug verdienen würde oder vermitteln könnte, dass das
bald so sein wird. Wahrscheinlicher ist stattdessen, dass
Cryan im Verlauf des Jahres 2018 gehen muss.
Für diesen Fall hat Achleitner zwei Kronprinzen auser-
koren: Cryans Stellvertreter Marcus Schenck und Christian
Sewing. Die haben jedoch bei den Großinvestoren kaum
Rückhalt und stehen für die jetzige Strategie, die ins Nir-
gendwo führt. Eine andere, externe Lösung drängt sich
nicht auf – und wäre außerdem eine Bankrotterklärung
für Achleitner. Ein totales Dilemma.
Zu einem Übernahmekandidaten macht all das die
Bank nicht, dafür ist ihre Bilanz zu toxisch. Aber ein stra-
tegischer Aufbruch – etwa den Komplettverkauf der Ver-
mögensverwaltung, den weitgehenden Abschied von der
Wall Street und eine Fusion mit der Commerzbank – ist
auch nicht in Sicht. Nur ein Weiter-so auf einem Pfad,
der geradewegs in die globale Bedeutungslosigkeit führt.
Sollte der rüstige Kennedy eine Neuauflage seines Stan-
dardwerks planen und um Beispiele aus der Unterneh-
menswelt erweitern wollen, könnte er schon einmal ein
Kapitel für die Deutsche Bank reservieren. Tim Bartz
Mail: tim.bartz@spiegel.de
DER SPIEGEL 3 / 2018 61
Wirtschaft
Stundenzettel für Millionäre
Konzerne Die Beratungsfirma BCG pflegt eine eigenwillige Anstellungs- und Vergütungspolitik
für ihre Topmanager. Das könnte die Wettbewerber interessieren – und ihre Kunden.
D
ie Lektüre von Handels-
registerauszügen ist meist
ähnlich öde wie das Studi-
um von Beipackzetteln für Medika-
mente. Streng tabellarisch wird dort
aufgelistet, wann ein Unternehmen
gegründet wurde, wo es seinen Sitz
hat, was sein Geschäftszweck ist
und wer es leitet.
Manchmal aber verbirgt sich hin-
ter den trockenen Einträgen auch
Stoff für eine Wirtschafts-Groteske.
Bei der Deutschlandtochter der re-
nommierten amerikanischen Bera-
tungsfirma Boston Consulting
Group (BCG) scheint das der Fall
zu sein.
Bis vor Kurzem waren in der
offiziellen Firmendatenbank nur
rund ein halbes Dutzend BCG-
Manager als Geschäftsführer ver-
merkt. Bei einem Unternehmen mit
weit über tausend Mitarbeitern und
geschätzten 730 Millionen Euro
Umsatz ist das nicht ungewöhnlich.
Dann aber passierte Erstaun-
liches: Im Herbst explodierte die
Zahl der Geschäftsführer bei BCG
geradezu. Allein am 5. Oktober
wurden 58 neue Führungskräfte ein-
getragen. Einen Tag später folgten
46 weitere. Inzwischen werden die
Geschicke der Beratungsfirma laut
den Registereinträgen von rund 130
Mitarbeitern in herausgehobener
Funktion gelenkt.
Die wundersame Beförderungsflut hat
nichts damit zu tun, dass BCG, die Welt-
konzerne wie Siemens, Daimler und Luft-
hansa berät, unter ihrem seit 2013 amtie-
renden Deutschlandchef Carsten Kratz
extrem stark gewachsen wäre. Auslöser
war offenbar vielmehr ein Gerichtsver-
fahren, das seit mehr als zwei Jahren
gegen den Deutschlandableger des US-
Beratungskonzerns läuft und am kom-
menden Donnerstag vor dem Landesar-
beitsgericht in Köln in die entscheidende
Phase geht.
Nach Schilderung früherer und heutiger
Mitarbeiter und Partner klagt dort ein ehe-
maliger Kollege gegen seine Kündigung
und pocht auf Weiterbeschäftigung. Haupt-
knackpunkt in dem Verfahren ist, ob der
Mann trotz seines Millionengehalts als
ganz normaler Arbeitnehmer zu betrach-
ten ist oder ob er als leitender Angestellter,
etwa in der Position eines Geschäftsfüh-
rers, tätig war. Nur dann hätte man ihm
62 DER SPIEGEL 3 / 2018
BCG-Chef Kratz: Wundersame Beförderungsflut
ohne Angabe von Gründen kündigen dür-
fen, was im Herbst 2015 geschah.
Der Betroffene beharrt Insidern zufolge
auf seinem Status als einfacher Arbeitneh-
mer und führt dafür unter anderem seinen
ursprünglichen Arbeitsvertrag an sowie
seine Feststellung, dass er keine Personal-
hoheit hatte. Kratz und seine Anwälte da-
gegen stünden auf dem Standpunkt, der
Ex-Partner habe den Rang eines Geschäfts-
führers besessen und sei ordnungsgemäß
bestellt worden. Dass er wie viele andere
seiner Kollegen auf derselben Hierarchie-
stufe nicht im Handelsregister eingetragen
war, spiele keine Rolle.
Jedenfalls hat BCG vor der Verhandlung
jetzt mehr als 120 Angestellte mit einem ähn-
lichen möglichen Zwitterstatus in der Fir-
mendatenbank nachgemeldet. Das Register-
gericht soll aufgrund eines Hinweises darauf
gedrängt haben, und so ganz scheint die Fir-
ma der eigenen Argumentation und früher
geübten Praxis nicht mehr zu trauen.
Konkurrenten haben schneller
für klare Verhältnisse gesorgt. Der
Wettbewerber Accenture etwa listet
seine Geschäftsführer seit Länge-
rem im Handelsregister auf, wie das
Gesetz es vorschreibt, und bringt
es auf 147 Namen.
Laut GmbH-Gesetz müssen diese
Manager auch allesamt im Brief-
kopf auftauchen. Bei mehr als 100
Namen ist das kaum machbar. Die
BCG-Spitze hat die eigene Adress-
zeile deshalb neuerdings um einen
Link ergänzt. Über ihn können
Empfänger von Briefen und ande-
ren offiziellen Schreiben nunmehr
alle im Handelsregister geführten
Geschäftsführer einsehen.
Glaubt man Vertrauten des ab-
servierten Ex-Beraters, dürften im
Zuge des Prozesses noch weitere,
bislang unbekannte Details über
die Geschäftspraktiken von BCG in
Deutschland durchsickern. Für ei-
nige könnten sich sogar die zustän-
digen Behörden interessieren.
OLIVER RUETHER / WIRTSCHAFTSWOCHE
Es geht also um viel für den
Beraterriesen, der auch schon die
Bundesregierung beraten hat. Kon-
zernchef Rich Lesser gehörte dem
mittlerweile aufgelösten Wirtschafts-
beratergremium von US-Präsident
Donald Trump an und will sich in
diesem Jahr wohl zur Wiederwahl
als CEO stellen. Er selbst und Kratz
waren allerdings noch nicht im
Amt, als der klagende Ex-BCGler vor über
zehn Jahren eingestellt wurde.
Der Mann wurde damals mit einem üp-
pigen fünfstelligen Monatsgehalt gelockt.
Gut ein Jahr später sollen er selbst sowie
weitere Manager der beiden höchsten Hie-
rarchieebenen eines Partners oder Senior
Partners aufgefordert worden sein, eine
Vereinbarung zu unterschreiben. Sie soll
den Beratern den Status als Arbeitnehmer
entzogen und sie zumindest auf dem Pa-
pier zu Geschäftsführern erhoben haben.
Allerdings tauchten sie bis zum vergan-
genen Herbst nicht im Handelsregister auf.
Auch erschienen sie nicht auf dem Firmen-
briefkopf, nahmen offenbar in der Regel
nicht an Geschäftsführersitzungen teil, tru-
gen zumeist keine Personalverantwortung
und unterzeichneten keine Bilanzen. Das
alles aber ist typisch und teilweise sogar
zwingend für eine solche Position.
Hintergrund der spontanen Beförde-
rungswelle 2005 war laut ehemaligen

BCGlern offenbar schon damals ein Streit
mit einem Ex-Partner und der Plan, re-
nitente Berater oder Minderleister fortan
schneller und billiger loswerden zu kön-
nen. BCG soll das bestreiten. Ob diese
Praxis zulässig ist, muss nun das Landes-
arbeitsgericht in Köln überprüfen, soweit
es sich für zuständig erklärt. Die Vor-
instanz hatte zugunsten von BCG ent-
schieden.
Im Zuge der Verhandlung dürfte auch
eine andere, verblüffende Regelung des
Deutschlandablegers von BCG zur Spra-
che kommen. Viele Topverdiener nutzten
in der Vergangenheit steuerbegünstigte
Nacht-, Feiertags- und Sonntagszuschläge –
ganz wie Malocher am Band. Einige von
ihnen rechnen noch heute so ab.
Anwälte des geschassten Managers ar-
gumentieren laut Insidern nun, auch der
Umstand, dass ihr Mandant ebenfalls der-
artige Zuschläge geltend machte, belege
seinen Arbeitnehmerstatus. Tatsächlich
war die Praxis offenbar weit verbreitet.
Wie ehemalige Mitarbeiter berichten, gab
es bei BCG bis vor Kurzem sogar Excel-
tabellen, in welche die Sekretärinnen ein-
trugen, wann ihr Vorgesetzter Nacht-, Spät-
oder Feiertagsschichten geschoben hatte.
Selbst Flugzeiten in der Businessclass und
Abendessen mit Kunden wurden angege-
ben. Ein Ex-Berater taxiert den Vorteil,
der ihm durch die penible Auflistung von
Spät- und Feiertagseinsätzen entstanden
ist, auf einen sechsstelligen Betrag über
mehrere Jahre hinweg.
2015 2016
4,5 Mrd. € 5,1 Mrd. €
davon davon
in Deutschland in Deutschland
620 Mio. € 730 Mio. €
(geschätzt) (geschätzt)
Beratungsumsätze *
Mitarbeiter *
14 000
12000
*weltweit
Quellen: Lünendonk, FAZ
Ob das rechtens war, hängt vor allem
von zwei Faktoren ab: der Höhe des
Grundgehalts und davon, ob tatsächlich
Zuschläge gezahlt wurden oder nur Teile
des Gehalts als solche deklariert wurden,
um die Steuerbelastung zu senken.
Bis 2003 konnten die Aufgelder noch in
größerem Umfang vom zu versteuernden
Einkommen abgezogen werden. Dann
wurde bekannt, dass der Fußballklub Bo-
russia Dortmund seinen Stars großzügige
Zuschläge für Wochenendspiele gezahlt
hatte. „Jedem ist klar, dass die steuerfreien
Zuschläge nicht für Millionäre gedacht
waren“, empörte sich der damalige Finanz-
minister Hans Eichel seinerzeit im
SPIEGEL (39/2003), sondern für „die
Krankenschwestern sowie andere Normal-
verdiener“.
Kurz darauf wurde das Gesetz geändert.
Die steuerbegünstigten Gehaltsbestandtei-
le sind seither nur noch begrenzt abzugs-
fähig. Nur solche Arbeitnehmer, die nicht
mehr als 50 Euro pro Stunde oder etwa
100 000 Euro pro Jahr verdienen, können
die Steuerbefreiung der Zuschläge noch
voll nutzen. Langjährige BCG-Berater ge-
hören nicht dazu, weil sie locker auf ein
Mehrfaches kommen.
Die Frage, ob das heikle Thema bei
BCG stets korrekt gehandhabt wurde,
möchten die Anwälte des Ex-Beraters nun
offenbar in den Arbeitsgerichtsprozess ein-
bringen.
Die meisten Konkurrenten von BCG ha-
ben ihr Urteil schon gefällt. Sie nutzen das
Steuerprivileg nach eigenen Aussagen
nicht. Das geht auch aus der letzten
Vergütungsumfrage des Bundesverbands
Deutscher Unternehmensberater hervor.
Das bayerische Finanzministerium, das
für BCG am Sitz in München zuständig
ist, wollte den Fall unter Berufung auf
das Steuergeheimnis nicht kommentieren.
Auf Anfrage stellt das Landesamt für
Steuern klar, dass Nacht- oder Feiertags-
zuschläge generell nur dann steuermin-
dernd geltend gemacht werden dürfen,
wenn sie zusätzlich zu einem Grundge-
halt bezahlt, also nicht einfach nur vom
Gesamtgehalt abgezogen und umdekla-
riert wurden.
Auch die BCG-Führung wollte sich un-
ter Verweis auf das laufende Verfahren zu
dem Sachverhalt nicht äußern. Aber sie
handelt. Bis vor Kurzem durften noch alle
Mitarbeiter der vier obersten Hierarchie-
stufen das Steuerprivileg nutzen. Neuer-
dings ist es auf die Topebene und die Stufe
darunter beschränkt.
Ganz abschaffen wollte die Firma die
Praxis offenbar nicht, aber vielleicht ist
das auch gar nicht mehr nötig. Einige
Partner und Senior Partner verzichten
schon freiwillig auf die Anrechnung des
eigentlich für Malocher vorgesehenen Zu-
schlags. Dinah Deckstein, Martin Hesse
DER SPIEGEL 3 / 2018
SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 14. 1., 22.10 – 22.55 UHR | RTL
Totaler Mist! – Gülleflut und Dauer-
regen bringen Bauern in Not;
Schmerzlich vermisst – Wenn Men-
schen einfach verschwinden;
Zähne ziehen im Akkord – Amerikas
Almosenmedizin.
SPIEGEL TV REPORTAGE
DIENSTAG, 16. 1., 23.10 – 00.15 UHR | SAT.1
Krank im Kopf – Mit und ohne OP
Wenn alles gut geht, dann wird
Peter Vajkoczy von der Charité der
kleinen Helena das Leben retten.
Die Fünfjährige leidet an einer sel-
tenen Erkrankung im Gehirn.
Die Patienten von Stefan Schröder
in Güstrow leiden unter anderem
unter Depressionen. Zwei außerge-
wöhnliche Ärzte, die Menschen
behandeln, die krank im Kopf sind.
SPIEGEL TV WISSEN
MITTWOCH, 17. 1., 20.15 – 20.45 UHR | PAY-TV, BEI
ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN
Nino de Angelo – Jenseits von
Eden
Offen und schonungslos spricht der
54-Jährige über seinen Kokainkon-
SPIEGEL TV
Schlagersänger de Angelo
sum, Selbstmordversuche, Depres-
sionen, gescheiterte Neuanfänge
und den tiefen Glauben an die Mu-
sik und an sich selbst.
SPIEGEL GESCHICHTE
FREITAG, 19. 1., 22.55 – 23.55 UHR | SKY
Mein Vater in der Todeszelle
Die Dokumentation zeigt die
Qualen zweier Töchter, deren Väter
in den USA in der Todeszelle
sitzen. Für diesen Film erhielten
die Autoren Zutritt zu einem
Gefängnis in Texas.
63
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von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Wirtschaft
Zu früh
gefreut
Industrie Der Einstieg des Finanz-
investors Cevian bei Thyssen-
krupp galt lange als Glücksfall.
Nun herrscht offener Streit.
Am Freitag könnte er eskalieren.
E
s gab Zeiten, da hat man sich bei
Thyssenkrupp über den neuen Inves-
tor aus Schweden so richtig gefreut.
Damals steckte der Traditionskonzern aus
Essen in einer Krise. Durch Fehlinvestitio-
nen in Amerika standen Schulden von
rund fünf Milliarden Euro in den Büchern.
Mit Rücksicht auf den betagten Konzern-
patriarchen Berthold Beitz hatte sich das
alte Management nicht getraut, notwendi-
ge Sanierungen einzuleiten.
Eine Rettung war schwierig. Und so
erschien es dem als Chef und Sanierer
angeheuerten Heinrich Hiesinger als
Glücksfall, dass sich mit der schwedischen
Cevian-Gruppe ein Finanzinvestor mit ei-
nem Anteil von rund einer Milliarde Euro
bei Thyssenkrupp einkaufen wollte. Das
sei ein wichtiger Schritt in Richtung Nor-
malität, frohlockte der Manager. Zumal
Cevian-Chef Lars Förberg über seinen
deutschen Statthalter Jens Tischendorf be-
kundet hatte, den Kurs des neuen Manage-
ments zu unterstützen.
Vier Jahre ist das her, und inzwischen
ist Hiesinger klar: Er hat sich eindeutig zu
früh gefreut. Der einstige Hoffnungsträger
aus Schweden ist für Thyssenkrupp zu
einem Problemfall geworden.
Förberg und seine Mannen lassen kein
gutes Haar an dem Unternehmen, obwohl
Cevian mit etwa 15 Prozent der Aktien
hinter der Krupp-Stiftung der größte Ein-
zelaktionär bei Thyssenkrupp ist. Seit Wo-
chen attackieren sie Hiesinger, sein Ma-
nagement und seine Strategie. Am Freitag
könnte auf der Hauptversammlung in Bo-
chum der Showdown bevorstehen.
Dort will Hiesinger für seinen Weg und
um Unterstützung für die Fusion der Stahl-
sparte mit dem indischen Industriegigan-
ten Tata werben. Doch auch Cevian, fürch-
ten Konzernmanager, könnte die Bühne
nutzen, um Hiesinger öffentlich die Ge-
folgschaft zu verweigern und einen Eklat
mit dem Management zu provozieren.
Es wäre nicht die erste Attacke dieser
Art. Seit geraumer Zeit versucht Cevian
gezielt, das Vertrauen in Hiesinger zu
schwächen. Mal sind es Gerüchte über eine
bevorstehende Zerschlagung, die aus dem
Umfeld des Finanzinvestors gestreut wer-
66 DER SPIEGEL 3 / 2018
INA FASSBENDER / REUTERS
Stahlarbeiter in Duisburg: Milliarden Euro für zukunftsfähige Produkte
den, dann wieder unrealistische Zahlen Genau diesen Gefallen tat Hiesinger den
über mögliche Beteiligungsverkäufe. För- Schweden jedoch nicht. Konsequent setzte
berg selbst gab sogar ein Interview, in dem er seinen Sanierungsplan um. Das Ziel:
er Hiesinger eine falsche Strategie vorwarf. Thyssenkrupp als Gesamtkonzern retten
Selbst die IG Metall fühlte sich von Cevian – ohne Zigtausende Mitarbeiter auf die
umgarnt, als es vor einigen Wochen darum Straße zu setzen, ohne Tafelsilber wie die
ging, die Stahlfusion im Aufsichtsrat zu Aufzugssparte zu verscherbeln und ohne
torpedieren. Vertrauen von Kunden, Mitarbeitern und
Das sei, befinden neutrale Thyssen- Aktionären zu verspielen.
krupp-Kontrolleure, geschäftsschädigend Gemeinhin versteht man genau das
und illoyal. Immerhin sitzt Cevian-Vertre- unter unternehmerisch verantwortungs-
ter Tischendorf selbst im Kontrollgremium bewusstem Handeln. Entsprechend selbst-
und hat bislang alle wesentlichen Entschei- bewusst wird Hiesinger am Freitag in Bo-
dungen mitgetragen. chum seine Zwischenbilanz präsentieren
Vor allem aber sind die Cevian-Aktio- können. Die Schulden des Konzerns, dürf-
nen auch Ausdruck des eigenen geschäft- te er anführen, seien von rund 6,5 Milliar-
lichen Versagens. Ihrer exklusiven Kund- den Euro im Jahr 2011 auf weniger als
schaft haben die Finanzprofis versprochen, 2 Milliarden Euro gesenkt worden. Gleich-
dass sie das ihnen anvertraute Geld nur in zeitig habe der Konzern aus eigener Kraft
Firmen investieren, die sie selbst analysiert 12 Milliarden Euro in neue Anlagen und
haben und bei denen man von einer über- zukunftsfähige Produkte investiert.
durchschnittlichen Wertsteigerung ausgeht. Auch beim Konzernumbau liege man
Das bedeutet im Klartext: zweistellige Ren- im Plan. Die verlustreichen Stahlwerke in
diten auf das eingesetzte Kapital. Amerika sind genauso verkauft worden
Pech nur, dass Cevian solche Verspre- wie das defizitäre Edelstahlgeschäft. Das
chen bei deutschen Investments wie etwa ehemalige Herzstück des Unternehmens,
dem einstigen Baukonzern Bilfinger bis- die Stahlsparte mit ihren rund 27 000 Mit-
lang nicht einlösen konnte. Und auch bei arbeitern, stehe kurz vor der Fusion mit
dem angeschlagenen Stahlkocher aus Es- Tata zum zweitgrößten Hersteller Europas.
sen konnte die Rechnung schwer aufgehen. Für Hiesinger und seine Manager ist das
Es sei denn, die Schweden hätten schon eine Erfolgsbilanz – mit Wermutstropfen:
beim Kauf ihrer Anteile darauf gesetzt, Das selbst gesteckte Ziel, den Gewinn auf
dass Hiesinger den Konzern wegen der zwei Milliarden Euro zu bringen, wurde
hohen Schulden und Abschreibungen über verfehlt. Kunden, Mitarbeiter und Aktio-
kurz oder lang zerschlagen muss. näre wie die Krupp-Stiftung dürfte das
Filetstücke wie die Autozuliefersparte nicht stören, solange sie sehen, dass sich
und das Aufzugsgeschäft wären dann mit der Konzern in die richtige Richtung be-
Konkurrenten fusioniert oder verscherbelt wegt. Cevian hingegen wird genau diesen
worden. Das Stahlgeschäft mit den milliar- Punkt für weitere Aktionen nutzen. Wenn
denschweren Pensionsverpflichtungen wäre nicht am Freitag, dann im März oder April.
übrig geblieben und möglicherweise ein Fall Dann soll der Vertrag mit Tata unter-
für den Insolvenzverwalter geworden. zeichnet werden, und Hiesinger wird eine
Cevian hätte in einem solchen Szenario neue Strategie für den Rest des Konzerns
Möglichkeiten gehabt, seine Anteile zu tau- vorlegen müssen. Ohne Störfeuer aus
schen oder zu verkaufen. Und irgendwann Schweden dürfte auch das nicht abgehen.
mit Gewinn aus der Firma auszusteigen. Frank Dohmen

Molch gegen
Falten
Kosmetik
I
n der Marktwirtschaft kann auch aus
der schlimmsten Sauerei noch etwas
Lohnendes werden: Der Abgasbetrug
der Automobilhersteller mag für Men-
schen lebensgefährlich sein. Für die Schön-
heitsindustrie ist der Umweltskandal gera-
dezu belebend, die Kosmetikbranche hat
Luftverschmutzung als neuen Megatrend
entdeckt.
In China und Indien, wo viele Städte im
Smog verschwinden, ist sogenannte Anti-
Pollution-Kosmetik schon seit einigen Jah-
ren ein Verkaufsschlager. Dank Volkswa-
gen und Co. schwappt dieser Hype nun
auch auf europäische Volkswangen über.
Und hat damit einen der umsatzstärksten
Schönheitsmärkte der Welt erreicht.
Während in Asien vor allem der Gesund-
heitsaspekt zum Kauf animiert, wollen
europäische Kunden mit Anti-Pollution-
Produkten der vorzeitigen Verhutzelung
trotzen, fanden die britischen Marktfor-
scher von Euromonitor heraus. Mit gro-
ßem Getöse und martialischen Namen auf
Tiegeln und Ampullen stellt sich das
Schönheitsgewerbe deshalb der Schlacht
gegen Falten und Altersflecken: Da kämpft
der Urban Anti Pollution Defensor, das
Gegengift Detox, Flash Defence, da kämp-
fen Schutzschilde, Inflamm-Aging-Booster
und Pollution Proof Kits.
Die Produktpalette bietet teure Luxus-
Gesichtssahne genauso wie Drogeriemarkt-
creme. Von Shiseido über Estée Lauders
Clinique bis hin zu Unilevers Pond’s und
Beiersdorfs Nivea sind Hersteller aller Preis-
klassen auf den Zug gehechtet. Denn der
wird voraussichtlich einige Zeit unterwegs
sein, schließlich nimmt die Luftverschmut-
zung durch den Autoverkehr weltweit zu.
Und jedes Mittel ist recht: Um Haut und
Haar gegen mikrowinzige Feinstaubaggres-
soren zu wappnen, wird chinesischer
Molchschwanz gehäckselt und grüner Tee
pulverisiert, Blüten, Algen und Wurzeln
gemörsert, Sauerstoff zugeführt, Thermal-
wasser zerstäubt und Partikelteile magne-
tisch aufgeladen, damit sie umherschwir-
rende Feinstaubpartikel abstoßen. Auch
ein bisschen Chichi darf nicht fehlen:
Chanel benutzt die seltenen und kostbaren
Knospen der Weißteepflanze Silver
Wirtschaft
Needle, die nur in der chinesischen Pro- Damen im Ruhrgebiet veröffentlicht, die
vinz Fujian wächst. Nur einmal im Früh- erstmals zeigte, dass die Frauen, die einer
jahr, und auch dann nur eine Woche lang, erhöhten Luftschadstoffkonzentration aus-
werden sie von Hand geerntet und an der gesetzt waren, 20 Prozent mehr Pigment-
Luft getrocknet. flecken im Gesicht hatten als Frauen, die
Doch hilft die Anti-Pollution-Kosmetik in ländlichen Gebieten wohnten. Mehrere
wirklich gegen Umweltgifte, oder ist sie internationale Untersuchungen, etwa mit
nur die neueste Erfindung von Marketing- Probanden in einem Industriestandort
managern? nahe Shanghai, bestätigten das Düsseldor-
Professor Jean Krutmann, Leiter des fer Ergebnis seither.
Düsseldorfer Leibniz-Instituts für umwelt- Es gibt nichts daran zu rütteln: Nach UV-
medizinische Forschung (IUF), antwortet Strahlung ist der Ruß aus Dieselmotoren
eindeutig: „Das ergibt auf jeden Fall Sinn. der zweitwichtigste Faktor für vorzeitige
Der Zusammenhang zwischen verkehrs- Hautalterung. Tests belegen, dass die Schä-
abhängigen Feinstäuben und Hautalterung digung der Haut eindeutig von außen
ist seit 2010 bekannt und mittlerweile ein- kommt, nicht etwa durch das Einatmen
deutig belegt.“ des Feinstaubs, so Krutmann. Die super-
Damals wurden die Ergebnisse einer kleinen Partikel dringen durch die natürli-
Studie mit einer Gruppe von 400 älteren che Barriere der Haut und attackieren das
größte Grenzorgan des Menschen. „Das
wird uns mindestens so lange beschäftigen
wie die Entwicklung von Sonnenschutz-
mitteln“, sagt Krutmann.
Bei UV-Schutzcremes hat sich längst
eine brancheneinheitliche Kennzeichnung,
die der Lichtschutzfaktoren, durchgesetzt.
Jeder Verbraucher erkennt auf einen Blick,
welchen Schutz er einkauft. Bei Anti-Pol-
lution-Kosmetik kann der Kunde noch
nicht beurteilen, welche Wirkung das Pro-
dukt hat. Um Glaubwürdigkeit und Ver-
gleichbarkeit herzustellen, will ein unab-
hängiges Forschungslabor auf Mauritius
(CIDP) eine Norm für Anti-Pollution-Ef-
fekte entwickeln. „Die Wirksamkeit der
Kosmetika nachzuweisen, wird wohl die
wichtigste Innovation auf dem Gebiet
sein“, urteilen die Marktforscher von Eu-
romonitor.
Kann Glaubwürdigkeit etabliert werden,
wartet ein riesiger Markt. Das Portfolio
hat sich bereits auf Haarprodukte und auf
Make-up ausgeweitet, Produkte für Säug-
linge und Kinder werden eingeführt, spe-
zielle Schutzmittel für Nägel, Lippen, Au-
Feinstaubbelastung gen könnten folgen.
in Mikrogramm pro Kubikmeter Luft Noch erhebt der deutsche Industriever-
band Körperpflege- und Waschmittel
(IKW) keine gesonderten Zahlen für dieses
Marktsegment. Er bestätigt jedoch den
Platz 1 Trend, denn deutsche Verbraucher haben
217
im vergangenen Jahr viel Wert auf Ge-
Platz 11 sichtspflege und Reinigungsprodukte
Zabol
Iran
122 gelegt. 13,6 Milliarden Euro wurden 2017
für Beauty-Pflegeprodukte ausgegeben.
Delhi Dabei sei die Haut- und Gesichtspflege die
Platz 240 Indien am stärksten wachsende und umsatzstärks-
te Einzelkategorie – mit einem Plus von
52 Paris
Frankreich 3,1 Prozent und einem Umsatz von
Shanghai 3,1 Milliarden Euro.
Platz China
1232 Platz Vor allem aber haben es Dieselskandal
1116 und Luftverschmutzung geschafft, woran
16 18 alle Marketingstrategen bislang gescheitert
Berlin sind: Endlich greifen auch jüngere Frauen
Deutschland in die Regale mit den Anti-Aging-Produk-
Quelle: WHO 2016, jeweils aktueller Stand der 2977 erfassten Städte, ten, die bislang exklusiv für Mama reser-
Feinstoffgröße: PM 2,5 viert waren. Michaela Schießl
DER SPIEGEL 3 / 2018 67
 Das 14. Opfer
Die öffentliche Trauer um Musab Firas al-Tamimi, dessen
Bild der kleine Junge hochhält, ist auch eine Art Anklage.
Der 17 Jahre alte Palästinenser wurde Anfang des Monats
von israelischen Soldaten erschossen, als es in der
Ortschaft Deir Nisam im Westjordanland zu Ausschreitun-
gen kam. Die Unruhen hatten begonnen, nachdem
US-Präsident Donald Trump Jerusalem als Hauptstadt
Israels anerkannt hatte. Nach palästinensischer Zählung
ABBAS MOMANI / AFP

ist Musab das 14. Todesopfer seit Beginn der Proteste.

Kommentar

Mission Europa
Warum Polens Nationalkonservative im Moment unbesiegbar sind
Jarosław Kaczyński ist eher klein, rundlich, Junggeselle und
Katzenfreund, ein Mann, der dazu verleitet, ihn zu unterschät-
zen. Aber das wäre ein Fehler. Kaczyński lenkt sein Land
auch ohne Regierungsamt, und er tut dies sehr instinktsicher:
Unlängst hat der Chef der nationalkonservativen Partei PiS
die spießige Premierministerin Beata Szydło gegen Mateusz
Morawiecki ausgetauscht. Der Neue spricht fehlerfrei Englisch
und war im internationalen Bankgeschäft tätig. Seine Mission
ist Europa.
Morawiecki soll Polen wieder mit Brüssel ins Gespräch
bringen. Dazu reiste er am Dienstag zum Essen mit Kommis-
sionschef Jean-Claude Juncker. Im Inneren soll der Premier
die gemäßigte, EU-freundliche Wählerschaft binden, ohne die
Kaczyński die Wahl im kommenden Jahr nicht gewinnen kann.
Dass der PiS-Patriarch in dieser Woche auch noch zwei weitere
Reizfiguren aus der Regierung nahm, den polternden Außen-
und den zu Verschwörungstheorien neigenden Verteidigungs-
minister, soll ebenfalls beruhigende Wirkung haben.
Umfragen sehen PiS derzeit bei 43 Prozent, die stärkste Op-
positionspartei liegt 24 Punkte zurück. Auch auf EU-Ebene
dürfte der neue Ton aus Warschau helfen – obwohl Morawiecki
in den strittigen Punkten keinen Millimeter zurückweicht.
Polen will weiterhin keine Flüchtlinge aufnehmen und schon
gar nicht die Gerichtsreform zurücknehmen. Diese hat Polen
ein Strafverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags eingebracht.
Dass das Land tatsächlich mit Sanktionen belegt wird, ist fast
ausgeschlossen. Dafür müsste Einstimmigkeit in der EU herr-
schen. Ungarn, vielleicht auch Tschechien, Österreich und die
Briten werden das verhindern. Bulgarien, klein und arm, das
gerade den EU-Ratsvorsitz innehat und das Verfahren führen
müsste, will sich erst recht nicht mit einer Strafaktion gegen
ein osteuropäisches Land hervortun. Mission erfüllt. Jan Puhl

68 DER SPIEGEL 3 / 2018


China
„Junger Führer“
Während sie den ersten Chi-
nabesuch von Frankreichs
Präsident Emmanuel Macron
feiert, übt die Staatspresse
scharfe Kritik an Pekings bis-
herigem Lieblingspartner in
Europa: Deutschland. Mit sei-
nem Besuch einer buddhisti-
schen Pagode und der Gro-
ßen Moschee in der Kaiser-
stadt Xi’an habe Frankreichs
„junger Führer“ gezeigt, dass
er „die Toleranz und friedli-
che Koexistenz verschiedener
Religionen im alten China“
würdige, schreibt Chinas pro-
minenter Europaexperte
Cui Hongjiang in der Pekin-
ger „Global Times“.
Chinas Beziehungen zu
Deutschland dagegen seien
derzeit „mit Problemen
belastet“. Das liege am
„Überlegenheitswahn“ der
188
Fußnote
Umweltaktivisten wurden
im vorigen Jahr ermordet.
Darunter waren Wildhüter
im Kongo und Bauern auf
den Philippinen, die sich
gegen das Vordringen von
Kaffeeplantagen wehrten.
Die Londoner Organisa-
tion Global Witness hat
die Fälle gemeinsam mit
dem „Guardian“ doku-
mentiert. Die meisten To-
ten registrierte Global
Witness 2017 in Brasilien.
Viele starben im Kampf
gegen illegale Abholzun-
gen am Amazonas. Macron, Ehefrau Brigitte in Peking am vergangenen Dienstag
Ausland
Deutschen und an ihrer „In-
toleranz“ gegenüber anderen
Kulturen: „Deutschland
stimmt mit Chinas System
und Entwicklung letztlich
nicht überein.“ Macron hatte Kolumne
bereits vor seiner Chinareise 12 Wochen in Riad
angekündigt, die Lage der
Menschenrechte in China Märchenhaft reiche Prinzen
nicht öffentlich, sondern nur fallen den Menschen meist
in einem „vertraulichen Dia- als Erstes ein, wenn sie hören,
log“ ansprechen zu wollen. dass man für eine Weile nach
Auf seine vorsichtige Kritik Saudi-Arabien zieht. Tatsäch-
an Pekings ruppiger Wirt- lich sind mir hier schon drei
schaftspolitik ging die chinesi- Prinzen begegnet. Einer be-
sche Presse nicht näher ein. treibt einen Golfplatz, ein an-
Stattdessen deutet die „Glo- derer ist leidenschaftlicher
bal Times“ eine mögliche Hobbykoch, der dritte Künst-
Verschiebung in Chinas Ver- ler. Alle drei sind weltoffen
hältnis zu Europa an: Die und sehr wohlhabend. Mär-
„ungewisse Zukunft Angela chenhaft? Der Herrscherclan
Merkels“ habe ein Vakuum wird gerade von der Realität
geschaffen. „Das dürfte eingeholt.
Frankreich helfen, eine füh- Vergangene Woche wurden
rende Rolle in den euro- wieder elf Prinzen verhaftet,
päisch-chinesischen Bezie- als sie sich bei einem Sit-in
hungen zu erlangen.“ bza vor einem Palast in Riad über
den Verlust ihrer Privilegien
beklagten. Sie sollen künftig
ihre Wasser- und Stromrech-
nungen bezahlen wie andere
Untertanen auch. So will
es der neue starke Mann, der
erst 32-jährige Kronprinz
Mohammed bin Salman, den
alle hier nur MBS nennen.
„Niemand steht über dem
Gesetz“, sagt MBS häufig im
Fernsehen.
Bisher durften Prinzen be-
stechlich sein, Land rauben,
ihre Ämter missbrauchen. Das
ist jetzt anders. Im November
ließ MBS im Ritz-Carlton-
Hotel über 200 Prinzen, Mil-
liardäre und hohe Staatsbe-
dienstete verhaften. Freigelas-
sen wird, wer den Teil seines
Vermögens abgibt, den er,
wie der Thronfolger sagt, dem
Volk gestohlen habe. Offen-
sichtlich pfeift MBS auf die
Königsfamilie mit ihren 15 000
Prinzen und Prinzessinnen
und baut auf die Millionen sei-
ner jungen Landsleute, die ihn
fast hymnisch feiern. Wenn
DOMINIQUE JACOVIDES / ACTION PRESS
sein Plan aufgeht, werden von
den vielen Royals nur weni-
ge übrig bleiben und nur ei-
ner, der die ganze Macht hat:
MBS. Dann sehe ich zu, dass
er der vierte Prinz sein wird,
den ich treffe.
Susanne Koelbl berichtet an dieser
Stelle bis März aus Saudi-Arabien.
DER SPIEGEL 3 / 2018 69
 KCNA VIA KNS / AFP
Machthaber Kim auf dem Berg Paektu: Vorbereitet auf den Krieg mit Fischkonserven, Schutzkleidung, Gasmasken

Der will nur spielen

Korea Die Gespräche sollen während der Olympischen Wettbewerbe für Entspannung sorgen,
sein Atomprogramm treibt Diktator Kim trotzdem weiter voran. Doch was die Welt
in Atem hält, besorgt viele Südkoreaner weniger. Sie beschäftigt die Krise ihres Landes.

E
s gibt einen Ort in Südkorea, an
dem die Kriegsgefahr real erscheint.
Pyeongtaek heißt er, gelegen südwest-
lich von Seoul. Und eine Stadt in dieser
Stadt, das ist Camp Humphreys, der größte
Stützpunkt der USA auf der koreanischen
Halbinsel. Er erstreckt sich fast bis zum
Horizont, sogar eine Zuganbindung hat er,
ein Großteil der rund 28 500 US-Soldaten
im Land ist hier stationiert, immer wieder
starten und landen Kampfflugzeuge.
70 DER SPIEGEL 3 / 2018
Camp Humphreys, so viel ist sicher, wür-
de eine zentrale Rolle in einem neuen Ko-
reakrieg spielen. Einem Krieg, der für Süd-
korea verheerend wäre und der vor allem
durch die Äußerungen von US-Präsident
Donald Trump in den vergangenen Mona-
ten nicht mehr unmöglich erscheint.
Woo Seung Yeop lebt in Pyeongtaek, er
hat die Gefahr eines Krieges also ständig
vor Augen. Vielleicht gehört er deshalb zu
den wenigen Südkoreanern, die eine Es-
kalation nicht nur fürchten, sondern sich
auch darauf vorbereiten. Als Treffpunkt
hat Woo einen Ort am Fluss vorgeschlagen,
von dem aus man einen guten Blick auf
Camp Humphreys hat. Er parkt sein Auto
und öffnet den Kofferraum. Darin liegt ein
Rucksack mit all dem, was man braucht,
um die ersten Tage zu überleben: kalorien-
reiche Trockennahrung, Fischkonserven,
Schutzkleidung, Feueranzünder und eini-
ges mehr. Zu Hause hat Woo Wasser und
 Ausland

Lebensmittel für einen Monat eingelagert, Sogar ein Telefonat mit Kim, sagte er, sei schaffen, in dem ein Dialog zwischen Nord-
außerdem hat er fünf Gasmasken gekauft. möglich. korea und den USA beginnen kann“. Und
Woo ist 44 Jahre alt, er ist das, was man Das ist ein Triumph für Moon. Er hatte wenn dieser Dialog erst einmal begonnen
einen „war prepper“ nennt: Er bereitet sich sein Amt im Mai mit dem Versprechen an- habe, davon ist er überzeugt, wären neue
auf einen Krieg vor. Und nicht nur das, er getreten, das Gespräch mit dem Norden Sechsergespräche über das nordkoreani-
hat seine Angst mittlerweile zum Beruf ge- zu suchen. Doch sowohl Trump als auch sche Atomprogramm möglich.
macht, er berät als Experte für zivilen Ka- Kim ließen den Entspannungspolitiker auf- In Südkorea bleiben viele Experten miss-
tastrophenschutz Behörden und Privatleu- laufen: Trump warf dem Süden „Appease- trauisch gegenüber dem Norden, sie arg-
te; ja, er hat diesen Beruf quasi erfunden. ment“ vor, Kim ignorierte ein Gesprächs- wöhnen, dass Kim einen Keil zwischen die
Bis vor einigen Jahren arbeitete Woo noch angebot. Nun jedoch will Moon die Olym- USA und ihre Verbündeten Südkorea und
bei einer IT-Firma. Doch dann fiel ihm auf, pischen Spiele nutzen, sie würden „zu einer Japan treiben will. Angesichts ständig ver-
dass seine Landsleute die Gefahr durch den Fanfare des Friedens auf der koreanischen schärfter und zunehmend wirksamer Sank-
Norden kaum ernst nehmen. Halbinsel“, verkündete er. tionen, an denen sich auch China und Russ-
Woo wundert sich über seine Landsleute, Erleichterung weicht der Angst vor dem land beteiligen, bleibe dem isolierten Re-
über ihre Naivität. Sie leben im Schatten Krieg. Der Dialog bedeutet eine Atem- gime zudem nicht viel anderes übrig, als
eines Diktators, der mit seinem „Atom- pause für alle Seiten. Doch wie es weiter- mit dem Süden ins Gespräch zu kommen.
knopf“ prahlt, der sechs Nukleartests gehen soll, das weiß noch immer niemand. Zudem wird Kim vermutlich noch Mo-
durchgeführt hat und alle paar Monate Ra- Die geopolitische Ausgangslage hat sich nate brauchen, um sein Raketenprogramm
keten abfeuert, aber sie wollen über die völlig verändert seit früheren Annähe- zu perfektionieren. Militärexperten bezwei-
Folgen einer militärischen Auseinanderset- rungsversuchen. Der Norden ist eine feln, dass seine Langstreckenraketen be-
zung nicht nachdenken. „Im Kriegsfall Atommacht, er fordert die USA direkt reits die schwierigste Anforderung erfüllen:
wäre unsere Bevölkerung einer Attacke heraus. Und Washington hält an seiner den unversehrten Wiedereintritt des Atom-
weitgehend schutzlos ausgeliefert“, sagt er. Vorbedingung für direk- sprengkopfes in die Erd-
Vor allem Seoul sei kaum vorbereitet. te Gespräche fest: Erst 100 km
atmosphäre. Der Dikta-
Bei den Schutzräumen handle es sich häu- müsse Kim auf sein Pjöngjang tor könnte daher auf
fig um Tiefgaragen, oft ohne Vorräte an Atomprogramm verzich- NORDKOREA Zeit spielen. Und am
Lebensmitteln, Gasmasken, Wolldecken. ten. Das hieße jedoch, Entmilitarisierte Ende noch gefährlicher
Woo berichtet von einer U-Bahn-Station, dass Kim jene Waffe Zone Gangneung für die Welt sein.
in der nur 40 Gasmasken gelagert worden aus der Hand geben Panmunjom Die Gefahr einer Es-
seien. Doch dann hätten Beamte selbst die- müsste, von der das Seoul kalation ist also nicht
Pyeongchang
se entfernen wollen. Ihre Begründung: Überleben seines Re- gebannt.
Falls ein Feuer ausbreche, würden Massen gimes abhängig ist – Pyeongtaek Vor allem Seoul wür-
von Fahrgästen sich um die paar Gasmas- und daran glaubt nie- de in die Schusslinie
ken reißen, Panik würde ausbrechen. mand. geraten. Die Millionen-
„Es ist fast unmöglich, in Südkorea ob- Lee Soo Hyuk hofft SÜDKOREA stadt liegt nur rund
jektiv über Zivilschutz zu reden“, sagt Woo. trotzdem, dass die Win- 50 Kilometer von der
Frühere konservative Regierungen hätten terspiele „einen Aus- Demarkationslinie am
die Angst vor dem Norden bewusst ange- gangspunkt bieten, um 38. Breitengrad ent-
heizt und Kriegshysterie verbreitet, die die Beziehungen zwi- fernt. Es würde reichen,
Linksliberalen dagegen die Gefahren oft ta- schen Norden und Sü- wenn Kim mit Artille-
buisiert. Dazwischen gebe es kaum etwas. den aus ihrem diploma- rie angriffe – Hundert-
Zumindest derzeit sieht es so aus, als tischen und sicherheits- tausende könnten ster-
müsse der „war prepper“ Woo seine Vor- politischen Dilemma zu ben.
räte zum Glück nicht antasten. Denn nach- befreien“. Lee gehört der Regierungspartei Park Won Soon, 61, will über ein solches
dem Kim in seiner Neujahrsansprache dem an, er empfängt in seinem Abgeordneten- Szenario nicht sprechen. Kein Wunder, er
Süden Gespräche angeboten hatte, ging al- büro in Seoul. Der frühere Vizeaußenmi- ist der Bürgermeister und regiert 10 Mil-
les ganz schnell: Erst nahmen Pjöngjang nister und Chefunterhändler bei den Sech- lionen Einwohner, insgesamt beeinflusst
und Seoul eine Hotline in Betrieb, die seit sergesprächen zwischen den USA, China, er den Alltag von 25 Millionen Menschen,
knapp zwei Jahren abgeschaltet war. Am Russland, Japan und den beiden Koreas zählt man die Randgebiete der Stadt dazu.
Dienstag dann einigten sich hochrangige gilt als Veteran der Koreadiplomatie. Das ist rund die Hälfte der Bevölkerung
Vertreter beider Seiten im Grenzort Pan- Mit dem Treffen in Panmunjom wurde Südkoreas. Park ist so etwas wie ein Schat-
munjom darauf, dass der Norden Sportler, wahr, worauf Lee lange gehofft hatte. Es tenpräsident.
Funktionäre und Unterstützer zu den kam ihm vor, „als habe sich eine Tür für Der Bürgermeister zeigt lieber, wie mo-
Olympischen Winterspielen im südkorea- die Wiederherstellung der Beziehungen dern seine Stadt ist. Er deutet auf einen
nischen Pyeongchang entsendet. geöffnet.“ Er spricht viel von Frieden und riesigen Flachbildschirm, der an der Wand
Die beiden Koreas wollen jetzt erst mal davon, dass Nordkorea die Winterspiele seines Amtszimmers im Rathaus hängt.
jubeln. Bei der Eröffnungsfeier in Pyeong- „letztlich dazu nutzen will, sich als ein Mit- Mit der Hand wischt er über den Monitor.
chang könnten sie gemeinsam ins Stadion glied der internationalen Gemeinschaft zu Mithilfe elektronischer Datenerfassung so-
einziehen, unter einer Flagge. präsentieren.“ wie Liveaufnahmen Tausender Überwa-
Sogar US-Präsident Donald Trump, der Gleichwohl ist Lee nicht naiv, er hat lan- chungskameras kann er hier sehen, ob ge-
den Atomstreit in den vergangenen Mona- ge genug mit den Nordkoreanern verhan- rade ein Wohnungsbrand gelöscht wird
ten erst angeheizt und jüngst geprahlt hat- delt. Er weiß, wie oft Pjöngjang Vereinba- oder ob das Abwasser reibungslos fließt.
te, er besitze einen „viel größeren“ Atom- rungen gebrochen hat. Er sagt: Niemand Auch die aktuellen Luftwerte leuchten auf.
knopf als Kim, zeigte sich friedfertig. Er erwarte ernsthaft, dass ein Dialog das Pro- Park, grauer Anzug, ohne Krawatte,
nahm den Vorschlag von Südkoreas Präsi- blem der nuklearen Bedrohung auf einen präsentiert sich als zupackender Stadtva-
dent Moon Jae In an, gemeinsame Militär- Schlag lösen könne. Aber der Austausch ter. Und doch wirkt er hilflos. Gegen die
übungen während der Spiele auszusetzen. könne dazu beitragen, „ein Umfeld zu eigentliche Gefahr, einen kriegerischen
DER SPIEGEL 3 / 2018 71
 Ausland
Bürgermeister Park, nordkoreanische Eiskunstläufer Ryom Tae Ok, Kim Ju Sik, Auszubildende Jin, Freund: Südkorea ist ein zutiefst verunsichertes Land
Konflikt auf der Halbinsel, kann er nichts
machen.
„Stellen Sie sich vor, es würde auch nur
eine kleine Bombe auf Seoul abgeworfen“,
sagt er – um dann das Szenario gleich für
unwahrscheinlich zu erklären: „So ein An-
griff hätte desaströse Folgen nicht nur für
Südkorea, sondern auch für China und Ja-
pan. Die Spannungen in der Region wür-
den zunehmen.“ Auch für die US-Wirt-
schaft wäre das nicht gut. „Deshalb glaube
ich nicht, dass die USA etwas unterneh-
men werden, was gegen ihre eigenen Inte-
ressen verstößt.“
Wie würde der Bürgermeister handeln,
wenn der Diktator plötzlich doch Raketen
auf Seoul abfeuerte, wie der Norden es ja
so oft angedroht hat? Park windet sich ein
wenig. Er verweist darauf, dass im Ernstfall
zunächst die Regierung zuständig wäre.
„Aber als Bürgermeister von Seoul bin ich
natürlich verantwortlich für die Sicherheit
und das Leben meiner Bürger.“
Das heißt, Park müsste die zivilen Maß-
nahmen koordinieren, von der Komman-
dozentrale im Keller seines Rathauses aus.
„Wenn so ein Fall eintritt, können wir un-
sere Schutzräume und U-Bahn-Schächte
nutzen, um den Schaden zu begrenzen.“
Mehr will er dazu aber nicht sagen.
Was man im Gespräch mit Park und vie-
len seiner Landsleute spürt: dass sie ver-
suchen, die Möglichkeit eines Krieges aus-
zublenden. Und dass sie ganz andere Sor-
gen als Nordkorea haben. Die Stimmung
ist nicht zu vergleichen mit der des Som-
mers 1988, damals feierten die Südkorea-
ner mit den Olympischen Spielen von
Seoul den Aufstieg zur Industrienation und
WIELAND WAGNER / DER SPIEGEL (2), PETER KNEFFEL / DPA
den Sieg über die Militärdiktatur. Diesmal
ist von Vorfreude wenig zu spüren.
Das Land ist immer noch dabei, seine
jüngste Staatskrise aufzuarbeiten. Im Zuge
der monatelangen „Kerzen-Demonstratio-
nen“ erzwangen die Bürger vor rund einem
Jahr den Sturz der konservativen Präsidentin
Park Geun Hye. Sie sitzt im Untersuchungs-
gefängnis bei Seoul und ist wegen Korrup-
tion und Machtmissbrauch angeklagt. Auch
der Vizechef des Samsung-Konzerns, einer
der mächtigsten Männer des Landes, wurde
72 DER SPIEGEL 3 / 2018
festgenommen und wegen Bestechung in ers- „Der ‚Sewol‘-Fall hat mir gezeigt, wie
ter Instanz zu fünf Jahren Gefängnis verur- schwach und unzuverlässig unsere Medien
teilt. Zudem leidet die elftgrößte Volkswirt- sind. Da entschloss ich, etwas zu tun, wo-
schaft der Welt unter Abstiegsängsten. mit ich Menschen tatsächlich helfen kann.“
Die Bevölkerung altert extrem schnell, So kehrte Jin aus Seoul in ihre Heimat-
denn die Geburtenrate ist mit 1,17 Kindern stadt zurück. Sie macht nun eine Ausbil-
pro Frau sehr niedrig. Damit steht auch dung zur Sozialarbeiterin und jobbt an ei-
das industrielle Erfolgsmodell in Zweifel. nem Informationsstand im neuen Bahnhof
Es ist darauf ausgerichtet, dass die Bevöl- von Gangneung. Hier endet die extra für
kerung wächst – und damit auch die Nach- die Spiele gebaute Schnellzugtrasse, die
frage nach immer neuen Waren. Vor allem die Region mit Seoul und dem Flughafen
junge Südkoreaner verlieren die Hoffnung. Incheon verbindet.
Das Land hat die höchste Selbstmordrate Vor dem Bahnhof grüßen ein Tiger und
unter den OECD-Ländern. ein Bär, die olympischen Maskottchen. Et-
Südkorea, das ist ein zutiefst verunsi- was weiter entfernt ragen die Austragungs-
chertes Land. Es zweifelt an seinem Wirt- stätten der Winterspiele empor, darunter
schaftsmodell, an seinen Eliten, an seinen auch die Arena, in der demnächst die beiden
gesellschaftlichen Strukturen, an seiner De- Eiskunstläufer aus Nordkorea auftreten sol-
mokratie. Das wäre, auch ohne die Nord- len, die einzigen Sportler aus dem Norden.
koreakrise, schon ziemlich viel. Für das Großereignis wurden neue Hotels
Wenn es irgendwo ein bisschen Auf- gebaut, eines davon überragt einen maleri-
bruchsstimmung geben sollte, dann wohl schen See, der direkt am Küstenstreifen liegt
und bislang den freien Blick auf das Meer
ermöglichte. Doch diese Aussicht wird nun
Die Strände sind mit Stachel- durch den bombastischen Neubau versperrt.
Jin kann sich nicht für die Winterspiele
draht gegen Angreifer begeistern. „Mit dem Geld für die neuen
geschützt, für Olympia wurde Stadien hätte man lieber dauerhafte Ar-
beitsplätze schaffen sollen“, sagt sie. Gang-
er nun entfernt. neung gehört zu den strukturschwachen
Regionen, junge Menschen wandern in die
dort, wo die Olympischen Winterspiele aus- Hauptstadt ab. Seit Jahren schrumpft die
getragen werden. Bevölkerungszahl, derzeit leben hier noch
In Gangneung an der Ostküste des Lan- knapp 214 000 Menschen.
des sollen die Eishockey- und die Eiskunst- Wenn man durch Gangneung geht,
lauf-Wettbewerbe stattfinden. Die Stadien scheint Nordkorea weit weg, obwohl die
sehen von Weitem aus wie Ufos, die in Stadt an der Ostküste liegt und relativ nah
der sonst eher flachen Stadt gelandet sind. an der Demarkationslinie zum Norden.
Im Sommer zieht Gangneung die Haupt- Einige Abschnitte des Strandes waren noch
stadtbewohner an, die sich an kiefernbe- bis vor Kurzem mit Stacheldraht abge-
wachsenen Stränden vergnügen. Im Win- sperrt, um eine Invasion abzuwehren. Ge-
ter geht es hier eher ruhig zu, selbst in die- rade erst wurden sie entfernt. Schon bald
sen Tagen vor den Winterspielen. werden Norden und Süden hier friedlich
Jin Sola ist 28, sie lebt in Gangneung. aufeinandertreffen. Zumindest für die Zeit
Eigentlich wollte sie Journalistin werden, der Spiele. Wieland Wagner
doch dann sank vor fast vier Jahren die Mail: wieland.wagner@spiegel.de
Fähre „Sewol“ mit über 300 Passagieren,
die meisten davon Schüler. Das Unglück Animation: Darum geht es
offenbarte eine Mischung aus Behörden- im Koreakonflikt
versagen, Korruption und Ignoranz, die spiegel.de/sp032018korea
viele Südkoreaner verstörte, auch Jin. oder in der App DER SPIEGEL
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Ausland

