Sie sind auf Seite 1von 65

Intelligenzminderung, Deprivation und

Autismus-Spektrumstörung

Priv.-Doz. Dr. Regina Taurines

Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie,


Psychosomatik und Psychotherapie
Direktor: Prof. Dr. M. Romanos
Wesentliche Lernziele

Intelligenzminderung: Sensibilisierung in Bezug


auf Häufigkeit und Ausprägung psychischer
Begleiterkrankungen

Deprivation/Missbrauch/Misshandlung:
Sensibilisierung bzgl. hoher Dunkelziffer und
ärztlicher Verantwortung des „Hinschauens“

Autismus: Überblick über Ausprägung, Ursachen,


Begleiterkrankungen und Therapiemöglichkeiten

2
Intelligenzminderung
Klinik am Greinberg
Intelligenzminderung - ICD 10 F70

durch Varianz der Norm


bedingt (familiär)

durch organopatho-
gene Faktoren bedingt
(organisch)
Fragiles-X-Syndrom

https://step2.medbullets.com/pediatrics/120567/fragile-x-syndrome

Ärzteblatt, 1-2/2018

häufigste Ursache für Intelligenzminderung


FMR1: Trinukleotidrepeat-Verlängerung, Vollmutation ab 200 Tripletts
großer Kopfumfang/Ohren, prominentes Kinn, vergrößertes Hodenvolumen
Epilepsie, ADHS (bis 60%), Autismus-Spektrum (35%)
Down-Syndrom

 häufigste Chromosomenaberration
(1 von ca. 500-800 Kinder)
 Dysmorphiezeichen, Herzfehler, Atresien GI-Trakt
 Hyperaktivität, Trotzverhalten, Antriebsminderung, Depression, Demenz

freie Trisomie 21 Translokationstrisomie


https://www.zm-online.de/archiv/2018/14/medizin/das-etwas-andere-kind/
Prader-Willi-Syndrom

https://dimensionsofdentalhygiene.com/article/recognize- https://en.wikipedia.org/wiki/Prader%E2%80%93Willi_syndrome
prader-willi-syndrome/

Deletion auf väterlichem Chromosom 15


muskuläre Hypothonie, Hyperphagie, Kleinwuchs, Hypogonadismus
schmale Oberlippe, mandelförmige Augen, kurze Hände und Füße
Psychose, bipolare Störung, Depression, ASS (knapp 30%)
Wachstumshormon ab 1.Lj.
Essstörungen

 Adipositas

 Pica

 Rumination

 Binge eating
Stereotypien

11
Stereotypien /Selbstverletzungen

oft stark habituierte Reaktion auf Überforderung und Stress


Grad der Intelligenzminderung

leicht
 Selbstversorgung möglich
IQ 50-69
 für Arbeit anlernbar
mittelgradig
IQ 35-49

schwer
IQ 20-34
 selten mobil und kontinent
schwerst  Kommunikation erheblich eingeschränkt
IQ < 20  benötigen ständige Hilfe
 selbstverletzendes Verhalten
Psychische Störungen
 30 % bis 70% aller Kinder und Jugendlicher mit
Intelligenzminderung leiden unter einer psychischen
Störung (4-5-fach erhöhtes Risiko)

 die Art der Störungen unterscheidet sich nicht

 häufig Hyperaktivität, Autismus, Aggressionen,


Stereotypien, Selbstverletzungen, emotionale Störungen

 Diagnosestellung unter Umständen deutlich schwerer


Deletionssyndrom 22q11.2

Entwicklungsstörung 3./4. Schlundtasche


Störungen der Immunabwehr
Dysmorphiezeichen (Hypertelorismus,
breiter Nasenrücken,
Ohrmuscheldysplasien)
16
Therapie-, Förder- und Versorgungskonzept - Ziele

 Diagnostik und ggf. Therapie primärer Erkrankungen


 Diagnostik und Therapie komorbider psychischer Störungen
 Erlernen alltagspraktischer Fertigkeiten, von
Kulturtechniken
 familienbezogene Maßnahmen
 Hilfen zur Kommunikationsförderung und sozialen
Integration
KÄSE NUTELLA WURST

APRIKOSENMARMELADE ERDBEERMARMELADE KIRSCHMARMELADE

HEIDELBEERMARMELADE HONIG Vorlage


Rezept: Erdbeerquark
Therapie-, Förder- und Versorgungskonzept -
Methoden

 Verhaltenstherapie
 Heil- und Sonderpädagogik
 Physiotherapie, Motopädie, ...
 Ergotherapie, Musiktherapie
 tiergestützte Therapie
 medikamentöse Behandlung
Pharmakotherapie

Substanzklasse Indikation

Antipsychotika (Auto-)Aggression, Impulsivität

SSRI/ Antidepressiva Depression, zwanghaftes Verhalten,


Ängstlichkeit

Stimulantien Hyperaktivität
Antiepileptika Epilepsie, bipolare Störung, phasische
Stimmungsschwankungen

