DEZEMBER 2022

  GELDANLAGE  Wie sich Profis gegen einen zweiten Crash wappnen DE 9,90 EUR

MERCEDES & BMW

Kampf gegen den
Elektroabstieg
THEODOR WEIMER
Deutschlands
zurzeit bester
Manager über
seine Stärken

THE
und Schwächen

BAD MAN
BIONTECH
Der neue
Masterplan
der
Gründer
Militärsatelliten,
Fake News,
Messias-Wahn:
Wie Elon Musk
zur Gefahr für Tesla
und die Welt­
gemeinschaft wird
Inland EUR 9,90, Benelux EUR 11,30,
Frankreich EUR 11,90, Griechenland
EUR 12,50, Italien EUR 11,90, Österreich
EUR 10,80, Portugal EUR 11,90,
Schweiz sfr. 16,20, Spanien EUR 11,90
 Zurücklehnen und loslassen: Der Mercedes-Benz DRIVE PILOT
ermöglicht ein völlig neues Freiheitsgefühl durch hochautomatisiertes Fahren.
Mehr auf mercedes-benz.de/innovations

I N N O VA T I O N S B Y
Hochautomatisiertes Fahren, SAE-Level 3: Die automatisierte Fahrfunktion übernimmt
bestimmte Fahraufgaben. Dennoch ist weiterhin ein Fahrer notwendig. Der Fahrer
muss jederzeit bereit sein, die Kontrolle über das Fahrzeug zu übernehmen, wenn er
durch das Fahrzeug zum Eingriff aufgefordert wird. Verfügbarkeit und Nutzung der
künftigen DRIVE PILOT Funktionen auf der Autobahn sind abhängig von Ausstattungen,
Ländern und geltenden Gesetzen.
 Einzigartiger Charakter
EINZ IGARTIGE HINGABE

MA S T E R W OOD E N G R AV E R

Die “GlenDronach Distillery”, tief in den East Highland Hills in Schottland versteckt, perfektioniert seit 1826 die Fassreifung in Sherryfässern.
Die Vorzüge der Sherryfass-Reifung, in Verbindung mit dem schottischen Handwerk, sorgen beim 12 Jahre gereiften The GlenDronach für ein
unverwechselbares Aroma. Kenner schätzen seinen komplexen, fruchtigen und nussigen Geschmack.

Bitte genieße verantwortungsbewusst.

GlenDronach ist eine eingetragene Marke. ©2022 Benriach. Alle Rechte vorbehalten.
 EDITORIAL

L
ange Zeit war Elon Musk so etwas wie eine personifizierte Menschheits­
hoffnung: dass sich dank Ingenieurskunst Wohlstand und Nachhaltigkeit ver­
einen lassen. Inzwischen verkörpert der Tesla-Impresario das Gegenteil. Parallel
zu seinem Aufstieg zum reichsten Unternehmer der Welt hat der Abstieg zum
gefährlichsten Unternehmer der Welt eingesetzt. In seiner Hand befinden sich
Unternehmen mit höchst sensibler Militärtechnik und mit Twitter die wohl
wirkungsvollste Kommunikationswaffe unserer Zeit. In seinem Kopf greifen
offensichtlich zunehmend Größenwahn und Weltherrschaftsfantasien um sich.
Aus seinem Umfeld sortiert er alle aus, die widersprechen. Wie Musk zum Risiko für die
Weltgemeinschaft wurde und wie er eingehegt werden könnte, hat mein Kollege Jonas Rest
über mehrere Wochen in Musks Umfeld recherchiert. Sein Ergebnis würde ich jetzt mal mit
einem Anflug von Selbstanmaßung als Pflichtlektüre bezeichnen.
Elons Dämonen – Seite 32.

Zu spät und zu zaghaft – die Indizien,

die meine Kollegen Margret Hucko und
Michael Freitag gefunden haben, verdichten
sich zu einer alarmierenden Erkenntnis: Den
deutschen Premiumherstellern Mercedes,
BMW und Audi droht im Elektrozeitalter
der Abstieg in die zweite Liga. Sie sind
bis heute gefangen in ihrer Verbrennerwelt.
Nur eine klitzekleine Anekdote:
Markus Schäfer, Entwicklungschef (sic) bei
Theodor Weimer mit Redakteuren Slodczyk und Clausen ­Mercedes, kurvt bis heute mit seiner
­S-Klasse durch die schwäbische Welt.
Oberflächlich wirkt Theodor Weimer wie Die Zauderer – Seite 58.
ein Vorstandschef der alten Schule. Der Mann
ist aufreizend selbstbewusst und fragt nicht Eine erkenntnisreiche Lektüre
vor jedem Satz, ob er damit jemandem auf wünscht Ihnen Ihr
die Füße treten könnte. Wer den Chef der
Deutschen Börse länger und besser kennt,
Foto: Jann Höfer für manager magazin

weiß aber: Der Spaß am offenen Wort ist bei

ihm reziprok angelegt. Oder, in seinen
Worten: „Ich hasse es wie die Pest, wenn
jemand nicht sagt, wo etwas schiefläuft.“
Insofern konnte das Interview mit dem
Manager des Jahres 2022 über Stärken
und Schwächen nur kurzweilig werden.
„Ja, ich bin leicht paranoid“, ab Seite 48. Sven Clausen, Chefredakteur

manager magazin DEZEMBER 2022 5

INHALT
32
Auserwählt –
von sich selbst:
Elon Musk
15 Adidas Was den
Titel
32 Elon Musk Der mäch­
tigste Unternehmer der
Welt gerät in die Nähe 16 Oliver Samwer Der
von Despoten und hängt
zunehmend Verschwö­
rungstheorien an. Eine
Gefahr für Tesla – und
die Weltgemeinschaft.
Namen und
Nachrichten
12 Volkswagen Streich­
konzert im Riesenreich.
14 Deutsche Bahn Die
Logistiktochter
Schenker gibt’s mit
Abschlag.
Titelthemen sind blau hervorgehoben.
DEZEMBER 2022
18 BASF Heißkalte Tage für
Brudermüller.
19 RWE CEO Krebber
gewinnt beim Kohle­
ausstieg.
20 Deutsche Bank Der
neue Aufsichtsratschef
setzt ein Zeichen. 48
Stillgestanden:
22 Hugo Boss Chef­ Deutsche-Börse-Chef
schneider Grieder winkt Theo Weimer beim
eine fette Prämie. Fotoshooting für mm
24 VBL Die Beamtenkasse 48 Manager des Jahres
zittert um Millionen. Theodor Weimer, Chef
der Deutschen Börse,
24 Messer Der Gaseunter­ über die Schwächen des
nehmer will endlich in Kapitalmarkts und seine
sein Spa. Führungsstärke.
26 Sixt Alexander Sixt über 58 Autoindustrie Warum
Robopläne und die deutschen Auto­
Elektroautos aus China. bauer auf ein Elektro­
desaster zusteuern.
Fotos: Mark Mahaney / Redux / laif, Jann Höfer für manager magazin, Dina Litovsky / Redux / laif
28 Mahle Neues aus der
Schlafanstalt. 66 Uniper Die leise Ver­
staatlichung der
neuen Chef Bjørn
Gulden im Vorstand Unternehmen Energiewirtschaft.
erwartet. 75 Menschenskinder Janina
und Management Kugel fordert mehr
Tempo beim S in ESG.
Abstieg des Tech­ 40 Biontech Die Gründer
investors. setzen ihre Firma unter 76 Siemens Energy Warum
Erfolgsstress. Konzernchef Bruch so
hartnäckig
Verluste schreibt.
82 Windenergie: Die
Anti-China-Offensive
der Windradbauer.
84 SMS Wie Firmen­
40
Das nächste
patriarch Heinrich
Weiss seinen Rückzug
große Ding: vorbereitet.
Biontech-
Gründer Uğur 90 Vonovia CEO Buch
Şahin und steckt in der Sackgasse.
Özlem Türeci
DEZEMBER 2022 7
 INHALT DEZEMBER 2022
96 ProSiebenSat.1 Der neue 110 Expertenrat Christoph
Aufsichtsratschef wettet Seibt über die Schlüssel-
aufs Werbe-TV. rolle der Finanzvorstände.

• Spezial – Hall of Fame 111 Achten Sie auf ...

der deutschen Forschung Wirtschafts-Staats­
sekretärin Franziska
100 Der Festabend Wenn Brantner.
Wissenschaft auf
Wirtschaft trifft
Portfolio
102 Claudia Eckert Die
Abwehrchefin. 112 Alternative Investments
112
Geht doch: Anti-Crash-
Die Anti-Crash-Strate- Strategie in den 70ern
104 Detlev Riesner Der gie für Privatanleger.
Forscher als Gründer. indexierten Bonds 145 Ausfahrt ... mit dem
118 Interview Der frühere achten sollten. Volvo XC60.
106 Judith Feucht Die IWF-Chefökonom
Immuntherapeutin. Olivier Blanchard hält

108 Andrea Schoellig Die

die Inflation für
das kleinere Problem.
126 Geldanlage für ...
Hedonisten, Kopf­
menschen und
Standards
Robotertrainerin. Unerschrockene. 5 Editorial
122 Linker-Markt Worauf
Anleger bei inflations- 128 Magisches Viereck Die 10 Firmen- und
deutsche Wirtschaft Personenregister
braucht eine
Forschungsoffensive. 140 Bestseller

Leben 144 Impressum

146 Was macht eigentlich ...

130 Work-Life Das ganz die ehemalige DWS-
spezielle Konzept eines Nachhaltigkeitschefin
Schweizer Start-ups. Desiree Fixler?
Fotos: Roedel / Keystone, Julian Baumann für manager magazin

136 Interview Künstler-

agentin Heike-Melba
Fendel über Casting-
trends im Kino- und
Streamingbusiness.

140 Wirtschaftskultur
Der US-Chipkrieg
gegen China.

58
Time is up:
141 Im Trainingslager mit ...
Marie-Christine manager-magazin.de
Mercedes-Chef Ostermann. Digital sind wir Ihr täglicher
Ola Källenius Begleiter: Mit den wichtigsten
braucht Wirtschaftsthemen, unseren
142 Stil Ultimative Manschet- Newslettern und Podcasts.
erfolgreiche ten­knöpfe, die Zeitlupe
Elektromodelle Unter manager-magazin.de
und winterfeste Stiefel. oder in unserer App.

8  DEZEMBER 2022 Titelthemen sind blau hervorgehoben.

 WAS MAN DIESEM
KAKTUS NICHT ANSIEHT:
IHM SITZEN KANN.
WIE BEQUEM MAN AUF

Auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit wollen wir verstärkt

nachwachsende Rohstoffe zur Produktion von Fahrzeugteilen verwenden.
Zum Beispiel forschen wir mit unseren Partnern an Sitzbezügen,
die teilweise aus pulverisierten Kaktusfasern bestehen.
Jetzt mehr erfahren unter: bmwgroup.com/nachhaltigkeit

WE TURN THINGS AROUND.

REGISTER
FIRMEN German Invest 24 RTL Group 96 Biden, Joe 42, 63 Heraeus, Jürgen 24 Schabhüser, Gehard 102
Giano Capital 96 Rullko Großeinkauf 141 Birchall, Jared 36 Hoffmann, Oliver 14 Schäfer, Markus 61
GLG 115 RWE 19, 68 Blanchard, Olivier 119 Holstein, Jens 44 Schäfer, Thomas 14
A Global Capital Hoops, Stefan 20, 146
Blume, Oliver 12, 62 Schäferkordt, Anke 98
Aareal Bank 110 Founders 16
Aareon 110 S Bock, Kurt 18 Schenck, Marcus 66
Goldman Sachs 22 Schenker 14 Bourla, Albert 42 J
ACC 63 Gruner + Jahr 97 Jassy, Andy 35 Schmall, Thomas 59
Adidas 15, 22 Schmolz + Bickenbach 87 Brandstätter, Ralf 14
Hamburg Commercial Jeggle, Helmut 45 Schoch, Manfred 61
Advent 110 Seat 62 Brantner, Franziska 111
Bank 70 Brecht, Michael 63 Joussen, Friedrich 70 Schoellig, Angela 108
Aegon 20 SEB 116 Junker, Heinz 28
Bruch, Christian 77 Scholz, Olaf 77
Aggregate 24 H Sefe 68
Alphabet 35, 117, 126 Brudermüller, Schönbeck, Joachim 88
Haniel 95 Siemens 110 K
Amazon 35, 117, 126 Martin 18, 78 Schröder, Philipp 94
Heidelberg Materials 110 Siemens Energy 77 Kaeser, Joe 78
AMG 61 Siemens Gamesa 78 Buch, Rolf 92 Schuhmacher, Jürgen 104
Hellofresh 16 Källenius, Ola 26, 58
Antenna Group 98 House of Finn Juhl 126 Buchmann, Johannes 102 Kamieth, Markus 18 Sen, Michael 78
Siemens
Apple 35, 43 Busch, Roland 77 Sewing, Christian 20
Hugo Boss 22 Healthineers 78, 110 Kanellopoulos,
Asos 22 Shankland, Martin 15
Hyundai 61 Signa 72 Konstantina 93
Audi 12, 26, 59 C
Sixt 26, 62 Kilian, Gunnar 14 Shotwell, Gwynne 35
Axel Springer 96 Calacanis, Jason 36
J Škoda 62 Kirkhorn, Zachary 35 Sixt, Alexander 26
JP Morgan 146 Carlsson, Peter 63 Klatten, Jan 95 Sixt, Erich 26
B Snow Bull Capital 38
Cavallo, Daniela 12 Kley, Karl-Ludwig 70
Baillie Gifford 35 SpaceX 34 Sixt, Konstantin 26
Bantleon 124
K Chalon, Alberto 96 Korgaonkar, Russell 115
KfW 72 Sport Direct 22 Chammard, Krebber, Markus 19 Sixt, Regine 26
BASF 18, 78 Steag 72 Smith, Grant 115
Kia 61 Anne-Laure de 78 Kreuter-Kirchhof,
Bertelsmann 96 Söder, Markus 98
KKR 96 Chuanfu, Wang 62 Charlotte 19
Biontech 40, 51, 129 T
Bloomberg 146 Knorr-Bremse 54, 84 Colpan, Metin 104 Kühne, Klaus-Michael 70 Solomakhin,
Tennet 72 Cook, Tim 35 Kukies, Jörg 66, 111 Dmitry 116, 126
BMW 26, 59
BNP Paribas 15 L Tesla 34, 59 Culp, Lawrence 82 Kyriakou, Theodore 98 Soros, George 114
Borsa Italiana 50 Landesbank Baden Thyssenkrupp 72, 86 Souque, Lionel 70
Bosch 102, 108 Württemberg 24, 28 Trade Republic 16 D L
Lazard 66 Lagarde, Christine 119 Spiro, Alex 36
Bunge 126 Trafigura 111 Dahmen, Burkhard 88 Spohr, Carsten 70
BYD 26, 59 Linde 24, 51, 78 TransnetBW 72 Leinwand, Michael 24
Dalio, Ray 115 Steinbrück, Peer 124
LSE 49 Lindner, Christian 14
Tui 70 Dibelius, Alexander 24
C Lufthansa 70 Lindner, Christian 70, 125 Steiner, Michael 14
Lupus Alpha 119 Twitter 34 Diess, Herbert 12, 60 Lobo, Sascha 37
Carwow 62 Stewart, Jackie 88
Lürssen Werft 88 Döpfner, Mathias 97 Lürßen, Peter 88
CATL 62 U Drisch, Christof 24 Stiglitz, Jörg 111
Celonis 16 Lyft 27 Lutz, Richard 14 Straubel, JB 35
UBS 38 Druckenmiller,
Cerberus 70 Strauss-Kahn,
M Umicore 64 Stanley 114 M
Clearpath Robotics 109 Dominique 111
Clearstream 50 Mahle 28 Unicredit 52 Dubourg, Saori 18 Maas-Brunner,
Man AHL 115 Uniper 66 Duesmann, Markus 14, 62 Melanie 18 Sunak, Rishi 122
Commerzbank 28, 70
Creative Strategies 38 McKinsey 49, 111 Maubach, Swisher, Kara 38
CVC 24 Media For Europe 97 V E Klaus-Dieter 68
Mercedes 26 Varta 63 Ebel, Sebastian 70 Mertens, Thomas 42 T
D Merrill Lynch 146 Verivox 97 Eberhard, Martin 36 Messer, Stefan 24 Tacke, Markus 80
Danieli 84 Messer Group 24 Eckert, Claudia 102 Müllenbach, Miguel 72
Vestas 79 Thiel, Peter 37
Delivery Hero 16 Messer Industries 24 Eichler, Edwin 86 Murray, Michael 22
Microsoft 117, 126 Videoland 98 Musk, Elon 33, 61 Troska, Hubertus 58
Deutsche Bahn 14 Vitra 126 Eickholt, Jochen 79
Deutsche Bank 20, 28, Mobileye 27 Truss, Liz 120, 122
Volkswagen 12, 27, Eigen, Manfred 104
51, 70, 146 Moody’s 28 Eigendorf, Jörg 146 N Tuppurainen, Tytti 66
Mulberry 22 59, 110 Nash, Marc 116 Türeci, Özlem 129
Deutsche Börse 49 Enderle, Franz 74
Drone Delivery Vonovia 72, 90 Neubaur, Mona 72
Eulitz, Bernd 24
Canada 108 N Wedbush 38 Nilsson, Mikael 116 V
DWS 146 NBC Universal 97 WeShare 27 Notheis, Dirk 24
F Vassiliadis, Michael 74
Nielsen 97 Xpeng 64
Nio 64 Fishwick, David 117 O Vekselberg, Viktor 86
E Fixler, Desiree 146
Elliott 120 Nordex 79 Z Ogan, Taylor 38
EnBW 72 Northvolt 63 Francke, Otto 116 Ohlmeyer, Harm 15 W
Zalando 16 Franz, Arnd 28
Enercon 79 ZF 28, 110 Ostermann, Wagener, Gordon 58
Engie 78 O Frei, Tobias 124 Marie-Christine 141 Wallisers,
Eon 68 Oetker 84 Frick, Michael 28 Frank-Steffen 59
Euronext 50 P Weber, Frank 63
Evonik 60 P G Patzak, Klasu 78
Parship 97 Gao, Paul 58 Philipp, Udo 66 Weimer, Theodor 48
Evotec 105
Personio 16 Gatzer, Werner 66 Poetting, Sierk 45 Weiss, Heinrich 84
F Pimco 116 Gerber, Ross 35 Pötsch, Hans Dieter 12 Wiele, Andreas 96
Farasis 63 Porsche 60 Giordani, Marco 97 Prusiner, Stanley 105 Wiener, Malcom 114
FC Bayern München 49 Porsche Ventures 95 PERSONEN Rabe, Thomas 15, 96
Goodman, Barry 114 Windhorst, Lars 86
Fidelity 126 Postbank 20 Gottschalk, Helmut 70 Rajkumar, Amanda 15 Wöhrmann, Asoka 20, 146
Fininvest 97 Praxair 24 A Grevy, Brian 15 Rauramo, Markus 66
Wössner, Mark 86
Flaconi 97 Priavoid 105 Arleth, Matthias 28 Grieder, Daniel 22 Reichel, Andreas 72
ProSiebenSat.1 96 Reithofer, Norbert 60 Wüst, Hendrik 74
Flannels 22 Ashley, Mike 22 Grosse, Philip 94
Flixbus 16 Puma 15 Riesner, Detlev 104 Wynaendts, Alexander 20
Auschel, Roland 15 Guillen, Jérôme 35
Forge Global 52 Roeder, Helene von 93
Q Gulden, Bjørn 15 Rogan, Joe 38 X
Fortum 66 B
Frasers Group 22 Qiagen 104 Günther, Bernhard 66 Rohr, Karl von 20, 146
Baerbock, Annalena 111 Xi, Jinping 18
Rorsted, Kasper 15
G R Baglino, Andrew 35 H Russwurm, Siegfried 111
Bas, Bärbel 74 Habeck, Robert 19, 78 Z
Galeria Karstadt Refinitiv 50
Kaufhof 72 Renault 60 Beaujean, Rainer 97 Habets, Bert 97 S Zeiler, Gerhard 98
Gazprom 68 Renova 87 Behrends, Katharina 97 Harrigan, Mike 36 Sacks, David 37 Zeng, Robin 62
GE Vernova 82 Rewe 70 Benko, René 72 Haucap, Justus 68 Şahin, Uğur 42, 129 Zetsche, Dieter 60
General Electric 82 Rocket Internet 16 Berlusconi, Silvio 97 Henco, Karsten 104 Samwer, Oliver 16 Zipse, Oliver 26, 61

10  DEZEMBER 2022 manager magazin

 NAMEN UND NACHRICHTEN
Powerplay
VOLKSWAGEN Oliver Blume räumt auf. Er verschiebt den Super-VW
Trinity um Jahre und will das neue Werk in Wolfsburg kippen.
E
r kam als Erlöser. In
Lissabon, am Tag sei-
nes Amtsantritts als
neuer Volkswagen-
Chef, präsentierte
Oliver Blume (54)
den wichtigsten Frau-
en und Männern des
Konzerns sein Programm. Es gab
Standing Ovations. Alle freuten
sich auf den netten Olli, parallel
blieb er Porsche-Chef.
Inzwischen dürften sie begrif-
fen haben, dass dieser Mann vor
allem eins ist: konsequent.
Oliver Blume räumt radikal
auf – und das Erbe seines Vor­
gängers Herbert Diess (64) ab.
Er verschiebt Modelle und auch
Plattformen um Jahre. Den
Super-VW Trinity rückt er um
eine halbe Autogeneration nach
Foto: Niels Starnick / Bild am Sonntag
hinten, wohl von 2026 auf 2030.
Selbst das neue Werk in Wolfs-
burg will er nicht mehr bauen –
auch wenn es von der mächti-
gen Betriebsratschefin Daniela
Cavallo (47) und der Spitze der
Marke VW propagiert wird.
Er werde ein Problem nach
dem anderen abräumen, hat er
seinen Leuten angekündigt; und
12  DEZEMBER 2022
er müsse schnell sein: „Diese
Chance habe ich nur einmal.“
Einer seiner engeren Begleiter
sagt es anders: „Hier bleibt kein
Stein auf dem anderen.“ Herbert
Diess habe „das größte Desaster
seit vielen Jahren“ hinterlassen.
Das Ergebnis: Elf Wochen
nach dem Amtsantritt von Blume
rumort es gewaltig im zweitgröß-
ten Autokonzern der Welt.
Eine Karotte namens IPO
Alles beginnt, wie so vieles der-
zeit in Wolfsburg, mit dem Her-
zens- und Schicksalsprojekt von
Diess: der Softwaretochter Ca­
riad. Auch wegen der massiven
Probleme dort hat er seinen Job
verloren. Am 28. Oktober präsen-
tierte eine Kommission aus Ent-
wicklern und Softwareexperten
die Ergebnisse einer mehrwöchi-
gen Analyse: Was müsste die um
Jahre verspätete neue Software
wirklich können, was wäre für die
Cariad-Teams möglich?
Die Gruppe wurde schließlich
in die nächste Runde geschickt;
sie soll die komplexen Kosten
und Auswirkungen ihrer Vor-
schläge überprüfen. Eins aber ist
nun klar: Die vor allem für Por-
sche und Audi gedachte Software
Porsche – E³ 1.2 soll länger eingesetzt und
und nicht zwischendurch noch einmal auf-
viel mehr gefrischt werden. Die radikalere,
Börsenwert
Volkswagen AG von der Marke VW gewünschte
und Porsche AG, Software E³ 2.0 wird nicht 2026,
in Mrd. Euro sondern erst 2029 starten.
Porsche-
Die Folgen wären dramatisch.
Beteiligung Der auf der Software 2.0 aufge-
setzte Trinity, von VW-Marken-
93 chef Thomas Schäfer (52) eh
83,1 bereits umgemodelt zum ver-
kaufsträchtigeren Cross-SUV,
wird nicht wie geplant die neue
Fahrzeugarchitektur SSP ein­
leiten. Und – blumesche Konse-
quenz – die Entscheidung wäre
wohl das Todesurteil für das
neue Werk in Wolfsburg.
75% Die Fabrik direkt neben dem
bisherigen Gelände sollte VWs
Produktionskunst belegen: zehn
Stunden Fertigungszeit pro Auto,
so schnell wie Vorbild Tesla im
brandenburgischen Grünheide.
Für gut zwei Milliarden Euro
Porsche
Volkswagen
wollte der Konzern Anschluss
finden an die Moderne.
Formal ist das Aus zwar noch
nicht beschlossen. Aber Blume
Quelle: Refinitiv
Grafik: manager magazin hat Vertrauten gegenüber 2
manager magazin
Testet Macht und
Kraft: Volkswagens
Konzernchef
Oliver Blume
 NAMEN UND NACHRICHTEN  VOLKSWAGEN/DEUTSCHE BAHN
klargemacht, dass das sein Fahrplan ist.
Eine merkwürdige Stimmung liegt über
diesem Konzern: Aufbruch einerseits
und die Freude, dass der sympathische
Stratege Blume den ungeliebten Diess
ersetzt hat. Abbruch andererseits und
die Sorge, dass Blumes Konsequenz den
eigenen Bereich wegfegt.
Mitten hinein in seine radikale In-
ventur hat Blume ein fast unerhörtes
Projekt platziert: Er lässt mögliche Teil-
börsengänge einzelner Marken durch-
spielen. Warum nicht den Erfolg des
Porsche-IPO wiederholen? Zumal eini-
ge Mitglieder der Großaktionärsfami-
lien Porsche und Piëch die Idee unter-
stützen. Man müsse größer und freier
denken, Visionen entwickeln, äußerte
etwa Stefan Piëch (51). Sein Vater,
­Familiensprecher Hans Michel Piëch
(80), denkt ähnlich. Das Ganze sei ein
Test, sagte Blume vor Analysten, „viel-
leicht, um später andere Einheiten an
die Börse zu bringen; da ist nichts
­entschieden bislang“.
Am 11. November hatten Führungs-
teams von VW und VW Nutzfahrzeuge,
Škoda und Seat, dazu der Markengrup-
pe Audi ihre ersten Auftritte. Sie prä-
sentierten die sechs Kernthesen ihrer
Story für einen möglichen IPO.
Was nun folgt, ist harte Arbeit: Im-
mer wieder geprüft von Spezialisten
etwa der Bank of America, sollen die
Teams identifizieren, was für eine gute
Börsenstory noch fehlt. Also konkret:
Wie sich Strategie und Zahlen so ver-
bessern lassen, dass die Marken kleine
Porsches werden.
Zumindest für einige ist das jedoch
eher eine Sanierungsübung. Die vir­
tuellen IPOs seien eine Gelegenheit,
„jede Ecke auszukehren“, verbreitet
Blume in seinem Team. Da gebe es noch
einige Stellen, die viel Potenzial böten.
Der mögliche Börsengang wird zur
Peitsche für alle, die sich zu wenig um
ihre Zahlen gekümmert haben.
Die Regel der Ära Blume lautet bis-
lang: Erschrecken über die Situation
Foto: Stefan Boness / VISUM
dieses Konzerns. Und Erstaunen über
den neuen Vorsitzenden. Wenn früher
über mögliche Nachfolger von Herbert
Diess diskutiert wurde, dann galt
­Oliver Blume manchen als „zu weich“.
Heute würden sie das wohl nicht mehr
sagen. 1 Michael Freitag
14  DEZEMBER 2022
Bummelzug
DEUTSCHE BAHN Die Tochter Schenker kommt bald
auf den Markt – allerdings nicht zum Bestpreis.
Der Termin liegt nahe an Weihnachten,
und tatsächlich hat er etwas von Be-
scherung. Am 14. Dezember trifft sich
der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn,
um – wie Insider berichten – final über
einen Verkauf der Konzerntochter
Schenker zu entscheiden. Ein positives
Votum gilt als sicher. Damit enden
die langwierigen Diskussionen um die
Trennung von der Spedition: Der kon-
krete Verkaufsprozess beginnt.
Zu den Bremsern zählte lange auch
der Bahn-Vorstand. Vorsteher Richard
Lutz (58) hatte geltend gemacht, der
Konzern könne nicht so ohne Weiteres
auf seinen einträglichsten Bereich ver-
zichten. Allein im ersten Halbjahr die-
ses Jahres hat Schenker einen Betriebs-
gewinn (Ebit) von 1,2 Milliarden Euro
eingebracht; ohne die Tochter hätte
Lutz rote Zahlen präsentieren müssen.
Zum Umdenken hat ihn ein großzü-
giges Entgegenkommen des Eigentü-
mers Bund bewegt: Der Staatskonzern
darf die Einnahmen aus dem Verkauf
weitgehend behalten. Das Geld soll in
das marode Schienennetz fließen, zum
Teil wohl auch den Schuldenstand sen-
ken. Ursprünglich hatte Bundesfinanz-
minister Christian Lindner (43; FDP)
Zeit wird’s: Bahn-Chef
Richard Lutz (l.) und
Verkehrsminister
Volker Wissing
wollen die DB endlich
auf ihren Kern stutzen
– und Schenker
verkaufen
das Geld für die Staatskasse und die
schwarze Null reklamiert.
Das lange Hin und Her ist dem Ma-
növer allerdings schlecht bekommen.
Der allgemeine Logistikboom flaut der-
zeit merklich ab, die eingetrübte Lage
drückt auf den zu erwartenden Ver-
kaufserlös. Noch vor ein paar Monaten
schienen 20 Milliarden Euro realis-
tisch. Jetzt rechnen Investmentprofis
mit einigen Milliarden weniger.
Zudem kommt wegen des ver-
schlechterten Umfelds ein Börsengang
wohl nicht mehr infrage. Damit läuft es
aller Voraussicht nach auf den Verkauf
an einen Finanzinvestor hinaus. Die üb-
lichen Verdächtigen sollen weiterhin
großes Interesse an dem Deal haben –
nur eben nicht zu jedem Preis.
Schuld an der Verschleppung hat
aber auch die Regierungspartei SPD.
Lange rang sie mit sich, ob die Bahn
ihre Tochter wirklich hergeben soll und
ob die Schenker-Beschäftigten aus­
reichend gesichert sind. Nun sind offen-
bar Schutzklauseln verabredet. Zur
Abstimmung kommt damit ein Kon-
senswunder – das lediglich ein paar
Milliarden Euro potenziellen Erlös ge-
kostet hat. 1 Michael Machatschke
manager magazin

Böse Geister
ADIDAS Der neue CEO Bjørn Gulden übernimmt
einen heillos zerstrittenen Vorstand.
E
ine Minute und 29 Sekunden
– so lange dauerte der letzte
öffentliche Auftritt von Kas-
per Rorsted (60) als CEO von
Adidas Anfang November. Ein
bisschen Selbstlob für das Er-
reichte, ein bisschen Lobpreis für Adi-
das („fantastische Firma“) – das war’s.
Dann übergab Rorsted an seinen
CFO Harm Ohlmeyer (54). Der wagte
noch eine saloppe Bemerkung darüber,
dass Rorsted ja nun bald viel Zeit auf
der Skipiste verbringen, Adidas aber
sicher „von der Seitenline aus“ anfeu-
ern werde. Und dann klatschte er sei-
nem Noch-Boss, der ihn vor gut zwei
Jahren noch rüde degradiert hatte, Bei-
fall, was in einer Telko recht hohl klang.
Dann wedelte er zur Routine hinü-
ber, den Quartalszahlen. Also: der Ver-
kündung einer Gewinnwarnung, der
vierten in diesem Jahr.
manager magazin
Hui Buh: Als
Adidas-CEO
muss Ex-Puma-
Boss Bjørn
Gulden kräftig
durchlüften
Zwei Tage später hatte Rorsted
s­ einen letzten Arbeitstag in Herzogen-
aurach. Nach sechs Jahren war eines
der größten Missverständnisse in der
Geschichte deutscher Großkonzerne
beendet. Am Schluss hatte es Aufsichts-
ratschef Thomas Rabe (57) so eilig,
Rorsted des Feldes zu verweisen, dass
er Ohlmeyer für gerade mal sieben Wo-
chen zum Interims-CEO ernannte. Das
wirkt ein wenig so, als wohne man der
Austreibung eines bösen Geistes bei.
Tatsächlich jedoch wird es mit
­Rorsteds Abschied wohl nicht getan
sein. Wenn der langjährige Puma-Chef
Bjørn Gulden (57) Anfang Januar den
Chefposten bei Adidas übernimmt,
erbt er einen Vorstand, der als komplett
dysfunktional gilt.
COO Martin Shankland (50) insze-
nierte sich lange als Vollstrecker von
Rorsteds Sparregime. Zuletzt erntete er
ADIDAS  NAMEN UND NACHRICHTEN
Kopfschütteln vieler Führungskräfte,
weil er die Entwicklung und das Testen
neuer Produkte komplett zu den Liefe-
ranten in Asien verlagern wollte. Damit
ließe sich etwas Geld sparen, aber Adi-
das würde Kernkompetenzen aufgeben.
Adidas sagt dazu lediglich, für spezi-
fische Produktsegmente seien bereits
seit einigen Jahren Entwicklung und
Teile des Testens „direkt bei unseren
Lieferanten in Asien angesiedelt“.
Zudem liefert sich der COO einen
Kleinkrieg mit Markenvorstand Brian
Grevy (51). Mittlerweile sollen der
­Australier und der Däne einander so
spinnefeind sein, dass sie es kaum noch
ertragen, im selben Raum zu sitzen.
Der nette Grevy bietet einem Power-
player wie Shankland allerdings auch
reichlich Angriffsfläche. Denn der Mar-
kenchef schafft es einfach nicht, die
Sneaker und Shirts mit den drei Strei-
fen begehrenswerter zu machen.
Auch deshalb sitzt der Konzern auf
Vorräten im Wert von 6,3 Milliarden
Euro: 75 Prozent mehr als vor einem
Jahr. Weltweit hat Adidas zehn Lager-
häuser gemietet, um Ware zu bunkern,
bis sie Vertriebsexperte Gulden 2023
doch noch verhökern kann. Hoffentlich.
Personalvorständin Amanda Raj-
kumar (50) wiederum agiert merkwür-
dig entkoppelt von der Wirklichkeit des
Sportkonzerns. Seit Rorsted sie Anfang
2021 von BNP Paribas holte, fiel sie vor
allem damit auf, die Mannschaft in im-
mer neue Schulungen zu Vielfalt und
„diversity weeks“ zu treiben.
Als instinktlos empfinden viele in
Franken bis heute, dass die Britin 2021
in sozialen Medien ein Video streute, in
dem sie – verzückt wie ein Kind – ihren
neuen feuerroten Porsche Taycan ab-
holt. Dass Adidas damals versuchte,
sich aus dem Corona-Loch zu kämpfen
und der Frust über den CEO allerorten
hochloderte, hatte die oberste Persona-
lerin offenbar nicht mitbekommen.
Am unauffälligsten verhält sich
noch Roland Auschel (59). Als Einziger
hat der rührige Vertriebsvorstand
­Rorsteds Hire & Fire überlebt. 2024
Foto: Sonja Och / laif
läuft sein Vertrag aus, spätestens dann
dürfte aber Schluss sein.
Reichlich zu tun also für Bjørn
­Gulden, Adidas’ neuen Geisterjäger.
1 Christoph Neßhöver/Sven Clausen
DEZEMBER 2022 15
 NAMEN UND NACHRICHTEN  OLIVER SAMWER
Im Sinkflug
OLIVER SAMWER Der Rocket-Kommandeur verliert
seinen Nimbus als Digitalmaestro.
I
nternetmilliardär Oliver
Samwer (50) war lange der
deutsche Digitalmaestro
schlechthin. Mit Zalando,
Hellofresh und Delivery
Hero waren im vergangenen
Jahr gleich drei Unternehmen
im Dax, die der Gründer und
CEO von Rocket Internet mit
aufgebaut hatte. Doch Samwers
Heldentaten sind lange passé. Als
Hellofresh und Delivery Hero in
den Dax einzogen, hatte Samwer
seine Aktien schon lange ver-
kauft; inzwischen sind sie sowie-
so wieder aus dem Leitindex
­geflogen. Die neuen Digitalheros
von Flixbus über Trade Republic
bis Celonis sind ohne Samwer-
Kapital entstanden; Personio in
München ist eine der wenigen
Ausnahmen.
Nicht nur die neuen Gründer-
stars halten Abstand zum alten
Foto: Gene Glover
Meister, der berüchtigt dafür ist,
gnadenlos für sich selbst zu
­optimieren. Auch bei Investoren
scheint Samwers Stern inzwi-
16  DEZEMBER 2022
Rocket-Internet-­
schen rapide gesunken zu sein.
Insider berichten, dass er Proble-
me haben soll, Investoren für
einen neuen Fonds zu begeistern.
Samwer äußert sich dazu nicht.
Rocket Internet hatte im Ja­
nuar 2017 einen Milliardenfonds
aufgelegt, damals den größten in
Europa. Schon zwei Jahre später
hatte Samwer Milliarden für ein
zweites Vehikel beisammen.
Doch seitdem lässt ein neuer
Fonds – trotz des globalen Tech-
booms – auf sich warten, was
auch im Rocket-Ableger Global
Founders Capital (GFC) – Sam-
wers Einheit für Venture-Capital
(VC) – mit Sorge registriert wird.
Auf absehbare Zeit werde kein
neuer Fonds kommen, heißt es.
In Samwers Dunstkreis wird
auf das Marktumfeld verwiesen,
das es schwierig mache, neues
Kapital aufzutreiben. Daten zei-
gen allerdings einen anderen
Trend (siehe Grafik). Die Investi-
tionen in VC-Fonds liegen über
dem Vorjahresniveau.
Rockets Problem scheint eher
selbst verursacht. Der unrühm-
liche Börsenrückzug Ende 2020
hat offenbar der Reputation Sam-
wers gerade bei institutionellen
Investoren geschadet. Samwer
hatte Rocket für die Hälfte des
Wertes, für den das Unter­
nehmen anfangs Aktien verkauft
hatte, von der Börse genommen.
Für institutionelle Geldgeber, die
beim IPO gezeichnet hatten, ein
massives Verlustgeschäft.
Auch hilft nicht, dass GFC
immer noch weitgehend eine Oli-
Show ist, ohne Partner auf Au-
genhöhe. Tauche bei einem Start-
up GFC unter den Investoren auf,
sei das schon fast ein Warnzei-
chen, ätzt einer aus der Branche.
Inzwischen stehen die Zei-
chen auf Rückzug: Im Zuge der
Krise hat Samwer seine Organi-
sation radikal rasiert, übrig ist
Digital-Fossil: nur noch eine Rumpforganisa-
tion. Die meisten Investment­
Gründer Oliver manager unterhalb der Partner-
Samwer ebene bei GFC wurden gefeuert,
auch mehrere Partner haben den
Fonds verlassen. Übrig sind noch
knapp 20 Personen. Sie sind zu-
Nonstop-
ständig für die aktuell laut Daten-
Boom
Investitionen bank Pitchbook 577 Beteiligun-
in Venture- gen in aller Welt.
Capital-Fonds, Auch die Start-up-Auf bau­
in Mrd. Dollar einheit Flash Ventures wurde
20211 ­zusammengestrichen. Sie sollte
20221 150,9 Rockets Inkubationsmodell, das
einst Zalando und Hellofresh
hervorgebracht hatte, in die neue
Zeit bringen. Nur etwa die Hälfte
des Teams, rund 15 Personen, hat
96,0
Samwers Kahlschlag überlebt.
Konzentriert werden soll sich
fortan auf Europa.
Und auch der nächste Rückzug
deutet sich schon an: Anfang
2021 brachte der Maestro einen
Rocket-SPAC die Börse. Doch
­bisher hat er für die Firmenhülle
17,8 19,2 kein Fusionsziel gefunden, und
der Markt ist am Boden. In vier
Monaten läuft die Zweijahresfrist
Europa USA für einen möglichen Deal ab.
Dann muss er den Investoren ihr
1 | Bis 30. September. Kapital zurückgeben. Irgendwie
Quelle: Pitchbook
Grafik: manager magazin symptomatisch. 1 Jonas Rest
manager magazin
 Seitentitel  NAMEN UND NACHRICHTEN

Christian Mühlhäuser
Béla Réthy Managing Director
Redakteur & Live-Reporter Fußball Bridgestone Central Europe
ZDF-Hauptredaktion Sport Katrin Müller-Hohenstein
Moderatorin „das aktuelle
sportstudio“
Claudia Neumann
Redakteurin & Live-Reporterin
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WM 2018™. Die ermittelten Daten sind Prognosewerte und keine garantierten Leistungswerte. Zielgruppen-
potential Autobesitzer: 57 Mio.
ŻŻ�]�Ë��ë�©�ġĤ�ġġ�ġĤ�ġġ�k®ßű��ñã�®�ñ�ß�©�ã�Éëű�]�®�ß��C²ÑŰ�ű�&�ã�Éë½�®ß�ģġģĢŰ�C�ßÀëãë�Ë��ß�Ų�evŰ�
*** Erwachsene ab 14 Jahren: 68,3 Mio.
Stand: 24.08.2022.

