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Klausurenkurs - Anfänger

Fälle mit Lösungen für Anfänger im Bürgerlichen Recht • Band I: Grundlagen


von
Prof. Dr. Olaf Werner

Prof. Dr. Olaf Werner ist em. Professor an der Universität Jena.

12., neu bearbeitete Auflage

Fälle mit Lösungen für Anfänger im Bürgerlichen Recht • Band I: Grundlagen – Werner
schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

Thematische Gliederung:
Gesamtdarstellungen zum BGB, allgemeine Fragen zum Zivilrecht – Zivil- und Zivilverfahrensrecht allgemein –
Zivilrecht

Verlag Franz Vahlen München 2008

Verlag Franz Vahlen im Internet:


www.vahlen.de
ISBN 978 3 8006 4126 0

Inhaltsverzeichnis: Fälle mit Lösungen für Anfänger im Bürgerlichen Recht • Band I: Grundlagen – Werner
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6. Fall: Der verlorene Geldschein

Die fnfjhrige T bittet ihren Vater V, ihr eine bestimmte Puppe, die sie fr 10,– A im
Schaufenster eines Spielwarengeschftes des ihnen bekannten S gesehen hatte, zu kau-
fen. V verspricht, mit ihr in das Geschft zu gehen, um die Puppe zu erwerben. Als er
sein Versprechen wahr machen will, ist er in Zeitnot. Er gibt daher der T zwei
5,– A-Scheine und sagt, sie solle sich die Puppe selber besorgen. S kenne ihn ja und werde
ihr die Puppe geben.
T geht daraufhin in den Laden des S, sagt ihm, ihr Vater V habe ihr die in der Auslage
stehende bestimmte Puppe fr 10,– A kaufen wollen, sei aber verhindert und habe sie ge-
schickt, die Puppe zu kaufen. S bergibt der T die Puppe. Als diese dem S das Geld ber-
geben will, stellt sich heraus, daß sie einen 5,– A-Schein verloren hat. Sie bezahlt daher nur
5,– A. Den Restkaufpreis fordert S von V, der die Zahlung mit dem Hinweis verweigert,
seine Tochter solle lernen, aufzupassen. Aus erzieherischen Grnden solle T deshalb
auf die Puppe verzichten. S will die Puppe, da T schon damit gespielt hat, nicht zurck-
nehmen.
Hat S gegen V einen Anspruch auf Zahlung des Restkaufpreises in Hçhe von 5,– A ?

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6. Fall: Der verlorene Geldschein

Lçsung
I. Ein Anspruch des S gegen Vauf Zahlung des Restkaufpreises von 5,– A kann sich aus
§ 433 II BGB ergeben, sofern zwischen den Parteien ein Kaufvertrag zustande ge-
kommen ist, der die Verpflichtung des V enthlt, an S den Kaufpreis von 10,– A
fr die Puppe zu zahlen. Ein solcher Kaufvertrag kommt durch Angebot und An-
nahme seitens der Beteiligten zustande.
1. Das Angebot zum Abschluß eines Kaufvertrages liegt noch nicht in dem Ausstellen
der Puppe mit Preisbezeichnung im Schaufenster. Es handelt sich hierbei lediglich
um eine Aufforderung an den Betrachter, ein Kaufangebot abzugeben (invitatio ad
offerendum). S hat dem V somit noch keine Offerte i. S. des § 145 BGB gemacht.
a) V hat mit S persçnlich keinen geschftlichen Kontakt im Hinblick auf den Puppen-
kauf gehabt und dem S gegenber keinen Kaufwunsch geußert. Ein Kaufangebot
seinerseits kann dann nur durch die Tochter T erfolgt sein, denn diese hat dem S ge-
genber erklrt, die im Schaufenster ausgestellte Puppe fr 10,– A erwerben zu wol-
len. Diese Erklrung erfllt alle Voraussetzungen fr ein Kaufvertragsangebot, ent-
hlt Kaufgegenstand und Kaufpreis sowie den Rechtsbindungswillen, durch An-
nahme des Angebotes seitens des S einen Kaufvertrag und die darauf beruhende
Zahlungspflicht begrnden zu wollen.
aa) S verlangt Zahlung von V. Da das tatschliche Angebot zum Abschluß des Kaufver-
trages von T gettigt worden ist, fragt es sich, ob diese oder V Vertragspartner des S
werden, d. h. wen die Bindungswirkung des Vertragsangebotes treffen sollte.
T hat verdeutlicht, daß an sich ihr Vater selber zu S kommen und den Vertrag schlie-
ßen wollte, sie nun an seiner Stelle die Erklrung fr diesen abgebe. Erkennbar sollte
damit nicht T, sondern V Vertragspartner des S sein. Die Bindungswirkung des § 145
BGB sollte V, nicht T treffen. Letztere hat nicht erklrt, sie selber wolle den Vertrag
schließen, sondern ihr Vater. Sie hat nicht im eigenen Namen gehandelt. Daß S diese
Erklrung auch so verstanden hat und V, nicht die minderjhrige T fr seinen poten-
tiellen Vertragspartner hielt, ergibt sich aus dem Umstand, daß er sich nicht vor
bergabe der Puppe davon berzeugte, ob T in der Lage war, den Kaufpreis zu be-
gleichen. Ihm war V bekannt und vertrauenswrdig (kreditwrdig), ihn hielt er fr
seinen Vertragspartner. T hat somit die Offerte zum Abschluß eines Kaufvertrages
mit Bindungswirkung fr ihren Vater abgegeben. Diese Erklrung gilt also als
eine solche im Namen des V und fhrt zu seiner Verpflichtung aus einem Kaufver-
trag, wenn er sich die Erklrung der T als eigene zurechnen lassen muß.
bb) Die von einer anderen Person abgegebene Willenserklrung muß sich jemand als
eigene zurechnen lassen, wenn der tatschlich Erklrende als sein Bote oder Stell-
vertreter gehandelt hat, § 164 BGB. Gem. § 165 BGB kann Stellvertretung nicht
durch eine geschftsunfhige Person erfolgen, sondern allein durch einen voll-
oder beschrnkt Geschftsfhigen. T war als Fnfjhrige geschftsunfhig, § 104
Nr. 1 BGB. Htte sie als Stellvertreterin des V gehandelt, wre ihre Willenserklrung
unwirksam und kçnnte V nicht gem. § 164 BGB zugerechnet werden. Eine Offerte
des V zum Abschluß eines Kaufvertrages lge daher nur vor, wenn T als Botin
des V aufgetreten wre. Der Bote gibt ausschließlich eine fremde Erklrung weiter.
Dies ist ein Realakt, die Geschftsunfhigkeit des Boten steht einer wirksamen Wil-
lenserklrung nicht entgegen.