„Du kommst wieder, Mami, ja?“

SPIEGEL-Gespräch Die Journalistin Meşale Tolu über ihre Haft in der Türkei, die sie mit ihrem Sohn
verbracht hat, ihren Prozess – und die Notwendigkeit, den Druck auf die Regierung aufrechtzuerhalten.

Tolu, 33, sitzt im Istanbuler Stadtteil Kadiköy
in einer Bar, die Freunde von ihr betreiben. Ihr
Mann Suat Çorlu, ein ehemaliger kurdischer
Oppositionspolitiker, hat den drei Jahre alten
Sohn Serkan auf dem Schoß. Die Familie war
lange getrennt. Die in Ulm geborene Journa-
listin war siebeneinhalb Monate lang in einem
Frauengefängnis in Istanbul inhaftiert, ihr
Mann im Hochsicherheitsgefängnis in Silivri.
Kurz vor Weihnachten wurde sie aus der Un-
tersuchungshaft entlassen.
SPIEGEL: Frau Tolu, fühlen Sie sich frei?
Tolu: Nein. Das Verfahren gegen mich läuft
weiter. Die türkische Justiz wirft mir die
Mitgliedschaft in einer Terrororganisation
vor. Mir drohen bis zu 20 Jahre Haft. Ich
muss mich jeden Montag auf der Polizei-
wache in Istanbul melden und darf bis zu
einem Urteil das Land nicht verlas-
sen. Wie sollte ich mich frei fühlen?
SPIEGEL: Wie haben Sie die Wochen
nach Ihrer Entlassung verbracht?
Tolu: Ich habe mich so gut es geht
um meinen Sohn gekümmert. Ser-
kan hat eine schwere Zeit durchge-
macht, er braucht viel Aufmerk-
samkeit. Und ich bin nicht mehr
dieselbe Meşale, die ich vor der
Haft war.
Tolu: Mein Sohn und ich haben noch ge-
schlafen, als gegen halb fünf Uhr morgens
Polizisten gegen unsere Wohnungstür
hämmerten. Es waren keine einfachen
Polizisten, sondern Mitglieder einer Son-
dereinheit der Antiterrorabteilung. Sie
brachen die Tür auf, warfen mich zu Bo-
den, richteten ihre Maschinenpistolen auf
mich. Sie durchsuchten dreieinhalb Stun-
den lang unsere Wohnung. Als die Poli-
zisten meinen deutschen Pass sahen, be-
schimpften sie mich als Agentin. Dann
führten sie mich vor den Augen meines
Sohnes ab.
SPIEGEL: Wie waren die Haftbedingungen?
Tolu: Nach allem, was ich weiß, etwas bes-
ser als im Hochsicherheitsgefängnis in
Silivri, in dem mein Mann festgehalten
wurde. Ich war mit 23 Frauen in einer
Ort bin, dass die Tür eine Zeit lang ver-
schlossen bleiben muss. Aber er kommen
und gehen kann, wann er will. Serkan
war nicht das einzige Kind in Bakirköy,
während meiner Haft lebten dort fast
80 Kinder. Ich habe versucht, ihm das
Leben so angenehm wie möglich zu ma-
chen. Doch das war nicht einfach, es gab
kaum Spielzeug, selbst Buntstifte waren
verboten. Serkan hätte in den Kindergar-
ten gehen können, aber er hatte Angst,
sich von mir zu trennen.
SPIEGEL: Wie geht es Ihrem Sohn heute?
Tolu: Es geht ihm langsam besser, aber
er ist immer noch traumatisiert, vor allem
von der Razzia. Wenn ich für einige
Stunden irgendwo allein hingehe, fragt er
mich jedes Mal: Du kommst aber wieder,
Mami, ja?
SPIEGEL: Auch Ihr Ehemann befand
sich vorübergehend in Haft. Hatten
Sie Sorge, dass Ihre Familie zer-
bricht?
Tolu: Nein. Ich wusste, dass wir
stark genug sind, damit fertig zu
werden. Ich habe als Journalistin
immer wieder über Kolleginnen
berichtet, die verhaftet wurden.
Mir war bewusst, dass wir nicht
die Einzigen sind, denen ein sol-
ANDREAS ARNOLD / DPA

SPIEGEL: Sie wurden Ende April 2017 ches Unrecht widerfährt.

von der Polizei in Ihrer Wohnung SPIEGEL: Nach Ihrer ersten Anhö-
in Istanbul festgenommen. Haben rung im Oktober entschied der
Sie eine Ahnung, warum Sie ins Richter, die Untersuchungshaft zu
Visier der Behörden geraten waren? verlängern. Haben Sie zwischen-
Tolu: Seit dem Bombenanschlag auf Tolu-Autofahne*: „Es half zu spüren, dass ich nicht allein bin“ zeitlich die Hoffnung verloren, je-
kurdische Aktivisten in Suruç im mals wieder freizukommen?
Juli 2015 hat der Druck auf Medien in der Gemeinschaftszelle. Wir hatten einen klei- Tolu: Meine Verhaftung fiel in eine Zeit, in
Türkei immer weiter zugenommen. Zei- nen Hof. Ich konnte Zeitungen bestellen. der die deutsch-türkischen Beziehungen
tungen wurden geschlossen, Journalisten SPIEGEL: Wer waren die Frauen, die mit Ih- auf dem Tiefpunkt waren. Mir war spätes-
verhaftet. Ich habe als Journalistin für die nen eingesperrt waren? tens nach dem Gerichtstermin im Oktober
Nachrichtenagentur Etha über das berich- Tolu: In meiner Zelle saßen ausschließlich klar, dass es nicht mehr nur um mich geht,
tet, was in der Türkei vor sich geht. Das politische Gefangene, Journalistinnen, An- sondern dass hier auch das Verhältnis zwi-
hat die Regierung offenbar gestört. wältinnen. Eine von ihnen, Hatice Duman, schen zwei Staaten eine Rolle spielt. Das
SPIEGEL: Die Staatsanwaltschaft behauptet, die ehemalige Chefredakteurin der linken hat bei mir eine große Ungewissheit hin-
Etha würde Propaganda für die verbotene Wochenzeitung „Atilim“, befindet sich seit terlassen, ich merkte: Das ist nicht allein
Marxistisch-Leninistische Kommunistische mehr als 14 Jahren in Haft. Wir haben uns unter meiner Kontrolle. Mir blieb einzig
Partei betreiben. Mut zugesprochen. übrig, an die Öffentlichkeit zu appellieren
Tolu: Etha ist eine unabhängige sozialis- SPIEGEL: Auch Ihr Sohn war dort. Warum? und daran zu erinnern, dass ich für meine
tische Nachrichtenagentur. Sie tritt für Tolu: Die beiden ersten Wochen nach mei- Arbeit als Journalistin und Übersetzerin
die Pressefreiheit ein. Die Regierung ver- ner Festnahme blieb Serkan bei meinem bestraft werde.
sucht mithilfe der Justiz, den Journalis- Vater zurück. Doch es ging ihm nicht gut. SPIEGEL: In Deutschland haben viele Men-
mus zu kriminalisieren. So auch in diesem Er hat gefragt: Mama, bist du sauer auf schen für Sie demonstriert. Haben Sie da-
Fall. mich? Warum hast du mich verlassen? von etwas mitbekommen?
SPIEGEL: Wie lief die Festnahme ab? Also habe ich ihn zu mir geholt. Tolu: Ich habe Briefe und Postkarten be-
SPIEGEL: Wie erklärt man einem kleinen kommen. Mein Vater und meine Anwälte
* Bei einer Solidaritätsdemonstration in Frankfurt am
Kind, was ein Gefängnis ist? haben mir von der Initiative „Freiheit für
Main im Oktober 2017. Tolu: Das ist schwierig. Ich habe ihm ge- Meşale Tolu“ erzählt und von der Mahn-
Das Gespräch führte der Redakteur Maximilian Popp. sagt, dass ich nicht freiwillig an diesem wache jeden Freitag in Ulm. Es hat mir
74 DER SPIEGEL 3 / 2018

Angeklagte Tolu in Istanbul: „Die Untersuchungshaft wird missbraucht, um Regierungskritiker zu bestrafen“
sehr geholfen zu spüren, dass Menschen
an mich denken, dass ich nicht allein bin.
SPIEGEL: Wie oft haben Sie mit Ihren An-
gehörigen gesprochen?
Tolu: Ich durfte einmal pro Woche meinen
Vater für 35 Minuten sehen und alle zwei
Wochen für 10 Minuten mit meiner Schwes-
ter und meinem Bruder in Deutschland
telefonieren. Ich hätte nicht für möglich ge-
halten, wie kurz eine halbe Stunde sein
kann. Die Zeit reichte kaum, um Grüße zu
übermitteln.
SPIEGEL: Wie haben Sie von Ihrer Freilas-
sung erfahren?
Tolu: Am 18. Dezember stand ich zum zwei-
ten Mal vor Gericht. Ich hatte, wie schon
für die Anhörung im Oktober, eine Vertei-
digungsrede vorbereitet. Doch noch bevor
ich dazu kam, etwas zu sagen, forderte der
Staatsanwalt überraschend die Freilassung
aller Angeklagten. Ich habe dann in Ab-
sprache mit meinen Anwälten nur noch
ein paar Sätze ergänzt.
SPIEGEL: Danach gab es einige Stunden lang
Verwirrung darüber, wo Sie waren. Es gab
Gerüchte, Sie seien erneut festgenommen
worden und sollten abgeschoben werden.
Tolu: Ich wurde nach dem Prozess zurück
nach Bakirköy gefahren. Dort packte ich
meine Sachen, erledigte den Papierkram und
wollte die Haftanstalt verlassen. Plötzlich
standen die drei Antiterrorpolizisten vor mir,
die mich ins Gefängnis gebracht hatten. Sie
haben mich, ohne meiner Familie Bescheid
zu geben, in ein Auto gesetzt und von Poli-
zeiwache zu Polizeiwache gekarrt, um mich
abzuschieben. Der deutsche Botschafter fuhr
mit einem Tross Journalisten hinter uns her.
Ohne seinen Einsatz hätte ich wohl weitere
Tage in einer Zelle verbringen müssen.
SPIEGEL: Altkanzler Gerhard Schröder hat
sich offenbar beim türkischen Präsidenten
Recep Tayyip Erdoğan für die Freilassung
des Berliner Menschenrechtlers Peter
Steudtner eingesetzt. Hat es eine solche
Vermittlung auch in Ihrem Fall gegeben?
Tolu: Schröder soll direkt nach der Bundes-
tagswahl im September in der Türkei ge-
wesen sein. Mein Prozess begann im Ok-
tober. Hätte es eine Absprache gegeben,
wäre ich wohl dann schon freigekommen.
SPIEGEL: Hatten Sie den Eindruck, dass die
Justiz unabhängig von der Politik ist?
Tolu: Wenn die türkische Justiz unabhängig
wäre, dann wäre ich nicht verhaftet wor-
den, dann würden Deniz Yücel und all die
anderen türkischen Journalisten nicht im
Gefängnis sitzen! In der Türkei wird die
Untersuchungshaft missbraucht, um Regie-
rungskritiker zu bestrafen, lange bevor ein
Urteil gesprochen ist.
SPIEGEL: Außenminister Sigmar Gabriel hat
gerade seinen Amtskollegen Mevlüt Ca-
vuşoğlu in Goslar empfangen. Es sieht so
aus, als würde sich das deutsch-türkische
Verhältnis langsam wieder verbessern.
Tolu: Der Ton zwischen den beiden Län-
dern ist nach der Bundestagswahl freund-
licher geworden. Das mag dazu beigetra-
gen haben, dass Peter Steudtner und ich
freigekommen sind. Aber deshalb ist jetzt
nicht alles wieder gut. Im Gegenteil, die
Menschenrechtslage in der Türkei ver-
schlechtert sich. Häftlinge sollen künftig
gezwungen werden, Einheitskleidung zu
tragen, wie in Guantanamo. Oppositionel-
le werden weiter verhaftet. Und Deniz
Yücel und weitere etwa 150 Journalistin-
nen und Journalisten sitzen immer noch
im Gefängnis.
TEMIR FURKAN / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Was kann Deutschland für Yücel
und all die anderen Journalisten tun, die
nach wie vor in Haft sind?
Tolu: Der Druck auf die Türkei darf auf keinen
Fall nachlassen. Wir dürfen jetzt nicht weg-
sehen. Öffentlichkeit ist wichtig. Solidarität
ist wichtig. Das Land wird nach wie vor durch
Notstandsgesetze regiert, jede Woche wer-
den neue Verbote erlassen. Ich erwarte von
der Bundesregierung, dass sie sich für die
Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein-
setzt, in der Türkei und überall auf der Welt.
SPIEGEL: Der Prozess gegen Sie wird Ende
April fortgesetzt. Wie werden Sie die kom-
menden Wochen verbringen?
Tolu: Die Justiz hat ein Ausreiseverbot ge-
gen mich verhängt, dem werde ich wider-
sprechen, da mein Sohn aufgrund dieses
Verbots nicht in Deutschland in den Kin-
dergarten gehen kann. Ich werde mich für
meinen Freispruch einsetzen. Und ich
möchte auch wieder als Journalistin und
Übersetzerin arbeiten.
SPIEGEL: Was glauben Sie, wie der Prozess
ausgehen wird? Mit einem Freispruch?
Tolu: Ich rechne nicht damit, dass das Ge-
richt im April ein Urteil fällen wird. Am
Ende muss es auf einen Freispruch hinaus-
laufen, ja – doch wann es dazu kommt,
weiß ich nicht. Man kann sich in der Türkei
auf nichts verlassen.
SPIEGEL: Haben die Monate in Haft Ihren
Blick auf die Türkei verändert?
Tolu: Ich wusste sehr genau, mit welchem
Regime wir es zu tun haben, als ich meine
Arbeit in der Türkei antrat. Die Zeit in der
Haft hat mich in meiner Meinung noch-
mals bestärkt.
SPIEGEL: Frau Tolu, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 3 / 2018 75
Prinz des Lichts
Philippinen Fünf Monate lang hielt der IS die Stadt Marawi, dann wurde sie befreit. Doch die Gefahr
ist groß, dass hier ein neuer Rückzugsraum der Islamisten entsteht. Von Carsten Stormer
W
ochen nachdem die letzten IS-
Terroristen in den Ruinen getötet
wurden, kehrt das Leben nur zö-
gerlich in die philippinische Stadt Marawi
zurück. Soldaten stehen an Checkpoints,
kontrollieren Genehmigungen und Ausweis-
papiere. Auf einem Schild steht: „Kriegs-
gebiet, kein Zutritt. Eindringlinge werden
erschossen.“
Norodin Lucman sitzt am Steuer seines
Geländewagens. Er trägt Bomberjacke und
Sonnenbrille, kein Grau im Haar, er wirkt
jünger als seine 61 Jahre. Im Schritttempo
fährt er an geplünderten, verlassenen und
verriegelten Geschäften und Häusern vor-
bei. An manchen Gebäuden prangen noch
Graffiti, die IS-Kämpfer hinterlassen ha-
ben: ISIS Forever, I love ISIS, ISIS City
steht da in Pink und Himmelblau.
154 Tage lang wehte die schwarze Flagge
der Islamisten über Lucmans Heimatstadt.
In jenen fünf Monaten bombte die philip-
pinische Luftwaffe das Stadtzentrum in
Schutt und Asche. Im Häuserkampf star-
ben 165 Soldaten und Polizisten sowie 47
Zivilisten – ebenso über 900 Islamisten,
unter ihnen auch ausländische Kämpfer
und der lokale IS-Emir.
„Wer aber glaubt, dass mit dem Tod der
Anführer der IS in den Philippinen besiegt
ist, der irrt“, sagt Norodin Lucman leise
und zündet sich eine Zigarette an. „Die
Befreiung durch die Armee ist nur das
Ende vom Anfang. Der eigentliche Kampf
steht uns noch bevor.“
Trotz der militärischen Niederlage war
die Besetzung Marawis ein Propaganda-
erfolg für den „Islamischen Staat“: Wäh-
rend das „Kalifat“ in Syrien und im Irak
zunehmend in Bedrängnis geriet, fand der
IS hier einen neuen Rückzugsort. Es ist
kein Zufall, dass der Aufstieg des IS auf
den Philippinen mit dessen militärischem
Niedergang im Nahen Osten korreliert.
Hunderte asiatische Extremisten befan-
den sich auf dem Rückweg von den
Schlachtfeldern des Irak und Syriens in
ihre Heimatländer, bereit, den Kampf dort
weiterzuführen. In Videobotschaften rief
der IS Anhänger in Thailand, Indonesien,
Brunei, Singapur und Malaysia dazu auf,
sich den Brüdern auf den Philippinen an-
zuschließen.
Mindanao, die südlichste Inselgruppe
der Philippinen, ist die Dunkelkammer des
Archipels. Hier tobt seit mehr als 400 Jah-
ren eine Fehde zwischen den muslimischen
Einwohnern und den christlichen Siedlern
und Kolonisten. Zuerst kamen die Spanier
76 DER SPIEGEL 3 / 2018
ins Land, dann die Amerikaner und später,
nach der Unabhängigkeit, die Philippiner.
Ihre Schiffe brachten christliche Priester,
Missionare und Siedler nach Mindanao.
Bis heute fühlen sich die Muslime als
Fremdkörper in einem von christlichen
Siedlern besetzten Land.
Seit den Siebzigerjahren des vergange-
nen Jahrhunderts kämpfte die Moro Isla-
mische Befreiungsfront (MILF) in einem
Guerillakrieg um mehr Autonomie und
eine gerechtere Verteilung von Wohlstand.
Mindanao ist reich an Rohstoffen. Aber
die Gewinne fließen oft ab in andere Teile
der Philippinen. Gescheiterte Verhandlun-
gen der MILF mit der philippinischen Re-
gierung hatten Kämpfer desillusioniert und
in die Arme radikalerer Gruppen getrie-
ben. Und so fand der IS hier ideale Bedin-
gungen vor.
„Willkommen in der islamischen Stadt
Marawi“, grüßt ein Schriftzug in Englisch
und Arabisch an einem Torbogen am Orts-
eingang. Die Stadt ist zu gut 90 Prozent
muslimisch und das islamische Herz Min-
danaos. Hier steht die erste islamische Uni-
versität der Philippinen.
Norodin Lucman, ehemaliger Vize-Gou-
verneur der Autonomen Region Muslimi-
sches Mindanao, studierte einst mit Osama
Bin Laden Rechtswissenschaften in Saudi-
Arabien. Danach ging er zurück in die Hei-
mat, wurde Anführer einer Rebellengruppe
und zog in den muslimischen Befreiungs-
kampf. Er ist Autor von Büchern wie „Islam
War on Terror“ und Oberhaupt des mäch-
tigsten Clans von Marawi. Die Leute hier
rufen ihn „Datu Nur“, Prinz Nur. Oder ein-
Manila
PHILIPPINEN
Marawi
MINDANAO
Datu Salibo
200 km
fach nur „Norway“, quasi eine Abkürzung
für Sair al-Nur, arabisch für: der Weg des
Lichts. Kurz: Der „Prinz des Lichts“ ist ei-
ner der einflussreichsten Männer der Stadt.
Eigentlich will er an diesem Mittwoch-
morgen sein Haus inspizieren, das von
einer Bombe getroffen worden ist. Doch
er kommt nicht hin, Soldaten halten ihn
auf: Sein Haus liegt im Sperrgebiet der
ehemaligen Kampfzone, in der Soldaten
noch immer Sprengfallen entschärfen und
Leichen aus den Trümmern ziehen. „Kein
Zutritt. Sorry“, sagt ein Oberst.
Stattdessen fährt Lucman mit dem Wa-
gen durch die Stadt. Überall winken ihm
die Leute zu, ständig muss er anhalten und
Hände schütteln. Ein alter Mann mit
schlohweißem Bart umarmt ihn und drückt
lange seine Hand. Vor einer Verteilungs-
stelle für Hilfsgüter steht eine Gruppe auf-
gebrachter Frauen, die ihn mit Wangen-
küssen begrüßen und um Hilfe bitten, weil
sie seit Tagen weder Bargeld noch Nah-
rungsmittel bekommen.
Am Stadtrand biegt er rechts ab, lenkt
seinen Wagen hoch zum Universitätsge-
lände, das von den schlimmsten Kämpfen
verschont geblieben ist. Von hier oben hat
man einen wunderschönen Ausblick auf
die Stadt. Lucman zeigt auf einen kleinen
roten Fleck auf der gegenüberliegenden
Seite. „Das war mein Haus“, sagt er.
Als der IS den Terror in seine Heimat-
stadt bringt, steht Norodin Lucman im Gar-
ten seines Hauses und rupft Unkraut. Es
ist der 23. Mai 2017, gegen 14 Uhr fallen
die ersten Schüsse. Lucman denkt in die-
sem Augenblick, dass sich wieder einmal
Mitglieder verfeindeter Clans bekämpfen.
Als Stunden später immer noch geschos-
sen wird, Kampfhubschrauber des Militärs
im Tiefflug auf das Stadtzentrum zufliegen
und sich in die Schüsse das dumpfe Kra-
chen explodierender Granaten mischt,
weiß er, dass er sich geirrt hat.
Innerhalb weniger Stunden kontrollie-
ren die IS-Anhänger fast das gesamte
Stadtzentrum, überrennen Polizeistatio-
nen, besetzen Brücken und das Kranken-
haus, verschanzen sich in der großen
Moschee, versperren Fluchtwege und exe-
kutieren Menschen auf offener Straße.
Norodin Lucman ist, wie Zehntausende
andere Bewohner, ein Gefangener in sei-
ner eigenen Stadt.
Nur wenige Stunden nach Beginn der
Belagerung verbreiten sich Gerüchte, die
IS-Leute würden Christen suchen und hin-
richten. Es ist der Moment, in dem sich

Zerstörtes Stadtzentrum von Marawi: „Überall lagen tote Menschen, Hunde, Katzen“
Norodin Lucman vornimmt, so erzählt er
es, den Terroristen die Deutungshoheit
über seinen Glauben streitig zu machen.
Am Abend klopfen die ersten zu Tode ver-
ängstigten Christen an das Tor von
Lucmans Anwesen. Nachbarn, Familien
mit Kindern, Angestellte, Hilfsarbeiter.
Muslime und Christen. Lucman nimmt sie
auf. Bald drängeln sich 74 Schutzsuchende
in seinem Haus.
Wenige Tage nach Beginn der IS-Offen-
sive, so Lucman, habe es wieder geklopft.
Schwarz gekleidete, bewaffnete Gestalten
auf der Suche nach Christen standen da
vor der Tür. Lucman kennt einige von ih-
nen. „Das waren Jungs aus der Nachbar-
schaft, entfernte Verwandte.“ Die Terro-
risten wollen das Haus durchsuchen.
Lucman stellt sich ihnen in den Weg und
wirft den Männern vor, dass ihr Verhalten
unislamisch sei. Zu seinem Erstaunen zie-
hen die Extremisten wieder ab.
Im Schatten seines Hauses tobt fortan
der Krieg. Vor seinem Fenster sterben Ter-
roristen und philippinische Soldaten. In
den Straßen verwesen ihre Leichen in der
Tropensonne. Bomben detonieren ständig
Ausland
CARLO GABUCO / DER SPIEGEL
und überall. Am elften Tag sind die Was- Der IS-Mann habe ihn lange angeschaut
ser- und Nahrungsvorräte aufgebraucht. und dann gefragt: „Norway, was machst
Was nun? du denn hier?“
Am frühen Morgen des 3. Juni be- Da weiß er, alles wird gut. Ein Hand-
schließt Lucman während seines Morgen- schlag und ein gemeinsames Gebet, dann
gebets, dass es besser sei, auf der Flucht winkt der Mann den Tross durch.
zu sterben, als in seinen eigenen vier Wän- Norodin Lucman ist nun ein Binnen-
den zu verhungern. Den christlichen Frau- flüchtling wie Hunderttausende andere,
en habe er Kopftücher umgebunden, den die vor den Kämpfen fliehen mussten.
Männern die korrekte Aussprache von „Al- Noch immer lebt er vier Autostunden von
lahu akbar“ beigebracht, falls sie in eine Marawi entfernt. Als Held fühle er sich
Kontrolle geraten. Im Morgengrauen hu- nicht, sagt er, und zitiert aus dem Koran:
schen 74 Menschen aus Lucmans Haus, „Wenn aber jemand einem Menschen das
schwenken weiße Fahnen, murmeln „Al- Leben bewahrt, so ist es, als würde er das
lahu akbar“ und gehen mit gesenkten Köp- Leben aller Menschen bewahren.“
fen aus der Kampfzone heraus. Er sei nicht der Einzige gewesen, der
„Überall lagen tote Menschen, Hunde, Christen gerettet habe. „Viele Muslime ha-
Katzen, Ratten. Der Gestank war grauen- ben ihre christlichen Angestellten, Freun-
haft“, so Lucman. Unterwegs schließen de, Arbeiter beschützt. Einige von ihnen
sich weitere Zivilisten dem seltsamen wurden dafür hingerichtet.“ Wofür, fragt
Tross an, bald sind es 144 Menschen , un- er, solle er sich also feiern lassen? Marawi
ter ihnen 44 Christen. An einer Brücke, ist größtenteils zerstört. Noch immer leben
die das Ende der Frontlinie markiert, baut Zehntausende in Flüchtlingslagern.
sich ein IS-Mann vor Lucman auf. „Ich Die Erleichterung über das Ende der Be-
dachte, das ist unser Ende. Ich war bereit lagerung ist der Wut auf die philippinische
zu sterben“, erzählt Lucman mit einem Regierung gewichen. Wut darüber, dass
Lächeln. die Heimatstadt von 200 000 Menschen erst
DER SPIEGEL 3 / 2018 77
Ausland
zerstört werden musste, um sie angeblich
zu retten. „Viele Menschen stellen sich die
Frage, ob eine christliche Stadt ebenso be-
handelt worden wäre“, sagt Lucman. Auch
deshalb habe der IS gewonnen. „Deren
Ideologie lebt weiter, dies ist erst der An-
fang. Wir haben gehört, dass 300 britische
IS-Kämpfer auf dem Weg in die Philippi-
nen sind, um den IS neu zu strukturieren“,
sagt er.
Mehr als 20 mit dem IS verbündete
Terrorzellen sollen bereits in der Region
operieren. In den sozialen Netzwerken
werben sie mit Propagandavideos und
Geldversprechen um neue Rekruten. Wer
verstehen will, wie weit sich die Ideologie
des IS schon verbreitet hat, muss mit dem
Auto von Marawi sechs Stunden lang gen
Süden fahren, in die Sümpfe rund um den
Ort Datu Salibo. Auf dem Weg dorthin
passiert man die Provinzstadt Cotabato.
Im November rief das Militär hier die
höchste Terrorwarnstufe aus. Die Stadt
könnte das nächste Marawi werden, sorgt
sich ein hochrangiger Offizier der Streit-
kräfte. Angriffe stünden unmittelbar bevor.
An den Zufahrtsstraßen der Stadt staut
sich kilometerlang der Verkehr. Soldaten
kontrollieren Ausweispapiere, durchsu-
chen Kofferräume und verteilen Flyer, auf
denen die Einwohner aufgerufen werden,
verdächtige Gegenstände oder Personen
der Polizei zu melden. Der Vorsteher der
großen Moschee von Cotabato warnt in
Predigten und im Radio davor, sich von
der Ideologie des IS verführen zu lassen.
Die letzten Kilometer nach Datu Salibo
führen durch das Gebiet des IS-Ablegers
Jamaah Mohajirin Wal Ansar des Terror-
fürsten Abu Turaipe. Am Rande des
15 000-Einwohner-Ortes sitzen mit Sturm-
gewehren bewaffnete Männer in lecken
Kanus, um das Sumpfgebiet zu inspizie-
ren, das sie erst im Oktober dem IS ent-
rissen haben.
Ein Mann mit Pilotenbrille stellt sich als
Commander Supremo vor, 34 Jahre alt
und Anführer einer Spezialeinheit der
MILF. Jahrzehntelang hatte die Rebellen-
gruppe gegen die Regierung gekämpft und
mehr Autonomierechte für die Muslime
gefordert. Aber aus den Feinden von einst
sind inzwischen Verbündete im Kampf ge-
gen den IS geworden.
Es ist drückend heiß, die Luft klebt wie
ein nasses Laken am Körper. Aus den
Sümpfen erklingt Gefechtslärm. Die phi-
lippinische Armee beschießt seit dem Mor-
gen Stellungen des IS mit Artilleriegrana-
ten und fliegt Luftangriffe. Commander
Supremo schiebt ein Magazin in sein
Sturmgewehr und sagt, man müsse sich
keine Sorgen machen.
Währenddessen schöpft ein Mitkämpfer
mit einer Kelle Wasser aus dem Kanu, das
langsam vollläuft. Der Kommandeur gibt
ein Zeichen, der Bootsführer wirft den Mo-
78 DER SPIEGEL 3 / 2018
tor an, und das Kanu gleitet durch die
seichten Liguasan-Sümpfe, bis es Minuten
später an einer Bambushütte anlegt.
„Dies waren die Stellungen des IS, das
ganze Gebiet hier war vermint“, sagt Com-
mander Supremo und zeigt über den
Horizont. „Hier haben sie ihre Waffen ge-
lagert und trainiert. Wenn wir sie nicht
bekämpft hätten, dann wäre uns das
Schicksal von Marawi gewiss gewesen.
Hier haben wir einen von denen begra-
ben“, sagt Supremo und zeigt auf eine Mul-
de im sandigen Boden. Leichter Verwe-
sungsgeruch steigt aus dem Grab hoch.
Wie viele getötet wurden oder fliehen
konnten, weiß der Kommandeur nicht. Sie
sind weg, nur das zählt. „Diese Leute be-
schmutzen den Islam. Wenn wir sie nicht
aufhalten, wird es immer schlimmer wer-
den. Ich trage eine Waffe, seitdem ich elf
bin. Ich will nicht, dass meine Kinder die-
ses Leben weiterführen müssen.“
80 Kilometer südlich der Liguasan-
Sümpfe sitzt eine schmale, zierliche Frau
auf einem Holzschemel in der Polizei-
station von Palimbang, einem Ort in der
Provinz Sultan Kudarat. Die 41-jährige
Mari Fe Spadilla hat ihre Haare unter ei-
Einer der größten
Unterstützer der
Terrororganisation war
der Bürgermeister.
nem roten Kopftuch versteckt, nervös
kratzt sie sich den Lack von den Fingernä-
geln. Mari Fe Spadilla hat Angst. Ein paar
Meter entfernt stehen ihre Leibwächter.
„Ich weiß zu viel“, flüstert sie.
Ihre Geschichte erzählt sie so: Am 5. Ja-
nuar 2017 wurde ihr Ehemann bei einer
Polizeioperation erschossen. Mohammad
Jaafar Maguid, genannt „Tokboy“, war der
Anführer der Terrororganisation Ansar al-
Khilafah Philippines (AKP) und einer der
meistgesuchten Verbrecher des Landes,
mitverantwortlich für den Bombenan-
schlag in der Hafenstadt Davao, bei dem
im September 2016 14 Menschen starben.
Tokboys Leute schwören dem IS die Treue,
sie erpressen Schutzgelder und kämpfen
auch in Marawi.
Ihr Ziel: ein islamisches Kalifat.
Mari Fe Spadilla ist die zweite von Tok-
boys vier Ehefrauen, sie habe von alldem
nicht viel mitbekommen, behauptet sie,
sie habe sich vor allem um den Haushalt
und die neugeborene Tochter gekümmert
und ihren Mann nur selten gesehen.
Einer der Leibwächter zeigt auf seinem
Smartphone Fotos getöteter Terroristen;
Philippiner, zwei Indonesier, ein Schwar-
zer unbekannter Herkunft – und Tokboy.
Als die Witwe ihren toten Ehemann sieht,
beginnt sie zu weinen. Sie habe Angst um
das Leben ihrer Tochter, sagt sie. Ende
September hat sie sich den Behörden ge-
stellt, um gegen das Netzwerk ihres Man-
nes als Zeugin auszusagen. Seither erhält
sie Morddrohungen per SMS.
Einer der größten Unterstützer der Ter-
rororganisation ihres Mannes, so sagt sie,
sei der Bürgermeister von Palimbang ge-
wesen: „Er gab Tokboy alles, was er
brauchte: Geld, Nahrungsmittel, Waffen,
Sprengstoff, Munition, Schutz. Ich habe es
selbst gesehen.“ Der Mann befinde sich
zwar auf der Flucht, doch sie fürchte ihn
trotzdem und fühle sich auch unter Poli-
zeischutz nicht sicher, so die Witwe.
Sie solle sich keine Sorgen machen, be-
ruhigt sie ihr Gastgeber Raul Supiter, der
oberste Polizist der Provinz. „Bei uns bist
du sicher“, sagt er und zeigt wie zum Be-
weis stolz die Ausbeute einer Razzia ge-
gen eine Bande von Waffenschmugglern.
Dutzende Sturmgewehre, Pistolen, Hun-
derte Schuss Munition. Für wen die Lie-
ferung bestimmt gewesen sei, könne er
nicht sagen. Aber es läge nahe, dass die
Waffen für lokale Terrorgruppen gedacht
seien.
Auch Supiter glaubt, dass es keine Frage
ist, ob der IS sich auf Mindanao weiter aus-
breiten werde oder nicht, sondern nur,
„wie schnell und wann der nächste An-
schlag stattfinden wird“. Als sich die Nacht
über Palimbang legt, der Polizeichef ge-
grilltes Hühnchen und kaltes Bier servie-
ren lässt, verschwindet Mari Fe Spadilla
mit ihren Leibwächtern in der Dunkelheit.
Das Einzige, was sie sich wünsche, sei ein
normales Leben für ihre Tochter, hat sie
zum Abschied gesagt.
Etwas ganz Ähnliches wünscht sich auch
ein Junge in Marawi. Der Campus der Uni-
versität von Mindanao ist ein malerischer,
friedlicher Ort, im Schatten von Akazien
und Mangobäumen sitzen junge Männer
und Frauen über ihren Büchern und essen
Eis am Stiel. In einem verlassenen Seiten-
flügel der Universität löst sich während
der Mittagspause eine kleine Gestalt aus
einem Mauerschatten.
Ein Junge in einem schwarzen Kapuzen-
pulli setzt sich auf eine Treppenstufe und
wickelt sich eine Kufija um den Kopf, das
rot-weiße Tuch der Araber, bis seine Au-
gen nur noch durch einen schmalen Seh-
schlitz blitzen. Er will nicht erkannt wer-
den, die Klassenkameraden kennen sein
Geheimnis nicht.
Abdul ist 13 Jahre alt, stammt aus einer
sehr religiösen Familie und geht in die
8. Klasse der Highschool, die an das Uni-
versitätsgelände grenzt. Wie viele seiner
Altersgenossen wurde auch er vom IS für
den Kampf gegen „Ungläubige“ rekrutiert.
Kinder sind leicht zu verführen.
Abdul möchte seinen wahren Namen
nicht nennen. Er spricht mit leiser Stimme,
 erzählt, wie der Lehrer seiner Koranschule
ihn vor zwei Jahren für den Krieg gegen
die Kuffar, die Ungläubigen, gewinnen
wollte. Ein warmer Wind trägt das ausge-
lassene Lachen seiner Schulkameraden
herbei. Abduls Vater, ein Arzt, starb vor
acht Jahren an Lungenkrebs. Die Mutter,
eine Lehrerin, ist mit der Erziehung des
einzigen Sohnes überfordert. Ihr Einkom-
men reicht gerade aus, um die Familie zu
ernähren.
Abu Maryam, der Lehrer, Vaterfigur
und religiöse Autorität zugleich, verspricht
Abdul Geld und Geschenke – Telefone und
Videospiele. Und er sagt, wenn Abdul im
CARLO GABUCO / DER SPIEGEL

Kampf sterbe, komme er direkt ins Para-

dies. Das überzeugt den Jungen. Der Leh-
rer nimmt Abdul und ein Dutzend anderer
mit in ein Ausbildungslager südlich von
Marawi. Vier Monate lang trainiert Abdul
dort an den Wochenenden mit 50 gleich-
Ehemaliger Vizegouverneur Lucman: „Das waren Jungs aus der Nachbarschaft“ altrigen Jungs. Er lernt Selbstverteidigung,
Verse des Koran und Hadithe, überlieferte
Aussagen des Propheten Mohammed.
„Die Ausbilder erklärten uns, wen wir
töten dürfen und wer eine zweite Chance
erhalten sollte“, erzählt der Junge. Chris-
ten, die zum Islam konvertieren, dürfe
man am Leben lassen. Andere hingegen
müssten sterben. Noch heute findet Abdul
nichts Falsches daran, dies sei eben Allahs
Wille. Später werden die Kinder an Waffen
ausgebildet, trainieren mit Sturmgewehren,
Pistolen, Granaten, Panzerfäusten.
Abduls Mutter ahnt von alldem nichts,
sie glaubt, ihr Sohn sei auf Ausflügen oder
beim Studium des Koran. Zwei Jahre lang
CARLO GABUCO / DER SPIEGEL

durchläuft Abdul die Ausbildung zum Krie-

ger, doch die große Schlacht findet ohne
ihn statt.
„Ich war daheim bei meiner Mutter, als
es losging. Ich bin das einzige Kind.“ Es
ärgerte ihn zwar, das er nicht mitkämpfen
IS-Graffito in Marawi: Das Leben kehrt nur zögerlich in die Ruinen zurück konnte, das Wissen und das Training der
vergangenen zwei Jahre nicht hat anwen-
den können. Doch als seine Glaubensbrü-
der über die Heimatstadt herfallen, flößen
ihm die schwarz vermummten Kameraden,
die in seiner Nachbarschaft herumballern,
morden und „Allahu akbar“ rufen, plötz-
lich Angst ein.
Zum ersten Mal fragt sich der Junge, ob
dieses Inferno tatsächlich Allahs Wunsch
sein kann. Die Anführer des IS, seine Aus-
bilder und Kameraden sind nun alle tot.
Abdul lebt.
„Vorerst habe ich das Interesse am Dschi-
had verloren“, sagt er.
Er blickt auf seine Armbanduhr, die Mit-
tagspause ist längst vorbei. Der Physik-
CARLO GABUCO / DER SPIEGEL

unterricht hat begonnen, den darf er nicht

verpassen. Denn später will er Pilot wer-
den. „Ich möchte die Welt sehen“, sagt er,
zieht sich das Tuch vom Kopf und rennt
zurück ins Klassenzimmer, wo niemand
sein Geheimnis kennt und er wieder ein
Muslimischer Kämpfer in Maguindanao: Fremdkörper in einem von Christen besetzten Land ganz normaler Teenager ist. I

DER SPIEGEL 3 / 2018 79

 Q U E L L E : WO R L D BA N K
Früher war alles schlechter
Nº 107: Handys

1985 waren
pro 100000 Menschen
weltweit 16 Handys in Gebrauch.