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und Spielplan
manager magazin herunterladen! DEZEMBER 2022 17
 NAMEN UND NACHRICHTEN  BASF
Finale furioso:
BASF-Chef
Martin
Brudermüller
Nachsitzen
BASF Eine ungelöste Machtfrage verunsichert den
größten Chemiekonzern der Welt.
B
ASF-Vormann Martin
Brudermüller (61) kann
einiges aushalten, wenn
er sich im Recht fühlt.
Die öffentliche Kritik an
seiner China-Strategie
zum Beispiel.
Die Weltsicht im Hauptquar-
tier in Ludwigshafen, grob ge-
schnitzt: In Europa und speziell
in Deutschland türmen sich
­aufgrund von Regulierungswut,
Inflation und Energiekrise die
Probleme, im dritten Quartal
schrieb der Konzern daher im
Heimatmarkt sogar rote Zahlen.
Im Reich Xi Jinpings (69)
h ingegen locken ein riesiger
­ Brudermüller eine länge-
Fotos: Stephan Rumpf / SZ Photo, PR
Wachstumsmarkt und die unbe-
dingte Leistungsorientierung der
Chinesen.
Doch seit die Öffentlichkeit
heftig über potenzielle Risiken
im China-Business debattiert,
geht es in Ludwigshafen – für
BASF-Verhältnisse – drunter
und drüber. Erst entzweite der
­geplante Bau des neuen Verbund-
18  DEZEMBER 2022
standorts in Zhanjiang den
­Vorstand, vor allem die Petroche-
mie-Vorständin Saori Dubourg
(51) setzte Fragezeichen an das
Zehn-Milliarden-Projekt.
Und dann lief auch die Verlän-
gerung von Brudermüllers Ver-
trag nicht wie erwartet: Der CEO
hätte, so heißt es in seinem Um-
feld, wohl gern auch für drei
­weitere Jahre bereitgestanden.
Bewilligt hat ihm das Aufsichts-
gremium um den knochensach-
lichen Vorsitzenden Kurt Bock
(64) aber nur ein Jahr. Zur Haupt-
versammlung 2024 ist spätestens
Schluss. BASF dementiert, dass
re Vertragslaufzeit an-
gestrebt habe.
Nach außen lässt
sich das gut mit Blick
auf die internen
Meinungsmutig:
BASF-Vor­
ständin Saori
Dubourg
Corporate-Governance-­R egeln
begründen, sie sehen im Allge-
meinen ein Ausscheiden mit 63
Jahren vor. Doch gemessen an
den Usancen in Corporate Ger-
many wirkt die kurze Frist von
nur einem Jahr eher wie ein
Nachsitzen denn wie ein Gestal-
tungsauftrag. Es dürfte Bruder-
müller schwerfallen, bei der
BASF mit dem eingehegten Man-
dat wie ehedem durchzuregieren.
Die kurze Vertragslaufzeit ist
auch eine Machtdemonstration
der Arbeitnehmerseite im Auf-
sichtsrat. Verunsichert von einem
im Oktober angekündigten
500-Millionen-Euro-Sparpaket
wartet die Belegschaft auf kon-
krete Vorschläge zur Sicherung
der europäischen und deutschen
Standorte. Das Zukunftspro-
gramm sollte bereits im Oktober
stehen, inzwischen ist von De-
zember die Rede. Dass Arbeitsdi-
rektorin Melanie Maas-Brunner
(54) die Chemiegewerkschaft IG
BCE und den Betriebsrat nur
summarisch über die geplanten
Einsparungen informiert hatte
und die Gewerkschafter sich das
Gas-
meiste aus der Zeitung anlesen
krisenopfer
Aktienkurs BASF mussten, hat die Stimmung nicht
im Vergleich verbessert.
zum MSCI World Wie Aufsichtsratschef Bock
Chemicals, sich in den nächsten Monaten die
indexiert Karten für die Nachfolge Bruder-
MSCI World müllers legt, ist sicherlich eine
Chemicals der kniffligsten Aufgaben in der
BASF
deutschen Spitzenwirtschaft. Mit
110 Dubourg und Maas-Brunner hat
100 er zwei Topkräfte zur Auswahl,
die sich zuletzt jeweils vernehm-
90
lich exponiert haben. China-Vor-
80 stand Markus Kamieth (51)
wäre die konventionelle Wahl.
70
Ob Brudermüller dann, wie
60 sein Vorgänger Bock, perspekti-
9.11.21 9.11.22 visch den Wechsel in den Auf-
= 100 sichtsrat anstrebt, ist keineswegs
ausgemacht. Insider meinen,
Quelle: Refinitiv
Grafik: manager magazin nach seiner Zeit als Vorstands-
chef könnte er seinen Lebens­
mittelpunkt ganz in den Fernen
Osten verlegen. Er ist in zweiter
Ehe mit einer Asiatin verheiratet.
1 Eva Buchhorn
manager magazin

Einer
gewinnt
RWE Der Klimaeffekt des
Kohleausstiegs ist offen.
Als Bundeswirtschaftsminister Robert
Habeck (53) Anfang Oktober verkün-
det, dass der Kohleausstieg auf 2030
vorgezogen wird, findet der Grünen-
Politiker für RWE-Chef Markus Kreb-
ber (49) warme Worte. Ausdrücklich
wolle er sich bei ihm bedanken für „die
Zugewandtheit in den Gesprächen“.
Beide eint neuerdings das Ziel, das
Braunkohlezeitalter acht Jahre früher
als bisher geplant zu beenden. Krebber
braucht Klimaerfolge, um seine auf
Nachhaltigkeit bedachten Investoren
ruhigzustellen. Und Habeck braucht
Klimaerfolge für seine grüne Basis.
Stolz betonte der Minister an jenem
Immer auf dem neuesten
Stand der Technik zu sein
ist nicht leicht…
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Unsere Mission:
Ingenieur*innen und technische Fach- und
Führungskräfte durch Wissen und Kompetenzen
aufs nächste (Karriere-)Level bringen.
4. Oktober, dass mit dem neuen Kohle-
kompromiss rund 280 Millionen Ton-
nen Braunkohle in der Erde bleiben.
Allein: Dem Klima wird das nicht
automatisch nützen. Um tatsächlich
den CO₂-Ausstoß zu verringern, muss
die Bundesregierung die Zahl der CO₂-
Verschmutzungsrechte in dem Maße
kürzen, wie die Kraftwerksblöcke suk-
zessive vom Netz gehen. Schon 2022
sind das Anlagen mit einer Leistung
von mehr als 400 Megawatt netto. „Nur
in dem Umfang, in dem Zertifikate vom
Markt genommen werden, dient der
nationale Kohleausstieg wirksam dem
Klimaschutz“, sagt Charlotte Kreuter-
Kirchhof (52), Direktorin des Düssel-
dorfer Instituts für Energierecht an
der Heinrich-Heine-Universität. „Der
Kohleausstieg in Deutschland wird kei-
ne Klimawirkung haben, wenn nicht
gleichzeitig die Gesamtemissions-
menge in Europa reduziert wird. Sonst
könnten die Verschmutzungsrechte
anderweitig genutzt werden.“
Die Bundesregierung dürfte die Zer-
tifikate löschen, das erlaubt die 2018
www.vdi-wissensforum.de/weiterbildung
RWE  NAMEN UND NACHRICHTEN
reformierte EU-Emissionshandels-
richtlinie. Nur: Sie tut es bisher nicht.
Und solange sie zaudert, ist für das
­Klima nichts gewonnen. Habecks Leute
fühlen sich verpflichtet, zwei Gutach-
ten abzuwarten, bevor sie entscheiden,
was sie mit den Zertifikaten machen.
Erschwerend hinzu kommt möglicher-
weise die Angst vor höheren Strom­
kosten: „Jede weitere Verknappung
der Zertifikate erhöht den CO₂-Preis
und macht Energie noch teurer“, so
Kreuter-Kirchhof.
Der RWE-Chef kann sich den
Schlagabtausch von der Seitenlinie aus
ansehen. Und sich – wenn alles nach
Plan läuft – bald über einen Geldsegen
freuen. Satte 2,6 Milliarden Euro er-
wartet er als Kompensation für den
Kohleausstieg. Die EU-beihilferecht­
liche Prüfung werde in Kürze abge-
schlossen sein, ist man in Essen zuver-
sichtlich. Dann kann das Geld fließen,
egal ob mit oder ohne Klimaeffekt.
Kein Wunder, dass RWE-Chef Kreb-
ber den Kohleausstieg für äußerst ge-
lungen hält. 1 Kirsten Bialdiga
 NAMEN UND NACHRICHTEN  DEUTSCHE BANK
Ausgeschlafen: Alexander Wynaendts verschafft sich Gehör
Erster Stich
DEUTSCHE BANK Oberaufseher Wynaendts bereitet eine
pikante Personalie vor: Was wird aus Karl von Rohr?
S
eit gut einem halben Jahr
kontrolliert Alexander
Wynaendts (62) die
Deutsche Bank, ein Hol-
länder, der seine Karriere
großteils beim Versiche-
rer Aegon zubrachte. In Frank-
furt hat er bisher auf „low profile“
geschaltet. „Alex stellt viele Fra-
gen und tastet sich hinein“, sagt
einer, der mit ihm zusammen-
arbeitet, „er gibt nicht vor, jetzt
schon alles zu durchschauen.“
Fotos: Guido Benschop / De Beeldunie / laif, Peter Wolff
Nun aber bereitet Wynaendts
eine Entscheidung vor, die ihm
deutlich mehr Kontur verleihen
würde: Es geht um die Zukunft
des langgedienten Vorstands
Karl von Rohr (57). Seit Novem-
ber 2015 sitzt der im Spitzengre-
mium der Bank; nur CEO Chris-
tian Sewing (52) ist noch länger
dabei. Von Rohr verantwortet das
Privatkundengeschäft, ist einer
von zwei Stellvertretern Sewings
und Oberkontrolleur bei der
schlagzeilenträchtigen Fonds-
tochter DWS. Sein Vertrag läuft
20  DEZEMBER 2022
im Herbst 2023 aus – und Wy­
naendts hält offenbar nicht viel
von einer Verlängerung. Das sa-
gen mehrere mit den Diskussio-
nen vertraute Personen.
Der Oberkontrolleur habe in
Gesprächen im kleinen Kreis die
klare Tendenz erkennen lassen,
von Rohr zu ersetzen, heißt es.
Die Luft werde dünn für ihn,
­seine Chancen auf Verlängerung
überschaubar. Sehr zum Bedau-
ern von Sewing, der mit seinem
Kollegen privat befreundet ist
und mit ihm die Bank durch
schwierige Zeiten steuerte.
Noch ist eine finale Entschei-
dung nicht gefallen. Eine Person,
die mit Wynaendts’ Gedanken
vertraut ist, betont, der Auf-
sichtsratschef habe seine Mei-
nungsbildung noch nicht abge-
schlossen. Offiziell will sich die
Deutsche Bank dazu nicht äu-
ßern.
Vor allem zwei Argumente
werden intern gegen von
Rohr angeführt: zum einen
die an­dauernden Verzögerungen
bei der Integration der Postbank.
Die Großbaustelle ist eines seiner
wichtigsten Projekte, das bis
Ende 2022 abgeschlossen sein
sollte, jetzt zieht es sich mindes-
tens bis Herbst 2023; und wird
200 Millionen Euro teurer.
Und dann ist da von Rohrs
Krisenmanagement im Green-
washing-Skandal bei der DWS.
Das Unternehmen bestreitet
Vorwürfe, bei grünen Aktien-
fonds geblufft zu haben. Doch die
Affäre hat Ermittlungen der Auf-
sicht, eine Razzia der Staats­
anwälte und einen Chefwechsel
ausgelöst. Deutsche-Bank-Ge-
wächs Stefan Hoops (42) hat
Asoka Wöhrmann (57) ersetzt.
„Wir waren immer nur Getriebe-
ne und sind nie aus der Defensive
rausgekommen – das hätte Karl
anders managen müssen, genau-
so wie die Nachfolgesuche“, so
ein Insider. Es fügt sich, dass von
Rohr intern auch „Chef-Confé-
rencier“ genannt wird. Er hält
gute Reden, fällt aber weniger
Vor allem durch inhaltliche Arbeit auf.
stilsicher: Sein Ausscheiden könnte wei-
Privatkunden- tere Reformen für die DWS mit
vorstand
sich bringen: etwa bei der Rechts-
Karl von Rohr
form. Die Bank hat sich beim
Börsengang der Tochter 2018 für
eine „Kommanditgesellschaft
auf Aktien“ entschieden, um sie
eng an sich zu binden.
Im Skandal um die grünen In-
vestments der DWS hat sich auch
daran Kritik entzündet: Die Bank
habe womöglich Grenzen der
Governance überschritten. Als
AG wären die Regeln klarer. Bei
Fusionen hätte die DWS zudem
mehr Freiheit.
Eine Verlängerung für von
Rohr könnte am Ende womöglich
nur sein alter Weggefährte Se-
wing erkämpfen, wenn es bei
Wynaendts’ Skepsis bleibt. Nur:
„Wenn wieder was schiefgeht in
Karls Ressort, fällt es Christian
auf die Füße“, sagt ein Beglei-
ter. So tief reicht die Vorstands-
freundschaft womöglich doch
nicht. 1 Katharina Slodczyk
manager magazin
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manager magazin DEZEMBER 2022 21

 NAMEN UND NACHRICHTEN  HUGO BOSS
Jackpot vor
Augen: Im
Erfolgsfall
kassiert
Boss-Chef
Daniel Grieder
rund 80
Millionen Euro
Wetten, dass ...?
HUGO BOSS Warum Deutschlands größter
­Modekonzern illustre Zocker anlockt.
W
enn Hugo-Boss-Chef Da-
niel Grieder (61) Eindruck
schinden will, führt er sei-
ne Gäste durch den neuen
Vorzeigeladen des Mode-
konzerns an der Londoner
Oxford Street. Anfang November hatte
er einen ganz besonderen Gast im
Schlepptau, Michael Murray (33), CEO
des britischen Handelskonzerns Fra-
sers Group. Der interessiert sich nicht
Foto: Yves Bachmann für manager magazin
nur für neue Hemden, sondern womög-
lich gleich für das ganze Unternehmen.
Zumindest hält Frasers inzwischen
über 30 Prozent der Boss-Anteile, bis-
her allerdings fast ausschließlich über
Optionen. Sollte Murray die Bezugs-
rechte ausüben, müsste er ein Über-
nahmeangebot vorlegen.
Der Deal hätte eine gewisse Logik.
Frasers-Inhaber Mike Ashley (58),
Murrays Schwiegervater, ist seit Mona-
22  DEZEMBER 2022
ten im Kaufrausch, um aus seiner
Sportartikelkette Sports Direct einen
Luxuskonzern zu feilen. Zu den jüngs-
ten Beteiligungen gehören der Hand-
taschenhersteller Mulberry, die Mode-
kette Flannels und der Onlinehändler
Asos. Boss, von Grieder seit dessen
Amtsantritt Mitte 2021 im E ­ iltempo
aufpoliert und von Rekord zu Rekord
geführt, könnte die nächste Trophäe
des Milliardärs werden.
Geschäftlich kennt man sich ohne-
hin bestens. Die Frasers-Gruppe ist der
größte Handelskunde von Boss auf der
Insel und verhandelt gerade über eine
Franchisepartnerschaft. Dass aus der
Liaison eine Hochzeit wird und Boss
unters Frasers-Dach rückt, bezweifeln
Insider jedoch. Ashleys Engagement
gleicht zu sehr einer Achterbahnfahrt.
Seit dem Einstieg im Juni 2020 hat
Ashley immer wieder Kasse und bis
heute keinen Anspruch auf einen Sitz
im Aufsichtsrat geltend gemacht. „Ash-
ley hat mit seinen Optionsgeschäften
viel Geld an Boss verdient“, sagt einer,
der ihn gut kennt. „Er glaubt an die
Marke und zockt gern.“ 2007 etwa wet-
tete Ashley in ähnlicher Manier auf
Adidas und machte in wenigen Mona-
ten 29 Millionen Pfund Gewinn. Gut
möglich also, dass er Boss den Rücken
kehrt, sobald sich Grieders Erfolg im
Aktienkurs niederschlägt.
Nach mehreren Rekordquartalen in
Folge hat Boss zweimal die Prognose
angehoben und könnte das für 2025 in
Aussicht gestellte Umsatzziel von vier
Milliarden Euro schon 2023 erreichen.
Vor allem, wenn Boss weitere Marken
hinzukauft. „Die dafür notwendigen
Strukturen stehen. Nun kommen im-
mer mehr Firmen auf den Markt“, sagt
ein Beteiligter. Es könnte also schnell
gehen, vor allem Schuh- und Damen-
modehersteller, aber auch Techfirmen,
die das Know-how ergänzen, sind inte-
ressant.
Solche Fantasien scheinen weitere
Glücksritter anzulocken. Gleich meh-
rere Großbanken, darunter Goldman
Sachs, haben jüngst Aktienoptionen
zwischen 4 und 9 Prozent aufgebaut.
Wer dahintersteckt, ist nicht bekannt.
Vorstandschef Grieder gibt sich ge­
lassen. Solange der bisherige Groß­
aktionär, die italienische Textildynastie
Marzotto, an Bord bleibt, dürfte ihm
das wiedergewonnene Interesse an
Boss nur gelegen kommen. Gespräche
für den Chefposten bei Adidas, auf des-
sen Liste Grieder gerade erst stand, hat
er abgelehnt. Er wolle seine Mission in
Metzingen zu Ende bringen.
Außerdem könnte die Wette auf sei-
nen eigenen Erfolg lukrativer werden.
Um die 80 Millionen Euro soll Grieder
bis zum Vertragsende 2025 mitnehmen
können, wenn es ihm gelingt, den Kurs
auf 100 Euro anzuheben, eine Verdop-
pelung vom heutigen Stand aus. Mehr
als die Hälfte des Salärs würden die
Marzottos beisteuern. Erst dieser Deal
lockte Grieder nach Metzingen. Dane-
ben kauft der CEO derzeit auch auf
eigene Rechnung Boss-Aktien in Millio-
nenhöhe. Der Austausch mit den Fra-
ser-Leuten scheint inspi­rierend zu sein.
1 Martin Mehringer/Martin Noé
manager magazin
 Seitentitel  NAMEN UND NACHRICHTEN

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manager magazin DEZEMBER 2022 23

 NAMEN UND NACHRICHTEN  INVESTMENTS/MESSER
Beamten-
Blues
INVESTMENTS Die Pensionskasse
VBL zittert um Millionen.
Innerhalb der Versorgungsanstalt des
Bundes und der Länder (VBL), einem
Koloss, der rund 1,4 Millionen Rent­
nern ihre Pension auszahlt, kehrt keine
Ruhe ein: „Hier herrscht schlechte
Stimmung und große Verunsicherung“,
klagt ein Insider. Grund für den Unmut
soll die Anlagestrategie von Vorstand
Michael Leinwand (55) und ein be­
sonders riskantes Investment in Höhe
von 130 Millionen Euro sein, auf dessen
Geld die Kasse seit September wartet.
Einem sind die Zockereien des Chefs
nun offenbar zu viel geworden: Chris-
tof Drisch. Der Verantwortliche für
„Übergreifendes Risikomanagement
und allgemeines, operationelles Risiko­
controlling“ soll gekündigt haben.
Drisch selbst war für eine Stellungnah­
me nicht zu erreichen. Laut VBL habe
„der Stellenwechsel des Verantwort­
lichen für das übergreifende Risikoma­
nagement allein persönliche Gründe“.
Leinwand investierte 2021 in be­
sagte Anleihe mit einem Zinskupon von
15 Prozent. Emittent der Anleihe ist die
German Invest, eine Tochter des Im­
mobilienentwicklers Aggregate. „Die
haben nicht das Geld, um die Anleihe
zu bedienen“, erklärt ein Insider. Kurz
vor Auslaufen der Fälligkeit am 1. Sep­
tember wurde diese auf den 15. Oktober
verschoben, doch auch bis dahin floss
kein Geld. Neues Fälligkeitsdatum: der
30. November.
Die Landesbank Baden-Württem­
berg (LBBW) immerhin, die die An­
Foto: Wolfgang Eilmes / F.A.Z.-Foto
leihe für die VBL prüfen sollte und von
Beginn an skeptisch gewesen sein soll,
scheint von einer Rückzahlung nicht
mehr überzeugt. Intern sei die Anleihe
nun mit C bewertet, heißt es aus in­
formierten Kreisen. Bedeutet: Bei
einer solchen Anlage besteht eine hohe
Ausfallwahrscheinlichkeit.
1 Hannah Steinharter
24  DEZEMBER 2022
Starke
Reflexe
MESSER Der Eigner braucht viel
Geld, bevor er in Rente geht.
Sein privates Glück hat Stefan Messer
(67) schon gefunden. Der Erbe der Mes­
ser Group, des weltgrößten Spezial­
gaseherstellers in Familienhand mit
rund 3,5 Milliarden Euro Umsatz, hat
sich auf einer Thailand-Reise verliebt
und ist Vater von Zwillingen geworden.
Um den neuen Lebensabschnitt
noch intensiver genießen zu können,
hat Messer auch bereits seinen Nach­
folger ausgeguckt. Der frühere Linde-
Manager Bernd Eulitz (57) wirkt im
Unternehmen seit Februar als Vize,
demnächst soll er den Eigentümer als
Vorstandschef beerben. Der Senior
würde in den Aufsichtsrat hinüber­
rücken, wo derzeit als Vorsitzender
noch Jürgen Heraeus (86) ausharrt.
Vorher würde Messer allerdings am
liebsten noch ein Problem lösen: Er
muss Geld auftreiben, um das Private-
Equity-Haus CVC auszahlen zu kön­
nen. Deren Deutschland-Chef Alexan-
der Dibelius (63) hatte 2019 der
Familie geholfen, einen kühnen Plan
umzusetzen. Gemeinsam erwarben die
Immer für eine Überraschung gut: Unternehmer Stefan Messer
Partner für rund 3,6 Milliarden Dollar
große Teile des Nord- und Südamerika-
Geschäfts, das Linde und Praxair im
Zuge ihrer Fusion aus kartellrechtli­
chen Gründen abgeben mussten. 2023,
so lautete das Agreement, soll CVC
über einen Börsengang aus dem Joint
Venture namens Messer Industries wie­
der aussteigen können, muss aber nicht.
Die Alternative: Messer zahlt CVC
aus – was der Senior schon bei Ab­
schluss des Geschäfts als Nahziel
­öffentlich ausgerufen hatte. Wie genau
das klappen könnte, darüber gehen seit
ein paar Monaten die Gespräche. Weil
die Partner den Wert von Messer In­
dustries inzwischen auf locker acht
Milliarden Euro verdoppelt haben, tut
sich ein Luxusproblem auf. Woher soll
das ganze Geld kommen? Messer jeden­
falls lässt sich deswegen von Dirk
­Notheis (54) beraten, früher Deutsch­
land-Chef von Morgan Stanley.
Der Unternehmer drückt aufs Tem­
po, denn mit Ehefrau Jenjira (51) sind
zugleich neue Werte in sein Leben
­eingezogen: Er will einen Gang runter­
schalten. Das Paar verspürte den „in­
nigsten Wunsch“, über ihr Thai Spa in
seinem Heimatort Bad Soden fernöst­
liche Lebensart nach Deutschland zu
bringen, wie Messer selbst bekundet –
und zwar „basierend auf einem besinn­
lichen Leben und körperlicher Ausge­
glichenheit“. Jetzt steht ihm nur noch
ein Milliardendeal im Weg.
1 Eva Buchhorn
manager magazin
 Seitentitel  NAMEN UND NACHRICHTEN

manager magazin DEZEMBER 2022 25

SKILFULLY CRAFTED. ENJOY RESPONSIBLY.
 NAMEN UND NACHRICHTEN  SIXT
„70 bis 90
Prozent Jahr ersetzt. Der Anteil in unserer Ge-
elektrisch“: samtflotte wird sich somit im einstelli-
Alexander Sixt gen Prozentbereich bewegen.
will den
Autovermieter Aber anfangs stellt BYD sicher ein
zu einem Viertel Ihrer E-Flotte. Die deutschen
Elektrovorbild Hersteller lassen ihre Kundschaft im
entwickeln Durchschnitt fast ein Jahr warten
auf Batteriemodelle. Ist der Deal
vielleicht ein Tritt in den Hintern für
Audi, BMW und Mercedes? Motto:
„Jetzt gebt mir endlich Autos.“
Unsere Geschäftsbeziehungen zu den
deutschen Herstellern sind hervor­
ragend. Sind wir zufrieden mit den Ein-
kaufsabschlüssen? Ja, angesichts all
der Knappheiten zum Beispiel bei Halb-
leitern. Wir haben unseren gesamten
Flottenbestand bis Ende September um
13 Prozent gesteigert, sind auf bestem
Weg zum Vorkrisenniveau. Den Pre-
miumanteil haben wir gegenüber 2019
sogar von 55 Prozent auf 64 Prozent
­gesteigert. Aber hätten wir für 2023
und 2024 gern noch mehr Elektroautos?

Autonom?
Antwort auch hier: ja, natürlich.
Und Oliver Zipse und Ola Källenius,
die Chefs von BMW und Mercedes,

„Würden wir machen“

haben sich nicht beschwert?
Zu Gesprächen mit unseren Partnern
äußern wir uns grundsätzlich nicht.
Aber für die Hersteller hat es doch gro-
INTERVIEW Alexander Sixt erklärt, wie Mobili- ße Vorteile, mit uns zusammenzuarbei-
tätsdienste für ihn funktionieren können. ten: Wir überzeugen unsere und damit
auch deren Kunden davon, dass ein
Elektroauto ein tolles Produkt ist. 70

A
lexander Sixt (43) führt ge-
meinsam mit seinem Bruder
Konstantin (39) den Autover-
mieter Sixt; die beiden steuer-
ten das Unternehmen 2021
trotz Corona zu 2,3 Milliarden
Euro Umsatz und 21 Prozent Rendite.
Ihre Firma ist früh mit BMW in das
Carsharing eingestiegen, betreibt das
Geschäft jetzt aber allein. Zum Inter-
view empfängt er an seinem Geburts-
tag – via Teams.
manager magazin: Herr Sixt, herzli-
chen Glückwunsch zum Geburtstag!
Foto: Florian Generotzky / laif
zeuge nicht anstelle europäischer und
insbesondere deutscher Fahrzeuge,
sondern bewusst zusätzlich. Wir wol-
len den Ausbau in Richtung E-Mobilität
schneller vorantreiben. 2030 sollen 70
bis 90 Prozent unserer Flotte in Europa
elektrisch fahren. Die künftigen Anfor-
derungen des Lieferkettengesetzes wer-
den wir selbstverständlich einhalten.
Und weil Sie in Deutschland nicht
ausreichend Elektroautos bekom-
men, kaufen Sie in China?
2019 lag der Elektroanteil an unserer
Flotte noch bei einem Prozent. Jetzt
Prozent der befragten Kunden geben
an, dass die Fahrt in Mietwagen helfen
kann, Vorbehalte gegenüber Elektro-
mobilität abzubauen. Sogar mein Vater
fährt inzwischen Elektro. Und der war
ein vehementer Kritiker. Die Testfahr-
ten haben ihn überzeugt.
Ihr Vater Erich Sixt hat das Unter-
nehmen gemeinsam mit Ihrer Mut-
ter Regine aufgebaut; im Sommer
2021 haben Sie und Ihr Bruder Kon-
stantin die Spitze übernommen. Wo
wollen Sie 2030 stehen?
So simpel, wie es klingt: Wir wollen die

Aber, wir können leider nicht anders,
Sie haben angekündigt, 100.000 Elek-
troautos beim chinesischen Herstel-
ler BYD zu kaufen. Ist aus dem strah-
lenden Familienunternehmer der
Bösewicht der Autowelt geworden?
Alexander Sixt: Herzlichen Dank und:
Natürlich nicht, wir kaufen die Fahr-
sind es rund 11 Prozent. Das wollen wir
möglichst schnell weiter ausbauen. Da-
für setzen wir ganz überwiegend auch
mittel- und langfristig auf deutsche
und europäische Premiumhersteller.
Die Autos von BYD bekommen wir
nicht auf einen Schlag, sondern bis
2028; sie werden nach maximal einem
beste Autovermietung sein, mit den
besten Mitarbeitern und den zufrie-
densten Kunden.
Sie bieten Carsharing an, bei Ihnen
kann man Elektroscooter buchen.
Wann wird daraus ein Geschäft?
Wir haben stets betont, dass Carsha-
ring für uns nur durch die Anbindung

26  DEZEMBER 2022 manager magazin


an die Autovermietung wirt­
schaftlich funktionieren kann.
Unsere Grundüberzeugung war
immer, dass wir uns auf unser
Kerngeschäft konzentrieren
­sollten, da wir mit anderen Mo­
bilitätsprodukten nur schwer
selbst operativ Geld verdienen
können.
Warum bieten Sie sie dann an?
Unsere Kunden bekommen ein
ganzheitliches Produktangebot
und haben die Auswahl. Und für
uns ist es ein Vertriebskanal.
Zum Autovermieter gehen viele
Kunden nur wenige Male im Jahr,
andere Verkehrsmittel nutzen sie
deutlich häufiger. Wenn junge
Menschen in München oder
Hamburg in unsere Sixt-Share-
Fahrzeuge steigen, dann buchen
sie hoffentlich später auch Miet­
wagen bei uns. Dann wird daraus
ein positiver Business Case.
Ein Mobilitätsdienst als Mar-
ketinginstrument?
Wir haben uns für einen risiko­
armen Plattformansatz entschie­
den. Und ja: Das ist eine gute
und günstige Methode zur Kun­
denakquise. Carsharing ist ein
schwieriges Geschäft; das lohnt
sich nur in einer Handvoll Städte.
Das wird für uns nicht das nächs­
te Multimilliardenprodukt.
Was ist mit Ridehailing, dem
digitalen Zusammenführen
von Menschen in einem Ge-
fährt, die auf ähnlichen Stre-
cken unterwegs sind?
Die Kosten pro Nutzer schienen
uns da zu hoch. Wir haben uns
deshalb für Partnerschaften ent­
schieden, vermitteln zum Bei­
spiel in den USA Fahrten an Lyft.
Wir müssen nicht alles selbst
machen oder besitzen.
Glauben Sie denn überhaupt
an das Geschäft Ihrer Partner?
Volkswagen ist mit WeShare
gerade ausgestiegen.
Wie schon gesagt: Für uns macht
Carsharing nur in der Zusam­
menlegung mit der Autovermie­
tung Sinn. Von der Skalierbarkeit
her ist das auf wenige urbane
Metropolen begrenzt.
manager magazin
Raus aus Sie wollen in München einen Große Roboflotten, und trotz-
dem Corona- Testbetrieb für Robotaxis star- dem bleibt alles beim Alten?
Loch ten. Wann geht es los? Erstens sind wir noch nicht so
Umsatzrendite Wir befinden uns in intensiven
(Ebit) Sixt, Vorbereitungen mit unserem
in Prozent
Partner Mobileye. Die Pilotphase
22,9 in München soll wie angekündigt
noch in diesem Jahr starten. Der
21,0 kommerzielle Betrieb beginnt,
sobald alle Zertifizierungen und
Genehmigungen vorliegen.
Mit realen Kunden und ohne
Kontrollfahrerin oder -fahrer?
Das wird nach und nach über­
gehen in regulären Betrieb. Zu­
13,6 nächst wird zur Sicherheit auch
12,7 das Steuer besetzt sein. Der Si­
12,5
cherheitsfahrer kann aussteigen,
wenn wir alle notwendigen Ge­
nehmigungen bekommen haben.
Ist diese Kooperation der Weg
in die wahre Sixt-Zukunft? Vie-
les in Ihrer App läuft auf Mobi-
lity-as-a-Service hinaus, etwa
auf den Betrieb von Robotaxi­
flotten; auch Autokonzerne
wollen da massiv einsteigen.
Welche Rolle bleibt da für Sixt?
Wir werden weiterhin eine Flotte
effizient betreiben und unseren
Kunden das richtige Fahrzeug am
2017 20221
richtigen Ort zur richtigen Zeit
zur Verfügung stellen müssen.
-3,2 Autohersteller haben schon im­
mer auch Flotten- und Mobili­
1 | 30. September. tätsdienste angeboten. Auch das
Quelle: Unternehmen
Grafik: manager magazin wäre nichts wirklich Neues.
SIXT  NAMEN UND NACHRICHTEN
weit. Zweitens braucht man auch
dann eine starke Marke und eine
Kundenplattform, um die Fahr­
zeuge auszulasten. Es ist nicht
damit getan, ausschließlich eine
gute App zu bauen. Unser Ge­
schäft ist weitaus komplexer.
Die Backoffice-Prozesse müssen
stimmen, die Logistik zwischen
den Stationen muss passen.
Wann repariere ich einen Scha­
den? All diese Themen bleiben.
Es wird eher noch komplizierter.
Warum machen Sie den Test-
betrieb dann überhaupt mit
Mobileye? Ähnliche Projekte
starten sonst entweder Tech-
oder Autokonzerne.
Wir wollen Innovationsführer
sein; verstehen, was passiert. Wir
werden vorbereitet sein, wenn
sich autonome Autos mittelfristig
durchsetzen. An der Kernwert­
schöpfung von Sixt wird sich
­allerdings nicht so viel ändern.
Nur, dass Sixt dann autonome
Autos verleiht?
Wenn es denn so weit ist und die
Kunden es wollen, würde ich das
natürlich machen. Und zwar gut
machen. 1
Das Interview führte
mm-Redakteur Michael Freitag.
Foto: Frank Hoermann / SvenSimon / picture alliance
Vierradantrieb: Regine und Erich
Sixt haben den Autovermieter
aufgebaut, die Söhne Konstantin
(l.) und Alexander (r., hier alle in
Bayreuth 2011) führen das
Unternehmen jetzt gemeinsam
DEZEMBER 2022 27
 NAMEN UND NACHRICHTEN  MAHLE
Im Schlafwagen
MAHLE Unangenehmer Start für den neuen Chef
Arnd Franz: Die Geldgeber machen Druck.
I
m Aufsichtsrat des Stutt­
garter Automobilzulieferers
Mahle spielen sich mitunter
eigentümliche Szenen ab.
Man schläft. Zuletzt, die
Runde war per Video zu-
sammengeschaltet, seien gleich
zwei Ü70-Herren weggenickt, be-
richten Teilnehmer. Der Durch-
schnittskontrolleur auf Kapital-
seite ist einigermaßen alt und
könnte bald in Rente gehen.
Das mag manchem als Entschul-
digung gelten. An Langeweile
jedenfalls kann es nicht liegen.
Im ersten Halbjahr 2022 sum-
mierte sich der Verlust bei Mahle
Foto: Uwe Anspach / dpa / picture alliance
auf fast 300 Millionen Euro, die
Nettoverschuldung lag laut
­Moody’s bei 1,7 Milliarden Euro,
das Cash floss im dicken Strom
aus dem Unternehmen heraus.
Die Ratingagentur stufte Mahle
Ende September auf Ba2 negativ
herab, Investitionen in den
­Kolbenspezialisten sieht sie mit
einem deutlichen Ausfallrisiko
verbunden.
28  DEZEMBER 2022
Patriarch „Ju“: Aufsichts-
ratschef Heinz Junker
hat den Autozulieferer
groß gemacht, jetzt ist er
zum Problem geworden
Die Problemlage ist nicht neu.
Heinz Junker (72), langjähriger
Chef der Geschäftsführung und
heute als Vorsitzender des Auf-
sichtsrats und des Stiftungskon­
strukts Mabeg eine Art Allein-
herrscher, ist die Transformation
weg vom Verbrenner bislang
missglückt; er hat in den ver­
gangenen vier Jahren drei CEOs
zerschlissen.
Nun machten die Banken
Druck, heißt es im Unternehmen.
Die finanzierenden Institute –
etwa die Landesbank Baden-
Württemberg (LBBW), die Com-
merzbank und die Deutsche Bank
– fragten immer wieder nach dem
Stand, erwarteten, dass ihnen
­ei­ne neue Strategie präsentiert
werde. „Der Geschäftsführung
ist die kritische Situation be-
wusst“, sagt einer. „Aber ob der
Aufsichtsrat das verstanden hat?“
Der neue Chef Arnd Franz
(57) kennt das Unternehmen
eigentlich gut. Er arbeitete fast
20 Jahre in Spitzenpositionen für
die Stuttgarter, bis er Mahle vor
drei Jahren verließ, intern gilt er
als Hoffnungsträger. Ein Video-
Willkommensgruß an die Be-
schäftigten kam positiv an.
Mitarbeitende und Manage-
ment sehnten sich jetzt nach
einer Führung, die Kontinuität
verspreche und vor allem an­
packe, sagen sie in der Zentrale.
Ganz einfach wird der Turn-
around nicht. Finanzvorstand
Michael Frick (56) hat, als Inte-
rims-CEO, im Sommer zwar ein
Restrukturierungsbüro durch­
gesetzt: Cash sichern in Eigen­
regie, bevor ihm die Banken
einen Chief Restructuring Offi-
cer ins Haus schicken. Und es
gab auch erste Fortschritte. Die
Autohersteller etwa stimmten
Preiserhöhungen zu. Mit seinem
eigentlichen Masterplan aber
scheiterte Frick.
Er wollte eine klare Trennung
von Zukunfts- und Verbrenner-
geschäft, die Einheiten womög-
lich juristisch separieren, in die
Motorentechnik Partner auf­
nehmen und dann langsam,
aber profitabel schrumpfen.
Unter dem
Mahle hängt noch zu 40 Pro-
Nullpunkt
Ebit-Marge von zent am Verbrenner, Frick propa-
Mahle, in Prozent gierte „antizipatives Schneiden“.
Gleichzeitig wollte er massiv in
6,1
hoffnungsvolle Zukunftstechno-
logien wie die Kühlung von Bat-
terien oder Elektrokompressoren
investieren und schnell in die
globalen Top zwei oder drei auf-
2,8 steigen. Doch Junker blockierte.
Michael Frick wird nun ab
1,5
­Dezember als Finanzchef für den
0,8 1. Konkurrenten ZF in Friedrichs-
Hj. hafen arbeiten. Franz’ Strategie
20 22
werde wohl weniger radikal aus-
17 18 19 21 fallen, berichten Weggefährten.
Die Banken warten jedenfalls
mit Spannung. Und Patriarch
-2,0 Junker? Präsentiert sich selbst-
bewusst wie eh und je. So werden
seine Abschiedsworte, die er im
Frühjahr für den letzten CEO,
Matthias Arleth (55) fand, wie
-3,1 folgt zitiert: „Schlüssel her, Aus-
weis her, Betreten verboten!“
Quelle: Unternehmen
Grafik: manager magazin 1 Margret Hucko
manager magazin
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 TITEL

ELONS
Fotos: Mark Mahaney / Redux / laif

32  DEZEMBER 2022 manager magazin

 Der mächtigste Unternehmer
der Welt sucht die Nähe
zu Despoten und entledigt sich

DÄMONEN ­seiner Kritiker. Elon Musk

wird zum Sicherheits­r isiko.
 TITEL  Elon Musk
Manchmal sprechen frühere Führungs­
kräfte über Elon Musk (51) wie über
ein Kleinkind, das einen Tobsuchts­
anfall bekommt. Ab und an werde der
Tesla-Chef von „negativen Emotionen“
ergriffen, erzählt einer der Ehemaligen.
Im Raum greife dann „Angst“ um sich,
Musk werde „unberechenbar“. Auch
loyale Lieutenants können in solchen
Momenten von einer Sekunde auf die
andere gefeuert werden, von Diskus­
sion auf Augenhöhe hält der reichste
Mann der Welt nichts. Vorherige Ver­
dienste: irrelevant.
Unter seinen Leuten kursiert eine
Theorie, die das erratische Verhalten
erklären soll. Musk besitzt demnach
mehrere Klone. Deshalb brauche er
praktisch keinen Schlaf, so einer der
früheren Manager, deshalb komme es
zu seinen teils irrwitzigen Richtungs­
wechseln und Stimmungsschwankun­
gen. Die Klone würden in Kühltanks
frisch gehalten, beim Auftauen passier­
ten Fehler, und manchmal könnten die
Aufzeichnungen der letzten Tage oder
Wochen nicht geladen werden.
Es ist ein Witz, natürlich. Aber er
lässt tief blicken in die Seelen der Män­
ner und Frauen, die eng mit Elon Musk
zusammenarbeiten.
Seine Ausbrüche sind bei Tesla seit
Langem bekannt. Außerhalb interes­
sierten sich bislang nur wenige dafür.
Elon Musk hat schließlich aus dem be­
lächelten Elektroauto-Start-up binnen
15 Jahren den wertvollsten Autobauer
Foto: Associated Press / picture alliance
44-Milliarden-Dollar-Klamauk: Elon Musk beim Einzug ins Twitter-Hauptquartier
34  DEZEMBER 2022
der Welt geformt, hochprofitabel und
auf vielen Ebenen Vorbild einer ganzen
Branche. Sein Raumfahrtkonzern
­SpaceX lässt Raketen nach Transport­
flügen ins All auf Schiffen landen.
Er bohrt Tunnel, will das menschliche
Gehirn mit Computerchips aufrüsten
und selbst auf den Mars.
Mit seinen radikalen Visionen und
dem Dauerentertainment über seinen
Twitter–Account ist Elon Musk glei­
chermaßen zur Ikone der Popkultur
und des Kapitalismus im 21. Jahrhun­
dert geworden. Millionen Fans bewun­
dern ihn, selbst Analysten und Investo­
ren folgten ihm lange nahezu blind.
Sein unfassbarer Reichtum – aktuell
rund 200 Milliarden Dollar – erscheint
vielen dabei nur als ultimativer Beleg
seiner Einzigartigkeit.
Doch der Mythos bröckelt. Elon
Musk vereint inzwischen so viel Macht
und ist dabei so unberechenbar, dass es
vielen selbst in seinem engsten Umfeld
unheimlich wird.
Denn neben seiner wirtschaftlichen
Dominanz steigt auch sein militäri­
scher Einfluss. Mit SpaceX entwickelt
Musk für das US-Militär Satelliten, die
unverzichtbar sind für die amerikani­
schen Abwehrsysteme gegen Hyper­
schallraketen. Ohne das Starlink-Satel­
litensystem, das Musk ebenfalls
kontrolliert, wären die ukrainischen
Soldaten im Krieg gegen Russland stark
eingeschränkt. Wobei er schon mal
droht, die Satelliten einfach abzuschal­
ten – schließlich war er in der Ukraine
mit seinem Vorschlag auf Widerspruch
gestoßen, die besetzte Krim doch bitte
Russland zu überlassen.
Und nun regiert Elon Musk auch
Twitter. Die einflussreichste öffentliche
Kommunikationsplattform der Welt
führt er praktisch in Alleinherrschaft,
die Co-Investoren haben nichts zu
­sagen. Der reichste Mann auf Erden
wird damit endgültig auch zu einer
politischen Figur, mächtiger als jeder
andere Unternehmer seiner Zeit – und
gefährlicher.
Er kennt keine Grenzen, provoziert,
zündelt, mischt in Donald-Trump-Ma­
nier erratisch Persönliches, Geschäft­
liches und Politisches. Als Amerika
Ende Oktober geschockt ist über eine
brutale Attacke auf den Ehemann der
demokratischen Vorsitzenden des US-
Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi
(82), der mit einem Schädelbruch
­überlebt, verbreitet Musk – noch keine
drei Tage Twitter-Boss – die krude
­Verschwörungstheorie einer rechten
Website, die den Schwerverletzten
­verhöhnt. Als die „New York Times“
darüber berichtet, setzt er sie mit einer
Fake-News-Schleuder gleich; den libe­
ralen britischen „Guardian“ nennt er
kurz darauf eine „linksradikale Propa­
gandamaschine“.
Musks impulsives Verhalten stärkt
das Unbehagen, es gilt Kritikern als
­Beweis dafür, dass „die Vergötterung
der Innovatoren komplett aus dem
­Ruder gelaufen ist“, wie der Marketing­
professor Scott Galloway (58) von der
New York University sagt. Ihr Unter­
nehmen SpaceX solle sich von Musk
distanzieren, forderten vor Monaten
schon Mitarbeiterinnen und Mitarbei­
ter, nachdem Musk Vorwürfe sexueller
Übergriffe bei SpaceX öffentlich ver­
spottet hatte; Musk sei zu „einer Quel­
le der Peinlichkeit“ geworden.
Inzwischen wachsen die Zweifel
auch unter den Geldgebern von Tesla,
dem mit Abstand wichtigsten von
Musks fünf Unternehmen (siehe Grafik
rechts). Seit dem Hoch im November
2021 hat der Börsenwert der Firma
rund 50 Prozent verloren. Die Begeiste­
rung für Musk droht sich ins Gegenteil
zu verkehren. Das monatelange Ge­
zerre um die Twitter-Übernahme und
manager magazin

Musks fehlgeschlagener Versuch, dem
Deal noch zu entkommen, führte dem
ganzen Globus vor Augen, wie planlos
der Elektroheld mitunter agiert.
Selbst einige der treuesten Anhän-
ger fremdeln mit ihrem Idol: Vermö-
gensverwalter Ross Gerber etwa, der
einen dreistelligen Millionenbetrag
seiner Klienten bei Tesla und SpaceX
investiert hat. Er hat Musk auch bei
der Twitter-Übernahme unterstützt;
aus Loyalität, sagt er. Doch wie, fragt
er in seinem Büro in Santa Monica, soll
er den Deal seinen Geldgebern verkau-
fen? Die Twitter-Übernahme sei „das
Schlechteste, was Elon jemals gemacht
hat“. Der Tesla-Chef habe „seine Repu-
tation beschädigt, er wird Dutzende
Milliarden Dollar Verlust machen“.
Die Magie des Elon Musk – sie
schwindet. Und immer mehr Kritiker
und bisherige Bewunderer fragen sich:
Welches Risiko stellt Musk für seine
Unternehmen dar – und im Extremfall
auch für die Weltgemeinschaft?
Die One-Musk-Show
Tesla ist eine One-Musk-Show: Bei
praktisch keinem anderen Unterneh-
men dieser Kategorie hängt so viel an
einer einzigen Person. Techkonzerne
wie Apple, Alphabet oder Amazon wur-
den ebenfalls stark von ihren Gründern
geprägt. Doch lange bevor sie die Be-
wertungsregionen von Tesla erreichten,
etablierten sich professionelle Füh-
rungsteams. Amazon-CEO Andy Jassy
(54) war seit 1997 im Unternehmen,
bevor er 2021 den Spitzenjob über-
nahm. Apple-CEO Tim Cook (62) stieg
1998 ein – und viele aus dem Führungs-
zirkel sind noch deutlich länger dabei.
Bei SpaceX hat Elon Musk mit
Gwynne Shotwell (58) eine langjähri-
ge Vertraute, die das Unternehmen im
Alltag managt. Doch bei Tesla, mit
rund 100.000 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern etwa zehnmal so groß wie
SpaceX, fehlt eine erfahrene Manage-
mentriege. Stattdessen berichten min-
destens 26 Manager und zwei Manage-
rinnen direkt an Musk; und die werden
regelmäßig getauscht.
Ein gigantisches Risiko sei das, ge-
steht ein einflussreicher Tesla-Investor.
Als im Sommer ein bleicher, aufgedun-
sener Musk auf einer Jacht im Mittel-
manager magazin
Elon Musk  TITEL
Das Musk-Imperium meer fotografiert wurde, sei ihm das
Elon Musks Firmen, Bewertung in Mrd. Dollar Blut gestockt, sagt der Mann. „Er sah
schlimm aus“, er habe sich um Elons
Gesundheit gesorgt. Und, genauso, um
sein Investment: „Ich bin nicht sicher,
127 ob Tesla ohne Elon überleben würde.“
622Tesla
SpaceX
Hinter den Kulissen drängen Inves-
toren wie James Anderson (63), ehe-
mals Partner von Baillie Gifford und
44
Twitter lange wichtigster Geldgeber Teslas,
immer wieder darauf, dass Musk eine
6 2 Nummer zwei und ein unabhängigeres
The Boring Company Neuralink
Management aufbaut. Doch stattdes-
sen hat Musk das Problem in den ver-
Gigawette
Börsenwert1, in Milliarden Dollar gangenen Jahren noch verschärft.
Mit Jérôme Guillen (50), Teslas
einstigem President Automotive, verlor
222
Toyota
97
BYD
er im vergangenen Jahr einen Schlüs-
622
selmanager. Investoren hatten gehofft,
der ehemalige Mercedes-Mann könnte
Volkswagen
das Management stabilisieren. Der
Porsche
Tesla
langjährige Technikchef JB Straubel
81
91 56
GM (46), der 2004 als fünfter Mitarbeiter
überhaupt zu Tesla gestoßen war, hatte
64
Mercedes-Benz sich schon 2019 verabschiedet.
Straubel verbreitet, er sei „im Gu-
Autoverkäufe2 2021, in Millionen
ten“ mit Musk gegangen. Doch Perso-
nen, die ihm nahestehen, erzählen
eine andere Geschichte. Sie klingt eher
6,3
GM nach dem, was Straubels Mutter dem
10,5 8,3 0,7 US-Magazin „Time“ offenbarte: „JB
Toyota Volkswagen BYD
hatte immer das Gefühl, dass er mit
Elon zusammenarbeiten konnte“ – aber
Tesla
0,9
es habe „einen Punkt“ gegeben, an dem
„er es einfach nicht mehr konnte“. Die
2,8 0,3 Beziehung sei „zerbrochen“.
Mercedes-Benz Porsche
Am Ende, sagt ein Straubel-Vertrau-
Teurer Deal ter, laufe es immer ähnlich: Musk rea­
Unternehmenswert ... giere zunehmend dünnhäutig auf
­Widerspruch. Fehlende Zustimmung
... zu Umsatz3 lege er so aus, dass ein Manager nicht
mehr für seine Strategie brenne. Wen
Musk nicht feuere, dem reiche es dann
8,4 irgendwann. Im Ergebnis verschwinde
3,5
2,1
in Musks Umfeld so das Korrektiv.
Twitter Snapchat Meta „Natürlich“, gesteht ein Investor ein,
sage er Musk nicht seine „wirkliche
Meinung“. Sonst drohe man sich
... pro Nutzer, in Dollar
schnell aus dem Vertrauenskreis zu ka-
tapultieren und „allen Einfluss zu ver-
lieren“. Er versuche eher, ihn „indirekt
184,9 zu beeinflussen“. Widerspruch kommt
84,3
44,1 so, wenn überhaupt, nur noch in mikro-
Twitter Meta Snapchat skopischen Dosen bei Musk an.
Die im Vorstand verbleibenden Ma-
1 | Stand: 7.11.2022; 2 | Volkswagen ohne Porsche; nager Zachary Kirkhorn (38) und An-
3 | Prognose für 2022. Quelle: Refinitiv, Pitchbook,
Unternehmen Grafik: manager magazin drew Baglino (41) setzen um, was 2
DEZEMBER 2022 35
 TITEL  Elon Musk
Musks Handlanger: Anwalt Alex Spiro (l.), rechte Hand Jared Birchall (r. u.). Gwynne Shotwell (r. o.) managt SpaceX.
Musk vorgibt. Gleiches gilt für die
­beiden anderen zentralen Manager an
seiner Seite: den ehemaligen Morgan-
Stanley-Banker Jared Birchall (48),
der Musks Family-Office leitet, und
Musks persönlichen Anwalt Alex Spiro
(39), der ihn auch bei der Twitter-Über-
nahme berät.
Gehör finden bei Musk Personen, die
ihn teils auf groteske Weise vergöttern.
Eine Tesla-Bloggerin etwa, die ganz un-
ironisch Bilder von Musk als Erzengel
postet. Oder der Investor Jason Cala-
canis (51), bei dem Musk Rat während
des Twitter-Deals suchte.
Calacanis versprach seinem Helden
Fotos: Patrick T. Fallon / Bloomberg / Getty Images (2), Sipa USA / ddp images
in einer Textnachricht „mein Schwert“
für den bevorstehenden Kampf, als „Auf-
sichtsrat, Berater – was auch immer“.
Als Musk dann aber dessen Bemühun-
gen kritisierte, weitere Investoren für
die Übernahme aufzutreiben, weil ihn
das „verzweifelt aussehen“ lasse, wirkte
Calacanis am Boden zerstört. Er wolle
seinen Freund doch „immer nur unter-
stützen“ und schwor grenzenlose
­Loyalität: „I’m ride or die“ – er werde
bis zum Ende mit ihm reiten oder ster-
ben. Musk kommentierte den Kniefall
großzügig mit einem Herz-Emoji.
Es ist dieses Umfeld von Ergebenen,
das den Tesla-Chef anfeuert, als er im
März zur Übernahme von Twitter an-
setzte. Wieder agierte er impulsiv, nur
dass es diesmal um eine 44-Milliarden-
Dollar-Übernahme ging. Neu war auch,
dass Musks Routinen dieses Mal für alle
36  DEZEMBER 2022
sichtbar wurden. Als er sich aus dem
Deal herauszuwinden versuchte und
die Sache vor Gericht ging, gelangten
auch private Textnachrichten an die
Öffentlichkeit.
Der Desaster-Deal
Sie zeigen, wie orientierungslos Musk
und seine Unterstützer teilweise ope-
rierten. Mal warb Musk euphorisiert
für ein „Blockchain-Twitter“, nur um
den Ansatz ein paar Chats später für
„unmöglich“ zu halten. Social-Media-
Expertin Kate Klonick (37), Professo-
rin an der St. John’s University School
of Law, liest aus den Nachrichten nicht
nur, dass Musk und seinem Umfeld ein
tieferes Verständnis für Konzepte wie
Meinungsfreiheit fehlt. Sie machten
auch deutlich, dass Musk „durch und
durch irrational und impulsiv“ agiere.
Das Bild des hochintelligenten Unter-
nehmers bekam Risse.
Finanziell ist der Deal für Musk oh-
nehin ein Desaster. Er habe „zu viel be-
zahlt“, gesteht der Tesla-Chef selbst.
Das Vier- bis Fünffache von Twitters
eigentlichem Marktwert sei es gewe-
sen, schätzt Analyst Richard Green-
field von der Researchfirma LightShed
Partners. Schon die nun fälligen Zins-
zahlungen von rund einer Milliarde
Dollar pro Jahr übersteigen den opera-
tiven Cashflow von 630 Millionen Dol-
lar, den Twitter 2021 generierte.
Wollten Musks Investmentbanken
die Schulden wie ursprünglich geplant
weiterverkaufen, müssten sie wohl eine
halbe Milliarde Dollar Verluste realisie-
ren, schätzten Experten. Im schlimms-
ten Fall wird Musk trotz drastischer
Kürzungen bei Twitter bald Kapital
nachschießen müssen, um einen Schul-
denausfall zu verhindern. Ihm bliebe
dann wohl nichts anderes, als erneut
Tesla-Aktien zu verkaufen; Anteile für
mehr als 19 Milliarden Dollar musste er
schon abstoßen.
Das Impulsgeschäft Twitter schadet
dem Jahrhundertprojekt Tesla.
Um zu verstehen, was Musk in die-
sen Katastrophendeal getrieben hat,
hilft es, mit Mike Harrigan (76) zu
sprechen. Er war Teslas erster Marke-
tingchef, organisierte 2006 in Los
­A ngeles die Präsentation von Teslas
erstem Modell, dem Roadster. Die Re-
aktion darauf war „überragend“, er-
zählt er, das Interesse übertraf alle Er-
wartungen; „ein gigantischer Erfolg“.
Nur einer war unzufrieden: Elon Musk.
Der war damals nur Investor bei
Tesla, als Manager widmete er sich
hauptsächlich den Problemen bei
­SpaceX. Musk beschwerte sich bei Har-
rigan bitterlich darüber, dass Tesla-
Gründer Martin Eberhard (62) im
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
stand. Harrigan sollte die PR-Strategie
über den Haufen werfen und ihm
schleunigst Interviews „mit jedem
wichtigen Medium“ (Musk) besorgen
– sonst werde er ihn feuern. Richtig
­zufrieden sei Musk erst gewesen, so
manager magazin

