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Schizophrenien

Matthias Nauhaus
Asklepios Fachklinikum Lübben
30.11.2016
Historisches

• Ende des 19. Jahrhunderts fasste Emil Kraepelin mehrere bis dahin als
eigenständig betrachtete Krankheitsbilder unter dem Oberbegriff der Dementia
praecox zusammen. Damit grenzte er diese Gruppe vom „manisch-depressiven
Irresein“ ab.

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Definition

Eugen Bleuler erkannte gemeinsame Grundsymptome bei allen Formen der


Kraepelinschen Dementia praecox, aus denen er sog. akzessorische Symptome
wie Wahn, Halluzinationen, psychotische Ich-Störungen psychodynamisch ableitete.

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Epidemiologie

• Männer und Frauen erkranken wahrscheinlich gleichhäufig (Frauen aber etwas


später → günstigere Prognose, da Ausbildung/Partnerschaft oft geregelt)

• Punktprävalenz 0,2-2%, Lebenszeitprävalenz 0,5-1%

• Ca. 45% der Schizophrenen befinden sich in der untersten sozialen Schicht (social
drift)

• Die konkurrierende Milieuhypothese, nach der die Schicht schizophren macht ist
epidemiologisch widerlegt

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Ätiologie

• Schizophrenien wahrscheinlich keine ätiologisch einheitliche Erkrankung

• Genetischer Beitrag bei einem Teil der Erkrankung

• Beteiligung neurobiologischer Veränderungen im Gehirn

• Am wahrscheinlichsten ist eine multifaktorielle Genese

• → Dysbalance von psychosozialen Stressoren, genetischer und/oder erworbener


Hirnfunktionsstörungen und Coping-Strategien (Vulnerabilitäts-Stress-Modell)

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Ätiologie (genetische Faktoren)

In Familienstudien wurden folgende ungefähre Erkrankungswahrscheinlichkeiten für


Angehörige schizophrener Patienten ermittelt:

• Erstgradige Verwandte ca. 10-20%

• Kinder zweier schizophrener Eltern ca. 20-45%

• Enkel ca. 3%

• Konkordanzrate bei monozygoten Zwillingen ca. 31-80%, im Mittel 50%

• Konkordanzrate bei dizygoten Zwillingen ca. 5-30%, im Mittel ca. 15%

• Adoptierte mit erblich bedingtem erhöhten Risiko erkranken auch in nicht-


schizophrenen Pflegefamilien häufiger

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Ätiologie (genetische Faktoren)

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Neurobiologische Faktoren

 Ein Teil der Schizophrenien zeigt strukturelle Abnormalitäten des Gehirns:

• Vergrößerung der Ventrikel

• Verlust der grauen Substanz mit globaler Atrophie

• Verlust physiologischer Asymmetrien (vor allem im Planum temporale)

• Reduktion von Neuropil im Hippocampus, Amygdalae, Thalamus,


Temporallappen, frontoorbital sowie präfrontal

 Manchmal sind die Patienten in funktionellen Bildgebungen frontal hypoaktiv


(nicht spezifisch). Verantwortlich für planendes, zielgerichtetes Denken.

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Historisches

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Grundsymptome nach Bleuler

1) Assoziationsstörungen (Zerfahrenheit, Gedankensperre)

2) Affektivitätsstörungen (Ängste, Parathymie, Affektinkontinenz)

3) Ambivalenz der Gefühle

4) Autismus (Verlust der Gefühle zur Realität)

5) Störungen des Willens und Handelns

6) Störungen der Person (Depersonalisation, „Spaltung“)

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Symptome 1. Ranges nach Kurt Schneider

1) Akustische Halluzinationen (dialogisierende und kommentierende Stimmen,


Gedankenlautwerden)
2) Leibhalluzinationen (leibliche Beeinflussungserlebnisse)
3) Ich-Störungen (Gedankeneingebung, Gedankenentzug, Gedankenausbreitung,
Willensbeeinflussung)
4) Wahn (Wahnwahrnehmung)

Findet sich keine organische Störung und liegen


Erstrangsymptome vor, handelt es sich um eine Schizophrenie

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Symptome 2. Ranges nach Kurt Schneider

1) Sonstige akustische Halluzinationen

2) Optische, olfaktorische, gustatorische Halluzinationen

3) Wahneinfall-/gedanke

Bei ausschließlichen Symptomen 2. Ranges ist die Diagnose nur wahrscheinlich,


aber nicht sicher.