1995: 2000: 2005: 2010:

1585 12075 33911 76 517

1990:
211

2016 kamen auf

100000 Personen
101551 Mobilfunk-
anschlüsse.

Tatsächlich alternativlos. Die Revolution begann auf einem Bür-
gersteig in Manhattan, am 3. April 1973. Der Ingenieur Martin
Cooper setzte sie in Gang, mit einem Prototyp des ersten Mo-
biltelefons der Welt. Ein beigefarbener Plastikkasten, geformt
wie ein Knochen, ein Kilogramm schwer, sein Name: Motorola
DynaTAC. Cooper stand inmitten der Passanten und wählte die
Nummer Joel Engels, eines Konkurrenten, angestellt bei Bell
Labs. Er sagte: „Joel, ich rufe dich von einem funktionierenden
tragbaren Telefon an.“ Das Mobiltelefon war geboren. Die Ge-
schäftswelt, das Privatleben wurden bald ruheloser und effekti-
ver. Es eroberte zunächst die Industriestaaten, dann den Rest
der Welt. Heute gibt es global mehr Mobilfunkanschlüsse als
Menschen, und selbst in einer der ärmsten Regionen der Erde,
südlich der Sahara, kommen mittlerweile gut 70 Anschlüsse auf
100 Einwohner. Hier ist das Handy nicht nur ein Kommunika-
tionsmittel, es treibt auch die wirtschaftliche Entwicklung voran,
die gesellschaftliche Teilhabe, die Demokratie. Oppositionelle
und politisch Interessierte bilden mit seiner Hilfe Netzwerke;
Farmer in abgelegenen Landesteilen bekommen tagesaktuelle
Preise für ihre Ware; Familien ohne Bankkonto bezahlen mit
dem Handy Rechnungen; Schwangere erhalten Informationen
über den Entwicklungsstand ihres Babys. Das Mobiltelefon, in
Europa oft als Störenfried und Suchtmittel verschrien, ist in
Afrika vor allem ein Motor des Fortschritts. uwe.buse@spiegel.de

Freizeit
Wie wird Kegeln wieder hip,
Herr Oldenburg?
Uwe Oldenburg, 68, ist Präsi-
dent des Deutschen Kegler-
und Bowlingbundes und
betreibt eine Kegelbahn in Kiel.
SPIEGEL: Immer weniger Deut-
sche kegeln. Was läuft schief?
Oldenburg: Das hängt mit dem
gesellschaftlichen Wandel
zusammen. Das Interesse an
traditionellen Sportarten ist
geringer geworden. Davon
sind alle Vereine betroffen.
80 000. Bei den Hobbykeglern
ist es noch schlimmer.
SPIEGEL: Was bedeutet das für
Leute wie Sie, die Kegelbahn-
betreiber?
Oldenburg: Für uns rechnet
sich eine Bahn häufig nicht
mehr. Heute kommen die
Leute mit dem Auto. Dann
ist es vorbei mit hier und da
mal ein Schnäpschen neh-
men, so wie früher. Wobei
das auch immer verall-
Oldenburg: Kegeln ist für mich Buchten, vor eine Kegelbahn
der beste Familien- und gehört ein Kicker- oder
Gesellschaftssport, den es Billardtisch, um das Ganze
gibt. Von 8 bis 100 – alle kön- ein wenig aufzulockern.
nen kegeln. SPIEGEL: Das wird schwer,
SPIEGEL: Sie wollen Kegeln solange es auf Kegelbahnen
wieder hip machen. Wie soll nach Frittierfett und kaltem
das gehen? Rauch riecht.
Oldenburg: Wir müssen die Ke- Oldenburg: Rauchen darf man
gelbahnen für die Jugend öff- auf den Bahnen nicht mehr.
nen. Weg mit den einzelnen Sicherlich gehören sie auch
modernisiert. Bei einigen
Bahnen gibt es schon Schwarz-
licht. Da kann man Mitter-
nachtskegeln machen. So
kriegt man die jungen Leute.
SPIEGEL: Müsste man nicht
auch die Bewirtung ändern:
FRANK SORGE / IMAGO

Wir mit am stärksten. In den gemeinert wird: Hobbyke- statt Pils und Pommes Craft
Achtzigerjahren hatten wir geln bedeutet nicht gleich Beer und Quinoa-Chips?
im Sportkegeln 200 000 Mit- Schnaps. Oldenburg: Klar, wenn Sie mir
glieder, heute sind es gut SPIEGEL: Was sonst? sagen, was das ist? red

80 DER SPIEGEL 3 / 2018


Soko Koppel
Eine Meldung und ihre Geschichte Warum
ein ostdeutscher Bauerhof zu einem
Hochsicherheitstrakt umgebaut wurde
E
s ist eine regnerische Herbstnacht, als die Diebe
zum fünften Mal zuschlagen. Sie brechen das Tor
zur „Gülle-Einfahrt“ auf, fahren auf den Hof, halten
direkt vor dem Kälberstall, schlagen eines der Fenster ein,
öffnen das Stalltor von innen, dann treiben sie die Kälber
in die Transporter.
Die Diebe arbeiten schnell und sehr professionell. Sie
erkennen, trotz Dunkelheit und Eile, dass zwei Kälber
der Herde krank sind. Sie werden als Einzige zurück-
gelassen.
Es ist kurz nach drei Uhr mor-
gens, als bei Daniel Schacht das
Telefon klingelt.
Er ist Landwirt, 32 Jahre alt,
Geschäftsführer der Darez Agrar
GmbH in Baruth, südliches Bran-
denburg. Eine Mitarbeiterin aus
der Frühschicht sagt ihm am Te-
lefon: „Die Diebe waren wieder
hier!“
Schacht springt ins Auto, rast
zu seinen Stallungen, aber alles,
was er noch tun kann, ist, einige
frei laufende Kühe einzufangen
und festzustellen, dass er in die-
ser Nacht 56 Kälber und eine mo-
bile Melkanlage verloren hat.
Ein paar Wochen später sitzt
Daniel Schacht im kleinen Auf-
enthaltsraum des Betriebs. Auf
dem Tisch steht der Butterstollen,
den die Versicherung als Weih-
nachtsgruß geschickt hat. In den
vergangenen vier Jahren, erzählt
Schacht, sei in seinem Betrieb
fünfmal eingebrochen worden. Von der Website Morgenpost.de
Die Diebe stahlen Radlader, Saat-
gut, mobile Melkmaschinen – und vor anderthalb Jahren
dann zum ersten Mal auch Kälber. Mittlerweile hat
Schacht an die Diebe 75 Tiere verloren.
Allein der letzte Einbruch, sagt Schacht, habe ihn 20 000
Euro gekostet. Zwar hat die Versicherung den Großteil
des Schadens beglichen, aber der Wert eines Kalbs steigt
mit jeder Woche Lebenszeit, und die gestohlenen Tiere
fehlen Daniel Schacht später als Milchkühe.
Hinzu kommt, dass so ein Kälberdiebstahl schwer zu ver-
stehen ist. „Warum stiehlt jemand Kälber?“, fragt Schacht.
Es gibt viele Dinge, die man mit sehr viel weniger Aufwand
stehlen kann: Autos, Portemonnaies, Computer, Kredit-
karten. Unter anderem. Aber eine Herde Kälber? Wie im
Wilden Westen, als Viehdiebe durch die Prärie zogen?
So falsch ist das gar nicht. Zurzeit ist Brandenburg, vieh-
mäßig gesehen, eine Art Wilder Osten. Im vergangenen
Jahr wurden hier 212 Rinder gestohlen. Zuchtbullen, Kälber,
Mutterkühe: mal einzelne Tiere, mal komplette Herden.
Die Lokalpresse schreibt bereits vom geheimnisvollen „Kuh-
Klau-Klan“, der nachts durch die Dörfer ziehe, einer Bande
Gesellschaft
von Viehdieben. Auch die Polizei hat reagiert und beim
Landeskriminalamt extra eine Sonderkommission einge-
richtet. Sie trägt den schönen Namen „Soko Koppel“.
In den Tagen nach dem Kälberklau kamen bei Daniel
Schacht viele Polizisten vorbei. Die Spurensicherung such-
te nach Finger- und Reifenabdrücken, die Rindercops der
Soko Koppel stellten Fragen. „Kannte ich bislang nur aus
dem ,Tatort‘“, sagt Schacht.
Womöglich ist er ja hier in eine große Geschichte gera-
ten. Organisierte Rinderkriminalität, sozusagen. Die Spur
der Diebe könnte nach Osteuropa führen, vermuten die
Ermittler. Denn in der Europäischen Union lässt sich ge-
stohlenes Vieh kaum verkaufen. Die Tiere tragen eine
Ohrmarke, haben einen Herkunftspass und sind in einer
Datenbank registriert. Vielleicht wurden Schachts Kälber
in die Ukraine gebracht. Oder nach Russland.
Daniel Schacht schüttelt nur den Kopf. Seine Kälber ir-
gendwo kurz vor Moskau. Wahnsinn. Was ihn aber am
meisten ärgert: „Die Diebe wussten genau, wie man mit
den Kälbern umgeht. Das sind
Profis, die kommen garantiert
aus der Landwirtschaft. Vermut-
lich haben sie den gleichen Beruf
wie ich.“ Bauer beklaut Bauer.
„Das tut weh“, sagt Schacht.
Bislang konnte die Polizei kei-
ne Täter dingfest machen. Der
geheimnisvolle „Kuh-Klau-Klan“
reitet noch immer durch Branden-
burg, und Daniel Schacht ver-
BERLINER MORGENPOST / DAVID HEERDE
sucht, den Kampf aufzunehmen.
Nach jedem Einbruch hat er
aufgerüstet. Er hat die Zufahrts-
tore mit Betonklötzen gesichert,
er hat eine Lichtanlage mit Be-
wegungsmeldern installiert, er hat
wertvolle Maschinen und Werk-
zeuge mit sogenannter künstli-
Schacht cher DNA markiert.
Aber es half alles nicht viel.
Nach dem jüngsten Kälberklau
war klar, dass eine große Lösung
hermuss. Eine Alarmanlage mit
Überwachungskameras sollte die
Diebe endgültig abschrecken.
„Ich will einfach mal Ruhe ha-
ben“, sagt Schacht. Aber für die Alarmanlage fehlte ihm
das Geld. Die vergangenen Jahre waren nicht einfach.
Der Milchpreis fiel, dazu die Diebstähle, es ging eigentlich
nur darum, dass der Betrieb mit seinen 20 Mitarbeitern
irgendwie überlebt.
Aber dann hatte Daniel Schacht eine ungewöhnliche
Idee: Crowdfunding.
Auf der Website Leetchi.com schaltete er einen Aufruf:
Bauer braucht Alarmanlage. Innerhalb von acht Wochen
kamen 7950 Euro zusammen, und seit Kurzem ist der Be-
trieb nun professionell gesichert.
Die neue Alarmanlage kam auch schon zum Einsatz:
Vor ein paar Wochen, es war nachts, klingelte bei Daniel
Schacht wieder das Handy. Die Bewegungsmelder hatten
ungewöhnliche Aktivitäten auf dem Gelände registriert.
Schacht stieg ins Auto, raste wieder zu den Ställen. Er
hatte ein mulmiges Gefühl, in der Hand trug er eine me-
tallene Taschenlampe wie eine Waffe.
Aber dann waren da keine Diebe. Nur eine Kuh, die
über das Gelände irrte. Jochen-Martin Gutsch
DER SPIEGEL 3 / 2018 81
 Ein Schiff wird kommen
Visionen Ein Roman von 1973, der den Untergang Europas beschwört, ist zur Bibel der
Neuen Rechten geworden. Es ging um den Schiffbruch von Flüchtlingen. Die Geschichte
wurde wahr, die Gestrandeten leben heute in Deutschland. Von Alexander Smoltczyk

MAURICE WEISS / DER SPIEGEL

Autor Raspail: „Ich kannte diesen Bannon nicht – plötzlich riefen alle an“

82 DER SPIEGEL 3 / 2018

 Gesellschaft

Und sie zogen herauf auf die Breite
der Erde und umringten das Heerlager
der Heiligen und die geliebte Stadt.
Offenbarung des Johannes
sultierende Gestank war so massiv, dass Nur erschien das Buch im Jahr 1973.
man glaubte, ihn buchstäblich sehen zu Lange bevor sich die „East Sea“ genau hier
können. mit 908 Passagieren im Rumpf unter einem
Wie eine endlose Kaskade aus flüssig ge- letztem Ächzen auf den Felsen rammte.
wordenen Körpern. Die Schiffe quollen Sie werden müde sein, Hunger haben und

D
as Wrack der „East Sea“ liegt fast über wie volle Badewannen. Die Dritte mit Ihrer schönen Eichentür ein Feuerchen
tausend Meter tief in einer Rinne Welt trat über die Ufer, und der Westen machen. Sie werden auf Ihre Terrasse
am Meeresboden, gleich außerhalb diente ihr als Abflusskanal. kacken und sich mit den Büchern Ihrer Bi-
der französischen Hoheitsgewässer. Die ge- Schon in den ersten fünf Minuten dieses bliothek die Hände abwischen.
naue Position ist den Freizeittauchern an kürzesten Tages zeigte sich deutlich, dass Jean Raspail steht heute im 93. Jahr.
der Côte d’Azur bekannt, aber von be- sich die Menge seltsamerweise keinerlei „Ich hatte das Ganze eigentlich schon ver-
grenztem Interesse, weil unerreichbar tief. Gedanken zu machen schien, ob dieses gessen. Aber ein Lokaljournalist erinnerte
Das Schiff „East Sea“ fuhr unter der Flagge Land, das sie besetzte, einen rechtmäßigen sich an mein Buch, als da plötzlich ein gan-
Kambodschas, ein 70 Meter langes, mit La- Besitzer haben könnte. zer Frachter mit Flüchtlingen an Bord auf-
debaum und zwei Luken versehener Stück- Diese Sätze (und alle weiteren kursiv tauchte, nicht nur kleine Schlauchboote.
gutfrachter. Auf ihm ließen sich Fässer und gesetzten in diesem Text) sind auf dem Ich glaube, es waren Syrer. Alle waren
Ballen laden, Kisten und bei Bedarf auch Felsen von Boulouris geschrieben worden. überrascht, die Gendarmen, alle. Und wo
Menschen. Nicht unten am Wasser, sondern etwa hun- lief der Kahn aufs Riff? Exakt dort, wo ich
In den frühen Morgenstunden das Buch geschrieben hatte, quasi
des 17. Februar 2001 schob sich die zu meinen Füßen. Das hat die Auf-
„East Sea“ steuerbordseitig mit vol- lage enorm gesteigert.“
ler Kraft und einem höllischen Eine hagere und aufrechte Ge-
Kreischen des Metalls zwischen stalt mit Kapitänsgesicht und
zwei Felsen vor Boulouris, einem streng krawattiert, seine Wohnung
Vorort von Saint-Raphaël. im 17. Pariser Bezirk die eines Rei-
Ein von der Sonne besonders gut senden, die Wände bedeckt mit
angestrahltes Schiff, zernagt vom Buddelschiffen, Marinebildern und
Zahn der Zeit, vom Wetter, vom einer Indio-Tapisserie aus Feuer-
Rost, von mangelnder Pflege, von land: „Patagonien. Das ist eine an-
diversen Unfällen, mit einem Wort: dere Geschichte.“
vom Elend. Vielleicht hielt es auch Es war jene eigenartige Mischung
niemand an Bord für nötig, sich aus Demut und Erregung, wie sie
noch um irgendetwas zu kümmern, einen manchmal überkommt,
da nun der Exodus an den Toren wenn man seine Gedanken inten-
des neuen Paradieses sein Ende ge- siv auf das Unendliche oder Ewige
funden hatte. richtet. An diesem Karsamstag-
Zu diesem Zeitpunkt hatte die abend belagerten 800 000 Lebende
Besatzung der „East Sea“ das und Tote friedlich die Grenze des
Schiff bereits aufgegeben und die Abendlandes.
Brücke verlassen. Nur die Maschi- Raspail hat etwa 40 Bücher ge-
nen arbeiteten weiter, und die schrieben, meist Reiseberichte und
Schrauben quirlten am Heck das Historienromane, keines mit wirk-
dunkle Wasser weiß. Im Fracht- lich großem Erfolg. Bis auf eins.
raum rappelte sich die Ladung auf. „Ich stand also am Fenster,
MARINE NATIONALE / DPA

908 Passagiere, zum Großteil Kur- schaute aufs Meer und fragte mich:
den, darunter 182 Frauen und Diese ganzen Elenden da drüben,
480 Kinder, von denen 3 auf See wenn die jetzt herüberkämen? Das
zur Welt gekommen waren. Neun Buch hat sich dann wie von selbst
Tage waren sie unterwegs, von geschrieben. Es war wie eine Ein-
Beirut aus. Der Schiffbruch war Havarierte „East Sea“ 2001: Mit voller Kraft aufs Riff gebung. Voilà.“
kein Unfall, die Havarie lange ge- Auf dem Teetisch liegt ein deut-
plant. sches Buch: „Der letzte Franzose“.
Ähnliches würde noch oft passieren. dert Meter weiter das Ufer hoch, in der Damit ist er selbst gemeint. Es ist eine
Aber damals hatte das Jahrhundert gerade Villa „Le Castellet“, die sich vor Zeiten Sammlung seiner Texte (erschienen im An-
begonnen, und es war eines der ersten ein Graf hatte bauen lassen, oben auf dem taios-Verlag des Neuen Rechten Götz Ku-
Male, dass ein mit Flüchtlingen überlade- Felsen und von weither zu sehen. bitschek), in denen Raspail vor der Zer-
nes Handelsschiff ungefragt an dieser Küste Es sind Sätze aus dem satirischen Roman störung der europäischen Identität warnt.
Europas anlandete. Dem 17. Februar 2001 „Das Heerlager der Heiligen“ von Jean Ras- Frankreich bliebe nur die Rückkehr zur
würde bald der 11. September folgen. Bei- pail. Der Pariser Reiseschriftsteller hatte Monarchie, ihm selbst die innere Emigra-
des Ereignisse, die die Zeit bis heute be- sich ein paar Wochen lang in der Villa ein- tion angesichts von Politikern, die das Tor
stimmen sollten. quartiert, schrieb am Fenster der Bibliothek, zur Festung Europa offen stehen ließen.
Mit einem Schlag hatten sich die Decks vor sich bis Afrika nur noch das Mittelmeer „Es geht in dem Roman nicht so sehr
mit Männern, Frauen, Kindern gefüllt, die und die Frage: Was wäre, wenn ...? um den Einfall in die westliche Welt, von
seit der Abfahrt in einer Kloake aus Dreck Raspails Roman beschreibt, wie eine wem auch immer“, sagt Raspail. „Es geht
und Scheiße mariniert worden waren; mit Elendsmasse von Flüchtlingen dort anlan- um die Willenlosigkeit, die Schlappheit
einem Schlag kotzten die geöffneten Lu- det, wo Europas Küste am schönsten ist, hierzulande und Feigheit.“ Oder wie es
ken eine Masse ins Sonnenlicht. Der re- an der Côte d’Azur. sein Alter Ego im „Heerlager“ ausdrückt:
DER SPIEGEL 3 / 2018 83
 FOTOS: MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
Impressionen aus Wohnungen geflüchteter Jesiden in Celle und Twistringen: „Ich will eine Heimat haben“

„Der Wolf will nicht mehr Wolf sein. Das neuen, bürgerlichen Rechten. Es ist das dem eher linken Establishment erhalten,
ist es wohl.“ „1984“ der abendländischen Ich-sehe- er erwähnt die Namen der Schriftsteller
Sie sind zu einem Verächter des Abend- schwarz-Seher und für manche das Buch Max Gallo oder Bertrand Poirot-Delpech.
landes geworden. Glauben Sie denn, dass zum Film „Willkommenskultur“. Auch Michel Houellebecq hat Raspail ge-
die armen Teufel, die Ihnen nachlaufen, Marine Le Pen verwendete Passagen aus nannt als Inspiration für „Unterwerfung“,
das nicht merken? Blasse Haut und blasse, „Le Camp des Saints“ in ihrem Wahl- seinen Roman über die Islamisierungs-
schwächliche Überzeugungen, das ist in kampf. Und Stephen Bannon, der frühere angst.
Ihren Augen eins. Sie wittern deutlich, dass Chefberater des amtierenden US-Präsiden- Der Ansager zögerte. Man konnte ihn nur
Sie sich selbst aufgegeben haben. ... Eine ten, zitiert „The Camp of the Saints“ wie zu gut verstehen! Wie sollte man denn die-
Flut, eine unkontrollierbare Flutwelle einen Klassiker. se unermeßliche und elende Menge korrekt
bahnt sich an. „Eine merkwürdige Geschichte“, sagt bezeichnen? Als „Feind“? „Horde“? „In-
Das ist hinlänglich bekannter Sarrazi- Raspail. „Ich kannte diesen Bannon nicht. vasion“? Als „Dritte Welt auf dem Vor-
nismus und wäre nicht der Rede wert, Ich wusste nur, dass Ronald Reagan das marsch“?
wenn Raspails Visionen vom Untergang Buch gelesen hatte. Plötzlich riefen alle Raspails Plot ist rasch erzählt. Hundert
nicht weltweit ein Echo gefunden hätten. Zeitungen an und wollten wissen: Wer ist Handelskähne machen sich von Kalkutta
„Das Heerlager der Heiligen“ ist bislang dieser Franzose, der da Einfluss hat auf aus auf den Weg, gekapert von Elenden,
in neun Sprachen übersetzt und rund zwei die amerikanische Politik?“ eine „Armada der letzten Chance“, die
Millionen Mal verkauft worden. Im Herbst In der Schweizer „Weltwoche“ rezen- überall abgewiesen wird, bis sie schließlich
2015, während der Flüchtlingskrise, stand sierte Matthias Matussek das „Heerlager“ in Südfrankreich landet. Europa ist ratlos.
es kurz an der Spitze der Amazon-Ver- auf drei Seiten: „Ein Meisterwerk ... der Erst senkt es die Arme, dann öffnet es sie.
kaufsliste in Frankreich. Die Kenntnis des große Roman zur heutigen Zeit.“ Raspail Komitees gründen sich, es gibt Gebetskrei-
Buches ist ein Erkennungszeichen der erzählt, er habe Zustimmung auch aus se, Schweigemärsche, Kindermalwettbe-
84 DER SPIEGEL 3 / 2018

werbe „Wir und die Gäste vom Ganges“.
Währenddessen verrammeln die Küsten-
bewohner ihre Villen und fliehen nach
Norden.
Die Hypermarchés sind geplündert, Sol-
daten verweigern aus Mitleid den Befehl
zu schießen. Es ist ein umgekehrter Ko-
lumbus-Moment, eine Landnahme, doch
diesmal unter dem Beifall der Eingebore-
nen, genauer: all der Weltverbesserer, Fa-
natiker, Märtyrer, besessenen Verbrecher
und halluzinierenden Visionäre, die ihr Be-
wusstsein gespalten haben, weil sie sich in
ihrer eigenen Haut nicht wohlfühlen. So
Raspail.
Selbst ein „Benedikt XVI.“ taucht in
Raspails Apokalypse auf, schon 1973, ein
allerdings herzensguter Papst, der für die
Flüchtlinge auch die Schätze der vatikani-
schen Museen hergibt.
Das Abendland läuft leck.
In dieser Nacht lauschten auch die Stra-
ßenkehrer und Kanalarbeiter aller Depots
des Großraums Paris gebannt dem Radio,
ebenso die Kellner, die Nachttopfleerer der
Krankenhäuser, die Tellerwäscher der schä-
bigen Spelunken, die Hilfsarbeiter von
Bilancourt, Javel, Saint-Denis und sonstwo
… die Verdammten der giftigen chemischen
Industrie, die Maschinenwärter, die Höh-
lenbewohner der U-Bahn-Schächte, die
stinkenden Kloakenreiniger und viele
andere.
Plebs gesellt sich zu Plebs und wird von
Raspail gnadenlos bitter beschrieben und
schamlos bis zur Unerträglichkeit. Den
Elenden der Schiffe stellt er einen halb
nackten Paria an die Spitze, auf den Schul-
tern ein schwerbehindertes Kind. Im O-
Ton des „Heerlagers“: Der Jauchefahrer
und Kotkneter, dessen Metier die Herstel-
lung von Heizbriketts aus Kuhmist war
und der sich in Zeiten der Hungersnot von
Exkrementen ernährte, hielt in seinen stin-
kenden Händen eine Art Lebewesen. Zwei
Stümpfe baumelten am unteren Ende
eines großen Rumpfes ...
Das Buch ist voll derartiger „Missgebur-
ten“, „Monstren“, „Fleischwogen“ und
„Krüppeln“, voll Wut auch auf kopulieren-
de Jammergestalten, Feiglinge, Hippies
und sonstige Gutmeinende. Es kann durch-
aus eine Sogwirkung entwickeln, ein apo-
kalyptischer Porno.
Woher nur diese Wut? Jean Raspail
gehört zu einer gutbürgerlichen Rechten
in Frankreich, die der Republik deren
Erbsünde nie verziehen hat. Ihm graut es
vor diesem „peuple“, diesem Volk, das
seine Könige unter Grölen zur Guillotine
führt.
„Es gibt sehr gute Leute in Frankreich.
Aber die Masse! Nein, die französische
Masse hat es mir nicht sonderlich angetan.
Dafür habe ich in meiner Jugend zu viel
erleben müssen. Nach der Befreiung gab
es Verhaltensweisen, die indiskutabel wa-
ren. Und reden wir nicht von 1968, dieser
Komödie einer Revolution.“
Seine Landsleute wollten 1944 nichts
mehr von der eigenen Feigheit, der Kolla-
boration mit den Nazis, wissen und hätten
sich heute der Beliebigkeit, dem Hedonis-
mus, dem Nichteigenen verschrieben, dem
„Big Other“, wie Raspail es nennt.
„Ich habe keinen Widerwillen gegen-
über fremden Völkern. Im Gegenteil. Vor
allem die Minderheiten haben mich sehr
beeindruckt. Aber heute sind wir die Min-
derheit. Das arme, kleine Abendland, ganz
klein in seiner Ecke. Voilà. Also verteidige
ich es. Aber ich bin pessimistisch, bin es
immer gewesen.“
Das Heerlager ist das aufrechte gallische
Dorf. Und kein Wort würde er heute än-
dern: „Wozu? Das ,Heerlager‘ hat gerade
erst begonnen. Was wir seit einigen Mo-
naten erleben, ist nur der Anfang. Aber
jetzt ist es kein Roman mehr.“
Dann sammelten sie ihre Halsketten ein,
ihre Diademe, Armbänder und Ringe und
sagten zum Kapitän: „Du sollst angemes-
sen bezahlt werden. Nimm das alles, und
Adip Agam hat seine
Leute übers Meer geführt,
wie Moses, bis in die
Norddeutsche Tiefebene.
da du die Seewege der Welt kennst, so füh-
re uns heute ins Paradies.“ – „Und wie
steht’s mit der Rückfahrt?“, fragte der Ka-
pitän zurück. „Wenn das Schiff dann noch
dazu fähig ist ...“ – „Es gibt keine Rück-
fahrt“, antwortete irgendeiner.
„Wie heißt dieses Buch?“, fragt Adip
Agam. Vor seinem Bungalow stehen die
Tonnen in Reihe. Es ist eine ruhige Straße
in Twistringen, einem Ort in Niedersach-
sen, nur manchmal hört man den IC oder
die Regionalbahn nach Bassum am Wil-
deshauser Geest.
Der Romanschreiber Raspail ist den leib-
haftig Gestrandeten der „East Sea“ nie be-
gegnet. Er hat sie nie getroffen, die von
der Überfahrt im eigenen Dreck und
Schweiß „Marinierten“, die Ausgekotzten
und Fremden seiner Fantasie, die am
17. Februar 2001 plötzlich in die Wirklich-
keit gerammt zu sein schien.
Es gibt sie aber, die 908 Passagiere der
„East Sea“. Sie haben Gesichter und Na-
men. Ihr Anführer war tatsächlich „ein
Mann von hohem Wuchs“, ganz wie in
Raspails Roman. Aber kein „halbnackter
Paria“, kein „Jauchefahrer und Kotkne-
ter“. Nein, keineswegs. Er heißt Adip
Agam, ist achtfacher Familienvater und
seit zehn Jahren Mitglied im CDU-
Stadtverband Twistringen, Landkreis Diep-
holz.
Gesellschaft
Und auch er hat etwas geschrieben, kei-
nen Roman natürlich, aber doch, damals,
noch in der Heimat, zusammen mit seinem
Cousin, ein Theaterstück, was dann wahr
wurde, weshalb er jetzt in Twistringen lebt
und es keine Rückkehr gibt.
Natürlich, sagt Adip Agam, erinnere er
sich an die ersten Schritte an Land. „Wir
konnten noch nicht stehen. Nach neun Ta-
gen auf dem Schiff. Wir fielen hin. Wie
ein frisch geborenes Lamm. Alles war dun-
kel. Da waren nur ein paar Fenster hell, in
einem Haus weiter oben.“
Le Castellet. Die Villa, in deren Biblio-
thek Jean Raspail sein „Heerlager“ ge-
schrieben hatte.
Das Wort „Heerlager“ kennt Agam
nicht. Er hat es in all den Jahren Twistrin-
gen nicht gebraucht. Obwohl es da wirk-
lich ein Camp gegeben hat, damals, ein
Heerlager der französischen Armee, wo
die Gestrandeten erst einmal unterkamen.
Es gibt Fotos von dem Tag, als Danielle
Mitterrand das Lager besuchte, die Witwe
des früheren Staatspräsidenten. Auf allen
Bildern fällt eine Gestalt ins Auge. Ein
Mann von fast biblischer Statur, mit im-
posantem Moses-Bart, der auf einem Foto
den Arm um die zierliche Besucherin legt.
„Ja, mein Bart war nach der Fahrt sehr
lang“, sagt Adip Agam. „Frau Mitterrand
hat mich noch zum Tee eingeladen. Ihre
Leibwächter waren sehr freundlich. Ich
kannte das nicht. In Syrien hatte die Poli-
zei keinerlei Respekt vor uns Jesiden.“
Denn Jesiden waren fast alle, die damals
im Laderaum der „East Sea“ hockten. Sie
kamen aus dem Nordosten Syriens. Der
Melonenbauer Ahmed und Aziz, ein Re-
krut, der beim Rückwärtsfahren versehent-
lich die Frau eines Offiziers verletzt hatte
und wusste, dass er von nun an sowieso
tot sein würde. Da saßen ein Tierarzt und
der Cousin von Agam und ein Traktormecha-
niker, und allesamt waren sie Angehörige
einer Volksgruppe, die man in Deutsch-
land erst dann wahrgenommen hat, als der
„Islamische Staat“ begann, Jesidinnen dorf-
weise in die Sklaverei zu entführen.
Jesiden sind weder Muslime noch Chris-
ten. In islamischen Staaten werden sie des-
halb traditionell als „Teufelsanbeter“ ver-
folgt. Es gibt keine heilige Schrift, nur Lie-
der und mündlich überlieferte Mythen.
Ihre Religion verehrt die sieben Engel und
deren vornehmsten, den Engel Pfau. „Sie
sind alles. Sie haben von allen Religionen
das Gute für sich genommen.“ Das schreibt
Karl May im ersten Band seiner gesam-
melten Werke, in „Durch die Wüste“.
Karl May, ein Reiseschriftsteller, der in
seinen Romanen ohne jede Scheu das christ-
liche Abendland stets mit sich trägt und im
Zweifel auf der Seite der Apachen steht,
der heroischen Verlierer. In seiner Haltung
ähnlich wie Raspail, nur ohne dessen Furor,
dessen Verblendung. Karl May mochte die-
DER SPIEGEL 3 / 2018 85
se Jesiden: „Nie bin ich im Oriente so an
das heimatliche, deutsche Familienleben er-
innert worden, als bei ihnen. Wären sie
zahlreicher und nicht so zerstreut, so könn-
ten sie die Deutschen Asiens werden.“
Adip Agam hat nie einen Cent vom So-
zialamt genommen. Er hat jeden Job ge-
macht. Er zahle gern Steuern, sagt er, weil
er dafür auch gute Straßen bekomme. Die
älteste Tochter studiert Jura, eine zweite
hat sich für Sprachen eingeschrieben, Spa-
nisch, Französisch und Chinesisch. „Du
musst lernen“, sagt er. „Deutschland ist
der beste Staat. Trotz des Wetters.“
Aber Heimat ist woanders.
In Barkan, seinem Dorf in Syrien, hatten
sie Theater gespielt, er zusammen mit Brü-
dern und Cousins. Selbst geschriebene
Sketche über Zwangsehen und die Unsitte
der Mitgift, ernst, aber auch lustig, mit Lie-
dern. Das letzte Stück hatten sein Cousin
und er geschrieben. Es heißt „Die Grenze“,

MAURICE WEISS / DER SPIEGEL

und es erzählt, wie jemand aus Barkan
nach Deutschland auswandert. Das war
sehr lustig. Aber dann kam der Bus tat-
sächlich, und es war keine ausgedachte Ge-
schichte mehr. Leider.
„Ich bin vier Stunden heulend und mit
einer Flasche Arak herumgelaufen, durch
alle Straßen. Alle sagten, Agam ist jetzt
verrückt geworden. Ich wollte nicht weg.
Ich kannte doch jeden in Barkan. Aber
dann bin ich doch in den Bus nach Damas-
kus gestiegen.“
Sein Lebensmittelladen war pleite, weil
zu wenige Kunden kamen. Zu viele hatten
schon den Bus genommen. Und außerdem:
„Als Jeside bist du staatenlos bei den Ara-
bern. Keine Hochzeitspapiere, keine Uni-
versität für die Kinder von Jesiden.“
Draußen fährt wieder ein IC vorbei.
Agam entschuldigt sich, dass das Wohn-
zimmer noch nicht fertig eingerichtet sei.
Drei Sofas für die Besucher und vor dem
Großbildschirm ein kleiner Pfau.
Ein Cousin habe einen Schleuser ge-
kannt. Wenn Adip Agam heute davon er-
zählt, in seinem neu gelernten Deutsch,
sagt er „Schleuserbänder“, das meint
Schleuserbandenchef, und es klingt weni-
ger unheimlich als in der „Tagesschau“,
sehr viel normaler. So wie „Schnürsenkel“.
Nach heutiger Rechnung kostete die
Überfahrt 5000 Euro pro Kopf. Agam
konnte umsonst mitfahren, wenn er bei
der Verpflegung mitanpackte und auf die
Gruppe aufpasste. Jeder kannte ihn, von
den Theaterstücken her, und er hatte die-
sen Patriarchenbart: „Nach sechs Tagen
war meine Stimme weg.“
Sie hatten in einem Bananenhain außer-
halb Beiruts gewartet. Wenige wussten,
wohin die „East Sea“ fahren sollte. „Nach
Paris“, hatte der Schleuserbänder gesagt.
Aber Paris liegt nicht am Meer.
Die „East Sea“ ankerte vier Kilometer
vor der Küste. Schlauchboote brachten sie
86 DER SPIEGEL 3 / 2018
Ehemaliger Schiffbrüchiger Agam: „Deutschland ist der beste Staat, trotz des Wetters“
hinaus, immer 40 Leute. Um 4.45 Uhr leg-
ten sie ab, es war der 8. Februar 2001. Kei-
ner aus der Gruppe war je am Meer gewe-
sen, und keiner würde heute noch einmal
freiwillig ein Schiff betreten.
Auch während der Überfahrt sahen sie
das Meer nicht. Neun Tage lang mit dem
Rücken an die Bordwand gelehnt, knapp
tausend Männer, Frauen, Kinder im fun-
zelig beleuchteten, nach Diesel und Erbro-
chenem riechenden Frachtraum der „East
Sea“. Der Melonenbauer Ahmed wird es
so beschreiben: „Man sieht nichts. Es
schaukelt. Immer weinen Leute. Immer
übergibt sich jemand. Keine Toilette, nur
ein Loch. Alles Wasser und Scheiße.“
Drei Kabinen waren vollgepackt mit
Broten, Wasser, Feigen, Wurst und Milch-
pulver. Agam sagt: „Es hätte für zehntau-
send gereicht. Aber sie kotzten es sowieso
gleich wieder aus.“
Drei Frauen waren hochschwanger. Zum
Glück war der Tierarzt da, als die Wehen
einsetzten.
Der Kapitän hieß Hassan. Das stand je-
denfalls in einem der fünf Pässe, die er in
seiner Hemdtasche trug. „Ich bringe das
Schiff nach Europa, so wie ich einen Nagel
in die Wand schlage“, hatte er immer ge-
sagt. Und so ähnlich kam es dann ja auch.
In der vierten Nacht setzte die Maschine
aus. Die „East Sea“ war manövrierunfähig,
ausgerechnet bei unruhiger See. Die Lich-
ter gingen aus, alles war schwarz, und man
hörte nur die Brecher ans Schiff schlagen,
das Wimmern und Beten und Schreien der
Kinder. „Das Schiff war so schwer. Es wur-
de nach unten gezogen, wie in einem Stru-
del“, wird Aziz, der Rekrut, sich erinnern.
Der Cousin von Ahmed, dem Melonen-
bauern, versuchte, die Maschine zu repa-
rieren. Beim ersten Startversuch, sagt
Ahmed, habe der Kapitän den Propheten
Mohammed angerufen. Nichts. Beim zwei-
ten versuchte er es mit dem Engel Pfau,
dem Helfer der Jesiden: „Auch nix. Das
dritte Mal war das letzte, es gab keinen
vierten Versuch. Das ganze Schiff wäre un-
tergegangen. Der Kapitän sagt: Beim Na-
men der gerade geborenen Kinder, sie sind
unschuldig. Da hat es gezündet. Tausend
Leute haben geschrien.“
Die letzten Meilen mussten sich alle an
Deck Tücher vors Gesicht binden. Die
Lampen wurden gelöscht, bis auf eine, um
als Fischerboot durchgehen zu können.
Dann gab Kapitän Hassan den Befehl zum
Anlegen: Volle Kraft voraus.
Alle hatten gedacht, das Schiff würde
in einen Hafen fahren. Aber dann hieß es,
nein, das Schiff müsse kaputt gemacht wer-
den, weil sie sonst zurück nach Beirut ge-
schickt würden. Der Schiffbruch musste
sein. In der „Kunst des Krieges“ rät der
chinesische Stratege Sun Tzu beim Ein-
dringen in fremdes Gelände: Verbrenne
die Boote und zerschlage das Kochgeschirr.
So rammten sie am 17. Februar 2001 auf
den Felsen von Boulouris, die Steuerbord-
seite aufgerissen, gestrandet und gerettet.
Als die Gendarmen kamen, hatten sich
Kapitän Hassan, Schleuserbänder und die
 Gesellschaft

Maschinisten längst unter die Passagiere Ahmed, der Melonenbauer, züchtet jetzt den Verrat der Eliten, genug am Teetisch
gemischt. Hassan hielt sogar zwei Kinder Kürbisse in seinem Schrebergarten. Der über die notwendige Reconquista des
an der Hand, als sie in die Busse stiegen. unglückliche Rekrut Aziz hat jahrelang in wahren und weißen Frankreichs gepredigt,
Er schlug sich später bis Bremen durch und einer Hühnerfabrik gearbeitet und reinigt das Überleben in isolierten Gemeinschaf-
flog mit einem seiner fünf Pässe zurück heute nachts ICE-Züge. Sein Deutsch ist ten, wie es einst die Mönche pflegten ...
über Berlin nach Damaskus. nicht so gut wie das seiner Kinder, denn „Schluss damit“, erklärt er und holt eine
„Er war ein guter Mann, ein richtiger Deutsch lernt man nicht in der Nacht- Flasche Whisky.
Mensch“, sagt 16 Jahre später Adip Agam. schicht und nicht von totem Geflügel. Und dann erzählt er, der Stichwortgeber
Dann singt er ein armenisches Lied zur Und weil es kein Land mehr gibt für Je- der Neuen Rechten, von Patagonien. Von
Laute, und seine Stimme ist so mächtig siden, spart man auf Häuser. Und ist vor- Orélie-Antoine de Tounens, jenem Aben-
wie sein Bart. sichtig, wie alle, die erfahren mussten, dass teurer aus der Dordogne, der sich 1860 von
Einige Familien sind in Südfrankreich es für „Heimat“ außerhalb der Gemein- einigen Indiostämmen zum König ausrie-
geblieben. Die anderen zogen, nach kur- schaft keinen Ort gibt. Für Außenstehende fen ließ und als „Seine Majestät Orélie-
zem Aufenthalt in dem Heerlager, weiter ist das undurchdringlich, auch suspekt. Antoine I.“ nach kurzer Regentschaft von
nordwärts. Mit der Bahn, per Anhalter, Wenn es ein „Heerlager“ gibt in Twis- der Polizei des Landes verwiesen wurde.
kurze Strecken auch zu Fuß. Die Männer tringen und Celle, eine Gemeinschaft der Jean Raspail hat sich eine letzte Ziga-
hatten Zettel in den Taschen, mit Te- Treuen und Verlorenen, dann ist es das rette ins Mundstück gedreht. Er sei übri-
lefonnummern und Adressen. Es waren der Jesiden. gens, sagt er, der amtierende Generalkon-
keine Adressen in Saint-Raphaël, auch Im Oktober 2014 war in Celle ein bärti- sul dieses Königreichs und der paar Hun-
nicht in Paris. Es waren schwierige Wörter, ger Tschetschene von einer Gruppe Jesi- dert Untertanen, die Seiner Majestät
die sie sich in Syrien aufgeschrieben den für einen IS-Sympathisanten gehalten Orélie-Antoine die Treue halten, dem ers-
hatten. „Burgdorf“, „Bremerhaven“ oder worden. Das schaukelte sich zu einer Mas- ten und letzten König von Patagonien.
„Twistringen“ im Landkreis Diep- Es gibt einen Alpenverein, eine
holz. eigene Währung, Jacht- und Ten-
Er sei, sagt Agam, damals doch nisklub und ein Netz von 257
nicht zum Tee mit Frau Mitterrand konsularischen Vertretungen in 55
gegangen. „Ich wollte möglichst Ländern.
schnell nach Hannover“, festen Bo- Ein Reich, das sich auf keiner
den unter die Füße bekommen. Karte findet, allein existiert im
Und den gibt es nur in der Gemein- Glauben seiner Anhänger. Das es
schaft. nur gibt durch die Gemeinschaft
Die Jesiden, man schätzt ihre und deren Feste, Symbole und Ri-
Zahl auf eine Million, leben in ten für Eingeweihte.
einer Diaspora, zerstreut in Ge- „Wussten Sie“, sagt Raspail,
meinden, deren größte die deut- „dass unsere Hymne die längste
VANINA LUCCHESI / AFP

sche ist. Die historischen Sied- überhaupt ist, vier Minuten und
lungsgebiete in Syrien, im Irak, in zehn Sekunden?“ Er zeigt das
der Türkei und Armenien sind neue Bulletin, nennt Namen von
heute schwer erreichbar, wenn Generälen und Bischöfen, erzählt
nicht ganz verloren: „Jede Gene- von der kurzen Inbesitznahme des
ration liegt anderswo in ihren Grä- Witwe Mitterrand, Flüchtling Agam 2001: Zum Tee geladen Mount Kenya, im Januar 2016,
bern“, sagt Adip Agam. Eine Jesi- dem kurzen Hissen der Flagge des
den-Gemeinde ist ein komplizier- Königs.
tes Gewebe von Beziehungen, Codes, Ver- senschlägerei hoch, und die Celler Straßen „Frankreich hat uns enttäuscht. Also ha-
antwortlichkeiten, Regeln, angelegt auf waren in jener Nacht blau von Polizeilich- ben wir uns etwas anderes gesucht. Es ist
gegenseitige Hilfe. Es gehört nur dazu, tern. Es war die Zeit, als der IS in Kurdis- ein Spiel, aber eines, das man mit großem
dessen Eltern beide Jesiden sind. Das er- tan Massaker an den Jesiden verübte. Ernst spielt. Wie es die Kinder tun.“
leichtert den Fortbestand in der Fremde. „1000 Jahre nur Kämpfereien und Völ- Es ist ein Königreich im ewigen Exil, zer-
Doch schirmt es auch ab und kann zur kermorde, nur wegen der Religion“, sagt splittert in Parzellen, die jeder Untertan
Bürde werden für die zweite und dritte Adip Agam. Er hat seine Leute damals in sich trägt – „ein verlorenes Königreich,
Generation. In Celle heiratet schon jeder übers Meer geführt, wie Moses, der Bärti- wo man sich selbst findet, ein Land für die
zweite außerhalb der Gemeinde. Und ge, bis hinein in die Norddeutsche Tiefebe- Seele“. Angesiedelt sei es, sagt Raspail,
wenn sie miteinander telefonieren, auf ne. Seine Frau Mdira geht zum Sprach- „zwischen Traum und Wirklichkeit, ein un-
Kurdisch, dann hört man ein „Ach so“, unterricht der Kirchengemeinde. Aber er begrenzter Raum für Dissidenz“.
ein „Scheiße“ und ein „Tschüss“. sagt: „Ich will eine Heimat haben.“ Raspail ist selbst ausgewandert in ein
Praktisch jedes Wochenende ist ausge- Er fühlt sich noch fremd. Trotz der Müll- Land, das es nur für ihn gibt und einige
füllt mit Festen, mit Besuchen und Gegen- tonnen vor dem Bungalow und der Mit- Hundert Mitfantasten, die dem Königreich
besuchen, Hochzeiten, Trauerfeiern, Will- gliedschaft in der CDU. Er sei, sagt Adip Patagonien die Treue halten, einem India-
kommensessen. Jeder kennt jeden, jeder Agam, mit dem Kurs seiner Parteivorsit- nerstaat, den es vor 150 Jahren für ein paar
hat die anderen im Auge. zenden nicht mehr einverstanden: „Angela Wochen „südlich des Flusses Bío-Bío“ ge-
Unter sich ist die Gemeinschaft in drei Merkel ist zu sanft gegenüber Erdoğan“, geben hat.
Kasten und etliche Stämme unterteilt, es sagt er. „Da waren viele IS-Leute unter Das also ist seine Heimat. Und darin
gibt die verschiedenen Generationen der den Flüchtlingen, hundertprozentig.“ Das sind sie sich so ähnlich, der „letzte Fran-
Einwanderung, es gibt Jesiden aus Syrien, ist ihm nicht geheuer. Da kann man nicht zose“ und die niedersächsischen Jesiden
aus der Türkei, aus dem Irak, jede Gruppe genug aufpassen. von Bord der „East Sea“. Auch wenn sie
mit ihrer eigenen Geschichte, ihrer je Da lauert Gefahr. In seiner Pariser Woh- nichts voneinander wissen. Schiffbrüchige
eigenen Verfolgung und Flucht. nung hat Jean Raspail genug gewütet über begegnen sich nie. I

DER SPIEGEL 3 / 2018 87

 Gesellschaft
Winterschläfer
Leitkultur Alexander Osang über
die sich verändernde
deutsche Tier- und Menschenwelt
A
m Wochenende besuchte ich einen Wildpark im
südlichen Brandenburg. Meine Frau und ich waren
mit dem Fahrrad unterwegs. Wir hatten kein rich-
tiges Ziel. Wir hatten die Räder, und wir hatten Zeit. Also
fuhren wir erst mal los. Ich habe mein Leben in Städten
verbracht, ich langweile mich schnell auf dem Land. Ich
bin kein Vogelbeobachter. Ich schwimme gern, aber dazu
war es zu kalt. Zum Schlittschuhlaufen war es zu warm.
Ich kann auch gar nicht Schlittschuh laufen.
Wir fuhren über Waldwege zu einem Museumsdorf.
Töpferei, Glasbläserei, hübsche Häuschen, altes Pflaster
und ein Gasthof mit Produkten aus der Region.
Wildschwein, Gans, Zander. Der
Betreiber des Dorfladens hatte
zehn Sorten Salami im Angebot,
er ratterte sie herunter wie der
Kellner eines Brooklyner Restau-
rants die Specials. Eine Wurst war
über Wacholderholz geräuchert
worden, den Rest habe ich verges-
sen. Über die Dorfstraße schlen-
derten Städter mit solidem Schuh-
werk und wetterfester Jacke. In ei-
nem der Fachwerkhäuser gab es
Ferienapartments. Ein vernünfti-
ger Urlaub, sicher, aber allein der
Gedanke daran, hier die Ferien zu
verbringen, machte mich schwer-
mütig. Neulich waren wir drei
Tage lang in einem Spa im Spree-
wald. Es gibt da beheizte Pools,
drinnen und draußen, Milch- und
Kräuterbäder, riesige Bademäntel, Bärin Katja
in denen man aus der Sauna über
beheizte Terrakottafliesen direkt in ein Kino mit Liege-
stühlen wandeln kann, und einen Sternekoch.
Die Gäste kommen aus der Stadt, das Personal aus der
Region wie der Zander, das Wildschein und die Gans.
Vom Museumsdorf war es nicht weit bis zum Wildpark.
Man bezahlte fast so viel Eintritt wie im Berliner Zoo,
aber die Wacholdersalami war ja auch nicht billig. Es
sind Stadtpreise. Die Leute aus der Region würden so-
wieso nichts bezahlen, um sich die Wildschweine anzu-
gucken, die ihnen das Grundstück zerwühlen. Von den
Waschbären, die ihnen die Müllsäcke zerfetzen, ganz zu
schweigen. Der Wildpark war für uns da, die Leute mit
den teuren Fahrrädern.
Es gab drei Waschbären. Sie hatten viel Auslauf und
Namen. Lisa, Mokka und Ottilie. Es gab Wölfe, Grauwölfe
und Polarwölfe, frei laufendes Rotwild sowie Luchse. Die
Tiere sahen – soweit ich das einschätzen kann – zufrieden
aus. Ein Luchs hieß Lars.
88 DER SPIEGEL 3 / 2018
Überraschenderweise brüllte zwischen der Wisentkop-
pel und dem Freilauf für Rot- und Damwild ein Löwe. Im
Gegensatz zu Wolf und Elch ist der Löwe eigentlich noch
nicht in Brandenburg heimisch geworden. Die Löwen im
Wildpark wurden aus dem Zirkus gerettet. Sie leben hier
in der „Großkatzenauffangstation“, die für zwei Löwen
und einen Tiger gebaut wurde. Der Tiger ist bereits am
15. Oktober 2015 verstorben. Er hieß Blockos. Die Löwen
heißen Gretchen und Massai. Massai saß im Käfigbereich.
Draußen, auf der Löwenterrasse, hockte Gretchen. Beide
brüllten. Abwechselnd. Ein rhythmisches, sich einem
Höhepunkt näherndes Rumgebrülle. Sie sahen sich dabei
nicht an. Sie kehrten sich den Rücken zu. Die Löwin
schaute in den Brandenburger Nadelwald. Der Alte starrte
auf eine Steinmauer im Gehege. Zwischen ihnen 50 Meter
und ein Gitter. Vielleicht geht da die Reise hin. Auch
bei uns.
Auf Schildern konnte man lesen, in welchem Zirkus
die Löwen und der verstorbene Tiger einst beschäftigt wa-
ren, und auch, wer eine Patenschaft übernommen hat.
Pate für Gretchen ist Eberhard Büchsler, Pate für Massai
ist die Löwen-Apotheke Baruth/Mark.
Eine Frau mit zwei kleinen Kindern, die verpackt waren
wie Raumfahrer, stand neben mir am Löwengehege. Sie
sagte: „Wenn man sich vorstellt, dass immer noch Leute
in den Zirkus gehen. Unglaublich. Was sind das bloß für
Menschen?“ Ich nickte nachdenk-
lich. Ich war nie gern im Zirkus.
Aber nicht wegen der Löwen, son-
dern wegen der Clowns.
Auf den Wiesen stand Muffel-
wild. Es war unwirklich schön,
aber auch ein wenig beunru-
higend. Wie im Jurassic Park. Wir
liefen zum Bärengehege. Die Frau
am Eingang hatte uns gesagt,
dass die Bären natürlich nicht zu
sehen sein würden. Winterschlaf.
Logisch. Aber da saß eine Bärin.
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL
Ich glaube, sie hieß Katja.
Ursprünglich gab es hier noch
die Bärin Mausi, die im Sommer
eingeschläfert werden musste.
„Wir nehmen Abschied von unse-
rer Bärendame Mausi“, stand auf
einem Schild am Käfig. Übrig ge-
blieben waren Igor und Katja.
Braunbären. Igor machte, das
nahm ich an, Winterschlaf. Katja war aufgewacht. Viel-
leicht weil es so warm war in Brandenburg.
Katja wurde 1989 geboren und lebt seit 1999 im Wild-
park. Vorher, so stand es am Zaun, „arbeitete sie im Zir-
kus“. Katja ist so alt wie das neue Deutschland. Sie sah
ziemlich fertig aus. Verkatert. Rote Augen. Sie saß am
Zaun wie ein Produkt unseres guten Willens. Eine russi-
sche Bärin in Brandenburg, die zehn Jahre lang im deut-
schen Zirkus gearbeitet hatte. Jemand hatte sie gerettet
und nach Südbrandenburg gebracht. Sie hat nun über ei-
nen Hektar Auslauf, ist aber zu kaputt für den Winter-
schlaf. So müde. Katja sah nicht aus, als würde sie jemals
wieder aufstehen können.
Es wurde langsam dunkel. Wir fuhren durch den Wald
zurück. Vorbei an einer verwitterten Kaserne des Wach-
regiments Feliks Dzierzynski, in der seit zwei Jahren
Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan sitzen und warten.
Es ist ihr dritter Winter im Wildpark. Im großen.
 Sport
Weltrekorde in aktuellen olympischen Disziplinen (Auswahl)

Marita Koch
Leichtathletik
Frauen
Disziplin Athletin Rekord Gültigkeit des Rekords
(DDR) 1985
Dopingrekorde
in Jahren Der Europäische Leicht-
100 Meter Florence Griffith-Joyner USA 10,49 Sek. 30 athletik-Verband hat vor-
400 Meter Marita Koch DDR 47,60 Sek. 33 geschlagen, alle Weltrekor-
800 Meter Jarmila Kratochvílová Tschech. 1:53,28 Min. 35 de zum 1. Januar 2018 zu
Dreisprung Inessa Krawez Ukraine 15,50 m 23
löschen. Besonders einige
Uralt-Bestzeiten aus der
Kugelstoßen Natalja Lissowskaja UdSSR 22,63 m 31 Hochzeit des Dopings wie
Diskuswerfen Gabriele Reinsch DDR 76,80 m 30 von Marita Koch (Rostock)
Siebenkampf Jackie Joyner-Kersee USA 7291 Punkte 30 über 400 Meter oder von
Jürgen Schult (Schwerin)
im Diskuswerfen ärgern
die Funktionäre. Aber ei-
Männer nige Weltrekordler weh-
Disziplin Athlet Rekord Gültigkeit des Rekords ren sich dagegen, mit den
in Jahren Hochdopern aus den Acht-
400 Meter
Hürden Kevin Young USA 46,78 Sek. 26 zigern verglichen zu wer-
den. Zudem ist keines-
Weitsprung Mike Powell USA 8,95 m 27 wegs sicher, dass neue
Jürgen Schult
Dreisprung Jonathan Edwards Großbritannien 18,29 m 23 (DDR) 1986 Bestleistungen heutzutage
Kugelstoßen Randy Barnes USA 23,12 m 28
wirklich sauber zustande
kommen. Der internatio-
Diskuswerfen Jürgen Schult DDR 74,08 m 32 nale Verband sagt, er brau-
Hammerwerfen Jurij Sedych UdSSR 86,74 m 32 che noch Zeit, über den
D PA P I CTU R E - A L L I A N C E / PAT R I C K R I V I E R E / Z E N T RA L B I L D Antrag zu entscheiden.