Harrigan, als er ihm einen
prestigeträchtigen Auftritt in
­ Börsenwert
New York organisiert habe. Musk
nahm für Tesla einen Preis ent-
gegen – und saß bei der Ehrung
mit dem früheren sowjetischen
Staatspräsidenten Michail Gor-
batschow an einem Tisch.
Inzwischen haben sich die
Dinge gedreht. Mit der Twitter-
Übernahme sind die Staatschefs
nun Gäste auf Musks Plattform.
Doch dem geht es nun um
mehr als um den Platz im Spot-
light und die Nähe zu den Mäch-
tigen; das belegen die Textnach-
richten. In seinem Inner Circle
philosophiert Musk darüber,
Twitter „zu befreien“, er wittert
„versteckte Korruption“ bei der
Plattform. Musk, der im Laufe
der Jahre von einem Unterstützer
der Demokraten zu einem Helden
der libertären Rechten und
Trump-Anhänger mutierte, ver-
mutet die heimliche Unterdrü-
ckung von Stimmen, die von der
Twitter-Führung abgelehnt wer-
den. Musk werde die Möglichkeit
zur freien Meinungsäußerung
„wiederherstellen“, erklärt der
Musk-Vertraute David Sacks
(50), der nach der Übernahme
zusammen mit Calacanis, Bir-
chall und Spiro in die Twitter-
Zentrale einrückte, um das
Unternehmen neu aufzustellen.
Schon vor der Übernahme
warnten rechtsradikale Unter-
stützer den Tesla-Chef in Text-
nachrichten davor, sich auf „den
Kampf des Jahrhunderts“ einzu-
stellen: Musks Twitter müsse
verteidigt werden; als Opponen-
ten wurden etwa NGOs identifi-
ziert, die sich gegen Antisemitis-
mus wenden. Schon vor der
Übernahme hatte Musks rechte
Hand Birchall dem Holocaust-
Leugner Charles Johnson (34)
laut „Wall Street Journal“ zugesi-
chert, dass er „hoffentlich bald“
zu Twitter zurückkehren könnte.
Menschenrechtsorganisatio-
nen sorgen sich bereits, dass
Musk die Plattform dem Einfluss
autoritärer Regime preisgeben
manager magazin
Kehrtwende könnte. Das Regime von Saudi-
Arabien ist via Staatsfonds indi-
von Tesla, rekt bei Twitter investiert, Prinz
in Mrd. Dollar
Alwaleed Bin Talal (67) zweit-
größter Twitter-Investor. Musk
1200
flirtete zuletzt öffentlich mit dem
früheren Kreml-Chef und Putin-
1100 Freund Dmitri Medwedew (57).
Und das Drohpotenzial der Chi-
1000 nesen ist immens.
900 Gefährlicher Messias-Wahn
Schon vor den letzten Präsident-
schaftswahlen wurden von China
800
orchestrierte Kampagnen mit
Hunderttausenden Konten auf-
700 gedeckt. Die NGO Human Rights
Watch warnt nun, dass sich der
600 Einfluss Chinas auf Twitter an-
622
gesichts Musks wirtschaftlicher
500 Abhängigkeit vom chinesischen
Automarkt massiv ausweiten
könnte. Erste Indizien: Kaum war
400
die Übernahme abgeschlossen,
forderten chinesische Regie-
300 rungsbeamte von Musk schon,
den üblichen Hinweis von der
200 Plattform zu entfernen, dass be-
stimmte Links zu einer „chinesi-
100 schen staatsnahen Medien-Web-
site“ führen.
Spurt Musk nicht, drohen
0
­Tesla in China negative Konse-
1.1.16 7.11.22 quenzen. Gefolgschaft dagegen
wird belohnt. Nur Tage nachdem
Quelle: Refinitiv
Grafik: manager magazin Musk sich auf Twitter dafür
Irrer Kult: Elon-Musk-Jünger haben kürzlich eine neun Meter lange Statue ihres Helden gefertigt
Elon Musk  TITEL
a­usgesprochen hatte, Taiwan
doch zu einer „Sonderverwal-
tungszone“ unter chinesischer
Herrschaft zu machen, gab Pe-
king bekannt, dass Teslas Autos
in China von umfangreichen
Steuerbefreiungen profitieren.
Ähnlich wie sein früherer
­Geschäftspartner, der libertäre
Investor Peter Thiel (55), hält
Musk wenig von gegenwärtigen
politischen System. Zwar wieder-
holt er unablässig, mit SpaceX,
Tesla und jetzt auch Twitter „die
Menschheit“ retten zu wollen.
Einzelne Menschen interessieren
ihn dabei allerdings offensicht-
lich weniger.
Musk hängt erklärtermaßen
der Ideologie des sogenannten
Longtermism an. Dahinter stehe
die gefährliche Vorstellung, dass
es für „den langfristigen Erfolg
der Menschheit“ durchaus an­
gebracht sein kann, „ein paar
Millionen Leben in der Gegen-
wart zu opfern“, wie Digitalvor-
denker Sascha Lobo (47) erklärt.
Es sei eine menschenfeindliche,
quasireligiöse Denkwelt, die „alle
möglichen faschistoiden Haltun-
gen von Euthanasie bis Sozial-
darwinismus zumindest akzepta-
bel erscheinen lässt“.
Praktisch für Musk: Nach die-
sen Vorstellungen „spielt es 2
Foto: Backgrid / action press
DEZEMBER 2022 37
 TITEL  Elon Musk
keine Rolle, ob Tesla Fabrikarbeiter
drangsaliert“, analysiert David Karpf,
Professor an der George Washington
University. Zählen würden „die Er­
finderhelden“. „Sie verbreiten das Licht
des Bewusstseins im gesamten Kos­
mos, wehren existenzielle Risiken ab
und machen der Menschheit in der fer­
nen Zukunft großzügige Geschenke.“
So versteht Musk sich offenbar als
eine Art Auserwählter, der die Mensch­
heit mit seinen Raketen auf neue Plane­
ten führt, um ihr Überleben zu sichern.
„Ich glaube nicht, dass du unbedingt
ich sein willst“, erzählte er vor vier
­Jahren, von der eigenen Bedeutung
fast zu Tränen gerührt, im Podcast von
Joe ­Rogan (55), als der danach gefragt
hatte, wie Musk damit umgehe, dass
es nicht „Millionen Elon Musks“ gebe,
sondern nur „einen“.
Also erledigt der einzige, einzigarti­
ge Elon Musk den Polyjob, den er als
Welt-Messias an sich gerissen hat,
­weiter ganz allein. Twitter, SpaceX,
Tesla – und dann noch die ständige
Kommunikation mit wichtigen und un­
wichtigen Followern; das ist eine Men­
ge. Zöge Twitter dabei nur seine eigene
Aufmerksamkeit von Tesla ab, würden
im Management vermutlich sogar viele
durchatmen. Doch Musk beorderte
auch mehr als 50 Tesla-Angestellte in
die Twitter-Zentrale, darunter unter
anderem Direktoren für die Autopilot­
entwicklung. Die Gruppe soll das Ent­
Fotos: Tesla / AFP, AP Photo / picture alliance
Crash-Gefahr: Musk verspricht Tesla-Roboter. Doch die Umsetzung ist so fraglich wie bei seinen Plänen zum autonomen Fahren.
38  DEZEMBER 2022
wicklerteam des gerade übernomme­
nen Unternehmens evaluieren.
Hohes Absturzpotenzial
Die Defokussierung der Topleute ist be­
sonders bedenklich, da Teslas Absturz­
risiko enorm bleibt. Zwar ist das Unter­
nehmen inzwischen profitabler und
wächst schneller als die meisten ande­
ren Autokonzerne, und auch nach dem
Kursrutsch ist Tesla noch mehr wert
als die sechs nächstgrößeren Autofir­
men zusammengerechnet (siehe Grafik
Seite 35). Doch die Investoren sind ner­
vös. Der Kurs taucht selbst ab, wenn
Tesla wie im Oktober Rekordausliefe­
rungen bekannt gibt – aber doch unter
den Erwartungen bleibt. Und die muss
Tesla erfüllen, um in die gigantische
Bewertung hineinzuwachsen.
Die Investoren haben sowieso mehr
eingepreist als den – noch längst nicht
geschafften – Aufstieg zum größten
Autokonzern. Im Wesentlichen, so
­Tesla-Investor Taylor Ogan, Chef des
Hedgefonds Snow Bull Capital, ist der
astronomische Kursanstieg getrieben
von den Erwartungen an autonom fah­
rende Autos. Seit Musk im April 2019
erklärt hat, Tesla-Besitzer könnten bald
30.000 Dollar im Jahr verdienen, in­
dem sie ihre Autos in Teslas Robotaxi-
Flotte einreihten, ist der Umsatz um
238 Prozent angestiegen – der Kurs aber
um 1080 Prozent. Analysten der In­
vestmentbank UBS erklären, dass zur
Rechtfertigung von Teslas Bewertung
ab 2025 nahezu „jeder zweite Dollar“
mit Teslas autonomer Fahrsoftware
verdient werden müsste.
Nur hat Musk zunehmend Schwie­
rigkeiten, die Story von Teslas Robo-
Mutation aufrechtzuerhalten. Als zu­
letzt die Skepsis anschwoll, zauberte er
kurzerhand die nächste Megavision mit
Erlöseranspruch hervor: den humanoi­
den Tesla-Roboter Optimus. Für Tesla
könne die Roboterproduktion, so Musk,
noch „bedeutender als das Fahrzeug­
geschäft“ werden; in Aussicht stellt er
nicht weniger als „eine grundlegende
Transformation der Zivilisation“. Doch
ein an der Entwicklung des Tesla-Bots
Beteiligter winkt ab: Das Problem sei
noch komplexer als das autonome
­Fahren. Der Roboter sei weit davon ent­
fernt, auch nur eine einzige nützliche
Tätigkeit zu verrichten. Auch bei Teslas
Investoren verfangen die wilden Visio­
nen nicht. Nach der Optimus-Vorstel­
lung reagierte der Kurs kaum.
Musk wird von der Realität einge­
holt, auch beim autonomen Fahren.
Er verkauft ein Fahrassistenzsystem,
das stets vom Fahrer überwacht werden
muss, als „Autopilot“ oder „Full Self-
Driving“, verlangt dafür in den USA
15.000 Dollar (in Deutschland 7500
Euro). Doch die meisten Experten hal­
ten es für praktisch ausgeschlossen,
dass die gut drei Millionen Teslas, die
Musk mit der Hardware verkauft hat,
jemals autonom fahren werden. Die
Hardware, die seit 2016 eingebaut wur­
de, ist viel zu schwach. Auch die neue,
stärkere, gilt als unzureichend.
Inzwischen ermittelt Medienberich­
ten zufolge nicht nur die US-Verkehrs­
behörde NHTSA, sondern auch die US-
Staatsanwaltschaft gegen Tesla. Es geht
darum, inwiefern die falschen Marke­
manager magazin

Militärmacht Musk: Ukrainische Soldaten und die amerikanische Raketenabwehr sind auf die Satelliten von SpaceX angewiesen
tingversprechen teils tödliche Unfälle
befördert haben, weil sich T­ esla-Fahrer
auf die Versprechen verließen. 15 Todes-
fälle durch Autopilot-Crashs sind in-
zwischen doku­mentiert. Der einfluss-
reiche Verbraucheranwalt und frühere
US-Abgeordnete Ralph Nader (88)
warnt vor „einer der ge­f ährlichsten und
unverantwortlichsten Aktionen eines
Autokonzerns seit ­Jahrzehnten“.
Der Einfluss von Superhero Musk
könnte sich auch hier als verheerend
herausstellen. Als praktisch einziges
Unternehmen setzt Tesla ausschließ-
lich auf Kameras, um die Umgebung für
autonomes Fahren zu erfassen. Gegen
Widerstände im Team habe Musk 2021
die Radarsensoren entfernen lassen
und damit auf zusätzliche Sicherheit
verzichtet, berichten beteiligte Ent-
wickler. Sie deuten die Entscheidung
als Ausdruck von Musks Selbstüber-
schätzung. Ihr Ex-Chef könne komple-
xe Z­ usammenhänge schnell erfassen
und wiedergeben. Ihm fehle aber oft
„ein wirkliches Verständnis der Mate-
rie“, sagt ein früherer Mitstreiter aus
dem Autopilot-Team. In Gesprächen
mit Musk fühle er sich mitunter an
einen Prüfling erinnert, der seinen
Stoff „nur oberflächlich“ beherrscht,
sagt ein Roboterspezialist.
Klar, ähnliche Stimmen gab es schon
immer. Und bislang hat Musk in kriti-
schen Situationen immer die Kurve be-
kommen. Doch inzwischen häufen sich
Indikatoren für künftige Probleme.
manager magazin
Tesla-Investor Ogan sorgt sich etwa,
dass es Musk immer schlechter gelinge,
die besten Talente zu rekrutieren – lan-
ge eine der größten Stärken von Tesla.
In seinem Büro in Boston zeigt er auf
seinem Smartphone eine rote Kurve,
die stark abfällt. Ogans Hedgefonds
trackt jede einzelne Person, die im
Autopilot- und AI-Team bei Tesla an-
gestellt ist. Und er hat Besorgniserre-
gendes festgestellt: Die Kompetenz des
Teams – von welchen Universitäten das
Personal kommt, welche Abschlüsse sie
haben, welche Erfahrung die Personen
mitbringen – ist steil abgesunken. „Es
ist brutal.“
Gefahr für Tesla
Die öffentliche Debatte rund um die
Twitter-Übernahme und das neue Un-
behagen über Musks politische Macht
dürften solche Trends verschärfen. Die
Marke Tesla ist aufs Engste mit Elon
Musk verbunden. Wenn Musks Raketen
Weltraumstationen beliefern, strahlt
das auch auf Teslas Image ab. Umge-
kehrt wird jeder Tweet des Privat-
manns Musk zum Statement des Unter-
nehmens. „Musk ist Tesla, und Tesla ist
Musk“, sagt der Analyst Dan Ives von
der Investmentbank Wedbush. Im Gu-
ten wie im Schlechten.
Als Musk nach der Twitter-Über-
nahme die Verschwörungstheorie über
den Angriff auf den Ehemann der Chef-
demokratin Pelosi verbreitete, schlugen
selbst begeisterte Tesla-Investoren
Elon Musk  TITEL
Alarm. Musk drohe zu einem Negativ-
faktor für Tesla zu werden. Die einfluss-
reichste amerikanische Techjournalis-
tin, Kara Swisher (59), lange eine
Musk-Freundin, warnte Anfang No-
vember, Musk sei mit seinem unverant-
wortlichen Verhalten nur noch „zehn
Schritte“ von einem Ausbruch à la Ka-
nye West (45) entfernt. Der Rapper war
Fotos: Craig Bailey / Florida Today / picture alliance, Emre Caylak / Agentur Focus, Yasuyoshi Chiba / AFP
nach wilden antisemitischen Auswüch-
sen von Adidas und anderen Konzernen
aus teils äußerst lukrativen Koopera­
tionen gefeuert worden. Für die Marke
Tesla wäre ein weiteres Abdriften von
Musk eine Katastrophe.
Ben Bajarin, CEO der kaliforni-
schen Beratung Creative Strategies,
registrierte in einer Untersuchung im
Frühjahr bereits, dass Tesla-Besitzer
aufgrund von Musks teils bizarren Auf-
tritten und Tweets „eine negative Ein-
stellung gegenüber der Marke Tesla“
entwickelten. Die Kunden zeigten sich
„frustriert“ über Musk.
Investor Taylor Ogan glaubt inzwi-
schen sogar, dass Elon Musk für Tesla
„nicht nur ein Segen ist, sondern auch
ein Fluch“.
Will der die Zukunft von Tesla nicht
gefährden, muss er etwas schaffen,
dass fast schwieriger scheint, als Rake-
ten auf Drohnenschiffen im Pazifik zu
landen: Elon Musk muss sein Ego unter
Kontrolle bringen.
Vielleicht wäre das inzwischen sein
wichtigster Beitrag zur Rettung der
Menschheit. 1 Jonas Rest
DEZEMBER 2022 39
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT

Zurück
in
Avengers in weißen
Kitteln: Die
Biontech-Gründer
Uğur Şahin und
Özlem Türeci in
ihrem Mainzer
Labor. Die
Fotografin saß in
New York und
machte die
Aufnahme während
des Lockdowns 2021
per Fernbedienung


Nach dem Ende der Pande-
mie wollen Uğur Şahin
und Özlem Türeci ihr Unter-
nehmen zu einer Weltmacht
Foto: Dina Litovsky / Redux / laif

im Kampf gegen den Krebs

umbauen. Über einen waghal-
sigen Plan und ein Management
an der Belastungsgrenze.
40  DEZEMBER 2022
 die
Zukunft
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Biontech
Mal wieder kämpfen die Avengers
gegen das personifizierte Böse:
Superschurke Ultron will immer
noch die Menschheit auslöschen.
Dafür vervielfältigt er sich in der
jüngsten Ausgabe des Marvel-
Klassikers milliardenfach und
mutiert ständig zu neuen, noch
gefährlicheren Erscheinungsfor-
men. Doch gegen die Superhel-
den hat der Fiesling keine Chan-
ce. Sie entwickeln mithilfe
modernster Wissenschaft stän-
dig neue Abwehrstrategien und
Schutzschilde. Am Ende schießen
sie ihre Nemesis auf Nimmerwie-
dersehen ins All.
So weit, so üblich. Seltsam
nur, dass in dieser Episode ein
Großvater mit Mund-Nasen-
Schutz den Erzähler gibt, seiner
Enkelin die Geschichte im War-
tezimmer einer Klinik schildert
und sich beide am Schluss impfen
lassen. Die Auflösung – sie retten
als immunisierte „Alltagshelden“
ein kleines Stück weit die Welt –
wirkt genauso pathetisch wie
konstruiert. Der argumentative
Umweg erklärt sich aber beim
Blick auf das Deckblatt des Heft-
chens. Links unten steht in de-
zenten Lettern: Präsentiert von
Pfizer und Biontech.
Die Avengers der Pharma-
welt, die der Menschheit im Re-
kordtempo eine Abwehrwaffe
gegen den Übeltäter Corona lie-
ferten, müssen ihre Superhelden-
tat künftig selbst vermarkten.
Rissen sich die Leute vor rund
zwei Jahren noch um jeden
Schuss gegen Covid-19, lässt die
Nachfrage inzwischen nach.
Schon bald werden viele Regie-
rungen nicht mehr Hunderte Mil-
lionen Dosen am Stück aufkaufen
und kostenlos an die Bevölke-
rung verteilen. In den USA geht
die Ära der staatlichen Angebote
bereits Anfang 2023 zu Ende.
Statt etwas mehr als 30 Dollar
wird eine Spritze künftig zwi-
schen 110 und 130 Dollar kosten.
Frühzeitig den Werbedruck
Foto: PR
hochzufahren, kann da nicht
schaden.
42  DEZEMBER 2022
Hinzu kommt, dass die Re-
gierungen während der Pande-
mie-Monate viel zu großzügig
geordert haben. Die Lager sind
voll. Statt Mangel herrscht Über-
fluss. Und statt Panik ist an
der Virusfront Gelassenheit ein-
gekehrt. Sowohl US-Präsident
Joe Biden (79) als auch der
Vorsitzende der Ständigen Impf-
kommission der Bundesregie-
rung, Thomas Mertens (72),
haben die Pandemie bereits für
beendet erklärt. Analysten gehen
davon aus, dass der Markt für Co-
vid-Vakzine in der zweiten Hälfte
der Dekade von 63,4 Milliarden
Dollar auf ein Volumen von etwa
7 Milliarden weltweit und damit
auf die Größenordnung des Grip-
peschutzgeschäfts schmelzen
wird.
Für Biontech, die Covid-Ge-
winner aus Mainz, die ihre Um-
sätze und Gewinne einzig dem
Serum verdanken, bedeutet das
Ende der Pandemie auch das
Ende der kurzen goldenen Jahre.
Was aber bleibt von Biontech,
Die Impfung naht: Marvel-Comics, bezahlt von Biontech
Mega- wenn aus Covid eine ganz nor-
Blockbuster male Grippe wird?
Die umsatz- Die Partner beim US-Pharma-
stärksten riesen Pfizer geben sich ent-
Medikamente
spannt. Der Gigant verfügt über
der Welt,
in Mrd. Dollar eine ausgefeilte Verkaufsmaschi-
ne: „Unsere Vertriebs- und Ver-
Comirnaty marktungsfähigkeiten passen
Covid-19
Pfizer/Biontech 59,1 besser in einen freien Markt“,
tönte CEO Albert Bourla (61)
Humira bereits vor seinen Aktionären.
Rheuma Ganz anders sieht es für die
Abbvie 20,7
Erfinder des Vakzins aus. Die
CoronaVac Biontech-Gründer Uğur Şahin
Covid-19 (57) und Özlem Türeci (55) ha-
Sinovac 19,4
ben sich nie um Werben und Ver-
Spikevax kaufen, sondern stets nur um die
Covid-19
Moderna
wissenschaftliche Basis ihrer Fir-
17,7
ma gekümmert. So reifte in nur
Keytruda neun Monaten der Covid-Killer
Tumore zur Marktzulassung. Zeitgleich
MSD 17,2
baute Biontech mit damals gera-
de mal 350 Mitarbeitenden die
Quelle: Statista,
Fierce Pharma
Produktion für Milliarden Impf-
Grafik: manager magazin dosen auf. Um die aufwendigen
Tests für das neuartige Vakzin,
um Regulatorik, Vermarktung
und den globalen Vertrieb küm-
merte sich weitgehend Pfizer.
Eigene Verkäufertruppen – ty-
pisch für klassische Pharma-
konzerne – waren überflüssig,
Staats- und Regierungschefs
bestellten en gros. Sales und Mar-
keting beschränkten sich auf
Auslieferung und Gebrauchsan-
weisung. Nun müssen Şahin und
Türeci in einer Art Crashkurs
Dinge lernen, für die sie sich nie
interessiert haben. Das führt ihre
Organisation an die Grenzen der
Belastbarkeit – denn die Gründer
und ihr Vorstandsteam verschrei-
ben der jungen Firma gerade die
nächste radikale Transformation.
Noch profitieren sie von der
Arbeitsteilung mit Pfizer, noch
teilen sie sich Gewinn und Kos-
ten fifty-fifty. Ein grandioser
Deal, der das Ehepaar Şahin und
Türeci in die Riege der reichsten
und bekanntesten Deutschen ka-
tapultierte. Mit den Milliarden
aus dem Vakzin-Geschäft im Rü-
cken rüsten sie sich nun für den
nächsten Schritt. Sie wollen ihren
in Lichtgeschwindigkeit gewach-
manager magazin

senen Mittelständler in die Liga
der großen, global agierenden
Pharmaspieler führen.
Hyperwachstum stellt für die
beiden Wissenschaftsunterneh-
mer allerdings keinen Selbst-
zweck dar, wie sie wieder und
wieder betonen. Umsatz und Ge-
winn sehen sie einzig als Vehikel
für die Verwirklichung ihrer Vi-
sion. „Wir wollen mit unseren
Innovationen in der Immunthe-
rapie Menschen weltweit vor
schwerwiegenden Krankheiten
schützen und effektiv behan-
deln“, sagt CEO Şahin.
Biontech-Impfungen sollen
künftig die Ausbreitung von In-
fektionskrankheiten wie Tuber-
kulose, Malaria oder Aids brem-
sen. Vor allem aber wollen sie der
Menschheitsgeißel Krebs ihren
Schrecken nehmen. Die Hei-
lungsraten sollen steigen. Tumo-
re auch in fortgeschrittenen Sta-
dien nicht mehr als eine
chronische Krankheit sein – nicht
nur in den Industrieländern, son-
dern für alle, weltweit. „Demo-
kratisierung der Gesundheit“
nennen sie diesen Ansatz. Mehr
Purpose geht kaum.
Einzigartige Marktmacht
Wie die neue Superheldenorgani-
sation entstehen soll, schilderte
das kongeniale Ehepaar dem ma-
nager magazin exklusiv. Dabei
wird vor allem eines ganz klar:
„Das Ziel ist es nicht, die üblichen
Strukturen eines Pharmakon-
zerns aufzubauen“, sagt Türeci.
„Die passen nicht zu uns und
unserer DNA.“ Ihr schwebt nichts
weniger vor als ein „Apple der
Medizin“. Und ihr Mann legt die
Messlatte so hoch, dass es selbst
für die Avengers schwer würde,
dem Anspruch gerecht zu wer-
den. „Wir wollen ein Unterneh-
men“, so formuliert er es, „das
durch skalierbare, disruptive In-
novationsplattformen den ge-
samten Gesundheitsbereich welt-
weit revolutioniert.“
In ein paar Jahren soll Bion-
tech, so wie es einst Apple mit
manager magazin
Biontech  UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT
Baut auf Vorrat: Sierk Poetting,
Herr der Fabriken
dem iPhone vorexerzierte, eine
einzigartige technologische
Plattform bereitstellen, an der
kein Mediziner vorbeikommt.
Ein geschlossenes System, das
nicht nur Infektionskrankheiten
verhindern kann, sondern vor al-
lem eine völlig individualisierte
Form der Krebstherapie ermög-
licht. Es wäre so etwas wie der
Heilige Gral der Medizin.
Ihre Plattform können Türeci
und Şahin aber nur effektiv aus-
rollen, wenn sie es schaffen, ihre
Forschungsversprechen einzulö-
sen sowie einen vertikal inte-
grierten Konzern aufzubauen.
Tüftelt noch: Eine Maschine, die angefangen
Sean Marett,
Vertriebschef
von der Forschung und der klini-
schen Entwicklung über die Pro-
duktion und Logistik bis hin zu
Vermarktung und Vertrieb sämt-
liche Schritte der Wertschöp-
fungskette beherrscht. Und die
sich dazu mit absoluter Sicherheit
in der hochkomplexen Welt der
Regulierer mit all ihren strengen
Sicherheitsmechanismen bewe-
gen kann. Es wäre ein Sprung, den
bislang nur ganz wenige Biotech-
firmen heil überstanden haben.
Şahin sitzt Anfang Oktober
vor einer verstaubten Yuccapal-
me in genau jener Wohnung, in
der die Eheleute seit ihrem Um-
zug als junges Forscherpaar nach
Mainz im Jahr 2000 leben.
„Unsere Vision ist schon seit 20
Jahren dieselbe, und wir haben
gelernt, dass sie auch viel breiter
gelebt werden kann“, tastet er
sich langsam voran. Der Shoo-
tingstar will alles, nur nicht groß-
spurig wirken. Seine Geschäfts-
und Lebenspartnerin – Türeci ist
aus der Zentrale zugeschaltet –
wird konkreter. „Aus der Covid-
Phase wissen wir, was wir mit
unseren Technologien leisten
können, und jetzt stehen uns die
Mittel zur Verfügung, damit wir
unsere technologischen Stärken
noch besser ausspielen können.“
Wohl nie zuvor hatte eine Bio-
techfirma derart gute Vorausset-
zungen für den Aufstieg in den
Pharmaolymp. Die Pandemie hat
die Zweifel an der technologi-
schen Tragfähigkeit ihrer Platt-
form weggefegt. Lange galten die
von Şahin und Türeci entwickel-
ten Methoden bei den Granden
der Pharmaindustrie als pures
Wunschdenken. Stets waren die
Entwickler mit ihren Produktkan-
didaten auf mRNA-Basis geschei-
tert. Nicht ein einziger Wirkstoff
fand den Weg von den Labors in
die Büros der Zulassungsbehör-
den. Erst das Covid-Vakzin hat
die Idee als hocheffizienten und
hochwirksamen Virenbekämpfer
Fotos: Florian Generotzky / laif, Henning Kretschmer / Agentur Focus
validiert und etabliert.
Biontech hat damit eine „Tool-
box“ (Şahin), mit der Impfseren
in Hochgeschwindigkeit an die
unterschiedlichsten Erreger mit-
samt ihren Mutationen angepasst
werden können. Der Beweis ist
noch frisch: „Wir haben inner-
halb von drei Monaten einen
Impfstoff auf die Omikron-Li-
nien BA4 und BA5 angepasst“,
sagt Şahin selbstbewusst.
Langfristig soll der Vakzin-
Werkzeugkasten Biontech ein
lukratives Massengeschäft be-
scheren. Gerade lief die klinische
Testphase für ein Kombivakzin
gegen Grippe und Covid an. 2
DEZEMBER 2022 43
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Biontech
Weitere Mittel etwa gegen Gür-
telrose, Tuberkulose und Malaria
sind in der Pipeline. In ein paar
Jahren soll die Produktion auch
in entlegenen Regionen Afrikas
und Asiens möglich sein, in zu
Reinräumen ausgebauten High-
techcontainern („Biontainer“ im
Firmensprech). Damit künftig
eine schnelle Produktion und
Versorgung sichergestellt werden
kann – ob bei Pandemien oder für
die klinische Entwicklung.
Am Ende soll dieses hochska-
lierte Brot-und-Butter-Business
den Auf bau des zweiten Ge-
schäftsfelds finanzieren: der On-
kologie – die deutlich riskanter,
aber auch deutlich lukrativer ist.
In der zweiten Hälfte der Dekade
könnten die ersten marktfähigen
Krebsmittel den Markt erreichen.
Bis dahin wollen Şahin und Türeci
so weit sein, dass sie exakt auf den
Tumor der Patienten zugeschnit-
tene Therapien konstruieren
Foto: Andreas Arnold / picture alliance / dpa
können. „Das wird ähnlich wie
beim iPhone sein. Jedes Gerät hat
die gleiche technologische Basis,
ist aber mit genau den Apps aus-
gestattet, die der jeweilige Nut-
zer braucht“, beschreibt Türeci
das Prinzip, bevor sie in eine
Konsultation mit der Weltge-
sundheitsorganisation WHO ent-
schwindet.
Alle wichtigen Bauteile der
Plattform produziert Biontech
44  DEZEMBER 2022
selbst, in den Fabriken in
Deutschland und den USA: „So
können wir jedem Patienten
schnell und on demand das genau
passende Medikament liefern“,
sagt Şahin. Weil damit die jeweils
einzigartige Therapie durch
einen standardisierten Prozess
im industriellen Maßstab produ-
ziert werden kann, sind die Grün-
der davon überzeugt, mit einem
völlig neuartigen „Blockbuster-
Geschäftsmodell“ den Markt er-
obern zu können.
Die Risiken der Revolution
Aber so stringent sie ihre Formel
auch aufmalen, ihre Revolution
bleibt eine Gleichung mit
enorm vielen Unbekannten. Im-
merhin: Die finanzielle Basis ist
sicher. Ihr Covid-Mittel Comir-
naty bescherte Finanzchef
Jens Holstein (59) 2021 einen
Umsatz von rund 19 Milliarden
Euro und einen Gewinn von
über 10 Milliarden Euro. In den
ersten drei Quartalen dieses Jah-
res kamen noch einmal gut
sieben Milliarden Gewinn oben-
drauf.
Auch wenn der Absatz von
Comirnaty bereits sinkt, die Waf-
fe gegen Corona bleibt erst ein-
mal das umsatzstärkste Medi-
kament der Welt. Bis zum Jahres-
ende werden, den Schätzungen
der Analysten der Berenberg
Bank zufolge, rund 20 Milliarden
Euro in der Kasse liegen.
Mehr als genug, damit die
Gründer ihre gigantische Wette
noch eine ganze Weile durchhal-
ten können, die sie im Kampf
gegen den Krebs eingegangen
sind. 19 unterschiedliche Wirk-
stoffe – ein derart breites Port-
folio haben sonst nur große
Pharmakonzerne vorzuweisen –
durchlaufen derzeit die erste und
zweite Phase der klinischen Er-
probungen. Noch sind es Studien
mit ein paar Dutzend, wenn es
hochkommt vielleicht 100 oder
200 Probanden.
Fast 22 Millionen Euro kostet
die Entwicklung eines Wirkstoffs
Hightechboxen: bis dahin im Schnitt. In der letz-
Biontech-­ ten Phase, die im Idealfall zur Zu-
Manager Sierk lassung führt, erhöhen sich die
Poetting (1. v.
Kosten um mehr als das Doppelte
l.), Uğur Şahin
(4. v. r.) und – gut 52 Millionen Euro im Mittel,
Özlem Türeci plus noch einmal bis zu 40 Pro-
(2. v. r.) mit zent dieser Summe für die Pro-
Offiziellen der duktion der für die Testreihen
WHO vor einem benötigten Präparate.
umgebauten Aber das ist erst der Anfang.
Container, in
Sollte der Wirkmechanismus
denen künftig
Vakzine vor funktionieren, werden die einzel-
Ort produziert nen Wirkstoffe gegen eine Viel-
werden können zahl unterschiedlicher Tumor-
varianten eingesetzt. Für jede
dieser Varianten fallen dann
neue, aufwendige Patientenstu-
dien an. Nach Daten der Pharma-
beratung Bioscience Valuation
liegt bei konventionellen Krebs-
mitteln die Wahrscheinlichkeit,
dass ein Wirkstoff durchkommt
bei gerade mal 9 Prozent – oder
umgekehrt formuliert: Mehr als
90 Prozent fallen gewöhnlich
durch.
Zurück auf Anfang
Überhaupt müssen die Biontech-
Gründer erst beweisen, dass ihr
Ansatz wirklich als Waffe gegen
den Krebs taugt – und dieser
Nachweis wird deutlich schwieri-
ger als bei der Abwehr von Viren
und Infektionskrankheiten.
Anders als bei der Covid-Imp-
fung reicht es nicht, das Serum
einfach in den Kreislauf einzu-
manager magazin

schleusen. Die mRNA-Ketten
müssen gezielt in Richtung Tu-
mor gelenkt und deshalb über
längere Strecken in der Blutbahn
transportiert werden, ohne dass
sie vom körpereigenen Immun-
system attackiert werden. Und
noch viel entscheidender: Wenn
die Wirkstoffe ihr Ziel erreicht
haben, müssen sie eine sehr viel
stärkere Reaktion auslösen, als es
gegen das Coronavirus erforder-
lich war. Damit wächst aber
auch die Gefahr, unerwünschte
Nebenwirkungen zu provozieren.
Über eine Dekade lang versu-
chen sich sowohl Biontech als
auch die US-Konkurrenz von Mo-
derna nun schon an der Entwick-
lung von Onkologiepräparaten.
Noch hat keiner der beiden auch
nur einen Kandidaten bis vor die
Jury der Zulassungsbürokratie
gebracht. Es kann also noch län-
ger dauern als bis zur bislang ge-
setzten Zielmarke 2025.
Dennoch investieren Şahin
und Türeci bereits heute in Pro-
duktions- und Logistikkapazitä-
ten, um sofort nach der Zulas-
sung loslegen zu können – genau
so, wie sie es bereits bei der Ent-
wicklung von Comirnaty gehal-
ten haben. Es ist und bleibt ein
Highspeed-Highrisk-Ansatz.
Nervös wird deshalb aber
nicht einmal der Aufsichtsrat.
„Die Daten weisen in eine gute
Richtung“, sagt Chefkontrolleur
Helmut Jeggle (52). „Da vertrau-
en wir Uğur und dem Biontech-
Team vollkommen.“
An Selbstbewusstsein mangelt
es der Biontech-Spitze ohnehin
nicht, das klingt in Gesprächen
mit Vorständen wie Aufsichtsrä-
ten deutlich durch. COO Sierk
Poetting (49) erklärt mit einem
Anflug von Selbstironie: „Wir
glauben, dass jeder hier eine
Superkraft hat.“ Der Vorstand
orchestriere das Zusammenspiel
der Alltagsheroen so, dass jeder
seine besonderen Fähigkeiten
perfekt ausspielen könne.
So wie in der Comirnaty-Ent-
wicklung mit dem sinnigen Pro-
manager magazin
Biontech  UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT
Gigantischer jektnamen „Lightspeed“: Şahin
Sprung habe sich um die Molekülketten
Umsatz und und die ersten Versuche geküm-
Gewinn von mert, erzählt Poetting, Türeci
Biontech,
organisierte die klinische Erpro-
in Mio. Euro
bungsphase, Vertriebschef Sean
Umsatz Marett (57) besorgte Geld und
18.976,7 Vertragspartner, verhandelte mit
16.000– Regierungen, Ryan Richardson
17.000
(42) kümmerte sich um den Ka-
pitalmarkt, während er selbst die
Produktion aufgebaut habe. „Wir
halten ständig sehr, sehr viele
Bälle in der Luft und passen da-
bei extrem genau auf, dass keiner
dieser Bälle herunterfällt“, be-
schreibt Poetting ein Gefühl des
„tiefen Vertrauens“, das in der
Führungsriege herrsche.
Mindestens einmal pro Woche
482,3
108,6 trifft sich der Vorstand für we-
nigstens eine Stunde – oft für
2019 20221
länger – und zwar möglichst per-
Gewinn
sönlich in der Zentrale An der
10.292,5
Goldgrube in Mainz. Bei diesem
„Check-in“ werden die gerade ak-
tuellen Problemlagen diskutiert
und, wenn möglich, gleich weg-
gearbeitet. Wie schon in den An-
fangstagen steckt jedes Vor-
standsmitglied tief in den
15,2 operativen Einzelheiten. Sobald
wichtige Entscheidungen anste-
-179,2
2019 2021 hen, werden die Meetings der
Projektteams auch für die Vor-
Ende der stände automatisch zu Pflichtter-
Euphorie minen. Notfalls auch zweimal am
Aktienkurs von Tag, morgens um acht und
Biontech, in Euro abends um acht.
350 „Wir stehen auf Alarmstufe Rot“
300
Vor allem den Gründern ist es
wichtig, bis ins Detail am opera-
250 tiven Geschehen teilzuhaben.
Als es etwa darum ging, ob sie
200
in die Entwicklung eines Malaria-
150 Impfstoffs einsteigen sollten, zog
sich CEO Şahin ein Wochenende
100 lang mit einem Stapel der wich-
50 tigsten wissenschaftlichen Ver-
öffentlichungen zurück. Aus sei-
0 nem Exerzitium kam er mit
10.10.19 8.11.22 einem Entwicklungspfad zurück,
ähnlich wie schon zu Beginn der
1 | Unternehmens-
prognose.
Pandemie, als er mit einer Grob-
Quelle: Unternehmen, skizze für einen Impfstoffkandi-
Refinitiv
Grafik: manager magazin daten in die Woche startete.
Der Arbeitseinsatz auf der
Topebene ist gigantisch, ganz so,
als ob die Pandemie noch in ihrer
Hochphase verharren würde. Nur
geht es gegenwärtig um das
­A nflanschen neuer Abteilungen
und Funktionen, die Integration
ganzer Kohorten frisch ange­
stellter Führungskräfte und Mit-
arbeitender. Alles passiert mehr
oder weniger gleichzeitig, vieles
wird in Echtzeit entworfen,
weiterentwickelt oder wieder
­
verworfen. Ständig werden neue
Leute rekrutiert. Gute Leit­
figuren sind knapp. Von der
Idealstruktur, dass 100 Füh-
rungskräfte auf 1000 Mitarbeiter
kommen, sind sie noch ein Stück
entfernt.
Als „Management on the go“
beschreiben Insider den Alltag,
und sie meinen es nicht nur posi-
tiv. „Wir sind noch im gleichen
Tempo unterwegs, das wir beim
Projekt Lightspeed eingeschla-
gen hatten“, sagt ein hochrangi-
ger ­Manager und warnt: „Das
strapaziert Mitarbeiter und
Unternehmen, führt die Beleg-
schaft teilweise über die Grenzen
ihrer Belastungsfähigkeit hinaus.
Wir stehen auf Alarmstufe Rot.“
Viele der neu bestellten Füh-
rungskräfte kommen frisch von
der Uni, sollen nun Leute führen,
die zum Teil doppelt so alt sind
wie sie selbst. Von zehn Neuein-
stellungen passten vielleicht acht
zum Unternehmen, stöhnt einer.
Die Fluktuation unter den Frisch-
lingen ist entsprechend hoch. In
der Eile werden schon mal Kfz-
Mechaniker zu mRNA-Produzen-
ten umgeschult. Sechs Monate,
beruhigt Aufsichtsratschef Jeg-
gle, könne diese Umbruchphase
noch dauern, aber auch er spricht
von Wachstumsschmerzen, die
das Unternehmen aushalten
müsse, bevor es in ruhigeres
Fahrwasser übergehen könne.
Es gibt indes ein paar Dinge,
die dagegen sprechen, dass es
demnächst beschaulicher zuge-
hen könnte. Dem Topmanage-
ment geht es vor allem darum, 2
DEZEMBER 2022 45
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Biontech
den Start-up-Charakter auf eine
deutlich größere Belegschaft zu
übertragen. So wollen sie sicher-
stellen, dass Forschung und kli-
nische Entwicklung eng verzahnt
bleiben. „Nur im engen Miteinan-
der können wir immer bessere
Wirkstoffe generieren“, erklärt
Sahin.
Die Folge ist ein enormer Ko-
ordinations- und Kommunika-
tionsaufwand. Die Komplexität
sei an der Grenze des Machbaren
– erzählen Insider. Und in einigen
Fällen sogar darüber hinaus.
Ob Pipeline, Produktion oder
Personal – auf dem Weg zu einem
Weltkonzern liegen noch viele
Baustellen. Statt die Welt zu ret-
ten, müssen die Biontech-Helden
erst einmal Basisarbeit leisten.
Zank mit Aktionären
Bei den Aktionären zum Beispiel.
Deren Euphorie ist längst verflo-
gen. Der Börsenwert liegt derzeit
bei rund 40 Milliarden Euro – be-
achtlich, keine Frage. Aber im
Sommer waren es mehr als 80
Milliarden Euro. Einige Anteils-
eigner maulen über eine unsiche-
re Pipeline, fordern ungeduldig
weitere, am besten sensationelle
Neuigkeiten. Damit kann und
mag CEO Şahin nicht auf Befehl
dienen. Er treffe sich ohnehin nur
ungern mit Anlegern oder Ana-
lysten, heißt es aus Investoren-
kreisen. Die lästigen Pflichtter-
mine lasse er schon mal in letzter
Minute platzen. Man versuche,
allen Wünschen gerecht zu wer-
den, der Tag habe aber „leider nur
24 Stunden“, entgegnen Şahins
Leute.
Den CEO ficht das Genörgel
Foto: Dirk Bruniecki für manager magazin
nicht an. Ihm sei schon klar, dass
Biontech momentan nur ein Pro-
dukt habe, das an der Börse den
Hauptwert ausmache. Aber, und
da wird der Professor grundsätz-
lich: „Die Idee der Börse ist die
Finanzierung nachhaltig wach-
sender Unternehmen.“ Biontech
investiere deshalb in Entwick-
lungskompetenz sowie in die kli-
nische Pipeline und schaffe genau
46  DEZEMBER 2022
damit Werte. Arzneimittel wür-
den eben nicht von einem Tag auf
den nächsten entwickelt: „Und
wir haben zu keinem Zeitpunkt
den Eindruck vermittelt, dass wir
im nächsten Jahr das nächste Me-
dikament haben.“ Die schlauen,
sprich langfristig denkenden In-
vestoren übten sich deshalb in
Geduld: „Sie erkennen die gigan-
tische Chance, dass wir Biontech
zu einem Multiproduktunterneh-
men entwickeln können.“
Auch der zweite Nervfaktor
bringt ihn nicht aus der Ruhe: die
Patentklagen der Konkurrenten
Moderna und Curevac. Die be-
haupten, Biontech habe von ihren
Entwicklungen profitiert und soll
nun dafür zahlen. Şahin winkt
ab: „Wir sehen in keiner dieser
Klagen Substanz.“ Die Biontech-
Produkte beruhten auf originä-
Highspeed,
Highrisk: ren Patenten, das stehe „absolut
Biontech-Auf- solide und explizit“ in den Unter-
sichtsratschef lagen.
Helmut Jeggle An den schmalen Sätzen des
lässt Kapazitä- sonst so ausschweifend erklären-
ten für Krebs- den Vordenkers ist spürbar, wie
medikamente
aufbauen,
wenig er sich mit derlei Triviali-
die noch auf täten beschäftigen mag. Deshalb
ihre Zulassung soll der Aufbau der Organisation
warten vor allem ein Ziel erfüllen, „dass
wir im Team die operativen Auf-
gaben so verteilen, dass wir uns
vor allem der Wissenschaft und
der Innovation widmen können.”
Die Vermarktung wird daher
wohl eher ein kleines Team wup-
pen: „Es ist nicht unsere höchste
Priorität, jetzt eine Mammut-
Vertriebsstruktur hinzustellen“,
sagt Şahin. Eine solch globale
Organisation lähme die auf Inno-
vation fokussierte Firma nur.
Keine leichte Position für Ver-
triebschef Marett. Der Brite muss
den weltweiten Verkauf von drei
völlig verschiedenen Produktar-
ten vorbereiten: Impfstoffe, her-
kömmliche Krebsmedikamente
und die individualisierten Tu-
mortherapien.
Sein Plan: Massenvakzine
gegen eine Reihe von Infektions-
krankheiten will er weiterhin ge-
meinsam mit Partnern unter die
Menschen bringen – sowohl den
Grippekandidaten als auch die
Immunisierung gegen Gürtelro-
se. Für klassische Off-the-Shelf-
Krebsmittel kämen die Vertrieb-
ler von Biontech, wenn es ein
reines Biontech-Produkt sei.
Bei Kooperationen setze er auf
Partner.
Für personalisierte Krebsme-
dizin, dem wichtigsten Zukunfts-
thema des Konzerns in Entwick-
lung, bedürfe eines ganz anderen
Konzepts. Jeder Patient brauche
auf Basis einer Gewebeprobe eine
für den spezifischen Tumor an-
gefertigte individuelle Therapie.
Das bedeute: „Für die enge Ko-
ordination mit den Krankenhäu-
sern benötigen wir deshalb ein
sehr medizinisch geprägtes Key
Account Management.“
Das muss Marett wohl selbst
entwickeln, Vorbilder gibt es bei
den klassischen Anbietern nicht.
Wichtig seien ihm – na klar – „Di-
gitalisierung und erstklassige
medizinische Information“.
Immerhin: Um ein Comic-
Heftchen mit Alltagshelfern von
Marvel wird er sich dann nicht
auch noch kümmern müssen.
1 Eva Müller/Dietmar Palan
manager magazin
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Mazda CX-60:
Ein Crossover grill, dem beleuchteten Signature Wing und
vertikalem Scheinwerferdesign überzeugt,
verbinden sich im Inneren des Fahrzeugs

für alle Bedürfnisse in höchster japanischer Handwerkskunst

bearbeitete unterschiedliche Materialien
und Oberflächen – darunter Ahornholz
und Nappaleder.
Plug-in Hybrid oder hochmoderner Reihensechs-
zylinder-Diesel: Der neue Mazda CX-60 ist in zwei
Antriebsarten erhältlich

ach der Einführung seines ersten
N Plug-in Hybrids geht Mazda noch
einen weiteren wichtigen Schritt in Rich-
tung nachhaltige Mobilität und präsentiert
den neuen Mazda CX-60 auch mit einem
hocheffizienten Dieselmotor, der im Früh-
jahr 2023 erscheint.
Der komplett neu entwickelte Reihen-
sechszylinder-Diesel, der im neuen Mazda
CX-60 in zwei Leistungsstufen verbaut ist,
überzeugt mit exzellenten Verbrauchs-
und Umwelteigenschaften, gepaart mit
dynamischen Fahrleistungen und lang-
streckentauglicher Reichweite.
Serienmäßig mit 8-Gang-Automatikge-
triebe (auch als Allradantrieb verfügbar)
und einer maximalen gebremsten An-
hängelast von 2,5 t ausgestattet, weist der
Spitzen-Crossover eine Systemleistung
von 147 kW/200 PS und 187 kW/254 PS
bei den Dieselmotoren und ein maxima-
les Drehmoment von 450 bzw. 550 Nm.
Diese Power verbindet der Mazda CX-60
mit intelligenten Assistenzsystemen. Dazu
gehört zum Beispiel das innovative Driver
Personalization System. Es erkennt mittels
Kamera, wer auf dem Fahrersitz Platz ge-
nommen hat, und passt in einem ersten
Schritt die Umgebung – Sitzposition, Lenk-
rad, Spiegel und Head-up-Display – auto-
matisch an die Körpergröße an. Im zweiten
Schritt wird der Fahrende von der Kamera
erkannt und die im ersten Schritt gespei-
cherten Einstellungen werden, zusätzlich
zu den präferierten Sound- und Klimaein-
stellungen, wiederhergestellt.
Während das Exterieur des neuen Mazda
CX-60 mit einem neuen, höheren Kühler-
Hochwertige Materialien und
japanische Handwerkskunst
in Perfektion. Hier im Bild:
der Innenraum der Takumi
Vollausstattung
Dazu ist der neue Mazda CX-60 ein echtes
Raumwunder: 570 l Ladevolumen im Kof-
ferraum sind durch Umklappen der Rück-
sitze erweiterbar auf maximal 1.726 l.
Eine überdurchschnittlich lange sechs-
jährige Neuwagengarantie (bis maximal
150.000 km) rundet das Mazda Angebot
ab. Erstmals können Leasingverträge im
Rahmen des Vorver-
kaufs der Dieselvarian-
ten auch bequem online
abgeschlossen werden.