Tranquilizer und akute Erregungszustände, Angst,


Anxiolytika Suizidalität
MEMO Intelligenzminderung

Definition leicht / mittelgradig / schwer /schwerst


Heterogene Ätiologie
Erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen
Diagnostik muss erfolgen! (Therapieoptionen!)
Multimodale Therapie inkl. Pharmakotherapie
Überforderung vermeiden
Deprivation, Misshandlung, Missbrauch
Deprivation, Misshandlung, Missbrauch

SAT 1
Gewalterfahrung in Deutschland
• Prävalenz elterlicher physischer Gewalt: Schülerbefragung
zu Gewalterfahrungen durch deren Eltern
-> 42,2% keinerlei Gewalterfahrung in Kindheit
-> 15,3 % schwere Gewalt (< 12 Jahren)
-> 9% gelten als Opfer schwerer Misshandlung
(KFN-Studie 2011)

• Fälle schwerer Gewaltanwendung:


2014 bundesweit nur 3649 bei der Polizei bekannt gewordene
davon 39 in Unterfranken
davon wiederum 3 von Ärzten angezeigt
(Quelle Kriminalinspektion Würzburg, Kriminalrat Ilnyzckyj)

25
Mögliche Folgen

 emotionale Störungen
 posttraumatische Belastungsstörung
 Anpassungsstörungen
 Bindungsstörungen
 psychosozialer Minderwuchs
Leitfaden

 Körperliche Gewalt https://www.stmas.bayern.de/kindersch


utz/aerzteleitfaden/index.php
 Sexuelle Gewalt
 Seelische Gewalt
 Vernachlässigung
Kinderschutzkonzept KJPPP

28
MEMO Deprivation und Missbrauch

Hohe Dunkelziffer
Gefahr für psychische Erkrankungen
erhöht
Früherkennung
Vernetzung mit Hilfssystemen
Verantwortung der/des einzelnen
Ärztin/Arztes
Verantwortung der Institutionen
Autismus-Spektrumstörung

Broschüre des Autismus Kompetenzzentrum Unterfranken


Tief greifende Entwicklungsstörungen nach ICD-10

Asperger-
frühkindlicher Syndrom
Autismus

atypischer
Autismus
Autismus-Spektrumstörung (ASS) nach DSM-5

Asperger-
frühkindlicher Syndrom
Autismus

atypischer
Autismus

Prävalenz ca. 1% m:w = 2-3:1


Situationswahrnehmung

Sensory Overload https://www.youtube.com/watch?v=K2P4Ed6G3gw Director and Animator: Miguel Jiron


Produced and Developed by: Scott Mahoy, Creative Director of Interacting with Autism.
Kernsymptomatik

Kommunikations- und
Interaktionsstörung

stereotype
Verhaltensweisen und
Interessen

Piktogramme Autismus Deutschland e.V.


Auffälligkeiten der Kommunikation
 ausbleibende / verspätete Sprachentwicklung
 keine Kompensation durch Gestik oder Mimik
 stereotyp, nicht wechselseitig kommunikativ, neologistisch
(“Nasenhandtuch”)
 Störung von Intonation und Rhythmus
 Mangelndes Erkennen der Bedeutungsvielfalt von Sprache
oder Ironie
 konkretistisch, z.B. “Bürgersteig hoch geklappt”
 „ICH“ wird spät beherrscht
 kaum Imitations- oder Rollenspiele
Auffälligkeiten der Kommunikation

 auffällige nonverbale soziale Interaktion


 geringe emotionale Ansprechbarkeit
z.B. soziales Lächeln
 kaum entwicklungsmäßige Beziehungen zu Gleichaltrigen
 fehlende geteilte Aufmerksamkeit (“Joint Attention”),
fehlendes Teilen von Interessen, Aktivitäten, Gefühlen
 “Werkzeugfunktion”
Stereotypes, restriktives Verhalten

stereotype, begrenzte Interessen


extreme Beschäftigung mit Teilobjekten
zwanghafte Anhänglichkeit an Rituale
motorische Manierismen (Fingerschlagen, -
verbiegen)

https://www.fal.lu/autismus/autismus/bilder/
Frühkindlicher Autismus

 Manifestation vor dem dritten Lebensjahr

 Auffälligkeiten in den drei Kernbereichen


(Kommunikation, Interaktion, stereotypes/rigides
Verhalten)

 verzögerte oder ausbleibende Sprachentwicklung

 Einteilung: High-/ Low-Functioning-Autismus


Asperger Syndrom

 keine Entwicklungsverzögerung von Sprache und


Kognition

 lebenspraktische Fertigkeiten und Neugierde


während der ersten 3 Jahre unauffällig

 soziale Interaktion und Interessensbildung


autistisch (evtl. Sonderinteressen)
Ätiologie - Neurobiologie

Nervenzellen

Wachstumsfaktoren
Genetik
syndromale Formen des Autismus (10-15%) mit klarer
ätiologischer Zuordnung, z.B. Prader-Willi, Fragiles X,
Tuberöse Sklerose etc.

