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Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Versicherungsrecht

und Internationales Privatrecht


Prof. Dr. Jan Lüttringhaus, LL.M. (Columbia),
Maître en droit
AG Grundkurs BGB I – WS 2023/2024

B. Auslegung von Willenserklärungen

Lösung Fall 7

Fraglich ist, ob zwischen M und V ein wirksamer Mietvertrag über die Obergeschoß-
wohnung gemäß § 535 BGB zustande gekommen ist.

I. Mietvertrag
Dies ist der Fall, wenn sich M und V über die Miete der Wohnung geeinigt haben. Ei-
ne Einigung besteht aus zwei sich entsprechenden Willenserklärungen, Angebot und
Annahme (§§ 145 ff. BGB).

1. Angebot

a. Angebot durch Zeitungsannonce


Ein Angebot ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, durch die ein Vertrags-
schluss einem anderen so angetragen wird, dass nur noch von dessen Einverständ-
nis das Zustandekommen des Vertrages abhängt. Bei der Zeitungsannonce handelt
es sich noch nicht um ein Angebot i.S.d. § 145 BGB. Aufgrund fehlenden Rechtsbin-
dungswillens des V handelt es sich dabei lediglich um eine sog. invitatio ad offeren-
dum.

b. Telefonisches Angebot des M


Indes könnte M ein Angebot abgegeben haben. M hat gegenüber V telefonisch er-
klärt, dass er die „Parterrewohnung“ mieten will. Dieses Verhalten des M stellt sich für
einen objektiven Betrachter in der Situation des V als die Äußerung eines Rechtsfol-
gewillens dar. Damit liegt der äußere Tatbestand einer Willenserklärung vor. Proble-
matisch ist jedoch der genaue Inhalt der Willenserklärung. Dieser ist durch Auslegung
gemäß §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Empfangsbedürftige Willenserklärungen sind
so auszulegen, wie sie der Empfänger nach Treu und Glauben unter Berücksichti-

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gung der Verkehrssitte verstehen muss. 1 Es ist also darauf abzustellen, wie ein objek-
tiver Dritter bei vernünftiger Beurteilung der ihm bekannten oder erkennbaren Um-
stände die vom Erklärenden gewählten Ausdrucksformen hätte verstehen können und
müssen.2

aa. Objektive Bedeutung


Für die Ermittlung der Erklärungsbedeutung kommt es vorrangig auf den allgemeinen
Sprachgebrauch an.3 In einigen Teilen Deutschlands versteht man unter Parterre das
Erdgeschoß, in anderen dagegen das darüber gelegene Geschoß. 4 Für das Gesamt-
gebiet Deutschland gibt es damit keine einheitlich verwendete Bedeutung für den Be-
griff „ Parterre“. Das Abstellen auf den allgemeinen Sprachgebrauch führt daher zu
keinem Ergebnis.

Anmerkung
Würde allein auf den objektiven Empfängerhorizont abgestellt, so wäre das Ergebnis,
dass der Mietvertrag über die Wohnung im ersten Stock zustande kommen sollte.
Denn V durfte die Erklärung des M in diesem Sinne verstehen. Andererseits ist für M
die objektive Bedeutung des Ausdrucks „Parterre“ das Erdgeschoß.

bb. Verkehrssitte
Es ist aber anerkannt, dass die Auslegung gemäß § 157 BGB auch unter Berücksich-
tigung der Verkehrssitte zu erfolgen hat.

(1). Überwiegend wird vertreten, dass sich die Bedeutung einer Erklärung im Regel-
fall nach der Verkehrssitte richtet, die an dem Ort, an dem die Erklärung abzugeben
ist, herrscht.

1 BGH NJW 1992, 1446 f; NJW 1990, 3206.


2 BGH NJW 2006, 286 f; NJW 2005, 3636 f; BGHZ 36, 33 = NJW 1961, 2251.
3 BGH LM (C) Nr. 7; LM (Fb) Nr. 4; OLG München NJW-RR 1996, 239; Grüneberg/Ellenberger, § 133
Rn. 14.
4 Kramer, Grundfragen der vertraglichen Einigung, S. 152.

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Zweifelhaft ist vorliegend der Ort, an dem die Erklärung des M abzugeben war, da der
Sachverhalt dazu kaum Anhaltspunkte liefert. Bei örtlich unterschiedlichen Verkehrs-
sitten setzt sich im Zweifel diejenige durch, der für das Rechtsverhältnis das größere
Gewicht zukommt.5 Der Schwerpunkt des Mietrechtsverhältnisses ist dort zu sehen,
an dem sich die Mietsache befindet. Es ist also nach dieser Ansicht der Sprachge-
brauch des V zugrunde zu legen.

(2). Nach anderer Ansicht liegt in Fällen, in denen jede Partei jeweils den Verständ-
nishorizont ihres örtlichen Sprachraums zugrunde legt, im Regelfall ein Dissens vor. 6
Diese Lösung sei interessengerecht, wenn beide Vertragsparteien gleich schützens-
wert sind. Vorliegend kommt jedoch auch diese Meinung zu dem Ergebnis, dass der
Sprachgebrauch des V zugrunde zu legen ist. Denn M ist nicht in gleicher Weise
schützenswert wie der V. M hätte erkennen können, dass es sich nicht um eine Erd-
geschoßwohnung handelt, da V während des Telefongespräches erwähnt hat, dass
die zur Wohnung führende Treppe einmal wöchentlich zu reinigen sei. Aufgrund die-
ser Mitteilung hätte dem M eigentlich klar werden müssen, dass es sich nicht um eine
ebenerdige Erdgeschoßwohnung handeln kann. Jedenfalls hätte er diesbezüglich
zumindest nachfragen müssen, was es denn mit der Treppe auf sich habe. Dies hat
er jedoch unterlassen, sodass er im vorliegenden Fall nicht schützenswert scheint. 7

2. Annahme des Angebots durch V


Dadurch, dass V das Angebot des M angenommen hat, haben sich M und V über
den Abschluss eines Mietvertrages geeinigt.

5 Staudinger/Singer, § 133, Rn. 68 m.w.N.


6 Kramer, Grundfragen der vertraglichen Einigung, S. 152.
7 A.A. vertretbar mit der Folge, dass aufgrund eines Dissenses kein Mietvertrag zustande gekommen

ist.
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II. Ergebnis
Es ist zwischen M und V ein wirksamer Mietvertrag über die Obergeschoßwohnung
gemäß § 535 BGB zustande gekommen.

Anmerkung
M hat die Möglichkeit seine auf den Abschluss des Mietvertrages gerichtete Willens-
erklärung wegen eines Inhaltsirrtums gemäß § 119 I BGB anzufechten. Dann müsste
er aber gemäß § 122 BGB dem V das negative Interesse (Vertrauensschaden) erset-
zen.
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