Elegant-robustes Kodo Kraftstoffverbrauch für den Mazda CX-60 e-SKYACTIV D 254 und e-SKYACTIV D 200
Design mit japanischer im kombinierten Testzyklus (WLTP): 5,3 – 5,0 l/100 km; CO2-Emissionen kombiniert:
139 – 128 g/km. Energieverbrauch des Mazda CX-60 Plug-in Hybrid, gewichtet* im
Ästhetik im stilvollen kombinierten Testzyklus: 2,2 l/100 km und 16,0 kWh Strom/100 km. CO2 -Emissio-
nen kombiniert: 48 g/km. Elektrische Reichweite kombiniert: 65 km.
Interieur – Mazdas * Gewichtete Werte sind Mittelwerte für Kraftstoff- und Stromverbrauch bei durch-
schnittlichem Nutzungsprofil und täglichem Laden der Batterie.
unverwechselbare DNA.

Alle weiteren
Infos unter:
mazda.de/mazda-cx-60
Geradeaus-Typ:
Vom Unterneh-
mensberater über
den Investment­
banker ist Theodor
Weimer zum
Konzernlenker
geworden

„Ja, ich bin leicht paranoid“
Theodor Weimer ist der „Manager des Jahres 2022“.
Der Chef der Deutschen Börse über seine
besondere Art zu führen und woran seine neue
Aufgabe bei Knorr-Bremse noch scheitern könnte.
G
leich zur Begrüßung gibt Theo-
dor Weimer (62), Vorstandschef
der Deutschen Börse, eine Kost-
probe seiner Eigenwilligkeit. Er
legt ein etwas in die Jahre ge-
kommenes Gerät auf den Tisch,
die Tasten schon abgenutzt, die
Ecken abgeschlagen: ein pro-
grammierbarer Taschenrechner von
Hewlett-Packard, der 1981 auf den
Markt kam und inzwischen Kultstatus
hat – ein HP 12C.
Den habe er ganz automatisch ein-
gepackt, wie zu jedem Meeting, erklärt
Weimer. „Ich habe ihn an meinem
­ersten Arbeitstag bei McKinsey bekom-
men, und ich kann gar nicht mehr
ohne.“ Sollte das Gerät mal kaputtge-
hen, habe er bereits eins in Reserve,
schon vor Jahren gekauft – weil er be-
fürchte, dass er den geliebten Taschen-
rechner irgendwann nirgendwo mehr
bekommen könnte.
Als Unternehmensberater hat Wei-
mer seine Karriere 1988 begonnen, spä-
ter ist er Investmentbanker geworden,
bevor er zum Unternehmenslenker und
einem der einflussreichsten Manager
manager magazin
THEODOR WEIMER  UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT
der Republik wurde. Sein Führungsstil:
vordergründig eher oldschool. Keiner,
der viel von Work-Life-Balance, Power-
point-Präsentationen oder Homeoffice
hält, stattdessen fordernd, direkt und
streng, aber eben auch genau zuhörend.
Angetrieben von einer Mischung aus
Ehrgeiz und dem Wunsch nach An-
erkennung, konzentriert er sich auf das
Machbare.
So hat er das Geschäftsmodell der
Deutschen Börse nach der geplatzten
Fusion mit dem Londoner Konkurren-
ten LSE, die sein Vorgänger angestrebt
hatte, ausgebaut und stabilisiert. Der
Aktienkurs ist seit seinem Amtsantritt
2018 um rund 70 Prozent gestiegen.
Dieses Jahr zählten die Titel zu den drei
Malen und Zahlen:
Weimer unter­
mauert seine
Argumentation gern
mit handskizzierten
Diagrammen.
Immer dabei: sein
Taschenrechner.
Dax-Papieren, die sich am besten ent-
wickelt haben. Und er bearbeitet die
Bundesregierung wie kein zweiter Top-
manager, den Kapitalmarkt zu öffnen,
damit Geld nach Deutschland fließt. All
das überzeugte die Jury des manager
magazins: Theodor Weimer ist Mana-
ger des Jahres 2022.
manager magazin: Herr Weimer, Sie
waren sechs Jahre im Aufsichtsrat
von Bayern München. Da wissen Sie:
Sich mit dem Erreichten zufrieden-
zugeben ist keine Option. Nach dem
Sieg ist vor dem nächsten Spiel. Also:
Was ist das nächste Ziel? Wo wollen
Sie sich verbessern?
Theodor Weimer: Ich habe aufgehört,
daran zu arbeiten, meine Schwächen
Fotos: Jann Höfer für manager magazin
abzulegen. Ab einem gewissen Alter
kannst und willst du dich nicht mehr
verändern. Das sage ich auch meinen
jungen Leuten: „Nutzt die ersten fünf
bis zehn Jahre, um an euren Schwächen
zu arbeiten, und dann müsst ihr eure
Stärken ausspielen.“ Das mache ich.
Und meine Schwächen versuche ich
durch die Zusammensetzung meines
Teams zu kompensieren. 2
DEZEMBER 2022 49
UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  THEODOR WEIMER
Indem Sie sich ruhige, rationa­
le Kolleginnen und Kollegen an
Bord holen, um Ihre emotio­
nale, manche sagen: Ihre auch
unkontrollierte, hitzige Ader
auszugleichen?
Ja, eine gewisse Emotionalität ist
eine meiner Schwächen. Und
meine Direktheit. Ich kann auch
mal jemanden vor den Kopf sto-
ßen, was mir dann immer auch
gleich leidtut. Wenn mir jemand
zu langsam ist, dann gibt es di-
rektes Feedback von mir. Heute
Morgen habe ich mich zum Bei-
spiel geärgert, als ich in einer Zei-
tung ein Purpose-Ranking gese-
hen habe.
Also eine Liste von Unterneh­
men, denen es besonders gut
gelingt, ihren Daseinszweck
deutlich zu machen – jenseits
des Geldverdienens.
Die Deutsche Börse ist ziemlich
weit hinten gelandet.
Auf Platz 127 von 134.
Da wollte ich wissen, warum, und
habe sofort nachgefragt. Die Er-
klärung ist recht einfach: Das war
eine Endverbraucherbefragung.
Da ist es kein Wunder, wenn wir
als B2B-Unternehmen auf den
hinteren Plätzen landen. Geär-
gert hat es mich trotzdem.
Als eine seiner Stärken nennt
Weimer als Erstes: Authentizität.
Für die Jury stand eine andere
Fähigkeit ganz oben, in Zeiten
­
­verknappter Ressourcen wichtiger
denn je: Weimer schafft es als Füh-
rungspersönlichkeit, mit begrenz-
ten Mitteln das Maximum heraus-
zuholen. Als er Anfang 2018 als
Vorstandsvorsitzender antrat, war
klar, dass es nach dem gescheiterten
Deal mit der LSE zunächst keinen
neuen Fusionsversuch über Län-
dergrenzen hinweg geben würde.
Weder die Politik noch die Börsen-
aufsicht würden das mitmachen.
Weimer hat dem Unternehmen da-
her „Hausmannskost“ verordnet,
realistischere Ziele, kleinere Schrit-
te, die dann zu etwas Großem füh-
ren können.
Wecken begrenzte Ressourcen
Ihre Kreativität?
50  DEZEMBER 2022
Unsere finanziellen Beschrän- Aufwärts schäft macht nunmehr 15 Prozent
kungen lassen sich nicht wegdis- Marktkapitali- unserer Umsätze aus – mehr als
kutieren. Unsere Tochter Clear­ sierung der drei Mal so viel wie zu meinem
Deutschen Börse
stream hat ein AA-Rating, das wir Amtsantritt. Und wir wollen dort
seit dem
durch zu viel Kreditaufnahme Amtsantritt von weiterwachsen. Fondsdienstleis-
nicht gefährden dürfen. In der Theodor Weimer, ter sind dagegen wegen ihrer ver-
Vergangenheit hatten wir zudem in Mrd. Euro gleichsweise hohen Margen inte-
das Problem, dass man uns er- ressant.
32
folgreiche Übernahmen nicht zu- Weimer hat in seinen fast fünf
traute. Mittlerweile haben wir 30 Jahren als Börsenchef auch eine
uns einen ordentlichen Track 28 Reihe von Niederlagen kassiert. Der
Record durch eine ganze Reihe 26 Finanzdienstleister Refinitiv, den er
kleinerer und mittelgroßer Zu- 24 kaufen wollte, ging an die LSE, bei
käufe aufgebaut. 22 der Borsa Italiana ist die Euronext
Sie haben sich vor allem im Ge­ 20 zum Zuge gekommen. Dass der
schäft mit Finanzdaten ver­ 18
Handelssaal der Börse in Frankfurt
stärkt und dort hinzugekauft, nur noch als Kulisse für Fernseh-
um damit vom klassischen Bör­ 1.1.18 31.10.22 nachrichten dient und kaum mehr
senhandel unabhängiger zu Börsengänge stattfinden, diese Ent-
Quelle: Refinitiv
werden. Was kommt als Nächs­ Grafik: manager magazin wicklung kann er nicht aufhalten.
tes – immer noch Hausmanns­
kost? Oder doch Sterneküche?
Der Begriff „Hausmannskost“
wird mich wohl ewig verfolgen.
Ich habe das Wort am Anfang
meiner Zeit hier benutzt, um
nach innen und außen zu sagen:
Lasst uns mal gute und solide
Arbeit machen und der Welt zei-
gen, dass die Deutsche Börse
auch ohne eine Fusion mit einem
großen Konkurrenten wachsen
und ihre Profitabilität steigern
kann. Das haben wir bewiesen –
mit jeweils einem Umsatz- und
Gewinnplus von 10 Prozent, Jahr
für Jahr. Davon die Hälfte aus
„ICH HASSE ES WIE DIE PEST,
eigener Kraft und die Hälfte
durch Zukäufe. Es gibt nur weni-
WENN JEMAND NICHT SAGT,
ge Unternehmen, die das von sich
sagen können.
WO ETWAS SCHIEFLÄUFT.“
Theodor Weimer
Zu Ihren Zukäufen gehört auch
ein Fondsdienstleister. Wie
passt das zusammen? Hier eine
Fondsplattform, dort Daten­
anbieter – das sieht opportu­
nistisch aus, was Sie sich da
zusammengekauft haben.
Das ist nicht die Sicht von Inves-
toren und Analysten. Im Gegen-
teil. Wir sind durch die Zukäufe
robuster geworden, wenn die
Märkte mal wieder schwieriger
werden. Wir haben den Anteil der
stabilen, wiederkehrenden Um-
sätze erhöht – auf nun etwa 55
Prozent. Allein das Datenge-
manager magazin

Immerhin bei einem Problem hatte er eine
schnelle Lösung parat: Als der Wirecard-
Skandal die Schwächen des Leitindex Dax
offenbarte, hat er ihn reformiert – und von
30 auf 40 Mitglieder erweitert.
Sein jüngstes Problem: Linde, der
wertvollste Dax-Konzern, will sich von
der Deutschen Börse zurückziehen und
seine Aktien nur noch in New York han-
deln lassen. Das Management hofft so auf
höhere Kurse. Linde überschreitet regel-
mäßig die Grenze von 10 Prozent, mit der
die Börse das Indexgewicht jedes Wertes
im Dax begrenzt – das bremse den Kurs-
anstieg.
Der Rückzug von Linde war eine her-
be Niederlage für Sie.
Ja, das war schon ein Schlag ins Kontor
des deutschen Kapitalmarkts. Das hat
auch dem Dax wehgetan.
manager magazin
THEODOR WEIMER   UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT
Hätten Sie das verhindern können?
Wir haben als Deutsche Börse – wie mir
der CEO von Linde kürzlich selbst ge-
sagt hat – alles versucht. Wir haben den
Dax erweitert. Wir haben auch den
Markt befragt und vorgeschlagen, die
Kappungsgrenze für einzelne Titel im
Dax von 10 Prozent auf 15 Prozent an-
zuheben. Die Investoren haben das ab-
gelehnt – aus guten Gründen, die ich
nachvollziehen kann. Je größer der
stärkste Wert in einem Index ist, desto
abhängiger wird der Index von diesem
Wert.
Damit offenbart sich ein grundlegen-
des Dilemma: Deutschland braucht
ein neues Geschäftsmodell und vor
allem privates Kapital, um hohe
­Investitionen zu stemmen – in Digi-
talisierung, in Nachhaltigkeit. Ande-
rerseits wenden sich Unternehmen
ab: Linde weg, auch ein Hoffnungs-
träger wie Biontech ist direkt in den
USA notiert, weil es dort mehr Inves-
toren gibt, mehr Liquidität.
Wir haben in Deutschland schlicht zu
wenig kapitalmarktwillige Firmen. Wir
haben einen starken Mittelstand, starke
Familienunternehmen, die nicht gelis-
tet sein wollen. Zudem haben wir viel
weniger Kapital als in den USA, das in
börsennotierte Unternehmen investiert
wird. Es schmerzt schon sehr zu sehen,
dass gerade einmal 15 Prozent der Inves-
toren der Deutschen Börse aus Deutsch-
land kommen. Die Deutsche Börse kann
diese Strukturen und Randbedingun-
gen nicht ändern. Es muss an anderen
Stellen angesetzt werden, um den Ka-
pitalmarkt Deutschland, den Kapital-
markt Europa attraktiver zu machen.
Eine echte paneuropäische Börse
könnte die Lösung sein, mindestens
aber das Problem lindern.
Theoretisch schon, aber praktisch ist
das wohl schwierig.
Also ist Europa chancenlos?
Wer aufgibt, hat schon verloren. Es
lohnt sich, zu kämpfen und immer wie-
der den Finger in die Wunde zu legen.
Wir brauchen den gemeinsamen euro-
päischen Kapitalmarkt. Ich habe die
Hoffnung nicht aufgegeben, dass da Be-
wegung reinkommt und die EU etwas
unternimmt. Gerade jetzt. Es ist höchs-
te Zeit, dass wir endlich auch das The-
ma der Abhängigkeit unseres Landes
von den amerikanischen Finanz- und
Kapitalmärkten adressieren.
Eine vollendete Kapitalmarktunion
würde auch im Bankensektor grenz-
überschreitende Fusionen ermögli-
chen und Europas Banken im globa-
len Wettbewerb stärken – bei einer
sitzen Sie ja im Aufsichtsrat, bei der
Deutschen Bank.
Schauen Sie sich die europäischen Ban-
Foto: Jann Höfer für manager magazin
ken an, sie sind ein Schatten ihrer
selbst. Sie operieren in einem höchst
fragmentierten Markt, sie kämpfen mit
strukturell niedrigeren Margen und
werden übermäßig reguliert – so stark,
dass inzwischen die Investoren kaum
noch Interesse an europäischen Banken
zeigen. Wenn Sie aber keine starken
Banken in Europa mehr haben und die
Regulatoren auch noch das Invest- 2
DEZEMBER 2022 51
UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  THEODOR WEIMER

mentbanking verteufeln, dann müssen
die deutschen Unternehmen zu ameri-
kanischen Investmentbanken gehen.
Das können wir doch nicht wollen. Wir
werden Woche für Woche abhängiger
bis Firmen an die Börse gehen, um sich
dort Kapital zu besorgen, weil es so viel
Venture-Capital und Privatkapital gibt.
Früher gingen junge Unternehmen
nach durchschnittlich zwei Jahren an
giganten USA besser die Stirn bieten
kann. Wir haben bisher in Europa 450
Handelsplätze, fast jedes Land hat seine
eigene Börse. Der Markt ist schlicht zu
fragmentiert, und das ist ein riesiger

von amerikanischen Banken und vom
amerikanischen Kapitalmarkt.
Sie fordern daher weniger Regulie-
rung bei Banken, auch wenn die hö-
heren Eigenkapitalvorschriften uns
in Krisen mehr Sicherheit geben.
Richtig, mehr Eigenkapital bei den Ban-
ken bringt mehr Sicherheit. Aber man
darf das nicht übertreiben. 10 Milliar-
den mehr Eigenkapital, die eine Bank
aufbauen muss, bedeuten – grob über
den Daumen gepeilt – 100 Milliarden
weniger, die die Bank an Krediten
­herausgeben kann. Das kostet Wirt-
schaftswachstum. Es behindert den
technologisch notwendigen Umbau
der Wirtschaft.
Die Bundesregierung hat Eckpunkte
für das sogenannte Zukunftsfinan-
zierungsgesetz vorgestellt, um den
Finanzplatz attraktiver zu machen.
Auch kleinere Unternehmen sollen
sich leichter über die Börse finanzie-
ren können. Brauchbar?
Es ist ein wichtiger, ein guter und ein
erster Schritt. Aber wir müssen schau-
en, dass das alles in der politischen Ab-
stimmung am Ende nicht auf den
kleinsten gemeinsamen politischen
Nenner runterdiffundiert.
Die Börse wollte eigentlich selbst
mal mit dem Fintech Hub und dem
Deutsche Börse Venture Network
den Finanzplatz stärken und junge
Unternehmen früh an den Kapital-
markt heranführen. Das hat nicht
funktioniert – warum nicht?
Die Marktstrukturen haben sich geän-
dert. Es dauert unterdessen viel länger,
die Börse. Heute dauert das zehn Jahre.
Die jungen Unternehmen sind viel bes-
ser finanziert. Sie brauchen das Börsen-
listing viel später. Wir gehen daher jetzt
einen anderen Weg und wollen mit
­Forge Europe ...
... einem Gemeinschaftsunterneh-
men der Deutschen Börse mit dem
amerikanischen Unternehmen Forge
Global ...
... einen Marktplatz für private euro­
päische Wachstumsunternehmen und
Investoren aufbauen. Dort können Ge-
sellschafteranteile vor dem Börsenlis-
ting gehandelt werden. Bisher müssen
die Gesellschafter, die ihre Anteile ab-
geben wollen, sich selbst einen Käufer
für ihren Anteil suchen. Wir können so
den Venture-Capital-Markt und per­
spektivisch auch den Private-Equity-
Markt einer breiteren Masse zugänglich
machen.
Das löst die hohe Abhängigkeit vom
US-Kapitalmarkt aber noch lange
nicht.
Das ist eine Einzelmaßnahme, klar.
Aber eine wichtige. Mich sorgt sehr,
dass die deutschen Unicorns das Lis-
ting an einer US-Börse bevorzugen.
Jede Investmentbank rechnet den
Gründern vor, dass sie an der Nasdaq
oder NYSE eine deutlich höhere Bewer-
tung bekommen als an der Frankfurter
Börse. Dieses Problem kann die Deut-
sche Börse nicht lösen, das kann auch
die Euronext nicht lösen. Am Ende des
Tages muss die Politik entscheiden, ob
sie mehr Integration, ob sie Europa
stärken will und so dem Kapitalmarkt-
Fotos: Johannes Arlt für manager magazin, Gerald Matzka / dpa / picture alliance, Mark McQueen, Michael Kohls für manager magazin, Mattias Christ / imago images, PR, Jakob Hoff / imago images
Nachteil.
Sie würden jetzt also doch gern mal
eine Börsen-Großfusion angehen?
Das hat nichts damit zu tun, was ich
gern machen möchte. Es ist schlicht für
den Kapitalmarkt wichtig, dass wir die
Fragmentierung in vielen Bereichen
aufheben. Objektiv gesehen braucht
nicht jedes Land in Europa eine eigene
Börse. Das muss aber politisch gewollt
sein. Im Grunde muss die Politik eine
ganz einfache Frage beantworten:
­Wollen wir Europa vertiefen – und
wenn ja: Wie?
Weimer hat sich einen Ruf aufgebaut
als ein CEO, der Probleme sehr schnell an-
geht und nichts auszusitzen versucht. Als
Deutschland-Chef der italienischen Groß-
bank Unicredit gehörte er zu denjenigen,
die sehr früh ihr Filialnetz geschrumpft
und den Skandal um Cum-ex-Steuerdeals
mit Steuerrückzahlungen und Bußgeldern
zügiger abgehakt haben als andere.
Sie sagten mal, es gebe nichts
Schlimmeres für Sie, als zu spät auf
Probleme zu reagieren, zu spät zu
wissen, wo was im Argen liegt.
Ja, ich bin geschäftlich und strategisch
gesehen leicht paranoid. Das sage ich
auch offen. Ich mache mir ständig Ge-
danken, was passieren könnte, worauf
wir reagieren müssten. Ich rede über
schwarze und weiße Schwäne. Wir
­können nicht wissen, was uns droht.
Aber wir müssen darüber nachdenken
und diskutieren. Als ich hier bei der
Börse angefangen habe, war es die
Blockchain, die mich umtrieb. Ich
habe befürchtet, dass sie unser Ge- 2

DIE JURY
Kandidatinnen
und Kandida-
ten werden von
der Redaktion Alexander Wolfgang Doreen Stefan Clara-Chris­ Miriam Sven Oliver
und der Jury Dibelius, Fink, Novotne, Oschmann, tina Streit, Wohlfarth, Clausen,
nominiert. Deutschland- Europa-Chef Multiaufsichts- Investor, Aufsichtsrätin, Unternehmerin Chefredakteur
Vergeben wird Chef CVC Goldman Sachs rätin Multiauf­ unter anderem manager
der Preis von sichtsrat Börse (enthielt magazin
der Jury. sich)

52  DEZEMBER 2022 manager magazin

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 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  THEODOR WEIMER
schäftsmodell massiv schädigt.
Inzwischen hat sich das ent-
spannt. Wir sind selbst in dieser
Technologie unterwegs.
Wie stellen Sie sicher, dass Sie
früh genug erfahren, wo sich
etwas zusammenbraut?
Man muss eine entsprechende
Atmosphäre schaffen. Man muss
offen über Probleme reden kön-
nen. Ich hasse es wie die Pest,
wenn jemand nicht sagt, wo et-
was schiefläuft. Das heißt nicht,
dass hier alle Probleme bei mir
landen müssen. Aber sie müssen
bei den jeweiligen Vorgesetzten
und Ressortvorständen ankom-
men. Ich glaube daher, dass der
wichtigste Tagesordnungspunkt
unserer Vorstandssitzungen alle
14 Tage der Round Table ist. Da
kann und soll jede und jeder an-
sprechen, was gerade wichtig ist
oder anzubrennen droht.
Wann haben Sie zu spät re-
agiert – mit schmerzhaften
Folgen?
Da gibt es zu viele Situationen, in
denen das passiert ist. Etwa bei
Personalentscheidungen. Wenn
Sie die nicht schnell genug tref-
fen, sind die guten Leute weg,
und die schlechten bleiben zu
lange im Amt. Dann wird es teuer
für das Unternehmen.
Wie stellen Sie sicher, dass die
guten Leute unter Ihnen arbei-
ten wollen?
Mein Credo: Als Leader brauche
ich Follower. Und die habe ich,
wenn ich drei Dinge mitbringe:
Ich muss kompetent sein, ich
muss Erfolg haben, ich muss au-
thentisch sein.
Sie sind kein Fan von Work-­
Life-Balance oder Homeoffice
– wie können Sie da die klügs-
Foto: Jann Höfer für manager magazin
ten Köpfe aus der Generation Y
oder Z anziehen?
Aber wir arbeiten bei der Deut-
schen Börse doch flexibel. Nur für
mich persönlich ist Homeoffice
nichts. Ich war auch in Lock-
down-Zeiten jeden Tag im Büro.
Das ist einfach mein Arbeitsstil.
Aber so gegen 18.30 Uhr geht
auch bei Ihnen im Büro das
54  DEZEMBER 2022
Straight Talk:
Weimer in einem
Besprechungs-
raum der Börse.
Hinter ihm: der
Vorstandsflur.
Licht aus, heißt es – haben Sie
doch die Work-Life-Balance für
sich entdeckt?
Work-Life-Balance ist für einen
CEO aus meiner Sicht kein trag-
fähiges Konzept. Selbst wenn ich
um 18.30 Uhr nach Hause fahren
würde, heißt das nicht, dass dann
mein Tagewerk zu Ende ist. Das
Einzige, worauf ich jetzt stärker
achte, ist, dass mir meine Wo-
chenenden nicht unnötigerweise
mit Arbeit zerschossen werden.
Wenn mir jemand eine Präsenta-
tion für den kommenden Montag
erst am späten Freitagnachmit-
tag schickt, dann werde ich schon
mal ungehalten.
Weimers Vertrag als Vorstands-
chef der Deutschen Börse läuft noch
bis Ende 2024. Aus Altersgründen
wird es keine weitere Verlängerung
geben. Nächstes Jahr will er eine
neue Strategie vorlegen. Die bishe-
rige „Compass 2023“, die ein Plus
bei den Erlösen von 10 Prozent pro
Jahr vorsieht, wird er voraussicht-
lich dieses Jahr übertreffen. Das
Unternehmen peilt Nettoerlöse von
mehr als 4,1 Milliarden Euro und
mehr als 2,3 Milliarden Euro Be-
triebsgewinn an.
Wenn Sie im nächsten Jahr
eine neue Strategie für die
Deutsche Börse vorlegen, wer-
den Sie das mit Ihrem Nachfol-
ger machen?
Es gibt keine CEO-Strategie. Es
gibt nur eine Unternehmensstra-
tegie, und diese wird, da können
Sie ganz sicher sein, vom Vor-
stand gemeinsam erarbeitet.
Sie sind der vierte CEO der
Börse, der von außen kommt.
Haben Sie bei Ihrem Antritt
mit dem Aufsichtsratschef ver-
einbart, einen internen Kandi-
daten oder eine Kandidatin
aufzubauen?
Zu meiner Nachfolge nur eines:
Das ist Sache des Aufsichtsrats.
Es zeichnet sich ab, dass Sie
künftig eine weitere Aufgabe
haben werden: den Vorsitz der
Stiftung, die das Erbe von
Heinz Hermann Thiele steuert
– eines der größten Vermögen
Deutschlands. Sie wären der
mächtigste Mann des Indust-
Dax-
riekonzerns Knorr-Bremse.
Überflieger
Die Top-3- Was ist schon Macht? Ich will
Performer im Dinge bewegen und gestalten
Dax seit Jahres- können – hin zum Besseren. Da
beginn, indexiert kommt der Idealist in mir durch.
Deutsche Aber richtig ist – und das wurde
Telekom ja kolportiert –, dass man mir
Deutsche Börse eine Rolle in der Stiftung ange-
RWE
Dax tragen hat. Ob das so kommt und
wie die Ausgestaltung ist, das ist
120
noch offen. Voraussetzung ist in
jedem Fall das grüne Licht der
115
Aufsichtsbehörden: der Börsen-
aufsicht in Wiesbaden, die primär
110 zuständig ist, sowie der Bafin.
Nach unseren Informationen
105 hat die Bafin bereits ihr Veto
eingelegt. Was bedeutet das für
100 Sie?
Ich wiederhole mich: Ob das so
95 kommt und wie die Ausgestal-
tung ist, das ist noch offen.
90 Der Stiftungsvorsitz dürfte Sie
auch nach Ihrer Zeit bei der
85 Börse beschäftigen. Was ist Ihr
Plan B, wenn die Sache bei
80 Knorr-Bremse scheitert?
Es haben sich bisher stets neue
75 Anschlussjobs ergeben, wenn
eine Sache zu Ende ging. Warum
31.12.21 9.11.22
= 100 sollte das künftig nicht mehr
der Fall sein? 1 Sven Clausen/
Quelle: Refinitiv
Grafik: manager magazin Katharina Slodczyk
manager magazin
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UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Elektromobilität
DIE
ZAUDERER
D
er EQS gilt als ein Muster
deutscher Automobil-
kunst. Das Modell hat als
erster Mercedes eine reine
Elektroarchitektur bekom-
men, eine Akkuladung
trägt rund 600 Kilometer
weit, der „Hyperscreen“
erstreckt sich im Cockpit über 1,41 Me-
ter Breite. Konzernchef Ola Källenius
(53) vermarktet das Modell als die elek-
trische S-Klasse. „High-end luxury“,
verkauft mit größerer Batterie für mehr
als 150.000 Euro.
Auch als Källenius Anfang Oktober
mit Topleuten wie China-Vorstand Hu-
bertus Troska (62) und Strategiechef
Paul Gao konferierte, ging es zentral
um den EQS. Denn das Elektroauto der
58  DEZEMBER 2022
Superlative hat ein gravierendes Prob-
lem. Es verkauft sich nicht.
Der Vertrieb in Stuttgart hat die
Planzahlen für die Elektromodelle EQS
und EQE in einem ersten Entwurf dras-
tisch gesenkt für 2023, von gut 40 Pro-
zent Minus ist die Rede. Die EQS-Pro-
duktion in Sindelfingen bereitet
Probleme. Es hat Rückrufe gegeben,
auch in China. Vor allem dort kommt
der EQS nicht an: gerade einmal 1000
verkaufte Autos bis Ende September in
diesem Jahr, das ist viel zu wenig.
Stratege Gao hat chinesische Kun-
den befragen lassen. Das vernichtende
Ergebnis: Mercedes hat an deren Ge-
schmack vorbeientwickelt.
Der EQS ist kein raumgreifender
Chauffeurwagen, wie ihn reiche Chine-
sinnen und Chinesen lieben; der Platz
hinten rechts reicht nicht, um bequem
zu arbeiten. Das Multimediasystem
enttäuscht; das Design wirkt über-
frachtet, von den Modellen der chinesi-
schen Konkurrenz sind die Befragten
schlankere und schnellere Funktionen
gewohnt. Designchef Gorden Wagener
(54) wollte, nur eines von etlichen Bei-
spielen, Energieeffizienz und hat dem
Auto deshalb eine windschnittige Bo-
genform gegeben. Das kommt nicht an.
Wenn der EQS für Mercedes’ Start
in eine neue automobile Welt steht,
dann ist es ein Fehlstart. Als Källenius
und seine Leute ihre Krisensitzung be-
enden, bleiben die Hoffnung auf die ge-
räumigere SUV-Variante des EQS – und
eine Menge Nervosität.
manager magazin

Anderen Herstellern geht es ähnlich.
Volkswagen, Audi, BMW – alle haben
sie große Pläne und Offensiven ange-
kündigt, die Autobosse überschlagen
sich mit öffentlichen Bekenntnissen.
Doch die meisten sind noch nicht weit
gekommen. Sie wurden überrumpelt
von der Rasanz, mit der sich ihr bislang
höchst einträgliches Geschäft ändert.
Von der weltweit explodierenden Nach-
frage nach Elektroautos, vor allem in
China; vom kometenhaften Aufstieg
neuer Wettbewerber – nicht nur von
Tesla, sondern auch von anderen wie
dem chinesischen Anbieter Build Your
Dreams (BYD); von den Engpässen bei
Batteriezellen und -rohstoffen.
Die Autokonzerne zählen zu den be-
deutendsten Marken der deutschen In-
manager magazin
Die deutschen Autobosse haben
zu lange nicht an die Elektromobili-
tät geglaubt – und so die Zukunft
ihrer Konzerne riskiert. Die Erkennt-
nis kommt spät. Vielleicht zu spät.
dustrie, Millionen Arbeitsplätze hän-
gen an ihrem Erfolg. Doch ihre
Spitzenmanager haben ihren eigenen
Markt lange falsch eingeschätzt. Inzwi-
schen steuern sie um – doch oft immer
noch zu zaghaft und vor allem: zu spät.
Die Folgen des Elektroschocks sind
dramatisch, das zeigt sich bereits. Mit
der Elektromobilität bricht ein Multi-
milliardenmarkt auf, den seit Jahrzehn-
ten deutsche Hersteller dominieren.
„Die bisherigen Marktanteile werden
sich verschieben“, warnt Volkswagens
Technikvorstand Thomas Schmall
(58). „Wir müssen in der elektrischen
Welt von Anfang an dabei sein.“
Nur ist das leichter gesagt als getan.
Wer sich in diesen Wochen in den Zen-
tren der deutschen Autoindustrie um-
Garagenhüter: Der
Mercedes-Benz
Vision EQXX kommt
mit einer Batterie-
ladung mehr
als 1000 Kilometer
weit. Einziger
Haken: Den Wagen
kann man nicht
kaufen.
hört, wer mit den Topleuten spricht,
taucht ein in eine geteilte Welt. Die
Unternehmen verdienen besser als je
zuvor. 2022 wird inmitten von Ukraine-
krieg und Halbleiterkrise zum Jahr der
Rekordgewinne. Gleichzeitig aber liegt
die Zukunft unter einem Schleier; und
Foto: Bernd Hanselmann / Mercedes-Benz AG
das nicht nur wegen der näher rücken-
den Rezession und der langsam absa-
ckenden Auftragszahlen. Elektro wird
zur Risikozone. Und, wenn sich nicht
schnell Entscheidendes ändert, womög-
lich auch zur Nemesis der deutschen
Vorzeigebranche und ihrer Anführer.
Frank-Steffen Wallisers Elektro-
faszination begann, „es muss 2008 oder
2009 gewesen sein“, an einem Abend in
Weissach. Der Porsche-Ingenieur, heu-
te 53 Jahre alt, durfte ein Auto na- 2
DEZEMBER 2022 59
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Elektromobilität
mens „Tesla Roadster“ auspro-
bieren. Er fuhr nach Hause und
morgens wieder zurück. „Das
könnte Spaß machen, wenn es
jetzt noch ordentlich gemacht
wäre“, erinnert er sich an sein
Gefühl nach der Testfahrt.
Walliser gehört nicht zu den
Konzernkollegen, die damals um
den Roadster standen und „alle
gelacht“ haben. Er hat Porsches
teilelektrischen Panamera und
den elektrisch geboosteten
Supersportwagen 918 mitentwi-
ckelt, er leitet heute sämtliche
Porsche-Baureihen und soll ga-
rantieren, dass der Hersteller
2030 bis zu 90 Prozent elektrifi-
ziert fährt. Aber auch er hat er-
lebt, wie es auf und ab ging mit
der Elektrobegeisterung der Bos-
se. Und wie sie trotz vielverspre-
chender Ansätze immer wieder in
die falsche Richtung abbogen.
Norbert Reithofer (66) etwa
kombinierte als BMW-Lenker
Carbonchassis, Elektroantrieb
und grünen Strom in der Produk-
tion des Innovationsmodells i3,
seit 2013 auf der Straße. BMW
wurde zum Vorreiter. Doch Reit-
hofers Nachfolger zogen die Bat-
teriebremse, als das Auto wenig
überraschend hohe Verluste ein-
fuhr. Sie trauten sich nicht.
Herbert Diess (64), damals
Chef der Marke VW, schaltete
2015 nach dem Dieselskandal al-
les auf Elektro – und sparte dann
auch als Konzernchef und lautes-
ter Elektroprediger so sehr, dass
Fotos: Thomas Dashuber / laif, Thomas Pirot / Die Zeit / laif
die Modelle seiner ID.-Familie zu
langsam laden, im Innenraum
plastifiziert und billig wirken und
digital wenig gefallen. Erstes
Aufhübschen hilft nur begrenzt;
die Zahlen sind, besonders in
China, noch immer mickrig. Und
wenn die Kundinnen und Kunden
eines der gefragteren Modelle auf
Diess’ Elektroplattform bestellen
wollen, etwa den Audi Q4-etron
oder den Cupra Born, dann war-
ten sie anderthalb Jahre – auch
deshalb, weil fast die komplette
Modellfamilie in Zwickau gebaut
wird und es jetzt an Kapazität
60  DEZEMBER 2022
mangelt. Ein Planungsfehler:
Wolfsburg glaubte nicht wirklich
an den Erfolg.
Oder der damalige Mercedes-
Chef Dieter Zetsche (69): 2008
versuchte er sich gemeinsam mit
dem Chemiekonzern Evonik an
einer Batteriezellenfertigung –
stieg jedoch wieder aus, unter
anderem weil der fest eingeplante
Kunde Renault die Zellen doch
nicht abnehmen wollte. Sein
Nachfolger Källenius müht sich
nun bis heute, mit Partnern aus-
reichend Zellen für seine ambi-
tionierten Pläne zu ergattern.
Der Funke Misstrauen bleibt
Das Zaudern hat über Jahre die
Kultur geprägt. Warum die Mar-
gen schädigen, solange Benziner
und Diesel Unsummen einspie-
len? Warum scheinbar unkalku-
lierbare Risiken eingehen, ge-
schäftlich und persönlich, wenn
den Anteilseignern auch so ihre
Milliardendividenden gezahlt
werden können? Die Autovor-
stände haben so lange gezögert
und an den falschen Stellen ge-
spart, wurden zusätzlich durch
technische Probleme gebremst,
dass sie jetzt weit zurückliegen.
Mit hohem Lobbyeinsatz ver-
suchten sie über Jahre, die schar-
fen CO₂-Grenzwerte der Euro-
päischen Union zu verhindern.
Unmöglich zu erreichen seien die
Zielwerte, hieß es lange. Auch
eine Fehleinschätzung: Die Vor-
gaben fielen sogar schärfer aus
als befürchtet, aber dank des E-
Autobooms ist das kein Problem
mehr. Das Ende des Verbrenners,
noch vor zwei Jahren eine Hor-
rorvorstellung, ist sowieso nicht
mehr zu stoppen. Die EU hat den
Anschlag gesetzt: 2035.
Einige Hersteller preschen in-
Leider noch
Zukunft: zwischen vor, zumindest verbal.
BMW-Chef Audi will 2026 den letzten Ver-
Oliver Zipse mit brenner auf den Markt bringen,
einem Modell VW hat für 2030 70 Prozent
der künftigen Elektroanteil in Europa ausgeru-
Münchener fen, und Mercedes-Chef Ola Käl-
Werksstruktur
lenius bereitet seine Leute darauf
Programmfehler: vor, 2030 aus dem Geschäft mit
Porsche- und Benzin und Diesel auszusteigen.
Volkswagen- Direkt nach seinem Antritt
Chef Oliver 2019 hatte der Schwede die Wei-
Blume hat chen gestellt. Es bleibe dem
speedelektrifi- Unternehmen nichts übrig, „egal
ziert – und wird
jetzt von
ob wir das wollen oder nicht“, wie
verspäteter er damals sagte. „Ansonsten dür-
Software fen wir unsere Autos irgendwann
gebremst nicht mehr verkaufen.“ Er wollte
ein völlig neues Denken, neue
Prioritäten, keine Zeit mehr ver-
lieren. „Wir müssen das Mindset
ändern: Elektro kommt zuerst.
Das muss dieses Unternehmen
durchdringen.“
Symbolisch setzt er seitdem
gern hohe Ziele. Unterzeichnete
manager magazin
 Elektromobilität  UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT

die Glasgower Erklärung der

Weltklimakonferenz. Lässt sich
von einem Beirat für Integrität
und Nachhaltigkeit leiten. Will
die Mercedes-Werke 2030 zu 70
Prozent mit grünem Strom be-
treiben. Der Funke Misstrauen
aber, das ist das Widersinnige, ist
auch bei ihm geblieben.
Die nächste automobile Platt-
form nach seinem Antritt, konzi-
piert für die kleineren Mercedes-
Modelle und abgekürzt MMA,
wurde noch nicht rein elektrisch
geplant. Källenius und seine Ent-
wickler wollten auch Verbrenner
unterbringen, das Geschäft läuft
ja noch. Solche Entscheidungen
wirken nach in der Autoindustrie,
die Entwicklungszeiten sind lang.
Die ersten MMA-Modelle kom-
men erst 2024 auf den Markt.
Mindestens 10 Prozent Effizienz
hätten die Mercedes-Entwickler
durch den Kompromiss ver-
schenkt, schätzt einer, der die
Fahrzeuge mit konzipierte – und
sich an vielen Punkten nicht
durchsetzen konnte.
Electric only, die erste rein
elektrische Generation, kommt
wohl nicht vor 2026. Was Merce-
des dann können will, hat Källe-
nius Analysten präsentieren las-
sen: 1000 Kilometer mit einer
Aufladung. Aber das ist noch ei-
nige Jahre entfernt. Konkurren-
ten wie Porsche, aber auch Hyun-
dai und Kia, laden schon heute
mit schneller 800-Volt-Technik.
Auch persönlich sendet die
Konzernspitze weiter merkwür-
dige Botschaften an die Mann-
schaft. Entwicklungsvorstand
Markus Schäfer (57) etwa fährt
S-Klasse. Hochmotorisiert, er-
zählen sie sich in Untertürkheim
und Sindelfingen, Schäfer gilt als
Fan der Powersparte AMG. So
Halbgut: Die Verkaufserwartungen
für die Mercedes-
Limousine EQE sind mau, beson-
ders in China. Vorstandschef Ola
Källenius gilt als wenig begeistert.
gen Umstieg auf Elektro, plädier- lein schon, weil die Batteriezellen
te für Technologieoffenheit. „Re- knapp sind.
Slowmotion
Verkaufszahlen silienz braucht Vielfalt“, sagte er Auch bei der Gestaltung der
E-Autos in China noch im Frühjahr dieses Jahres in neuen Plattform zögerte das Ma-
bis Ende einem Interview. In einem Unter- nagement – trotz des längst sicht-
September 2022, nehmen mit 119.000 Mitarbeiten- baren Booms am Markt. Erst in
ausgewählte den weltweit, mit einem Mittel- diesem Sommer hat der Vorstand
Modelle, in Tsd. management, das sich für den entschieden, die Modelle der
nächsten Karriereschritt positio- künftigen Architektur „Neue
Wuling
Hongguang niert, leitet man so keine Trans- Klasse“ nur noch mit Batterien
Mini 304,7 formation ein. anzutreiben. Zipse hatte lange
Zipse und seine Leute hatten variabel geplant, wollte flexibel
Tesla
Model Y
die Geschwindigkeit des Wandels umschalten können, falls die
220,0
offensichtlich unterschätzt. Käuferinnen und Käufer doch
Sonst wäre man in München länger Benzin und Diesel tanken
BYD
Dolphin 111,0 kaum so überrascht vom eigenen wollen. Vielleicht hat am Ende
Erfolg, namentlich: vom i4. eine Rolle gespielt, dass der heu-
Tesla Das Elektromodell, um die Jah- tige Aufsichtsratschef Reithofer
Model 3 99,7 reswende auf den Markt gekom- und sein Vize Schoch Elektro-
men, gilt manchen in der Szene freunde sind.
BYD als erster echter Tesla-Jäger aus Inzwischen beschleunigt Zip-
Yuan Plus 91,2
Deutschland. Etliche in der se den Wandel, plant jetzt im
BMW-Spitze seien verwundert, ungarischen Debrecen ein neues
heißt es, wie viel Spaß der i4 und Werk nur für die künftigen Elek-
auch der luxuriöse i7 machten tromodelle der „Neuen Klasse“,
und – so weit verfügbar – wie gut ab 2025 soll es produzieren. Die
VW sie sich verkauften. Zahl der insgesamt verkauften
ID.4 60,2
Die mittelfristig eingeplanten Autos soll zügig von heute 2,5
BMW 120.000 i4 pro Jahr seien viel Millionen auf drei Millionen stei-
iX3 17,8 zu wenig, das Doppelte sei gen, der Elektroanteil weltweit
Foto: Michaela Rehle / Reuters

ein Signal wird wahrgenommen.
Der Rückstand wächst
Genau wie die abwiegelnden Auf-
tritte von BMW-Chef Oliver Zip-
se (58), dem Zögerlichsten der
deutschen Autobosse. Er mahnte
immer wieder vor einem einseiti-
möglich, sagte der langjähri-
Mercedes
EQB 3,9 ge Betriebsratsboss Manfred
Schoch (67) dem manager maga-
Audi zin schon im Frühjahr. Das
Q2 etron 1,6
Unternehmen äußert sich zu den
Zahlen nicht. Sind die Kapazi-
Quelle: JSC Auto- täten einmal festgelegt, lassen
motive, mm-Recherche
Grafik: manager magazin sie sich kaum noch erhöhen – al-
spätestens 2030 auf 50 Prozent
steigen. 2022 verkaufte BMW bis
Ende September lediglich knapp
130.000 Elektroautos.
Und doch: Es könnte zu wenig
sein. Tesla-Chef Elon Musk (51)
will die drei Millionen deutlich
früher erreichen, spätestens 2

manager magazin DEZEMBER 2022 61

 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Elektromobilität
Abgefahren – die
Elektrovorbilder
Tesla, BYD und CATL
definieren die
neue Automobilität.
Es ist nicht so, dass Teslas Model 3
und Model Y jeden Vergleich
gewännen. Kias EV6 und der BMW
i4 etwa verbrauchen weniger Strom
und laden schneller. Doch Tesla-
Chef Elon Musk war früher da als
alle anderen. In Deutschland
belegen Model Y und Model 3 Platz
eins und drei der Elektroverkaufs-
rangliste; global wird er 2022 fast
so viele Autos verkaufen wie Audi.
Was Tesla noch bremsen könnte:
Musk selbst. Der Unternehmer
wirkt zunehmend entrückt (siehe
ab Seite 32).
BYD gehört zu den Autoherstellern
aus China, die lange belächelt wur-
den. Der Denza, eine 2014 gemein-
sam mit Mercedes vorgestellte E-Li-
mousine, geriet zum Flop. Mercedes
zog sich aus dem Joint Venture Ende
2021 weitgehend zurück. BYD-Chef
Wang Chuanfu (56) jedoch drehte
auf und stieg tief in die Batterietech-
nik ein. Heute sind die Chinesen
drittgrößter Zell-Hersteller welt-
weit; sie verkaufen nur noch Elektro-
autos und Plug-in-Hybride und
wachsen ähnlich rasant wie Tesla. In
Europa wurden sie spätestens be-
kannt, als Sixt im Oktober 100.000
E-Autos bei ihnen bestellte.
CATL ist der nächste chinesische
Senkrechtstarter. Robin Zeng (54)
gründete den Batteriezellhersteller
erst 2011; heute dominiert CATL mit
33 Prozent Marktanteil die Szene
und wird an der Börse etwa doppelt
so hoch bewertet wie Mercedes: mit
Foto: Qilai Shen / Bloomberg
rund 130 Milliarden Dollar. Für
Europa verkündete Robin Zeng
jüngst ein gewaltiges Projekt: Sieben
Milliarden Euro wolle er in Ungarn
investieren. Bedeutet: mehr Versor-
gungssicherheit, aber auch noch
mehr Abhängigkeit von China. 1
62  DEZEMBER 2022
2025 – und schon 100 Prozent elekt-
risch. Der Rückstand der Deutschen
wird nicht kleiner, er wächst.
Druck durch die Newcomer
In Europa steigen die Bestellungen viel
schneller als gedacht. Die Wartezeiten
sind lang, neun Monate im Durch-
schnitt in Deutschland, hat das Ver-
gleichsportal Carwow berechnet. Der
Autovermieter Sixt, klassischer Groß-
kunde der Premiumhersteller, hat sich
notgedrungen in China bedient und
100.000 Elektroautos bei BYD bestellt.
So kommt es, dass andere an den
Deutschen vorbeiziehen. Branchenvor-
bild Tesla kommt auf eine knappe Mil-
lion verkaufte Autos bis Ende Septem-
ber. Der chinesische Aufsteiger BYD hat
seinen E-Absatz auf knapp 600.000
Autos verdoppelt und steigert die
Wachstumsraten fast monatlich. Mer-
cedes, BMW und Mini, Porsche und
Audi, VW und sogar Seat und Škoda
verkauften dagegen in den ersten drei
Quartalen 570.000 rein elektrische
Fahrzeuge. Alle zusammen.
Besonders dramatisch spüren sie die
Fehleinschätzung in China, jahrelang
wichtigster Wachstumsmarkt. VW do-
miniert die Verkaufsstatistiken dort
seit mehr als einem Jahrzehnt – aber
nur noch bei den Verbrennern. Und
Mercedes spielt elektrisch noch keine
Rolle: Auf einer Liste der 2022 im Land
verkauften und auch gebauten E-Mo-
delle rangiert das SUV EQB als bester
Mercedes auf Platz 79.
Gigarealität: CATL-Chef
Robin Zeng hat keine zehn
Jahre gebraucht, um den
globalen Markt für Batterie-
zellen zu dominieren
Die Elektroautos verkaufen andere.
Die offensivsten deutschen Premi-
umchefs sind Porsche-CEO Oliver Blu-
me (54) und Audi-Kollege Markus Du-
esmann (53). Blume hat Ende 2019 den
Taycan an den Start gebracht, das Auto
vertreibt sich glänzend, schlägt sogar
die Sportwagenlegende 911. Schon
Ende 2021 sollte eigentlich die neue Ge-
neration des SUV Macan folgen; nur
noch elektrisch, für Porsches meistver-
kauftes Modell wird es keine neue Ver-
brennerversion mehr geben.
Audi-Chef Duesmann hat sogar seit
2020 kein neues Modell mit Benzin-
oder Dieselantrieb mehr auf den Markt
gebracht; er hatte als Erster der deut-
schen Autobosse den Ausstieg aus dem
Verbrenner angekündigt. Bei Blume
und Duesmann mangelt es nicht an Er-
kenntnis; aber die Software für ihre
neuen Modelle wird nicht fertig. Die
Vorgaben von Blumes Vorgänger Her-
bert Diess waren zu komplex, überstie-
gen die Kompetenzen der Entwickler.
Der Macan kommt nun erst 2024; der
Q6 e-tron von Audi genauso. Auch der
Start vieler Folgemodelle verzögert
sich.
Blume und Duesmann hätten einen
Vorteil gehabt; sie wären die Ersten ge-
wesen mit reinen Elektromodellen auf
einer volumenstarken Premiumplatt-
form. Der Vorsprung ist jetzt verspielt.
Und jeder Monat weitere Verzögerung
verschlechtert die Position. Ende 2020
plante Blume mit 50 Prozent Elektro-
anteil schon für 2024; etwa ein Fünftel
manager magazin
 Elektromobilität  UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT
20
Northvolt
davon kombinierte Plug-in-Hybride. Unterversorgt Freyr 30 SE
NO, FI
Wenn sein Stratege Walliser heute über Europas geplante Zellfabriken
seine Ziele redet, ist daraus 2025 gewor- in 2025, in Gigawattstunden 8 10

den. Und schon das klingt Morrow Northvolt

NO SE
mutig. 320–390 420
erreicht
Es wird Jahre dauern, die Ziel
verlorenen Jahre aufzuholen
– wenn es überhaupt gelingt.
In der EU werden voraus-
sichtlich 420 GWh für 90
elektrifizierte Autos in 2025 26 LG Energy
Das zeigt sich auch und be- benötigt, 320-390 GWh können PL
lokal produziert werden. Volkswagen
sonders: bei den Batteriezel- Es entstünde eine Versorgungs- DE
len, dem Herzstück des Zu- lücke von 30 bis 100 GWh.
kunftsantriebs.