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6. Fall: Der verlorene Geldschein

Es ist daher zu prfen, ob T als Botin auftrat und ihre Erklrung dem V als eigene
zuzurechnen ist. Handelte sie als Stellvertreterin, liegt keine dem V zurechenbare
Vertragsofferte vor.
cc) Bote ist, wer eine fremde Erklrung berbringt, ohne selbst rechtsgeschftlich zu
handeln. Dagegen gibt der Stellvertreter eine eigene Willenserklrung im Namen
des Vertretenen ab. Typischerweise ist also dem Vertreter ein gewisses Maß an Ent-
scheidungsfreiheit ber das »Ob« und »Wie« des Geschftsabschlusses berlassen,
whrend der Bote keine Entschließungsfreiheit besitzt, er berbringt lediglich die
Erklrung eines anderen, ist dessen Sprachrohr. Vergleichbar dem berbringer
einer verkçrperten Willenserklrung berbringt der Bote eine nicht verkçrperte.
Fr einen Einfluß des Boten auf den Inhalt der Erklrung ist damit kein Raum.
V hat T das Geld mit der Weisung bergeben, eine bestimmte Puppe zum festgeleg-
ten Preis zu kaufen. T hatte insoweit keine Entschließungsfreiheit. Es ist allerdings
anerkannt und entspricht dem rechtsgeschftlichen Verkehr, daß auch einem Vertre-
ter bestimmte Weisungen ber den Inhalt des abzuschließenden Geschfts gegeben
werden kçnnen. In solchen Fllen ist die Abgrenzung zwischen Bote und Stellver-
treter schwierig. Entscheidend ist aber auf jeden Fall, daß der Stellvertreter eine –
wenn auch eng begrenzte – Mçglichkeit hat, bei der Gestaltung des Geschftes sei-
nen Willen zur Geltung zu bringen.
Eine Mindermeinung stellt auf das Innenverhltnis zwischen Geschftsherrn und
Hilfsperson ab. Es komme darauf an, wie letztere handeln sollte, ob ihr im Innenver-
hltnis Raum fr eigene Willensbildung verbleibe, dann Stellvertretung, falls nicht,
dann Botenstellung. Nach dieser Ansicht ist ein durch eine als Boten auftretende
Person abgeschlossenes Rechtsgeschft nach den Vorschriften der §§ 164 ff. BGB
zu beurteilen, wenn der Handelnde im Innenverhltnis als Vertreter ermchtigt
worden ist, obwohl dies dem Geschftsgegner (dem Dritten) nicht erkennbar war.
Das rechtsgeschftliche Handeln richtet sich aber an den Adressaten der von der
Hilfsperson abgegebenen Erklrung. Er muß wissen, wie er die Stellung der Hilfs-
person beurteilen und werten darf. Ein Grundelement der Rechtsordnung ist der
Verkehrsschutz und die Bewertung einer Willenserklrung aus der Sicht des Emp-
fngers. Dieser hat in das Innenverhltnis des Geschftsherrn zur Hilfsperson kei-
nen Einblick. Es ist vielmehr der Geschftsherr, der die Hilfsperson aussucht und
ihre Rechtsstellung bestimmt. Er muß daher auch dafr sorgen, daß die Hilfsperson
abredegemß im Außenverhltnis auftritt. Dies kann der Geschftsherr durch deren
sorgfltige Auswahl und berwachung beeinflussen. Stellvertretendes Handeln
setzt eine Wirkung nach außen voraus. Diese Wirkung kann damit als einzige Richt-
schnur fr die Rechtsstellung der Hilfsperson herangezogen werden. Es ist somit al-
lein auf das Auftreten der Hilfsperson gegenber dem Geschftsgegner, auf das Au-
ßenverhltnis, abzustellen, ob die Hilfsperson ußerlich eigene Entscheidungsfrei-
heit oder vçllige Gebundenheit gezeigt hat.
dd) S weiß, daß T die Tochter des V und geschftsunfhig ist und damit weder eine
eigene Erklrung abgeben kann noch selbstndige Entscheidungsfreiheit vom Vater
erhalten haben drfte. Bei Fnfjhrigen entscheiden die Eltern noch allein ber den
Ankauf von Spielsachen. Ein Kind wird in der Regel noch nicht fr fhig gehalten,
selbstndige Erklrungen abzugeben und den Inhalt eines Vertrages zu bestimmen.
Die Erklrung der T verdeutlicht zudem einen genauen Auftrag, eine bestimmte
Puppe fr 10,– A zu erwerben, ohne ber weitere Einzelheiten entscheiden zu dr-
fen. T hat dem S gesagt, daß V eigentlich selber zu ihm kommen und die Kauferkl-