Magische Momente
„Die ersten Jahre wurden wir belächelt“
Pole-Tänzerin Jeannine Wilkerling, 36, über ihren ersten Meistertitel und die wachsende Anerkennung ihrer Sportart

SPIEGEL: Sie sind Präsidentin
des Deutschen Pole Sport
Verbands. Müsste der Tanz
an der Stange nicht Pole-
dance heißen?
Wilkerling: Dance klingt nach
Tabledance. Als wir den Ver-
band 2010 gründeten, ent-
schieden wir uns für Sport,
um uns nicht ständig recht-
fertigen zu müssen.
SPIEGEL: Wie fingen Sie an?
Wilkerling: 2005 sah ich ein Vi-
deo von der ersten Weltmeis-
terschaft, dachte: Das kann
ich auch. Ich begann zu trai-
nieren, in Eigenregie.
SPIEGEL: Zwei Jahre später
waren Sie deutsche Meis-
terin.
Wilkerling: Ich komme eigent-
lich vom Turnen. Im Wett-
kampf baute ich andere Ele-
mente ein als die Konkur-
renz, fiel dadurch auf. Das
Turnier fand in einer Disko-
SPIEGEL: Ihr größter Triumph? vor nicht schlafen, dachte, er
Wilkerling: Es war toll. Ich zieht mich durch den Kakao.
war vorher mal norddeut- SPIEGEL: Als Sie sich die
sche Meisterin im Taek- Jacke auszogen, wurde Strip-
wondo, aber der Poledance- Musik eingespielt.
Titel war besonders. Wilkerling: Raab hat sich da-
SPIEGEL: Wie ging es weiter? für entschuldigt. Der Auftritt
Wilkerling: Ich gewann noch half, 2011 war ich in der deut-
zweimal die deutsche Meis- schen Ausgabe der „Vogue“,
terschaft. Dann stieg das 2012 tanzte ich beim „Echo“,
Niveau. Zu meiner Zeit gab meine Höhepunkte.
es 20, 30 Elemente – heute SPIEGEL: 2017 hat die weltwei-
sind es weit über 1000. te Dachorganisation aller
SPIEGEL Haben sich die Erfol- Sportföderationen den Pole-
ge finanziell ausgezahlt? Sport-Weltverband IPSF
Wilkerling: Indirekt. Große in Teilen anerkannt. Einige
Sponsoren gibt es nicht. Wer sehen darin einen großen
Titel gewinnt, muss sich das Schritt Richtung Olympia.
zunutze machen. Ich eröffne- Wilkerling: So einfach ist das
te meine erste Poledance- nicht. Im Pole-Sport gibt es
Schule, heute gibt es neun in zwei Weltverbände, die lei-
meinem Namen. der nicht zusammenarbeiten.
SPIEGEL: Und Sie weckten Der deutsche Verband
Medieninteresse – waren ist kein IPSF-Mitglied. Pole-
Ihre TV-Auftritte wichtiger Sport bei Olympia werde
als die Meisterschaften? ich nicht mehr erleben –
MARTIN KATH

thek statt. Es waren viel- Wilkerling: Es waren High- noch kämpfen wir dafür,
leicht 150 Zuschauer da, ich lights. Stefan Raab lud mich Wilkerling 2008 überhaupt als Sportart wahr-
bekam 500 Euro Siegprämie. ein, ich konnte Wochen da- genommen zu werden. tne

DER SPIEGEL 3 / 2018 89

Halleluja
Football Leaks Warum zahlt der FC Barcelona Stürmerstar Lionel Messi über hundert
Millionen Euro im Jahr? Vertrauliche Dokumente liefern Hinweise auf neue
Steuerprobleme, ein fragwürdiges Darlehen und die Verhandlungstricks von Messis Vater.

90 DER SPIEGEL 3 / 2018


D
as City Center im argentinischen
Rosario gleicht einem Bunker. Ein
Ensemble aus grauem, schmucklo-
sem Beton, das dennoch jährlich Hundert-
tausende Besucher anzieht. Es sind vor
allem Zocker, im City Center ist Südame-
rikas größtes Casino unter-
gebracht. In den verspiegelten
Sälen blinken und bimmeln die
Automaten, die von einem
Heer von Glücksrittern mit
Münzen befüllt werden.
SIMON PRADES / DER SPIEGEL
Am 28. Juni 2017 durchsuchten Beamte
einer Antikorruptionseinheit das Gebäude.
Der Verdacht: Geldwäsche. Rosario, knapp
vier Autostunden nordwestlich von Buenos
Aires gelegen, gilt weltweit als einer der
Hauptumschlagplätze für Drogen. Und wo
das Glücksspiel brummt, da ist
das Geld der Mafia nicht weit.
Lionel Messi ließ sich von all-
dem nicht abschrecken. Zwei
Tage nach dem Polizeieinsatz
heiratete der fünfmalige Welt-
Sport
fußballer im City Center seine Jugend-
freundin Antonella Roccuzzo. Die Hoch-
zeit bewegte das gesamte Land. Welches
Kleid würde Antonella tragen? Würde die
Popikone Shakira, Lebensgefährtin von
Messis Teamkollegen Gerard Piqué, für das
Paar singen? Welche Speisen würde es
wohl geben?
Nicht nur in Argentinien, auf der ganzen
Welt himmeln Fußballfans den inzwischen
30-jährigen Messi an, dessen Leben dem
einer Romanfigur gleicht: Ein Junge, der
aus einfachen Verhältnissen stammt und
an Wachstumsstörungen leidet, verlässt als
13-Jähriger seine südamerikanische Hei-
mat, um in Europa gesund zu werden –
und steigt zu einem der größten Fußballer
der Geschichte auf.
Trotz seines Ruhms ist dieser Junge aus
Rosario nahbar geblieben, ein schüchterner,
freundlicher junger Mann, dem das Reden
nicht sonderlich liegt. Der seine freie Zeit
am liebsten mit seinen Freunden, der Fa-
milie oder an der Playstation verbringt.
Alles, was das Leben kompliziert macht,
überlässt Messi seinen Vertrauten. Allen
voran seinem Vater Jorge Horacio, der im
Jahr 2000 die Entscheidung traf, seinen
kleinwüchsigen Sohn beim FC Barcelona
vorspielen zu lassen. Nach einer intensiven
Hormontherapie vermochte der Filius sein
riesiges Talent bei den Katalanen zu ent-
wickeln.
Dank Lionel Messi erlebt der FC Barce-
lona mit bislang 30 Titeln die erfolgreichste
Ära seiner Historie. Der Superstar erzielte
dabei in 400 Ligaspielen 365 Tore, kein an-
derer Profi hat es in der Geschichte der Pri-
mera División auf mehr Treffer gebracht.
Auch wenn er seit fast zwei Jahrzehnten
in Spanien lebt, betont Lionel Messi im-
merzu die tiefe Verbundenheit zu seiner
Geburtsstadt Rosario, wo ein Teil seiner
Familie weiterhin lebt. Wohl auch deshalb
kehrte „La Pulga“, der Floh, wie Messi
auch genannt wird, im Sommer in die Hei-
mat zurück, um im City Center jener Frau
das Jawort zu geben, mit der er bereits
zwei Kinder hat. Auf dem Provinzflug-
hafen Rosarios drängten sich die Privatjets.
Das Brautpaar hatte 260 Gäste eingeladen,
darunter fast alle Spieler der argentinischen
Nationalmannschaft und des FC Barcelona.
Eine Boulevardzeitung errechnete, dass der
Marktwert aller anwesenden Profifußballer
bei über zwei Milliarden Euro liege.
Was am 30. Juni in Rosario im Leben
des Lionel Messi geschah, war öffentlich
inszeniert. Was am selben Tag in Barcelona
passierte, war streng vertraulich.
Bis heute.
Im Rausch
Datiert auf Messis Hochzeitstag unter-
schrieb der FC Barcelona die Verträge mit
seinem Juwel, Laufzeit bis Ende Juni 2021.
Zähe Verhandlungen waren vorausgegan-
DER SPIEGEL 3 / 2018 91
Sport

gen, der alte Kontrakt wäre im Sommer europaweite Debatte in Gang gebracht, die schäftsgebaren des Messi-Clans. Die Pa-
2018 ausgelaufen. Dann wäre Messi ablö- das Fußballbusiness grundsätzlich vor die piere zeigen auch, wie der FC Barcelona
sefrei gewesen, eine Horrorvorstellung für Frage stellt: Wie lange machen es Fans mit, sich verbog, um seinen Helden nicht zu
jeden Barça-Fan. immer mehr für Tickets, Fernseh-Abos und verlieren.
Die bange Ahnung der Klubbosse, am Trikots zu bezahlen, nur damit ihre Lieb-
Ende womöglich ohne Lionel Messi und linge immer mehr kassieren? 14,5 Millionen Der Vorgang
ohne Transfereinnahmen dazustehen, den Euro Festgehalt pro Jahr für Toni Kroos? Lionel Messi und sein Vater Jorge sind ver-
Fans den Abschied ihres Idols erklären zu 22,6 Millionen Euro für Zlatan Ibrahimo- urteilt. Der Spieler hat mithilfe seines Va-
müssen, spiegelt sich in den Verträgen wi- vić? 36,8 Millionen für Neymar? 38,2 Mil- ters 4,1 Millionen Euro an Steuern hinter-
der, die dem SPIEGEL vorliegen. lionen Euro für Cristiano Ronaldo? Was ist zogen, indem er zwischen 2007 und 2009
Zum ersten Mal garantiert ein Klub ei- noch angemessen? Werbeeinnahmen von mehr als zehn Mil-
nem Profi ein jährliches Einkommen von Die Verträge Lionel Messis werden diese lionen Euro über Firmen in Offshoreländer
mehr als hundert Millionen Euro. Nur zum Diskussion weiter anheizen. Dabei geht es geschleust und dem spanischen Fiskus ver-
Vergleich: Der Jahresumsatz eines Vereins allerdings um mehr als die puren Summen heimlicht hatte. Im Sommer 2016 wurden
wie Werder Bremen liegt bei rund 120 Mil- (Grafik Seite 94). Die Geschichte hinter die Messis in Barcelona zu hohen Geld-
lionen Euro, mit denen nicht nur der Pro- Messis Verträgen liefert tiefe Einblicke in bußen und Haftstrafen von 21 Monaten
fikader mit sämtlichen Mitarbeitern finan- die Geschäftswelt des Spitzenfußballs, der verurteilt. Weil sie Ersttäter waren, schick-
ziert werden muss, sondern der gesamte sich im Ringen um die Superstars offenbar ten die Richter sie nicht ins Gefängnis.
Geschäftsbetrieb. von Begriffen wie Augenmaß oder Red- Umso erschrockener müssen Lionel und
So sieht sie aus, die Kluft zwischen an- lichkeit verabschiedet hat. Jorge Messi gewesen sein, als sie noch wäh-
gestaubten Vereinen, die noch in den Erzählt werden kann diese Geschichte rend des Prozesses ein weiteres Mal ins
Neunzigerjahren den Europapokal gewan- auf der Grundlage von Hunderten inter- Visier der spanischen Finanzbehörden ge-
nen, und strahlenden Weltmarken, bei de- nen E-Mails des FC Barcelona, von Konto- rieten. Vier Beamte der Agencia Tributa-
nen die besten Fußballer der Gegenwart auszügen, Überweisungsträgern, Gutach- ria, Abteilung Großbetriebe, waren bei ei-
spielen. Und diese Kluft wird immer tiefer. ten, behördlichen Urkunden, Schriftsätzen ner Betriebsprüfung des FC Barcelona auf
Der Turbokapitalismus der vergangenen und jeder Menge Verträgen. Der SPIEGEL Millionenüberweisungen des Klubs an
Jahre hat die Verdienstmöglichkeiten der erhielt den Datensatz von der Enthüllungs- Messis Vater sowie an die gemeinnützige
Topkräfte auf ein obszönes Niveau ge- plattform Football Leaks und wertete ihn Stiftung des Spielers gestoßen.
schraubt. mit seinen Partnern von European Inves- Wie sich aus den Football-Leaks-Dokumen-
Doch die Gehaltsexzesse, die Gier der tigative Collaborations (EIC) aus. Die oft ten rekonstruieren lässt, forderten die Inspek-
Branche, die Abkopplung der Welt der als vertraulich markierten Dokumente wer- toren vom Klub sämtliche Unterlagen zu
Stars von der Welt der Fans haben eine fen ein Schlaglicht auf das fragwürdige Ge- Zahlungen aus den Jahren 2010 bis 2013 an
die Fundación Leo Messi – die Stiftung des
Profis, die sich rühmt, insbesondere bedürf-
tigen Kindern zu helfen. Die Beamten ver-
Die Enthüllungen von langten genaue Auskunft darüber, wofür Bar-
Football Leaks ça das Geld gezahlt hatte. Es stand der Ver-
dacht im Raum, die Überweisungen an die
Seit mehr als zwei Jahren gelangen die Ak- Stiftung seien nicht als Spenden zu bewerten,
tivisten der Enthüllungsplattform Football sondern als verdeckte Gehaltszahlungen.
Leaks in den Besitz von Dokumenten, Ver- Der FC Barcelona schien beunruhigt
trägen, Mails aus dem weltweiten Geschäft über die Nachforschungen der Steuer-
des Profifußballs. Viele der Dateien teilten behörde. Aus „Loyalität“, wie es in einer
sie mit dem SPIEGEL, der diese ausgewertet Mail heißt, habe der Chefjurist die Messis
und veröffentlicht hat – oft gemeinsam mit über die Fragen der Prüfer in Kenntnis
seinen Partnern des Recherchenetzwerks gesetzt. Doch Jorge Messi versicherte:
European Investigative Collaborations (EIC). „Keine Sorge, wir kennen uns in diesen
Der gesamte Datenschatz enthält mittler- Themen mittlerweile richtig gut aus.“
weile mehr als 20 Millionen Dokumente. Der FC Barcelona beauftragte einen re-
Die Enthüllungen haben europaweit viele Er- nommierten Juristen mit einer Risikoana-
mittlungsverfahren angestoßen. In Spanien lyse. Aus dessen Entwurf geht hervor, dass
gerieten aktuelle und ehemalige Profis von der Klub im Streit mit dem Fiskus ziemlich
Real Madrid wie Luka Modrić, Pepe, Marcelo schlechte Karten hatte. Lionel Messi eben-
und Fábio Coentrão ins Visier der Fahnder, in falls. Der Anwalt schätzte die Wahrschein-
England war es Manchester Uniteds Trainer lichkeit, dass die Behörden Barças Millio-
José Mourinho, in Frankreich wurden die nen an Messis Stiftung als Teil seines Ge-
Geschäftsräume von Paris Saint-Germain halts und damit als „Delikt“ betrachten
durchsucht. Cristiano Ronaldo, der Star-Fuß- könnten, als „hoch“ ein.
baller von Real, wurde von der Staatsanwalt- In dem Schreiben des Anwalts finden
schaft Madrid nach den Veröffentlichungen sich mehrere Szenarien für Lionel Messi.
über die verschlungenen Wege seiner Wer- Eines lautet: „Der Spieler klärt seine steu-
SIMON PRADES / DER SPIEGEL

begelder auf die British Virgin Islands wegen erliche Situation vollumfänglich, ehe die
des Verdachts der Steuerhinterziehung von Finanzbehörden auf ihn zukommen.“ Lio-
knapp 15 Millionen Euro bereits angeklagt. nel Messi müsse zwar mit einer Nach- so-
Weitere Verfahren gegen Topspieler und ihre wie einer Strafzahlung rechnen, doch mit
Berater, wie beispielsweise Ronaldos einer Regulierung könne er vermeiden,
Agenten Jorge Mendes, werden erwartet. strafrechtlich wegen Steuerhinterziehung
92 DER SPIEGEL 3 / 2018
belangt zu werden. Dies sei die
sicherste Variante für Messi,
schrieb der Anwalt – „auch vor
dem Hintergrund des Prozesses
wegen Steuerhinterziehung,
dem er derzeit ausgesetzt ist“.
Eine neuerliche Strafverfol-
gung wäre nicht nur für Messi
ein großes Problem, sondern
auch für den FC Barcelona. Die
gesamte Vermarktung des Klubs
ist auf den Ausnahmespieler
abgestellt, das Spiel der Mann-
schaft ebenso.
Als der FC Barcelona und Mes-
sis Vertreter ein erstes Treffen
wegen der Nachforschungen der
Agencia Tributaria vorbereiteten,
beschwor Präsident Josep Maria
Bartomeu den Chefjuristen des
Klubs in einer Mail: „Bitte bleib
bei ihnen, schnell, sei sicher, dass
alles richtig gemacht wird.“
Der Anwalt, der die Risiko-
analyse aufgesetzt hatte, melde-
te sich Ende Juli erneut beim Jus-
tiziar des FC Barcelona. Er war
in Sorge angesichts der drohen-
den Folgen für Lionel Messi:
„Unserer Ansicht nach ist das Ri-
siko, dass der Spieler vorgeladen wird, seit
einigen Wochen sehr hoch, und es ist quasi
nicht mehr zu vermeiden, egal, was pas-
siert und ob wir ihnen Unterlagen über-
reichen oder nicht, sobald die Inspektoren
uns das nächste Mal besucht haben wer-
den.“
In den folgenden Wochen gab es meh-
rere Treffen zwischen der Führungsspitze
des Klubs und den Steuerexperten des
Spielers, auch Jorge Messi war im Bilde.
Der Vater war, wie Präsident Bartomeu in
einer E-Mail festhielt, „beunruhigt“. Der
Begriff, den beide Seiten benutzten, wenn
sie sich über die Steuerprobleme verstän-
digten, lautete „el asunto“, zu Deutsch:
„der Vorgang“.
Auch wenn Lionel Messis Berater dabei
blieben, dass die Überweisungen des
FC Barcelona an Messis Stiftung keinesfalls
als Teil von Messis Gehalt zu betrachten
seien, einigte der Spieler sich mit dem Fis-
kus. Lionel Messi zahlte rund 12 Millionen
Euro. Doch da wusste er bereits, dass der
Klub die Strafe für ihn übernehmen würde.
Barça wählte dafür ein grenzwertiges
Modell. Aus einem Vertragsentwurf geht
hervor, dass der Verein Lionel Messi ein
Darlehen von 12 Millionen Euro gewähren
wollte. Mit diesem Geld sollte der Profi
seine Steuerschuld begleichen. „Auch
wenn die aufgeführten Summen formal
von Señor Messi bezahlt werden, so wer-
den sie in voller Höhe vom FC Barcelona
übernommen werden“, hieß es in dem Ent-
wurf. Im Oktober 2016 war es so weit: Der
Klub und Messi einigten sich auf das Dar-
Arbeitsvertrag Messis vom 30. Juni 2017
„Danke an ALLE für eure Hingabe und Mühe“
lehen, zwölf Millionen flossen auf ein Kon-
to des Spielers bei der Caixabank.
Der Clou: Auch das Darlehen sollte nicht
an ihm hängen bleiben. Messi hatte sich
mit dem Klub auf eine Sonderzahlung ge-
einigt. Der ausgehandelte Bonus, den er in
der kommenden Saison zusätzlich zu sei-
nem Gehalt erhalten sollte, betrug 23,1 Mil-
lionen Euro. Davon dienten 9,6 Millionen
dazu, seine Steuerschuld für die Berater-
honorare des Vaters zu begleichen, und 13
Millionen, sein Steuerproblem wegen der
Stiftung zu lösen. Der Bonus entspricht in
etwa dem Bruttobetrag von 12 Millionen
Euro netto – der Höhe des Darlehens.
Beim FC Barcelona tüftelte nahezu die
gesamte Führungscrew an der Lösung von
Messis neuen Steuerproblemen, und kei-
ner störte sich daran, dass letztlich der
Klub die Zeche zahlen sollte. Außer einer:
Sabine Paquer, die Beauftragte für Com-
pliance.
Die Chefaufseherin meldete sich im Ok-
tober 2016 zu Wort. Sie fragte in einer klub-
internen Mail, ob der Darlehensvertrag für
Messi von Barças Hausjuristen und Bera-
tern gegengelesen worden sei. Später hak-
te sie nach, ob die Meinung externer Prü-
fer eingeholt wurde. Die Compliance-Ex-
pertin hinterfragte Dauer, Verzinsung und
weitere Klauseln des Leihgeschäfts.
Sabine Paquer lässt sich aus Sicht der
Barça-Manager getrost als Nervensäge be-
zeichnen. Darauf deutet zumindest der
Ton hin, in dem die Direktoren sich unter-
einander über ihre Anfrage verständigten.
Einer bat schließlich den Finanzchef, er
möge „Sabine“ erklären, dass
„der Klub kein börsennotiertes
Unternehmen“ sei und dass „die-
se Darlehen helfen könnten, da-
mit Leo seinen Vertrag verlän-
gert. Und wenn wir das nicht
tun, kann die ganze Sache kom-
plizierter werden (oder unmög-
lich)“.
Also wurde Sabine Paquer auf
Linie gebracht. Der Finanzchef
erklärte der Compliance-Beauf-
tragten per Mail die Dringlich-
keit dieser Verträge: „Wir müs-
sen uns vergegenwärtigen, dass
es sich hier um den bedeutends-
ten Vermögenswert des Vereins
handelt.“ Dank Messi könne
man in Zukunft womöglich
weitere wichtige Sponsoren an-
werben.
Lionel Messi, der bedeutends-
te Vermögenswert des FC Bar-
celona – Frau Paquer gab sich
geschlagen. Für den Klub ist die
Sache allerdings noch nicht be-
endet. Die Betriebsprüfung ge-
gen ihn dauert an.
Der Weltrekordvertrag
Anfang Juli 2017, kurz nach Lionel Messis
Hochzeit in Rosario, schrieb Román Gó-
mez-Ponti, der Chefjurist des Klubs, eine
Mail an den Vorstandschef Óscar Grau. Sie
bestand aus einem einzigen Wort, einge-
fügt in die Betreffzeile: „ALELUYA“. Ponti
schrieb es hinten mit 69 großen A. Grau
antwortete: „Danke an ALLE für eure Hin-
gabe und Mühe. Die Verlängerung von
Leo Messi ... war lebenswichtig für den
FC Barcelona.“ Und Präsident Bartomeu
schrieb an Messis Vater Jorge: „Glück-
wunsch an alle Seiten! Leo ist und bleibt
dort, wo wir ihn uns alle wünschen.“
Halleluja.
Um ihren Superstar auch über 2018
hinaus an den FC Barcelona zu binden,
hatten Bartomeu, sein Vize Jordi Mestre
sowie Klubchef Grau drei zentrale Ver-
träge aufgesetzt, allesamt in katalanischer
Sprache: einen Arbeitsvertrag über 14
Seiten, den anstelle Lionel Messis sein Va-
ter gegenzeichnete; einen Bildrechtever-
trag mit der Firma Leo Messi Manage-
ment S. L. über 15 Seiten, auch dieser ver-
sehen mit der Unterschrift des Vaters; so-
wie einen Vertrag mit Messis Stiftung in
Barcelona.
Die Gagen, auf die sich der FC Bar-
celona eingelassen hat, sprengen alle Gren-
zen.
Geht man davon aus, dass Messi seinen
Vertrag erfüllen und in den kommenden
vier Jahren Stammspieler bei Barça sein
wird, und bricht man Einmalzahlungen wie
Signing Fee und Treueprämie auf den Jah-
resanteil herunter, wird der Argentinier von
DER SPIEGEL 3 / 2018 93
Sport

seinem Klub garantierte 106 347 115 Euro Verhandlungen im Himmel Aber auch darauf soll Real Madrid eine
pro Saison bekommen. Gewinnt der FC Am Morgen des 22. Juni 2013 schickte Iñi- Antwort gehabt haben. Und was für eine.
Barcelona gar das Triple – also Champions go Juárez, damals der Anwalt rund um die Der Plan sei, so Juárez, zwei Privatflug-
League, die spanische Meisterschaft und Geschäfte Lionel Messis, eine Mail an Papa zeuge zu chartern. Im ersten würden die
den spanischen Pokal – und wird Messi in Jorge. Juárez beschrieb, dass er sich als Messis mit ihrem Anwalt, Real-Präsident
jener Saison zum besten Spieler der Welt Mittelsmann der Familie mit Unterhänd- Florentino Pérez, dem Sportdirektor der
gekürt, kommt er auf ein Jahreseinkommen lern von Real Madrid getroffen habe. Dem- Madrilenen und einem weiteren Juristen
von 122 515 205 Euro. nach wollten die Königlichen den Stürmer an Bord abheben. Man würde in der Luft
Der Klub stellt fast eine halbe Milliarde unbedingt aus seinem Kontrakt mit dem verhandeln, um dann an einem vereinbar-
Euro für vier Jahre in Aussicht – obwohl FC Barcelona herauskaufen. Messi hatte ten Ort zu landen. Der eine Flieger würde
Messi bereits 30 ist und sich auf der Ziel- ihn erst Anfang Februar 2013 verlängert. Richtung Madrid zurückkehren, den an-
geraden seiner Karriere befindet. Wie ist In diesem Vertrag war eine Ausstiegs- deren sollten die Messis für ihre Weiter-
das möglich? klausel von 250 Millionen Euro verankert. reise nutzen.
Buchhaltung kann im Profifußball Diese Summe, so schrieb Juárez an Vater Zwei Schmankerl hätten die Madrilenen
manchmal reine Magie sein; im Fall Messi Messi, würde Real Madrid als Ablöse zah- noch, schrieb Juárez. Das eine gelte Vater
ist sie sogar in der Lage, aus Steuerschul- len. Lionel Messi sollte demnach bis Ende Messi. „Deine Kommission liegt bei fünf
den Garantiezahlungen zu machen. der Saison 2021 verpflichtet werden und Prozent“, fuhr der Anwalt fort, für acht
Als der FC Barcelona Ende Juni 2017 in diesen acht Spielzeiten durchschnittlich Jahre also 16 Millionen Euro brutto. Beim
die Verträge mit Messi unterschrieb, ver- 23,125 Millionen Euro verdienen – nach anderen gehe es um die Ermittlungen ge-
ständigten sich beide Seiten darauf, die Abzug von Steuern. Netto. gen Lionel Messi wegen des Verdachts der
Vereinbarung über die Bonuszahlung von Auch bei den Werberechten soll Real Steuerhinterziehung durch die Staatsan-
23,1 Millionen Euro zu annullieren. Sie Madrid sich spendabel gezeigt haben. waltschaft Barcelona, die damals offiziell
war ja im Vorjahr zentraler Teil der Ope- Messi dürfe alle Einnahmen aus Verträgen, eingeleitet worden waren. „Sie sagen mir,
ration gewesen, Messis Steuernachzahlung die er vor Sommer 2013 abgeschlossen dass sie Druck auf Rajoy ausüben würden,
auf den Verein abzuwälzen. Stattdessen habe, für sich behalten, schrieb Juárez. Sei- um zu einer für deinen Sohn günstigen
floss dieser Betrag nun direkt in Messis nen Angaben zufolge waren das weitere Lösung zu kommen“, schrieb Juárez.
neues Festgehalt mit ein. 20 Millionen Euro. Pro Saison. „Sie wollen Mariano Rajoy, seit 2011 Ministerpräsi-
Oder auf den Punkt gebracht: Der Klub, schnell wissen, was los ist“, schrieb Juárez, dent von Spanien – eine Marionette von
der über Jahrzehnte Steuervergünstigun- „schließlich wollen sie alles für deinen Real Madrid?
gen in Millionenhöhe vom spanischen Staat Sohn ausgeben.“ Real Madrid soll ein Tref- „Ich halte das allerdings für wenig glaub-
erhielt, begleicht mit diesem Monsterver- fen in den kommenden Tagen vorgeschla- würdig“, schob Juárez nach. Die Unter-
trag endgültig die neuen Steuerschulden gen haben. „Ich habe ihnen gesagt, dass stellung, Real Madrids Einfluss reiche bis
des bereits verurteilten Steuerhinterziehers ihr zu Terminen reist“, so Juárez. in die höchsten politischen Kreise Spaniens
Lionel Messi. Wie weit die Ver- hinein, ist immer wieder zu hö-
einsbosse gingen, haben sie in ren. Selten ist, dass sich schrift-
internen Kalkulationen beschrie- Der Geldmeister liche Hinweise dafür finden. Auf
ben. Einmal errechneten sie, Anfrage antwortete Iñigo Juá-
Zahlen aus Lionel Messis Verträgen vom 30. Juni 2017, in Euro
dass die Ausgaben für Messi rez, dass die Veröffentlichung
künftig fast 40 Prozent der Per- FESTGEHALT Arbeitsvertrag Bildrechtevertrag gesamt interner Mails ein Gesetzesver-
sonalkosten für die gesamte stoß sei. Real Madrid schrieb,
pro Jahr 60395769 10658 077 71053846
Mannschaft ausmachen würden. die Darstellung sei „total falsch“.
In einem anderen Dokument PRÄMIE Die Episode vermittelt eine
heißt es: „Der Spieler muss sich für Teilnahme an mehr als 60 Prozent der Pflichtspiele Ahnung von den Möglichkeiten
im Klaren darüber sein, wie un- pro Jahr 1630529 287 740 1918269 der Messi-Familie. Es gibt für
verhältnismäßig hoch sein Ge- sie, wohl bis heute, keine rote
halt im Verhältnis zum Rest der Uefa Champions League Linie. Wenn Juárez’ Version
Mannschaft ist.“ Qualifikation 1630529 287 740 1 918 269 stimmt, verhandelte der Vater
Vater Messi wusste, dass er Achtelfinale 931731 164 243 1 095 974 über den Anwalt sogar mit dem
beinahe alles für seinen Wun- Viertelfinale 1397596 246 635 1 644 231 größten Feindbild, das der Bar-
dersohn fordern kann. Spätes- Halbfinale 1397596 246 635 1 644 231 ça-Fan kennt, um den Preis für
tens seit dem vergangenen Jahr Finale 1397596 246 635 1 644 231 seinen Sohn weiter nach oben
ist der weltweite Fußballmarkt zu treiben.
Champions-League-Sieger 3493990 616 587 4 110 577
auf absurde Weise überhitzt, Am Ende blieb Lionel Messi
und irgendein chinesischer, rus- Gesamtprämie bei Gewinn in Barcelona. Im Mai 2014 ver-
sischer, arabischer oder ameri-
der Champions League 10249038 1808 475 12057513 besserte der Klub den erst im
kanischer Investor würde sich Sonstige Vorjahr erhöhten Vertrag wohl
immer finden, um die Wünsche Titel Primera División 2329327 411 058 2740385 noch einmal kräftig. Laut einem
der Messis zu erfüllen. Landesmeister Vertragsentwurf, der dem SPIE-
Selbst der Erzfeind Real Ma- und Pokalsieger 582332 102 764 685096 GEL vorliegt, stieg Messis jährli-
drid soll schon einmal versucht Weltfußballer 582332 102 764 685096 ches Bruttofestgehalt auf durch-
haben, die Ikone des katalani- schnittlich 29,9 Millionen Euro.
schen Klubs abzuwerben. Aus Mögliches Jahresgehalt Mitgehen oder verlieren, der
den Dokumenten, die dem inkl. Prämien 75 769327 13370 878 89140205 heutige Fußballmarkt lässt
SPIEGEL vorliegen, lässt sich Schwächen kaum zu. Und so
ein bislang geheimes Ange- EINMALZAHLUNGEN für die Verträge von 2017 bis 2021 wussten die Verantwortlichen
bot für Lionel Messi nacherzäh- „Signing Fee“ 53975000 9525 000 63500000 des FC Barcelona 2016, als die
len. Treueprämie 59500000 10500 000 70000000 nächste Verhandlungsrunde be-
94 DER SPIEGEL 3 / 2018

gann, also sehr genau, dass sie mit ihrem
Angebot in eine neue Dimension vorsto-
ßen müssten, um eine Chance zu haben,
Messi in Katalonien zu halten. Auch Barça
stellte Jorge Messi ein Beraterhonorar von
fünf Prozent der Bruttoeinkünfte seines
Sohnes in Aussicht, im besten Fall also
mehr als 24 Millionen Euro.
Doch irgendetwas war faul, im Sommer
2017.
Papas Dribbling
Nachdem Messis Vater und die Führungs-
kräfte des FC Barcelona die Verträge im
vergangenen Sommer unterschrieben hat-
ten, wollte der Klub ein paar Tage später
ein Kommuniqué veröffentlichen, dass mit
„dem besten Spieler der Geschichte“ eine
Einigung bis Sommer 2021 erzielt worden
sei. Messi selbst werde den Vertrag gegen-
zeichnen, sobald er aus den Flitterwochen
zurückgekehrt sei.
Außerdem wollte der FC Barcelona die
Ablösesumme nennen, die ein Klub zahlen
müsste, der Messi aus seinem Vertrag he-
rauskaufen wollte: 300 Millionen Euro.
Dies öffentlich zu machen, sei „Standard“,
schrieb Vorstandsboss Oscar Grau an Jorge
Messi. Doch der Vater war dagegen. Die
300 Millionen zu beziffern „bringt gar
nichts“, antwortete er. Er befürchtete, dass
weitere Verhandlungsdetails durchsickern
oder an die Medien durchgestochen wer-
den könnten. „Es würde mir gegen den
Strich gehen, wenn Zahlen nach außen
dringen, weil dadurch nur Unruhe geschürt
wird“, schrieb Jorge Messi.
Für den 18. Juli hatte der FC Barcelona
einen Akt auf der Ehrentribüne des Sta-
dions Camp Nou geplant, bei dem die
Vertragsverlängerung vor der Weltpresse
verkündet werden sollte. Messi, gerade
von einer PR-Tour aus Japan zurückge-
kehrt, sollte neben den drei Vorstandsbos-
sen sitzend unterschreiben. Anschließend
sollte ihm Präsident Bartomeu ein Trikot
mit dem Aufdruck „Leo 2021“ überreichen.
„Wir warten darauf, dass du uns den Ter-
min bestätigst“, schrieb Vereinsboss Grau
am 14. Juli an Vater Messi. Doch der rührte
sich nicht. Zwei Tage später fasste Grau
nach, die Zeit drängte. „Es befremdet
mich, nichts von dir zu hören“, schrieb er,
„wir würden den Akt gern noch vor der
Abreise in die USA über die Bühne brin-
gen.“ Am 19. Juli flog die Mannschaft zu
einem Turnier nach New Jersey.
Doch Lionel Messi unterschrieb nicht.
Womöglich hatte Vater Jorge Wind da-
von bekommen, dass die kommenden Wo-
Barça-Vorstandschef Grau,
Präsident Bartomeu
SIMON PRADES / DER SPIEGEL
chen zur Zäsur im Weltfußball werden soll-
ten. Der Sommer, in dem der Messi-Ver-
trag verlängert wurde, glich einem Gold-
rausch. Anfang August wechselte Vereins-
kollege Neymar für die Weltrekordsumme
von 222 Millionen Euro zu Paris Saint-Ger-
main, die Katalanen kauften für bis zu
145 Millionen Euro Ousmane Démbélé aus
Dortmund. Manchester United gab rund
160 Millionen für Transfers aus, der AC
Mailand investierte knapp 200 Millionen
in neue Spieler, und Manchester City leis-
tete sich neues Personal für etwa 250 Mil-
lionen Euro. Der Markt explodierte.
Für Jorge Messi war das eine gute Nach-
richt, solch inflationäre Tendenzen bedeu-
ten für ihn: eine noch bessere Verhand-
lungsposition, noch höhere Einnahmen.
Weitere Forderungen.
Obwohl der Vertrag vom 30. Juni unter-
schrieben war, wurde das Paket offenbar
noch einmal aufgeschnürt. Erst am letzten
Novemberwochenende, fast fünf Monate
nach dem ALELUYA des Barça-Juristen,
unterzeichnete Messi öffentlich sein Ar-
beitspapier. Und siehe da: Vereinspräsi-
dent Bartomeu durfte über die Ausstiegs-
klausel sprechen, erwähnte, dass sie auf
700 Millionen Euro angehoben sei – offen-
bar auch als Reaktion auf Neymars Ab-
DER SPIEGEL 3 / 2018 95
Sport
Angeklagte Jorge,
Lionel Messi beim Prozess
vor dem Landgericht
Barcelona im Sommer 2016
gang nach Paris. Dem SPIEGEL schrieb Jor-
ge Messi, dieser Vertrag sei das Ergebnis
von „Verhandlungen, welche alle maßgeb-
lichen Umstände einbezogen, die derzeit
den Markt beeinflussen“.
Nach all dem Druck durch die Steuer-
behörden, dem Darlehenspoker, den Bo-
nusversprechen, den Verhandlungen und
Nachverhandlungen lässt sich eines getrost
behaupten: Jorge Messi ist auf dem Gebiet
der Vertragswerke fast so trickreich und
abgezockt wie sein Sohn im Dribbling.
Schweigen
Seit Anfang November versuchte der SPIE-
GEL, mit den Messis in Kontakt zu kom-
men, um über die Stiftung, die Betriebs-
prüfung und den Rekordvertrag zu reden.
Sie äußerten sich nicht. Auf eine weitere
schriftliche Anfrage meldete sich kurz vor
Weihnachten ein PR-Mann, der eine der
Messi-Firmen berät. Er versprach, sich mit
den Anwälten in Verbindung zu setzen.
Wieder Schweigen.
Erst nachdem der SPIEGEL Anfang die-
ser Woche einen umfangreichen Fragen-
katalog an Jorge, Lionel und Rodrigo Mes-
si, den Bruder des Superstars, geschickt
hatte, reagierte die Familie. Jorge Messi
antwortete in Lionels und in seinem Na-
96 DER SPIEGEL 3 / 2018
men. „Ich und mein Sohn haben alle
steuerlichen Verpflichtungen ordnungsge-
mäß erfüllt“, schrieb er, sämtlichen Zah-
lungen des FC Barcelona seien von beiden
korrekt versteuert worden. Rodrigo Messi,
der für die Messi-Stiftung in Barcelona
zuständig ist, antwortete, die gemeinnüt-
zige Einrichtung habe niemals gegen Ge-
setze verstoßen und sei „Anfragen spani-
scher Behörden immer rechtzeitig nach-
gekommen“.
Warum Lionel Messi rund zwölf Millio-
nen Euro an die spanischen Finanzbehör-
den nachzahlte und wieso der Verein am
Ende die Steuerschuld des Spielers über-
nommen hat, dazu äußerten sich die
Messis nicht. Der FC Barcelona betonte
in seiner Stellungnahme, dass alle Über-
weisungen des Vereins an Messis Stiftung
dem Zweck der Spende dienten: „Ihre
Interpretation oder die anderer zu den
Spenden ändern nichts an unserer Po-
sition.“ Auch die Klubbosse Bartomeu
und Grau beantworteten nicht, warum sie
mit dieser trickreichen Lösung für die
Steuernachzahlung ihres Superstars auf-
kamen.
Es wäre wohl falsch, Lionel Messi die
Verantwortung für das Geschäftsgebaren
seiner Vertrauten zu geben, für all die Win-
SIMON PRADES / DER SPIEGEL
kelzüge, um den Arbeitgeber unter Druck
zu setzen, oder bestehende Vereinbarun-
gen für obsolet zu erachten, weil der Markt
plötzlich noch mehr Millionen in Aussicht
stellt.
Die vielen E-Mails und Verträge zeigen,
dass fast auschließlich sein Vater, sein
Bruder Rodrigo und wenige ausgewählte
Anwälte die Geschäfte für den Weltstar
lenken. Aber ist er deshalb nicht trotzdem
auch für deren Handeln mitverantwort-
lich?
Lionel Messi hat nach der Verurteilung
in seinem Steuerprozess von den Richtern
noch eine Chance bekommen, dadurch
entging er knapp dem Gefängnis. Er hätte
schon lange vor dem Urteil die Reißleine
ziehen und seine Geschäfte an unabhängi-
ge, seriöse Berater übertragen können.
Stattdessen vertraut Lionel Messi vor allem
weiterhin seinem Vater, mit dem er zusam-
men auf der Anklagebank saß.
Rafael Buschmann, Jürgen Dahlkamp,
Gunther Latsch, Nicola Naber,
Jörg Schmitt, Michael Wulzinger
Animation:
Das System Messi erklärt
spiegel.de/sp032018messi
oder in der App DER SPIEGEL
 Tiere
Doktor Utan Das zweite Gesicht
Frei lebende Orang-Utans Dies ist keine Totenmaske – sondern eine Gesichtsprothese, hergestellt im 3-D-Drucker.
sind in der Lage, sich mit New Yorker Chirurgen haben sie anfertigen lassen. Sie wollen künftig mehr Angehörige
wirksamen Medikamenten von Hirntoten dazu bewegen, einer Gesichtsspende zuzustimmen. Ihre Idee: Der Spender
selbst zu verarzten. Forscher kann mit dieser täuschend echten Maske auch im offenen Sarg aufgebahrt werden,
der Borneo Nature Founda- seine Familie kann Abschied nehmen. Und ein Patient, der etwa nach einem Unfall,
tion haben im indonesischen einer Schussverletzung oder einer Krebserkrankung auf schwerste Weise entstellt ist,
Sebangau-Nationalpark erst- bekommt ein neues Antlitz.
mals ein Orang-Utan-Weib-
chen dabei gefilmt, wie es ge-
zielt bestimmte Blätter sam-
melte, die Blattspitzen im
Mund zerkaute und aufweich-
te. Anschließend trug es den
schaumigen Brei auf seinen
linken Oberarm auf und rieb
ihn da für etwa sieben Minu-
ten in sein Fell ein. Die Blät-
ter stammten von einem
Spargelgewächs namens Dra-
caena cantleyi. Laboranaly-
sen ergaben, dass dieses tat-
sächlich entzündungshem-
mend wirkt. Ferner stellten
die Forscher fest, dass die
lokale menschliche Urbevöl-
kerung die gleichen Blätter
nutzt, um Gliederschmerzen
zu behandeln. Zwischen 2003
und 2015 haben die Wissen-
schaftler 50 Orang-Utans in-
tensiv beobachtet und dabei
zehn Fälle von Selbstmedika-
tion mit dem Spargelgewächs
festgestellt. Schimpansen und
Gorillas können sich in gerin-
gem Umfang ebenfalls selbst
behandeln – aber nicht mit
selbst gemischten Salben. me

13
Fußnote

Minuten und 2000 cloud-

basierte Mietrechner
brauchten Experten für
künstliche Intelligenz, um
den Enigma-Chiffriercode
der deutschen Wehr-
macht zu entschlüsseln.
Pro Sekunde probierte
das System des polni-
schen Informatikers Lu-
kasz Kuncewicz 41 Millio-
nen Kombinationen aus.
Der Code galt einst als
unbrechbar – bis es dem
Briten Alan Turing gelang,
ihn mithilfe Tausender Ex-
perten doch zu knacken.