Pleiten und Pannen

Michael Brecht (57) kämpft schon lan-
40 40
ge für die Elektromobilität. Er führte
seit 2014 den Betriebsrat der Daimler 20
24 CATL Samsung
DE HU
AG, steht nach der Spaltung des Kon- ACC
Envision
zerns in Pkw und Lkw 2021 an der Spit- GB, FR, ES FR, DE, IT 5
40
ze der Truck-Beschäftigten. Früh hat er EVE Energy
HU
die „Freunde der Batteriezelle“ mitge- SK Innovation
HU
gründet, einen Verbund von Managern, Quelle: P3, mm-Recherche
Arbeitnehmervertretern, Gewerkschaf- Grafik: manager magazin

tern und Zellexperten, die auf eine eige-

ne Produktion drängten. „Ich will eine
Fertigung in Deutschland“, sagt er im
Interview mit dem manager magazin,
„und wenn es das Letzte ist, was ich in
meinem Berufsleben erreiche.“
Es klingt kämpferisch, aber auch ein
wenig verzweifelt.
Bei Daimler ist er nicht weit gekom-
men mit seiner Überzeugungsarbeit,
Zetsches Zelldesaster in Kamenz wirk-
te nach. Källenius hatte die frühe Chan-
ce auf eine Allianz mit dem schwedi-
schen Zellneuling Northvolt – doch er
zögerte. Heute ist Mercedes aus dem
Spiel, Northvolt ist ausgebucht, Volks-
wagen mit rund 25 Prozent beteiligt.
Källenius versuchte es mit Farasis.
Die Chinesen wollten ein Werk in Bit-
terfeld bauen. Doch Farasis erfüllte die
Ansprüche nicht, das Projekt in Sach-
sen-Anhalt wurde abgebrochen.
Källenius und seine Leute verhan-
delten wiederholt mit dem heimischen
Batterie-Oldie Varta. Die Politik in Ba-
den-Württemberg wie im Bund habe
Unterstützung signalisiert, heißt es in
Stuttgart, es gehe um größere Zellwer-
ke. Aber die Gespräche fruchteten bis-
lang nicht; das Vertrauen in die Varta-
Zellen reicht offenbar nicht.
Als Källenius sich im September
2021 dann am französischen Zellbünd-
nis ACC beteiligte, erwartete Arbeiter-
führer Brecht ein Werk auf dem Merce-
des-Gelände. Aber bislang passiert
nichts. Stattdessen rief Källenius eine
Allianz mit CATL aus, dem Weltmarkt-
führer aus China.
Anders als etwa Tesla-Chef Musk
dachte die deutsche Branchenelite lan-
ge, Zellen seien Massenware; einfach
auf dem Weltmarkt bei Zulieferern zu
kaufen. Den strategischen Wert er-
kannten nur wenige. Die Realisten in
der Branche erwarten nun, dass es spä-
testens in der zweiten Hälfte der De-
kade zu wenig Batteriezellen am Markt
geben wird, um die Nachfrage in Euro-
pa abzudecken. „Höchst anspruchs-
voll“ werde der Bau der notwendigen
Gigafabriken, sagt BMW-Entwick-
lungschef Frank Weber (56) und ver-
weist auf all die Knappheiten, von „grü-
nen Rohstoffen“ über „grünen Strom“
bis zu den Maschinen.
Es klingt wie: Für alle wird es nicht
reichen.
Für Weber, das betont er, natürlich
schon. Aber alle wissen, dass sie drin-
gend ihre Kapazitäten erhöhen und ihre
Bestellungen besser absichern müssen.
Trotzdem zögern viele, und es sind
nicht nur die gestiegenen Strompreise,
die die Zellwerkeplaner neu kalkulieren
lassen. Es sind auch die geänderten
politischen Rahmenbedingungen.
US-Präsident Joe Biden (79) hat den
Inflation Reduction Act (IRA) durch-
gesetzt, ein gewaltiges Klimaschutz-
und Jobprogramm. Wer in den USA
Batteriezellen produziert, sie dort zu
Modulen verarbeiten lässt und eventu-
ell auch noch die Rohstoffe aus den USA
bezieht, wird mit bis zu 45 Dollar pro
Kilowattstunde gefördert. Dazu kommt
Cash für die Käufer; die Details der
Rechnung sind zum Partytalk gewor-
den in der Szene.
45 Dollar, das ist eine Menge, wenn
zum Beispiel eine Zelle mit Lithium-
eisenphosphat-Chemie (LFP) aktuell
zwischen 100 und 120 Dollar kostet.
Das Ergebnis: Alle wollen in die USA
gehen; und viele bremsen in Europa.
Selbst Peter Carlsson (52) zögert
plötzlich, der schwedische Northvolt-
Chef. Er ist so etwas wie die Hoffnung
der europäischen Autoindustrie, soll sie
unabhängig machen vom chinesischen
Marktführer CATL und den koreani-
schen Branchenriesen. Im Frühjahr hat
er angekündigt, eine Gigafabrik im hol-
steinischen Heide zu bauen. Aber jetzt,
so hat er gesagt, könnte er Heide zu-
rückstellen – und erst in die USA gehen.
Am schnellsten versucht Volkswa-
gen, den Rückstand aufzuholen. Tech-
nikvorstand Thomas Schmall will sechs
eigene Batteriezellwerke in Europa 2

manager magazin DEZEMBER 2022 63

 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Elektromobilität
Gigapläne: VW-Tech-
nikvorstand Thomas
Schmall (l.) mit
Ex-Chef Herbert
Diess und Bundes-
kanzler Olaf Scholz
(r.)
bauen mit der Konzerntochter
PowerCo: 240 Gigawattstunden
sollen die ab 2030 jährlich produ-
zieren, Zellen für rund 3,5 Millio-
nen Autos. Dazu kommen, auch
bei ihm, ein oder zwei Fabriken
in den USA.
2025 soll die Produktion in
Salzgitter anlaufen, 2026 wohl
ein Werk in Valencia folgen, auch
die Verträge für die dritte Giga-
fabrik, geplant für Südosteuropa,
will Schmall noch in diesem Jahr
unterschreiben. „Erst ab 2026
wird es wirklich spannend bei
Batteriezellen“, sagt er. Dann
elektrifizierten auch die Spät-
starter massiv; dann werde die
Unterdeckung am Markt kritisch.
Seine Prognose für den Elekt-
romarkt, besonders bei Volumen-
herstellern: „Wer dann liefern
kann, gewinnt.“ Er will dabei
sein, denn im Umkehrschluss
heißt es: Wer nicht liefern kann,
Foto: Moritz Frankenberg / dpa / picture alliance
ist schnell raus.
Es muss schnell gehen. Ein
Joint Venture mit dem belgischen
Recyclingkonzern Umicore soll
Volkswagen sicheren Zugang
zum Kathodenmaterial der Bat-
teriezellen sichern. Mit der kana-
dischen Regierung hat Schmall
die Zusammenarbeit bei Roh-
stoffprojekten vereinbart; steigt
tiefer als die meisten Konkurren-
ten in die Absicherung mit so
teuren wie knappen Materialien
64  DEZEMBER 2022
wie Lithium und Nickel ein. Ähn-
lich breit stellen sich nur Tesla
und BYD auf. Das Problem,
Schmall redet gern in Bildern:
„Deren Startblock steht 100 Me-
ter vor unserem.“
Schmall hat noch nicht bewie-
sen, dass die PowerCo tatsächlich
Topbatteriezellen bauen kann.
Gleiches gilt für Northvolt-Chef
Carlsson und Källenius mit sei-
nem Partner ACC. Die Akkus
ihrer Wettbewerber dagegen trei-
ben schon Millionen Autos an.
Und Schmall muss nicht nur
die 100 Meter Rückstand aufho-
len; er muss auch die Kosten sen-
ken. Die Werke will er deshalb so
auslegen, dass sie möglichst iden-
tisch sind; Copy-and-paste in
einer Technologie, die bislang vor
allem äußerst komplex ist. Um
etwa 50 Prozent soll er so die
Zellpreise reduzieren; auch durch
energieeffizientere Technologie.
Die Volkswagen-Entwickler
planen kleinere E-Modelle; ID.2
und möglicherweise sogar ID.1
sollen Kleinwagen wie Polo und
Up ersetzen. Aber aus dem ur-
sprünglich angepeilten Preis von
20.000 Euro für den ID.2 sind
inzwischen 25.000 geworden.
Profitabel, so schätzen sie in
Wolfsburg, lassen sich Autos in
der Klasse künftig kaum noch
verkaufen. Es sei denn, und bei
BMW kalkulieren sie ähnlich für
ihre Kompaktmodelle, die Zell-
manager wie Schmall liefern so
billig und auch sicher wie erhofft.
Gespräch mit Xpeng
Die Autoindustrie wirkt gespal-
ten aktuell. Da ist das Elektrola-
ger, angeführt von den Marktfüh-
rern Tesla und CATL. Die
Chinesen werden an der Börse
aktuell mit rund 130 Milliarden
Euro bewertet; sie sind damit das
drittwertvollste Unternehmen in
der Autobranche.
Selbst Start-ups wie Northvolt
werden schon auf mehr als 10
Milliarden Euro taxiert, auch
Volkswagens PowerCo sieht die
Chance, 2023 externe Investoren
aufzunehmen.
Die deutschen Autohersteller
Lademeister
Nachgeladene dagegen werden – ähnlich wie
Reichweite nach ihre alten Rivalen in Europa oder
20 Minuten, den USA wie GM, Renault und
in Kilometer Ford – als die Fossilien der Ver-
Kia
brennerära mehr oder weniger
EV6 309 ignoriert an der Börse. Zügig ver-
lieren sie Anteile in einem elekt-
Mercedes romobilen Markt, der deutlich
EQS 450+ 275
schneller wächst als gedacht. Der
Kapitalmarkt straft sie für ihr
BMW
iX xDrive50 273
jahrelanges Zögern.
Kein Wunder, dass die Nervo-
Hyundai
sität der Vorstände steigt.
IONIQ5 272 Mercedes-Chef Ola Källenius
wollte offenbar kürzlich genauer
Porsche wissen, was die Konkurrenz an-
Taycan GTS 271
ders macht – und vielleicht bes-
ser. Er traf sich, der Vorstand soll
BMW
i4 edrive40 235 dabei gewesen sein, per Video
zum Gespräch mit den Spitzen
Tesla
Model 3
der Elektro-Start-ups Nio und
221
Xpeng aus China.
Polestar Besonders Xpeng, erst 2014
2 218 gegründet, gilt als Meister in Sa-
chen Software und Connectivity,
BMW
iX3 201
der Neuling wird in China mit
seinen drei Modellen in diesem
Tesla Jahr erstmals mehr als 100.000
Model Y 175
Fahrzeuge verkaufen.
Was genau besprochen wurde?
Quelle: Dazu möchte sich Mercedes nicht
P3 Charging Index
Grafik: manager magazin äußern.
Nur so viel drang nach außen:
Das Källenius-Team habe an-
schließend frustriert gewirkt.
1 Margret Hucko/Michael Freitag
manager magazin
Unter Nachhaltigkeit verstehen wir,
heute die Leistungsfähigkeit von
morgen zu sichern.
Nachhaltigkeit braucht gezielte Anstöße, damit sie langfristig wirkt.
Wie bei einem Perpetuum mobile, das sich nach einem ersten Impuls
von außen immer wieder selbst antreibt. Dieses ist zwar fiktiv, dient uns
von der DZ BANK aber als Vorbild und Haltungsgrundlage. Wir denken
in Kreisläufen und unterstützen unsere Kunden dabei, nachhaltige
Veränderungen anzustoßen. Dabei haben wir immer die langfristigen
Auswirkungen unseres Handelns im Blick. So sichern wir gemeinsam die
Zukunft durch nachhaltige Leistungsfähigkeit. Erfahren Sie mehr über
unsere Haltung unter: dzbank.de/haltung
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT

D
er Durchbruch in der Cau­
sa Uniper kommt an einem
Wochenende. Am Freitag,
dem 16. September, ver­
ständigen sich die Unter­
händler der Regierung in
kleiner Runde: die Staats­
sekretäre Udo Philipp (58;
Wirtschaft), Werner Gatzer (64; Fi­
nanzen) und Jörg Kukies (54; Kanzler­
amt), assistiert vom Finanzberater
Marcus Schenck (57; Lazard). Klar ist:
Man will dem finnischen Mehrheits­
aktionär Fortum auf keinen Fall zu viel
für dessen Aktien bezahlen. Anderer­
seits: Die Firma kontrolliert der Staat,
und Finnland ist ein befreundetes
Land, auf dem Weg in die Nato.
Also ergibt sich nach kurzer Debat­
te: Der Bund steigt mit acht Milliarden
Euro voll ein beim taumelnden Gasim­
porteur, und zwar billig, zum Nennwert
von 1,70 Euro je Aktie. Als Zugeständ­
nis an die Finnen löst er zudem die Kre­
dite ab, die Fortum an Uniper gegeben
hatte – weitere acht Milliarden Euro.
Die Fortum-Delegation – Vorstands­
chef Markus Rauramo (54), der deut­

Gekommen,
sche CFO Bernhard Günther (55) – ist
einverstanden. Auch Europaministerin
Tytti Tuppurainen (46), die für die
finnische Regierung die Gespräche
wachsam begleitet, nickt den Deal ab.
So voluminös die Transaktion be­

um zu
reits an diesem Septemberwochenende
gerät – die wohl größte Firmenret­
tungsaktion der Bundesrepublik nimmt
im Grunde erst ihren Anfang. Denn
weil Uniper nach Putins Lieferstopp
teures Gas am Spotmarkt einkaufen

bleiben
muss, um seine Lieferverpflichtungen
gegenüber mehr als 100 Stadtwerken
und Industriebetrieben zu erfüllen,
rinnen dem Management die Millionen
weiterhin nur so durch die Finger. Der
Staat springt deshalb nicht nur mit
Eigenkapital ein, sondern auch mit

Der Staat investiert zig Milliarden

massenhaften Liquiditätshilfen: zu­
Foto: Friedemann Vogel / EPA-EFE

nächst 18 Milliarden, viele zusätzliche

in die kriselnde Energiewirtschaft.

sind bis Jahresende zu erwarten – die
Metapher Fass ohne Boden ist in

Doch als Eigentümer versagt

­diesem Fall stark untertrieben. Noch
vor Weihnachten soll auf einer außer­

er oft und verpasst den rechten

ordentlichen Hauptversammlung alles
gasdicht beschlossen werden.

Moment, wieder auszusteigen.

Der malade Gaseinkäufer ist nur der
krasseste Kasus einer breiten Staats­ 2

66  DEZEMBER 2022

 Schwerer Stand:
Uniper-Chef
Klaus-Dieter
Maubach verkündet
am 21. September
den Staatseinstieg
beim taumelnden
Gasimporteur
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  ENERGIEWIRTSCHAFT
offensive, nun, wo hohe Gas- und
Strompreise viele Unternehmen
existenziell treffen. Dem Erfin-
dungsreichtum der Ministerial-
beamten scheinen keine Grenzen
gesetzt. Bei Uniper beteiligt sich
der Staat direkt, beim Gasimpor-
teur Sefe (ehedem Gazprom) und
bei der Russen-Raffinerie in
Schwedt übernimmt er die Rolle
eines Treuhänders. Er pumpt Fir-
men mit Liquidität voll, subven-
tioniert Flüssiggasanlagen und
Wasserstofftechnologien, bei
Krisengewinnlern wie RWE will
er Gewinne abschöpfen, längst
Standard sind Renditebremsen
der Bundesnetzagentur, unter
denen etwa Eon leidet.
Das Scholz-Mantra „You’ll ne-
ver walk alone“ klingt für die An-
hänger privaten Unternehmer-
tums fast wie eine Drohung: Hat
man den Staat erst einmal an
seiner Seite, wird man ihn so
schnell nicht wieder los. Für den
Standort D ergibt das eine trüge-
rische Stabilität. Justus Haucap
(53), Wettbewerbsökonom aus
Düsseldorf und früherer Chef der
Monopolkommission, diagnosti-
ziert schon länger eine zu große
Staatshörigkeit: „Viele glauben,
wenn der Staat sich engagiert,
sitzen dort Leute, die den lieben
langen Tag nur an das Wohl des
Steuerzahlers denken, eine irrige,
romantische Vorstellung.“
Überfällig, mal etwas genauer
hinzuschauen: Wann ist der Ein-
stieg des Staates sinnvoll? Wie –
falls unumgänglich – soll er die
Sache im Detail regeln? Und:
Wann ist der geeignete Zeit-
punkt, wieder zu gehen?
Von Exit ist bei Uniper noch
lange nicht die Rede. Vormann
Klaus-Dieter Maubach (60)
muss erst einmal eine Art Will-
kommenskultur für den Staat
schaffen. „Welcome the new ow-
Foto: Andreas Pein / laif
ner“ ist wesentlicher Teil seiner
Agenda, „eine vertrauensvolle
Arbeitsbeziehung“ das Nahziel.
Als Handballer bei Rote Erde
Schwelm war er einst im Rück-
raum aktiv, dort, wo offensiver
68  DEZEMBER 2022
Staatstragend:
Tytti Tuppurai-
nen verhandelte
im Auftrag
der finnischen
Regierung, das
Fehlinvestment
Uniper war indes
nicht weg­
zudiskutieren
Druck entsteht und Überblick ge-
fragt ist. So ähnlich hatte er sich
Zahlen,
auch sein Wirken bei Uniper ge-
bitte!
Wie viel Geld dacht. Wurde nichts draus. Seit
der Staat wo Putins Lieferstopp steht die De-
reingesteckt hat, fensive im Vordergrund. Sprich:
in Mrd.Euro das Abwehren von Drama und
Desaster.
Uniper1 30,0
Uniper: zurück zur alten Ruhrgas?
Lufthansa 6,0
Erschöpft sieht er bisweilen aus:
tiefe Ringe unter den Augen, die
Tui 4,3
Mundwinkel hängen, sein Lä-
Steag
cheln wirkt gequält. Nach mehr
1,3
als drei Jahrzehnten Energiewirt-
Galeria Karstadt
schaft wollte der Ex-Eon-Mana-
Kaufhof 0,7 ger eigentlich keinen Vollzeitjob
mehr, vielmehr seine Karriere
Hensoldt 0,5 ausklingen lassen, als Start-up-
Helfer, als Mandatsträger.
Curevac 0,3 Dann überredete ihn Fortum,
wo er im Verwaltungsrat saß, bei
1 | Bis Ende September. Uniper aufzuräumen, erst als
Quelle: Refinitiv
Grafik: manager magazin Aufsichtsrats-, dann als Vor-
standschef. Das ließ sich anfangs
gut an, bis die Russen in die Uk-
raine einmarschierten. Jetzt
bleibt er wohl noch ein, zwei Jah-
re, um an den Staat zu übergeben,
Brücken zu bauen (das kann er
gut) und ein neues Geschäftsmo-
dell jenseits des Pipelinegases zu
entwerfen. Danach soll dann
Schluss sein. Zu dominant ist
auch die Symbolik: New Uniper
startet besser mit „new kids on
the block“, so sind halt die Lauf-
bahngesetze in der Chefetage.
Eine Staatsbeteiligung hat im-
mer auch den Kollateraleffekt,
Führungsversagen zu kaschie-
ren. Und davon gab es reichlich
bei Uniper, seit die Finnen im
März 2020 die Mehrheit über-
nahmen. Über Jahre stritt das
Management mit dem ungelieb-
ten Großaktionär. Sechs Vor-
standsmitglieder, darunter zwei
CEOs, gingen, Aufseher warfen
hin. Bis zum Schluss hielt sich der
Antagonismus: Fortum wollte
dem deutschen Staat die krisen-
hafte Gassparte überlassen und
sich mit dem profitablen Rest
(unter anderem Atom- und Was-
serkraftwerke in Schweden) da-
vonmachen. Das einst enge Ver-
hältnis zwischen Fortum-CEO
Rauramo und Maubach ist längst
auch keines mehr. Rauramos
Schlussbilanz geriet zum Fiasko:
Rund sieben Milliarden Euro ha-
ben die Finnen bei Uniper ver-
senkt, ein größeres Fehlinvest-
ment ist im Sumpf- und Seenland
selten aktenkundig geworden.
Fatal: Uniper könnte das
Schicksal drohen, das es sein
Lebtag vermeiden wollte – die
Aufspaltung. Intern werden be-
reits mehrere Szenarien disku-
tiert, die alle auf einen Teilver-
kauf hinauslaufen. Die russische
Kraftwerkstochter Unipro will
das Unternehmen selbst loswer-
den. Dass die Ampelregierung
AKW-Anteile in Schweden be-
hält, ist schwer vorstellbar. For-
tum hat ein Vorkaufsrecht für
alle skandinavischen Assets. Die
Kohlemeiler sind irgendwann
komplett vom Netz, die bayeri-
schen Wasserkraftwerke würde
der Freistaat gern übernehmen.
Am Ende bliebe eine Gasein-
kaufsgesellschaft übrig: mit Pipe-
lines, Speichern, Kraftwerken
und einem wachsenden LNG-Ge-
schäft – nicht viel mehr als die
alte Ruhrgas, der Urahn von Uni-
per. „Der Rest könnte zuguns- 2
manager magazin
FORD PRO ™

SOFTWARE
Behält für Sie
den Fuhrpark im Blick.
Ford Pro steigert Ihre Produktivität und verringert die Ausfallzeiten
Ihrer Fahrzeuge. Ein wichtiger Baustein dabei sind Softwarelösungen
wie Ford Telematics1, Ford Telematics Essentials2 und FordPass Pro3.
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bereit und helfen, alles im Blick zu behalten. So können Sie neben
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Ihrer Flotte steigern. Gute Gründe, sich für Ford Pro zu entscheiden.

1
Ford Telematics ist mit den meisten Fahrzeugen anderer Hersteller kompatibel, die Produkteigenschaften können jedoch variieren. 2 Ford Telematics Essentials ist nur für
Ford Fahrzeuge mit einem aktivierten FordPass Connect Modem verfügbar. Exklusiv für Geschäftskunden. Es gelten die FFM- und FCS-Geschäftsbedingungen. Anzeigen
können abweichen. 3 Die FordPass Pro App kann über ein kompatibles Mobiltelefon heruntergeladen werden (ggf. können Verbindungskosten beim jeweiligen Mobilfunk-
anbieter anfallen).
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  ENERGIEWIRTSCHAFT
ten des Steuerzahlers bestmög-
lich vermarktet werden“, glaubt
ein Unternehmensberater, der
Uniper bestens kennt.
Aber bis der Staat sich verab-
schiedet, das wird Jahre dauern.
In den ersten neun Monaten 2022
hat Uniper 40 Milliarden Euro
Miese angehäuft – deutscher Re-
kord. Die teuren Kundenverträge
werden das Ergebnis noch bis ins
Jahr 2024 belasten, für die Zeit
danach hat das Management den
Investoren noch im September
eine Rückkehr zur Profitabilität
versprochen, jetzt traut man sich
keine Prognose mehr zu.
Die Hilfen für die Energie-
branche sind schon die dritte gro-
ße Staatswelle, nach der Finanz-
krise 2009 und Corona. Der Track
Record der Staatskapitalisten?
Wenige Erfolge, viele Fehlschlä-
ge, auf jeden Fall: richtig teuer.
Sündenfall Tui
Selten kommt der Staat so fein
heraus wie bei der Lufthansa. Im
Juni 2020, mitten in der Corona-
Krise, sprang der bundeseigene
Wirtschaftsstabilisierungsfonds
(WSF) der Airline bei, mit insge-
samt sechs Milliarden Euro; er
übernahm 20 Prozent der Antei-
le. Jörg Kukies, damals Finanz-
staatssekretär, drückte Lufthan-
sa-Chef Carsten Spohr (55)
markige Konditionen auf, etwa
eine Zinsstaffel für Kredite (von
4 bis 9,5 Prozent). Spohr und des-
sen Aufsichtsratschef Karl-Lud-
wig Kley (71) rangen hart mit
sich, ob sie die Bedingungen an-
Fotos: Alex Habermehl, Marcus Simaitis / Die Zeit / laif
nehmen können, stimmten
schließlich zu und drängten post-
wendend durch Teilrückzahlun-
gen den Einfluss des Staates wie-
der zurück. Mitte September
verkaufte der WSF seine letzten
Aktien, unter anderem an den
neuen Großaktionär, den Logis-
tikunternehmer Klaus-Michael
Kühne (85). Kursgewinn des
WSF: 760 Millionen Euro.
Völlig anders liegt der Fall beim
Reisekonzern Tui. Der war bei den
Allerersten, die in der Corona-Zeit
70  DEZEMBER 2022
gerettet wurden, Insider spre-
chen von einer „Nacht- und Ne-
belaktion“. Die Deutsche Bank,
Hauptgeldverleiher der Tui, hatte
hektisch Alarm geschlagen. Chef
Friedrich Joussen (59) hatte
kaum Reserven; der Staat wurde
überrumpelt. Für eine Diskus-
sion, ob ein Einstieg bei einem
Tourismusbetrieb mit wackligem
Geschäftsmodell ein kluger Move
sei, blieb keine Zeit. Das Ergeb-
nis: Finanzspritzen von 4,3 Mil-
Spendabel: liarden Euro, durch stille Einla-
Stefan Wintels, gen und Kredite. Einen Teil hat
Chef der das hoch verschuldete Unterneh-
Kreditanstalt für
men bislang rücküberwiesen, der
Wiederaufbau
(KfW), ist stets große Batzen steht noch aus. Ein
zu Diensten, eleganter Exit des Staates?
wenn der Staat Schwer vorstellbar, zumal der
Geld für neue CEO Sebastian Ebel (59)
Beteiligungen bei drohender Reiseunlust und
braucht Rezession jeden Euro braucht.
Wie schwer sich der Staat als
Eigentümer tut, zeigt auch das
Beispiel Landesbanken während
der Finanzkrise. Bei der HSH
Nordbank etwa verdaddelten die
Länder Schleswig-Holstein und
Hamburg rund 13 Milliarden
Euro Steuergeld, Wegblicken
statt Weitblick. Der HSH-Rest
(heute: Hamburg Commercial
Behördenwucht: Klaus Müller,
Chef der Bundesnetzagentur,
reguliert nicht nur im Staatsauftrag,
er übernimmt auch die Rolle des
Treuhänders bei kriselnden
Energiekonzernen russischer Bauart
Bank) wurde mutmaßlich deut-
lich unter Wert an den Finanz-
investor Cerberus verkauft.
Bei der Commerzbank – dort
hält der Bund noch 15,6 Prozent
– dauert die Malaise bis heute an.
Vorstände wurden ausgetauscht,
Aufseher gingen frustriert. Die
Ursünde war nicht zu heilen: Der
Bund hatte 2009 den Marktwert
der Aktien bezahlt. Um plus/mi-
nus null herauszukommen, müss-
te der Kurs auf 26 Euro (derzeit 8
Euro) steigen. Finanzminister
Christian Lindner (43), der als
Freidemokrat der Privatwirtschaft
notorisch anhängt, gibt sich kei-
nerlei Illusionen hin: An Ausstieg,
ließ er im September wissen, sei
vorerst nicht zu denken.
Eher setzt sich die Reihe per-
sönlicher Exits fort. Der Nächste
könnte der Aufsichtsratsvorsit-
zende Helmut Gottschalk (71)
sein. Es gibt jede Menge Kritik an
seiner Leistung, aus der Com-
merzbank und von Investoren.
Die Regierung beleuchtet daher
sein bisheriges Wirken mit dem
großen Suchscheinwerfer. Der
Vertrag des Seniors, ohnehin kein
Managerkracher, läuft im Mai
2023 aus. Derzeit ist noch unklar,
ob der Bund bis dahin Ersatz fin-
det oder ihm noch eine zweite,
möglicherweise verkürzte Amts-
zeit gewährt. Ein potenzieller
Nachfolger wäre jedenfalls schon
der vierte Chefaufseher in fünf
Jahren – es ist ein bisschen wie
bei Schalke 04.
Was kann man daraus lernen?
Was muss passieren, damit ein
Exit sexy wird? Es gibt ein paar
Grundregeln: von einem Einstieg
zu niedrigen Kursen bis zu einem
verbindlichen Ausstiegsplan (sie-
he Kasten Seite 74). Denn: „Das
Retten todkranker Firmen geht
immer zulasten der Gesunden“,
weiß Wirtschaftsforscher Hau-
cap. So sieht es auch Rewe-Chef
und Tui-Konkurrent Lionel Sou-
que (51): „Wenn Wettbewerb fair
sein soll, darf der Staat nicht so
stark eingreifen“, sagte er im
mm-Interview (10/2022). 2
manager magazin
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 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  ENERGIEWIRTSCHAFT
Staatskapital:
Wirtschaftsminister
Robert Habeck (2. v. l.)
und Ministerpräsident
Winfried Kretsch­
mann (r.) bei der
Stromnetzfirma
TransnetBW
Indes: Die zu erwartende öko-
nomische Tristesse lässt das Hel-
fersyndrom grassieren. „In der
Rezession ist mit weiteren Sün-
denfällen zu rechnen“, sagt Hau-
cap voraus. Nur mit Mühe gelang
es, den 680 Millionen Euro, die
der marode Warenhauskonzern
Galeria Karstadt Kaufhof bereits
kassiert hatte, nicht noch weitere
300 Millionen hinterherzuwer-
fen. Chef Miguel Müllenbach
(46) hatte mit der Bundesregie-
rung über diese Finanzhilfen ver-
handelt, die ließ wissen: Erst
müsste sich der Eigentümer René
Benko (45), der einen Milliarden-
gewinn in seinen Signa-Immobi-
lien lagert, angemessen engagie-
ren. Am Ende blieb wieder einmal
nur der Gang zum Insolvenzge-
richt und eine Sanierung unter
einem Schutzschirm – die Staats-
knete ist wohl perdu.
Der Essener Konzern Thyssen­
krupp hingegen darf auf einen
dreistelligen Millionenbetrag der
NRW-Landesregierung hoffen,
für den sauteuren Umstieg auf
grünen Stahl. Eigentümer, be­
eilte sich die neue grüne Wirt-
schaftsministerin Mona Neu-
Foto: Uli Deck / EnBW
baur (45) zu versichern, wolle
man nicht werden. Das hatte die
IG Metall verlangt. Die Brüder
und Schwestern von der IG Bau
sind auch auf dem Staatstrip. Mit
einer Sperrminorität, so ihr Plä-
72  DEZEMBER 2022
doyer, könne der Bund beim
Wohnungsriesen Vonovia den
Neubau boostern und die Mieten
deckeln. Kosten, so die Über-
schlagsrechnung der Gewerk-
schafter: 5,25 Milliarden Euro.
Multi-Wumms KfW
Derlei Absurditäten haben auch
deshalb Konjunktur, weil: Gelder
sind vorhanden, gern in Neben-
haushalten, fernab von Schulden-
bremse und direkter parlamenta-
rischer Kontrolle. So sind wir
beim Kürzel Kf W angelangt,
einer Staatsbank (80 Prozent
Bund, 20 Prozent Länder), die
mit vollem Namen immer noch
Kreditanstalt für Wiederaufbau
heißt, der bekanntlich Geschich-
te ist. Das Institut ist der Multi-
Wumms der Regierung, springt
immer dann ein, wenn anderswo
nichts zu holen ist.
Corona und jetzt die diversen
Energiehilfen haben das Förder-
volumen rasant ansteigen lassen.
Gemessen an der Bilanzsumme
(586 Milliarden Euro) ist sie mitt-
lerweile die drittgrößte deutsche
Bank, noch vor der Commerz-
bank. Weil sie auch am Kapital-
markt Mittel aufnimmt, zu güns-
tigen Staatskonditionen, sehen
Finanzinvestoren das ekstatische
Treiben immer kritischer. „Die
Grenze ist längst erreicht“, ärgert
sich ein Investmentbanker.
Die KfW ist selbst da, wo man
sie kaum vermutet. Mal sichert
sie ein Müllheizkraftwerk in
Wiesbaden, mal gibt sie Geld für
ein Flüssiggasterminal in Bruns-
büttel, mal hängt sie sich bei
einer anstehenden Privatisierung
mit rein. So will der Energiekon-
zern EnBW (im Besitz der öffent-
lichen Hand) 49,9 Prozent der
Firma TransnetBW verkaufen,
die das Hochspannungsnetz in
Baden-Württemberg betreibt.
Etwas mehr als eine Milliarde
Euro käme in die Kasse.
Private Konsortien sind mäch-
tig interessiert, aber die Kf W
auch. Sie hat ein Vorkaufsrecht.
Wer immer den Zuschlag be-
kommt, muss ihr eine Hälfte ab-
geben. Dahinter steckt Methode:
Förderturm
KfW-Mittel1, Die Bank will sich an möglichst
in Mrd. Euro allen großen Netzbetreibern be-
teiligen, um kritische Energie­
Energiehilfe
Corona-Hilfe infrastruktur abzusichern; dem-
Sonstige nächst soll es Gespräche über die
Förderung
Firma Tennet geben, die dem
106 niederländischen Staat gehört.
Zum Politikum ist die Bank
auch bei der zum Verkauf stehen-
den Essener Steag geworden,
87 dem derzeit wohl heißesten Exit-
83 Scheiß in der Energiewirtschaft
(mit anfangs 25 Interessenten).
Der Fall ist zudem ein abschre-
ckendes Beispiel für den schäd-
lichen Einf luss kommunaler
Herrschaft.
Aber der Reihe nach. An der
Unternehmensspitze steht seit
knapp einem Jahr Andreas Rei-
46 chel (61). Der Mann hat schon
43
viel durchgemacht im Laufe sei-
ner Karriere: bei Ruhrkohle und
Ruhrgas, bei Eon – und als FDP-
Funktionär. Ein smarter Netz-
werkjunkie mit eigener Website,
Phänotyp: ergrauter Lindner. Die
Steag-Episode bereichert seinen
großen Erfahrungsschatz um
noch folgende Kapitel: Bizarres
und Schrullen.
Der von ihm geführte Stein-
18 19 20 21 1. kohleverstromer gehört seit 2014
Hj.
22 sechs Ruhrgebietsstädten. Die
1 | Nur Inland. hatten Großmannspläne, wollten
Quelle: KfW
Grafik: manager magazin sich ein öffentlich-rechtliches 2
manager magazin
 Perfekt für Ihren
persönlichen Geschmack.
Der Miele Kaffeevollautomat CM7

Die Suche nach der richtigen Bohnenmischung, dem perfekten Röst-

punkt, der idealen Temperatur und dem cremigsten Milchschaum –
Kaffee ist Emotion. Miele Kaffeevollautomaten werden mit meisterhafter
Präzision gefertigt, damit Sie jede Tasse mit allen Sinnen genießen
können. Ganz nach Ihrem persönlichen Geschmack.

Edel. Matt. Schwarz.

Der CM7 ist das Flaggschiff der Miele Kaffeevollautomaten und für Genießer gemacht: Die Front des Premium-Modells CM 7750 ist aus schwarz
galvanisiertem Aluminium. Eine unwiderstehlich schöne
Die intuitive Touch-Bedienung, das puristische Design und die hohe Materialqualität Oberfläche, die charaktervoll anders ist – und durch abso-
machen den CM7 zu einem Schmuckstück in Küche und Büro. lute Hochwertigkeit besticht.

Das wahre Geschmackserlebnis Für perfekt seidigen, cremigen

Mit dem innovativen Kegelmahlwerk erleben Sie Kaffeegenuss Milchschaum im Handumdrehen
neu: Die besondere Aromaschonung gelingt durch die Konst- sorgt der Cappuccinatore. Den
ruktion aus hochwertigem, abriebfestem Stahl. Das besonders Füllstand haben Sie dank des
leise Mahlwerk befindet Milchbehälters aus Glas immer im
sich direkt oberhalb der Blick. Erwarten Sie Besuch von
Brüheinheit – deshalb Freunden oder der Familie, berei-
verbleibt kein Kaffeemehl tet der CM7 mit der Kannenfunk-
aus einer vorherigen tion bis zu 8 Tassen auf einmal zu.
Nutzung des Kaf feevoll-
automaten im Mahlwerk.
Ein perfekt aufeinander
abgestimmtes System.
So können Sie jederzeit
direkt einen Kaffee aus
frisch gemahlenen Boh-
nen genießen.

Für noch mehr Komfort,

Flexibilität und individuel-
len Genuss sorgt die
Funktion CoffeeSelect, mit drei separaten Bohnenbehältern –
etwa für Espressobohnen, für samtigen Café Crema und eine
entkoffeinierte Sorte. Speichern Sie die zu jeder Kaffeespezi-
alität gewünschte Bohne komfortabel ab oder wählen Sie ganz
nach ihrem Geschmack manuell die passende Sorte aus.
Ob
Obein
einhohes
hohesGlas
Glasoder
odereine
einetiefe
tiefeTas-
Tas-
se:
se:der
derCupSensor
CupSensorerkennt
erkenntdie
diejeweilige
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Gerätehygiene leicht gemacht Höhe
Höhe undund passt
passt den
den Zentralauslauf
Zentralauslauf
automatisch
automatischan.an.Das
Dassanfte
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Der Miele CM7 reinigt die milchführenden Leitungen automa- setzt
setztjede
jedeTasse
TasseininSzene
Szeneund
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Stimmung.
Geräte entkalken selbstständig dank der AutoDescale-Funktion*.
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 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  ENERGIEWIRTSCHAFT
Wie der Exit sexy
wird
Sechs Ratschläge für
Staatseigentümer.
Der Einstieg Zu möglichst niedrigen
Kursen kaufen, am besten zum
Nennwert der Aktien. Sonst wird es
schwer, am Ausstieg zu verdienen
oder zumindest plus/minus null
­herauszukommen.
Der Aufsichtsrat Es ist verlockend für
Staatsdiener, Unternehmer zu spie­
len. Doch externe Fachleute sind als
Kontrolleure und Kontrolleurinnen
meist besser geeignet.
Die Alteigentümer Vorsicht vor Kol­
lateralnutzen! Die privaten Eigner
müssen im Krisenfall auch ihren
­Beitrag leisten. Alles andere ist dem
Steuerzahler schwer zu vermitteln.
Die Führung Öffentliche Aktionäre
sollten mit einer Stimme sprechen,
was besonders schwierig ist, wenn
mehrere Bundesländer, Landkreise
oder Kommunen beteiligt sind, mit
jeweils eigenen Interessen und Be­
findlichkeiten.
Der Ausstieg Es muss frühzeitig
einen klaren Exitplan geben. Sonst
greift ein Haltereflex: Jeder Ausstieg
ist der falsche Zeitpunkt. Entweder
läuft das Unternehmen, dann möch­
te man das Tafelsilber nicht ver­
kaufen und streicht lieber die Divi­
denden ein. Oder der Kurs ist im
Keller, dann will man nicht mit Ver­
lust rausgehen.
Foto: Jakob Studnar / FUNKE Foto Services
Das Ausufern Man muss nicht jeden
öffentlichen Kredit mit Anteilen ab­
sichern. Staatsbeteiligungen sollten
auf wenige Sonderfälle beschränkt
bleiben. Beim Wiesbadener Biotech­
laden Curevac etwa hat der Staat
nichts zu suchen. Es gibt genügend
solvente Privataktionäre wie SAP-
Milliardär Dietmar Hopp (82).
74  DEZEMBER 2022
RWE bauen. Das Ansinnen scheiterte
krachend. Wie so oft, wenn ein staat­
ins Boot holen. Denn die ist, was der
Öffentlichkeit weitgehend verborgen
licher Mehrheitseigner Unternehmer
spielt.
blieb, durch ein stetes Aufstocken von
Darlehen mittlerweile der größte Gläu­
biger (1,3 Milliarden Euro Kreditvolu­
Zoff und Zank an der Ruhr men); die Altbanken kommen nur noch
Um private Interessenten auszu­ auf rund 600 Millionen. Deshalb, so die
stechen, hatten die Kommunen einen Idee, solle die KfW die Sanierung be­
satten Kaufpreis (1,2 Milliarden Euro) gleiten; Steag würde die Altkredite
gezahlt, den sie in Heuschreckenma­ durch Umschulden ablösen – die nervi­
nier überwiegend fremdfinanzierten. ge Bankenherrschaft wäre beendet. Die
Für Zinsen und Tilgung sollten jähr­ Regierung, heißt es aus Berlin, habe die
liche Garantiedividenden sorgen. Chose durchaus wohlwollend betrach­
­Flexibles Investieren? Unmöglich. Zu­ tet. Nur: Gegenwärtig gebe es halt
dem – typisch Ruhrgebiet – verfolgte Wichtigeres zu tun (Uniper, Doppel-
jeder Anteilseigner eigene Interessen. Wumms und all die Preisbremsen).
Unternehmerisch notwendige Ent­ Nach einer Aufsichtsratssitzung Ende
scheidungen zogen sich wie Emscher­ Oktober kehrte etwas Ruhe ein an der
brühe. Die Firma geriet an den Rand Ruhr. „Mal sehen, wie lang die hält“,
der Pleite, die Kommunen wollten so sagt ein Steag-Verantwortlicher. „Mög­
schnell wie möglich ihre Anteile los­ lichst konsensual“ solle der Verkaufs­
werden. Nur: Wer kauft eine prozess gestaltet werden. Bis
solch abgewirtschaftete Firma? zum Frühjahr sollen erste Ge­
Die Gläubigerbanken über­ bote in Essen eingehen. Den
nahmen die Regie und setzten kommunalen Eignern läuft
einen Chief Transformation langsam die Zeit weg. Ihre
Officer in den Vorstand. Der, Stadtwerke haben in der Ener­
mit Alleinvertretungsrecht Revierkrampf: giepreishausse arge Liquidi­
ausgestattet, sollte sich um Die Kommunen tätssorgen. Vorsorglich haben
den Verkauf kümmern. versagten als ihre Lobbyisten in Berlin
Dann, man muss auch mal Steag-Besitzer. schon mal Finanzhilfen ange­
Glück haben, wurde Steag Chef Andreas meldet. Die kommen nun erst
Reichel
gleich doppelt von der politi­ muss jetzt mal aus NRW: Landesvater
schen Sonne beschienen: ihren Ausstieg Hendrik Wüst (47) spendiert
Steinkohlekraftwerke waren wuppen. über die landeseigene NRW-
plötzlich hip, die Profite ver­ Bank fünf Milliarden Euro.
dreifachten sich. Und: Von der staatlich Handwerkliche Fehler, Possen und
verordneten Gewinnabgabe sind die Exzesse: Ist ein Ende der Staatsherr­
Meiler ausgenommen. Wann, wenn schaft bei Strom und Gas in Sicht?
nicht jetzt, wäre ein Exit in Eintracht Tatsächlich geht es um den Ausbau
und Harmonie möglich? des Regimes. Bundestagspräsidentin
Doch der Zwist setzte sich fort. Ein­ Bärbel Bas (54; SPD) will die Grund­
zelne geldgeile Kommunalvertreter versorgung mit Energie und Wasser
äußerten irrige Preisvorstellungen (von komplett in staatliche Hände geben.
deutlich mehr als drei Milliarden Euro), Andere plädieren für eine nationale
eine investorenfreundliche Aufspal­ Gasgesellschaft (die künftig für alle
tung sorgte für Ärger; der Aufsichts­ Gas einkauft). Eine öffentliche Netz­
ratschef trat zurück; die Banken woll­ einheit ist im Gespräch (in der die KfW
ten mitbestimmen, an wen verkauft alle Assets einbringt). Und im Bundes­
werden darf; Manager zofften sich; zig wirtschaftsministerium gibt es Über­
Berater und zankerfahrene Anwälte – legungen, eine Infrastrukturgesell­
wie Franz Enderle (62; Bub Memmin­ schaft für Wasserstoff zu formen (mit
ger & Partner) – wurden mandatiert. Pipelines, LNG-Terminals).
Auch Michael Vassiliadis (58), ein­ Gründungsschwung und Neue­
flussreicher Gewerkschaftschef (IG rungen, wohin man blickt. Wäre der
BCE) und Steag-Aufseher, hatte sich Standort D auch in anderen Fällen so
längst eingeschaltet. Er wollte die KfW innovativ. 1 Dietmar Student
manager magazin
   UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT

MENSCHENSKINDER
Janina Kugel ist Multiaufsichtsrätin und Senior Advisor.
Sie interessiert sich für Leadership, Bildung und
vor allem Menschen. Sie war Vorständin bei Siemens.