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Formale Denkstörungen und kognitive Störungen

Das Denken kann

• unklar, verschroben, verschwommen

• bizarr und ungewöhnlich, oft verbunden mit inhaltlichen Denkstörungen

• in Wortwahl und Inhalten verarmt mit monotonen “ein-Wort-Antworten“ im


Gespräch, zunehmendem Verlust von Spontansprache oder Denkinhalten (Denk-,
Sprachverarmung)

sein

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Formale Denkstörungen und kognitive Störungen

Eher charakteristische Denkstörungen sind:

• Zerfahrenheit mit alogischem und zusammenhanglosem Denken mit


Gedankensprüngen, Vorbeireden, Neologismen bis hin zur Unverstehbarkeit oder
unzusammenhängendem Aneinanderreihen von Sätzen, Wörtern oder Wortresten
(Wortsalat, Schizophasie)

• Gedankenabreißen, Sperrung häufig in Kombination mit der Gewissheit, dass die


Gedanken manipuliert und/oder entzogen wurden

• Auffassungsstörungen

• Konzentrationsstörungen

• Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörungen

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Störungen von Affektivität und Antrieb

Der Affekt kann

• euphorisch und gelegentlich ansteckend, heiter, expansiv wie beim manischen Syndrom,
häufiger aber flach euphorisch mit wenig Lebendigkeit oder albern, läppisch, unernst mit
inadäquaten Witzeleien und Streichen, ohne das die Stimmungslage ansteckend wirkt

• deprimiert in jeder Form eines depressiven Syndroms (nach akuten Phasen treten oft
depressive Verstimmungszustände mit einem verflachten depressiven Affekt und Anhedonie
auf (postremissives Erschöpfungssyndrom) auf)

• ängstlich (häufig zu Beginn mit Angst vor dem Unbekannten und Unheimlichem)

• dysphorisch, aggressiv, sowohl ohne Anlass als auch als Reaktion auf Wahnerleben

• ekstatisch mit gelegentlichen Glücksgefühlen

sein

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Störungen von Affektivität und Antrieb

Weitere charakteristische Affektstörungen sind:

• Parathymie,
Parathymie, Paramimie als Zeichen der schizophrenen Desintegration. Die
Einheiten des Erlebens, die Zusammengehörigkeit von innerem Befinden und
Ausdruck oder Erlebnisinhalt und Empfindung sind gestört

• Ambivalenz, Ambitendenz als anderes Zeichen der schizophrenen Desintegration,


wenn unvereinbare Erlebnisqualitäten beziehungslos nebeneinander bestehen,
ohne dass die Gegensätze in irgendeiner Weise ausgetragen oder bewusst
verarbeitet werden

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Störungen von Affektivität und Antrieb

Vor allem in den prä- und postpsychotischen Prodromalstadien bzw. Residuen treten
auf:

• affektive Verarmung (Verflachung).


(Verflachung). Im Extremfall wirken die Kranken gleichgültig
und apathisch (Athymie), egal welche äußeren oder inneren Erlebnisse auf sie
einwirken. Sie können keine positiven Gefühle mehr entwickeln, keine Freude,
ohne dass gleichzeitig eine typische deprimierte Verstimmung erkennbar ist
(Anhedonie)

• theatralische bis manierierte, gezierte und gespielte Affektivität oder


Verhaltensmuster, leicht zu verwechseln mit hysterischen Verhaltensweisen

• Autismus.
Autismus. Die Patienten sind ich-versunken, verlieren den Realitätsbezug, sind von
der Umwelt abgekapselt und auf die eigene Person bezogen mit abgerissenem
Kontakt zum Gegenüber. Sie nehmen keinen Anteil mehr an der Umwelt und
leben in ihrer eigenen Innenwelt.