98 DER SPIEGEL 3 / 2018 Mail: wissenschaft@spiegel.de · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen

 Wissenschaft+Technik
Drogen ihrer Wirkstoffe Einfluss neh-
„In den Händen skrupelloser Krimineller“ men, auf die Werbung oder
auf den Verkauf an Minder-
Der britische Ex-Vize- Die systematische jährige.
premier Nick Clegg, Abwertung von SPIEGEL: Welche Botschaft

DINENDRA HARIA / POLARIS / LAIF

51, gehört wie der
frühere Uno-Gene-
ralsekretär Kofi An-
nan der Global Com-
mission on Drug
Policy an, die sich
weltweit für eine
menschlichere Dro-
genpolitik einsetzt. Diese Wo-
che stellte die Kommission in
London ihren neuen Bericht vor.
SPIEGEL: In den meisten Län-
dern herrscht eine strikte, auf
Verboten fußende Drogen-
politik. Gibt es eigentlich wis-
senschaftliche Erkenntnisse,
die diese Strategie stützen?
Clegg: Die Drogenpolitik be-
ruht vor allem auf Vorur-
teilen. Es gibt legale Drogen
wie Alkohol, die genauso
schädlich sind wie illegale
oder der Gesellschaft gar grö-
ßeren Schaden zufügen. Die
Gesellschaft hat aufgrund von
Willkür entschieden, welche
Drogen akzeptabel sein sol-
len. Gleichwohl straft sie je-
den, der illegale Mittel nutzt,
mit moralischer Verurteilung.
Diese Entrüstung verhindert,
dass wir Drogenpolitik sach-
lich und objektiv angehen.
Menschen, die il- will die Kommission Politi-
legale Drogen neh- kern mitgeben?
men, führt über- Clegg: Seid mutig. Hütet euch
dies dazu, dass sie davor zu glauben, dass die
eine Dehumanisie- Öffentlichkeit unfähig sei, die
rung erfahren, sie Nuancen der komplexen
erscheinen in der Debatte zu verstehen. Vor
Gesellschaft dann allem aber: Schaut euch die
als Leute, die weder Mit- wissenschaftliche Evidenz an.
gefühl noch Hilfe verdienen Sie spricht ganz klar für De-
oder denen sogar grundlegen- kriminalisierung. Kanada will
de Menschenrechte vorent- Mitte des Jahres Cannabis
halten werden können. Das legalisieren als Therapeuti-
müssen wir durchbrechen. kum und als Genussmittel.
SPIEGEL: Hat die Drogenpoli- Das Modell, das Kanada ent-
tik also dabei versagt, die wickelt hat, scheint mir
Leute zu schützen, die sie zu sehr vielversprechend. Dem
schützen behauptet? sollten wir folgen.
Clegg: In der Drogenpolitik SPIEGEL: Sollten wir nicht
gilt: Die Hardliner richten lieber eine drogenfreie Welt
immer den größten Schaden anstreben?
an. Was wir bisher tun, ist Clegg: Nein! Wir hatten nie
furchtbar kontraproduktiv. eine und werden nie eine
Wir haben das Milliarden- haben. In allen menschlichen
geschäft mit hochgradig Kulturen, zu allen Zeiten,
potenten Wirkstoffen ausge- haben Menschen Substanzen
rechnet in die Hände skru- konsumiert, um ihre geistige
pelloser Krimineller gelegt. Sensibilität, ihre Wahrneh-
Wir müssen dringend die mung zu verändern. Es ist
Initiative ergreifen. Staaten töricht zu glauben, man kön-
müssen die Abgabe von Dro- ne etwas auslöschen, was in
gen streng kontrollieren und der menschlichen Kultur seit
streng regulieren. Nur wer Jahrtausenden einen uni-
das tut, kann auf die Stärke versellen Platz innehat. me

Kommentar

Es wird wieder geschehen

Wie gut sind wir geschützt vor einem neuen tödlichen Grippevirus?
Plötzlich war der Killer da. Er verheerte Stadt
um Stadt, Erdteil um Erdteil. Er tötete rasant;
mancher wurde morgens krank und war
abends tot. Im Januar 1918, vor 100 Jahren,
begann in den USA die tödlichste Grippepan-
demie der Geschichte. In kaum zwei Jahren
infizierte das Virus über 500 Millionen Men-
schen. 50 bis 100 Millionen davon sind ihm er-
legen, vor allem junge Erwachsene. Die Spa-
nische Grippe forderte mindestens dreimal so
viele Opfer wie der Erste Weltkrieg.
VINCENT TULLO / NYT / REDUX / LAIF
Ist die Welt besser vorbereitet als 1918?
Nein. Im Kampf gegen eine Pandemie wird
die moderne Medizin bei allem Fortschritt
schnell an ihre Grenzen kommen. Die Vorrä-
te an antiviralen Medikamenten werden nicht
ausreichen, ebenso wenig die Bettenzahl auf
den Intensivstationen. Und die Herstellung
von herkömmlichen Impfstoffen in Hühner-
eiern dauert viele Monate.
Einen besseren Schutz zu schaffen gegen
eine drohende Influenzapandemie ist möglich

Es könnte wieder geschehen. Das Influen-
zavirus ist wandelbar wie kaum ein anderes,
und vor allem in China leben Menschen auf
engem Raum mit Hühnern und Schweinen,
den Reservoiren der Grippeerreger.
Irgendwann wird wieder ein Killervirus ei-
nen Seuchenzug antreten.
und notwendig. Forscher arbeiten bereits an
einer Reihe experimenteller Impfstoffe, die
über Jahre gegen alle Influenzaviren wirken,
nicht nur gegen den jeweiligen Erreger der
Saison. Diese Projekte müssten schleunigst
vorangetrieben werden; noch sind keine klini-
schen Tests in Sicht. Marco Evers

DER SPIEGEL 3 / 2018 99

Verdrahtete Nervenzellen
Wie die Verbindungen
zwischen den Zellen 2
„gelesen“ werden könnten
2
1
Die Forscher erstellen
eine Bibliothek aus
Viren, die jeweils ein
individuelles Erbgut-
Etikett tragen.

3
Die Etiketten breiten sich in der ganzen Zelle aus.
Sie werden dabei aktiv durch alle Verästelungen
des Neurons befördert.

Nervenzelle

2
Das Hirngewebe wird mit diesen Viren
infiziert. In jeder Zelle nisten sich
Viren mit unterschiedlichen Etiketten ein.

Wie du denkst
Neurowissenschaften Um das Gehirn verstehen zu können, müsste man seinen
Schaltplan kennen, aber der ist gespenstisch kompliziert. Nun hat ein
US-Forscher eine Idee entwickelt, wie sich die Neuronennetze enttarnen lassen.

B
escheidenheit ist Anthony Zadors
Sache nicht, und so hat er sich nie
mit Kleinem begnügt. Stets wagte
er das Große. Schon als Doktorand nahm
sich der Neurowissenschaftler vor, eine
Maschine mit Bewusstsein zu erschaffen.
Zwar musste er einsehen, dass dies dann
doch schwieriger war als gedacht. Aber
seine visionäre Tatkraft blieb ungebremst.
Jetzt hat Zador sich darangemacht,
eines der ehrgeizigsten Großvorhaben sei-
nes Fachs gleichsam im Handstreich zu
vollenden: Am Cold Spring Harbor Labo-
100 DER SPIEGEL 3 / 2018
ratorium auf Long Island will er die Ver-
schaltung von Nervenzellen in Gehirnen
kartieren.
Das Konnektom zu erfassen – so nennen
Hirnforscher die Gesamtheit aller Verknüp-
fungen im Nervensystem – gilt als eine Art
Heiliger Gral des Fachs. Um die Funk-
tionsweise des Gehirns wirklich verstehen
zu können, so glauben die Wissenschaftler,
müssen sie seinen Schaltplan kennen.
Dieser aber ist geradezu gespenstisch
kompliziert. Selbst in einem nur blaubeer-
großen Mäusehirn sind etwa 70 Millionen
Neuronen an mehr als 100 Milliarden Kon-
taktstellen verdrahtet. Wie soll man davon
eine Karte erstellen?
Einige Hirnforscher versuchen, mit ei-
nem technischen Gewaltakt ans Ziel zu ge-
langen: Sie zerschneiden das Hirngewebe
in hauchdünne Scheiben, fotografieren die-
se im Elektronenmikroskop und setzen die
Bilder im Computer dann virtuell zu einer
Art dreidimensionalem Kabelknäuel zu-
sammen.
Das ist teuer, kostet viel Zeit und erfor-
dert die Handhabung unermesslich großer

AMUZICA / DEPOSITPHOTO S
4 die Visionäre, den Computern eine neue, unterschiedlich anfärbt. Auf diese Weise
An den Kontaktstellen zweier
Zellen, den sogenannten Synapsen,
treffen die Etiketten beider Zellen
aufeinander. Wenn die Forscher sie
ausgelesen („sequenziert“) haben,
können sie erschließen, welche Zellen
miteinander kommunizieren.
4 Learning oder einfach künstliche Intelli- Zador sie dann auslesen könne (siehe
Datenmengen. Sandkorngroße Gewebe-
stückchen wurden auf diese Weise bereits
kartiert. Vollständige Hirne zu erfassen
liegt noch in weiter Ferne – wenn da nicht
Anthony Zador wäre.
Der Hirnforscher in Cold Spring Harbor
hat einen Trick ersonnen, mithilfe dessen
er die ungeheure Kartierungsarbeit gera-
dezu beiläufig erledigen will. Wofür die
Konkurrenz viele Jahre und Millionen Dol-
lar braucht, das hofft er zum Preis von
einigen Zehntausend Dollar schaffen zu
können. Gelänge ihm dies, wäre die
Menschheit dem Verständnis ihres eigenen
Denkens einen riesigen Schritt näher.
Darum, dieses Wunder zu begreifen,
ging es Zador schon im Studium. Erst
schrieb er sich für Linguistik ein, weil ihm
Gedanken ohne Sprache nicht vorstellbar
schienen. Dann wandte er sich der Physik
als der grundlegendsten aller Naturwissen-
schaften zu. Ihn faszinierte die Klarheit,
die Logik der Gedankenführung. „Das Pro-
blem war nur: Die Ergebnisse der Physiker
interessierten mich nicht“, sagt Zador.
Wissenschaft
Schließlich fand er, wonach er suchte. Besonders beeindruckte es Zador, als er
Damals, in den Achtzigerjahren, waren die erstmals die grellbunten Bilder sah, die
Forscher gerade dabei, sogenannte neuro- der Neurobiologe Jeff Lichtman an der
nale Netze zu knüpfen. Sie bauten Rech- Harvard-Universität anfertigt. „Brainbow“
ner mit einer Architektur, die von derjeni- nennt Lichtman die von ihm entwickelte
gen des Gehirns inspiriert war. So hofften Technik, mit der er einzelne Nervenzellen
intuitive Form des Rechnens beibringen kann er sie selbst in einem noch so kom-
zu können. plex verwobenen Geflecht auseinander-
Anfangs befruchteten sich Hirn- und halten.
Computerwissenschaft, und Zador fühlte Lichtmans Farbenpracht allerdings stößt
sich wohl im Spannungsfeld beider Diszi- bald an Grenzen: Er markiert Neuronen
plinen. Doch bald entfremdeten sie sich: mit bis zu 200 verschiedenen Farbtönen,
Die Informatiker entwickelten ihre neuro- und schon die kann ein Mensch nicht mehr
nalen Netze fort und scherten sich immer voneinander unterscheiden. Das wollte Za-
weniger darum, was diese mit realen Neu- dor besser machen: Er beschloss, Licht-
ronen zu tun hatten. Die Neurowissen- mans Verfahren zu kopieren, nur dass er
schaftler wiederum studierten Nervenzel- statt 200 Farben viele Millionen oder gar
len, Synapsen und chemische Botenstoffe, Milliarden klar voneinander unterscheid-
und je mehr sie darüber lernten, desto aus- bare Marker verwenden möchte. Sein Plan:
sichtsloser schien ihnen der Plan, all das Jede Nervenzelle will er mit einer Etikette
im Computer zu simulieren. versehen, die sie unverwechselbar macht.
„Ich musste mich entscheiden“, sagt Za- Vor gut fünf Jahren beschrieb Zador in
dor. Manchmal, meint er scherzhaft, ha- der Zeitschrift „Plos Biology“, wie er sich
dere er damit, dass er seinerzeit den Weg das vorstellte: Mithilfe von Viren wolle er
der Hirnforschung wählte. „Hätte ich an- kleine Erbgutschnipsel, jedes davon mit
ders entschieden, wäre ich jetzt reich.“ etwas anderer Buchstabenabfolge, in die
Denn was damals niemand ahnte: Die neu- Nervenzellen schleusen. Die Zellen selbst
ronalen Netze machten, nach vielen eher würden dann dafür sorgen, diese moleku-
fruchtlosen Jahren, plötzlich eine fulmi- laren Etiketten durch all ihre fein veräs-
nante Karriere. Unter dem Namen Deep telten Ärmchen zu transportieren, wo
genz sind sie zu einem Topthema der In- Grafik).
formatiker und zum Goldesel der Start-up-
Gemeinde geworden.
Zador indes fand sich wieder im neuro- Er glaubt, dass aus seiner
biologischen Labor und machte zunächst
das, was Hirnforscher seit Jahrzehnten ta- Arbeit eine neue Gene-
ten: Er stach Elektroden in die Nervenzel- ration künstlicher Intelligenz
len von Versuchstieren und protokollierte,
wann diese feuerten. Das war mühselig,
hervorgehen wird.
und schnell war Zador klar, dass er so nie
ans Ziel gelangen würde. Das Studium ein- Damals schlug dem Visionär viel Skepsis
zelner Neuronen verriet ihm zu wenig entgegen. Niemals werde so etwas klap-
über die Rolle, die diese im Konzert von pen, wandten die Kritiker ein, zu groß sei
Millionen anderen spielten. die Zahl technischer Hindernisse. Tatsäch-
Zador beschloss, die Sache anders an- lich kämpfte Zador lange mit Problemen.
zupacken. Bei seinem Plan kommt ihm zu- „Die ersten Jahre traten wir auf der Stelle“,
gute, dass die Hirnwissenschaft derzeit sagt er.
eine methodische Revolution durchlebt. Inzwischen jedoch ist ihm der Nachweis
Winzige Sonden machen es inzwischen geglückt: Testweise setzte er seine etiket-
möglich, das elektrische Geflacker im le- tierten Viren ein, um eine bestimmte
benden Gehirn abzuhorchen; mit Fluores- Stammhirnregion bei Mäusen zu infi-
zenzfarbstoffen lässt sich die Aktivität vie- zieren, die steuert, wohin das Tier seine
ler Nervenzellen gleichzeitig verfolgen; ja, Aufmerksamkeit lenkt. Nach der Infek-
die Forscher haben sogar einen Weg ge- tion wartete Zador knapp zwei Tage und
funden, mit Licht direkt ins Geplauder der tötete dann die Mäuse. Anhand der Eti-
Neuronen einzugreifen. ketten in ihrem Großhirn konnte er prä-
Und dann ist da die Fülle neuer bild- zise nachvollziehen, wohin jedes der
gebender Verfahren. Dank funktioneller Stammhirn-Neuronen seine Ärmchen ge-
Kernspintomografen können die Forscher reckt hatte.
ihren Probanden beim Denken zusehen, Kaum war dieser Befund veröffentlicht,
andere Geräte machen sogar die Feinstruk- trafen Anfragen aus aller Welt in Zadors
tur der Nervenfaserbündel in der soge- Labor ein. Es waren Neurobiologen, die
nannten weißen Substanz des Gehirns hofften, dank des neuen Etikettentricks in
sichtbar, gleichsam den Kabelbaum des Be- ihrer Forschung voranzukommen: Endlich
wusstseins. schien ein Weg gefunden, Schaltkreise im
DER SPIEGEL 3 / 2018 101
Gehirn mit überschaubarem Aufwand zu
kartieren.
Die erste Frucht einer Zusammenarbeit
mit Kollegen aus der Schweiz wird dem-
nächst in der Zeitschrift „Nature“ erschei-
nen. Die Forscher zeigen darin Verdrah-
tungen in der Sehrinde.
Eine Studie wie diese offenbart, wie sehr
sich die neue Form der Hirnkartierung
vom bisherigen Großprojekt der Konnek-
tom-Erfassung unterscheidet. Anders als
das aufwendige elektronenmikroskopische
Verfahren ist Zadors Methode unvollstän-
dig: Fast unweigerlich rutschen ihm einzel-
ne Nervenzellen durchs Raster; je nach-
dem, mit welchen Etikettierungsviren er
arbeitet, wird er sogar nur einen kleinen
Teil aller Neuronen erfassen.
Doch dafür funktioniert sein Verfahren
so schnell und es ist so billig, dass er es im
Prinzip vielhundertfach durchführen könn-
te: So kann er sich auf den Schaltplan des
Hirnkartierer Zador: Handstreich mit Etikettentrick
102 DER SPIEGEL 3 / 2018
Sehens, des Hörens oder des Schnurrhaar- Mäusehirn zu vermessen, um dann die da-
tastens beschränken, er kann das neuro- bei aufgedeckten Schaltkreise im Compu-
nale Netz von Männchen und Weibchen ter nachzubauen.
miteinander vergleichen oder die Verdrah- Zador war begeistert, als er von dieser
tungen im Gehirn verhaltensgestörter Mäu- Ausschreibung erfuhr. „Das ist genau das,
se untersuchen. Egal ob es um die Entwick- was ich immer wollte“, sagt er. Er bewarb
lung des Nervensystems im Verlauf des sich und bekam den Zuschlag. Jetzt arbei-
Mäuselebens oder um den Vergleich ver- tet er mit in einem von drei Teams des
schiedener Spezies geht: Dank Zadors Me- „Microns-Progamms“, für das insgesamt
thode könnte die Hirnkartierung zur Rou- 100 Millionen Dollar bereitgestellt werden.
tine werden, wie es die Hirntomografie Zwei Mannschaften wollen den von der
schon heute ist. Iarpa gestellten Auftrag mit herkömmli-
Das fasziniert die Strategen der Iarpa. chen Verfahren erfüllen. Zador versucht,
So heißt eine staatliche US-Agentur, deren den Weg mit seinem Etikettentrick abzu-
erklärtes Ziel es ist, besonders kühne For- kürzen.
schungsprojekte im Bereich der Informa- Für ihn schließt sich damit ein Kreis. Er
tionstechnik anzustoßen. Die Iarpa formu- ist wieder dort angekommen, von wo er
liert dazu äußerst anspruchsvolle Aufga- ausgegangen war: beim Brückenbau zwi-
ben und lädt Wissenschaftler ein, sich für schen Informatik und Neurowissenschaft.
deren Lösung zu bewerben. Eine dieser Denn wenn er erst einmal die Schaltpläne
Herausforderungen besteht darin, alle Zell- des Denkens kennt, wird er sie auch nach-
verknüpfungen in einem Kubikmillimeter bauen und testen können.
Die Neurobiologen gehen davon aus,
dass das Geheimnis, wie aus Sehreizen Bil-
der, aus Schallwellen Laute und aus den
feinen Erschütterungen von Schnurrhaaren
die Vorstellung dreidimensionaler Gebilde
werden, in den Feinheiten des Neuronen-
netzes verborgen ist. In ähnlicher Weise
dürften auch die Wahnvorstellungen von
Schizophrenen und die Kontaktängste von
Autisten in neuronalen Schaltfehlern be-
gründet sein.
Wenn dies zutrifft, dann wird das Kon-
nektom den Forschern viel über die Funk-
tionsweise des Gehirns und die Gesetzmä-
ßigkeiten des Denkens verraten. Beson-
ders spannend wäre es zum Beispiel zu
prüfen, ob sich ein Verdacht der Neuro-
biologen bestätigt: Das Großhirn verarbei-
te womöglich gar nicht die ganze von den
Sinnesorganen anflutende Datenmasse,
sondern gleiche die Wirklichkeit nur stän-
dig mit vorab gefertigten Annahmen ab.
Fortwährend generiert das Gehirn dem-
nach Hypothesen, welche Reize wohl als
Nächstes eintreffen werden. Das könnte
den Neuronen viel Rechenarbeit ersparen:
Statt die gesamte Sinnesflut analysieren
zu müssen, würde es sich auf jene Signale
beschränken, in denen die Wirklichkeit
von der Erwartung abweicht.
Eine solche Form der Informationsver-
arbeitung dürfte sich in den Schaltkreisen
der Nervenzellen widerspiegeln. Sie zu
entwirren wird den Wissenschaftlern nicht
nur helfen, besser zu verstehen, wie wir
die Welt wahrnehmen. Es wird ihnen zu-
gleich auch neue Schaltprinzipien zur Kon-
struktion intelligenterer Computer an die
Hand geben.
ANNIE TRITT / DER SPIEGEL
Zador jedenfalls rechnet damit, dass aus
seiner Forscherarbeit irgendwann eine
neue Generation künstlicher Intelligenz
hervorgehen wird: „Und diese“, sagt er,
„wird dem natürlichen Vorbild weitaus ähn-
licher sein.“ Johann Grolle
 Wissenschaft

Krabbeln,
mäßig Vorträge – dann zeigt er Exemplare
von bizarrer Schönheit, die er selbst im
Kellerwald gefunden und fotografiert

fressen, Sex
hat. Die Geringelte Mordwanze etwa,
ein schwarzes Insekt mit knallrot ge-
fleckten Beinen, die andere Insekten
durch ihren Stich tötet und dann aussaugt;
Tiere Wanzen gelten als wider- die Grüne Stinkwanze, deren Farbe
temperaturgesteuert ist – im Herbst wird
liche Blutsauger – zu Unrecht, sie braun wie das Laub –, die Ameisen-
sagen Insektenforscher. Und

CARSTEN MORKEL
Sichelwanze, die kleinere Insekten oder
plädieren für die Ehrenrettung deren Eier aussaugt, oder die Wacholder-
beerenwanze, die frisst, was ihr Name
der verkannten Geschöpfe. sagt.
Kaum ein Ort auf der Welt ist so entle-

W
er das Haus voller Wanzen hat, gen, dass sich dort keine Wanze fände.
sollte den Kammerjäger rufen. Selbst auf dem Meer leben einige Arten –
Für Carsten Morkel gilt das nicht, als einzige Insekten überhaupt. Dort
denn von den Tausenden Exemplaren im dümpeln sie auf Treibholz, Vogelfedern
Souterrain seines Hauses im ostwestfä- oder Plastikmüll und ernähren sich von
lischen Beverungen wird sich keines mehr Zooplankton. Damit sie nicht in der
rühren. Säuberlich aufgereiht, ruhen sie Sonne verbrutzeln, haben diese Meer-
unter Glas in Insektenkästen. wasserläufer Pigmente, die UV-Strahlen
Ums Haus herum allerdings werden im absorbieren.
Frühling wieder quicklebendige Exempla- Gemessen an der Zeit, die Wanzen be-

CARSTEN MORKEL
re krabbeln, fressen, kopulieren. 70 Arten reits die Erde besiedeln, erscheint die
hat Morkel im Lauf der Jahre in seinem Menschheitsgeschichte als lächerlich kurze
Garten entdeckt. Für den Biologen ist jede Episode: Sie teilten schon mit den Dino-
davon ein Grund zur Freude: Morkel ist sauriern ihren Lebensraum.
Wanzenforscher. Über einen sehr alten Wanzenfund be-
Seit er als Siebenjähriger zu Ostern richteten vergangenen September Wissen-
ein Käferbuch geschenkt bekam, interes- schaftler vom Senckenberg Forschungs-
siert er sich für Insekten; seit seiner institut in Frankfurt am Main: Mittels
Doktorarbeit lassen ihn die Wanzen nicht Infrarotmikroskopie konnten sie in einem
mehr los. Stück Bernstein aus Nordspanien anato-
Ihre Welt, weiß Morkel, reicht weit hi- mische Details zweier Wasserläufer sicht-
naus über jene Blutsauger, die sich in bar machen. Gelebt haben die Insekten
Schlafzimmern einnisten, um nachts ihren in der Kreidezeit – vor 105 Millionen
Opfern den Saugrüssel in die Haut zu Jahren.
rammen und eine Flüssigkeit abzuson- Fortpflanzungsforscher wiederum dürf-
CARSTEN MORKEL

dern, die die Bildung von Blutgerinnseln ten angesichts der vielfältigen Spielarten
hemmt. beim Wanzensex in Verzückung geraten.
Wegen ihrer winzigen Nahrungsgänge So betreiben Herr und Frau Wasserläufer
können Wanzen nichts Festes zu sich neh- eine Art Wettrüsten – er entwickelt im-
men; schon ein Klumpen aus Blutplättchen Heimische Wanzenarten* mer bessere Klammerwerkzeuge, um
wäre für sie zu sperrig. Für Menschen be- „Manche riechen richtig gut“ sich zwecks Geschlechtsakts auf ihrem
deutet der Stich juckende Quaddeln – und Rücken zu halten; sie zieht nach mit mar-
oft langwierige Versuche, die Plagegeister Noch in der winzigsten ökologischen Ni- tialischen Abwehrmechanismen – Sta-
loszuwerden. sche gibt es meist einen ihrer Vertreter, cheln und Dornen. So kann sie sicher sein,
Cimex lectularius, die Gemeine Bett- der sich genau darauf spezialisiert hat. dass nur die verwegensten Männchen ans
wanze, ist nur eine der weltweit bekannten So passt der platte Körper der Rinden- Ziel gelangen.
rund 40 000 Wanzenarten – und hat ihre wanze zwischen den Stamm und die Rinde Die Männchen der Zeuswanzen klam-
Verwandtschaft in Verruf gebracht. Auch von Bäumen, wo sie den Saft aus bestimm- mern sich nach dem Sex wochenlang an
wegen des Gestanks, den sie verströmt. ten Pilzen saugt. Die wiederum finden sich ihre Partnerin – und ernähren sich von Se-
Dabei hätten alle Wanzen Duftdrüsen zur nur in sehr alten Bäumen oder in lange kreten, die diese dann absondert.
Abwehr von Feinden, sagt Morkel, „und unberührtem Totholz. Im Nationalpark Wenig romantisch erscheint die Strate-
manche Arten riechen richtig gut“. Kellerwald-Edersee, wo Morkel seit Jahren gie jener Wanzenmänner, die der Partne-
Wenn ab März in Wald und Flur die Lar- das Wanzenvorkommen dokumentiert, rin ihr säbelförmiges Begattungsorgan ein-
ven zu ausgewachsenen Exemplaren he- konnte er so belegen, dass dort tatsächlich fach in den Hinterleib rammen. So kann
ranreifen, wird Morkel wieder losziehen, ein urwaldähnliches Ökosystem besteht. ein möglicher Konkurrent das Sperma
bei Tag und bei Nacht, um mit Klopf- „Ein so alter Wald ist schon etwas Beson- nicht so leicht entfernen und durch eigenes
schirm, Kescher oder einem seiner mit ei- deres“, sagt er. ersetzen – sonst bei Wanzen ein beliebter
nem feinen Netz ausgerüsteten Laubsau- Zur Ehrenrettung seines Forschungs- Trick, um die eigenen Gene weiterzuge-
ger möglichst viele verschiedene Wanzen gegenstands hält Freiberufler Morkel regel- ben. Und wer betreibt diese „traumatische
einzusammeln und zu bestimmen. Insemination“? Klar, es sind die Outlaws
Denn wo welche Wanze sitzt, sagt viel * Grüne Stinkwanze, Wacholderbeerenwanze, Geringelte im Wanzenreich: die Bettwanzen.
aus über den Zustand eines Ökosystems: Mordwanze. Julia Koch

DER SPIEGEL 3 / 2018 103

Wissenschaft

Die Verdunklung der Zeit

Archäologie Die gängige Methode zur Altersbestimmung historischer Funde wird immer ungenauer.
Demnächst könnten Baumarktbretter als Wrackteile von Wikingerschiffen durchgehen.

A
m 21. April 1988 bat Erzbischof
Anastasio Alberto Ballestrero eine
Gruppe Wissenschaftler aus aller
Welt in die Sakristei des Turiner Doms,
um einem alten Geheimnis auf die Spur
zu kommen. Im Raum war ein Textil aus-
gelegt, das seit 1578 im Gotteshaus ver-
wahrt wird und für Millionen Menschen
noch immer das kostbarste Stück Stoff
der Welt ist: das angebliche Leichentuch
Christi, getränkt mit Blut und Schweiß des
gekreuzigten Heilands.
Mitarbeiter dokumentierten mit Video-
kameras und Fotoapparaten, wie einer aus
der Runde vortrat und etwas von der
Reliquie abschnitt. Der Leinenlappen war
kleiner als ein Kaugummistreifen, aber
mehr als genug, um der Wahrheit näher
zu kommen.
Das Rechteck wurde aufgeteilt und da-
nach drei anwesenden Vertretern der Uni-
versitäten von Oxford, Zürich und Arizona
überreicht. Einige Monate später teilten
sie mit, dass die Proben mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit nicht aus
der Zeit Jesu Christi, sondern aus dem Mit-
telalter stammten. Sie seien allenfalls zwi-
schen 700 und 800 Jahre alt.
Die Botschaft schockierte viele Gläubi-

WORLD HISTORY ARCHIVE / AKG-IMAGES

ge. Kritiker behaupteten, die Wissenschaft-
ler hätten nachlässig gearbeitet, andere wa-
ren sich sicher, dass man nur Teile eines
Flickens untersucht hatte, der später auf-
genäht worden war. Manch einer fantasier-
te gar, der Herrgott wolle prüfen, wie un-
erschütterlich der Glaube seiner Schäfchen
sei. Messergebnisse und Reaktionen bewie-
sen, wie gut sie funktioniert und wie sehr Aufnahmen des Turiner Grabtuchs: Die Botschaft schockierte viele Gläubige
wir auf sie vertrauen: die sogenannte Ra-
diokarbondatierung. Mit dieser Methode
hatten die drei Forschergruppen das Alter Radiokarbonmessung Teilchenbeschleuniger
des messianischen Leinens bestimmt. zur Altersbestimmung
Doch ihre Aussagekraft lässt nach. Un-
ser Blick in die Vergangenheit wird verne-
belt, wenn wir nicht mehr herausfinden
können, aus welchen Zeiten die Kostbar- Magnete
keiten stammen, die wir bei Grabungen
bergen, aus Nachlässen hervorkramen, aus
Museumssammlungen. C-12 C-13 C-14
Schuld an der zunehmenden Ungenau-
igkeit der Radiokarbondatierung ist der
enorme Kohlendioxidausstoß aus fossilen
Energieträgern, der eben nicht nur in die Menschen, Tiere Nach dem Tod wird das Zur Altersbestimmung, etwa von Knochen,
Zukunft wirkt, als Klimakiller, sondern oder Pflanzen nehmen zerfallende C-14 nicht mehr Leder, Holz oder Textilien, wird eine kleine Probe
über die Nahrung oder ersetzt: Von nun an halbiert verbrannt und der dabei gewonnene Kohlen-
auch die Vergangenheit verdunkelt. Sollte
durch Fotosynthese fort- sich die Anzahl etwa alle stoff in die Röhre eines Beschleuniger-Massen-
er sich ungebremst fortsetzen, könnten in während kleine Mengen 5730 Jahre. spektrometers geleitet. Hier lenken Magnet-
einigen Jahrzehnten Bretter aus dem Bau- des schwach radioaktiven Nach rund 60 000 Jahren felder die Isotope unterschiedlich stark ab:
markt als Wrackteile von Wikingerschiffen Kohlenstoff-Isotops C-14 lässt sich kein C-14 mehr Anhand der ausgezählten Menge an C-14 lässt
gedeutet werden. Entsprechend präparier- auf. nachweisen. sich die Probe nun datieren.

104 DER SPIEGEL 3 / 2018

te Mordopfer aus der jüngsten Vergangen-
heit würden irgendwann als ägyptische
Mumien durchgehen. Und Leinenstoff aus
dem Kaufhaus wäre geeignet, um daraus
Reliquien aus der Zeit Jesu Christi herzu-
stellen.
Mit der Radiokarbonmethode messen
Wissenschaftler, wie hoch der Gehalt von
C-14 in einer organischen Probe ist. Es han-
delt sich um ein Kohlenstoff-Isotop, das
sich in Pflanzen, Tieren und Menschen ein-
lagert: über Nahrung und Fotosynthese.
Nach dem Tod eines Lebewesens wird kein
neues C-14 mehr aufgenommen, die vor-
handenen Isotope zerfallen in gleichblei-
bendem Tempo. Ihr Anteil halbiert sich
etwa alle 5730 Jahre und ist nach rund
60 000 Jahren nicht mehr nachweisbar. Mit
dieser praktischen Kohlenstoffuhr lässt
sich berechnen, wann ein Mensch starb,
ein Baum gefällt oder Flachs geerntet wur-
de, der zur Leinenproduktion diente – man
muss nur messen, wie viel C-14 sich noch
in einem Fundstück befindet.
Die Methode, für deren Entwicklung der
US-Chemiker Willard Frank Libby 1960
den Nobelpreis bekam, fördert allerdings
nur dann saubere Ergebnisse zutage, wenn
der in der Atmosphäre vorhandene C-14-
Gehalt weitgehend konstant ist. Seit Be-
ginn der industriellen Revolution vor
knapp 250 Jahren ging dieser jedoch die
meiste Zeit zurück. Und so kommt es, dass
Lebewesen weniger von dem Kohlenstoff-
Isotop aufnehmen und nach ihrem Tod da-
her deutlich älter wirken.
Grund für den sinkenden C-14-Anteil
ist, dass Kohle und andere fossile Stoffe,
die unter anderem für die Energieversor-
gung verbrannt werden, deutlich älter als
60 000 Jahre sind. So wird massenhaft Koh-
lendioxid freigesetzt, das kein C-14 mehr
enthält. Forscher nennen diesen Umstand
„Suess-Effekt“, weil er von dem österrei-
chischen Kernphysiker Hans Suess be-
schrieben wurde.
Die Entwicklung wurde zwischen 1945
und 1963 zwar vorübergehend umgekehrt,
da Amerikaner, Briten und Sowjets in
dieser Zeit oberirdische Kernwaffentests
durchführten, bei denen sehr viel C-14 in
die Umwelt gelangte. In einigen Jahren al-
lerdings wird sich der Effekt dieses „Bom-
benpeaks“ erledigt haben – und Menschen,
Tiere und Pflanzen so wenig von dem Iso-
top aufnehmen wie wohl niemals zuvor.
Ein Umstand, der die zweifelsfreie archäo-
logische Altersbestimmung wieder er-
schweren wird.
Bevor Libby die C-14-Methode entwi-
ckelt hatte, ließ sich oft nur ungenau ermit-
teln, aus welcher Zeit ein Stück Holz, ein
Knochen oder andere organische Fundstü-
cke stammten. Wenn es keine schriftlichen
Zeugnisse gab, galt meist nur eine einfache
Regel: Das, was tief im Boden liegt, ist älter
als das, was weiter oben ausgebuddelt wird.
Eine Vermutung, die ihre Tücken hat, ge-
nauso wie die Annahme, dass Krüge, Werk-
zeuge und andere Artefakte, die einander
ähneln, zwingend aus der gleichen Zeit
stammen müssen.
Eine genaue Altersbestimmung organi-
scher Proben war daher über viele Jahr-
zehnte äußerst komplex, und sie ist es
noch immer, wenn die Fundstücke älter
als 60 000 Jahre sind. Dann gelingt eine
Datierung oft nur durch die Analyse der
geologischen Schichten, in denen die Arte-
fakte oder Knochen eingebettet sind.
Der Erfolg der Radiokarbondatierung
hat auch damit zu tun, dass sie fortlaufend
verbessert wird – unter anderem durch die
Kombination mit der sogenannten Den-
drochronologie: Baumringe weisen, je
nach Entstehungsjahr, einen spezifischen
Gehalt von C-14 auf. Das durch die Radio-
karbonmethode erhobene Alter lässt sich
dank dieses Umstandes kalibrieren, also
noch präziser ermitteln.
So konnten Forscher vor einigen Jahren
besser als jemals zuvor klären, wann wel-
cher ägyptische Pharao auf dem Thron
saß; das gelang ihnen durch die Unter-
suchung von Pflanzenresten, Papyrusfet-
Der ungebremste Ausstoß
von CO2 erleichtert
Kunstfälschern
das schmutzige Geschäft.
zen und weiteren organischen Fundstü-
cken. Andere Wissenschaftler rekonstru-
ierten, wann und wo genau die Neander-
taler lebten und ob sie Kontakt zum
Homo sapiens hatten. Die Liste der C-14-
Erfolge ist mittlerweile sehr lang, und sie
erstreckt sich nicht nur auf die Rekonstruk-
tion der Vergangenheit.
Eine der wichtigsten deutschen For-
schungsstätten, an denen die Radiokarbon-
datierung betrieben wird, ist das Klaus-
Tschira-Archäometrie-Zentrum in Mann-
heim. Leiter des Labors ist der Physiker
Ronny Friedrich, der gemeinsam mit sei-
nem Team im vergangenen Jahr mehr als
3500 Messungen durchgeführt hat – so viele
wie noch nie. Dafür nutzen sie ein soge-
nanntes Beschleuniger-Massenspektrome-
ter, das etwa so groß ist wie eine Garage.
Grob gesagt schießt das Gerät Ionen durch
ein Rohr und lenkt dabei C-14-Isotope
durch magnetische Felder ab, um sie zäh-
len zu können. Für die Analyse genügen
Proben im Milligrammbereich.
Friedrich und seine Leute untersuchten
nicht nur Knochen aus den vergangenen
Jahrtausenden und andere historische
Fundstücke, um Altertumswissenschaftler
und andere Forscher zu unterstützen. Sie
halfen auch der Polizei und ermittelten
mithilfe der Radiokarbonmethode unter
anderem das Alter von Elfenbeinkunst.
Die darf nämlich nur dann eingeführt und
gehandelt werden, wenn der Elefanten-
stoßzahn, aus dem sie hergestellt wurde,
aus einer bestimmten Zeit stammt.
Privatpersonen müssen dem Archäome-
trie-Zentrum pro Analyse 350 Euro zahlen.
Kürzlich lieferte ein Mann ein Buch ab,
das er für ein Werk aus dem elften Jahr-
hundert hielt. Bei der Papieranalyse stellte
sich heraus, dass es sich um eine Fälschung
handelte. Ein Betrug, der in einigen Jahr-
zehnten wegen des Suess-Effekts nicht
mehr so leicht auffliegen würde. Insofern
erleichtert der enorme CO2-Ausstoß auch
Kunstfälschern das schmutzige Geschäft.
Die Radiokarbonmethode bleibe zukünf-
tig ein wesentliches Werkzeug zur Alters-
bestimmung organischer Proben, glaubt
Ronny Friedrich – zumindest dann, wenn
etwas über die Fundumstände bekannt ist.
Wenn in einem neu entdeckten Keltengrab
neben dem Skelett anderes organisches
Material gefunden werde, dann sei es mehr
als logisch, dass es aus der gleichen Zeit
komme. Und ein Skelett, das an der Auto-
bahn entdeckt werde, stamme wohl ein-
deutig aus der Neuzeit – nicht aus dem
alten Ägypten. Selbst dann, wenn der
C-14-Gehalt der menschlichen Überreste
identisch sei.
Der Suess-Effekt sei „ohne Zweifel ein
Problem“ – aber er sporne auch an, noch
intensiver zu forschen und die Messgenau-
igkeit der Spektrometer weiter zu verbes-
sern. „Ein bisschen was geht da noch“,
glaubt Friedrich.
Als nützlich könnte sich erweisen, was
der Physiker Peter Köhler im Fachmagazin
„Environmental Research Letters“ schrieb.
Der Forscher des Alfred-Wegener-Instituts
in Bremerhaven machte darauf aufmerk-
sam, dass auch der Gehalt an C-13 im Koh-
lenstoffkreislauf durch CO2-Emissionen
beeinflusst wird und somit dem Suess-Ef-
fekt unterliegt. Das Isotop C-13 zerfällt
zwar nicht und taugt deswegen nicht als
Uhr, doch sein Gehalt in der Umwelt ver-
ändert sich durch den ungebremsten CO2-
Ausstoß ebenfalls. Daher stehe, wenn sich
im Labor Unsicherheit breitmacht, mit
C-13 ein zusätzliches Signal zur Verfügung,
das helfen könne, in organischen Proben
frisch gebildeten Kohlenstoff von wesent-
lich älterem Material zu unterscheiden.
Es besteht also Grund zur Hoffnung, wo-
bei klar ist, dass die beste Strategie im
Kampf gegen den Suess-Effekt eine dau-
erhafte Drosselung des CO2-Ausstoßes
wäre. Doch an dieser Mission ist die
Menschheit bisher beständig gescheitert.
Laut dem Forscherverbund Global Carbon
Project sind die globalen CO2-Emissionen
aus fossilen Brennstoffen und der Industrie
2017 wieder um zwei Prozent gestiegen.
Guido Kleinhubbert
DER SPIEGEL 3 / 2018 105