F Und „Action“!
alls Sie meine Ko-
lumne regelmäßig
lesen, ist Ihnen viel-
leicht aufgefallen,
dass nach dem E
und G das verspro-
chene S („Social“) in ESG
(Environmental, Social, Go-
vernance) noch fehlt. Jetzt
kann ich die Lücke füllen,
denn ich habe aus New York
frische Gedanken dazu mit-
gebracht. Ich war dort eine
Woche im September – rund
um die UN-Generalver-
sammlung, die Klimawoche
und die Konferenz der
Gates-Stiftung habe ich viele
Veranstaltungen besucht,
die sich im weitesten Sinne
mit ESG befassten. Ich habe
in diesen Tagen viel gelernt.
Ich war begeistert und be-
schämt. Und manchmal la-
gen dazwischen nur ein paar
Minuten.
Meine wichtigste Er-
kenntnis: Wie langsam wir
sind!
Schauen wir kurz zurück.
Im Jahr 2015 haben sich 196
Länder auf die Erfüllung von
17 UN-Nachhaltigkeitszielen
verpflichtet. Zeitrahmen für
das Projekt: 2030 – ergo 15
Jahre.
Klar, Corona, die geopoli-
tischen Spannungen, die
Auswirkungen des Ukraine-
Kriegs vor allem auf Europa
haben uns in der Zwischen-
zeit gut beschäftigt. Doch
weder die Pandemie noch
der Krieg können wirklich als
Entschuldigung dafür her-
halten, dass zur Halbzeit
kein einziges der 17 Ziele auf
einem guten Weg ist. Die
junge ugandische Aktivistin
Mehr Frauen in die Vorstände, bessere
Bildungschancen, faire Löhne: Die Wirt-
schaft weiß, was zu tun ist. Janina Kugel
fragt sich, warum das so lange dauert?
„Dialogues don’t stop the
suffering, only real action
does.“
Leider muss ich ihr da
recht geben.
Ganz bewusst umfassen
die Vereinbarungen alle drei
Dimensionen von Nachhal-
tigkeit: Umwelt, Soziales,
Wirtschaft. Es geht neben
Klimaschutz auch um Zu-
gang zu Bildung und Ge-
sundheitsversorgung, um
das Erreichen von Ge-
schlechtergleichheit oder das
Recht auf menschenwürdige
Arbeit. Es geht darum, Ar-
mut und Hunger zu bekämp-
fen, um das Schicksal von
Hunderten Millionen Men-
schen weltweit. Eine Studie
des BCG Henderson Institu-
te hat mich zum Nachdenken
gebracht: Die Lebensum-
stände von zwei zufällig aus-
gewählten Personen auf
diesem Planeten wurden ver-
glichen. Das Ergebnis: 66
Prozent der ökonomischen
Unterschiede hängen nur an
„Selbst meine
Urenkelin soll also
noch dafür kämpfen
müssen, gleiche Rechte
zu haben? Das will ich
einem Faktor – nämlich dar-
an, wo die Personen geboren
wurden. Lebensqualität als
Zufallstreffer?
Auch bei Ziel Nummer
fünf, der Geschlechterge-
rechtigkeit, kommen wir nur
langsam voran. Der neueste
Bericht der AllBright Stif-
tung zum Stand des Frauen-
anteils in den deutschen Vor-
standsetagen bricht das auf
nüchterne Zahlen herunter:
Die Hälfte der in Frankfurt
notierten Unternehmen hat
noch immer keine einzige
Frau im Vorstand, fast alle
davon sind im SDax oder
MDax notiert. Die Organisa-
tion Equal Measures geht auf
Basis der neuesten Datenlage
davon aus, dass wir Ge-
schlechtergerechtigkeit auf
der Welt erst im Jahr 2108
erreichen werden. Ja, Sie ha-
ben richtig gelesen, das war
kein Tippfehler. Selbst meine
Urenkelin soll also noch da-
für kämpfen müssen, gleiche
Rechte zu haben?
Das will ich nicht akzep-
tieren.
Unternehmen können viel
direkter und vor allem
schneller als jede Regierung
positive Veränderungen an-
stoßen. Sie können definie-
ren, welchen Anteil sie an der
men setzen sich ambitionier-
te Ziele bei der Diversität
ihrer Belegschaft (es geht
nicht nur ums Geschlecht!),
für sie ist Equal Pay ein fes-
ter Bestandteil der Vergü-
tungsstrategie und nicht nur
Futter für die Marketing-
kampagne rund um den
Weltfrauentag. Und immer
mehr Unternehmer*innen
garantieren, dass die Be-
schäftigungsbedingungen
entlang ihrer gesamten Lie-
ferkette fair sind.
Damit aus den guten
Absichten Realität wird,
braucht es „Action“, wie Na-
kate richtig fordert. Das kla-
re Commitment des Topma-
nagements beschleunigt den
Wandel ebenso wie die Ver-
ankerung entsprechender
Ziele im Bonussystem der
Führungskräfte. Herausfor-
dernd bleibt auch die Mess-
barkeit und vor allem die
Vergleichbarkeit der einzel-
nen Kennzahlen zwischen
Unternehmen. Das haben vor
allem Investor*innen und
Proxy Advisors im Blick. Die
Entwicklung von aussage-
kräftigen KPIs (Key Perfor-
mance Indicators) ist keines-
wegs nobelpreisverdächtig,
doch etwas Aufwand muss
schon betrieben werden, um
zu verstehen, was nachhaltig
einen Unterschied macht
und was nur gut klingt.
Wir können nicht die gan-
ze Welt auf einmal retten,
aber jeder kann einen Beitrag
zu den 17 Zielen leisten. Viel-
leicht suchen auch Sie nach
Momenten, die sie beschleu-
nigen können: ob im E, im S
oder im G. Ich bin sicher, es
Foto: PR

Vanessa Nakate brachte es gesellschaftlichen Entwick- lohnt sich – für Sie und für
in New York auf den Punkt: nicht akzeptieren.“ lung haben wollen. Viele Fir- die Welt. 1

manager magazin DEZEMBER 2022 75

Mehr Schatten als
Licht: Siemens-
Energy-Chef
Christian Bruch
   UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT

F
ür Christian Bruch
(52) blitzt an diesem
Abend ganz kurz auf,
was alles möglich
wäre. Auf der umlau-
fenden Leinwand in
der Halle des Berliner
Siemens-Schaltwerks

Verpuffte
erfindet Werner von Siemens den
elektrischen Dynamo, werden
Telegrafenleitungen durch den
Atlantik gelegt, kreischen elekt-
rische Straßenbahnen durch die
Großstädte und versorgen Turbi-

Energie
nen die Welt mit Strom. Kanzler
Olaf Scholz (64; SPD) nickt
Bruch vom Nebentisch zu, und
Siemens-Chef Roland Busch
(57) grüßt ihn während seiner
Rede zur 175-Jahr-Feier – bevor
er zur digitalen Gegenwart und

Vorstandschef Christian Bruch

Zukunft von Siemens kommt.
Der Gruß von Busch beschert

gilt als guter Manager. Doch warum

Bruch, einem schlanken Mann
mit rasiertem Schädel und kurz

schreibt Siemens Energy,

geschorenem Vollbart, einen lau-
warmen Beifall der Festgäste;

Europas größter Energietechnik­

Bruch winkt ins Publikum – und
verschwindet für den Abend wie-

anbieter, dann nur Verluste, und das

der in der Versenkung.
Der Mann hat auch keinen

in Zeiten wachsenden Bedarfs?

Grund zu feiern. Denn bisher ist
sein Auftrag, aus der abgespal­

manager magazin besichtigt

tenen Energie- und Elektrotech-
niksparte den zukunftsträch­

einen Schadensfall, der sich ohne

tigen Konzern Siemens Energy
zu formen, weit weg von der

die Politik in Berlin und

­Erfüllung. Gegenwart und Zu-
kunft sind düster wie ein nebliger

Brüssel kaum reparieren lässt.

Novembermorgen.
Diverse Gewinnwarnungen,
hohe Verluste und zunehmender
Kapitalbedarf haben das Unter-
nehmen in einen Schadensfall
der deutschen Industrie verwan-
delt. Seit dem Börsengang im
September 2020 ist die Markt­
kapitalisierung auf rund neun
Foto: Daniel Hofer / DER SPIEGEL

Milliarden Euro verdampft, ein

Minus von 42 Prozent. Siemens
Energy ist mit seinen rund
90.000 Mitarbeitern und Mit-
arbeiterinnen weniger wert als
vergleichsweise unbekannte Dax-
Nachbarn wie der Chemikalien-
händler Brenntag oder der Labor-
ausstatter Qiagen, die jeweils 2

DEZEMBER 2022 77
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Siemens Energy
mit einem Bruchteil der Beschäf-
tigten und des Eigenkapitals aus-
kommen.
Bruch muss sich der Frage
stellen, ob man das Unternehmen
in der jetzigen Form überhaupt
braucht. Oder ob die Investoren
nicht besser bedient wären, wenn
der Konzern zerschlagen würde.
Auch wenn das, was Siemens
Energy anbietet, von Turbinen
für Gaskraftwerke über Um-
spannwerke und Hochspan-
nungsutensilien bis hin zu Wind-
kraftanlagen, in Zeiten der
Energiewende weltweit nie nöti-
ger war als heutzutage. Doch die
Einzelteile – sie wären derzeit
sehr viel mehr wert als das große
Ganze. Und das von Bruch aus-
gerufene Ziel, die weltweit wert-
vollste Firma für Energietechnik
zu werden, klingt wie ein ferner
Traum. Bisher ist aller Einsatz
verpuffte Energie.
Schon die Geburt von Siemens
Energy war schmerzensreich.
Der damalige Siemens-Chef Joe
Kaeser (65) wollte mehr Wert
schaffen für die Aktionäre und
verwandelte das Konglomerat
Siemens erfolgreich in einen
­d igital ausgerichteten Konzern
für Industrieautomatisierung
und Mobilität. Doch während die
Abspaltung der Medizintechnik-
sparte Siemens Healthineers zur
allgemeinen Zufriedenheit funk-
tionierte, verkrachte sich Kaeser
mit dem designierten Vorstands-
team von Siemens Energy, CEO
Michael Sen (54), heute Chef bei
Fresenius, und dem CFO Klaus
Patzak (57).
Das Energy-Duo war unzu-
frieden mit den Alimenten, die
Siemens dem neuen Energie­
Foto: Gene Glover für manager magazin
konzern mitgab, und sah eher
die Risiken als die Chancen.
Und als Kaeser von Sen kurz vor
Weihnachten 2019 verlangte,
doch bitte mehr Optimismus
walten zu lassen, war der un­
willig – und ihre Wege trennten
sich. Auch Finanzchef Patzak
entschied sich zu gehen, obwohl
Kaeser ihn gern halten wollte.
78  DEZEMBER 2022
Weder Kaeser noch Sen wollten
sich zu dem Thema äußern.
Für Christian Bruch war die
Demission Sens ein Glück. Als
Chef der Anlagensparte von Lin-
de hatte er gute Arbeit geleistet,
aber keine Chance, zum Vor-
standsvorsitzenden des inzwi-
schen amerikanisierten deut-
schen Traditionskonzerns
aufzusteigen. Schnell waren sich
Bruch und Kaeser, der heute sein
Aufsichtsratschef ist, einig. Kae-
ser freute sich, dass er mit dem
promovierten Ingenieur Bruch
einen auch technisch versierten,
zudem zupackenden Mann an
die Spitze stellen konnte. Und
für Bruch ergab sich die Chance
seines Lebens.
Tatsächlich passt Bruch zum
Geschäft, er wirkt wie ein Ener-
giebündel unter Gleichstrom. Er
hat den Vorstand erweitert und
will den Windturbinenbauer Sie-
mens Gamesa nun vollends über-
nehmen. Bruch redet nicht lange
herum um die Probleme: „Klar
hätten wir kurzfristig mehr Wert
schaffen können, wenn wir das
Portfolio anstelle eines Börsen-
gangs zerschlagen und einzeln
verkauft hätten. Aber ich bin da-
Baumeister:
Joe Kaeser zerlegte
erfolgreich Siemens,
bei Siemens Energy
führt er jetzt den
Aufsichtsrat durch
rumpelige Zeiten
Große Ziele von überzeugt, das Wertsteige-
Mittelfristplanung rungspotenzial ist größer, wenn
Umsatzrendite man es zusammenlässt, von den
von Siemens
Jobs mal ganz abgesehen. Den
Energy nach Spar-
ten, in Prozent Beweis müssen wir jetzt führen.“
Und er weiß, dass er wohl gehen
Gas
muss, wenn er in den nächsten
10–12
Jahren keine zählbaren Erfolge
7 erwirtschaftet. „Wenn Siemens
Gamesa integriert ist, haben wir
2021 2025 alles, was es braucht, auch mit
dem neuen Vorstand. Das heißt,
Grid ich muss mich persönlich an dem
8–10 Erfolg messen lassen.“
6,5
Bruch bewegt einiges, auch
sich selbst. Innerhalb weniger
2021 2025 Tage Mitte Oktober war er beim
ägyptischen Präsidenten Abdel
Transformation
of Industry Fattah el-Sisi. Flog nach Nigeria,
das eine neue Energieinfrastruk-
6–8 tur braucht. Und traf mit BASF-
2021 Boss Martin Brudermüller (61)
auf Bundeskanzler Scholz und
-2,5 2025 Wirtschaftsminister Robert Ha-
beck (53) in Berlin. „Energie“,
Wind sagt Bruch, „ist immer auch ein
5–8
politisches Geschäft.“
2021
Import aus Frankreich
-1 Allerdings muss es eben auch
2025
ökonomisch funktionieren, des-
Quelle: Unternehmen halb hat Bruch nach zwei Jahren
mm-Recherche
Grafik: manager magazin Anlauf das Unternehmen neu zu-
geschnitten und neue Vorstände
eingesetzt. Wesentliche Plus-
punkte seines bisherigen Wir-
kens sind der gestiegene Auf-
tragseingang auf ein Polster von
zuletzt 93,4 Milliarden Euro und
ein wieder solide laufendes Ge-
schäft mit Gasturbinen.
Wichtigster Neueinkauf ist
Anne-Laure Parrical de Cham-
mard (40) vom französischen
Energieversorger Engie. Sie soll
die neu geschaffene Sparte
Transformation of Industry zum
Erfolg führen; hinter dem Namen
verbergen sich rote Zahlen und
ein munteres Durcheinander von
Geschäften, angefangen vom
Kompressorenbauer Dresser-
Rand bis hin zum Zukunfts­
geschäft Wasserstoff, in dem Sie-
mens eine tragende Rolle spielen
will. Man liefert – wie viele ande-
re Anlagenbauer – Elektrolyseu-
manager magazin

re, die Wasser in Wasserstoff und
Sauerstoff zerlegen.
De Chammard wird einiges
aus ihrem Portfolio verkaufen
müssen, anderes restrukturieren,
um mehr in die Zukunft investie-
ren zu können: ein knochenhar-
ter Sanierungsjob.
So schwierig das klassische
Geschäft als Erbauer von Turbi-
nen und Kompressoren, von Um-
spannwerken und Schaltanlagen
auch ist, wie Senkblei für die
­Siemens-Energy-Aktie funktio-
niert ausgerechnet der Part, der
sie zum Fliegen bringen sollte:
der Bau von Windrädern für
Land und See. Er sorgt unter dem
­Namen Siemens Gamesa für ein
Drittel des Umsatzes, schreibt
hohe Verluste – allein im Ge-
schäftsjahr 2022 addierten sie
sich auf 940 Millionen Euro – und
bringt die Mutterfirma in Nöte.
Verantwortlich dafür sind vor
­a llem die Onshore-Windräder,
die sich Siemens 2017 mit der
Mehrheitsübernahme der spani-
schen Gamesa einverleibte und
die bis zum Beweis des Gegen-
teils als größter Fehlkauf Kaesers
in seiner Siemens-Amtszeit gel-
ten dürfen.
Der Fehlkauf Gamesa
Der Kauf fand statt auf dem Hö-
hepunkt der Bewertung. Seitdem
Siemens das Sagen hat, setzte es
meist Verluste, so wie inzwischen
auch andere Anbieter von Vestas
über Enercon bis Nordex viel
Geld verlieren. Gleichzeitig lie-
fern die Chinesen schon jetzt
gute Anlagen zu niedrigeren Prei-
sen in vielen Teilen der Welt.
Schon gibt es bei Siemens, das
immer noch 35 Prozent an Sie-
mens Energy hält und deshalb
zuletzt 2,7 Milliarden Euro ab-
schreiben musste, etliche Men-
schen, die nicht mehr daran glau-
ben, dass man mit Windrädern
an Land jemals ordentlich Geld
verdienen kann. Denn technisch
sind die Anlagen der verschie­
denen Hersteller recht ähnlich,
deshalb konnten die Anbieter die
manager magazin
Siemens Energy  UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT
Politisches Geschäft: Vorstandschef Christian Bruch
besichtigt im August mit Bundeskanzler Olaf Scholz
eine Gasturbine, die bei der Pipeline Nord Stream 1
immensen Kostensteigerungen
etwa beim Stahl nicht an die satt
Spannungs-
verdienenden Windparkbetrei-
abfall
Markt- ber weiterreichen.
kapitalisierung Die trüben Gewinnchancen
Siemens Energy waren übrigens für den damali-
seit Börsengang, gen Siemens-Finanzchef Joe
in Mrd. Euro Kaeser Anfang der 2010er Jahre
ein Grund, vom Kauf eines An-
20 lagenbauers für landgestützte
Windräder intern abzuraten.
„Die Preise verfielen vor etwa
25
fünf Jahren“, sagt der Topmana-
ger eines großen Konkurrenten,
10 und Siemens Gamesa trage daran
Mitschuld, weil die Firma un­
bedingt Marktanteile gewinnen
0 wollte. Inzwischen liege man
28.9.20 9.11.22 wieder bei 900.000 Euro bis
eine Million Euro pro Megawatt,
Quelle: Refinitiv
Grafik: manager magazin nachdem man zwischenzeitlich
auf 700.000 abgesackt war.
Die Frage, ob man jetzt ver-
branntem Geld noch frisches
hinterherwerfen sollte, ha-
ben Bruch und Kaeser mit
einem entschiedenen „Ja“
beantwortet. Für rund
vier Milliarden Euro wol-
len sie die fehlenden
Einkauf aus Frankreich:
Seit November
arbeitet Anne-Laure
de Chammard als
Vorständin bei Siemens
Energy. Sie kommt
vom Energieversorger
Engie.
zum Einsatz hätte kommen sollen
restlichen 33 Prozent an Siemens
Gamesa kaufen, das Unterneh-
men von der Börse nehmen und
bei Siemens Energy eingliedern.
Den Ausschlag für die Ent-
scheidung gab ein Siemens-Vete-
ran. Jochen Eickholt (60), der
zuvor unter anderem die Sie-
mens-Zugsparte wieder zum
Laufen gebracht hatte, schaute
sich vier Wochen lang Siemens
Gamesa an und hatte eine klare
Botschaft für Bruch und Kaeser:
Dass seine Vorgänger es komplett
versäumt hätten, Siemens und
Fotos: Sascha Steinbach / EPA / ddp images, Laurent Zabulon / abaca / picture alliance
Gamesa zu integrieren. Und dass
der Rettungseinsatz zwar lange
dauern werde, er aber nichts ge-
sehen habe, was er nicht von an-
deren Sanierungen kenne.
Eickholt besuchte die Werke
in Spanien, Deutschland, Däne-
mark und Portugal, redete mit
den Leuten vor Ort, sah, was alles
schiefläuft, und entwarf einen
Plan: Er heißt „Mistral“, nach
dem „kalten, trockenen und oft
starken Fallwind“ (Wikipedia),
und trägt, nach allem, was man
weiß, seinen Namen zu Recht.
2900 Arbeitsplätze werden min-
destens gestrichen, mehr als
10 Prozent. Führungskräfte müs-
sen weichen. Manches, wie die
Getriebefertigung und die Elekt-
ronik, könnte ausgelagert wer-
den. Eickholt, der die Auto­
industrie und deren Zulieferer 2
DEZEMBER 2022 79
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Siemens Energy
Riesenrotoren: Eine Arbeiterin
und Kollegen fertigen aus
Verbundstoffen ein Windrad
für Siemens Gamesa im
dänischen Aalborg. Neue
Harze machen die Rotoren
nun erstmals recycelfähig.
gut kennt, sieht in ihnen ein
­Vorbild: „Wir müssen ein ver­
ändertes Partnerschaftsmodell
etablieren.“
Gleichzeitig will Siemens
­Gamesa den On- und Offshore-
Bereich besser verzahnen, etwa
durch die Verwendung gleicher
Baukästen. Außerdem hat Sie­
mens Energy 300 Millionen Euro
an Synergien ausgemacht, wenn
die Windkrafttochter eingeglie­
dert wird. Viele Manager werden
also weichen müssen.
Siemens-Gamesa-Vorstands­
chef Eickholt ist, anders wohl als
seine Vorgänger, alle paar Wo­
chen mit den Arbeitnehmern in
Spanien im Gespräch, wenn auch
mit Dolmetscher, weil er kein
Spanisch spricht. Aber gelernt
Fotos: Carsten Snejbjerg / NYT / Redux / laif, PR / Siemens Energy
hat er, dass „Spanien ein oft
unterschätzter Standort ist“, weil
die Ausbildung gut und die
Arbeitskosten niedriger als in
den deutschen oder dänischen
Werken seien. Was aber nichts
daran ändere, „dass wir in Spa­
nien ebenfalls restrukturieren
müssen“.
Doch die Sanierung des Unter­
nehmens allein wird nicht rei­
chen für ein wenigstens solide
laufendes Turbinengeschäft.
Deshalb lobbyiert Eickholt in
Brüssel und Berlin; so traf er
­A nfang November Wirtschafts­
minister Habeck. Die Botschaft:
80  DEZEMBER 2022
Ohne deutlich schnellere Ge­
nehmigungsverfahren für die
Anlagen und veränderte Aus­
schreibungsbedingungen wird
die europäische Windindustrie
künftig nicht mehr 300.000
Menschen beschäftigen können.
Die Stockfehler der Deutschen
Dass eine Sanierung von Siemens
Gamesa so oder so notwendig ist,
daran gibt es keine Zweifel bei
Analysten wie Wettbewerbern,
zumal der Onshore-Teil des
Unternehmens angesichts hoher
Verluste, schwacher Geschäfts­
aussichten und satter Restruk­
turierungskosten gegenwärtig
praktisch wertlos ist. Doch Kon­
kurrenten bezweifeln, dass die
Komplettübernahme viel bringt
und dass Siemens Energy der
richtige Eigner für das Geschäft
Notgemeinschaft
Die Probleme bei Siemens Gamesa schlagen auf die
Siemens AG durch
Siemens AG
35%
Siemens Energy AG
aktuell
67,07 %
Siemens Gamesa
Quelle: Unternehmen
ist, weil der Konzern in der Regel
höhere Kosten produziere als der
Rest der Branche. „Diesen Rie­
senrestrukturierungsfall würde
ich mir nicht antun“, sagt der
CEO eines Mitbewerbers.
Tatsächlich war Siemens bis­
her nicht die Lösung, sondern das
Problem. Der erste von Siemens
eingesetzte Chef, Markus Tacke
(57), killte den Unternehmergeist,
der Gamesa immer ausgezeich­
net hatte. Der zweite, Andreas
Nauen (58), war ebenso über­
fordert mit der Integration der
Unternehmen und der Führung.
Kein Zweifel: Siemens Energy,
das im Board über die Mehrheit
verfügt und die Vorstände ein­
setzte, hat im Fall von Gamesa
versagt. Auch Bruch und Kaeser
machen sich heute Vorwürfe, sie
hätten nicht genau genug hin­
geschaut.
Die Frage ist nun aber: Setzt
Bruch mit Eickholt auf den rich­
tigen Mann?
Eickholt ist alles andere als ein
Himmelfahrts- Windfachmann, aber bei Siemens
kommando: gilt er als kantiger, auch mal
Jochen Eickholt ­a neckender und deshalb erfolg­
muss den reicher Restrukturierer. „Er ist
Windanlagen-
bauer Siemens unser bester Mann, wenn er es
Gamesa nicht packt ...“, sagt ein Auf­
sanieren, der wie sichtsrat von Siemens Energy,
Senkblei am ohne den Satz zu Ende zu führen.
Kurs von So schwungvoll Eickholt an
Siemens Energy die Aufgabe herangeht – vor 2024
hängt
erwartet Bruch von Siemens
­Gamesa keinen Gewinn. Die Pro­
duktion von Turbinen und Roto­
ren wird auch im besten Fall in
den Jahren danach kaum ihre
Kapitalkosten verdienen; Bruch
rechnet mit einer Umsatzrendite
von etwa 5 Prozent ab 2025,
die sich nur dann auf 8 Prozent
hebeln ließe, wenn das Service­
geschäft gut performt. Andere
Anbieter wie Nordex und Vestas
nehmen sich eher höhere Rendi­
ten vor.
Klar ist: Die kapitalschwache
künftig bis zu
100 % Siemens Gamesa wird auch nach
der Komplettübernahme auf Jah­
re ein Zuschussbetrieb bleiben.
Grafik: manager magazin Das Kapital wird Bruch dann 2
manager magazin
Winter in den Dolomiten.
Nur für Genießer.
suedtirol.info/dolomiten-winter
UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Siemens Energy
Windige Geschäfte
der Turbinenbauer
Woher die spektakulären
Verluste rühren und
wie sich das ändern lässt.
A
ls sich Joe Kaeser und Law-
rence Culp (59) neulich in den
USA trafen, taten sie das als
langjährige Konkurrenten,
aber mit viel gegenseitigem
Respekt. Während der ehema-
lige Siemens-Chef weitgehend zufrie-
den auf sein Lebenswerk schaut, ist es
Culp als CEO von General Electric
gelungen, die amerikanische Indust-
rie-Ikone aus Ruinen wiederauferste-
hen zu lassen. Das verbindet.
Genauso wie der Umstand, dass GE
nun mit einer Aufspaltung des Ge-
schäfts in drei Teile den gleichen Weg
geht wie die Siemens AG. Und sich
damit auch den gleichen Problemfall
einhandelt: das Energiegeschäft, das
sich unter dem Namen GE Vernova
vor allem dem Bau und Verkauf von
Windturbinen widmet.
Verlorene Milliarden
Operative Verluste der größten Wind-
turbinenhersteller, in Mrd. Euro
Siemens GE Renewable
Gamesa1 Vestas2
-0,94 -1,16
Steife Brise
Der Markt für Offshore-Windturbinen,
jährlich installierte Leistung global,
ohne China, in Gigawatt
2021 20253 20303
48
40
47
3
Onshore Offshore
1 | Geschäftsjahr 2022;
2 | Neunmonatszahlen 2022; 3 | Prognose.
Quelle: Unternehmen, Siemens Energy, BloombergNEF
Grafik: manager magazin
82  DEZEMBER 2022
Die Branche schreibt desaströse
Zahlen. Der Jahresverlust von Sie-
mens Gamesa addiert sich auf 940
Millionen Euro, Culp hat in neun Mo-
naten sogar gut 1,8 Milliarden Euro
mit der Sparte verloren (siehe Grafik
unten). Gleichzeitig hoffen alle An­
bieter auf eine leuchtende Zukunft.
Culp verspricht seinen Aktionären
„langfristiges Wachstum“.
Wie geht das zusammen?
Die Verluste sind die Folgen eines
ruinösen Preiskampfs um Markt­
anteile und einer Vertragsgestaltung,
die den Regeln kaufmännischer Vor-
sicht widerspricht. Man liefert zum
Festpreis, obwohl der Preis für Rohstof-
fe wie Stahl sich zuletzt verdoppelte.
Mittlerweile haben die Anbieter
aus ihren Fehlern gelernt. Siemens
Gamesa etwa hat jüngst etliche Auf-
träge abgelehnt, weil dem Manage-
ment der gebotene Preis zu niedrig
war. Auch enthalten viele Verträge
inzwischen Formulierungen, die es
erlauben, höhere Rohstoffkosten zu-
mindest teilweise weiterzugeben.
Gleichzeitig mahnen Unternehmen
von Vestas bis Siemens Gamesa poli-
tische Unterstützung mit einer ge­
hörigen Prise Protektionismus an.
Siemens-Gamesa-Chef Jochen Eick-
holt etwa ist derzeit viel in Berlin und
Brüssel unterwegs.
Seine Forderungen finden sich in
einem aktuellen Whitepaper von Sie-
mens Gamesa: Sie reichen von einer
Beschleunigung der Genehmigungs-
Energy2 verfahren bis hin zu qualitativen
­Kriterien bei Ausschreibungen. Neben
dem Preis sollen zu 30 Prozent Merk-
-1,84 male wie Arbeitsplätze in Europa oder
die Recycelbarkeit der Rotoren den
Ausschlag geben; das Bundeswirt-
schaftsministerium arbeitet mit an
der Ausgestaltung der Kriterien, die
aber europaweit gelten sollen.
Mit diesen Schritten sollen die
­chinesischen Konkurrenten, die bis zu
27 30 Prozent billiger anbieten, heraus-
11 gehalten werden. Die Regierungen
sollten bei der Windindustrie verhin-
dern, was im Fall der Zerstörung der
Solarindustrie in Europa passiert sei,
heißt es im Papier von Siemens Game-
sa. Und: „Der Wendepunkt ist nah.“
an anderer Stelle fehlen, sei es für
­A kquisitionen, sei es für Investitionen
in Innovationen. Gleichzeitig wird er
als designierter Chef des Siemens-­
Gamesa-Verwaltungsrats direkt ver-
antwortlich für den Erfolg (oder Miss-
erfolg) des teuren Kaufs sein.
Zwei Hoffnungswerte gibt es immer-
hin – neben dem wachsenden Bedarf an
Windenergie.
Hoffnung auf „Europe First“
Erstens: Die Konkurrenz hat selbst
­Probleme und ist teilweise hintendran
wie der frisch getaufte US-Energie­
anbieter GE Vernova, der ein ähnliches
Portfolio hat wie Siemens Energy, aber
erst Anfang 2024 abgespalten werden
soll vom Mutterkonzern General Elec-
tric. Kaeser registriert, dass GE damit
ebenfalls auf einen integrierten Ener-
gietechnikanbieter setzt: „Die Energie-
wende wird ja vor allem durch unsere
Kunden realisiert, indem sie ihr Ge-
schäftsmodell von konventionellen auf
erneuerbare Energien umstellen. Diese
Migration wird in unterschiedlichen
Geschwindigkeiten ablaufen, auch der
Startpunkt ist bei jedem unterschied-
lich. Deshalb ist es so wichtig, das ge-
samte Portfolio der Stromerzeugung
einschließlich der Energieübertragung
anzubieten.“
Und zweitens: Die Politik hat großes
Interesse daran, dass die Technik für
die Energiewende auch von europäi-
schen Firmen verkauft wird. Das kann
man politisch steuern. So lassen sich
über qualitative Kriterien in Ausschrei-
bungen für Windkraftanlagen höhere
Preise rechtfertigen, etwa wenn vor
Ort produziert wird. „Europe First“
nach dem Vorbild von „America First“
kommt zunehmend in Mode (siehe Kas-
ten „ Windige Geschäfte der Turbinen-
bauer“ links).
Für Busch und Kaeser jedenfalls gilt:
Mit dem Managerduo Bruch und Eick-
holt haben sie zwei letzte Schüsse,
um Siemens Energy noch zum Erfolg
zu führen.
Ansonsten wird das Unternehmen in
seiner jetzigen Form beim nächsten Ju-
biläum bestenfalls als Fußnote enden.
Oder – man will die Stimmung ja nicht
eintrüben – gleich ganz verschwiegen
werden. 1 Martin Noé
manager magazin
Man braucht nicht unbedingt 432 Jahre Erfahrung,
um für Qualität ausgezeichnet zu werden. Aber es hilft.

Auch als traditionsreiches Haus muss man immer wieder neue Traditionen begründen:
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 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  SMS

H Am
einrich Weiss (80)
ging zeit seines Le-
bens ein hohes Tem-
po. Erst zwei Jahre
ist es her, da setzte
sich der Haupteigen-

Wende­punkt
tümer des Stahl-
werkbauers SMS
hinter das Steuer seines Ruf-Por-
sches mit 712 PS und 360 Kilome-
tern pro Stunde in der Spitze und
fuhr los. Sein Ziel: die A31, der
sogenannte Friesenspieß. „Bis

Heinrich Weiss hat mit SMS ein beacht-

330 Kilometer pro Stunde bin ich
gekommen; aber dann wird die

liches Lebenswerk geschaffen. Auf der

Autobahn schon sehr eng und die
Bodenwellen werden gefährlich.“

Suche nach einem Nachfolger verlässt er

Die Reaktionsfähigkeit lasse im
Laufe der Jahre nach. Daher habe

sich zunehmend auf einen umstrittenen

er vor einiger Zeit auch damit
aufgehört, selbst zu fliegen. Die-

Ex-Vorstand von Thyssenkrupp.

ses Kapitel sei abgeschlossen.
Das gilt ein Stück weit auch
für seine Firma, die Düsseldorfer
SMS (14.000 Beschäftigte), einen
Hersteller größter Anlagen etwa
für die Stahlindustrie, den der
promovierte Elektroingenieur in
seinen 50 Jahren an der Spitze
von 120 Millionen D-Mark auf zu-
letzt 2,6 Milliarden Euro Umsatz
trieb. 2013 zog Weiss sich als ope-
rativer CEO zurück, bis heute
leitet er aber den Gesellschafter-
ausschuss, das eigentliche Macht-
zentrum des Unternehmens.
Jetzt, fast zehn Jahre später,
bahnt sich das nächste histori-
sche Kapitel an – der komplette
Rückzug des Patriarchen. In
Weiss’ Düsseldorfer Büro hängt
seit Kurzem ein meterlanges
Wandposter, das eine Elefanten-
herde zeigt. An der Spitze läuft
ein mächtiges Leittier. Das Bild
habe ihm sehr gefallen, sagt der
Seniorchef: „Der alte Elefant, der
Foto: Jann Hoefer für manager magazin
Die anstehende Machtüberga-
be trifft auf einen Konzern in an-
Erholungs-
gespannter Lage. Die multiplen
potenzial
Umsatz der Krisen Corona, Krieg, Klima zeh-
SMS Group, ren an den Ergebnissen. Der Chi-
in Mrd. Euro na-Boom ist vorüber. Mehrere
Umbauten und Sparpläne folgten
zuletzt aufeinander, Personalab-
3,4
bau inklusive. Der Status als
Weltmarktführer steht auf dem
Spiel. Einst schon ausgestochene
Wettbewerber wie die italieni-
3,2
sche Danieli ziehen inzwischen
wieder mit SMS gleich. Zwar
konnten die Düsseldorfer zuletzt
in Schweden einen Milliarden-
3,0
auftrag für grünen Stahl (H2
Green Steel) gewinnen. Erste Er-
trale in Form eines Zahnrades,
die auch wesentlich größeren
Konzernen alle Ehre machen
würde. Baukosten: mindestens
100 Millionen Euro. Ein Teil da-
von soll durch den Verkauf des
maroden Düsseldorfer Stamm-
hauses wieder hereinkommen.
Studien zeigen: Je größer der
Einfluss der Eigentümerfamilie
auf das eigene Unternehmen,
desto besser entwickelt es sich in
den meisten Fällen, wie etwa die
TU München herausgefunden
hat. Einer Dissertation an der Uni
Augsburg zufolge ist besonders
wichtig, dass die Familie im
Unternehmen auch aktiv mit-

geht jetzt nach Hause.“ Auf dem
Bild folgt ihm ein Jungtier. Weiss
muss in den nächsten Wochen
die Weichen stellen, wer im Fall
seines Unternehmens das Jung-
tier sein soll. Beispiele wie Oetker
oder jüngst Knorr-Bremse zei-
gen, wie verheerend es sein kann,
wenn dabei die Verhältnisse nicht
eindeutig geklärt sind.
gebniseffekte werden sich aber –
wegen der langen Vorlaufzeiten
2,8
im Anlagenbau – frühestens in
zwei bis drei Jahren zeigen. Wenn
überhaupt.
Und dann gibt die Firma auch
2,6
noch ihren langjährigen Sitz in
2010 2021 Düsseldorf auf; in Mönchenglad-
bach auf der grünen Wiese ent-
Quelle: Unternehmen
Grafik: manager magazin steht eine schmucke Firmenzen-
arbeitet. Das Problem des Hein-
rich Weiss’: Dass bei SMS auch
die fünfte Generation aktiv mit-
mischt, danach sieht es gerade
nicht aus.
Weiss’ einziges Kind, Sohn
Georg (31), hat einen Master in
Mediamanagement und Marke-
ting, sein unternehmerisches In-
teresse gilt nach den Worten 2

84  DEZEMBER 2022 manager magazin

Doyen der Großanlagen-
bauer: Unternehmer
Heinrich Weiss
zieht sich zurück
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  SMS
seines Vaters aber vor allem der
Immobilienentwicklung. „Er
kann ja nicht, nur weil er ein An-
teilseigner ist, bei einer Firma
dieser Größenordnung ohne die
nötige Erfahrung im Manage-
ment sein“, sagt er über seinen
Sohn.
In der Zwischenzeit gewinnt
ein familienfremder Manager an
Einfluss, der in der deutschen In-
dustrie schon eine Menge Spuren
hinterlassen hat: Edwin Eichler
(64), Ex-Bertelsmann-Arvato-
und -Thyssenkrupp-Vorstand,
zeitweise in Diensten des russi-
schen Oligarchen Viktor Veksel-
berg (65) sowie des einstigen In-
vestorenwunderkindes Lars
Windhorst (45).
„Ein großer Glücksfall“
Seit 2017 fungiert Eichler bei
SMS als Aufsichtsratschef und als
Weiss’ Stellvertreter im Gesell-
Fotos: ThyssenKrupp / picture alliance / dpa, PR
schafterausschuss. Eine Position,
die in einem nicht börsenno-
tierten Unternehmen sehr viel
Freiraum verspricht. Wenn der
Senior über seinen Ziehsohn
spricht, dann findet er viele lo-
bende Worte: „Ich habe einen
Nachfolger gefunden, der meine
Aufgaben bei SMS in der Kontrol-
le des Unternehmens und des
operativen Geschäfts übernom-
men hat. Edwin Eichler ist ein
großer Glücksfall für uns.“
86  DEZEMBER 2022
Branchenkenner, hochrangige
interne und externe Manager so-
wie Arbeitnehmervertreter sind
sich da nicht ganz so sicher. Sie
beschreiben Eichler zwar durch-
weg als äußerst umtriebig, ver-
netzt, als schnellen Redner und
Denker sowie guten Verkäufer –
auch seiner selbst. Doch viele
zweifeln an der Nachhaltigkeit
seiner Bemühungen und ziehen
zum Beleg unter anderem seine
Performance in früheren Einsät-
zen heran. „Wenn Edwin Eichler
jemanden von seinen Konzepten
überzeugen will, dann brennt er
ein Feuerwerk ab, und der Him-
mel hängt voller Lichter. Aber
dann geht man nach Hause und
fragt sich, was davon bleibt“, sagt
einer, der eng mit ihm zusam-
mengearbeitet hat. Und ein
Arbeitnehmervertreter weiß aus
Erfahrung: „Man muss genau hin-
gucken, wo er wirklich liefert.“
Das erste Aufeinandertreffen
von Weiss und Eichler liegt lange
zurück. Es fällt in die 1990er Jah-
re, als Weiss im Aufsichtsrat des
Medienkonzerns Bertelsmann
sitzt und Eichler im Vorstand der
Dienstleistungstochter Arvato.
Da lädt der damalige Bertelsmann-
Chef Mark Wössner (84) zu einem
Arbeitsessen mit drei jungen Ma-
nagern, die er als High Potentials
anpreist. Einer davon ist Edwin
Eichler, wie Weiss sich erinnert.
Während des Essens muss je-
der der drei einen kurzen Vortrag
halten. Der von Eichler muss zün-
dend gewesen sein, seither hält
der Kontakt. Noch näher kom-
men sie sich, als Eichler Vorstand
bei Thyssenkrupp wird. Der
Stahlkonzern ist traditionell ein
wichtiger Kunde des über 150
Jahre alten Anlagenbauers.
Doch Eichlers Karriere bei
Thyssenkrupp verläuft glücklos,
der Mann gerät in den toxischen
Strudel des Skandalkonzerns.
Kartelle bei Schienen und Aufzü-
gen fallen in seine Zuständigkeit.
Das eine habe er ererbt, bei dem
anderen habe er als Zeuge ausge-
sagt, so sieht Eichler das heute.
Karriere-Grab: Schließlich soll er als Vorstand
Die Kombination auch noch das Pannenstahlwerk
der Stahlwerke in Brasilien ans Laufen bringen,
von Thyssen-
eine gigantische Investition, die
krupp in
Brasilien und den Konzern am Ende über acht
Alabama (Foto Milliarden Euro kostet.
oben) waren Eichler hängt sich rein. Er
ein Nonsens- reist nach Brasilien, will sich die
Projekt ... monströse Baustelle in der Bucht
von Sepetiba zeigen lassen,
kommt dem Vernehmen nach zu-
nächst aber nicht einmal überall-
hin. Lieferanten aus China ver-
weigern ihm den Zutritt, weil die
zuvor von seinen Vorgängern ge-
schlossenen Verträge das offen-
bar verbieten. So geht es in einem
fort. Die Pannen vor Ort sind nur
ein Teil des Problems.
Der Kern des Desasters: Der
gesamte Business Case rechnete
... auch die sich für Thyssenkrupp von An-
Karriere von fang an nicht. Die Idee, Stahl-
Edwin Eichler brammen billig in Brasilien zu
wäre daran fast
produzieren und in einem weite-
gescheitert.
Jetzt könnte ren neuen Thyssenkrupp-Werk
sich für ihn im US-Bundesstaat Alabama zu
persönlich doch Blechen für die dortige Auto-
noch alles industrie weiterzuverarbeiten, ist
glücklich fügen. wirtschaftlicher Nonsens. Dies
belegen unter anderem Berech-
nungen von Konkurrenten aus
jener Zeit. Eichlers Bemühungen
sind damit von vornherein zum
Scheitern verurteilt. „Da konnte
keiner mehr viel retten“, sagt ein
Aufsichtsrat, der das Desaster um
das brasilianische Stahlwerk bei
manager magazin