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6. Fall: Der verlorene Geldschein

rung abgeben wollte. Diese Erklrung wre inhaltlich – ja fast wçrtlich – nicht an-
ders ausgefallen als die Erklrung der T. T stellt sich S daher lediglich als berbrin-
gerin der von V nicht selbst dem S gegenber ausgesprochenen Erklrung dar. Mit
der Wiedergabe des vterlichen Kaufwunsches verdeutlicht T vçllige Gebunden-
heit an den Auftrag des Vaters. Sie ist damit Botin und hat lediglich eine Erklrung
ihres Vaters berbracht. Ihre Geschftsunfhigkeit steht der Wirksamkeit der vom
Vater abgegebenen Kaufofferte somit nicht entgegen.
b) Das von T erklrte Kaufangebot ist ein solches des V. Er hat S gegenber wirksam
eine Offerte zum Abschluß eines Kaufvertrages i. S. der §§ 145, 433 BGB abgegeben.
2. Die Annahme der Vertragsofferte gegenber T als Empfangsbotin durch S liegt in
der bergabe der Puppe. Dieses Verhalten kann allein als Einverstndnis mit dem
Vertragsangebot des V gewertet werden, die Puppe fr 10,– A an diesen zu verkau-
fen.
3. Ergebnis: Mit der Annahmeerklrung des S ist zwischen ihm und Vein Kaufvertrag
zustande gekommen, der V zur Zahlung des vereinbarten Kaufpreises in Hçhe von
10,– A verpflichtet. Durch Zahlung der 5,– A ist dieser Anspruch des S gem. § 362 I
BGB teilweise erloschen. Es besteht ein Restanspruch von 5,– A gegen V gem. § 433 II
BGB.
II. Schadensersatzansprche des S bestehen nicht. Er hat einen Anspruch auf Ver-
tragserfllung, ihm ist somit kein Schaden entstanden, .
Zur Vertiefung: Beuthien Zur Theorie der Stellvertretung im Brgerlichen Recht, FS Me-
dicus, 1999, 1; Chiusi Geschftsfhigkeit im Recht der Stellvertretung, Jura 2005, 532; Gie-
sen-Hegermann Die Stellvertretung, Jura 1991, 357; Hoffmann Grundflle zum Recht der
Stellvertretung, JuS 1970, 179, 234, 286, 451, 570; Hueck Bote – Stellvertreter im Willen –
Stellvertreter in der Erklrung, AcP 142, 432; Lderitz Prinzipien des Vertretungsrechts,
JuS 1976, 765; Ostheim Probleme bei Vertretung durch Geschftsunfhige, AcP 169, 193;
Schmidt Offene Stellvertretung. Der »Offenkundigkeitsgrundsatz« als Teil der allgemei-
nen Rechtsgeschftslehre, JuS 1987, 425.

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