„Ich fühlte, wie ich abhob“
Psychologie Mediziner haben die Halluzinationen von Bergsteigern untersucht. Extreme Höhe,
so ihre Erkenntnis, macht irre. Ab 7000 Metern gesellen sich gern Geister zur Seilschaft.
A
n einem Septembertag im letzten
Jahr machte sich Sergio Zigliotto
auf den Weg, den Gipfel des
Manaslu zu erklimmen, des mit 8163 Me-
tern achthöchsten Berges der Erde. Gegen
ein Uhr in der Frühe verließ der Italiener
das Camp, gut 700 Meter unterhalb des
Gipfels im Himalaja. Im Stockdunkeln
stapfte er bergan, durch Schnee und Eis.
Dann begann der Höhenwahn.
„Nach etwa zwei Stunden war ich über-
zeugt, durch einen Wald zu laufen“, erin-
nert sich Zigliotto, „ich kam an Berghütten
vorbei; plötzlich hörte ich lautes Don-
nern.“ Trotz sternenklaren Himmels sah
der Bergsteiger Blitze. „Und ich war über
jemanden verärgert, der neben mir lief; er
wärmte mir nicht meine kalten Füße.“
Zigliotto beschreibt die Symptome einer
höhenbedingten Psychose. Bergsteiger, die
auf über 7000 Meter klettern, berichten
häufig über Wahrnehmungsstörungen. For-
scher der Universität Innsbruck und des
Eurac-Forschungszentrums in Bozen ha-
ben das Phänomen nun untersucht.
Die Mediziner analysierten 83 Berichte
von Bergsteigern. Ihre Erkenntnisse: Wer
106 DER SPIEGEL 3 / 2018
in großer Höhe halluziniert, ist nicht
zwangsläufig krank oder verrückt. Und:
Auf dem Rückweg, weiter unten am Berg,
ist meistens alles wieder in Ordnung.
„Wir haben es mit zeitweisen Psychosen
bei ansonsten vollkommen gesunden Per-
sonen zu tun“, sagt Katharina Hüfner, Neu-
rologin und Psychiaterin an der Universität
Innsbruck. Wenn Bergsteiger lange in der
Höhe blieben, könnten die psychotischen
Symptome über mehrere Stunden oder so-
gar Tage anhalten. „Über die genauen Ur-
sachen können wir bisher nur mutmaßen.“
Aufenthalte in großer Höhe bereiten
den meisten Menschen körperliche Proble-
me. Zwei Drittel aller Menschen, die auf
über 4000 Metern übernachten, werden
höhenkrank. Der geringe Sauerstoffdruck
verwirrt das fein justierte Regelsystem des
Körpers. Das Hirn meldet Sauerstoffnot.
Um den Transport des überlebenswichti-
gen Gases zu beschleunigen, steigt der
Blutdruck. Doch weil die Höhenluft zu we-
nig Sauerstoff enthält, lässt sich der Man-
gel nicht beheben: Das Herz pumpt immer
schneller. Irgendwann baut sich so viel
Druck in den Gefäßen auf, dass Blutwasser
TOURNAIRE PASCAL / ASA / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Alpinist auf dem Mount Everest in Nepal
in die Lunge gepresst wird. Auch im Ge-
hirn sammelt sich Wasser. Kopfweh, Übel-
keit, Halluzinationen, gar Koma und Tod
können die Folgen sein.
Was Hüfner und ihre Kollegen nun be-
schreiben, grenzt sich jedoch ab von dem
gefürchteten Höhenhirnödem. Auch ohne
Höhenkrankheit, so die Erkenntnis, spie-
len die Sinne auf hohen Bergen verrückt.
Das Gehirn gaukelt den Bergsteigern dann
Gerüche, Stimmen oder den Klang ver-
trauter Gesänge vor. Am häufigsten aber
werde das „Dritte-Mann-Phänomen“ be-
schrieben, sagt Hermann Brugger, Chef
des Instituts für Alpine Notfallmedizin am
Eurac-Forschungszentrum in Bozen: „Die
Bergsteiger haben das Gefühl, eine weitere
Person sei anwesend.“
So wie „Jimmy“, ein imaginärer Beglei-
ter des britischen Extrembergsteigers Je-
remy Windsor. „Ich traf Jimmy zum ersten
Mal auf einem kalten, windumtosten
Schneefeld hoch auf dem südöstlichen
Grat des Mount Everest“, notierte Windsor
nach dem Erlebnis im Jahr 2008, „unsere
Begrüßung war kurz, kaum mehr als ein
dumpfes ,Hallo‘.“ „Ich war sicher, dass ich

sehen konnte, wie sich Jimmy leichtfüßig
in der Dunkelheit bewegte“, berichtet
Windsor weiter. Man habe „ein paar er-
mutigende Worte“ ausgetauscht.
Das ist typisch für die Höhenpsychose:
„Ob positiv oder negativ, die Halluzinatio-
nen sind immer mit Emotionen verbun-
den“, sagt Brugger. Der dritte Mann spre-
che Mut zu oder flöße Angst ein und gebe
schlechte Ratschläge.
Davon kann der slowenische Arzt und
Bergsteiger Iztok Tomazin berichten. Im
Dezember 1987 bestieg er den 8167 Meter
hohen Himalaja-Gipfel Dhaulagiri. Bereits
geschwächt und unterkühlt, verlor Toma-
zin beim Abstieg seinen Kletterpartner aus
den Augen. „Kurz nachdem wir getrennt
waren, begannen die Halluzinationen“, er-
zählt er. „Einige Leute stiegen mit mir ab“,
mit ihnen stritt er über den Weg. Lebens-
gefährlich wurde es, als er plötzlich am
Rand eines 2000 Meter abfallenden Ab-
grunds stand. „Liebevoll und energisch“
gaben ihm die imaginären Begleiter Rat-
schläge: „Spring hinunter, und in ein paar
Sekunden wirst du an einem flachen, si-
cheren Ort sein“, flüsterten sie ihm ein,
„dies wird alle deine Probleme lösen.“
„So stand ich dort, bereit zu springen,
weil die Stimmen mich fast überzeugt
hatten“, erzählt Tomazin. Ein Geistesblitz
rettete ihn: „Was, wenn es nicht wahr
ist? Dann sterbe ich!“ Tomazin sprang
zum Test zwei Meter auf einen Felsvor-
sprung hinab. Der Schmerz beim Aufprall
warf ihn in die Wirklichkeit zurück. Er
fand den richtigen Weg und kehrte heil
zurück.
Der Fall zeigt, wie gefährlich der Wahn
am Berg sein kann. Zugleich weist Toma-
zins Erlebnis auf mögliche Ursachen des
Gipfelirrsinns hin. „Ich war extrem er-
schöpft, unterkühlt und gefangen in
schwierigem Terrain“, notierte er danach,
„ich sehnte mich nach einem warmen, si-
cheren Ort.“ War der Wunsch Vater des
wirren Gedankens?
Die Forscher können sich eine Kombi-
nation aus verschiedenen Ursachen vor-
stellen. Vereinsamung und soziale Isola-
tion gehören dazu, extremer Stress, Angst,
Hunger, Durst und Kälte, vor allem aber
Sauerstoffmangel im Gehirn. „Extremberg-
steiger haben einen Sauerstoffgehalt im
Blut, bei dem Intensivmediziner sofort Re-
animationsmaßnahmen einleiten würden“,
sagt Brugger. Bestimmte Hirnregionen ar-
beiteten dann nicht mehr ordentlich.
Experimente mit Ratten zeigen, dass bei
Sauerstoffmangel mehr Serotonin und Do-
pamin ausgeschüttet werden. Ein Ungleich-
gewicht der Neurotransmitter wird mit Psy-
chosen in Verbindung gebracht.
„Die Bergsteiger befinden sich körper-
lich wie psychisch in einer extremen Aus-
nahmesituation“, sagt Hüfner. Oft träten
die Episoden auch bei Lebensbedrohung
auf, etwa bei akuter Lawinengefahr oder
drohenden Abstürzen.
Viele Bergsteiger berichten, dass sie in
solchen Situationen scheinbar ihren eige-
nen Körper verlassen. „Ich fühlte, wie ich
abhob und mehrere Meter hoch in der Luft
flog; das Gefühl, dort oben zu sein, war
genauso real wie das Gefühl, auf dem Fels
zu stehen und das Seil zu halten“, erzählte
ein Bergsteiger, der 1999 von einem For-
scherteam befragt wurde. Ein anderer be-
merkte ein „leeres Gefühl“, eine „ausge-
prägte Hohlheit“ des eigenen Körpers.
Oder das Erlebnis des polnischen Berg-
steigers Wojciech Kurtyka, protokolliert
von der Autorin Bernadette McDonald im
Buch „Klettern für Freiheit“: Kurtyka hat-
te beschlossen, mit dem Österreicher Ro-
bert Schauer die steile Westwand des Gas-
herbrum IV zu durchsteigen, eines 7925
Meter hohen Gipfels im Karakorum-Ge-
birge Zentralasiens. Eine Erstbegehung,
die sich als extrem schwierig erwies. Sechs
Tage dauerte es, die 2500 Meter hohe Fels-
wand zu erklimmen. Vollkommen er-
schöpft erreichten die Bergsteiger die letz-
ten Schneefelder unter dem Gipfel. Dann
schlug auch noch das Wetter um.
„Zustände halb wie im Fieberwahn ka-
men und gingen, als ihnen der Sauerstoff-
mangel und die Austrocknung das Leben
aus den erschöpften Körpern saugten“,
schrieb McDonald, „beide Kletterer erahn-
ten einen unheilvollen Geist am Berg.“
Als Lawinen über sie hinweggingen,
glaubte Schauer, „der dritte Mann versu-
che, sie vom Felsband in die Tiefe zu stür-
zen“, schreibt McDonald. Dem Tode nahe,
begannen die beiden den Abstieg. Eine
weise Entscheidung. Schauers Halluzina-
XTREME EVEREST
Extremsportler Windsor
„Ein paar ermutigende Worte“
Wissenschaft
tionen nahmen eine überraschende Wen-
dung: „Er fand sich in einer wogenden
Menschenmenge wieder, alle strahlten
Wärme aus“, berichtet McDonald, „er be-
trat einen Supermarkt, wo er die köstlichs-
ten Würste verkostete; danach wurde er
in ein elegantes Restaurant seiner Heimat-
stadt Graz verpflanzt, wo er einen saftigen
Schweinebraten und knusprige, mit Butter
bestrichene Brötchen verspeiste.“
Kurtyka dagegen „neigte den Kopf zur
Seite und strengte sich an, die Klänge zu
hören, die seiner Meinung nach eindeutig
die einer von Barbra Streisand gesunge-
nen, wohlbekannten Melodie waren“.
„Weiter unten hörten die Erscheinungen
auf“, schließt McDonald den Bericht. Kur-
tyka und Schauer überlebten, vielleicht
gerade wegen der Halluzinationen.
Doch das sei eher die glückliche Aus-
nahme, glauben die Bergmediziner. In den
meisten Fällen erhöhe die Höhenpsychose
das Risiko, sagt Hüfner: „Es gibt wahr-
scheinlich viele durch Psychosen ausgelös-
te Unfälle am Berg, von denen wir nie er-
fahren, weil sie tödlich ausgehen.“
Um das Phänomen besser zu verstehen,
planen die Mediziner nun eine Studie in
Nepal, direkt am Mount Everest. Ärzte
der Everest Base Camp Medical Clinic auf
gut 5000 Meter Höhe sollen die Gipfelstür-
mer nach der Rückkehr vom höchsten
Berg der Erde nach ihren Erfahrungen be-
fragen. Im Frühjahr startet das Projekt.
Hüfner erhofft sich Erkenntnisse, die
auch zum besseren Verständnis psychiatri-
scher Erkrankungen führen könnten. Vor
allem aber will die Medizinerin für Auf-
klärung sorgen. „Bergsteiger sollten sich
dieser Phänomene und ihrer Symptome
bewusst sein“, sagt sie. „Jemandem, der
eine Psychose hat, sollte man am Berg lie-
ber keine Entscheidungen überlassen.“
Und sie empfiehlt, Mitstreiter da oben nie-
mals aus den Augen zu lassen.
Wie wichtig dieser Rat sein kann, zeigt
das Erlebnis des Bergführers Hajo Netzer
am 8126 Meter hohen Nanga Parbat im
Westhimalaja. Auf 7100 Metern hatte Net-
zer sein kleines „Hochlagerzelt“ aufge-
schlagen, das er mit drei weiteren Berg-
steigern teilte. Mitten in der Nacht stellte
er fest, dass seine spanische Zeltnachbarin
verschwunden war.
„Notgedrungen wand ich mich aus dem
Zelt, um sie zu suchen“, berichtet Netzer.
Er fand sie draußen, „total in ihre Arbeit
vertieft“, die darin bestand, „in dieser kal-
ten Nacht mit bloßen Händen Schneebal-
len“ aufeinanderzutürmen.
„Sie erklärte mir, sie müsse Damentoi-
letten errichten“, schreibt Netzer, „ihre Ar-
gumentation überzeugte mich nicht, und
mit rabiater Entschlossenheit schubste ich
sie wieder ins wärmende Zelt.“
Philip Bethge
Mail: philip.bethge@spiegel.de
DER SPIEGEL 3 / 2018 107
 Haiyti

TIM BRUENING / UNIVERSAL MUSIC

Pop
Rap wie vom Nagelbrett
Auf ihrem Album herrscht Größenwahn vom ersten Track an.
„Ich hab 100 000 Fans / die mich noch nicht kennen“, lautet
die Ansage der Entertainerin Haiyti. Sie ist die neue Königin
im deutschen Hip-Hop-Spiel und hat das zu ihrer Kunstform
erhoben: ein bisschen zu hoch greifen, das Outfit ein bisschen
zu eng und die Uzi in der Hand hübsch martialisch. Bisher
rappte sie hauptsächlich im Internet, jetzt bringt sie Montenegro
Zero heraus, ihr erstes Album bei einem Major-Label. Manche
Feuilletonisten klagen schon, dass ihre Musik gar kein
Hip-Hop mehr sei, sondern Pop; als witterten sie Verrat, weil
Haiyti, eine Hamburgerin mit kroatischen Vorfahren, sich
nicht mehr in der Gosse, sondern für den Plattenkonzern Uni-
versal Music abrackert. Doch wer in der Musikwelt will
denn heutzutage kein Popstar sein? Einige Arrangements klin-
gen ein bisschen poliert, aber Haiytis krächzend übersteuerte
Stimme lotst die Hörer hingerissen durch das Album – und
ihre Stimme ist es auch, die verhindert, dass die existenzielle
Traurigkeit, die Haiyti besingt, nie in Kitsch abdriftet. „Der
Himmel ist blau, der Flieder fliedern / im Radio spielen sie un-
sere Lieder / Der Himmel ist blau, der Flieder fliedern / für
dich tue ich das immer wieder“: Selbst solche Zeilen trägt
Haiyti auf ihrem neuen Album vor, als läge sie am bequems-
ten auf einem Nagelbrett. xvc

Kino
Im Maul des Tigers
Er trank Whisky zum Früh-
stück, er prägte Bonmots für
die Ewigkeit („Wenn du
durch die Hölle gehst, geh
weiter“), er gewann 1953 den
Nobelpreis für Literatur.
Winston Churchill war der
richtige Regierungschef zur
richtigen Zeit: Im Mai 1940,
als die Soldaten Nazideutsch-
lands halb Europa verwüs-
teten, wurde er britischer
Premierminister. Einige Mit-
dem Kopf in seinem Maul“,
brüllt der von Gary Oldman
gespielte Churchill in dem
Spielfilm Die dunkelste Stunde
(Kinostart: 18. Januar). Der Schlachtenepos „Dunkirk“,
britische Regisseur Joe das dieselbe Epoche aus der
Wright („Abbitte“) erzählt Perspektive britischer Solda-
darin von jenen Wochen im ten zeigt, die in Dünkirchen
Frühjahr 1940, als auf ihre Rettung warten.
Churchill vom Große Kunst ist die Ver-
zaudernden Exzen- wandlung des Hauptdarstel-
triker zum charis- lers: Gary Oldman verbrachte
matischen Landes- an jedem Drehtag mehr als
vater reifte. drei Stunden in der Maske, bis
Wrights Film ist er Churchill erstaunlich ähn-
ein patriotisch-nos- lich sah. In der englischen Ori-
talgisches Kam- ginalfassung nuschelt Oldman
merspiel über die auch fast so schön wie der
Kunst der politi- echte Politiker. Für diese faszi-
schen Rhetorik. nierende Metamorphose hat
UNIVERSAL PICTURES

glieder seines Kriegskabinetts Nebenbei funktio- der Schauspieler gerade einen

wollten mit Hitler verhandeln. niert „Die dun- Golden Globe gewonnen –
„Man kann mit einem Tiger Oldman in „Die dunkelste Stunde“ kelste Stunde“ als und gilt nun als einer der Fa-
nicht vernünftig reden mit Gegenstück zum voriten für einen Oscar. mwo

108 DER SPIEGEL 3 / 2018


Humboldt Forum
Glücksgriff fürs
Berliner Schloss
Eine wichtige Personalie für
das in der hauptstädtischen
Kulturwelt heftig umstrittene
Humboldt Forum im Berliner
Schloss ist so gut wie unter
Dach und Fach: Die renom-
mierte Ethnologin Inés de
Castro, die seit 2010 Direkto-
rin des Linden-Museums in
Stuttgart ist, soll neue Leite-
rin der Sammlungen im Hum-
boldt Forum werden. Sie
wird damit Chefin von zwei
Berliner Häusern, des Ethno-
logischen Museums und des
Vorderasiatischen Museums,
die im Humboldt Forum auf-
gehen – entstehen soll so eine
der weltweit bedeutendsten
Sammlungen dieser Art. In
Stuttgart hatte Inés de Castro
CHRIS VAN DER BURGHT
„Requiem pour L.“-Musiker
Tanztheater
Weltmusiker Mozart
Der belgische Choreograf und
Regisseur Alain Platel ist ein
Spezialist für den Clash der
Kulturen. In früheren Arbei-
ten seiner Tanztheatertruppe
Les Ballets C de la B hat er
berühmte Barockarien von
kongolesischen Musikern in-
terpretieren lassen oder Gus-
tav Mahlers Symphonien für
die Beschwörung eines globa-
len Kriegs benutzt. Nun prä-
sentiert er einen Tanztheater-
abend zu Mozarts famosem
„Requiem“. Im Haus der Ber-
liner Festspiele zeigt der
international viel beschäftigte
Platel, Jahrgang 1959, am
unter anderem mit der Aus-
stellung „Inka – Könige der
Anden“ Furore gemacht, die
im Oktober 2013 eröffnet
wurde und als erste umfas-
sende europäische Schau zur
Geschichte der Inka ein gro-
ßes Publikum begeisterte.
De Castro, geboren 1968 in
Buenos Aires, hat nach ihrem
Studium in Bonn unter ande-
rem in Hildesheim gearbeitet.
Im für seine völkerkundliche
Arbeit hochgelobten Stutt-
garter Linden-Museum gilt
sie als Glücksgriff der baden-
württembergischen Landes-
politik. Die Berufung der
Museumschefin nach Berlin
ist eine wichtige Weichen-
stellung für die Zukunft des
Humboldt Forums, da dessen
Gründungsintendant Neil
MacGregor im nächsten Jahr
abtreten wird. stb
Donnerstag die Uraufführung
des Weltmusikspektakels
Requiem pour L. 14 Musiker aus
diversen Ländern treten an,
um ihre Fantasie an Mozarts
„Requiem“ auszutoben. Aus-
getüftelt hat Platel die Pro-
duktion mit dem Komponis-
ten Fabrizio Cassol; afrika-
nischer Pop soll darin ebenso
zu hören sein wie Jazz und
Blues. Die Aufführung wolle
Mozarts Meisterwerk aus
dem Kulturschatz des Wes-
tens „neu erfahrbar machen“,
heißt es in der Ankündigung,
beschworen werde neben
dem Zustand der Gegenwarts-
welt auch das trostlose
„Massengrab, in dem Mozart
selbst verscharrt wurde“. höb
Kultur
Nils Minkmar Zur Zeit
Radikal französisch
In Paris herrscht in diesen Tagen die
Überzeugung, dass Frankreich mit sei-
nem jugendlichen Präsidenten die
freie Welt anführt. Die USA sind mit
ihrem unberechenbaren Trump ge-
plagt, und die deutsche Kanzlerin
verheddert sich in Sondierungen.
Also schaut die Welt nach all den Jah-
ren wieder hoffnungsfroh auf Frankreich,
und ausgerechnet jetzt tobt dort ein Familienkrach, ausge-
rechnet mit Catherine Deneuve.
Unter den vielen Stars, an denen sich Frankreich orien-
tiert, wenn es vom Weg abzukommen droht, ist Catherine
Deneuve der hellste Fixstern. Kaum jemand erinnert sich
an eine Zeit, in der sie nicht berühmt war. Sie war das
Modell für die Büste der Marianne, die in allen Rathäusern
steht. Sie arbeitete mit Legenden der modernen Kulturge-
schichte wie François Truffaut, Luis Buñuel und Yves Saint-
Laurent. Und sie kann es sich längst leisten, die Rollenan-
gebote von Newcomern zu übernehmen, um immer wie-
der etwas völlig Neues zu machen. Ein künstlerisches oder
modisches Fehlurteil ist von ihr nicht bekannt, Deneuve
symbolisiert jahrzehntelange Exzellenz. Als Nationalsym-
bol pflegt sie die gute französische Tugend der Diskretion.
Skandale, Homestorys, peinliche politische Positionen –
das gibt es von ihr nicht. Bisher jedenfalls, denn nun steht
sie im Mittelpunkt einer Kontroverse, die es in sich hat.
Deneuve unterzeichnete mit über hundert anderen Frauen
einen Aufruf gegen angebliche Exzesse der #MeToo-Kam-
pagne. In ihm postulieren sie ein „Recht auf Behelligung“,
das die Unterzeichnerinnen als Teil der sexuellen Selbstbe-
stimmung verstehen. Anmache sei Teil des Lebens, und
der Frotteur in der Métro müsse kein lebenslanges Trauma
auslösen, man könne so etwas auch ignorieren. Frauen soll-
ten nicht immer nur als Opfer erscheinen.
Es ist eine Position, die auf den ersten Blick nicht zur
#MeToo-Debatte passt, denn in der ging es ja um schwere
Straftaten und soziale Machtsysteme, um deren Vertu-
schung zu sichern und Strafverfolgung zu vereiteln. De-
neuve und Co. stellen die Kriminalität solcher Taten nicht
in Abrede, richten aber den Fokus auf das sehr französische
Ideal der befreiten Frau, die nervige oder fiese, aber nicht
strafbare Handlungen selbst sanktioniert. Und im Übrigen
ihre Sexualität gestaltet, wie sie es möchte, und keine
Scheu vor Mannsbildern kennt. Diese Position französi-
scher Frauen ist eine kulturelle Eigenheit: In dem machis-
tisch und katholisch geprägten Land war es üblich, Frauen
mit Gerüchten über ihre Sexualität zu diffamieren. Simone
de Beauvoir erfand die Gegenposition: eine Frau, die tut,
was sie möchte, und sich nicht schlichter gibt, als sie ist.
Deneuve und ihre Mitstreiterinnen sehen sich in dieser
Tradition: Wäre noch schöner, wenn die Männer an-
nehmen dürften, uns irgendwie einschüchtern zu können.
Besonders empathisch oder sozial ist die Haltung nicht,
denn nicht alle Frauen haben die Möglichkeit, sich
zur Wehr zu setzen. Deneuves Anliegen ist radikal fran-
zösisch: Sie möchte das Wesen der Sexualität zurück-
führen auf die erste Tugend der Republik und in ihr eine
Manifestation der existenziellsten Menschheitstugend
erkennen, der Freiheit.
An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.
DER SPIEGEL 3 / 2018 109
Kultur

Ein beschissener Moment

#MeToo-Debatte Wie der Versuch scheiterte, mit Woody Allen über etwas Dringlicheres als
seinen 48. Film zu reden. Von Philipp Oehmke

W
oody Allen hat seinen Schneide- Harvey Weinstein zu überführen, kamen kann (ob es stimmt, sehen wir dann spä-
raum an der Park Avenue auf einem wieder Zweifel an Allens Unschuld. ter)? Ist alles so verrottet, dass wir dem
Manhattans Upper East Side, Und je mehr man las, desto größer wurden Rechtsstaat nicht mehr zutrauen, in einem
auch das Interview mit dem SPIEGEL fin- die Zweifel. Gerade hat die „Los Angeles solchen Fall die Wahrheit zu ermitteln? Es
det dort statt. Gerade hat er seinen neuen Times“ einen Gastbeitrag Dylan Farrows ist ja nicht so, wie in vielen anderen Fällen,
Film in die Kinos gebracht, er heißt „Won- mit dem Titel „Warum hat die #MeToo- dass niemand zur Polizei gegangen wäre.
der Wheel“, es ist Allens 48. Film. Revolution Woody Allen verschont?“ ver- Ein Staatsanwalt hat entschieden, keine
Allen hat das Gespräch erst wenige Stun- öffentlicht. Und am Tag des Interviews er- Anklage zu erheben. Punkt. Allen hat als
den zuvor zugesagt, vorher hatte er es scheint die Analyse eines „Washington unschuldig zu gelten. Andererseits soll der
mehrmals verschoben, er war krank gewe- Post“-Reporters, der Zugang zu den per- Staatsanwalt auf eine Anklage nur verzich-
sen, eine Infektion, jetzt trägt er einen Beu- sönlichen Aufzeichnungen Allens aus fünf tet haben, um die siebenjährige Dylan vor
tel, aus dem ihm Penicillin injiziert wird, Jahrzehnten bekommen hatte. Seine Con- einem langen traumatisierenden Prozess
er ist 82. clusio: „He’s obsessed with teenage girls.“ zu schützen. Genügend belastendes Mate-
Man fühlt sich nicht gut, zu Woody Al- Wie soll man nun mit einem solchen rial gegen Allen soll vorhanden gewesen
len zu gehen. Dabei würde man sehr gern Mann ein Interview zu „Wonder Wheel“ sein. Wiederum andererseits: Kann das
mit ihm über seine Hits „Der Stadtneuro- machen, einem Film, der in den Fünfziger- sein? Welcher Staatsanwalt sagt, ich lasse
tiker“, „Match Point“ oder „Blue Jasmine“ jahren in Brooklyns Strand- und Vergnü- den Täter gehen, schaffe keinen Rechtsfrie-
reden oder sogar auch über „Wonder gungsmeile Coney Island spielt? Wie über den, nur um das Opfer nicht zu belasten?
Wheel“, der gar nicht so schlecht ist be- seine Karriere, sein Lebenswerk reden? Ein Opfer, das heute, ein Vierteljahrhun-
ziehungsweise wäre, wenn da nicht all der Allens Filmfirma ruft kurz vor dem Inter- dert nach der angeblichen Tat, offensicht-
andere Mist wäre. viewtermin noch einmal an, um vorsichtig lich immer noch leidet?
Seit 1992 stehen die Vorwürfe gegen sicherzustellen, dass mit Allen nicht über Am besten, man sagt das Interview ab.
Allen im Raum. Lange haben sie kaum ei- „diese Nebenthemen, die da noch so rum- Beziehungsweise sagt gar nichts, dreht um,
nen interessiert, auch mich nicht, als ich Al- schwirren“, gesprochen werde, sondern geht zurück in die warme U-Bahn.
len vor gut elf Jahren schon einmal inter- über „Wonder Wheel“ und eben „die Kar- Wenn er das alles nicht getan haben soll-
viewt habe. Doch seit ein paar Jahren und riere“. te, sondern in seinem Leben einfach nur
besonders seit den Enthüllungen über Har- Zur Karriere gehört offenbar nicht, dass 47 teilweise wunderbare Filme hergestellt
vey Weinstein und der anschließenden Allen seine Adoptivtochter auf dem Dach- hat und nun bloß über seinen 48. wunder-
#MeToo-Welle sind die Anschuldigungen boden im Hause Mia Farrows, als diese baren Film reden möchte, während ein
nicht mehr zu ignorieren. Dylan Farrow, einkaufen gefahren war, sexuell miss- dummer, naseweiser, sich moralisch erhe-
die Allen mit seiner damaligen Lebens- braucht haben soll. Allen war damals bender Journalist, einer allgemeinen Stim-
gefährtin adoptiert hatte, der Schauspielerin schon in Behandlung wegen seines anschei- mung folgend, unbewiesenen Behauptun-
Mia Farrow, behauptet seit 25 Jahren, Allen nend „sonderbaren Verhaltens“ Dylan ge- gen aufgesessen ist und ihn nun mit diesen
habe sie im Sommer 1992, als sie sieben genüber. Die Babysitterin hatte angeblich widerwärtigen Vorwürfen konfrontiert –
Jahre alt war, sexuell missbraucht. Mia Far- Anweisung, Allen nicht mit dem Mädchen wenn das die Wahrheit wäre, dann hätte
row und Allens leiblicher Sohn mit ihr, Ro- allein zu lassen. Allen allen Grund, einen hochkant aus sei-
nan Farrow, unterstützen Dylans Aussage. Natürlich möchte man darüber mit ihm nem Schneideraum zurück auf die kalte
Allen hingegen streitet die Vorwürfe ab. nicht reden. Mr Allen, herzlichen Glück- Park Avenue zu werfen.
Mia Farrow habe sie im Zuge der Tren- wunsch zu dem schönen Film, aber haben Im Hinblick auf den Weinstein-Fall hatte
nung des Paares und des Sorgerechtsstreits Sie Ihre Adoptivtochter aufgefordert, sich Allen vor einer „witch hunt“ gewarnt. Man
erfunden und das Kind manipuliert. bäuchlings auf den Boden zu legen, mit dürfe jetzt keine Hexenjagd auf Männer be-
Obwohl sich Polizei und Staatsanwalt- einer Modelleisenbahn ihres Bruders zu ginnen. Der andere, der ständig von einer
schaft mit dem Fall befassten und ein ärzt- spielen, und sie dann missbraucht, wie Ihre „witch hunt“ spricht, ist Donald Trump mit
liches Gutachten erstellt wurde, dessen Tochter es behauptet? Blick auf die Russland-Ermittlungen.
Aussagekraft jedoch umstritten ist, wurde Es gibt bis heute so gut wie kein Inter- Eine junge Frau mit asiatischen Wurzeln
gegen Allen nie Anklage erhoben. Er hat view, in dem Allen auf die Vorwürfe ange- öffnet die Tür zu Allens Schneideraum.
juristisch als unschuldig zu gelten. So sind sprochen wird. In ihrem Text in der „Los Sie sieht so ähnlich aus wie seine Ehefrau
die Regeln im Rechtsstaat. Angeles Times“ spricht Dylan Farrow auch Soon-Yi, ein weiteres Adoptivkind von
Die „New York Times“ hat 2014 eine von den Journalisten, die das Thema mei- Mia Farrow, Stiefschwester von Dylan und
lange Verteidigung Allens gedruckt, die den, die Teil des Systems und somit mit- Ronan, einige Jahre älter allerdings. Dass
sich relativ überzeugend las. Doch wenn schuldig sind. Ihr Stiefvater, schreibt Far- Allen also nicht doch ein Auge auf die
man daraufhin wiederum die Darstellung row, werde von einem ähnlichen Netz von Adoptivkinder in seiner Familie geworfen
Dylan Farrows las oder die von Ronan Far- Rechtsanwälten und PR-Profis beschützt hat, lässt sich schwer bestreiten.
row, einem Rechtsanwalt, der seinen eige- wie Harvey Weinstein. Da steht Woody Allen in einem grünen
nen Vater beschuldigt und unlängst mit Was aber, wenn wir alle spinnen, ver- Woody-Allen-Pullover und mit dieser Bril-
seinen beiden Investigativgeschichten im rückt geworden sind im #MeToo-Wahn, wo le. Er lächelt scheu, er sieht so zerbrechlich
„New Yorker“ maßgeblich dazu beitrug, ja zunächst erst mal alles behauptet werden aus mit seinem Penicillinbeutel in der
110 DER SPIEGEL 3 / 2018
 NICOLAS GUERIN / CONTOUR BY GETTY IMAGES

Regisseur Allen: „Es liegt nur an dieser Brille“

DER SPIEGEL 3 / 2018 111

Kultur

Hand. Was für ein beschissener Moment. ren ihn die Interviewfragen offenbar kein
Man hätte gern mit alldem hier nichts zu bisschen. Er antwortet ganz freundlich ein-

PHOTOREPORTERS / PICTURE ALLIANCE / DPA

tun. Das Folgende sind Auszüge aus unse- fach auf etwas anderes. Offenbar ist er in
rem Gespräch, das 45 Minuten dauerte und der Lage, jeden Bezug auf die Missbrauchs-
in dem wir zunächst und immer wieder vorwürfe komplett auszublenden. Viel-
auch über harmlose Dinge wie den Strand- leicht hat er über die Jahre gelernt, so da-
ort Coney Island, die Gentrifizierung in mit zu leben.
Brooklyn, die Wucherpreise in Manhattan,
die 20-Cents-Filmtickets in den Fünfziger- SPIEGEL: Sie sind seit einem halben Jahr-
jahren, die Evolution von männlichen und hundert im Filmgeschäft. Gerade hat es
weiblichen Rollen in der Filmgeschichte den Anschein, als befände sich Hollywood
und das Genie des Marlon Brando geredet Paar Allen, Farrow, Tochter Dylan (l.) 1988* im Umbruch. Mächtige Figuren wie Har-
haben. „Ich erzähle Familiengeschichten“ vey Weinstein oder Kevin Spacey sind we-
gen Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs
SPIEGEL: Mr Allen, „Wonder Wheel“ han- Allen: Dazu will ich Folgendes sagen, und gestürzt.
delt von einer Mutter und ihrer verführe- ich habe es schon versucht zu erklären. Allen: Hollywood befindet sich schon lange
rischen Stieftochter. Beide beginnen eine SPIEGEL: Ja? Was? im Umbruch. Vor allem die Blockbuster-
Affäre mit demselben jungen Gigolo. Ein Allen: Nach meinen ersten vier oder fünf Mentalität hat großen Schaden angerichtet.
Mann, der erst mit der Mutter und dann Filmen habe ich nie wieder irgendetwas Als ich aufwuchs, gab es Millionen nette
mit der Stieftochter etwas anfängt: Das ist über irgendeinen meiner Filme gelesen. Filme zu sehen, manche großartig, manche
auch Ihre persönliche Geschichte. Was in- SPIEGEL: Ach so. nur gut, andere lausig. Als ich selbst ins
teressiert Sie so an der Sexualität? Allen: Als ich anfing – als junger Filmema- Geschäft einstieg, gab es Coppola, Scorse-
Allen: Sexualität interessiert mich, wenn cher! –, habe ich alle Kritiken gelesen. Der se, Spielberg, und irgendwann kam ich
die Geschichte es hergibt. Ich erzähle Fa- eine sagte das, der andere das, ich sei ein dazu, „Easy Rider“, „Chinatown“, all diese
miliengeschichten, Liebesgeschichten. Ge- Genie, ich sei ein Idiot. Ich dachte, es ist Filme. Heutzutage sind die Leute nur noch
rade meine frühen Filme wie „Bananas“, besser für mich, wenn ich gar nichts lese. mit Eventfilmen wie „Star Wars“ ins Kino
„Woody, der Unglücksrabe“ oder „Zelig“ Es ändert ja nichts. Manche Filme sind er- zu locken. Für normale Filme bleiben sie
sind sehr persönliche Familiengeschichten. folgreich. Andere machen Minus. Es macht zu Hause und gucken Netflix. Meine Töch-
Eigentlich habe ich mich immer nur inte- keinen Unterschied. Als „Der Stadtneuro- ter sitzen zu Hause auf dem Bett und
ressiert für „Junge trifft Mädchen“, „Junge tiker“ so erfolgreich war, habe ich trotz- schauen Filme auf dem Laptop. Wenn man
verliert Mädchen“, „Junge kriegt Mädchen dem chinesisches Essen aus Lieferkartons heute Studenten von Ivy-League-Univer-
wieder“ – und natürlich für Jokes. „Won- gegessen und genau wie alle anderen die sitäten fragt, ob sie etwa „Citizen Kane“
der Wheel“ ist da eine Ausnahme. Ich Grippe bekommen, wenn sie umging … gesehen haben, sagen die: Ja, neulich auf
habe 47 oder 48 Filme gemacht. Und es dem Handy …
gibt nur 5 oder 6, die eher ernst sind. „Won- Der Sänger Justin Timberlake spielt den Gi- SPIEGEL: Waren Sie erschrocken, als Harvey
der Wheel“ ist ernst. golo in „Wonder Wheel“. Bei der Verlei- Weinstein stürzte? Sie kannten ihn ja gut.
SPIEGEL: Nun gibt es in „Wonder Wheel“ hung der Golden Globes am vergangenen Allen: Ich kannte ihn nicht so gut. Er hat
vor allem eine Szene, in der über Humpty, Sonntag trug er den „Time’s Up“-Anstecker, eine Zeit lang in den Neunzigern meine
den Vater der jungen Carolina, gesagt wird, der auf #MeToo folgte und verkündet, dass Filme vertrieben.
er habe „eine unnatürliche Zuneigung“ zu die Zeit für Männer wie Weinstein, Spacey SPIEGEL: Oh! Sie antworten.
seiner Tochter. In dem Moment denkt man, und – wie viele meinen auch für – Allen Allen: Wir hatten viele Auseinandersetzun-
Sie spielen absichtlich mit dem Feuer. Die vorbei ist. Timberlake sah sich bald einem gen über die Werbung für meine Filme. Har-
Parallelen zu Ihrem Privatleben sind nicht Shitstorm gegenüber, weil er es gewagt hat- vey hat nie genügend Werbung geschaltet.
mehr zu übersehen. Das ist es ja genau, te, den Button zu tragen und gleichzeitig SPIEGEL: Würden Sie sagen, er hatte es ver-
was Ihnen in Bezug auf Ihre Adoptivtoch- mit Allen zu drehen. Im Anschluss an die dient, so unterzugehen?
ter vorgeworfen wird. Verleihung stand die Schauspielerin und Allen: Ach. Ich bin da kein Experte. Ich
Allen: Humpty ist ein Typ, dessen Frau ge- Regisseurin Greta Gerwig vor der Presse. habe die ganze Sache ehrlich gesagt nicht
storben ist und der deswegen Trinker ge- Sie wollte sich feiern lassen für ihren Film verfolgt. Er hat immer zu wenig Werbung
worden ist. Zur gleichen Zeit hat ihn auch „Lady Bird“. Da fragt eine Journalistin nach geschaltet. Ich war nie politisch. Ich habe
noch seine Tochter sitzen lassen, indem Woody Allen. Gerwig hatte 2012 in dessen zum Beispiel nie einen Film zum Thema
sie mit einem Gangster durchgebrannt ist. Film „To Rome with Love“ mitgespielt. Ger- Politik gemacht.
Aber er war abhängig von seiner Tochter. wig, Star des modernen Feminismus, stot- SPIEGEL: Politik?
Mit ihrer Hilfe wollte er sich wieder auf- terte und wusste keine Antwort. Allen: Ja.
rappeln. Wie viele Kinder hat sie nicht auf Einige Schauspieler aus Allen-Filmen – SPIEGEL: Haben Sie im „New Yorker“ die
ihren Vater gehört. Als sie reumütig zu- einer auch aus „Wonder Wheel“ – haben Enthüllungsgeschichten Ihres Sohns Ro-
rückkehrt, will er sie sofort rausschmeißen. ihre Zusammenarbeit mit Allen inzwischen nan Farrow gelesen über Weinsteins se-
Doch innerhalb von fünf Minuten schmilzt öffentlich bereut. Einer behauptete gar, er xuelle Übergriffe und sein System der
er dahin. So ist Familie. Familienblut. Das habe seine Gage gespendet. Einschüchterung?
spielt immer eine Rolle. Es sieht so aus, als ob die Stimmung ge- Allen: Nein. Ich gucke manchmal in Blätter
SPIEGEL: Stört es Sie nicht, dass es in der gen Woody Allen endgültig kippt. Allen wie den „New Yorker“, aber eigentlich
amerikanischen Presse kaum noch eine scheint das nicht zu erreichen. Bisher stö- lese ich lieber Bücher. Zuletzt habe ich
Besprechung von „Wonder Wheel“ gibt, eine Biografie über Alan Jay Lerner gele-
die nicht die Vorwürfe des sexuellen Miss- sen, den wundervollen Songwriter …
brauchs Ihrer Adoptivtochter zum Thema Video: Philipp Oehmke über
macht? Es überschattet Ihr Werk. seine Recherche Allens Assistentin kommt rein und signa-
spiegel.de/sp032018allen lisiert, dass die Zeit um ist. Zum Glück,
* Mit dem gemeinsamen Sohn Satchel. oder in der App DER SPIEGEL endlich findet dieser Unsinn ein Ende.
112 DER SPIEGEL 3 / 2018
Allen: Gib uns noch ein paar Minuten! Also,
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);
Alan Jay Lerner, wie er „My Fair Lady“ nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
geschrieben hat, wundervoll, das habe ich
gelesen. Aber eigentlich war ich nie ein Belletristik Sachbuch
großer Leser. Schon als Kind nicht. Da
habe ich nur Comics gelesen. Ehrlich ge- 1 (1) Daniel Kehlmann 1 (1) Rolf Dobelli Die Kunst
sagt lese ich bis heute kaum. Wenn ich Tyll Rowohlt; 22,95 Euro des guten Lebens Piper; 20 Euro
nach Hause komme, gucke ich Sport im
Fernsehen. Beck’s-Bier, dazu Football oder 2 (4) Maja Lunde Die Geschichte 2 (17) Eckart von Hirschhausen Wunder
Baseball. Die Leute halten mich immer für der Bienen btb; 20 Euro wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro

einen Intellektuellen. Aber ich bin von der 3 (11) Gerhard Wisnewski verheimlicht –
Schule geflogen und nicht besonders be- 3 (2) Dan Brown
Origin Lübbe; 28 Euro
vertuscht – vergessen 2018
lesen. Es liegt nur an dieser Brille. Ich ar- Kopp; 14,95 Euro
beite an meinen Filmen, und manchmal 4 (3) Sebastian Fitzek
übe ich Klarinette. Ich lebe abgeschottet 4 (2) Axel Hacke Über den Anstand
Flugangst 7A Droemer; 22,99 Euro
in einer Blase und mag meine Routine zu in schwierigen Zeiten und die Frage,
Hause. Ich habe mein Bad, wo alles an sei- 5 (8) Mariana Leky wie wir miteinander umgehen
Kunstmann; 18 Euro
nem Platz steht. Ich hasse fremde Bade- Was man von hier aus sehen kann
zimmer. DuMont; 20 Euro

SPIEGEL: Mr Allen, wir hatten ein sehr Der erfolgreiche Kolum-

6 (16) Camilla Läckberg nist erklärt anschau-
freundliches Gespräch. Deswegen verzei- Die Eishexe List; 22 Euro lich, warum es sich lohnt,
hen Sie bitte, wenn ich Sie nun direkt frage über die eigenen
nach den Anschuldigungen Ihrer Adoptiv- 7 (7) Marc-Uwe Kling moralischen Maßstäbe
nachzudenken
tochter, sie als Kind sexuell missbraucht QualityLand Ullstein; 18 Euro
zu haben … 5 (3) Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt
Allen: Ist das Ihr Handy hier auf dem Sofa? 8 (5) Juli Zeh Zukunft Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
SPIEGEL: Ja. Damit nehme ich auf. Sie ha- Leere Herzen Luchterhand; 20 Euro

ben sich vor vier Jahren in der „New York 6 (4) Peter Wohlleben Das geheime
9 (6) Ken Follett Das Fundament Netzwerk der Natur Ludwig; 19,99 Euro
Times“ zu den Missbrauchsvorwürfen ge- der Ewigkeit Lübbe; 36 Euro
äußert, und vielleicht sollten wir, so unan- 7 (5) Peter Wohlleben Das geheime
genehm es auch ist, ein paar Minuten da- 10 (9) Robert Menasse Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro
rauf verwenden, darüber noch einmal zu Die Hauptstadt Suhrkamp; 24 Euro
reden. Denn man kann Ihre Filme eigent- 8 (6) Yuval Noah Harari
11 (12) Lucinda Riley Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro
lich nicht mehr ertragen, wenn man stän-
Die Perlenschwester Goldmann; 19,99 Euro
dig daran denken muss. 9 (7) Gregor Gysi
Allen: Fein. In meinem „New York Times“- 12 (10) Joachim Meyerhoff Ein Leben ist zu wenig Aufbau; 24 Euro
Artikel habe ich damals auch geschrieben, Die Zweisamkeit der Einzelgänger
dass ich anschließend nie wieder über das 10 (9) Ildikó von Kürthy
Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
Hilde Wunderlich; 19,95 Euro
Thema reden werde. Und ich habe seitdem
nie wieder darüber geredet. Und beson- 13 (11) Kerstin Gier 11 (13) Andreas Michalsen Heilen mit
ders jetzt und hier werde ich nichts sagen, Wolkenschloss Fischer; 20 Euro der Kraft der Natur Insel; 19,95 Euro
wo wir doch über „Wonder Wheel“ reden 14 (14) Carmen Korn 12 (8) Elli H. Radinger
wollten. Zeiten des Aufbruchs Kindler; 19,95 Euro Die Weisheit der Wölfe Ludwig; 19,99 Euro
SPIEGEL: Und das haben wir getan.
Allen: Ja. Das waren alles richtige Fragen, 15 (13) John Green 13 (10) Christine Westermann
die Sie gestellt haben. Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken Manchmal ist es federleicht
Hanser; 20 Euro Kiepenheuer & Witsch; 19 Euro
Die Assistentin, die inzwischen wiederauf- 14 (15) Herfried Münkler
getaucht ist, lacht hysterisch und führt Der US-amerikanische Schrift- Der Dreißigjährige Krieg
Woody Allen aus dem Raum. Da jetzt alles steller berichtet am Beispiel
seiner jungen Helden Rowohlt Berlin; 39,95 Euro
egal ist, gehe ich hinterher und frage die von Wohlstandverwahrlosung,
Assistentin, ob sie ein Foto von Allen und Zwangsneurosen und 15 (12) Roberto Saviano / Giovanni di Lorenzo
mir machen kann. Warum? Keine Ahnung. der Kraft der Freundschaft Erklär mir Italien!
Vielleicht weil es den Anschein von jour- Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro

nalistischer Normalität aufrechterhält. 16 (–) Rachel Joyce Mister Franks

fabelhaftes Talent für Harmonie 16 (14) Gerald Hüther Raus aus der
Drei Tage nach dem Interview, am ver- Demenz-Falle! Arkana; 18 Euro
Fischer Krüger; 19,99 Euro
gangenen Sonntagabend, schickt Dylan Far-
row in zwei Tweets eine Nachricht in die 17 (16) Richard David Precht
17 (15) Jojo Moyes Erkenne dich selbst Goldmann; 24 Euro
Welt. Vor vier Jahren habe sie entschieden, Kleine Fluchten Wunderlich; 12 Euro
dass es genug sei, und einen offenen Brief 18 (18) Raphael Honigstein „Ich mag,
geschrieben, in dem sie den Missbrauch 18 (17) Jo Nesbø wenn’s kracht“ Ullstein; 20 Euro
durch Allen detailliert beschrieben hat. „Ich Durst Ullstein; 24 Euro
glaubte, es würde etwas verändern. Ich 19 (19) Ferdinand von Schirach /
19 (20) Tess Gerritsen Alexander Kluge Die Herzlichkeit
habe schnell (und schmerzhaft) gelernt,
Blutzeuge Limes; 19,99 Euro der Vernunft Luchterhand; 10 Euro
dass mein Optimismus fehl am Platz war.
Seine Zeit war nicht vorbei.“ 20 (–) Elena Ferrante Meine geniale 20 (–) Rhonda Byrne The Secret –
Twitter: @oehmke Freundin Suhrkamp; 22 Euro Das Geheimnis Arkana; 16,99 Euro

DER SPIEGEL 3 / 2018 113

Kultur
Frischer, kalter Melonensaft
Reise Der Schriftsteller Navid Kermani fährt von Bergkarabach, einem Außenbezirk
des europäischen Kontinents, ins Land seiner Eltern: Iran.
Zwölfter Tag
Stepanakert ist keine schöne, dafür aber
auch keine arme Stadt. Man sieht den Stra-
ßen an, dass viel Geld nach Bergkarabach
geflossen ist, mehr jedenfalls als in jede
armenische Kleinstadt. Denn klein ist Ste-
panakert mit gerade mal 50 000 Einwoh-
nern, obwohl es nun Hauptstadt einer
zwar nicht anerkannten, aber doch selbst-
bewussten Republik ist, klein wie alles in
Bergkarabach außer den Bergen, die die
Hochebene von drei Seiten umfassen. Be-
sonders Diaspora-Armenier beweisen ih-
ren Patriotismus, indem sie sich für den
Aufbau der jungen Republik engagieren;
sie spenden, investieren, verbringen ihren
Urlaub oder leisten einen Freiwilligen-
dienst wie junge amerikanische Juden in
Israel. Auch eine Schnellstraße gibt es, die
einmal quer durchs Land führt, und einen
neu gebauten Flughafen, von dem wegen
des Krieges noch nie ein Flugzeug abge-
hoben hat. Zu unserer Überraschung
schwingen die Türen dennoch auf, sodass
wir in den blitzblanken Terminal spazieren
können.
Wir können uns an die Counter stellen,
einen Gepäckwagen nehmen, auch die Toi-
letten benutzen. Auf der Anzeige steht,
dass der Check-in um 15.30 Uhr beginnt,
aber das ist nur ein Test, erfahren wir vom
Flughafenmanager, der vielleicht auch nur
ein gut gekleideter Hausmeister und jeden-
falls die einzige anwesende Person im ge-
samten Gebäude ist.
„Könnte heute Mittag ein Flugzeug lan-
den?“
„Ja, absolut“, versichert der Manager,
für den ich ihn mal halten will, und erklärt,
dass einmal die Woche eine Übung abge-
halten werde, um eine Landung zu trainie-
ren. Dann zeigt er auf den Kontrollturm,
von dem tatsächlich – ich glaub’s nicht –
zwei Fluglotsen herabwinken.
„Und was tun die Fluglotsen?“
„Sie warten“, sagt der Manager.
Wir fahren zurück ins armenische Kern-
land und weiter Richtung Iran. Je weiter
wir nach Süden kommen, desto mehr per-
sische Schriftzüge tauchen am Wegrand
auf, für Hotels, Restaurants oder Disco
Dancing, und desto schäbiger werden die
sozialistischen Wohnblocks. Das Orienta-
lischste an den Städten und Städtchen ist
das Gewimmel auf den Straßen und Bür-
gersteigen, das es bei gleicher Architektur
nördlich des Kaukasus nirgends gab. Dass
die Szenerien so dörflich wirken, liegt au-
114 DER SPIEGEL 3 / 2018
ßerdem an den wenigen Autos und dem
Schwarz, das die alten Frauen tragen. Ich
stelle mir vor, wie der erste Eindruck ist,
wenn man aus umgekehrter Richtung
kommt: ernüchternd, weil man die Armut
nicht mit Armeniern verbindet, die in Iran
zum Mittelstand gehören, und unter Disco
Dancing sich etwas anderes vorgestellt hat
als eine Kaschemme im Erdgeschoss eines
Plattenbaus, dessen Fassade ansonsten gü-
tig von trocknender Wäsche versteckt wird.
Als wir den Fluss Arax erreichen, hinter
den das zaristische Russland Iran zurück-
gedrängt hat, erblicke ich eine andere, die
mir so vertraute Landschaft: das warme
ASERBAI-
DSCHAN
ARMENIEN Baku
Stepanakert
TÜRKEI Bergkarabach
Kaspisches
Nachitschewan Al Meer
bo
(zu Aserbaidschan) rs-
Ge
IRAN
Teheran
Kermani, 50, ist Schriftsteller und
lebt in Köln, für den SPIEGEL hat er
diese insgesamt 13-teilige Reportage
verfasst. Am 26. Januar erscheint die
vollständige Fassung als Buch:
„Entlang den Gräben – Eine Reise
durch das östliche Europa bis nach
Isfahan“ (C. H. Beck).
Braun der weiten, kahlen Hänge, das in der
Abendsonne aufglüht, scharf getrennt vom
leuchtenden Grün der Täler, durch das sich
das rauschende Wasser wie eine Silberkette
zieht. Der Kaukasus mit seinen tiefen
Schluchten und steilen Bergen, die mit Wäl-
dern, Sträuchern oder Gräsern überzogen
sind, könnte keine natürlichere Grenze ha-
ben als diese, so willkürlich sie im 19. Jahr-
hundert auch gezogen worden ist.
Nach der armenischen Passkontrolle lau-
fe ich mit meinem Koffer wie in einem
Agentenfilm mutterseelenallein über die
breite Brücke, an deren Ende indes keine
schwarze Limousine wartet, sondern ein
Zöllnerpaar, wie es das nur in der Islami-
schen Republik Iran geben kann. Während
der Jüngere, der Uniformierte, der meine
Daten in den Computer tippt, schmale Ko-
teletten und zu einem Spitzdach gegelte
Haare trägt, als träte er nachher noch bei
MTV auf, fläzt sich der Ältere, der Vorge-
setzte offenbar, im Jogginganzug von Adi-
das auf dem Stuhl und scheint auf seinem
Bildschirm die Einträge mitzulesen, falls
er sich nicht irgendwelche YouTube-Videos
anschaut. Beide sind glatt rasiert, was allein
für iranische Beamte lange Zeit undenkbar
war, weil die revolutionäre Ideologie min-
destens einen Dreitagebart verlangte. Dem-
nächst binden sie sich noch Krawatten um,
dann ist die Revolution am Ende.
Etwas ist mit meinen Daten nicht in Ord-
nung, sodass der Vorgesetzte in seinen
Sneakers davonschlurft. Als er zurückkehrt,
fordert er mich auf mitzukommen. Das Du
zwischen Staat und Bürger, das mit den
zirzensischen Floskeln persischer Konver-
sation radikal gebrochen hat, ist noch von
der Revolution geblieben. Im Eingangsbe-
reich des Amtszimmers, in das ich geführt
werde, ist der Teppichboden ausgeschnit-
ten, damit man auf dem Linoleum seine
Schuhe auszieht wie vor einer Moschee.
Durch die offene Tür entdecke ich im Ne-
bi benzimmer zwei Beine, die in Pyjamahose
rg
e auf dem Schreibtisch liegen. Bauern, denke
ich in meiner bourgeoisen Arroganz, nicht
mal ein Arbeiter-, sondern nur ein Bauern-
staat: Die Zöllner, ich bin sicher, der schnie-
ke MTVler wie der vermeintliche Sportler
und erst recht der Fromme, zu dem die bei-
den Beine in Pyjamahose gehören, ebenso
die meisten Minister, Botschafter, Generäle,
Staatssekretäre, millionenschweren Chefs
der staatlichen Betriebe und religiösen Stif-
tungen, sie haben ein, zwei, allenfalls drei
Generationen nach der Landflucht noch
die Sitten und die Lebensweise der Provinz.
Ihr Du, das ist nicht der Genosse, das ist
noch das Dorf.
„Ya Ali!“, höre ich, womit der erste
Imam der Schiiten angerufen ist, und kurz
darauf tritt ein bärtiger Offizier ins Zim-
mer, ohne Uniformweste, das grünbraune
Diensthemd halb über der dunklen Hose,
und entschuldigt sich als Erstes, dass ich
die Schuhe ausziehen müsse. Falls mir das
Umstände bereite, käme er nach draußen,
aber hier drinnen hätten wir’s gemütlicher.
Dann lädt er mich ein, auf einem der Sofas
Platz zu nehmen, und fragt mit dem beru-
higenden Sie in der Anrede und im Tonfall
so unterwürfig, wie es das persische Höf-
lichkeitsritual verlangt, nach Beruf, Aus-
bildung, Familie, Reiseroute, Adresse in
Deutschland, Adresse in Iran, Telefonnum-
mer in Deutschland, Telefonnummer in