Thyssenkrupp von Anfang bis Ende
mitverfolgt hat.
Immerhin zehn Jahre – von 2002 bis
2012 – verbringt Eichler in einem Kon-
zern, der es auch sonst mit der Kontrol-
le seiner Manager und der Compliance
nicht so genau nahm. 2012 erwischt es
bei Thyssenkrupp dann auch ihn. Zu-
sammen mit zwei anderen Vorständen
muss er gehen, weil die Verluste in Bra-
silien den Konzern an den Rand des
Ruins bringen. Und weil in Deutschland
der gesamte Vorstand zur Verantwor-
tung gezogen werden kann, wenn etwas
gründlich daneben geht.
Weiss hält dennoch weiterhin engen
Kontakt zu Eichler – auch als der sich
beim Investor und Geldverwalter Lars
„Wunderkind“ Windhorst als CEO und
Berater verdingt, der inzwischen ins
Visier der deutschen Finanzaufsicht ge-
raten ist. „Als ich für Lars Windhorst
gearbeitet habe, war ich in keinerlei
rechtliche Auseinandersetzungen in-
volviert“, stellt Eichler klar.
Auch sein zweiter Arbeitgeber nach
dem Abstieg aus der Beletage der deut-
schen Wirtschaft ist von eher zweifel-
hafter Substanz. Beim Schweizer Edel-
stahlhersteller Schmolz + Bickenbach
(S+B) hatte sich 2013 der russische Oli-
garch Viktor Vekselberg über seine Be-
teiligungsgesellschaft Renova mit
einem großen Aktienpaket eingekauft.
Vekselberg klingelte wenig später bei
Eichler durch und warb ihn als seinen
Verwaltungsratschef an. 2018 setzten
die USA den russischen Milliardär auf
ihre Sanktionsliste, Eichler stellte sich
fortan nur noch als unabhängiger Ver-
waltungsratschef zur Wiederwahl und
zog sich Ende April 2019 endgültig zu-
rück. Erfolge seines Wirkens sind kaum
greifbar: Ihm und dem von ihm einge-
setzten Management gelang es nicht,
die kriselnde Firma nachhaltig zu re-
strukturieren, 2019 und 2020 fielen
hohe Verluste an. Eichler selbst meint
hingegen, das Unternehmen auf ein
neues Fundament gestellt zu haben.
Der Stiftungsvorstand entscheidet
Für Weiss ist Eichler trotz der durch-
wachsenen Bilanz der Richtige: „Er ist
jemand, der den Stahl kennt, die Tech-
nologie und die Kunden“, schwärmt der
Senior. Außerdem sei Eichler ein 2
manager magazin
„So aktiv wie möglich“
Der Unternehmer und Ex-BDI-Präsident machte in China
schon zur Zeit der Kulturrevolution Geschäfte. Was er
Unternehmern im Umgang mit der Volksrepublik rät.
manager magazin: Herr Weiss, Sie
sind ein Pionier der deutsch-chine-
sischen Wirtschaftsbeziehungen.
Wie sehen Sie Ihre Rolle heute?
Weiss: Ich glaube, dass ich in den
1970er und 80er Jahren bei meinen
Besuchen in China einiges bewirken
konnte – auch politisch, als Vorsitzen-
der des Arbeitskreises China der Deut-
schen Wirtschaft. Wenn Kanzler Kohl
gelegentlich Peking besichtigte, konn-
te ich mit der chinesischen Regie-
rungsdelegation Wirtschaftsgespräche
führen.
Wie sind Sie mit der Menschen-
rechtsfrage umgegangen?
Das war vor der Niederschlagung des
Aufstandes auf dem Tiananmen-Platz
1989 überhaupt kein Thema. Selbst da-
nach litt der Handel mit China nicht.
Viel mehr als das hat Covid geschadet
wegen der vielen Lockdowns.
Wer waren Ihre Ansprechpartner?
Natürlich der Minister für Metallurgie,
Tang Ke. Außerdem war ich damals
mit dem Vorsitzenden der staatlichen
Investitionsgesellschaft Citic, Rong
Yiren, befreundet, der später stellver-
tretender Staatspräsident wurde. Er
war einer der ersten Kapitalisten in
China. Bei ihm war ich auch gelegent-
lich privat zu Besuch. Er residierte im
Zentrum Pekings in einer alten Kolo-
nialvilla. Rong war Sohn einer Textil-
industriellenfamilie, schloss sich aber
gleich nach ihrer Gründung der Kom-
munistischen Partei an. Er trug stets
die blauen Mao-Anzüge, aber wenn der
Ärmel hochrutschte, blitzte eine
Cartier-Uhr hervor.
Welche Strategie sollte der Westen
jetzt fahren?
Den Handel so aktiv betreiben wie
möglich, das führt zu Freundschaft,
Partnerschaft und Gewinn für beide
Volkswirtschaften. Es sei denn, einer
wird so fanatisch wie Wladimir Putin
SMS  UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT
und fängt einen Krieg an. Das Aller-
schlimmste wäre, wenn China Taiwan
militärisch annektieren würde. Aber
ich glaube nicht daran. Xi Jinping ist
nicht Putin. Die Chinesen sind im
Prinzip ein friedliebendes Volk.
War es ein Fehler, auch Know-how
abfließen zu lassen?
China war wirtschaftlich und wissen-
schaftlich jahrtausendelang die füh-
rende Nation. Man muss die Motiva-
tion der Chinesen kennen. Sie waren
jahrtausendelang die Weltführer. „Wir
sind eigentlich gewohnt, Weltmacht zu
sein“, sagten mir die politischen Füh-
rer oft. Sie hätten nur eine „200-jähri-
ge Konditionsschwäche“ gehabt, aber
die frühere Position wollten sie wieder
erlangen. Nicht indem sie ihr Territo-
rium militärisch vergrößern, sondern
ihre wirtschaftliche Macht.
Wie sind Sie bei SMS damit umge-
gangen, dass die Chinesen viel ko-
pierten?
Das haben wir bei SMS von vornherein
einkalkuliert. Ich ging davon aus, dass
sie in einigen Jahrzehnten technolo-
gisch ohnehin auf unserem Stand sein
würden. Bis dahin wollten wir dort
eine starke Marktstellung aufbauen
und uns der Konkurrenz stellen. Schon
in den 90er Jahren haben wir in eini-
gen Hüttenwerken große Walzwerke
gesehen, die bis auf die letzte Schraube
von unseren abkopiert waren. Wir ha-
ben trotzdem dort gut verdient: 25
Prozent unseres gesamten Firmenum-
satzes in den 80er und 90er Jahren
haben wir in China gemacht. Dabei
muss man wissen, dass heute mehr als
50 Prozent der Weltstahlproduktion
auf China entfällt.
Kann China auch grünen Stahl her-
stellen?
Das ist dort in der Breite noch kein
Thema. Zurzeit werden erst einmal 30
bis 40 neue Atomkraftwerke gebaut. 1
DEZEMBER 2022 87
UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  SMS
guter Menschenführer und
Teamplayer.
Für den 80-Jährigen drängt
die Zeit, seine Nachfolge ab-
schließend zu regeln, allerdings
macht die Sache kompliziert,
dass er sich schon einmal in
einem Spitzenmanager täuschte.
Weiss selbst hatte Joachim
Schönbeck (58) 2004 von Sie-
mens geholt und zu seinem
Nachfolger als operativen Hol-
ding-Chef gemacht, um selbst
kürzertreten zu können. Der er-
laubte sich jedoch mehrere große
Schnitzer in kurzer Zeit, Weiss
zog die Konsequenz. Schönbecks
Nachfolger als Vorsitzender der
Geschäftsführung wurde das
SMS-Eigengewächs Burkhard
Dahmen (58).
Auf dem Papier hat der Unter-
nehmer alles vorbereitet, sein
Milliardenerbe abzusichern. An-
fang 2016 gründet er die Familie
Weiss Stiftung, deren Zweck es
laut Satzung ist, ein „starker, sta-
biler und verlässlicher Eigentü-
mer“ der Unternehmensgruppe
zu sein und Dividenden an die
drei Familienstämme auszu-
schütten, die alle ihre Anteile
dort eingebracht haben. Der
Stamm Heinrich Weiss hält über
50 Prozent.
Nun muss der Senior nur noch
entscheiden, wer die Stiftung
statt seiner einmal leiten soll.
„Der alte Elefant,
der geht jetzt nach Hause.“
Heinrich Weiss
88  DEZEMBER 2022
„Das letzte Wort in personellen
und allen anderen wichtigen Fra-
gen hat der Stiftungsvorstand,
der entscheidet also auch über
meine Nachfolge“, führt Weiss
aus. Wer in diesem Gremium
sitzt? Bislang nur Weiss höchst-
selbst. „Zurzeit bin ich noch allei-
niger Stiftungsvorstand, den ich
aber um einige erfahrene Persön-
lichkeiten aus der Wirtschaft
sowie der Familie erweitern
möchte. Wir sind gerade in der
Diskussion auch in der Familie,
wie wir das machen wollen.“
Jackie Stewarts Lebensweisheit
In der Zwischenzeit macht Eich-
ler sich nützlich. In den SMS-Auf-
sichtsrat holt er Peter Lürßen
(62), Co-Chef der Fr. Lürssen
Werft, deren Beirat umgekehrt
auch Eichler bereichert. Aus Sicht
von Weiss eine gute Wahl („Herr
Eichler hat uns zusammenge-
bracht“), er sieht Parallelen: „Mit
Peter Lürßen gibt es in der Ge-
schäftscharakteristik viele Über-
einstimmungen: Luxusjachten
sind wie Stahlanlagen technisch
anspruchsvolle Einzelanferti-
gungen.“ Es gebe bei beiden lange
Projektlaufzeiten. „Und viele sei-
ner Kunden sind auch unsere
Kunden. Deshalb passte das gut.“
Weiss ist mit Eichler so zufrie-
den, dass er sich mit seinem Auf-
sichtsratschef und Stellvertreter
Ausreißer im Gesellschafterausschuss nach
nach unten eigener Aussage nur noch alle
Ebitda1 der zehn Tage für ein, zwei Stunden
SMS Group, trifft. Dann berichte der ihm
in Mio. Euro
übers laufende Geschäft und die
nächsten Schritte für sein Unter-
400
nehmen. Er habe den Vertrieb
neu organisiert und den Zukauf
der Servicefirma Kaefer einge-
fädelt. Er kümmere sich um die
Restrukturierung, Zukäufe und
300 die Entwicklung des Unterneh-
mens insgesamt. Er sei der
wesentliche Motor, dass SMS
jüngst den Milliardenauftrag im
Rahmen des H2-Green-Steel-
200 Projekts in Schweden bekam –
des ersten grünen Stahlwerks
der Welt.
Ein Aufsichtsratschef also, der
sich weit über das übliche Maß
100
hinaus engagiert. Und das, ob-
wohl er bei SMS nicht fest ange-
stellt ist; Eichler hat einen Bera-
tervertrag: „In der übrigen Zeit
arbeite ich für meine Consulting-
firma in der Schweiz.“ Auf die
0
Nachfolgefrage bei SMS ange-
sprochen, sagt er: „In drei bis vier
Jahren wird die Übergangsphase
abgeschlossen sein.“
Wie es aussieht, geht also auch
−100 Eichler ein hohes Tempo, genau-
2010 2021 so wie sein Mentor. Heinrich
Weiss könnte es eines Tages mit
1 | Ergebnis vor
Zinsen, Steuern und
ihm so gehen wie dereinst mit
Abschreibungen. dem Formel-1-Weltmeister Ja-
Quelle: Unternehmen
Grafik: manager magazin ckie Stewart (83): Kurz nachdem
Weiss in den 1980er Jahren die
Deutsche Rundstrecken-Trophäe
gewonnen hatte, traf er Stewart
bei einem gemeinsamen Abend-
essen. „Das war so, als wäre man
beim Papst eingeladen.“
Nach der dritten Flasche
Rotwein für alle habe er gewagt,
Stewart von den Kurven auf
dem Nürburgring vorzuschwär-
men: Das sei wie Walzertanzen,
dort beim Fahren den richtigen
Rhythmus mit dem Boliden zu
haben. Stewarts Miene wurde
starr, dann habe der Rennfahrer
Weiss angeguckt und gesagt: „If
you really enjoyed it so much you
probably were a little bit slow.“
1 Kirsten Bialdiga
manager magazin
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Überall, wo es Podcasts gibt
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Vonovia
Abschied
von der ­
großen Bühne
Vonovia streicht seine
Investitionen in Neubau
und Modernisierungen
zusammen. Dem Konzern
fehlt ein wachstumsträchtiges
Geschäftsmodell.
A
lirio Sinisterra Ordonez
(22) kann sich noch genau
an den Moment erinnern,
als er die Zusage von Vo­
Foto: [M] Frederike Wetzels / Picture Press / ddp images
novia für einen Job in
Deutschland erhielt. „Das
war am 3. Januar im Mor­
gengrauen“, erzählt der
­Kolumbianer. „Da habe ich die Mail
­bekommen, dass ich eine Stelle als
Gärtner erhalte.“ Er klickt auf seinem
Smartphone herum und zeigt die
Nachricht: „Wir haben die Tests und
Interviews ausgewertet und freuen
uns, ­Ihnen mitteilen zu können, dass
sich das Unternehmen Vonovia
entschieden hat, Sie in das Team-Pro­
jekt aufzunehmen. Herzliche Glück­
wünsche!“, heißt es da.
90  DEZEMBER 2022
700 Leute hatten sich 2021 auf die
17 Stellen beim Bochumer Wohnungs­
konzern beworben, durchliefen einen
Bewerbungsprozess, mussten Fach­
kenntnisse als Elektriker oder Gärtner
nachweisen sowie Deutsch lernen.
­Ordonez hat all das geschafft, seit An­
fang Oktober lebt der gelernte Gärtner
aus der kolumbianischen Hafenstadt
Tumaco nun in Berlin. Er vermisst sei­
ne Familie, besonders seinen kleinen
Sohn, aber das Angebot von Vonovia sei
„eine großartige Gelegenheit gewesen,
die ich wahrnehmen musste“.
Auch für Vonovia waren die 13 ko­
lumbianischen Elektriker sowie vier
Gärtner ein Glücksfall. Noch zum
­Jahreswechsel herrschte akuter Hand­
werkermangel, die Gastarbeiter­ 2
manager magazin
 Gute Miene, tristes Spiel:
Vonovia-Chef Rolf Buch kürzt die
Investitionen
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Vonovia
„Zukunftsmusik“: Generalbevollmächtigte und Handwerkerchefin Konstantina Kanellopoulos
initiative ließ den Wohnungsriesen
nahbar und sympathisch erscheinen –
vor allem aber geschah alles im Auftrag
einer nationalen Aufgabe. „Wir stehen
vor der großen Herausforderung, den
Gebäudebestand sehr schnell klima-
neutral zu sanieren und Fotovoltaik auf
die Dächer zu bringen“, erklärte Rolf
Buch (57), Chef des Vermietungsunter-
nehmens. „Daher können wir jede
gute Frau und jeden guten Mann ge-
brauchen“, lobte er noch im Sommer
das Projekt mit der kolumbianischen
Arbeitsagentur und der Auslandshan-
delskammer (AHK). Auch intern war
das Projekt strategisch weit oben auf-
gehängt: Als Stärkung und Ausweitung
der bereits 5000 Mitarbeiter starken
Foto: Lars Heidrich / FUNKE Foto Services
konzerneigenen Handwerksorganisa-
tion, um die eigenen Nachhaltigkeits-
ziele zu erfüllen.
Rhetorisches Blendwerk
Damit ist jetzt erst einmal Schluss.
Während der Präsentation der Kon-
zernzahlen für das dritte Quartal An-
fang November kassierte Vonovia-CEO
Buch die Investitionspläne zu großen
Teilen ein. „Wir können vor der Ent-
92  DEZEMBER 2022
wicklung der Baupreise und der Zinsen
nicht die Augen verschließen: Neubau
und Modernisierung zu vertretbaren
Konditionen ist nunmehr nicht mehr
möglich“, so Buch. Im aktuellen Umfeld
sei es verantwortungsbewusst, keine
massiven Investitionsprogramme mehr
aufzulegen, um nicht in die Unsicher-
heit zu investieren. Rechnete der Kon-
zern am Jahresanfang noch mit In­
vestitionen in Höhe von 2,3 Milliarden
Euro für energetische Modernisierung,
Wohnwertverbesserung und Neubau,
so liegen diese Prognosen nur noch
bei rund 1,35 Milliarden Euro für das
Geschäftsjahr 2022. Für 2023 sollen die
Investitionen mit insgesamt rund 850
Millionen Euro dann noch einmal deut-
lich kleiner ausfallen. Erstmals werden
die Investitionen für Modernisierung
und Neubau damit rückläufig sein,
was Buch, eine notorische Frohnatur,
rhetorisch blumig verpackt: „Wir haben
uns in den letzten Jahren einen guten
Vorsprung bei der Sanierung erarbeitet.“
Wenn man es etwas schlichter for-
mulieren will: Europas größtes privates
Wohnungsunternehmen, dem über
550.000 Wohnungen gehören, ist der-
zeit der einzige Dax-Konzern ohne
­seriöse Wachstumsperspektive. Vor-
standschef Buch versetzt den Konzern
in einen Winterschlaf.
Vonovia erklärt dazu, dass man
auf „Pause“ gedrückt habe, aber weiter
Projekte vorbereite, „um direkt wieder
starten zu können, wenn wir wieder
klare Sicht haben“.
Dass erst einmal Trübsinn angesagt
ist, untermauerte der Konzern un-
längst mit seinen Gewinnaussichten:
In den ersten neun Monaten des lau­
fenden Jahres verdiente Vonovia mit
dem Gewinn aus operativem Geschäft
(Group FFO) in Höhe von 1,6 Milliar-
den Euro 35 Prozent mehr als im Vor-
jahr. Dies war auch bedingt durch die
Übernahme der Deutschen Wohnen
sowie steigende Mieten und einen ge-
ringen Leerstand. Für das Geschäfts-
jahr 2023 erwartet der Konzern einen
Group FFO „aufgrund der Zins- und
Steuerentwicklung leicht unter dem
Niveau von 2022“.
Jetzt rächt sich, dass Buch sich in
den vergangenen Jahren zu sehr der
Droge des billigen Geldes hingab, eine
Akquisition an die nächste reihte, das
manager magazin

eigene Immobilienportfolio mun­
ter hochschrieb – und darüber
die Entwicklung neuer Geschäfts­
felder vernachlässigte.
Buch erklärt dazu, dass man
„in der Phase sehr niedriger Zin­
sen sehr erfolgreich die Chancen
im Markt genutzt und Europas
Marktführer für Wohnimmobi­
lien geschaffen hat“. Die Wachs­
tumsperspektive des Konzerns
gelte unverändert.
Konstantina Kanellopoulos
(40) erinnert sich Ende Oktober
in der Bochumer Zentrale des
Konzerns an ihre Anfänge bei
Vonovia vor neun Jahren. „Ich
wurde damit beauftragt, neue
Geschäftsfelder rund um das
Thema Wohnen zu entwickeln,
denn wir waren damals schon
überzeugt davon, dass der Be­
reich noch mehr Potenzial hat“,
erzählt sie. 300 Fachkräfte star­
teten 2012 im „konzerneigenen
technischen Start-up“ und hätten
sich auch damals schon unter
­anderem um Sanierungen ge­
kümmert, so Kanellopoulos, die
zwischenzeitlich bei der Deut­
sche Wohnen zur Co-CEO auf­
gestiegen und im Gesamtkon­
zern Generalbevollmächtigte ist.
Mittlerweile arbeiten mehrere
Tausend Menschen im Bereich
„Add-Value“, wie Vonovia die
Sparte nennt. Anders als der
Name vorgibt, kümmern sich die
Monteure dabei aber weniger
um wertsteigernde Innovations­
projekte, sondern vor allem um
kleine Instandhaltungen in Be­
standswohnungen des Konzerns.
„Die Mieter schicken über unsere
Vonovia-App beispielsweise ein
Foto von ihrem tropfenden Was­
serhahn, und wir können darauf­
hin einen unserer Handwerker
losschicken“, erklärt Kanellopou­
los. Es sei wichtig, dann mit den
eigenen Leuten in der Wohnung
zu sein, „weil wir dadurch natür­
lich den Kontakt zum Kunden
selbst in der Hand haben“. Hinzu
kommen die Gärtner und Land­
schaftsbauer, die das Umfeld ge­
pflegt halten. Heißt: Rasen mähen,
manager magazin
Vonovia  UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT
Abbruch Hecken schneiden und Blumen CO₂-freier Wärme versorgt. Ein
Aktienkurs gießen vor dem Wohnblock. Teil des benötigten Stroms
Vonovia versus Energetische Modernisierun­ kommt von eigenen Fotovoltaik­
Dax, indexiert
gen stemmt Vonovia dagegen anlagen auf den Dächern der
Vonovia hauptsächlich mit externen ­Gebäude.
Dax
Unternehmen. 1000 Fachkräfte Die EZZ ist ein Vorzeigepro­
140 der 5000 eigenen Handwerker jekt, das als Beispiel für andere
unterstützen dabei, „aber bei den Siedlungen dienen soll, denn „Vo­
120
Spezialgewerken der Moderni­ novia hat den Anspruch, in der
100 sierung gibt es Unternehmen, Energiewende Vorreiter zu sein“,
die das viel besser können als so Buch zur Einweihung im ver­
80
wir“, räumt Kanellopoulos ein. gangenen Jahr. Die Kosten für
60 Natürlich könnten sie „mit Blick das Bochumer Projekt liegen in
8.11.17 8.11.22 auf die Modernisierungstiefe Millionenhöhe. Der Prototyp soll
= 100 ­immer noch mehr machen, aber vor allem symbolisieren, was in
am Ende des Tages muss es für Zukunft möglich sein soll und
unsere Mieter auch bezahlbar was aus Vonovia noch alles wer­
Abstieg bleiben“. den könnte.
Nettovermögen
je Aktie seit Doch auch hier wird sich wohl
Börsengang, Vorständin ohne Fortüne erst einmal keine Dynamik mehr
in Euro Nur wenige Kilometer von der entfalten. Es geht jetzt darum,
Konzernzentrale entfernt in die Zusammenarbeit mit ex­
60
­B ochum-Weitmar präsentiert ternen Unternehmen zurück­
­Vonovia „Zukunftsmusik“, wie zufahren, so der Konzern. „Die
40 Kanellopoulos es nennt: die vorübergehenden Kürzungen der
„Energiezentrale der Zukunft“ Investitionen bedeuten keine
20 (EZZ), ein Klotz mit modernster Kündigungen in den eigenen Rei­
Technologie im Inneren. Mithilfe hen. Im Gegenteil: wir sind ein
0
eines Elektrolyseurs zur Produk­ wachsendes Unternehmen und
tion von Wasserstoff aus Strom, haben viele offene Stellen“, heißt
2013 9/ 2022 Brennstoffzellen und Wärme­ es. „Wir haben genug zu tun und
pumpen werden von hier die halten auch weiterhin an unseren
Quelle: Refinitiv
Grafik: manager magazin ­umliegenden 81 Wohnungen mit Nachhaltigkeitszielen fest.“ Es
könne allerdings sein, dass die
Wo geht’s jetzt selbst auferlegte Sanierungs­
zur Trans­ quote von 3 Prozent pro Jahr auch
formation? 2023 etwas geringer ausfalle.
Vorständin Schon im vergangenen Jahr lag
Helene von
Roeder Vonovia mit einer Quote von 2,3
Prozent unter den eigenen Zielen,
2019 waren es noch 3,7 Prozent.
Der Winterschlaf könnte auch
das Gefüge im Vorstand des Dax-
Konzerns verändern. Finanzche­
fin Helene von Roeder (52) hatte
zum Jahresanfang auf Chief
Transformation Officer umge­
Foto: Marcel Maffe für manager magazin
sattelt, verbunden mit einer
­G ehaltserhöhung, um das Ge­
schäftsmodell des Vermieters
aufzumöbeln und neue Ge­
schäftsfelder zu erschließen. Der
Job galt als Meisterprüfung auf
dem Weg zum CEO-Posten und
von Roeder als Idealbesetzung.
Ein Durchmarsch wird das nun
sicherlich nicht mehr. 2
DEZEMBER 2022 93
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Vonovia

Gefragt sind dagegen eher Kernqua­
lifikationen aus ihrem alten Ressort,
das allerdings inzwischen Philip Gros-
se (52) besetzt. Die Aktie des Konzerns
notiert 50 Prozent schwächer als noch
zum Jahresanfang. Der Konzern muss
im nächsten Jahr vier Milliarden Euro
Schulden refinanzieren. „Das jetzige
Marktumfeld stellt das bisher so erfolg­
reiche kapitalmarktbasierte Fremd­
finanzierungsmodell von Vonovia auf
den Prüfstand“, erklärt ein Branchen­
insider. „Es ist nun die Frage: Reicht die
Investorennachfrage, um den Refinan­
zierungsbedarf zu akzeptablen Kondi­
tionen zu decken?“ Mit Banken könne
man über Finanzierungsbedingungen
verhandeln – mit dem Kapitalmarkt
nicht.
Vonovia erklärt dazu, dass „das
­ausgewogene und langfristig angelegte
Finanzierungsprofil von Vonovia für
Stabilität sorgt“. Im aktuellen Zinsum­
feld sei es falsch, neues Fremdkapital
aufzunehmen, um damit Investitionen
zu finanzieren. Stattdessen wolle man
durch den Verkauf von Wohnungen für
eine angemessene Kapitalallokation
sorgen.
Weil Vonovia der größte Wohnungs­
konzern Deutschlands ist, weisen die
Probleme des Unternehmens weit über
die eigene Gewinn-und-Verlust-Rech­
nung hinaus. Laut Mieterbund fehlen
1,5 Millionen Wohnungen. Insgesamt
175 Milliarden Euro Mehrinvestitionen
sind bis 2030 für Klimaschutzmaß­
nahmen nötig, um noch eine Chance
zu haben, die Vorgaben zu erfüllen: Mit
dem Klimaschutzgesetz 2021 hat sich
Deutschland dazu verpflichtet, bis 2045
Treibhausgasneutralität zu erreichen.
Danach müssen die Emissionen bis
2030 um 65 Prozent im Vergleich zum
Jahr 1990 sinken – dies entspricht einer
Reduktion bis 2030 gegenüber 2019 um
fast die Hälfte.
Diese gesetzlichen Vorgaben er­
fordern „einen fundamentalen Umbau
unseres Energiesystems, unserer inter­
nationalen Energieversorgung, unseres
Gebäude- und Fahrzeugbestands, un­
serer Infrastruktur sowie großer Teile
unserer produzierenden Wirtschaft“,
schreiben die Boston Consulting Group
sowie der Bundesverband der Deut­
schen Industrie (BDI) in ihrer gemein­
samen Studie „Klimapfade 2.0“. Wie
die Dinge liegen, fällt Vonovia dafür
erst einmal aus.
Viel Geld für Newcomer
In die Lücke will ein Newcomer stoßen:
Philipp Schröder (39) begegnete ein
ähnliches Problem, als er noch Deutsch­
land-Chef von Tesla war. „Da haben
sich die Leute ein Model S gekauft und
hatten dann Probleme, jemanden zu
finden, der ihnen die Ladedose an die
Wand schraubt“, erzählt er. Mittler­
weile hat Schröder Tesla verlassen und
sein eigenes Unternehmen gegründet:
1KOMMA5°. Damit auch jeder versteht,
was der Kern seines Geschäftsmodells
ist: den Temperaturanstieg unter 1,5
Grad Celsius zu halten. „Um das zu
­erreichen, müssen wir auf erneuerbare
Energien setzen, aber wir sind schon
jetzt viel zu langsam in der energeti­
schen Sanierung, weil wir zu wenig
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 Vonovia  UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT

kompliziert sind“, erklärt der Firmen-
chef in seinem Hamburger Showroom.
„Deswegen müssen wir erst mal mit
den vorhandenen Kapazitäten den Out-
put erhöhen.“
Dafür kauft Schröder Handwerks-
betriebe auf, will ihre Arbeitsweise
durch digitalisierte Prozesse effizienter
machen und dem Kunden einen
All-in-one-Service anbieten können.
Das kommt an: Investoren wie Porsche
Ventures, Jan Klatten, Ex-Mann der
Unternehmerin Susanne Klatten, und
das Family-Office Haniel beteiligten
sich mit insgesamt 300 Millionen Euro
an 1KOMMA5° – eine bemerkenswerte
Summe.
Schröders Kalkül scheint bislang
aufzugehen, er rechnet ein Jahr nach
der Gründung mit einer Viertelmil­
liarde Euro an Umsatz für 2022. „Der
Markt boomt“, erklärt er und ergänzt,
dass Konzerne wie Vonovia sich etwas
überlegen müssen. „Nur mit den Hand-
werkern auf dem freien Markt kommen
die mit der Modernisierung gar nicht
mehr schnell genug voran.“ Vonovia-
Chef Rolf Buch fordert derweil mehr
Unterstützung von der Politik. Momen-
tan seien Investitionen in die Moder­
nisierung bei zeitgleich bezahlbar
­bleibenden Mieten ohnehin „eine Rech-
nung, die nicht aufgehen wird“. Es
brauche verbindliche Rahmenbedin-
gungen und verlässliche Förderungen,
erklärt der Konzernchef.
Handwerkerglück
Der Gärtner Ordonez in Berlin be-
kommt von alldem nichts mit. Er ist
momentan vor allem damit beschäftigt,
Laub zu fegen. Der Kolumbianer schüt-
telt ungläubig den Kopf und lacht, wenn
er an die Mengen von Blättern denkt,
die hier auf den Gehwegen liegen.
In Kolumbien auf der familieneigenen,
zehn Hektar großen Kokosnussplanta-
ge sah seine tägliche Arbeit ganz anders
aus. „Ich hab zusammen mit meinem
Vater die Ernte koordiniert“, erzählt er
und zeigt wehmütig Fotos von Palmen
im Sonnenschein.
Ordonez hofft, dass zumindest seine
Frau und sein Sohn bald nach Deutsch-
land nachkommen können. Dafür muss
er das einjährige Anerkennungsverfah-
ren bestehen, das seine Fachkenntnisse
mit den deutschen Ausbildungsstan-
dards abgleicht. Aber er ist voller Zu­
versicht, durchzuhalten und aus seiner
Chance das Beste zu machen: „Wann
läufst du das nächste Mal einem
­Jobangebot aus Deutschland auf dem
kolumbianischen Arbeitsmarkt über
den Weg?“
Wenn es nach Konstantina Kanello­
poulos geht, soll der Weg von Ordonez
kein glücklicher Einzelfall bleiben.
„Es haben sich schon zahlreiche Teams
bei mir gemeldet, dass sie auch gern
neue Kolleginnen und Kollegen an Bord
hätten“, sagt sie. Mindestens 800 Stel-
len seien noch offen und würden auch
besetzt.
Fürs Erste kann Vonovia die Fach-
kräfte in seinem Hausmeisterservice
einsetzen. Und wenn Vonovia den Win-
terschlaf beendet, gibt es ja vielleicht
neue Ideen, was mit „Add-Value“ sonst
noch alles gemeint sein könnte.
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Werbe-TV
total
Die neuen Chefs des
darbenden TV-Konzerns
ProSiebenSat.1 versuchen
das Gegenmodell zu Netflix
und RTL+: Werbegelder
statt Abogebühren.
Es ist eine Wette auf die
deutsche Sparsamkeit.

A
ndreas Wiele (60) ist viel sehkanälen wie ProSieben, Sat.1, Kabel Jetzt, als Chef kontrolleur des
unterwegs. Von London Eins und Sixx. g­ rößten deutschen TV-Konzerns, kann
mal nach New York, um Nun: Wiele verfügt auch so über bes- Wiele endlich die großen Linien im
Geschäftspartner und te Ortskenntnis. Vor mehr als andert- deutschen TV-Markt ziehen, als Gegen-
Tochter zu treffen, nach halb Jahrzehnten wollte er als Vorstand spieler von niemand Geringerem als
Genf zum Investorenkolle- bei Axel Springer und Leiter der dama- Dreifachkönig Thomas Rabe (57; Chef
gen Alberto Chalon (51) ligen Verhandlungsgruppe den TV- von Bertelsmann, RTL Group, RTL
von Giano Capital. Nur in Konzern übernehmen. Das Kartellamt Deutschland).
Unterföhring, dem Medienvorort von stoppte Anfang 2006 den Masterplan, Die Voraussetzungen sind zwar
München und Sitz von ProSiebenSat.1 und auch in Wieles Karriere fehlte da- höchst durchwachsen: Die keimende
(P7S1), ist der Mann höchst selten zu nach lange die große Perspektive. 2020 Rezession sendet ihre Vorboten in die
sehen. Dabei ist der promovierte Jurist schließlich verließ er Springer, heuerte Werbebuchungsstände des TV-Kon-
als Aufsichtsratschef das neue Macht- bei dessen neuem Großinvestor KKR zerns (Umsatz zuletzt 4,5 Milliarden
zentrum des MDax-Konzerns mit Fern- als Berater an und zog nach London. Euro, 7800 Mitarbeitende), die Aktie

96  DEZEMBER 2022 manager magazin


Meisterwerk:
Trotz zweier
zuvor nur mäßig
erfolgreicher
Einsätze als CEO
hat Bert Habets
den Chefposten
bekommen
hat sich seit Jahresbeginn grob halbiert.
Ende Oktober versandte die Sender-
gruppe eine Gewinnwarnung. Aber:
Wiele hat zumindest einen kühnen
Plan und – aus seiner Sicht – dazu auch
einen Königstransfer abgeschlossen.
Seinen Vorstandschef Rainer Beau­
jean (54), ein in Wolle gefärbter Finan-
zer, dessen Vertrag er frühzeitig bis
Mitte 2027 verlängert hatte, schickte er
Anfang Oktober blitzschnell nach Hau-
se. Anfang November übernahm der
frühere CEO der RTL Group, Bert Ha­
bets (51). Zum Auftakt gab es für Ha-
manager magazin
PROSIEBENSAT.1  UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT
bets eine mehrtägige Reise zu den Kon-
zernstandorten, wo er sich gleich auf
die angespannte Betriebstemperatur
im Konzern bringen konnte: nach Ham-
burg zum Onlinedatingspezialisten
Parship (Börsengang verschoben) und
nach Berlin zum chronisch darbenden
Parfümversender Flaconi, ein paar
Tage am Unterföhringer Stammsitz der
Sendergruppe, dann zu Verivox in Hei-
delberg. „Er muss das Potenzial der seit
Jahren verunsicherten Mitarbeiter
heben“, sagt ein Förderer.
Liebesgrüße aus Italien
Mit welcher Strategie Habets das an-
stellen soll, hat Wiele seinem neuen
Vormann bereits klargemacht. Der frü-
here Vertrauensmann von Springer-
Chef Mathias Döpfner (59) ist zutiefst
von der Zukunft des Fernsehens über-
zeugt. Unter Wiele wird Deutschlands
größte Sendergruppe eine Rolle rück-
wärts machen und wieder ganz auf das
werbefinanzierte TV setzen – ob linear
oder als Streamingdienst. Habets soll
als neuer CEO die Zukunftsfähigkeit
des werbefinanzierten TV beweisen.
Wiele habe intern das Wort von „der
Resilienz des werbefinanzierten Mo-
dells“ ausgerufen, sagt einer aus der
erweiterten Konzernspitze. Die Werbe-
aufwendungen würden wieder zurück-
kommen. Das hätte bereits die Corona-
Pandemie gezeigt. Der Weg zurück
allerdings wird ein weiter sein, wenn er
überhaupt zum Ziel führt: Der Brutto-
umsatz der TV-Reklame ging nach An-
gaben des Dienstleisters Nielsen im
September um mehr als 10 Prozent im
Vergleich zum Vorjahreszeitraum zu-
rück auf nur noch 1,67 Milliarden Euro.
Die Strategie ist ein krasses Gegen-
modell zum ewigen Konkurrenten
RTL. Dort treibt Rabe das Abofernse-
hen unter der Marke RTL+ und einigen
Submarken der früheren Bertelsmann-
Zeitschriftentochter Gruner + Jahr mit
Vehemenz voran. Wiele dagegen glaubt,
dass die Menschen gerade in der Rezes-
sion an den kostenpflichtigen Abonne-
ments sparen werden.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Wie-
le folgt mit seiner Marschroute brav der
Strategie seines größten Aktionärs, Me-
dia For Europe (MFE), der große wer-
befinanzierte Kanäle in Italien und
Spanien betreibt. Der Medienkonzern,
der aus steuerlichen Gründen in den
Niederlanden sitzt, hält seit Anfang No-
vember insgesamt 29,01 Prozent an der
deutschen Sendergruppe. Bei MFE ist
der Milliardär und ehemalige italieni-
sche Ministerpräsident Silvio Berlus­
coni (86) über seine Holding Fininvest
größter Aktionär mit 47,9 Prozent.
Es gilt als ausgemacht, dass das frü-
her als Mediaset bekannte Unterneh-
men bei der nächsten Hauptversamm-
lung einen Aufsichtsratssitz erhalten
wird. „Es ist nicht völlig unüblich, wenn
ein solcher Aktionär einen Aufsichts-
ratssitz für sich reklamieren würde. Das
wäre keine Katastrophe“, sagt ein in den
Prozess Eingeweihter. Mit Katharina
Behrends (56), der neuen MFE-Chefin
für Deutschland, Österreich und der
Schweiz mit Sitz in München, stünde
auch eine erfahrene TV-Managerin für
das Kontrollgremium von ProSieben-
Sat.1 bereit. Zuvor hatte Behrends jah-
relang Geschäfte von NBC Universal in
Europa geleitet. MFE-Finanzvorstand
Marco Giordani (61) sagte bereits,
Behrends werde eine wichtige Rolle
beim Aufbau einer paneuropäischen
Mediengruppe spielen. „Unser Ziel ist
es, weiter zu expandieren.“
Das neue Mantra lautet eindeutig
Kooperation statt Konfrontation. „Es
gibt Themen für eine engere Zusam-
menarbeit, wie zum Beispiel die inter-
nationale Vermarktung über gemeinsa-
me Büros in Paris, London und New
York. Auch auf der Arbeitsebene gibt es
Möglichkeiten der Kooperation wie im
technischen Bereich oder in der Me-
dienpolitik auf EU-Ebene“, erläutert
ein mit den Vorgängen Vertrauter. Als
konkretes Beispiel nennen Insider die
Streamingtechnologien, Software für
Programmplanung oder das Addres­
sable TV, das die Vorteile zielgerichte-
Foto: Pro Shots Photo Agency / ddp images
ter digitaler Werbung mit dem linearen
Fernsehen verknüpft. „Wir müssen
stärker in Allianzen arbeiten und
­Synergien suchen, um gegen die ameri-
kanischen Riesen bestehen zu können“,
sagt ein Beteiligter in München.
Großaktionär MFE braucht die Hoff-
nung auf eine umsatzsteigernde und
kostensenkende Kooperation mindes-
tens so dringend wie ProSiebenSat.1.
Das Papier von MFE ist wegen der 2
DEZEMBER 2022 97
 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  PROSIEBENSAT.1
Konjunktursorgen in Italien und
Spanien innerhalb eines Jahres
sogar um mehr als 60 Prozent
abgestürzt.
Allerdings schlägt Wiele und
seinen italienischen Freunden
nicht nur die Skepsis der Inves-
toren entgegen, sondern auch die
der bayerischen Staatskanzlei.
Ministerpräsident Markus Sö-
der (55) macht weiter in populis-
tischer Manier Stimmung gegen
den italienischen Großaktionär.
„Wir Bayern lieben Italien, aber
wir müssen hier auch nicht kom-
plett italienisch werden“, polter-
te unlängst der CSU-Chef.
Mit einem neuen Gesetz hat
er dazu das Werkzeug in der
Hand. Nach dem novellierten
weiß-blauen Mediengesetz kann
seit April die Bayerische Landes-
zentrale für neue Medien (BLM)
bei bestimmten Veränderungen
in der Beteiligungsstruktur harte
Maßnahmen ergreifen. „Droht
eine Beeinträchtigung des soge-
nannten Informationsgefüges –
in quantitativer oder qualitativer
Hinsicht –, kann die BLM nach
dem neuen Bayerischen Medien-
gesetz Maßnahmen ergreifen“,
sagte eine BLM-Sprecherin auf
Anfrage. Dies ist der Fall, wenn
Nachteile für die Meinungsviel-
falt befürchtet werden. Zum
Maßnahmenkatalog gehören
Stimmrechtsbeschränkungen in
Programmfragen, die Begren-
zung des maßgeblichen Einflus-
ses einzelner Gesellschafter bis
hin zum Widerruf der Sendege-
Fotos: Robert Brembeck / Seven.One, Fotogramma / ROPI
nehmigung. Die BLM betreibt
derzeit ein Ermittlungsverfahren
gegen MFE wegen der Erhöhung
des Anteils an ProSiebenSat.1.
Zum Stand des Verfahrens woll-
ten die Rundfunkkontrolleure auf
Anfrage keine Stellung nehmen.
Aus Unterföhring gibt es
prophylaktisch Entwarnung.
„Es ist völlig undenkbar, dass
Persona halb grata:
Berlusconi mit
Italiens Minister­
präsidentin
Giorgia Meloni
98  manager magazin
Here I am:
Andreas Wiele,
glücklicher
Aufsichtsrats­
primus
es zu einer Mehrheitsübernahme
durch MFE kommt, solange Ber-
lusconi politisch aktiv ist“, heißt
es aus dem inneren Kreis. Ein
Übernahmeangebot nach einer
Beteiligung von mehr als 30 Pro-
zent sei ausgeschlossen.
Gescheitert bei RTL
So kann Wieles neuer Front-
mann Habets zumindest in
einem stabilen Machtgefüge im
Aktionariat agieren. Den Auf-
sichtsrat kennt der Niederländer
eh ganz gut. Im Frühjahr war er
in das Gremium eingezogen,
­seine Antrittsrede las sich schon
damals, als fühle er sich zu
­Wirkmächtigerem berufen. „Pro-
SiebenSat.1 kenne ich schon sehr
lange – während meiner Zeit bei
der RTL Group natürlich als
Hauptwettbewerber, den ich mit
Respekt beobachtet und dessen
strategische Ausrichtung ich
­genau analysiert habe.“
Nach nur zwei Sitzun-
gen des Kontrollgremiums ist
Habets in die operative Unter-
nehmensführung gewechselt.
Wiele war schon seit Monaten
klar, dass er einen Neuanfang an
der Spitze von ProSiebenSat.1
braucht. Um die richtige Wahl
unter den drei Kandidaten für
den CEO-Posten zu treffen, holte
sich Wiele Rat bei einem Altmeis-
ter: Gerhard Zeiler (67), frühe-
rer RTL-Chef und Bertelsmann-
Vorstand. Der Österreicher hatte
Habets 2008 zum CEO von RTL
Nederland gemacht. Am Ende ge-
langte er 2017 als Nachfolger von
Anke Schäferkordt (59) bei der
RTL Group ganz nach oben, aber
nur kurze Zeit. Im April 2019
­löste ihn Bertelsmann-Chef Rabe
in Luxemburg als CEO schon
wieder ab, es folgte ein weiterer
Kurzzeiteinsatz als CEO der
­g riechischen Antenna Group des
Medienunternehmers Theodore
Wettrennen
Zuschauer- Kyriakou (48).
marktanteile1 Wiele lobt Habets intern als
im Oktober 2022, „wirklichen Experten in der
in Prozent Branche“ und verweist auf das
Sendergruppe: von Habets aufgebaute Strea-
ProSiebenSat.1 mingportal Videoland, nach Net-
RTL
ÖRR
flix die Nummer zwei in den Nie-
derlanden. Mit dieser Empfehlung
RTL 10,0
soll er auch das konzerneigene
ProSieben 8,1 TV-Videoportal Joyn retten und
bis 2024 in die Gewinnzone hie-
Das Erste 7,5 ven. Wiele lässt intern trotz ho-
her Verluste trotzig verbreiten,
Vox 7,2
Joyn sei „die digitale Zukunft
Sat.1 7,0 unseres Kerngeschäfts“.
Manche früheren Kollegen bei
Bertelsmann wollen nicht in die
Berg- und Lobeshymne auf Habets einstim-
Talfahrt men. „Er ist ein Schönwetter-
Entwicklung der CEO“, sagt ein früherer RTL-Kol-
Nettoumsätze lege. „Ein Verzauberer und
mit TV-Werbung,
in Mrd. Euro
Geschichtenerzähler ohne Ende“,
ätzt ein Insider der Luxemburger
5 RTL Group. „Mit seiner leisen,
sehr freundlichen und zuge-
4
wandten Art verkauft er alles.“
3 Obwohl: Für ein Geschäfts-
1998 20222 modell, das künftig vor allem
Werbeplätze verkaufen soll, viel-
1 | Altersgruppe der
14- bis 49-Jährigen;
leicht wirklich nicht die schlech-
2 | Prognose. teste Voraussetzung.
Quelle: DWDL
Grafik: manager magazin 1 Hans-Peter Siebenhaar
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 UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  HALL OF FAME DER DEUTSCHEN FORSCHUNG

Innovationen
für die Zukunft
Im Kampf gegen Krebs und Hackerangriffe: Die Preis-
träger der Hall of Fame der deutschen Forschung.

S
ie stehen für akademische Zugleich wurden zwei Curious- Im Jahr 2009 wurde die Hall of
Exzellenz, Teamgeist Mind-Preise verliehen: In der Kate- Fame der deutschen Forschung vom
Fotos: Thomas Imo / photothek / picture alliance, Bernd Hartung, ULMER Pressebildagentur / imago images, S.Brauer / BrauerPhotos,

und das Gespür für
zukunftsträchtige For-
schungsthemen: Bei einem
Festakt in der „Villa 102“
der Kf W-Bank im Frank-
furter Westend wurden
zwei neue Laureaten in die Hall of
Fame der deutschen Forschung be-
rufen.
Die Münchener Informatikpro-
fessorin Claudia Eckert (63) ist eine
Zentralfigur im Kampf gegen Cyber-
Pablo Castagnola / dpa / picture alliance, Kai Pfaffenbach / REUTERS, Sarah Chambon, PR
gorie „Life Sciences“ wurde die
Tübinger Ärztin Judith Feucht (38)
für ihre Forschungen zu neuen
Krebstherapien geehrt. In der
Kategorie „Digitalisierung und
Robotik“ erhielt Angela Schoellig
(39), Professorin aus München,
den Preis für ihre Entwicklungen,
die künstliche Intelligenz in selbst-
lernende Systeme wie etwa autonom
fahrende Autos integrieren.
Die Curious-Mind-Awards sind
manager magazin ins Leben ge-
rufen. Sie ehrt Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftler, die
durch ihre Lebensleistung nicht nur
den Forschungsstandort Deutsch-
land maßgeblich vorangebracht,
sondern auch den Wirtschafts-
standort zukunftsfähiger gemacht
haben.
Zu den inzwischen 29 Laureatin-
nen und Laureaten zählen etwa
Emmanuelle Charpentier, Che-

kriminalität, die Wirtschaft wie
Politik berät. Der Düsseldorfer Bio-
physikprofessor Detlev Riesner (81)
hat zusammen mit drei Doktoran-
den in den 1980er Jahren die Firma
Qiagen gegründet, bis heute das ein-
zige Biotechunternehmen im Dax.
mit jeweils 10.000 Euro dotiert und
werden an erfolgreiche Forscherin-
nen und Forscher unter 40 Jahren
verliehen. Sponsor der Preisverlei-
hung ist der Merck-Konzern,
CEO Belén Garijo ist Mitglied der
Jury.
mie-Nobelpreisträgerin des Jahres
2020, August-Wilhelm Scheer,
Professor für Wirtschaftsinformatik
und Gründer der Scheer Group,
sowie Karlheinz Brandenburg, Er-
finder des Datenkompressionspro-
gramms MP3.