“idiopathischer Autismus”
 Erblichkeit ca. 90%
 Ca. 20% der Eltern mit “Einzelmerkmalen”
 Multiple Gene mit kleinen Effekten beteiligt
 Kandidatengene beeinflussen neuronale Migration,
synaptische Struktur etc.
Umweltfaktoren
 höheres Alter von Vater und Mutter, Diabetes Mutter, evtl.
Maßnahmen der assistierten Reproduktion
 Medikamente: v.a. Valproat (IQ, ASS), SSRI?

 Vitamin D-Mangel?

 Schwermetalle wie anorg. Quecksilber und Blei aus Umwelt

 Feinstaubbelastung: kleine Partikel < 2,5 µm

 Virusinfektionen: wie Rötelninfektion

 starke Frühgeburtlichkeit < 30. Woche, GG < 1500g

 Maternale Immigration

42
Makrozephalie

Sacco et al., 2015


Strukturelles MRT

Volumenänderungen
der grauen Substanz

Meta-Analyse über 24 Studien


Via et al., 2011
Vernetzung im Gehirn - Konnektivität
DiMartino et al. 2014

 weniger funktionelle Verknüpfungen über „lange Strecken“


funktionelle Bildgebung - Gesichter-Erkennung

Gesicht Objekt

Kontrollperson

Autismus

Schultz et al. 2000


Neuropsychologie – Theory of Mind-Defizit

ToM: Fähigkeit, eigene und fremde gedankliche Vorgänge,


Gefühle und Verhaltensweisen zu erkennen, zu verstehen,
zu erklären und vorherzusagen

Erkennen von sozialer Interaktion, ToM


und Persönlichkeitseigenschaften in
geometrischen Figuren

(Klin, 2000 mit Heider & Simmel Animation,1944)


Neuropsychologie - detailorientierte Wahrnehmung oder
Defizit der zentralen Kohärenz

Abb. Lindsay, Peter & Norman: Human Information Processing. New York: Academic Press, 1977, Fig. 1.11
Autismus - Begleitstörungen

 Epilepsie (25-40 %)
 tuberöse Sklerose, fragiles X-Syndrom
 Intelligenzminderung
…
Psychische Begleiterkrankungen

Fütter-/ (Auto)- Tics Somatoforme Psychosen


Essprobleme aggression Störungen

Schlafstörungen ADHS Ängste/Zwänge Depression Persönlichkeitsstörungen


medizinisch-psychiatrische Diagnostik

 körperlich-neurologische Untersuchung
 Hör- und Sehprüfung
 EEG
 ggf. cMRT
 ggf. Stoffwechsel-, genetische
Untersuchung
psychologische Diagnostik

 Entwicklungs- bzw. Leistungsdiagnostik

 Komorbiditätsdiagnostik

 Autismus-spezifische Diagnostik:
Screening-Fragebögen (z.B. FSK, MBAS)
Autismus-Diagnostisches Interview (ADI-R)
Diagnostische Beobachtungsskala (ADOS-2)
DIAGNOSTIK: ADOS-2
Diagnostische Beobachtungs-skala für Autistische Störungen 2
ADOS: „So-tun-als-ob“-Spiel
Therapie / Beratung I

 Psychoedukation
 Einbezug des Umfelds
 Alltagsstrukturierung
 verhaltenstherapeutische und pädagogische
Interventionen (z.B. TEACCH)
TEACCH: Visualisierung und
Tages-Strukturierung

Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children“


Frühinterventionen

Stundenplan

„Fertig“-Box
„Jetzt“-Feld
Videobeispiel: AFFIP - Aussuchen und expressive
Sprache
Therapie / Beratung II

Therapie von Begleitstörungen


ggf. medikamentöse Behandlung
 Schlafstörungen – Melatonin
 Stereotypien/ imp. Selbstverletzungen – Antipsychotika
 ADHS – Stimulanzien
 Zwänge, Ängste, Depression – SSRI

Allgemein: höheres Risiko für UAW!!


Soziales Kompetenztraining in der Gruppe
Videobeispiel: Soziales Kompetenztraining
Nachteilsausgleich

TV Touring
Therapie / Beratung III

 Einbezug des MSD Autismus,


Autismus-Kompetenz-Zentrums
 Klärung der Rahmenbedingungen
 ggf. Eingliederungshilfe oder
Jugendhilfemaßnahme
 Kontakt zu Elternverbänden
MEMO - Autismus

Kernsymptome
Frühkindlicher Autismus vs. Asperger-
Syndrom
Genetische Ätiologie
Neuropsychologische, hirnfunktionelle
und hirnstrukturelle Veränderungen
Standardisierte Diagnostik
Individuelle multimodale Therapie

Das könnte Ihnen auch gefallen