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Inhaltliche Denkstörungen und Störungen des
Ich-Erlebens

• Verfolgungswahn

• Beeinflussungswahn, Beeinträchtigungswahn

• Größenwahn (Megalomanie)

• körperbezogener Wahn, hypochondrischer Wahn

• sexueller Wahn

• religiöser Wahn

• politischer Wahn

• nihilistischer Wahn

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Inhaltliche Denkstörungen und Störungen des Ich-
Erlebens

• Gedankenausbreitung

• Gedankeneingebung

• Gedankenentzug

• Gedankenbeeinflussungserlebnisse

• Gedankenlautwerden

• Willensbeeinflussungserlebnisse

• leibliche Beeinflussungserlebnisse

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Störungen der Wahrnehmung

 Akustische Halluzinationen: meistens als Stimmen (Phoneme), die sprechen,


flüstern, rufen, schimpfen oder drohen, von denen der Patient oft die Urheber
nennen kann.

Die Stimmen können gehört werden als:

• Gedankenlautwerden

• kommentierende Stimmen

• dialogisierende Stimmen

• imperative Stimmen

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Störungen der Wahrnehmung

 Optische Halluzinationen: eher selten (18%)

• Verfolgende Gestalten, Hände, einzelne Gesichter und Fratzen

• Ganz selten kleine Tiere wie beim Delir

 Geruchs- und Geschmackshalluzinationen: v.a. zusammen mit Vergiftungsängsten


und einem Verfolgungswahn (Gift-, Gas- oder Modergeruch)

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Störungen der Wahrnehmung

 Haptische, taktile Halluzinationen und Leibhalluzinationen: typischerweise als von


außen gemacht empfunden; z.B. durch vermeintliche Bestrahlung, im Körper
eingebaute Sender oder eingebrachtes Gift verursacht.

 Häufige Vorstadien zu Halluzinationen:

• Wahrnehmungsanomalien auf allen Sinnesgebieten:

 Mikro- oder Makropsie

 Veränderte Wahrnehmung von Stimmen und Geräuschen

 Besonders intensive oder fehlende Wahrnehmung von Körperfunktionen

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Subtypen

 Paranoide Schizophrenie

• Etwa 80% der Schizophrenien erfüllen einmal im Verlauf die Kriterien

• Im Vordergrund stehen Halluzinationen, Störungen des Ich-


Ich-Erlebens und/oder
Wahn

• Symptome ersten Ranges sind typisch

• Der Wahn und die Störungen des Ich-Erlebens haben häufig Beeinflussung,
Verfolgung zum Inhalt

• Dieser Typ beginnt auch später als andere (auch als Spätschizophrenie nach dem
45. Lj.) und hat oft eine bessere Prognose ohne Entwicklung eines schweren
Residuums

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Subtypen

 Hebephrenie

• Im Vordergrund stehen affektive Veränderungen, Verhaltensauffälligkeiten und


des formalen Denkens.
Denkens.

• Die Affekte sind verarmt (verflacht, häufig subeuphorisch, parathym,


situationsinadäquat mit Kichern, selbstversunkenem Lächeln)

• Das Verhalten ist manieriert-bizarr

• Der Antrieb ist verarmt oder gesteigert, gleichzeitig aber inadäquat mit ziel- und
planloser Hyper- oder Hypoaktivität, läppischen, oberflächlichen Vorlieben für
Religion, Philosophie oder anderen abstrakten Themen

• Manchmal haben die Patienten stereotype, bizarre Zwangsgedanken,


hypochondrische Befürchtungen oder Wahngedanken

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Subtypen

 Hebephrenie

• Der Gedankengang ist häufig zerfahren, verarmt oder manieriert-bizarr

• Symptome ersten Ranges treten nur vorübergehend und „spielerisch“ oder


stereotyp ohne affektive Beteiligung auf, einzelne Wahngedanken werden
regelmäßig vorgetragen

• Es entsteht eine Minussymptomatik mit Affektverflachung und Antriebsverlust bis


hin zur Entwicklung einer Demenz

• Die Schizophrenieform beginnt meist früher, zwischen dem 15. und 25.
Lebensjahr, und hat eine sehr schlechte Prognose

• Die Diagnose sollte nur bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen gestellt
werden!