Cafébesucherinnen in Teheran: Ausgehen wie in Europa
Iran und so weiter. Ich erkundige mich, ob
ich derweil mein Handy aufladen darf, da
zieht der Offizier den Stecker des Fern-
sehers aus der Dose, in dem der staatliche
Nachrichtenkanal CNN zu kopieren ver-
sucht, nur dass die Anchorwoman Tscha-
dor trägt und die Korrespondenten Bart.
Einmal bittet der Offizier mich um Rat,
was noch zu fragen wäre, da nenne ich
ihm das Jahr, in dem meine Eltern aus Iran
ausgewandert sind. Wieso er das alles auf-
schreibe, möchte ich wissen. Das sei leider
eine Vorschrift bei Auslandsiranern; er bit-
te vielmals um Nachsicht, dass er mir mei-
ne sicher sehr kostbare Zeit stehle. Offen-
bar gehört zur Vorschrift seit Neuestem
auch, Auslandsiranern freundlich zu be-
gegnen. Der Bürger, den man beschimpfte,
der will man jetzt selbst sein.
Das war die letzte Grenze, die ich auf
dieser Reise überschritten habe, fällt mir
ein, als ich mit dem erstbesten Taxi am
südlichen Ufer des Arax in die Nacht fahre.
Nach ein paar Kilometern ist es nicht mehr
Armenien, das auf der anderen Seite liegt,
sondern die Autonome Republik Nachi-
tschewan, die ein Kapitel für sich wäre. So-
viel für die europäische Einigung spricht,
so schwierig die Lebensverhältnisse und
politischen Zustände nach Osten und Sü-
den werden, hat es doch auch etwas Schö-
nes, wenn Grenzen noch Grenzen sind
und es einen Unterschied macht, ob man
diesseits oder jenseits ist, einen wirklichen
Unterschied nicht nur der Sprache, son-
dern der Systeme, Lebensweisen, Kulturen
und Erfahrungen, wie es ihn so tief grei-
fend innerhalb der Europäischen Union
nicht mehr gibt und nicht einmal innerhalb
des Westens insgesamt. Nur offen müssen
die Grenzen sein, sonst lernt man die Un-
terschiede gar nicht kennen und also auch
nicht sich selbst.
Dreizehnter Tag
Die Küste des Kaspischen Meeres, die in
meiner Kindheitserinnerung aus Urwäl-
dern, Maisfeldern, einsamen Stränden, Fi-
scherdörfern und hier und dort Villen be-
steht, ist von den Bergen aus gesehen eine
einzige, endlos sich hinziehende Stadt,
durch die eine Autobahn führt. Am Stau
vorbei, der sich auf der gegenüberliegen-
den Fahrbahn mehr als hundert Kilometer
NAZIK ARMENAKYAN / DER SPIEGEL
Richtung Kaspisches Meer zieht, überque-
ren wir das Albors-Gebirge. Vor dem Wo-
chenende liegt günstig ein Feiertag, einer
von so vielen: Neben den allgemein isla-
mischen und nationalen Festen gibt es
nämlich noch die rein schiitischen Feierta-
ge, von denen die meisten Trauertage sind:
Sie erinnern sämtlich an ein Martyrium,
das Martyrium des ersten Imams oder des
zweiten, dritten, vierten bis elften sowie
das Verschwinden des zwölftes Imams, für
dessen Wiederkehr der vormalige Präsi-
dent Mahmoud Ahmadinejad wohl das
Weltende herbeizuführen suchte mit sei-
nen Drohungen gegen Israel. Kein Wunder,
dass mit dem schiitischen Islam kein Staat
zu machen ist, wenn dem Volk ständig
zum Weinen freigegeben wird! Und da
habe ich noch gar nicht das Neujahrsfest
mit sage und schreibe 13 weiteren Feier-
tagen erwähnt, die sich kein Iraner von
egal welcher Regierung nehmen lässt.
Vierzehnter Tag
Schon oft habe ich gedacht: Die Verwand-
ten, die in Iran geblieben sind – die weni-
gen –, haben eine ganz eigene Güte, die
DER SPIEGEL 3 / 2018 115
Kultur
ich unter uns Auslandsiranern nicht finde.
Schwer ist sie zu beschreiben – die Fest-
essen, die sich jagen, die Tage, die man
sich eigens für Besuch freinimmt, die Nach-
sicht gegenüber unseren Macken und Ma-
rotten, das Glas frischen, kalten Melonen-
safts, das schon beim Eintreten aus der hei-
ßen, knochentrockenen Stadtluft auf dem
Garderobentisch steht – und noch schwe-
rer zu erklären. Sind es die tieferen Ein-
schnitte eines Lebens mit Revolution und
Krieg, und nicht nur des Lebens, sondern
auch der kollektiven Erinnerung an Unter-
drückung und vergebliches Aufbegehren,
Opfer und jedes Mal neuen Niedergang?
Ja, die Vergeblichkeit ist es wahrscheinlich;
wer auswandert – erst recht, wer in die
Neue Welt auswandert wie der größte Teil
meiner Verwandtschaft –, achtet vielleicht
eher auf die Möglichkeiten, beginnt bei
null, und dann geht es aufwärts. Hier lebt
man seit 50 Jahren oder 60 oder, wie mei-
ne Tante, seit 95 Jahren und hat jedenfalls
subjektiv den Eindruck, dass noch jede
Hoffnung getäuscht hat. Das erzeugt viel-
leicht auch eine Freundlichkeit gegenüber
denen, die sich dennoch interessieren, den
Touristen und Verwandten aus dem Aus-
land.
Sicher, unsere Familie ist alles andere
als repräsentativ, gehört sie doch der bür-
gerlichen Schicht an, deren Ansichten, all-
tägliche Abläufe, Wohnungseinrichtungen,
Geschlechterverhältnisse, Lektüren, ame-
rikanische Serien nicht so viel anders als
„Freiheit ist billig für uns“
Iran Navid Kermani über die Proteste, die derzeit die Islamische Republik erschüttern
SPIEGEL: Herr Kermani, was lösen die
Bilder der iranischen Demonstranten
in Ihnen – einem, wie Sie in Ihrem
Reisebericht schreiben, „Auslands-
iraner“ – aus?
Kermani: Es berührt mich natürlich sehr,
dass die Menschen trotz der Repressio-
nen, der wirklich konkreten Gefahren
für jeden einzelnen Demonstranten, im-
mer wieder und in so großer Zahl den
Mut finden, für ihre Rechte auf die Stra-
ße zu gehen. Das macht auch demütig,
weil wir den Preis der Freiheit kaum
noch kennen, so billig ist sie für uns.
SPIEGEL: Was treibt die Menschen auf
die Straße?
Kermani: Es ist nicht nur die politische
Unfreiheit – aber die natürlich auch. Es
ist die Wut über die Lebensperspekti-
ven, die insbesondere den jungen Men-
schen von den Herrschenden geraubt
werden, die Korruption, der Raubbau,
116 DER SPIEGEL 3 / 2018
die eines westlichen Bürgertums sind. der riesige See, der am Rande von Tehe-
Selbst den Alkohol nimmt man sich inzwi- ran angelegt worden ist, wörtlich übersetzt
schen in die besseren Restaurants mit, na- „See der Märtyrer des Persischen Golfs“
türlich nicht mit Etikett, sondern in Was- heißt, finden die Neubürger für ein Nah-
ser- oder Limonadenflaschen, die man erholungsgebiet ganz normal und breiten
zum Einschenken aus der Plastiktüte her- ihre Decken, Thermoskannen, Grillgeräte
vorholt. Man muss also nicht einmal mehr und Wasserpfeifen gern am Wasser aus,
nach Baku oder Tiflis, Eriwan oder Antal- das in der Landwirtschaft immer knapper
ya fliegen, um wie in Europa auszugehen. wird.
Entlang der Stadtautobahnen kündigen die In Teheran selbst trifft man die aufstei-
Leuchtreklamen ein Konzert der Gipsy genden Schichten in einem neuen Park
Kings an. beidseits der Stadtautobahn, über die eine
Dass das Bürgertum immer noch die grellgrün angeleuchtete, dreistöckige Fuß-
Großstädte prägt, mag Besucher so sehr gängerbrücke führt, „Brücke der Natur“
erstaunen wie Teherans modernes Stadt- genannt. Unter einer zeltartigen Konstruk-
bild; tatsächlich konnte es die antiwest- tion, die an den Münchner Olympiapark
liche Revolution ja nur geben in einem erinnert, herrscht an den Wochenenden
Land, dessen Bildungseliten wie in kaum Rummel noch nachts um zwei. Einerseits
einer anderen Nation im Nahen Osten ver- ist es gut, dass sie sich jetzt mischen, dass
westlicht waren. Aber inzwischen hat je- auch die Tschadoris da sind, wo die Skate-
der von uns einen Großteil der Familie boarder mit den gewagten Frisuren hin
im Ausland, und das Schlimme ist: Fast und her springen, dass der Stadtraum nicht
jeder sucht nach einer Möglichkeit, die mehr nur dem alten Bürgertum gehört.
Kinder spätestens zum Studium fortzu- Aber dann sucht man in der Foodcorner,
schicken. Den Staat freut es, dann hat er die so groß wie der Viktualienmarkt ist,
noch mehr Platz für seine armen Leute, nach einem annehmbaren Essen, für uns
die inzwischen oft in Geländelimousinen annehmbar, meine ich, die bürgerliche
durch Teheran fahren und in den wohl- Schicht, und findet ausschließlich Steaks,
habenden Norden der Stadt ziehen, die Nachos und westliches Fast Food. Und die
Wohnungen der Bürger also benötigen, Polizei hält in diversen Formationen die
reich geworden sind, aber immer noch Knüppel bereit, falls aus dem Rummel eine
ihre Arme-Leute-Kultur haben, statt mit Versammlung wird.
Hafis und Rumi aufgewachsen zu sein, die Ich fahre in den äußersten Süden zum
Toleranz und Feindesliebe auch ohne den Behescht-e Sahra, dem Paradies der Pro-
westlichen Bildungskanon lehren. Dass phetentochter Sahra, ein Friedhof, so groß
den die Revolutionswächter und die me Luftverschmutzung, die die Leute
staatsnahen Stiftungen an den finan- unmittelbar nervös macht, der selbst
ziellen und natürlichen Ressourcen des verschuldete Wassermangel. Und so
Landes üben, übrigens auch die schlim- weiter und so weiter. Dieses Land wird
nicht nur diktatorisch, es wird einfach
auch schlecht regiert.
SPIEGEL: Was müsste sich in Iran än-
dern, damit es nicht zu solch heftigen
Protesten kommt? Könnten Reformen
innerhalb des bestehenden Systems
helfen?
Kermani: Das ist die andere Seite: Die
Menschen fürchten sich sehr, dass aus
NAZIK ARMENAKYAN / DER SPIEGEL
Iran ein zweites Syrien, ein zweiter
Irak wird. Aber wenn sich das System
nicht reformiert, wird der Druck irgend-
wann zu viel, dann brechen Chaos
und Gewalt aus. Denken Sie nur daran,
dass fast die Hälfte der Iraner keine
persischen Muttersprachler sind und
Autor Kermani was in anderen Vielvölkerstaaten ge-
„Es ist nicht nur die politische Unfreiheit“ schehen ist. Interview: Jurek Skrobala
wie eine Stadt, mit Straßen, Bus-
haltestellen, Restaurants, Ampeln,
Geschäften und Verkehrsschildern,
nur dass die Lebenden ausschließ-
lich Besucher sind. Dort, wo die
Gräber der Märtyrer beginnen,
stand während des Krieges gegen
den Irak ein großer Brunnen, aus
dem das Wasser blutrot sprudelte.
So dick das auch aufgetragen war,
so effekthascherisch, habe ich das
Bild vor Augen, seit ich mit 13 oder
14 Jahren das letzte Mal den Fried-
hof besuchte, der in Iran Paradies
genannt wird. Die Gräber liegen so
dicht beieinander, dass man über
die Steine und zwischen den Stell-
wänden hindurchgehen muss, in de-
nen die schwarz-weißen Porträtfo-
tos mit Weichzeichner aufgehängt
sind. Endlos geht das, die Grabrei-
hen mit Blech überdacht wie Park-
plätze. 17, 18, 19, 20 Jahre sind die
Gefallenen, einzelne Erwachsene
darunter oder auch mal ein alter
Mann. Oft steht zwar der Todestag,
aber nur das Geburtsjahr auf dem
Grab, vielleicht weil man auf dem
Dorf keinen Geburtstag feierte, ihn oft
nicht einmal selbst wusste. Pick-ups fah-
ren umher, aus denen schiitische Trauer-
gesänge erklingen, mit monotonen Trom-
melschlägen fast wie von einem Techno-
beat unterlegt. Auf einem Ehrenfeld liegen
Eltern, die der Nation mehrere Kinder ge-
opfert haben. „Zwei aufwärts und fünf ab-
wärts haben wir“, sagt ein Wärter, als wür-
de er sein Sortiment erklären. 30 Jahre ist
der Krieg vorbei, aber die meisten Gefal-
lenen sind so jung, dass sie kaum schon
Frauen, kaum Kinder gehabt haben wer-
den. Wer trauert dann um sie? Viele Eltern
mögen selbst schon verstorben oder je-
denfalls sehr alt sein.
„Solange die Flammen der Märtyrer glü-
hen, brennt der Hochofen der Islamischen
Republik“, sagt ein Mann von vielleicht
50 Jahren, der Wasser über eine Grabplatte
schüttet und mit einem Tuch den Staub
wegwischt. Mit Jeans, Poloshirt und frisch
rasierten Wangen sieht er nicht aus, als
würde er sich selbst am revolutionären Feu-
er erwärmen. Sein Bruder fiel 1985, als der
Feind längst zurückgeschlagen war. „Fast
eine Million Märtyrer, das muss man sich
vor Augen halten, eine Million Familien,
die sich von den Zuwendungen, Vergüns-
tigungen und Posten nähren, dazu die Ver-
sehrten, noch mal eine Million oder zwei
plus deren Familien: Das ist ihr Kapital.
Nicht umsonst hat Khomeini den Angriff
Saddam Husseins ein göttliches Geschenk
genannt.“
Einen alten Herrn mit weißem Stoppel-
bart, der zwei volle Gießkannen trägt, fra-
ge ich nach der Blutfontäne. Nein, die gebe
es schon lange nicht mehr, antwortet er
Soldatengräber auf dem Friedhof Behescht-e Sahra in Teheran: „Hochofen der Republik“
und stellt die Gießkannen ab. Ob ich etwa
zum ersten Mal hier sei? Er hat seinen
Sohn verloren und findet nicht, dass es
einen Unterschied macht, ob jemand am
Anfang oder am Ende des Krieges gefallen
ist. So oder so hat sein Sohn die Krone
des Martyriums erlangt.
„Viele meinen, der Krieg hätte früher
beendet werden müssen“, wende ich ein.
„Da irren sich die vielen“, erwidert der
Alte: „Wir hatten bis zum Ende alle Chan-
cen auf Sieg.“
„Aber warum hat der Revolutionsführer
dann den Schierlingsbecher getrunken?“,
frage ich in Anspielung auf Khomeinis be-
rühmten Satz, dass die Einwilligung in den
Waffenstillstand für ihn wie das Trinken
eines Giftbechers gewesen sei.
„Das meine ich ja, das Ende kam über-
raschend, wir waren doch kurz vorm Sieg.“
„War es etwa falsch?“
„Die Leute waren einfach erschöpft,
das ist die Wahrheit“, sagt der Alte und
erinnert an die schweren Giftgasangriffe
und den Abschuss einer iranischen
Passagiermaschine durch ein amerikani-
sches Kriegsschiff über dem Persischen
Golf: „Wir hätten gewinnen können, aber
die Füße trugen nicht mehr. Ich meine,
das ist vielleicht auch menschlich, und
Imam Khomeini hat unsere Schwäche ge-
sehen.“
Mit dem heutigen Staat ist er nur halb
zufrieden, genau gesagt mit der Hälfte
der Konservativen: Die Wirtschaft liege
am Boden, das Land werde schlecht ver-
waltet – daran trägt natürlich Präsident
Hassan Rohani Schuld, der das Land, wenn
er könnte, an den Westen verkaufen wür-
NAZIK ARMENAKYAN / DER SPIEGEL
de. Dafür traue sich kein Land der Welt,
nicht einmal Amerika, Iran anzugreifen –
dafür bürgt „unser“ starkes Militär, das
dem Revolutionsführer nahesteht.
„Wir haben unsere Lektion aus der Ge-
schichte gelernt“, ist der Alte froh, dass
Iran in der Lage wäre, die Atombombe zu
bauen.
Abends ziehe ich durch die neuen Cafés
in Südteheran. Südteheran? Ja, die Künst-
ler, die coolen Gastronomen und Teherans
Jeunesse dorée haben den Süden entdeckt,
wo die Immobilien noch bezahlbar sind
und die Patina sich von selbst einstellt. Alt
heißt in Teheran allerdings Sechziger-, frü-
he Siebzigerjahre, allenfalls mal ist ein Ge-
bäude aus der Zeit von Schah Reza unter
den Galerien und Szenekneipen dabei, in
denen Funk-Musik läuft, auf der Speise-
karte traditionelle Gerichte stehen und
Kräuterlimonaden nach altem Hausrezept
getrunken werden.
In einem der Einfamilienhäuser mit In-
nenhof, das in ein Café verwandelt wor-
den ist, hängen an den Wänden die
schwarz-weißen Familienfotos der ersten
Bewohner. Sie sehen wie Bilder aus dem
heilen Amerika aus, der Vater im Anzug
mit schmaler Krawatte, den geschniegel-
ten Sohn an der Hand, der Sohn auf dem
ersten Fahrrad, die Mutter im knielangen
Rock, ohne Kopftuch natürlich, strahlend
vor Glück, Hausfrau zu sein. Der Wirt hat
die Familie, die nach der Revolution aus-
gewandert ist, irgendwo in Amerika auf-
getan und um Erlaubnis gebeten, ihre
Fotos auszustellen.
Ende
DER SPIEGEL 3 / 2018 117
 STEFFEN JÄNICKE / DER SPIEGEL
BND-Chef Kahl, Architekt Kleihues im Neubau des Geheimdienstes: „Ein Statement auch für andere Nationen“

„Raus aus dem Versteck“

SPIEGEL-Gespräch Bruno Kahl, Präsident des Bundesnachrichtendienstes, und Jan Kleihues,
Architekt der neuen Zentrale der Behörde, über den Umzug der Spione
nach Berlin und den Versuch, ein mysteriöses Gebäude normal aussehen zu lassen

Der Bundesnachrichtendienst (BND) zieht um:
vom bayerischen Pullach in die Hauptstadt.
Der neue, noch ziemlich verwaiste Hauptsitz
in der Berliner Chausseestraße ist einer der
größten Staatsbauten im Land, 280 Meter lang,
eine Bruttogeschossfläche von 260 000 Qua-
dratmetern. Die Gesamtplanung des Geländes
sowie das Hauptgebäude stammen vom Berli-
ner Architekten Kleihues, 55. Wie die meisten
der 4000 Mitarbeiter richtet sich Kahl, 55, seit
Mitte 2016 BND-Präsident, erst im Laufe des
Jahres in der neuen Zentrale ein. Noch ist die
Haustechnik dort eine Herausforderung für ihn
und seine Leute. Als Kleihues und Kahl für ein
Foto den Trakt des Präsidenten verließen, fiel
die Tür zum Sicherheitsbereich zu. Es dauerte,
bis ein Mitarbeiter eine Stelle gefunden hatte,
an der das Mobilnetz funktionierte, und mit
seinem speziellen Diensthandy jemanden
erreichte, der den Chef des Hauses wieder in
seine Räumlichkeiten einlassen konnte.
118 DER SPIEGEL 3 / 2018
SPIEGEL: Herr Kahl, Herr Kleihues, ein weit-
hin sichtbarer Bau für einen Geheim-
dienst – ein Widerspruch in sich?
Kleihues: Herausforderungen sind das Tolle
am Beruf das Architekten. Für den BND
zu bauen, ihn sichtbar werden zu lassen,
war aber vielleicht sogar einfacher, als eine
private Villa zu errichten, bei der man sich
alle zwei Tage mit der Ehegattin des Bau-
herrn oder dem Ehegatten der Bauherrin
über weitere Sonderwünsche einigen muss.
Mit den BND-Leuten war – für uns fast
überraschend – eine echter Dialog möglich,
über Funktionales, aber auch über die Äs-
thetik und wie sich alles fügen sollte.
Kahl: Wenn man 4000 Leute unter einem
Dach arbeiten lassen möchte, kann man
das kaum tun, ohne sichtbar zu werden.
Im Gegenzug war genau das eines der
Ziele des Umzugs weg von unserem alten
Standort im Wald in Pullach mitten in
die Hauptstadt: Wir wollten uns nicht
mehr verstecken, wir wollen zeigen, dass
wir eine legitime und notwendige Funk-
tion in diesem Staat ausüben. Unsichtbar
werden wir dann, wenn wir operativ ar-
beiten.
SPIEGEL: Was verrät die neue Sichtbarkeit
des Auslandsgeheimdienstes über das ge-
wandelte Selbstverständnis des Staates?
Kahl: Zunächst zeigt sich ein anderes
Selbstverständnis dieses Dienstes. Natür-
lich war jener BND, der in den Fünfziger-
jahren im bayerischen Pullach gegründet
wurde, ein anderer. Heute neigt der
Dienst zu mehr Gelassenheit, zu weniger
Geheimniskrämerei. Der BND ist ein
Dienstleister der Bundesregierung. Er geht
anders mit demokratisch gesetzten und
rechtlichen Grenzen um, als in den ersten
Jahrzehnten des Dienstes. Heute sind die
Gefahren vielfältiger, aber in unserer De-
 Kultur

mokratie werden zugleich die einzelnen haben wir den Sockel dann doch ein wenig ein potenzielles Ziel, einen hoch gefähr-
Elemente staatlichen Handelns stärker versteckt, wir haben ihn in einer Senke deten Bau, in die Mitte der Hauptstadt
akzeptiert. Wobei die Nachrichtendienste verschwinden lassen. Der Passant sieht ein zu setzen?
sicher als Letzte diese demokratische Nor- Gebäude, das wie ein ganz normaler Ver- Kahl: Wir sind nicht das einzige gefährdete
malisierung erfahren haben. waltungsbau wirkt. Der BND ist nun ein- Regierungsgebäude. Aber gerade in diesen
SPIEGEL: Lässt sich wirklich von einer Nor- mal vor allem das: eine Verwaltung. Na- Zeiten ist es wichtig, in der Nähe des Kanz-
malisierung des Geheimdienstes sprechen, türlich hatte ich als „James Bond“-Fan zu- leramts zu sein und als Behörde nicht über
von einer Akzeptanz? Für Außenstehende erst andere Vorstellungen. Aber nach dem alle möglichen Standorte zerstreut. Der
bleibt diese Behörde undurchsichtig. Labor von Q können Sie lange suchen. britische und auch der französische Ge-
Kahl: Natürlich gibt es bis auf den heutigen SPIEGEL: Der BND verkörpert in den Augen heimdienst sind ja auch mitten in ihren
Tag Mentalreservationen gegenüber den vieler Bürger eine geheimnisvolle Macht, Hauptstädten ansässig.
Nachrichtendiensten, was aber vor allem das Gebäude vermittelt aber den Eindruck SPIEGEL: Sie können sogar von Ihrem neuen
mit der spezifisch deutschen Vergangen- der Alltäglichkeit und Bescheidenheit? Büro aus das Kanzleramt sehen. Wer sitzt
heit zu tun hat, mit dem Missbrauch der Kleihues: Genau. Bescheidenheit im besten wem im Nacken, Sie der Kanzlerin oder
Dienste unter den Nazis und in der DDR. Sinn. An Originalität war uns nie gelegen, die Kanzlerin Ihnen?
Doch wir entfernen uns von diesen Zeiten, wohl aber an einem selbstbewussten und Kahl: Wir haben eine harmonische Nach-
die Sichtweise wird eine andere. Briten, selbstverständlichen Gebäude. barschaft. Glauben Sie mir, es ist sehr gut,
Franzosen und Amerikaner sehen das Kahl: Als vor mehr als zehn Jahren die Ent- schnell zusammentreffen zu können. Das
sowieso anders, Geheimdiensttätigkeit scheidung für einen Neubau und für dieses gilt auch für unsere Belegschaft. Es gab
wird dort seit Langem als normaler Be- Grundstück fiel, ging es darum, das alles Zeiten, in denen es Prinzip im BND war,
standteil der Regierungsarbeit verstanden. kommensurabel zu machen, das Gebäude dass die linke Hand nicht wusste, was die
Diese Tätigkeit ist nicht de- rechte tut, und umgekehrt.
goutant. Das war zu einer bestimm-
SPIEGEL: Im neuen BND-Ge- ten Zeit sinnvoll, auch für
bäude wird sogar ein Besu- ganz bestimmte Operatio-
cherzentrum eröffnet. Ent- nen, aber es hatte auch
wickelt sich der BND zur Nachteile.
Touristenattraktion? Gilt SPIEGEL: Und das Prinzip des
Berlin bald als Hauptstadt Misstrauens auch unter Kol-
der Spione? legen lässt sich so einfach
Kahl: Das war sie eher in überwinden?
den Jahren des Kalten Krie- Kahl: Früher sprachen wir
ges, damals war Berlin ein von einem „Need to know“-
Treffpunkt dieses Gewer- Prinzip, jeder wusste nur,
bes. Und dass bei den Men- was unbedingt notwendig
schen eine gesunde Neugier ist für seine Arbeit, alles an-
herrscht und sicher viele dere ging ihn nichts an.
ins Besucherzentrum kom- Heute heißt es „Need to
JÜRGEN RITTER / IMAGO

men werden, ist doch er- share“. Wir überlegen, was

freulich. sinnvollerweise mit ande-
SPIEGEL: Man kann die Ver- ren geteilt werden sollte,
änderung des Landes auch weil das dem Gesamtpro-
an seinen Baustilen erken- zess zugutekommt.
nen. Lange residierten die Außenansicht des BND-Gebäudes mit Kunstpalme SPIEGEL: Auf welche Weise
Kanzler in einer kupfer- „Von Nato-Grün bis Champagnergold“ unterstützt das Gebäude
farbenen, eher niedrigen diesen Austausch?
Flachdachanlage in Bonn, drum herum sollte seine städtische Umgebung nicht Kleihues: Wir haben darauf verzichtet, mit
viel Grün. In Berlin dagegen die riesige dominieren. Ich glaube, das ist sehr gut der Anlage die Kleinteiligkeit der städti-
Waschmaschine, wie das Kanzleramt von gelungen, nichts wirkt monströs, weder schen Umgebung aufzugreifen, wir hätten
vielen in der Stadt genannt wird. Wie außen noch innen. Die ersten 700 Kollegen Abteilungen in Einzelhäusern unterbrin-
reiht sich der BND-Bau in diese Entwick- sind mittlerweile da und fühlen sich wohl. gen können, aber das hätte jedes Treffen
lung von der leichten zur massiven Archi- Wenn alle eingezogen sind, wird der BND umständlicher gemacht. Der Grundriss er-
tektur ein? natürlich auch anders werden. Er ist sogar möglicht kurze Wege, und das vertikal und
Kleihues: Reiht er sich überhaupt ein? Als schon jetzt anders geworden. horizontal. Wenn Sie erst einmal im Ge-
wir 2004 an dem Wettbewerb für die neue SPIEGEL: Inwiefern? bäude drin sind, können Sie sich relativ
BND-Zentrale teilgenommen und uns mit Kahl: Wir arbeiten bereits mit 2000 Leuten frei bewegen.
den Vorgaben für das immense Raumpro- in Berlin, nur eben noch nicht in diesem Kahl: Die Flure sind abgeschlossen, da brü-
gramm auseinandergesetzt haben, war uns Gebäude. Wir haben einen Teil dieser gro- ten Mitarbeiter über geheimsten Dingen
einfach klar: Man kann einen solchen, not- ßen Veränderung schon kennengelernt – zusammen, aber sie können diese Trakte
wendigerweise großen Bau auf diesem was es heißt, nicht mehr weit weg in Bay- verlassen und in den Kommunikations-
Grundstück und mitten in der Stadt nicht ern oder andernorts zu sein, sondern nahe zonen beim Kaffee andere Kollegen treffen
verstecken. Er kann sich nicht wegducken. beim Auftraggeber, beim Bundeskanzler- oder in den Hallen und in den Gängen.
SPIEGEL: Das heißt? amt, Außenministerium, Verteidigungs- Der BND muss aber auch insgesamt
Kleihues: Natürlich müssen einige Teile des ministerium und auch beim Parlament. schnell auf politische Entwicklungen und
Gebäudes besonders geschützt werden – Und künftig sind wir noch näher dran. Ereignisse reagieren können: Der Zu-
vor allem der Sockelbereich, der keine SPIEGEL: Ist es aber überhaupt zu verant- schnitt der unterschiedlichen Arbeitsberei-
Fenster besitzt. Das wirkt abweisend, also worten, in Zeiten von Terroranschlägen che muss unkompliziert angepasst werden
DER SPIEGEL 3 / 2018 119
können. Auch das funktioniert
hier.
SPIEGEL: Herr Kleihues, Ihr Kolle-
ge Arno Lederer erkennt in dem
Grundriss die Form einer Rune.
So hat er es in dem Buch über die-
ses Gebäude geschrieben, das Sie
selbst gerade herausgebracht ha-
ben. Schlimmer kann es eigentlich
nicht kommen – ein Gebäude des
deutschen Staates als Rune.
Kleihues: Die Form ist aus funktio-
nalen, natürlich auch gestalteri-
schen Gedanken heraus entstan-
den, ich finde sie sehr schön, und
für mich hat sie nichts mit einer
Rune gemein. Es bringt ohnehin
nichts, gewisse Formen oder Materialien
zu stigmatisieren.
SPIEGEL: Sie haben viel Aluminium und
Stein verwendet, haben zwar 14 000 Fens-
ter eingesetzt, aber alle sind schmal, jedes
ist nur 75 Zentimeter breit. Die Fassade
wirkt verschlossen und damit anders
als zum Beispiel die Abgeordnetenhäuser
am Spreeufer oder die Reichstagskuppel –
Repräsentationsbauten, die in den Neun-
zigerjahren entworfen wurden, in opti-
mistischeren Zeiten, in denen Glas als
Ausdrucksmittel einer neuen Offenheit
galt.
Kleihues: Das ist eine Vereinfachung, die
ich nicht unbedingt liebe. Danach ist Glas
transparent und demokratisch, und Stein
ist das Gegenteil. Aber diese Gleichsetzun-
gen funktionieren nicht. In vielen osteu-
ropäischen Ländern wurden Glaspaläste
gebaut, als diese Staaten alles andere als
demokratisch waren. Natürlich haben wir
das BND-Gebäude auch aus Gründen der
Sicherheit so gebaut, wie es nun ist, da
geht es um den Schutz vor Anschlägen
und vor Abhörversuchen. Aber es hat uns
auch keine Mühe bereitet, eine schöne Fas-
sade mit Lochfenstern zu planen. Und das
dominierende Material – eloxiertes Alu-
minium – hat schöne Eigenschaften, es
wirkt auch dank seines Glanzgrades spek-
takulär. Es lässt das Gebäude zu den un-
terschiedlichen Tageszeiten komplett an-
ders erscheinen. Die Farbe wechselt von
einem eher bösen Nato-Grün bis hin zu
Champagnergold.
SPIEGEL: Das böse Nato-Grün wurde von
allen einfach in Kauf genommen?
Kahl: Ich sehe ein dunkles Grün. Kann grün
böse sein? Und Architektur löst nun ein-
mal bei jedem etwas anderes aus.
SPIEGEL: Was löst dieser Bau in Ihnen aus?
Kahl: Ich ziehe hier gern ein, ich sehe das
Gebäude ebenso gern von der Straße aus,
mir gefällt es im Stadtgefüge, auf mich
wirkt es auch nicht verschlossen oder gar
abwehrend. Auch wenn ich aus privaten
Gründen in der Gegend unterwegs bin,
schaue ich, wie es wirkt, und freue mich
immer, wenn ich ein Fitzelchen entdecke
120 DER SPIEGEL 3 / 2018
Kahl, Kleihues, SPIEGEL-Redakteurinnen*
„Dieser Hauptsitz ist ein Glücksfall“
vom Champagnergold oder eben vom
Dunkelgrün.
Kleihues: Das Letzte, was ich entwickeln
wollte, wäre eine Ästhetik der Sicherheit.
Das wäre der falsche Weg, um auf diese
Zeit zu reagieren.
Kahl: Wir haben alle möglichen Risiko-
szenarien durchdacht, und gewisse Dinge,
die einfach nicht kaputtgehen dürfen, wer-
den nicht kaputtgehen. Trotzdem ist es ge-
lungen, dieses Haus nicht wie eine Festung
aussehen zu lassen.
SPIEGEL: Was darf nicht zerstört werden?
Kahl: Das Rechenzentrum, und aus Sicher-
heitsgründen haben wir auch nicht nur ein
Rechenzentrum.
SPIEGEL: Herr Kleihues, wenn es um Fra-
gen des Schutzes ging, durften Sie wahr-
scheinlich gar nicht erst anfangen zu dis-
kutieren und ästhetische Argumente ins
Spiel bringen?
Kleihues: Doch, das war ja das Besondere
an der Zusammenarbeit, und hier in die-
sem Gebäude haben uns natürlich alle De-
tails interessiert, wir haben die Drehkreuze
und die dazugehörigen Wachhäuschen ent-
worfen. Natürlich gibt es auch Konflikte
mit den Haustechnikern, aber die wurden
gut gelöst.
SPIEGEL: Das Gebäude steht hinter einem
erschreckend hohen Zaun.
Kleihues: Dieser Zaun ist unübersehbar, das
stimmt, aber er ist sehr schön geworden, er
wirkt fast transparent, und im Bereich der
Chausseestraße haben wir dahinter einen
Kiefernhain gepflanzt, er bildet einen guten
Kontrast zu der scharfkantigen Architektur.
SPIEGEL: Für Gesprächsstoff sorgen aber
zwei 22 Meter hohe Kunstpalmen auf der
anderen Seite des Gebäudes.
Kleihues: Sie sind inspiriert von den Kunst-
palmen in Kalifornien, in denen Sendemas-
ten versteckt sind. Und ich werde natürlich
immer gefragt, ob das hier auch so sei.
SPIEGEL: Und?
Kahl: Keine Sorge, bislang ist das pure
Kunst.
* Susanne Beyer und Ulrike Knöfel im neuen Berliner
BND-Gebäude.
SPIEGEL: Die Palmen wirken iro-
nisch, doch der Gesamteindruck
des neuen Hauptsitzes ist doch
eher nüchtern, sehr wohl massig.
Sehen Sie da eine Übereinstim-
mung zur Außendarstellung des
Landes?
Kahl: Schon in der Spätphase des
STEFFEN JÄNICKE / DER SPIEGEL
Bundeskanzlers Helmut Kohl
wurde unserem Land eine gestie-
gene Verantwortung zugeordnet,
diese Entwicklung hat sich bruch-
los und kontinuierlich in die rich-
tige Richtung fortgesetzt. Der
BND ist eine Marke in der
sicherheitspolitischen Welt, die
Dienste anderer Länder legen gro-
ßen Wert darauf, mit uns zusammenzu-
arbeiten.
SPIEGEL: Das Gebäude bringt auch das zum
Ausdruck?
Kahl: Auf jeden Fall. Diese Architektur-
komposition gibt eine gute Visitenkarte
für Deutschland ab. Für mich als Dienst-
chef ist ein solcher Hauptsitz ein Glücks-
fall, wir können ein anderer und besserer
Gastgeber sein. Er ist für andere Nationen
auch ein Statement, und das besagt: Dieser
Dienst ist seinem Land, seiner Regierung
diese Architektur wert.
SPIEGEL: Wie so viele Großprojekte ist es
sogar kostspieliger geworden als geplant.
Es war einmal von 720 Millionen Euro die
Rede. Wie teuer ist es?
Kahl: Es kostet weniger als 1,1 Milliarden
Euro, Ausstattung und Umzug kosten wei-
tere 400 Millionen Euro. Das bleibt im
Rahmen.
Kleihues: Als beschlossen wurde, dass ein
Teil des Bundesnachrichtendienstes doch
in Pullach bleiben dürfe, mussten wir das
Gebäude hier umplanen. Solche Verzö-
gerungen und Umplanungen verteuern alles.
Außerdem bereitet das öffentliche Vergabe-
recht Probleme, denn Sie müssen immer
den billigsten Anbieter auswählen, auch
wenn Sie schon ahnen, dass der vielleicht
in zwei Monaten pleite ist und Sie wieder
neu vergeben müssen. Und doch ist dieses
Vorhaben nicht mit Projekten wie dem Flug-
hafen Berlin-Brandenburg vergleichbar.
SPIEGEL: Herr Kahl, Sie müssen erst noch
einziehen, die Büromöbel stehen schon da,
aber wie werden Sie sich weiter einrichten,
wie setzen Sie persönliche Akzente?
Kahl: Das wird karg ausfallen, auf dem
Schreibtisch werden die Fotos meiner
Töchter stehen. Herr Kleihues sagte, es
fehle noch ein Bild an der Wand, ich habe
noch eines von diesen Christo-Dingern,
von diesen Grafiken mit dem verpackten
Reichstag, mal schauen, ob das passt.
SPIEGEL: Herr Kleihues schaut eher skeptisch.
Kleihues: Ich hätte zumindest ein paar an-
dere Ideen.
SPIEGEL: Herr Kahl, Herr Kleihues, wir dan-
ken Ihnen für dieses Gespräch.
 Kultur

Die Freiheit der Träume

Verantwortungsromantik Ist der Schriftsteller Simon Strauß ein Wegbereiter der Rechten?

D
as Gemeinste am Träumen ist, dass Vergangenheitsbegeisterung, religiöser delberg, zu dem Literaturwissenschaftler
alle es tun“, hat der portugiesische Kunstverehrung jenen träumerischen lin- Gundolf, zu Stefan George und dessen
Dichter Fernando Pessoa einmal ken Dichtern, die vor beinahe hundert Jah- „Geheimem Deutschland“.
geschrieben. Diesen Satz zitiert der junge ren für eine Weile in Bayern die Macht Simon Strauß hat vor wenigen Wochen
Journalist und Redakteur des „FAZ“- übernommen hatten. Doch ihr utopisches in einem anderen „FAZ“-Artikel gefordert,
Feuilletons, Simon Strauß, 29, in seinem Bayernreich war von kurzer Dauer. Brutal die Kunst solle sich nicht mehr vom „Pri-
Buch „Sieben Nächte“, das vor einem hal- und erbarmungslos wurden Kommunisten, mat der Moralpolitik“ einschüchtern las-
ben Jahr erschien, viel Aufsehen erregte Anarchisten und solche, die dafür gehalten sen. Sie solle sich wieder die Freiheit neh-
und auch von mir hier im SPIEGEL sehr wurden, in großer Zahl von Soldaten der men, „Gegenwirklichkeiten zu erschaffen,
positiv besprochen wurde. Es ist ein Buch rechten Freikorps ermordet. Traumbilder“. Er plädierte dafür, „sich ver-
voller Pathos, Streitlust, hemmungsloser Ein Mitglied dieser Freikorps war der dächtig zu machen bei den Verächtern des
Liebe zu alten Dichtern. „Einstweh“ steht deutschnationale, jüdische Historiker Ernst Unpolitischen“.
darin. Vergangenheitssehnsucht ist der Strauß schließt hier, sicher nicht unbe-
Grundton. „Der einzige Kampf, der jetzt wusst, in Wortwahl und Programm an das
noch lohnt, ist der ums Gefühl“, schreibt er. berüchtigte antidemokratische Werk „Be-
Simon Strauß ist ein deutscher Roman- trachtungen eines Unpolitischen“ von Tho-
tiker. Angetrieben von Ehrgeiz, Neugier, mas Mann an, das direkt nach dem Ersten
Lust am Schreiben, Lust am Theater. Wer Weltkrieg erschienen ist. Deutsche Kunst
ihm begegnet, ist mitgerissen von seinem sei von Natur aus unpolitisch, die Tugend-
Elan, seiner Begeisterung für die Künste. demokratie der Franzosen ein undeutscher
Auf Streit hat er immer gehofft. Den hat Humbug. Jener unpolitische Betrachter
er jetzt. schrieb, als die Freikorps im Mai 1919 in
Strauß wurde seit Erscheinen seines Bu- München einzogen, in sein Tagebuch:
ches mehrfach eine gewisse gedankliche „Eine Welt, die noch Selbsterhaltungsin-
Nähe zur Neuen Rechten nachgesagt. Vor stinkt besitzt, muss mit aller aufbietbarer
ein paar Tagen besonders scharf in einem Energie und standrechtlicher Kürze gegen
Artikel in der „taz“. Dass in dem von diesen Menschenschlag vorgehen.“
Strauß initiierten „Jungen Salon“ in Berlin Der Schriftsteller Robert Menasse hat
einmal auch der rechte Verleger Götz vor einer Woche im SPIEGEL-Gespräch ge-
Kubitschek eingeladen wurde, ist einer der sagt: „Wir brauchen das Träumerische wie-
Hauptvorwürfe des „taz“-Autors. Mir der!“ Und hinzugefügt: „Das aber erfah-
wirft er vor, dies in meinem Text nicht er- rungsgesättigt ist.“
wähnt zu haben. Stimmt. Habe ich nicht. Das ist schon wesentlich. Wir sind nicht
STEFFEN JAENICKE / DER SPIEGEL

In diesen Salon waren auch Linke und frei in unseren Träumen. Es gibt alte Wege,
Menschenrechtsaktivisten, Feuilleton-Re- die in die Irre gegangen sind. Ich glaube
dakteure und Lyriker eingeladen. Strauß nicht, dass wir uns heute ungebrochen auf
will sich auseinandersetzen, will streiten, den Thomas Mann der „Betrachtungen
mit offenem Visier. Mit Rechten reden und eines Unpolitischen“ nachfolgend beziehen
mit Linken. können. Er hat das selbst nicht getan, son-
Und doch ist Simon Strauß nicht völlig dern seine Haltung entschieden verändert.
unschuldig daran, dass manche ihn für einen Autor Strauß Es hat ihn einige Mühen gekostet zu er-
Neurechten und AfD-Sympathisanten hal- Aufbruchslust kennen, dass Künstler zu sein auch Ver-
ten. Wenn er in einer Reportage im Magazin antwortung bedeutet. Politische Klugheit.
der „Frankfurter Allegemeinen“ schreibt, Kantorowicz. Er, nicht einer der Träumer Rationalität. Drei Jahre nach seiner Freude
dass die AfD so stark wurde, „weil keine an der Macht, ist einer der zentralen Hel- über die Erschießungen der Träumer von
andere Partei sich dazu aufraffen konnte, den für Simon Strauß. Es scheint nicht München, rief er auf einem Podium aus:
die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin ganz sicher, dass Kantorowicz als Mitglied „Die sogenannte Freiheit ist kein Spaß und
vernünftig zu kritisieren“, dann weiß ein so der mordenden Banden damals wirklich Vergnügen, nicht das ist es, was ich be-
wortgewandter Mann wie Strauß, dass man in München dabei war. Aber Simon Strauß haupte. Ihr anderer Name lautet: Verant-
diesen Satz auch so lesen kann, dass die hat über ihn in der „FAZ“ geschrieben: wortlichkeit.“
AfD die einzige Partei ist, die Merkels „In München verliebte er sich in eine ver- Thomas Mann ist in der bedrohten Wei-
Flüchtlingspolitik „vernünftig“ kritisiert. heiratete Frau und schoss gemeinsam mit marer Republik unter dem Druck der Ver-
Die Texte von Simon Strauß sind von späteren NSDAP-Mitgliedern auf Kommu- hältnisse zum Verantwortungsromantiker
einem starken Willen geprägt. Aber was nisten. Der eigentliche Weg führte ihn geworden. Fortschreiber einer politisch wa-
will er? Sind die, die unter dem changie- nach Heidelberg, wo Friedrich Gundolf chen, demokratischen, rationalen Roman-
renden Mäntelchen der straußschen Wort- lehrte.“ tik. Es gibt keine unpolitische Kunst. Träu-
wolken den radikalen Rechten nicht erken- Was für ein lässiges Nebenher des me werden frühestens nach dem Erwachen
nen, blind und naiv? Konstatierens der Schüsse auf die Träumer wahr. Wir dürfen sie, müssen sie, mit Rea-
Der deutsche Romantiker Simon Strauß von damals, gefolgt vom „eigentlichen lismus, Erfahrungen, Klugheit ergänzen.
ähnelt in Sprache, Pathos, Aufbruchslust, Weg“. In die Welt des Geistes. Nach Hei- Volker Weidermann

DER SPIEGEL 3 / 2018 121

 Kultur

Am Abgrund
Literaturkritik Kurz vor dem Tod Aharon
Appelfelds ist dessen letzter Roman „Meine
Eltern“ erschienen, ein Abschiedsgruß.
der alte Herr stand gerade auf einer Leiter und pflückte
Orangen.
Auf den ersten Seiten von „Meine Eltern“ erklärt Appel-
feld sein schriftstellerisches Verfahren: „Ich schreibe keine
Erinnerungsliteratur“, beteuert er, so etwas wäre ein „anti-
künstlerischer Ansatz“. Was er damals erlebt habe, sei al-
lenfalls „der Boden, aus dem mein Schreiben erwächst“.
Appelfeld verwebt tatsächlich Realität und Fiktion zu einer
unentwirrbaren Textur, zu einem poetischen Text, der Er-
innerungsfetzen fortwährend verfremdet und anreichert.
Jetzt, nach Appelfelds Tod, wirkt „Meine Eltern“ wie
ein wehmütiger Abschiedsgruß; erzählt wird aus der
Perspektive des Sohnes, der auch im Roman Erwin heißt.