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Subtypen

 Katatone Schizophrenie

• Wichtige Sonderform (perniziöse Katatonie): oft letaler Ausgang, Katatonie und


Hyperthermie (>40°C), zusätzlich andere vegetative „Entgleisungen“, Rigor,
Akinese; es ist fraglich ob es sich um eine reine Schizophrenie oder um eine
zusätzliche organische Erkrankung handelt

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Subtypen

 Undifferenzierte Schizophrenie

• Wechseln paranoid-halluzinatorische , hebephrene oder katatone Symptome


unsystematisch, ohne dass eine Symptomgruppierung das klinische Bild
beherrscht, ist von einer undifferenzierten Schizophrenie auszugehen

 Zoenästhetische Schizophrenie

• Beherrschendes Symptom sind leibliche Beeinflusungserlebnisse und


Zoenästhesien Grad I und II

• Die Diagnose ist nur bei leiblichen Beeinflussungserlebnissen zulässig, nicht bei
unspezifischen Schmerzsymptomen

• Der Subtyp verläuft meist chronisch aber ohne ausgeprägte Residuen und
kognitive Störungen, und beginnt meist später im 4. und 5. Lebensjahrzehnt

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Subtypen

 Schizophrenia simplex und schizotype Störung

• Bei der Schizophrenia simplex fehlen Symptome ersten Ranges und die
Symptome der diagnostischen Leitlinien der Schizophrenie

• Es entwickeln sich langsam chronisch progrediente Negativsymptome und


schwerste, irreversible Residualzustände

• Die Patienten zeigen ein über Jahre zunehmendes „merkwürdiges Verhalten“, sind
unfähig sozialen und beruflichen Anforderungen zu genüge, ihre
Leistungsfähigkeit verschlechtert sich rapide.

• Die Diagnose sollte sehr zurückhaltend gestellt werden, da zahlreiche


Differentialdiagnosen: Schizotype Störung, affektive Störung, schizoide
Persönlichkeitsstörung, Hyperaktivitätsstörung des Erwachsenenalters
(hypoaktiver Typ), Asperger-Autismus

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Subtypen

• Folgende Symptome sind für eine schizotype Störung charakteristisch:

• Kalter, unnahbarer Affekt


• Autistisches, exzentrisches Verhalten
• Tendenz zu sozialem Rückzug
• Manieriert-bizarre Sprache
• Gelegentliche Beziehungsideen, paranoide Ideen, auch einzelne Wahneinfälle
• Zwanghaftes Grübeln
• Depersonalisations- und Derealisationserleben
• Vegetative und somatische Symptome, wie Schmerzen und
Körpergefühlsstörungen
• Gelegentliche, maximal wenige Tage anhaltende, „quasi psychotische“ Episoden
mit Personenverkennung, wahnähnlichen Ideen, Halluzinationen, die schwer von
Pseudohalluzinationen zu trennen sind

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Verlaufsformen

 Drittelregel des Langzeitverlaufs

• Etwa 1/3: Heilung oder leichte uncharakteristische Residuen (mit gelegentlichen


Exazerbationen)

• Etwa 1/3: Mittelschwere uncharakteristische Residuen (mit gelegentlichen


Exazerbationen)

• Etwa 1/3: Schwere charakteristische Residuen (mit dauernden typischen


schizophrenen Symptomen) oder chronische Schizophrenien, schwere „Defekte“
(Residuen mit ausgeprägter Minus- bzw. Negativsymptomatik),
Persönlichkeitsveränderungen

☛ Nach neuen Erkenntnissen Verläufe jedoch in der Regel schlechter!

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Verlaufsformen

 Einfache Verläufe

1. Akut zu schweren Residuen oder chronischen „produktiven“ Schizophrenien

2. Chronisch zu schweren Residuen oder chronisch „produktiven“ Schizophrenien

3. Akut zu leichteren Residuen

4. Chronisch zu leichteren Residuen

 Wellenförmige (phasen-
(phasen- oder episodenhafte) Verläufe

5. Wellenförmig zu schweren Residuen oder chronisch „produktiven“ Schizophrenien

6. Wellenförmig zu leichten Residuen

7. Heilung nach wellenförmigem Verlauf

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Prognose

Die Prognose ist wahrscheinlich um so schlechter, je

• früher das Erkrankungsalter


• schleichender der Beginn
• niedriger das prämorbide soziale Funktionsniveau
• die Schulbildung
• gestörter die prämorbide Persönlichkeit
• höher die genetische Belastung

ist, und je

• mehr strukturelle CCT-Auffälligkeiten


• neurologische Zusatzbefunde vorhanden

sind, und je

• länger die produktive Episode dauert.

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