W
enn die Weltgeschichte einen glücklicheren Ver-
lauf genommen hätte, dann wäre Erwin Appel-
feld auch als Erwin Appelfeld gestorben. Aller-
dings nicht in Israel, am 4. Januar dieses Jahres, sondern
vielleicht irgendwo im Osten Europas – etwa da, wo er
am 16. Februar 1932 geboren wurde, in Stara Schadowa,
einer kleinen Stadt in der Nähe des damals rumänischen
und heute ukrainischen Czernowitz.
Doch aus dem jüdischen Jungen mit dem deutschen
Namen Erwin war längst Aharon geworden, Aharon Ap-
pelfeld, jener israelische Schriftsteller, der nach Krieg und
Holocaust mit seiner Herkunft brechen musste – so ver-
langte es das zionistische Credo des neuen Judenstaats.
Dieser Name war freilich nur ein Etikett. Bis zu seinem
Tod beschäftigte ihn nichts so sehr
wie seine Jugend in der Bukowina.
Aharon Appelfeld, so schrieb 1988
sein Freund und Kollege Philip Roth,
sei ein „displaced writer“, der „dis-
placed fiction“ produziere, ein aus
seiner Heimat vertriebener Schrift-
steller, der eine aus ihrer Heimat ver-
triebene Literatur schreibe.
Der Junge fährt mit der Familie 1938 in die Ferien, in ein
Sommerhaus am Fluss Pruth. Erwin ist zehn Jahre alt und
damit vier Jahre älter, als es Appelfeld damals war. Auf-
merksam verfolgt er die kleinen Dramen in der nur von
jüdischen Touristen besuchten Ferienkolonie.
Appelfeld schildert eine Szenerie am Abgrund, Men-
schen, die die herannahende Katastrophe spüren und ein
letztes Mal unbeschwert Urlaub machen wollen. Man geht
schwimmen und wandern, man liebt, betrügt und streitet
sich. Man redet über die Gefahr eines Krieges und wird,
so ganz nebenbei, zum Opfer eines „winzigen Pogroms“,
wie es ein jüdischer Feriengast danach beschwichtigend
sagt. Eine betrunkene Horde rumänischer Bauern hat meh-
rere Urlauber überfallen und heftig verprügelt.
Erwins Eltern kommentieren das
Geschehen aus der Distanz. Mal flüs-
tern sie, damit Erwin nicht hört, dass
sie eine Emigration erwägen, mal
spottet der Vater über die freizügige
Bademode der Frauen. Vor allem
aber unterwirft er Erwin einem poli-
tisch motivierten Fitnessprogramm.
Sein Sohn wird in der Schule von
LEEMAGE / IMAGO

In der Tat spielen fast alle Romane einem antisemitischen Mitschüler

Appelfelds in der untergegangenen drangsaliert, nun soll er sich endlich
Welt des jüdischen Osteuropas. Und wehren können. Das Training hat Er-
im Zentrum dieser Bücher – zu den folg: Die erste Prügelei nach den Fe-
bekanntesten zählen „Blumen der rien geht unentschieden aus, stolz und
Finsternis“, „Die Eismine“ und „Al- mit blutender Nase kehrt Erwin heim.
les, was ich liebte“ – steht zumeist Der Roman endet mit einer mär-
seine eigene Geschichte und die sei- chenhaften Episode: Einer der Bade-
ner Familie. Dass nun sein letzter, so- gäste, ein beinamputierter Mann, stirbt
eben erst auf Deutsch veröffentlich- kurz nach der Rückkehr. Das Testa-
ter Roman den Titel „Meine Eltern“ ment offenbart, wie reich der Mann
trägt, erscheint dabei wie ein logi- war – und wie großzügig. Der „einbei-
scher Abschluss seines Werks. nige Mann“, wie er immer nur hieß,
Das Schicksal der Eltern war Ap- vermachte sein Vermögen armen jüdi-
pelfelds Trauma – eine schockieren- schen Mitbürgern. „Von nun an wird
de Erfahrung, die ihn quälte und zu- es keinen Juden in der Stadt geben,
gleich, im Prozess des Schreibens, der kein Dach über dem Kopf hat“,
produktiv machte. Seine Mutter war verkündet ein Redner bei der Beerdi-
von den Nazis vor dem Haus erschos- gung dem überraschten Publikum.
sen worden, während er, acht Jahre Den Rest verschweigt Appelfeld:
alt, mit Mumps das Bett hütete, er Wenig später dürfte der Krieg alles
hörte noch ihren letzten Schrei. Va- ausgelöscht haben, die Hinterlassen-
ter und Sohn überlebten das Pogrom, schaft des Einbeinigen ebenso wie
wurden aber im Arbeitslager ge- dessen jüdische Erben. Auch das
trennt. Erst Jahre später fand Appel- Schicksal der Eltern bleibt verborgen.
feld seinen Vater in Israel wieder, Die Familie verbringt noch möglichst
viel Zeit miteinander: „Das Gefühl,
PRIVAT

Aharon Appelfeld: „Meine Eltern“. Aus dem

dass alles, was war, niemals wieder-
Hebräischen von Mirjam Pressler. Rowohlt Berlin; Autor Appelfeld um 2012, als Kind um 1937 kehren würde“, notiert Erwin, „hielt
272 Seiten; 22,95 Euro. Politisch motiviertes Fitnessprogramm uns im Haus.“ Martin Doerry

122 DER SPIEGEL 3 / 2018

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DER SPIEGEL 3 / 2018 123
Großer kleiner General
Zum Tod des ehemaligen SPIEGEL-Chefredakteurs Johannes K. Engel (1927 bis 2018)
Von Franziska Augstein
A
ls „professionellsten Profi“ hat
Claus Jacobi seinen einstigen
Chefredakteurskollegen Johannes Zuneigung auch der journalistischen
K. Engel noch 1991 bezeichnet. Ende
der Sechzigerjahre standen die beiden
zusammen an der Redaktionsspitze des
SPIEGEL. 1991 arbeitete Jacobi lange
schon für die Springer-Presse; seiner
Hochachtung für Engel vom politisch
anderen Ufer tat das keinen Abbruch.
Jacobis tautologische Formulierung
„professionellster Profi“ macht munter:
Was war denn so besonders an Engel,
dessen Mittelinitial die auf Schabernack
erpichten Kollegen umgehend als
„Kukuruz“ dechiffriert hatten?
Engel, Jahrgang 1927, entstammte einer die Redakteure, zur Abwechslung zum
bürgerlichen Berliner Familie. Für den
Nazismus hatte man zu Hause nichts üb-
rig. Engel war zierlich und
fand sich zum Siegfried nicht
geeignet. Trotzdem – der
Überlebenswille junger Män-
ner führte zu heute paradox
anmutenden Entscheidungen
– meldete er sich 1944 freiwil-
lig zur Wehrmacht. Er hatte
wohl nicht damit gerechnet,
alsgleich in die Ardennen-
schlacht expediert zu werden,
bei der mehr als 17 000 deut-
sche und mehr als 19 000 Sol-
daten der Alliierten zu Tode
kamen.
Engel hatte Glück: Die
Amerikaner, in den Arden-
nen bis zum Äußersten ag-
gressiv-gespannt, begnügten
sich damit, ihn gefangen
zu nehmen. Weil er auf der
Schule fleißig Englisch ge-
lernt hatte, konnte er sich 1945 als Über-
setzer bei den Amis nützlich machen.
Seit Ende 1947 war er Redakteur beim
SPIEGEL – von 1950 an in der Zentrale
in Hannover, wo er für die Gebiete Per-
sonalien, Wissenschaft, Medizin, Film,
Kunst und Kultur allgemein zuständig
wurde. Als dann ein Arzt zur Redaktion
stieß, war Engel wirklich dankbar: Da
war nun endlich jemand, der wusste, wie zwei Wörter übrig geblieben, sie lauten:
viele Klappen genau ein Herz hat.
Auf Präzision kam es Engel nämlich an.
Und auf Planung. Das war es, was den
SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein
dazu bewog, ihn 1962 offiziell zum Chef-
redakteur zu machen.
Nichts gab es, was Engel nicht im Vo-
raus bedacht hätte. Er setzte auf Progno-
124 DER SPIEGEL 3 / 2018
sen, sei es in der Theorie oder in der Pra-
xis. Letzteres gewann ihm die brummige
Haudegen, die mit ihm auf Reisen waren.
Wenn der Herausgeber Augstein, zu
Gast in einem fremden Land, die Toilet-
te nicht fand, wer wusste, wo sie war?
Hans Engel. Wenn jemand nicht bloß
eine Toilette benötigte, sondern dazu
Klopapier: Engel hatte welches in petto.
So verschafft man sich Ansehen und ver-
mittelt zugleich, wo der Bartel den Most
holt. Auf Reisen war Engel die Mensch
gewordene Daseinsvorsorge. In der
Sowjetunion hatte er auch immer eine
Ladung Ölsardinenbüchsen dabei, damit
Saufen genötigt, eine solide Grundlage
hätten.
Chefredakteur Engel 1969: Brummige Zuneigung
Dem Redigieren hat er sich mit liebe-
voller Sorgfalt gewidmet. Ein SPIEGEL-
Gespräch mit dem damaligen VW-Chef
Heinz Nordhoff war gähnend langweilig.
Engel schrieb es um. Dann gab es ein
sagenhaftes Hin und Her, bis der VW-
Mann das Interview autorisiert hatte.
Dem Vernehmen nach sind von der
ursprünglichen Transkription am Ende
„Herr Nordhoff“.
Engel war ein exzellenter Menschen-
führer. Mit schlagkräftigen Argumenten
und feiner Ironie führte er seine Mann-
schaft. Dass der Chefredakteur Engel –
die Ardennenschlächterei hatte ihn mit-
genommen – sich oftmals wie ein kleiner
General vorkam, hat er nur selten offen-
bar werden lassen. Freilich, wie ein An-
führer in der Schlacht hat Engel zu sei-
nen Leuten immer gestanden, was diese
ihm hoch anrechneten.
Neben Klopapier und Ölsardinen wa-
ren es die Tonbänder, von denen das
Wohl und Wehe eines Interviews mit
sowjetischen Staatsführern abhing. 1983
waren fünf SPIEGEL-Redakteure bei dem
neuen sowjetischen KPdSU-Chef Jurij
Andropow eingeladen. Ad hoc hieß es,
drei dürften gleich ihren Hut nehmen.
Engel wurde unwirsch: Dann wolle auch
er nicht mit Andropow reden. Blieben
damals also übrig: Rudolf Augstein und
der Fotograf Jupp Darchinger. Darchin-
ger konnte mit seinem Fotoapparat
umgehen, nicht aber mit einem Kasset-
tenrekorder. Augstein konnte weder
mit einem Fotoapparat noch
mit einem Tonbandgerät
umgehen.
Es kam, wie es kommen
musste: Mit dem nach kurzer
Frist nötigen Umdrehen der
Tonbandkassette waren der
berühmte Fotograf und der
Herausgeber des SPIEGEL
überfordert. Um die Blamage
abzuwenden, kratzte Engel
alle Kräfte zusammen, und
Augstein zapfte sein Ge-
dächtnis an. Mit dem größ-
tenteils erfundenen Inter-
view, das schließlich erschien,
war auch der General-
sekretär des Zentralkomitees
KAI GREISER
der KPdSU zufrieden. Das
konnte, so war Hans Engel.
40 Jahre lang hat Engel
beim SPIEGEL gedient, da-
von ein Vierteljahrhundert lang bis 1987
als Chefredakteur. Wen immer man fragt,
alle sagen: Er sei der beste Chefredak-
teur gewesen, unter dem sie je gearbeitet
hätten. Seine Loyalität galt allen, die für
den SPIEGEL wirkten. Und diese Hal-
tung färbte ab. Dass sämtliche Beschäf-
tigte zum SPIEGEL hielten, als einige
Politiker das Blatt während der soge-
nannten SPIEGEL-Affäre 1962 aus dem
Weg räumen wollten, war auch Engels
Verdienst.
Er, der gern und komisch erzählte, hat
seine Erinnerungen nicht veröffentlicht.
Das wäre ihm schäbig vorgekommen.
Am 4. Januar ist Johannes Karl Friedrich
Engel im Alter von 90 Jahren in Ham-
burg gestorben.
 Nachrufe
PHILIPP JENNINGER, 85 det. Sie wurde in kurzer Zeit
Keine 38 Minuten dauerte die zum Symbol einer unabhängi-
Rede, die sein politisches Aus gen Friedensbewegung in der
bedeutete. Der amtierende DDR. Wer einen entsprechen-
Bundestagspräsident Philipp den Aufnäher trug, musste mit
Jenninger sprach 1988 zum 50. Repressalien rechnen, was für
Jahrestag der Reichspogrom- die DDR-Führung wiederum
nacht – und löste eine Welle peinlich wurde, denn die Gra-
der Empörung aus. Er hatte er- fik war ein Zitat: Der sowjeti-
klären wollen, wie deutsche sche Bildhauer Jewgenij Wut-
Mitläufer den Nationalsozialis- schetitsch hatte die Skulptur

UNITED ARCHIVES / IMAGO

mus seinerzeit entschuldigten; eines Schmiedes geschaffen,
er benutzte Zitate, ohne diese Ende der Fünfzigerjahre ging
kenntlich zu machen. Er sie als Geschenk der Sojwet-
sprach vom „Triumphzug Hit- union an die Uno. Sander ge-
lers“, von „staunenerregenden noss als freischaffender Künst-
Erfolgen“. „Und was die Ju- ler eher still die unerwartet
FRANCE GALL, 70 den anging: Hatten sie sich große Wirkung. 2014 wurde er
Hätte sie um die Anzüglichkeit der Texte gewusst, dann nicht in der Vergangenheit für sein Engagement mit dem
hätte sie die Lieder wohl nie gesungen. Das zumindest sag- doch eine Rolle angemaßt – so Verdienstorden des Landes
te France Gall Jahre später über Hits wie „Les Sucettes“ Brandenburg ausgezeichnet.
(„Die Lollis“), ein Song, der ihr von Serge Gainsbourg ge- Herbert Sander starb am 4. Ja-
schrieben wurde und sie in den Sechzigerjahren zum Star nuar in Potsdam. stb
machte. Gerade ihr naiver Charme verhalf ihr zum Erfolg.
Mit 17 Jahren trat Gall für Luxemburg beim Grand Prix HANS WERNER KETTENBACH, 89
Eurovision an. Etwas schüchtern sang sie „Poupée de cire, Die Frage, warum Menschen
poupée de son“ – und gewann den Wettbewerb. Weitere handeln, wie sie handeln,
Hits folgten, darunter auch einige mit deutschen Texten trieb ihn ein Leben lang um,

DIETER BAUER / IMAGO

(„Ein bißchen Goethe, ein bißchen Bonaparte“). In der als Journalist und als Schrift-
Ehe mit Sänger und Komponist Michel Berger schaffte sie steller. Der Kölner Hans Wer-
es, sich vom Klein-Mädchen-Image zu befreien. Die von ner Kettenbach studierte Phi-
ihrem Mann komponierte Hommage an Ella Fitzgerald losophie und Geschichte und
„Ella elle l’a“ verschaffte ihr 1987 ein viel respektiertes begann seine Karriere als Re-
Comeback. Ihr Privatleben verlief danach tragisch: Über- dakteur für den „Kölner Stadt-
raschend starb ihr Mann im Alter von 44 Jahren an einem hieß es damals –, die ihnen Anzeiger“. Später war er Vor-
Herzinfarkt. 1997 verstarb auch die gemeinsame Tochter, nicht zukam?“, fragte er. sitzender der Bundespresse-
die an einer Stoffwechselerkrankung gelitten hatte. France Schon während seines Bei- konferenz in Bonn, arbeitete
Gall zog sich zurück, lebte zeitweise im Senegal und enga- trags verließen Abgeordnete als Korrespondent in New
gierte sich für soziale Projekte. Vor zwei Jahren erkrankte den Plenarsaal. Jenninger trat York und von 1988 bis 1992 als
sie an Brustkrebs, es war ein Rückfall. France Gall starb am folgenden Tag als Parla- stellvertretender Chefredak-
am 7. Januar in Neuilly-sur-Seine bei Paris. red mentspräsident zurück. Im teur seines Heimatblatts. Als
Nachhinein erfuhr seine Rede er dort aufhörte, war er be-
als „missglücktes Gedenken“ reits ein gefeierter Krimiautor;
TATSURO TOYODA, 88 ein milderes Urteil. Der Sohn sein Debüt „Grand mit Vie-
Er war der Mann für Amerika. eines Buchdruckmeisters saß ren“ (1977) spielte im Bonner
THE ASAHI SHIMBUN / GETTY IMAGES

Tatsuro Toyoda, der Sohn des ab 1969 für die CDU im Bun- Politmilieu und erhielt den
Gründers des japanischen Auto- destag. Er hatte als Staatsmi- Jerry-Cotton-Preis. Von sei-
bauers Toyota, hatte in den Fünf- nister im Kanzleramt gedient nen 14 Büchern wurden man-
zigerjahren in New York studiert; und war parlamentarischer che verfilmt („Minnie oder
schon damals war er im Unter- Geschäftsführer seiner Frak- Ein Fall von Geringfügigkeit“);
nehmen beschäftigt. Als es An- tion, ein enger Vertrauter von
fang der Achtzigerjahre darum Helmut Kohl. Seine Verdiens-
ging, den Konzern international te werden nun mit einem
zu positionieren, verbündete sich Toyoda – bis dahin un- Staatstrauerakt gewürdigt.
vorstellbar – mit dem US-Rivalen General Motors. Die ge- Philipp Jenninger starb am
DIETER BAUER / IMAGO

meinsame Firma Nummi produzierte fortan im kalifoni- 4. Januar in Stuttgart. abe

schen Fremont. Toyoda wurde ihr erster Chef, seine Arbei-
ter schickte er zur Fortbildung nach Japan. 1992 folgte HERBERT SANDER, 79
Toyoda, der auch in Afrika und Australien für Toyota tätig Der Aufdruck für ein Lesezei-
war, seinem älteren Bruder Shoichiro an die Spitze des chen sicherte dem Grafiker
Familienkonzerns. Drei Jahre später gab er den Posten aus einen Platz im Geschichts-
gesundheitlichen Gründen ab und arbeitete fortan als Bera- buch. Denn Herbert Sanders, aus seiner Feder stammen
ter. Dass die Marke Toyota sich anders als die Familie mit im thüringischen Nordhausen mehrere Fernsehdrehbücher.
„t“ schreibt, liegt am Aberglauben des Firmengründers: In geboren, schuf im Jahr 1980 Schreiben sei für ihn „nahezu
japanischer Schrift hat der Name dadurch acht Striche – eine kleine Grafik, die einen eine Erholung“, sagte er ein-
die Zahl acht gilt als Glückszahl. Tatsuro Toyoda starb am Mann zeigt, der ein Schwert mal. Hans Werner Kettenbach
30. Dezember. akü zu einer Pflugschar umschmie- starb am 5. Januar in Köln. ks
DER SPIEGEL 3 / 2018 125
 Ewiges Leben
Der französische Schrift-
steller und ehemalige Werbe-
texter Frédéric Beigbeder, 52,
posiert in weißem Sakko auf
dem Cover des Kulturmaga-
zins „Technikart“ – und sieht
dabei ganz schön alt aus:
Per Computer ließ er sein Ge-
sicht verfremden, um sein
neues Buch zu präsentieren.
„Une vie sans fin“ (etwa:
„Ein endloses Leben“) ist wie
andere seiner Romane
(„39,90“, „Windows on the
Word“) autobiografisch.
Gleichzeitig liefert Beigbeder
eine ausführliche Recherche
über Tod, Unsterblichkeit
und Fortschritte der Medizin.
Der Autor, bekannt für sei-
nen ausschweifenden Lebens-
wandel, sprach mit Wissen-
schaftlern in Jerusalem und
Genf. Er unterzog sich einer
Entgiftungskur und einer
Blutlasertherapie am Wör-
thersee in Österreich. Die
Fortschritte der Wissenschaft
zur ewigen Jugend seien be-
eindruckend, meint Beigbe-
der, der bald zum dritten Mal
Vater wird: „Hoffentlich

SEBASTIEN VINCENT / TECHNIKART

kann ich einmal sagen: Mit
99 Jahren geht das Leben erst
los!“ Ärgerlich fände er,
wenn er sterben würde, be-
vor eine wissenschaftliche
Entdeckung das für ihn er-
mögliche. pe

sie sich auf diese Rolle vorbe- Konkurrentin zu schwächen.

Aschenputtel on Ice
Als im Winter 1994 öffentlich
wurde, dass die Eiskunstläu-
ferin Tonya Harding in einen
Anschlag auf ihre Konkur-
rentin Nancy Kerrigan ver-
wickelt war, nannten die Me-
dien sie „Eishexe“. Im Film
„I, Tonya“, der am 22. März
in die deutschen Kinos
kommt, spielt die Australie-
rin Margot Robbie, 27, den eins-
reitet, erzählte Robbie jetzt
dem amerikanischen „Rolling
Stone“. Sie habe zahllose
Filmdokumente gesichtet,
Schlittschuhlaufen gelernt
und sich mit Harding getrof-
fen. Die Amerikanerin
stammte aus einfachen Ver-
hältnissen und wurde von ih-
rer Mutter zu einer Sportlerin
auf Weltniveau gedrillt. Ein
gedungener Schläger verletz-
DCM FILMVERLEIH
Harding bestreitet allerdings
bis heute, von den Anschlags-
plänen gewusst zu haben.
Der Film wirbt um Verständ-
nis für die heute 47-Jährige.
Harding sei von Kindesbei-
nen an mit Gewalt konfron-
tiert und zeitlebens gezwun-
gen gewesen, sich zu verteidi-
gen, sagt Robbie. Allerdings
zeigt sie auch das hässliche
Gesicht ihrer etwas einfälti-

tigen Schlittschuhstar als das te Kerrigan wenige Wochen gen Heldin. Der Film legt mit
trotzige und rotzige Aschen- vor den Olympischen Spielen scharfem Blick und bösem
puttel eines ziemlich elitären in Lillehammer mit einem Witz offen, wie Ehrgeiz einen
Sports. Sechs Monate habe Schlagstock am Bein, um die Menschen entstellen kann. lob

126 DER SPIEGEL 3 / 2018


Schön gewählt
Ach, Christian, viel wurde
schon gespottet über Deinen
Blick, Deine Haare, Dein
offenes Hemd und Deine Art,
Dich zu bewegen: jung, agil,
immer bereit. Kurz: ein
Versprechen. Früher picklig,
übergewichtig und Kuh-
krawatte, heute schlank und
sexy, Du verkörperst den
Doppelt smart
Wenn man von seinen Lands-
leuten Ehrfurcht vor der Na-
tionalhymne einfordert, dann
wäre es „like, really smart“,
den Text selbst zu beherr-
schen. Das kann US-Präsi-
dent Donald Trump, 71, nicht
von sich behaupten: Bei sei-
nem Auftritt vor einem Foot-
ballspiel vergangenen Mon-
tag in Atlanta hatte er deut-
lich mit Texthängern zu
kämpfen. Das belegt die Vi-
deoaufzeichnung ohne Zwei-
fel. Nur einige Stunden zuvor
hatte er vor Anhängern noch
einmal betont, wie wichtig
es sei, Fahne und Hymne zu
respektieren. Seit über einem
JOE RAEDLE / REUTERS
politischen Aufruf Deiner
Partei: Jeder kann es schaf-
fen! Auch Du! Was, ich? Ja,
ICH! Jetzt aber kannst Du
dem Spott gelassen entgegen-
treten, mit der harten Wäh-
rung der wissenschaftlichen
Beweisführung in der Hand,
denn ein emsiger Soziologe
der Universität Düsseldorf,
mit dem offiziellen Titel At-
traktivitätsforscher, hat ermit-
telt, dass ebendiese Attrakti-
vität tatsächlich und ganz fak-
tisch einen großen Einfluss
auf unsere Wahlentscheidung
hat. Schönheit rangiert damit
auf Platz zwei der Kriterien,
nur knapp hinter dem Be-
kanntheitsgrad. Und Du,
Christian Lindner, 39, führst die
Attraktivitätsliste an. Nur lei-
der ließen sich die Jamaika-
verhandler nicht von Deinem
Äußeren verzaubern, und so
werden wir wohl wieder
von Politikern regiert werden,
denen Kompetenz vor Kos-
metik geht. xvc
Jahr protestieren US-Sportler
gegen Rassismus, indem sie
während der Hymne nieder-
knien, statt im Stehen und
mit der Hand auf dem Her-
zen zu singen. Unterstützung
erfuhr der Präsident natürlich
von seinem ältesten Sohn
Donald Trump Jr., 40, der den
Vater zum Vorbild der Na-
tion erklärte: „So wird’s ge-
macht, Leute. Es ist nicht
schwer. Zeigt Respekt für un-
ser Land“, twitterte er kurz
nach dem Auftritt des Präsi-
denten – und sorgte so dafür,
dass das peinliche Video
noch schneller in den sozia-
len Netzwerken verbreitet
wurde, Hohn und Spott inklu-
sive. red
Personalien
KARSTEN THIELKER / DER SPIEGEL
Der Augenzeuge
„Ich hatte Gänsehaut“
Die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli schlägt vor, dass
Asylbewerber und grundsätzlich jeder, der in Deutschland
lebt, wenigstens einmal eine KZ-Gedenkstätte besuchen soll-
ten. Saher Blasini, 22, ist 2009 aus dem Irak nach Deutsch-
land geflohen. Er beschreibt, was er bei einem Besuch in
Auschwitz erlebte.
„Ich bin vor gut vier Jahren mit dem Berliner Verein ‚Stark
ohne Gewalt‘ nach Auschwitz gefahren, in meiner Gruppe
waren überwiegend türkisch- oder arabischstämmige Ju-
gendliche. Als man uns über die Gedenkstätte führte, hatte
ich die ganze Zeit Gänsehaut. Es hat mich im Herzen ge-
troffen, als wir die Haare, das Kinderspielzeug, die Asche
der ermordeten Menschen betrachtet haben. Wir haben
auch Öfen gesehen. Sie erinnerten mich daran, wie ich in
meiner kurdischen Heimat im Nordirak zum Bäcker gegan-
gen bin, dort gab es ähnliche Öfen. Wie schrecklich, dass
in den Öfen von Auschwitz Menschen verbrannt wurden!
Auf dem Gelände hat man uns vor jedem Gebäude er-
zählt, was dort passiert war. Ich habe mich gefühlt, als
hätte ich selbst dort als Häftling gelebt, das hat mich
nicht in Ruhe gelassen. Später habe ich ein Gedicht ge-
schrieben, um diese Erfahrung zu verarbeiten.
Im Irak hatte ich von Auschwitz und dem Holocaust
nie etwas erfahren. Da hatten wir nur von Hitler gehört.
Es hieß, dass er ein großer, mächtiger Mann war. Bei uns
ging es damals um andere Themen, zum Beispiel wie die
USA gegen den Irak Krieg geführt haben. Juden spielten
nur eine Rolle, wenn arabische Medien gezeigt haben,
wie Palästinenser von israelischen Soldaten angegriffen
und geschlagen wurden.
Der Besuch in Auschwitz hat mir eindringlich gezeigt,
wie wichtig Menschlichkeit ist. Es ist doch völlig egal, wel-
che Religion jemand hat. Ich finde, jeder Mensch muss
sich mit Auschwitz auseinandersetzen, egal ob er im Irak,
in Deutschland oder sonst wo aufgewachsen ist. Jeder Ju-
gendliche sollte an einem Besuchsprogramm teilnehmen.
Ob man aber jemanden dazu zwingen sollte, weiß ich
nicht. Auf jeden Fall darf es bei uns nie wieder passieren,
dass Menschen wegen ihrer Religion oder ihrer Behinde-
rung versklavt und umgebracht werden. Aufklärung ist ex-
trem wichtig. Vielleicht kann ich dazu selbst etwas bei-
tragen. Wenn ich meinen Schulabschluss nachgeholt habe,
möchte ich Erzieher werden.“ Aufgezeichnet von Frank Hornig
DER SPIEGEL 3 / 2018 127
 „Drei Geschlechter – aber nur
zwei Titelbilder?“
Uwe Fischbeck, Weiterstadt (Hessen)

Sie haben mich umgedreht
Nr. 2/2018 Männer, Frauen und alles andere –
Geschlechterrollen und Sexualität 2018
Eine gute Idee, uns zu diesem Thema mit
zwei unterschiedlichen Titelbildern zu
überraschen.
Uwe Tünnermann, Lemgo (NRW)
Will man allen Ernstes bei einer Frage, die
noch nicht einmal zwei Promille der Be-
völkerung überhaupt etwas angeht, so ein
Fass aufmachen und über mindestens eine
Generation hinweg Verwaltungsaufgaben
aufhört. Dafür zahlen wir einen hohen chem Outfit stets ihren Job verlieren, kann
Preis: Ein Junge wird nur dann diese Ein- ich also nicht bestätigen. Unisex-Toiletten
schränkung der Ausdrucksvielfalt seiner sind als Behindertentoiletten im Sinne von
Persönlichkeit akzeptieren, wenn alles Einzeltoiletten bereits vorhanden und wer-
Weibliche mit einer Abwertung belegt den von mir im Beruf und in der Öffent-
wird. Diese bekommen die erwachsen ge- lichkeit genutzt. Sinnvoll wäre eine zusätz-
wordenen, „wahren“ Prinzessinnen zu spü- liche Kennzeichnung als Unisex-Toiletten
ren: sei es durch geringeren Lohn für glei- (neben dem Rollstuhlfahrersymbol). Da-
che Arbeit oder sexuelle Übergriffe. Es durch ließe sich die durchaus wichtige Toi-
lettenfrage für die betroffenen Minderhei-
ten (Transvestiten, Transsexuelle, Interse-
xuelle) ohne relevante Kosten lösen.
Herr Frau Dr. Dirk Lydia Petersen, Hannover

HELENA LEA MANHARTSBERGER / DER SPIEGEL

in Angriff nehmen, die jedes vernünftige, Die Öffnung ist vernünftig
angemessene Maß sprengen?
Bernd Spiecker, Traitsching (Bayern)
Nr. 2/2018 Leitartikel: Was eine Große Koalition
leisten müsste
„Sehr geehrte Menschen!“ So werde ich Im Grunde ist das der erste vernünftige
wohl – nach ihrem fabelhaften Artikel – Artikel zum Thema Krankenversicherung,
meine Schreiben beginnen, da mir „Da- den ich bisher gelesen habe. Die Bürger-
men und Herren“ nunmehr völlig unpas- versicherung wäre der Niedergang des qua-
send erscheint. Das gab’s noch nie: dass litativ hochwertigen und im Vergleich zu
ich am Ende eines SPIEGEL-Beitrags na- „Mapa“ Volcano mit Kindern Mika und Nico anderen Ländern gut funktionierenden
hezu „umgedreht“ war, jedenfalls das gan- deutschen Gesundheitssystems. Aber auch
ze Genderthema jetzt wesentlich entspann- wird Zeit für eine zweite #MeToo-Bewe- dieses hat Schwachstellen, die verbessert
ter und mit viel mehr Verständnis sehe. gung: Auch ich habe meinem kleinen Jun- werden könnten und sollten. Das aber bitte
Toll! gen Puppenwagenschieben, Nagellack und ohne ein undurchdachtes Himmelfahrts-
Wolfgang Greß, Ludwigshafen Kleider erfolgreich madiggemacht: alles kommando wie die Bürgerversicherung.
unter der Würde eines „echten“ Jungen! Dr. Gregor Klett, Zahnarzt, Eisingen (Bayern)
Es gibt Menschen, die sich auch unter He- Andrea Behet, Göttingen
ranziehung der geschlechtsbestimmenden Die „erste Klasse“ für alle öffnen? Ist das
Merkmale biologisch keinem Geschlecht Na ja, bei einem Titelthema hätte ich schon naiv oder Hohn? Wahrscheinlich werden
zuordnen lassen. Daher ist es unzweifel- etwas mehr erwartet als die Rosa-Blau- Füße kalt, weil der Kapitalismus, der unge-
haft richtig, dass es im deutschen Perso- und Barbie-Bagger-Diskussion, um es et- zügelte, die privaten Kassen überfallen hat
nenstandsrecht künftig mehr als zwei Ge- was zugespitzt zu formulieren. Dass die und ihre Kunden unverschämt schröpft. Erst
schlechter geben wird. Jedoch ist die selbst- „bipolare“ Welt neu verhandelt werden fügt er sich zum Schein dem Wettbewerb,
beweihräuchernde Art und Weise, mit der muss, ist im Beitrag für mich nicht deutlich und dann verzerrt er ihn systematisch.
sich die deutsche Gesellschaft seit dieser geworden. Susanne Rüttgers-Schmidt, Berlin
Entscheidung ob ihrer Aufgeschlossenheit Dr. Eberhard Ulm, Borna (Sachsen)
und Modernität selbst auf die Schulter Sie werfen alle Menschen einer Berufs-
klopft, unangebracht. Denn diese Entschei- „Männer, Frauen und alles andere“: Wer gruppe in einen Topf. In unserer Praxis
dung war bedauerlicherweise nicht das Er- nicht den Geschlechtern Mann oder Frau wird wie in vielen anderen Praxen auch
gebnis eines Impulses aus der Mitte der angehört, wird kurzerhand versachlicht. niemand bei der Terminanfrage nach sei-
Gesellschaft, der durch das Parlament – Das Titelblatt proklamiert einen Sprach- ner Versicherung gefragt. Demzufolge müs-
also auf politischem Weg – erfolgte. Viel- gebrauch, der die Akzeptanz des dritten sen alle Menschen, gleich wie sie versichert
mehr wurde sie der Politik vom Bundes- Geschlechts ins Lächerliche zieht. Was sind, auf einen Termin warten. Bei uns
verfassungsgericht als „Ersatzgesetzgeber“ umso bedauerlicher ist, wo doch der Arti- zählt allein die Dringlichkeit für eine ärzt-
oktroyiert. In Wahrheit ist die deutsche kel selbst eine wirkliche Auseinanderset- liche Behandlung.
Gesellschaft noch nicht so fortschrittlich zung anstrebt. Dabei könnte es so einfach Dr. Friedhelm Schmitten, Bestwig (NRW)
und liberal, wie sie sich selbst gerne sieht. sein: „Männer, Frauen und alle anderen“.
Michael Pfeiffer, Neuhausen auf den Fildern (Bad.-Württ.) Katrin Reiling, Autorin und Texterin, Potsdam Was würde durch den Vorschlag des Leit-
artikels besser? Die Anteilseigner der pri-
Vielen Dank für die überfällige Kritik an Als offen lebender Transvestit mit einem vaten Krankenversicherungen könnten
Gendermarketing und einer Elterngenera- seriösen weiblichen Erscheinungsbild im ihre Gewinne erhöhen. Mehr Versicherte
tion, die den kleinen Unterschied groß fei- Privat- und Berufsleben habe ich bisher würden im Alter in existenzielle Not gera-
ert. Kein leichtes Los für unsere Prinzes- keine Diskriminierung bei der Berufsaus- ten. Solange die private Krankenversiche-
sinnen und Prinzen; zumal der Spaß mit übung als MedizinerIn in einer staatlichen rung (PKV) nicht auch die Familie mitver-
den Rollen nach wie vor spätestens beim Einrichtung erlebt. Ihre generalisierende sichert, ist die gesetzliche (GKV) nicht kon-
Hodenbesitzer, der die Prinzessin spielt, Behauptung, dass Transvestiten in weibli- kurrenzfähig. Der privilegierte Zugang
128 DER SPIEGEL 3 / 2018
 Briefe

zum Gesundheitssystem bleibt erhalten, auf, dass das konturlose Wischiwaschi auf-
ebenso die höhere Vergütung der Ärzte. hört und Deutschland künftig außenpoli-
Die Folge des Vorschlags: Junge, unverhei- tisch endlich mehr Rückgrat zeigt.
ratete Menschen wären dann in der PKV, Karl-Heinz Schröder, Hamburg
verheiratete, kranke und alte Menschen in

NELE MARTENSEN / DER SPIEGEL

der GKV versichert. Nein, der Vorschlag „Europa muss seine Werte vertreten.“ Das
privilegiert die Privilegierten und sorgt für klingt natürlich gut. Aber kann Europa das
noch mehr Ungleichheit im Gesundheits- überhaupt noch? Und weiter: Welches
system. Als jemand, der vor über 30 Jah- Europa und welche Werte? Es ist verständ-
ren in die PKV wechselte und heute teuer lich, dass aktuell nicht gerne von der euro-
dafür bezahlen muss, kann ich nur davor päischen Staatengemeinschaft gesprochen
warnen, dieses System fortzusetzen. wird. Europa ist bekanntlich weder geogra- Teddy des verstorbenen Pflegebruders
Dieter Faulenbach da Costa, Offenbach am Main fisch noch politisch identisch mit der EU,
und der fehlt es schon zu lange an einer brauch durch Kentlers Schüler geschwie-
Mit diesem Leitartikel hat der SPIEGEL ein wirksamen Strategie, um Zusammenarbeit gen? Aktuelle sexualpädagogische Stan-
sehr gutes Kompromisspapier für die Gro- und Sicherheit für alle europäischen Staaten dardwerke beziehen sich ausdrücklich und
Ko-Verhandlungen ausgearbeitet. Statt einer gestalten zu können. Hinzu kommt, dass ohne kritische Distanz auf Kentler als maß-
Bürgerversicherung ist die Öffnung aller Kas- innerhalb der EU eine Art Wiederauferste- geblichen „Wissenschaftler“ und Nestor
sen für alle Bürger viel vernünftiger, da Wett- hung der „Habsburger Monarchie“ zu er- der emanzipatorischen Sexualpädagogik.
bewerb unter den gesetzlichen und privaten kennen ist, nachdem sich Österreichs neuer Kentlers Thesen und pädagogische Ideen
Kassen das Geschäft belebt. Die Honorie- Kanzler mit Tschechien, Polen, Ungarn und finden sich in großer Übereinstimmung
rung muss für gleiche ärztliche Basisleistun- der Slowakischen Republik „solidarisiert“ in den aktuellen Konzepten einer sexual-
gen aber endlich gleich hoch sein. Alle Kas- hat. Eine Art Beistandspakt, der bereit zu freundlichen Erziehung ab dem Kindergar-
sen, auch die privaten, müssen sich am Ge- sein scheint, nach eigenen Regeln zu agieren, ten wieder.
sundheitsfonds beteiligen. Damit die Kosten und durch einen rechten Nationalismus ge- Dipl.-Psych. Tabea Freitag, Autorin, Haste (Nieders.)
nicht aus dem Ruder laufen, sollten alle Kas- eint wird, der längst auch die Bundesrepu-
sen die evidenzbasierte Basismedizin kom- blik erreicht hat. Was die europäischen Wer- Schrott auf der Straße
plett und in gleicher Höhe übernehmen, das te betrifft, so befindet sich „Europa“ in dem
schafft Gerechtigkeit. Beamtensubventionen wohl am tiefsten greifenden Wertekonflikt Nr. 1/2018 Braucht Berlin private Müllfahnder?
sollten stufenweise abgeschafft werden. seiner Geschichte nach 1990. Warum steht in Berlin der Sperrmüll auf
Prof. Dr. Johannes Jörg, Mönchengladbach Wieland Becker, Berlin der Straße? Weil es anders als anderswo
in der Republik keine kostenlose Sperr-
Welches Europa, Eine exzellentes Stück, das sowohl den Ist- müllabfuhr zweimal im Jahr gibt. Der Ab-
zustand Deutschlands als auch die nahe transport eines Sofas kostet 100 Euro. So-
welche Werte? Zukunft unseres Landes in der EU treffend lange das so ist, braucht man keinen
Nr. 1/2018 Deutschland muss lernen, Verantwortung beschreibt, und das in einer Form, die als „waste watcher“, sondern nur gesunden
zu übernehmen Memorandum, als Agenda in jeder Partei- Menschenverstand, um etwas zu ändern.
Dieser Essay zur deutschen Außenpolitik zentrale einen Platz haben sollte! Sabine Lennartz, Berlin
im Zeichen des Abschieds der USA als Alfred Ketterl, Fürth
Führungsmacht verdient Anerkennung. Ih- Auch ich lebe in Berlin-Neukölln, bin je-
rer Autorin Christiane Hoffmann sind eini- Leid, das ganze Leben lang doch aufgewachsen in einem Dorf in
ge analytische Punktlandungen gelungen. Rheinland-Pfalz. Dort gibt es regelmäßige
Vor allen Dingen die unideologische Be- Nr. 1/2018 Wie zwei Pflegekinder in Berlin offenbar „Sperrmülltermine“, bei denen die kom-
Opfer staatlich organisierten Missbrauchs wurden
trachtungsweise – nicht gerade SPIEGEL- munale Abfallentsorgung den von den Bür-
Den Artikel über den sauberen Herrn gern vor die Haustür gestellten Müll ent-
Kentler und die Berliner Behörden kann fernt. In Berlin sind die Bürger im Gegen-
man fast nicht zu Ende lesen. Der „Pflege- satz dazu verpflichtet, ihren Sperrmüll
vater“ in dieser Geschichte hat etwa drei- selbstständig zum nächstgelegenen Wert-
ßig Jahre lang mit Billigung der Behörden stoffhof zu bringen! Gerade in Neukölln
BARTH / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK

fünf Kinder sexuell missbraucht, Herr verfügt nur eine relativ geringe Zahl an
Kentler hat es mithilfe seiner praktischen Bürgern über einen Pkw oder auch nur
Studien zur Pädophilie bis zum Professor einen Führerschein. Wäre dies in dem Dorf
für Sozialpolitik gebracht, er hielt Vorträge meiner Herkunft verpflichtend, so lägen
vor Politikern und Kirchenoberen. Diese große Mengen Sperrmüll in den nahe ge-
Herren einschließlich ihrer Zuhörer inte- legenen Wäldern. Das Problem ist die Or-
ressieren sich überhaupt nicht für das Leid, ganisation der kommunalen Entsorgung.
welches die Kinder erfuhren und das sie Wo viele Menschen massenhaft beieinan-
Kontrahenten Merkel, Trump ihr ganzes Leben mit sich herumschleppen. derwohnen und dazu noch sehr wenige
Ich muss das jetzt mal sagen: Das Ganze Pkw, Stellplätze, Einkommen zur Verfü-
Alltag – hat mich voll überzeugt. Nur: Wo ist eine einzige Sauerei! gung stehen, da ist es klar, dass der Schrott
kriegen wir die Politiker her, die unserer Brigitte Hesse, Berlin auf den Straßen landet.
Außenpolitik zu mehr Profil verhelfen? Marc Stephan, Berlin
Merkel? Doch nicht wirklich. Gabriel? Zu- Gut, dass Betroffene des staatlich geneh-
mindest in Ansätzen hat er 2017 der deut- migten sexuellen Missbrauchs zu Wort Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
schen Außenpolitik zu Konturen verholfen. kommen und vergangenes Schweigen ge- (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
Es wäre nicht verkehrt, wenn dieser Mann brochen wird. Doch warum wird weiter sowie digital zu veröffentlichen und unter
im Amt bliebe. Ich gebe die Hoffnung nicht über aktuellen staatlich geförderten Miss- www.spiegel.de zu archivieren.
DER SPIEGEL 3 / 2018 129
Hohlspiegel
Aus der „Rheinpfalz“
Die Schauspielerin Uschi Glas in der
„Rhein-Neckar-Zeitung“: „Einfach
mal alle viere gerade sein lassen, das
konnte ich mir nicht leisten.“
Aus der „Neubrandenburger Zeitung“
Aus dem „Vaillant Heiztechniklexikon“:
„Gas-Wandheizgeräte, Gas-Etagenhei-
zung, Gastherme – diese Begriffe werden
oft synonym verwendet, bezeichnen
aber oftmals ein und dasselbe Gerät.“
Werbeplakat der „BZ“ an einem Kiosk
Aus der „Sindelfinger Zeitung“: „Nach
Rauchmeldungsalarm von der
Leitstelle um 7.55 Uhr rückte gestern
die Sindelfinger Feuerwehr mit mehreren
Einsatzfeuerzeugen in den Maichinger
Hanfäckerweg aus.“
Aus dem „Kölner Stadt-Anzeiger“:
„Und dann klingeln wieder überall die
Alarmlocken.“
Werbung vor einem Geldwechsel-
automaten in Potsdam
Aus der Zeitschrift „Funk Uhr“:
„Die Mörderin von Ninas Chefin soll
einen Menschen getötet haben.“
130 DER SPIEGEL 3 / 2018
Rückspiegel
JETZT IM HANDEL:
EDITION Zitate
ERFOLGREICH Die „Süddeutsche Zeitung“ über
Außenminister Sigmar Gabriel, der
VERHANDELN
seine Einlassungen zum Fall des
inhaftierten Journalisten Deniz Yücel
im SPIEGEL-Gespräch „Eine Welt
von Fleischfressern“ (Nr. 2/2018) für
falsch interpretiert hält:
Irritationen gab es über den künftigen
Umgang mit Rüstungsgeschäften. In
einem SPIEGEL-Interview hatte Gabriel
zuvor erklärt, die Türkei sei zwar ein
Partner in der Nato und im Kampf ge-
gen die Terrormiliz Islamischer Staat
(IS). Trotzdem habe die Bundesregie-
rung eine große Zahl von Rüstungs-
exporten zuletzt nicht genehmigt. „Da-
bei wird es auch bleiben, solange der
Fall Yücel nicht gelöst ist“, fügte er
hinzu. Gabriel widersprach aber der
Darstellung, wonach er die Wiederauf-
nahme von Rüstungsexporten von einer
Lösung des Falls Yücel abhängig ge-
macht habe. „Ich habe keinesfalls die
beiden Dinge miteinander verbunden“,
sagte er.
Die „Berliner Morgenpost“ erinnert
STRATEGIE sich anlässlich ihres 120-jährigen
Jubiläums an ein Motto des SPIEGEL-
Ein Leitfaden für die perfekte Gründers Rudolf Augstein:
Vorbereitung Auf Seite 7 der ersten Ausgabe skiz-
zierten die Journalisten ihr Projekt …
EMOTIONEN „Vor allem soll die Morgenpost
ihr Berlin schildern, Berlin, wie es
So nutzen Sie Gefühle zu Ihrem fühlt und denkt, wie es wacht und
träumt, wie es leidet und liebt, Berlin,
Vorteil wie es wirklich ist.“ Sagen, was ist:
Der häufig zitierte Satz des SPIEGEL-
Gründers Rudolf Augstein wurde
KARRIERE hier schon viele Jahrzehnte zuvor
mit Blick auf die Reichshauptstadt for-
Wie Sie im Job das Beste für muliert.
sich herausholen Der SPIEGEL berichtete …
… in „Die unmögliche Abschiebung“
(Nr. 51/2017 ) über Oussama B., einen
als gefährlich eingestuften Islamisten
aus Bremen:
Am vergangenen Mittwoch wurde der
! 37-jährige „Gefährder“ über den Flug-
hafen Frankfurt nach Algerien ausge-
Auch als digitale Ausgabe erhältlich: flogen. Um seine Abschiebung zu ver-
harvardbusinessmanager.de hindern, war B. über mehrere Instanzen
bis zum Bundesverfassungsgericht in
Karlsruhe gegangen. Erst nach einer
Initiative von Dieter Romann, dem Präsi-
denten der Bundespolizei, lieferte das
nordafrikanische Land die geforderten
schriftlichen Garantien, dass dem mehr-
fach vorbestraften Islamisten keine Fol-
ter drohe.
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