DIE JURY DER HALL OF FAME DER DEUTSCHEN FORSCHUNG

Roland Belén Garijo Ingmar Lars Sabina Peter Markus Simone Salden
Busch Sprecherin der Hoerr Hinrichs Jeschke Leibinger Schäfer Stell­
Vorstandsvor­ Geschäfts­ Mitgründer Geschäfts­ Senior Advisor Stell­ Vorstand für vertretende
sitzender leitung und Curevac führer Cinco Deloitte vertretender Technik, Chef­
von Siemens CEO von Merck Capital Vorsitzender Entwicklung & redakteurin
der Geschäfts­ Einkauf manager
führung und Mercedes-Benz magazin
CTO Trumpf Group

100  DEZEMBER 2022 manager magazin

 Curious-Mind-Preisträgerin aus Tübingen:
Medizinerin Judith Feucht

Die Geehrten und die Gastgeber

(v. l. n. r.): Detlev Riesner, Laureat Hall of Fame der
deutschen Forschung, Angela Schoellig,
Curious-Mind-Preisträgerin, Merck-CEO Belén Garijo,
Claudia Eckert, Laureatin Hall of
Fame der deutschen Forschung,
mm-Redakteur Michael Kröher
und mm-Geschäftsführerin
Jennifer Lachman HALL OF FAME
DER DEUTSCHEN
FORSCHUNG
2022

Matthias May, Curious-Mind-Preisträger 2021,

Jochen Maas, Forschungschef Sanofi Deutsch- Uwe Clausen, Direktor am Fraunhofer-Institut
land und Curious-Mind-Jurymitglied, im für Materialfluss und Logistik
Gespräch mit Peter Leibinger von Trumpf und Kurator der Forscher Hall of Fame

Thierry Bernard, CEO Qiagen SE,

Laureat Detlev Riesner mit Ehefrau Strahlende Preisträgerin:
Hannelore Riesner, Michael Kröher (v. l. n. r.) IT-Expertin Claudia Eckert KfW-Vorständin Melanie Kehr

Fotos: Thomas Pirot für manager magazin

Ausgezeichneter Forscher und Gründer: Festlicher Rahmen: Das Violin-Duo „The Twiolins“
Biophysiker Detlev Riesner bei der Preisverleihung in der historischen „Villa 102“
UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  HALL OF FAME DER DEUTSCHEN FORSCHUNG

A
uf dem Prüfstand des
Fraunhofer-Instituts für
Angewandte und Integ-
rierte Sicherheit (Aisec)
steht ein Mittelklassemo-
dell eines großen deut-
schen Autokonzerns. Aus
den geöffneten Türen hän-
gen Kabelbäume, im Fahrzeuginne-
ren hantieren Forscherinnen und
Forscher mit Laptops, Sensoren und
Kabeln. Sie simulieren immer neue
Verkehrssituationen für die Fahr-
werksteuerung, das Lichtsystem, die
Navigation. „Erwähnen Sie bloß
nicht, für welche Marke wir hier ge-
rade arbeiten“, stellt Claudia Eckert
(63), Institutsgründerin und Haus-
herrin, sicher und erklärt: „Unsere
Auftraggeber schätzen nicht nur
unsere Diskretion, sie sind darauf
angewiesen. Jede Information, dass
sie ihre IT-Sicherheit verbessern las-
sen, kann an der Börse Milliarden
kosten.“
Dabei müsste es eigentlich genau
andersherum sein: Jede Investition
in IT-Sicherheit müsste den Aktien-
kurs des Auftraggebers deutlich ver-
bessern. Schließlich wird IT immer
komplexer und bietet daher immer
mehr Einfallstore für Übeltäter.
Doch dagegen entwickeln Claudia
Eckert und ihre Teams seit Jahren
erfolgreiche Abwehrmaßnahmen.
Das Ergebnis: Die meisten europäi-
schen Autokonzerne und große Zu-
lieferer wie Bosch oder ZF nutzen
die Forschungs- und Entwicklungs-
angebote des Aisec. Hinzu kommen
Kunden aus allen möglichen anderen
Branchen, aus Verwaltung und Poli-
tik, Banken und Versicherungen, Be-
hörden und Militär – überall versu-
chen Eckerts Leute, die Sicherheit
der IT-Systeme und Datensätze
hochzufahren.
Mehr als 100 Beschäftigte arbei-
ten inzwischen für Eckerts Institut
auf dem Forschungscampus in Gar-
ching bei München. Eckert hat ihnen
eingeimpft, was sie antreiben soll:
„Den Hackern und ihren Hinter-
männern immer mindestens einen
Schritt voraus zu sein.“
Und das ist dringend nötig. Denn
„die Bedrohungslage im Cyberraum
ist angespannt, dynamisch und viel-
fältig und damit so hoch wie nie“,
sagt Gerhard Schabhüser (61) Vize-
präsident des Bundesamts für Si-
cherheit in der Informationstechnik
(BSI). Allein für deutsche Unterneh-
men taxiert der IT-Branchenver-
band Bitkom im Jahr 2021 einen
Schaden durch Cyberkriminalität in
Höhe von 223 Milliarden Euro.
Weil Claudia Eckert mit ihren
Forschungen und Entwicklungen
die IT-Sicherheit seit mehr als 20
Jahren immer weiter voranbringt,
hat sie die Jury in diesem Jahr in die
Hall of Fame der deutschen For-
schung berufen.
Mit digitalen Technologien kam
Claudia Eckert schon in ihrem El-
ternhaus in Kontakt – ihr Vater,
eigentlich ein Vermessungsinge-
nieur, programmierte beim deut-
schen IBM-Zweig Rechner. So stu-
dierte Eckert in Bonn Informatik, in
den späten 70ern noch ein recht
exotisches Fach.
Nach dem Studium wechselte sie
für die Promotion an die TU Mün-
chen. Noch vor der Habilitation
konnte sich Eckert bei einer Vertre-
tungsprofessur an der benachbarten
Ludwig-Maximilians-Uni als Hoch-
schullehrerin beweisen. Der erste
Ruf auf eine Professur kam im Jahr
2000 an die Uni Bremen, nicht
schlecht, aber auch nicht ideal für
die ambitionierte Entwicklerin. Also
zog sie schon im Jahr darauf weiter
an die TU Darmstadt.
Dort übernahm sie, parallel zur
universitären Karriere, den Posten
der Direktorin am Fraunhofer-Insti-
tut für Sichere Informationstechno-
logie (SIT). Eckert gab kräftig Gas
und konnte, wie Eckerts Darmstäd-
ter Weggefährte Johannes Buch-
mann attestiert, „die IT-Sicherheit
zu einem zentralen Faktor für den

Die Abwehrchefin
Claudia Eckert ist Deutschlands kundigste Expertin
für Cybersecurity. Davon profitieren Unternehmen und
auch die Politik. Sie können gar nicht anders:
Die Wissenschaftlerin redet gern Klartext.

102  DEZEMBER 2022 manager magazin

 akademischen Standort HALL OF FAME
Darmstadt“ ausbauen. DER DEUTSCHEN
Super-GAU abwehren
FORSCHUNG
Mit dieser Erfahrung 2022
auch im Wissenschafts-
management wechselte
Claudia Eckert im Jahr 2008 zu-
rück an die TU München und baute
dort ein neues Fraunhofer-Institut
auf, das nun in Bayern auf ähn-
liche Weise für IT-Sicherheit sorgt
wie das SIT im hessischen Darm-
stadt: das heutige Aisec. Dort
kümmern sich inzwischen sieben
Forschungsabteilungen um Hard-
ware und Software, um Kryptogra-
fie und um den Datenschutz.
Besonderes Augenmerk liegt der-
zeit auf den Auswirkungen künstli-
cher Intelligenz. Denn ein subtiler
Hackerangriff auf das Schweißpro-
gramm eines Industrieroboters
könnte etwa dazu führen, dass eine
Schweißnaht absichtlich fehlerhaft
ausgeführt wird. Danach könnte die
Naht zwar die optischen Kontrollen
bestehen, in der Praxis jedoch
schnell brechen – was fatale Folgen
hätte, wäre der Roboter etwa in der
Automobilproduktion eingesetzt.
Könnten Hacker die aufwendigen
Systeme knacken, die derzeit für
das autonome Fahren entwickelt
werden, „dann wäre das der Super-
Gau für die individuelle Mobilität“,
sagt Eckert. Laureatin des Jahres 2022: Claudia Eckert
Neben Problemen aus der Indus-
trie widmet sich das Aisec aber auch als würde man die Aufzeichnung IT-Sicherheit wie in deren Praxis:
Manipulationen, die gesellschaftli- einer Originalrede der Altkanzlerin „Wir müssen resilienter werden
chen Schaden anrichten – etwa den im Bundestag verfolgen, die in dem gegen digitale Angriffe.“ Insbeson-
sogenannten Deepfakes. Mit raffi- kurzen Film dann mit weiteren Rei- dere in der aktuellen Situation eines
nierten Eingriffen an Bild und Ton men Goethes „Erlkönig“-Gedicht ad Krieges in Europa „dürfen wir nie-
von Videodateien versuchen Trolle absurdum führt. mandem vertrauen, niemals!“
und Medienkriminelle, unter ande- „Nicht nur die Wirtschaft, auch Claudia Eckert verleiht ihren
rem Ansprachen von Politikerinnen das öffentliche Leben, das Gesund- Forderungen Nachdruck auch im
Foto: Daniel Delang für manager magazin

und Politikern zu manipulieren und
damit falsche politische Aussagen
zu verbreiten.
Die Forscherinnen und Forscher
am Aisec haben das in einem Expe-
riment simuliert: „Wer hamstert so
spät bei Nacht und Wind? Es ist der
Deutsche, der wieder spinnt“,
spricht zum Beispiel Angela Merkel.
Der kurze Clip wirkt so authentisch,
heitswesen, Medien und Politik sind
durchdrungen von digitalen Syste-
men“, sagt Claudia Eckert, „Ge-
fahren durch kriminellen Miss-
brauch dieser Systeme lauern daher
überall.“ Die Forscherin fordert
deshalb ein Programm für „digitale
Souveränität“ und einen raschen
Paradigmenwechsel sowohl in der
generellen Haltung zu Fragen der
größeren Rahmen, indem sie nicht
nur Unternehmen, sondern auch
Branchenverbände und die Politik
berät, etwa im Rahmen der High-
techstrategie der Bundesregierung.
Außerdem engagiert sie sich nach
wie vor in der akademischen Lehre:
Aktuell betreut Claudia Eckert 40
Doktorandinnen und Doktoranden.
1 Michael O. R. Kröher

manager magazin DEZEMBER 2022 103

UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Hall of Fame der deutschen Forschung

Der Forscher als Gründer

Detlev Riesner ist ein gefeierter Biophysikprofessor
und Serien-Unternehmer. Sein größter Coup:
Die Gründung von Qiagen – dem einzigen
Biotechunternehmen, das im Dax notiert. Bis heute ist er
als Business-Angel aktiv.

D
etlev Riesner (81) kann
sich ganz sicher sein, dass
er zu den Honoratioren sei-
ner Hochschule zählt. Der
offensichtlichste Beleg: Im
Sommer 2018 wurde das
asymmetrische, in der
Form eines X-Chromosoms
konstruierte Riesner Building auf
dem Campus der Düsseldorfer Hein-
rich-Heine-Universität eingeweiht
und nach ihm benannt – über 8200
Quadratmeter voller Labors, Büros
und Seminarräume für biomedizini-
sche Forschergruppen, darunter ein
Exzellenzcluster. Baukosten: rund
38 Millionen Euro.
Tatsächlich verdankt die Uni
Düsseldorf dem seit 2006 emeritier-
ten Riesner noch weit mehr als das
Drittel der Baukosten, die der Ordi-
narius für Biophysik aus eigener Ta-
sche beisteuerte. Riesner ist nicht
nur ein ausgezeichneter Forschungs-
pionier. Er war und ist auch eine zen-
trale Figur der deutschen Biotech-
branche, etwa als Mitgründer von
Qiagen im benachbarten Hilden –
inzwischen ein Dax-Wert. Nach wie
vor sitzt Riesner in zahlreichen Bei-
und Aufsichtsräten, verknüpft die
akademische mit der Businesswelt,
oft auch zum Vorteil seiner Alma
Mater.
Für seine Leistungen in dieser
Doppelrolle – hier der exzellente
Forscher, dort der erfolgreiche
Unternehmensgründer und Busi-
ness-Angel – wurde Detlev Riesner
jetzt in die Hall of Fame der deut-
schen Forschung berufen.
Der Laureat wurde mitten im
Zweiten Weltkrieg in Stettin gebo-
ren, das heute zu Polen gehört. Die
Familie flüchtete ins Ruhrgebiet, in
Hannover studierte Riesner dann in
den 60er Jahren Physik und im
Nebenfach Biophysik. Für seine Pro-
motion suchte er sich einen beson-
deren Doktorvater: Manfred Eigen,
der in Göttingen gerade die Grund-
lagenforschung aller Naturwissen-
schaften an einem Max-Planck-Ins-
titut bündelte, im Jahr 1967 mit dem
Nobelpreis für Chemie ausgezeich-
net (und im Jahr 2010 in die Hall of
Fame der deutschen Forschung be-
rufen) wurde.
Mit dem Rückenwind einer exzel-
lenten Dissertation absolvierte Det-
lev Riesner Forschungsaufenthalte
in weiteren renommierten Labors,
etwa im amerikanischen Princeton,
und wurde 1977 an die TU Darm-
stadt auf seine erste Professur be-
rufen. Dort gehörten Metin Colpan
und Jürgen Schumacher zu seinen
Doktoranden, die ihn, wie Post-Dok-
torand Karsten Henco, zu seiner
nächsten Station nach Düsseldorf
begleiteten – zum Vorteil aller Be-
teiligten.
Schon in Darmstadt hatten die
vier erste Ideen zusammengetragen,
um ein damals höchst aufwendiges
Laborverfahren radikal zu verein-
fachen und dies dann zum Funda-
ment für ein Unternehmen zu ma-
chen. Zu Beginn der 80er Jahre war
es noch äußerst schwierig, das Erb-
gut aus DNA oder RNA, Program-
mier- und Steuermaterial für den
Stoffwechsel, aus den vielen tausend
Substanzen herauszufiltern, die bio-
logische Zellen enthalten: Proteine,
Lipide, Zucker und etliche weitere
Kohlehydrate, Salze, Säuren, Basen,
Bausteine und Abbauprodukte. Will
man jedoch die Funktionsweise
einer Zelle entschlüsseln und verän-
dern, etwa in der Biotechnologie, so
muss man diese sogenannten Ribo-
nukleinsäuren analysieren und
später in der richtigen Form neu
synthetisieren können. Hierzu müs-
sen sie in möglichst reiner Form vor-
liegen.
Bei ihren Studien in Düsseldorf
zu Aufbau und Struktur der Viroide
– winziger Krankheitserreger bei
Pflanzen – fanden die vier Biophy-
siker den Kniff, mit dem sich die we-
nigen Milligramm RNA und DNA
aus kiloschweren Proben binden und
isolieren ließen. Sie entwickelten ein
Laborset, das auch Studierende und
Assistenten mit wenig Übung bedie-
nen konnten und das, je nach An-
satz, die DNA oder RNA des Aus-
gangsmaterials rein lieferte – und
damit ideal für weitere Analysen.

104  DEZEMBER 2022 manager magazin


Colpan, Schumacher und Henco
waren die Virtuosen und Tüftler
an der Laborbank. Riesner hingegen
übernahm die Rolle, die ausufern-
den Experimente der Jungfor-
scher so zu kanalisieren, dass sich
daraus Patente, ein Geschäftsmodell
und ein Businessplan entwickeln,
Geldgeber und Produktionsstätten
finden ließen.“ Es dauerte eine Wei-
le, bis sich die unterschiedlichen
Temperamente aufeinander einge-
spielt hatten“, erinnert sich der
Emeritus. „Aber am Ende waren
wir ein schlagkräftiges Team mit
einer einzigartigen Technologie im
Angebot.“
Laureat des Jahres 2022: Detlev Riesner
manager magazin
Hall of Fame der deutschen Forschung  UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT
Partner eines Nobelpreisträgers
Riesner organisierte einen Kredit
über zehn Millionen Mark von der
Stadtsparkasse Düsseldorf – und im
Jahr 1984 gründeten die vier Wis-
senschaftler in der Nachbargemein-
de Hilden die Firma Diagen, die sich
später in Qiagen umbenannte. Der
dann folgende Aufstieg ist legendär:
Mit Colpan als Vorstandsvorsitzen-
den ging das Unternehmen im Jahr
1996 als erstes aus der deutschen
Biotechbranche an die Börse. Heute
hat es über 6000 Mitarbeiter
in 25 Ländern und setzte
zuletzt rund zwei Milliar-
den Euro um. Ein Welt- HALL OF FAME
DER DEUTSCHEN
FORSCHUNG
2022
marktführer: Fast jedes Laborset,
mit dem RNA oder DNA aus biologi-
schen Material gewonnen und auf-
gereinigt wird, basiert auf Qiagen-
Technologien.
Trotz aller kommerziellen Erfol-
ge blieb Detlev Riesner der akademi-
schen Welt stets treu. Schon 1985,
gleich nach der Qiagen-Gründung,
reiste er für einen Forschungsauf-
enthalt zu Stanley Prusiner an die
University of California in San Fran-
cisco, der ebenfalls an winzigen,
subzellularen Krankheitserre-
gern forschte. Prusiner
untersuchte Prionen: in-
fektiöse Proteine, die,
wie sich herausstellte,
beim Menschen die
tödliche Creutzfeld-Ja-
kob-Krankheit, bei Rin-
dern die Gehirnerwei-
chung BSE auslösen. Für
ihre Zusammenarbeit erhielten
Prusiner und Riesner 1992 den re-
nommierten Max-Planck-For-
schungspreis des Jahres 1992; für
seine Erkenntnisse über Prionen
wurde Stanley Prusiner im Jahr 1997
der Medizin-Nobelpreis zuge-
sprochen.
Auch wenn er „niemals wegen
eines Unternehmenstermins eine
Vorlesung sausen ließ“, engagierte
sich Detlev Riesner bei weiteren Bio-
techfirmen: Zusammen mit seinem
Doktorvater Manfred Eigen, seinem
Schüler Karsten Henco und einigen
Ärzten und Wissenschaftlern grün-
dete er 1993 in Hamburg die Firma
Evotec, die 1999 an die Börse ging.
Später bündelte er seine Aktivitäten
als Business-Angel in einer Stiftung.
Seine jüngste Beteiligung Pria-
void entwickelt vollkommen neu-
artige Wirkstoffe gegen Alzheimer,
Foto: Thomas Victor für manager magazin
Parkinson und andere neurodegene-
rative Erkrankungen. „Wenn sich
das Unternehmen wie erhofft ent-
wickelt, könnte es zu einem zweiten
Qiagen werden“, sagt Detlev Ries-
ner. Immerhin: Die Bundesagentur
für Sprunginnovationen (Sprind)
fördert die Projekte in zweistelliger
Millionenhöhe.
1 Michael O. R. Kröher
DEZEMBER 2022 105
UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Hall of Fame der deutschen Forschung
D
er Blick durchs Mik-
roskop zeigt dunkle,
eng aneinanderge-
drängte Punkte, die
in ihrer warmen
Nährflüssigkeit leicht
vibrieren. Judith
Feucht (38) ist zu-
frieden: „Die genetisch verän-
derten Immunzellen unseres
jungen Patienten haben sich
prächtig vermehrt“, konsta-
tiert die Ärztin. „Wenn die
Kolonie jetzt noch ein paar
Tage so weiter wächst, können
wir sie wieder zurückinjizie-
ren und damit den Krebs be-
kämpfen“.
Judith Feucht leitet eine
Nachwuchsforschergruppe am
Exzellenzcluster für Tumor-
therapien der Universitätskin-
derklinik in Tübingen. Ihr
Spezialgebiet ist der Einsatz
von sogenannten T-Zellen des
Immunsystems, die genetisch
so verändert wurden, dass sie
bösartige Zellen erkennen
können. Auf der Kinderonko-
logiestation wird die innovati-
ve Behandlungsmethode an
schwerkranken Patientinnen
und Patienten angewandt, die
meisten von ihnen leiden an
Leukämie.
Die Immun-Therapeutin
Die Ärztin Judith Feucht entwickelt
neue Behandlungsmethoden gegen Krebs – vor allem
gegen Leukämie bei Kindern.
106  DEZEMBER 2022
Üblicherweise tarnen sich versprechend und wird des-
Krebszellen so, dass sie vom
DIE JURY halb auf der ganzen Welt er-
Belén Garijo
Immunsystem nicht angegrif- Vorsitzende der
forscht, von Spezialistinnen
fen werden, ungehindert Geschäftsleitung und Spezialisten an immer
wachsen und sich im Körper und CEO von mehr Patienten weiterentwi-
ausbreiten können. Judith Merck ckelt und erprobt. Judith
Feucht und ihr Team greifen Rafael Laguna Feucht hat dazu seit 2015 drei
nun gezielt in das Erbgut von de la Vera wegweisende Artikel in inter-
speziellen T-Zellen ein, die zu- Gründungs­ national hoch angesehenen
vor aus Blutproben der er- direktor der Fachjournalen veröffentlicht,
Bundesagentur
krankten Kinder aufwendig für Sprung­ die Wissenschaftlerin hält
herausgefiltert wurden. Das innovationen drei Patente für verschiedene
Ziel: Die genetisch veränder- Jochen Maas Schritte in der Methode und
ten Zellen können spezielle Geschäftsführer erhielt im Jahr 2020 vom
Moleküle auf der Oberfläche Sanofi Europäischen Forschungsrat
der entarteten Zellen erken- Deutschland (ERC) ein Stipendium in Höhe
nen und, zurück im Körper Bernd von 1,8 Millionen Euro. Nun
des Patienten, sich bei diesen Müller-Röber hat ihr die Jury dafür den dies-
Präsident
anheften. Dann senden sie jährigen Curious-Mind-Award
des Verbands
Alarmsignale an die übrige Biologie, in der Kategorie Life Sciences
körpereigene Abwehr aus. Bio-Wissen­ zugesprochen.
Mit diesen eindeutigen Bot- schaften und Feucht ist außerordentlich
schaften kann der Organis- Biomedizin zielstrebig. Ihr Berufswunsch
mus damit beginnen, die töd- Simone Salden stand früh fest, nach dem
liche Krankheit selbst zu Stellvertretende Abitur schrieb sie sich für Me-
bekämpfen. Chefredakteurin dizin an der Universität Tü-
manager magazin
Die Therapie mit den soge- bingen ein. Schon als Studen-
Otmar Wiestler
nannten CAR-T-Zellen (CAR = Präsident tin zog es sie in die Ferne, um
chimäre Antigenrezeptoren) Helmholtz-­ vielfältige Erfahrungen zu
ist noch recht neu, nicht ein- Gemeinschaft sammeln und über den Teller-
mal eine Handvoll Verfahren Holger Zinke rand zu blicken: Sie absolvier-
hat in Deutschland eine Gründer Brain te Auslandsfamulaturen auf
offizielle Zulassung gegen spe- Biotech der französischen Insel La
zielle Leukämieformen. Die Réunion, im australischen
Methode gilt jedoch als viel- Sydney und im zentralafrika-
manager magazin
 nischen Gabun. Nach
ihrer Promotion und
CURIOUS
vier Jahren ärztlicher MIND AWARD
Weiterbildung in der 2022
Kinderheilkunde wech-
selte sie im Jahr 2015 ans
Zentrum für Zellenginee-
ring des international renom-
mierten Memorial Sloan Kettering
Cancer Center in New York City.
Dort arbeitete Feucht im Team von
Michel Sadelain, einem Pionier für
Immunzelltherapien und Mit-Erfin-
der der zielgerichteten Gen-Verän-
derung von T-Zellen. Damals lernte
Feucht eine Arbeitsweise kennen,
die sie bis heute prägt: Die Hälfte
der Arbeitszeit verbrachte sie bei
ihren Experimenten im Labor, die
andere bei ihren Patientinnen und
Patienten in der Klinik. „Beide Be-
reiche beflügeln sich gegenseitig“,
sagt die junge Forscherin über die-
ses „translationale“ Arbeiten, das
wissenschaftliche Ansätze in die
klinische Praxis übersetzt – und
umgekehrt. Sie ist überzeugt davon,
dass sich dadurch ganz neue Syn-
ergien ergeben: „Durch den ständi-
gen Wechsel weitet sich der Blick auf
das breite Problemfeld der Krebs-
therapien.“

Mal am Krankenbett, mal im Labor

Nach ihrer Rückkehr im Jahr 2020
konnte Judith Feucht dieses zwei-
gleisige Arbeiten in ihrer For-
schungsgruppe an der Uniklinik
Tübingen fortsetzen: Eine Woche
lang betreut sie als Ärztin die Kinder
auf den Stationen, übernimmt
Nacht- und Wochenenddienste. In
der nächsten Woche forscht sie mit
ihren Doktorandinnen und Post-
Docs im Labor an neuen Verfahren
der Zelltherapie. Dafür setzt sie seit
Krebsbekämpferin: Judith Feucht
mehr nur mit leukämiekranken Kin-
dern, sondern auch mit erwachse-
nen Patientinnen und Patienten. In
einem nächsten Projekt wollen sie
die neuen Zelltherapien auch gegen
solide Tumore einsetzen, etwa im
Gehirn oder im Darm, sowie gegen
nicht bösartige Erkrankungen.
und die Zellzucht aus dem For-
schungslabor in biomedizinische
Unternehmen sein. Bisher muss
Feuchts Team die CAR-T-Zellen für
jede Patientin und jeden Patienten
von Hand kultivieren. Spezialisierte
Firmen könnten dies automatisieren
und damit die Kosten deutlich sen-
Foto: Verena Müller für manager magazin

Neuestem auch die „Crispr“ ge-
nannte, chirurgisch präzise Gen-
schere ein, für die Emmanuelle
Charpentier im Jahr 2020 zunächst
in die Hall of Fame der deutschen
Forschung berufen und wenig später
mit dem Chemie-Nobelpreis ausge-
zeichnet wurde.
Inzwischen arbeiten Judith
Feucht und ihr Team jedoch nicht
Erste Studien haben gezeigt, dass
CAR-T-Zellen auch gegen eine Form
der Leberentzündung eingesetzt
werden könnten, die nicht mit
Alkoholkonsum zusammenhängt
und als häufigste Vorstufe von Le-
berkrebs gilt.
Der wichtigste Schritt, sagt Ju-
dith Feucht, wird jedoch das Verla-
gern der genetischen Veränderung
ken, die derzeit pro Patient noch
mehrere Hunderttausend Euro be-
tragen. Feucht erklärt, das wäre
technisch möglich, auch wenn es
weiterhin individuelle Therapien mit
den körpereigenen Zellen der
Kranken sind.
Für diese Methoden plant die
Forscherin, weitere Patente anzu-
melden. 1 Michael O. R. Kröher

manager magazin DEZEMBER 2022 107

UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT  Seitentitel
HALL OF FAME DER DEUTSCHEN FORSCHUNG
Die Roboter-Trainerin
Angela Schoellig macht Roboter schlauer,
lässt Autos selbst fahren und
Drohnen allein ihren Weg finden.
D
as Versuchsfeld wirkt
wie ein Schachbrett
für Riesen. Die Felder
sind mit geometri-
schen Zeichen mar-
kiert: Kreise, Balken,
Dreiecke, Quadrate.
Dazwischen gibt es
ein gutes halbes Dutzend ver-
schieden hoher Hindernisse:
vertikale Pfosten, quadra-
tische Tore auf Stelzen. Die
Drohne, gestartet vom
Schachfeld unten rechts, muss
sich in dem Experiment im-
mer wieder allein zurechtfin-
den, die Pfeiler umrunden, die
Tore durchqueren. Orientie-
rung geben nur die farblich
unterschiedlichen geometri-
schen Zeichen auf den Fel-
dern. Dennoch findet das
Fluggerät mit den vier Rotoren
ohne Hilfe von außen immer
neue Wege durch das dreidi-
mensionale Labyrinth, gelenkt
nur von seinen Bordkameras
und der stetig lernenden Soft-
ware in seinem Bordrechner.
Studierende von Angela
Schoellig haben die Steue-
rung mit neuen Methoden der
künstlichen Intelligenz pro-
grammiert. „Wir wollen mobi-
le Maschinen dazu bringen,
sich völlig autonom zu orien-
tieren, auch ohne GPS-Daten“,
108  DEZEMBER 2022
sagt die Professorin für Si-
cherheit, Performanz und Zu-
verlässigkeit lernender Syste-
me an der TU München. Außer
mit Drohnen, ihren Lieblings-
objekten, experimentiert
Schoellig auch mit Autos so-
wie mit Service- und Indust-
rierobotern. Den jährlichen
Wettbewerb für autonome
Fahrzeuge der amerikani-
schen Ingenieursvereinigung
SAE haben ihre Teams vier-
mal hintereinander gewon-
nen, zuletzt in diesem Früh-
jahr. Nun hat die Jury Angela
Schoellig mit dem Curious-
Mind-Award des Jahres 2022
in der Kategorie Digitalisie-
rung und Robotik ausge-
zeichnet.
Die akademische Karriere
der heute 39-Jährigen gleicht
einer steilen Kurve, die früh
nach oben zeigte: Schon als
Schülerin besuchte sie Univor-
lesungen in Mathematik, nach
dem Abitur schrieb sie sich
dann für Technische Kyberne-
tik an der Universität Stutt-
gart ein. Ihr gefiel die theore-
tische Ausrichtung dieses
Ingenieurfachs, ihr Diplom
schloss Angela Schoellig mit
der Note 1,0 ab. Dank eines
Auslandsstipendiums konnte
sie den Titel gleich mit einem
DIE JURY Master in Maschinenbau vom
Ulrich Dietz Georgia Institute of Techno-
Vorsitzender logy in Atlanta ergänzen. Zur
Verwaltungsrat Promotion in Robotik ging sie
GFT an die ETH nach Zürich, wo
Belén Garijo ihre Dissertation gleich zwei
Vorsitzende der
Geschäfts-
akademische Preise erhielt. Im
leitung und CEO Jahr 2013 wechselte sie für
von Merck ihre erste Professur von der
Rafael Laguna Schweiz ans Institut für Luft-
de la Vera und Raumfahrt der Universi-
Gründungs­ tät Toronto, nach ein paar
direktor der Jahren kam eine zweite Pro-
Bundesagentur fessur am dortigen Institut für
für Sprung­
innovationen künstliche Intelligenz hinzu.
Simone Salden Im Jahr 2017 erhielt sie ein
Stellvertretende hoch angesehenes Sloan-For-
Chefredakteurin schungsstipendium, im selben
manager magazin Jahr listete sie die Zeitschrift
Stefan Sigg „Technology Review“ des
Vorstand Massachusetts Institute of
Software AG Technology (MIT) als eine der
Otmar Wiestler „35 innovativsten Forscherin-
Präsident der
Helmholtz-Ge-
nen und Forscher unter 35“.
meinschaft Seit diesem Wintersemes-
Miriam ter forscht und lehrt Angela
Wohlfahrt Schoellig nun in München, ge-
Geschäftsführe- fördert mit fünf Millionen
rin Banxware Euro von der Alexander-von-
Humboldt-Stiftung, dem
höchstdotierten deutschen
Forschungspreis.
In ihrer neuen bayerischen
Heimat wird sich Schoellig vor
allem mit Lernalgorithmen
für marktgängige Roboter be-
fassen, also mit künstlicher
manager magazin

Intelligenz in Stahlkolossen, die in
Fabrikhallen schweißen, schrauben,
kleben oder montieren. Darüber hi-
naus beschäftigt sie sich mit Ser-
vicerobotern, wie sie in Lagerhäu-
sern, aber auch in Pflegeheimen oder
in Bibliotheken eingesetzt werden
sollen. Die müssen noch viel von
dem lernen, was ihren menschlichen
Vorbildern selbstverständlich ist.
Roboter müssen noch viel lernen
Angela Schoellig erklärt die Komple-
xität im Roboterrechner: „Die Ma-
schinen müssen in jeder Umgebung
sofort erkennen: was ist ein Tisch,
was ist ein Stuhl. Auch wenn sie zu-
Drohnen-Dompteurin: Angela Schoellig will Flugrobotern noch viel beibringen
manager magazin
HALL OF FAME DER DEUTSCHEN FORSCHUNG   UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT
vor noch nie den entsprechenden
Raum betreten und noch nie einen
roten Stuhl neben einem weißen
Tisch gesehen haben.“ Vor allem,
wie und mit welcher Intensität ein
Roboter einen Gegenstand ergreifen
müsse, ist für die Maschine im
wahrsten Sinne des Wortes schwer
zu begreifen. „Wenn der Roboter
den Befehl erhält: ,Räume das Zim-
mer auf!‘ Dann muss er wissen, dass
er eine Tasse grundsätzlich aufrecht
halten muss – sie könnte ja noch ge-
füllt sein“, so Schoellig. Mit
einem Stück Papier hin-
gegen könnte er beliebig
verfahren.
CURIOUS
MIND AWARD
2022
In Kanada, wo Angela Schoellig
fast zehn Jahre lang Hochschulleh-
rerin war, hat die Robotikprofesso-
rin viel Erfahrung mit Aufträgen aus
der Industrie gesammelt. Mit dem
Unternehmen Clearpath Robotics
hat sie zum Beispiel Logistikroboter
entwickelt, die Firma Drone Delive-
ry Canada hat ihre Experimente mit
den autonomen Drohnen gespon-
sert. Für die Ontario Power Genera-
tion hat sie selbst lernende Helfer
zum Abbau von Atomkraftwerken
entwickelt. In Deutschland
sucht sie jetzt nach ähnli-
chen Kooperationen,
etwa mit dem Zentrum
für künstliche Intelli-
genz von Bosch oder
für ähnlich große Zulie-
ferer der Automobil-
industrie.
Am meisten motiviere sie
„die Weiterentwicklung von
autonom lernenden Embedded Sys-
tems“, was die industrielle Automa-
tisation enorm beschleunigen könn-
te, sagt Angela Schoellig. Zugleich
will sie aber auch weiterhin das
autonome Fahren im Straßenver-
kehr voranbringen und Flugroboter
perfektionieren. Im letztgenannten
Gebiet ist die Entwicklung schon am
weitesten fortgeschritten. Selbst
normale Verkehrsflugzeuge können
heutzutage 95 Prozent ihrer Aufga-
ben allein, ohne Eingriffe oder Hilfe
der Pilotinnen und Piloten erledi-
gen. Und die Drohnen, die mit An-
gela Schoelligs selbst lernender
Steuersoftware ausgerüstet sind,
fliegen Manöver, „die selbst ein sehr
gut trainierter Mensch mit dem Joy-
Stick nicht so harmonisch und risi-
kolos hinbekäme“.
Wo das hinführen könnte,
Foto: Julian Baumann für manager magazin
demonstriert ein Youtube-Video
aus Schoelligs kanadischen Unila-
bor: Dort führt ein Pulk von gut
einem Dutzend Drohnen auf engs-
tem Raum eine komplizierte Cho-
reografie auf. Die Drohnen umkrei-
sen einander, führen wilde
Schwenks, Auf- und Abstiege vor –
wie ein Vogelschwarm.
1 Michael O. R. Kröher
DEZEMBER 2022 109
UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT

EXPERTENRAT
Christoph Seibt ist Partner für Gesellschaftsrecht und M&A
bei Freshfields, einer der kreativsten Wirtschaftsanwälte
Deutschlands und Honorarprofessor an der Bucerius Law School.

D Die neue Stärke des

ie Zahlen sind be- talinstrumente gefragt, die
achtlich, einige dem Risikoprofil der Trans-
Beispiele: Die deut- formation entsprechen,

sche Stahlindust-
rie kalkuliert rund
40 Milliarden Euro
für das Ergrünen ihres Hoch-
energieprodukts. Bei Volks-
wagen sind fast 90 Milliar-
den Euro Investitionen in
Elektromobilität und Digita-
lisierung eingeplant, Heidel-
berg Materials rüstet 140
Zementfabriken um. Für die
Transformation ihres Ge-
schäfts auf Nachhaltigkeit
inklusive weiterer Dekarbo-
nisierung, Digitalisierung
und Umbau auf ESG-kompa-
tible Wertschöpfungsketten
benötigen die Unternehmen
massive Finanzmittel.
Auch erhebliche Reserven
und positive Zahlungsströ-
me aus dem traditionellen
Geschäft reichen dazu meist
nicht; externe Finanzierun-
gen sind erforderlich. Unter-
nehmen, die mit der Trans-
formation weit fortgeschrit-
ten sind und stabiles Wachs-
tum, M&A-Opportunitäten
und hohe Bankprovisionen
versprechen, können auch in
Zeiten der Polykrise Fremd-
finanzierungen zu attrakti-
ven Konditionen abschließen;
aber das werden weniger.
Ist die Transformation
dagegen komplex und ihr
Ausgang unsicher, sehen Fi-
nanziers vor allem Risiken –
die Finanzierung ist dann
schwierig, und das auf der
Finanzvorstands
Die Umstellung auf nachhaltige Geschäfts-
modelle fordert innovative Geldkunst.
gen Breite noch nicht verfüg- renden Meilensteine gibt.
bar und durch politische Auf- Fremdkapitalpartner verlan-
lagen teilweise unattraktiv. gen in der Regel eine unab-
Bei der Bewältigung die- hängige Validierung dieses
ser Herausforderungen kön- Plans. Dies sollte bei der Prü-
nen fünf Ratschläge helfen: fung der Strategie von vorn-
herein bedacht werden.
1. Die Finanzierung der
Transformation ist keine 3. Die Kostensteuerung und
Aufgabe für den Finanzvor- die Finanzierungsreserven
stand allein. Sie muss integ- sollten breit analysiert wer-
raler Bestandteil eines ganz- den. Geschäftsfelder könn-
heitlichen Konzepts sein. ten nach einer Verselbst­
Dessen Umsetzung inklusive ständigung (Carve-out) neu
M&A-Aktivitäten und Cor- bewertet werden und eigene
porate Governance muss mit Finanzierungen erhalten.
den Aufgaben des CFOs ver- Dies hat kürzlich ZF Fried-
koppelt sein. Deswegen soll- richshafen für den Bereich
te jedes Ressort einbezogen passive Sicherheitssysteme
werden. Die Finanzierung bekannt gegeben. Voran­
wird zur Teamaufgabe. gegangen sind Siemens mit
dem Teilbörsengang der
2. Die Transformationsfinan­ Tochter Healthineers und
zierung funktioniert nur, die Aareal Bank. Dort hat
wenn es ein substantiiertes sich Advent mit 30 Prozent
„Zielfoto“ der Transforma- an der IT-Tochter Aareon
tion sowie der dahin füh­ ­beteiligt. Es kann aber auch
um die Isolierung von Son-
derrisiken gehen, die sich
aus einer möglichen Regulie-
rung ergeben. Geopolitische
Trends wie insbesondere die
Die Finanzierung Teilentkoppelung der Wirt-
ohne die gesellschaftsrecht-
lichen Beteiligungsverhält-
nisse und Corporate-Gover-
nance-Strukturen zu ändern.
So könnte es zu einer Re­
naissance von Vorzugsaktien
und neu gestalteter Wandel-
anleihen kommen.
5. Verlockend sind die häufig
attraktiven Zinskonditionen
bei Produkten der Sustai­
nable Finance. Allerdings
verlangen die Investoren
nach einigen Problemfällen
zu Recht verbindliche Ver-
einbarungen über die für den
Transformationsplan rele-
vanten Nachhaltigkeits­
parameter. Diese müssen
sich auch in kommunizierten
Prognosen, Berichten über
Risikomanagement und
Nachhaltigkeit sowie in der
Vorstandsvergütung wider-
spiegeln. Die Zeiten billigen
grünen Geldes sind vorbei.
Vielmehr drohen Green-
washing-Klagen bei Nicht-
einhaltung der Ziele.
Die Finanzierung der
Nachhaltigkeitstransforma-
tion verlangt unter heutigen
Rahmenbedingungen enor-
me Innovationskraft. An den
CFO stellt sie neue und hohe
Anforderungen; sie stärkt
sein Gewicht. Gleichzeitig
aber – das ist keine Paradoxie
– erfordert sie die stärkere
Einbindung des Gesamtvor-
Foto: Henning Kretschmer

Eigenkapital- noch stärker
als auf der Fremdkapitalsei-
te. Derzeit besteht kein aus-
reichendes Marktvolumen
für risikobehaftetes Trans-
formationskapital. Staatliche
Programme sind in der nöti-
ist nicht länger
bloßes Anhängsel der
Strategie. Der
Finanzvorstand wird
zum Impulsgeber.
schaftskreise der USA und
China im Hochtechnologie-
bereich dürften dabei eine
wichtige Rolle spielen.
4. Jetzt sind neue Eigen­
kapital- oder Hybridkapi­
stands. Die Finanzierung ist
nicht länger bloßes Anhäng-
sel der Strategie. Der Finanz-
vorstand wird stärker zu
einem Impulsgeber der Stra-
tegieplanung und ihrer ope-
rativen Umsetzung. 1

110  DEZEMBER 2022 manager magazin

UNTERNEHMEN UND MANAGEMENT
ACHTEN SIE AUF ...
F Franziska
ranziska Brantner
(43; Grüne) funktio-
niert ganz ausge-
zeichnet als Ge-
gengift zu vielen
Vorurteilen, die in
der Wirtschaft über die Qua-
lifikation von Politikern und
Politikerinnen kursieren. Sie
hat ihr Studium nicht nur ab-
geschlossen, sondern auch
promoviert (in Politikwis-
senschaft über die Reform-
fähigkeit der Uno, magna
cum laude). Sie studierte in
Mannheim, Paris und an der
Columbia in New York, wo
sie Seminare beim früheren
I W F- Chef Dominique
Strauss-Kahn (73) und beim
Nobelpreisträger Joseph
Stiglitz (79) belegte (mit
Letzterem ist sie noch in
Kontakt). Das elitäre Aus-
wahlverfahren zur EU-
Beamtin, Concours genannt,
hat sie abgeschlossen, und ja,
bei der Bertelsmann Stiftung
und bei McKinsey war sie
auch unter Vertrag.
Schließlich ging Brantner
aber in die Politik.
Heute ist die Abgeordnete
Parlamentarische Staatsse-
kretärin des Ministeriums
für Wirtschaft und Klima-
schutz und damit am viel-
leicht interessantesten Pro-
jekt der deutschen Politik
überhaupt beteiligt. Leitfra-
ge, polemisch zugespitzt:
Kann man die deutsche In-
dustrie klimagerecht um-
bauen, ohne sie zu zerstören?
Am Ende wird es darauf
ankommen, dass die Details
sitzen. Und dass die Akteure
aus Industrie und Politik
miteinander reden. Brantner
ist gleichermaßen arbeitsam
und gut vernetzt. „Hier kann
manager magazin
Brantner
Die Staatssekretärin soll das Rohstoff-
problem der Industrie lösen.
ich im Zentrum des Gesche-
hens mitwirken“, sagt sie,
„das macht Spaß.“
Während wir sprechen in
ihrem Abgeordnetenbüro, 18
Quadratmeter, Fenster zum
Innenhof, ruft Jörg Kukies
(54; SPD) an, oberster Wirt-
schaftsmann im Kanzleramt.
Er will von „Franziska“ wis-
sen, ob der Deal mit dem
Rohstoffhändler Trafigura
auch wirklich sauber ist. Die
Bundesregierung bürgt für
800 Millionen Dollar verbil-
ligte Kredite, um der deut-
schen Industrie Rohstoffe zu
sichern, und gerade hat ein
CDU-Abgeordneter Kritik
daran geübt, weil sich eine
Trafigura-Tochter in Myan-
mar nach dem Putsch an
Menschenrechtsverletzungen
beteiligt haben könnte.
Grün ist die
Rohstoffhoffnung:
Franziska
Brantner,
Parlamentarische
Staatssekretärin,
mit Blick auf den
Reichstag
Brantner beruhigt „Jörg“,
die Firma sei von Trafigura
inzwischen verkauft worden
an ein lokales Unternehmen.
Der Fall zeigt, wie heikel
es sein kann, die Industrie
langfristig mit Rohstoffen zu
versorgen. Egal ob Lithium
oder Kobalt oder Seltene Er-
den – überall versuchen
Unternehmen und Politik,
den Nachschub zu sichern,
sei es über Recycling, Part-
nerschaften oder Handels-
verträge etwa mit Chile. Das
ist Brantners wichtigste Auf-
gabe. Sie glaubt, dass es bei
vielen knappen Rohstoffen
„bald keinen Markt mehr ge-
ben wird“; umso wichtiger
würden bilaterale Verträge.
Ob die Politikerin aller-
dings ihr Ziel für 2024 er-
reicht, Haushaltsmittel für
eine sichere Rohstoffversor-
gung zu bekommen, ist frag-
lich. Die Unternehmen müss-
ten ebenfalls viel investieren.
„Das Thema Rohstoffe ist
langfristig, und es ist teuer“,
weiß Brantner.
Und wie geht es bei ihr
langfristig weiter? Darauf
gibt es in der Politik in der
Regel keine Antwort, weil
nach jeder Wahl das Spiel
neu beginnt. Aber klar ist,
dass die Abgeordnete Fans
hat. BDI-Chef Siegfried
Russwurm (59) gehört dazu,
aber auch diverse Unter-
Foto: Gene Glover für manager magazin
nehmensvorstände, ebenso
Außenministerin Annalena
Baerbock (41; Grüne). Ihren
Wahlkreis in Heidelberg/
Neckar-Bergstraße hat sie
direkt gewonnen, was ihr
beim Ausräumen des partei-
internen Verdachts helfen
könnte, dass sie „zu elitär“
sei. 1 Martin Noé
DEZEMBER 2022 111
Zinswende
1/ 2022 bis heute
Corona
2/ 2020 bis 8/ 2020 27 %
Finanzkrise
7/ 2007 bis 3/ 2013
Techblase
3/ 2000 bis 5/ 2007
Schwarzer Montag
8/ 1987 bis 8/ 1989
Ölkrise
1/ 1973 bis 7/ 1980
Nifty-Fifty-Aktiencrash
12/ 1968 bis 3/ 1972
Weltwirtschaftskrise
8/ 1929 – 9/ 1954
Jahre
Quelle: Refinitiv
Grafik: manager magazin 0 1
112  DEZEMBER 2022
25 %
Luft nach unten
Erstmals seit Mitte der 80er Jahre fallen Die großen Crashs der
die Zinsen tendenziell nicht mehr, sondern
sie steigen. Gemessen an anderen Crashs
haben die Börsen bisher moderat auf diese
vergangenen 100 Jahre
Zeitenwende reagiert. Kursentwicklung des US-Aktienindex S&P 500,
sowie Maximalverlust bei den größten Kursabstürzen
(vom Hoch zum Tief)
Kurzer Fieberanfall
Zu Beginn der Pandemie stürzten die
Leitindizes so rasant ab wie selten zuvor.
Ebenfalls rasch erholten sie sich wieder.
Sechs Jahre unter Wasser
Ab Sommer 2007 ging es fast zwei Jahre
lang abwärts. Vom Tiefpunkt aus benötigten
die Indizes mehr als vier Jahre, um ihre alten
Punktestände wiederzuerklimmen.
55 %
Quälend langer
Systemneustart
Nach der Implosion über-
bewerteter Internet- und
Techaktien blieben Anleger
47 % fast acht Jahre lang mit ihren
Indexinvestitionen in der
Verlustzone. Zwei Monate nach
Erreichen des alten Hochs
begannen die Indizes erneut zu
fallen, die Finanzkrise hatte
begonnen.
31 % Traumatisierend
In Erinnerung bleibt der 19. Oktober 1987,
weil an diesem Tag der Dow Jones Industrial um
mehr als 22 Prozent einbrach. Der Crash hatte
jedoch schon im August begonnen, die Erholung
sollte mehr als zwei Jahre in Anspruch nehmen.
Krieg und Energiemangel
Der Angriff Ägyptens und
Syriens gegen Israel sowie die
Produktionskürzung des
OPEC-Ölkartells lösten eine
47 % jahrelange Wirtschaftskrise und
Hochinflation aus. Krieg und
Energieblockaden dominieren
auch heute wieder die
Nachrichten.
Doch nicht unangreifbar
Wachstumsstarke Unternehmen wie
Xerox, IBM, Kodak, Polaroid oder
36 % Coca-Cola galten Ende der 60er Jahre
als sichere Wetten. Die Bewertung der so-
genannten „Nifty Fifty“ war am Ende völlig
überzogen, viele davon verloren danach
80 oder 90 Prozent ihres Börsenwerts.
Maximalverlust
(„maximum drawdown”)
86 %
vom Hoch zum Tief anhand
der hier vorliegenden
Monatsendstandsdaten;
auf Wochenendstandsbasis
errechnet
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
manager magazin
 PORTFOLIO

Die Anti-Crash-
Strategie
für Privatanleger Während Aktien- und Anleihekurse
2022 einbrachen, glänzten einige
Hedgefonds-Manager mit zweistelligen
Gewinnen. Wie geht das?

Vierteljahrhundert des Schreckens

Hungerjahre, Nationalsozialismus,
Weltkrieg, Zusammenbruch: Die
Weltwirtschaftskrise und das folgende
Grauen prägen die kollektive Erinnerung.

12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

manager magazin DEZEMBER 2022 113

 PORTFOLIO  ALTERNATIVE INVESTMENTS
Nur wenigen Investoren dürfte
der Crash des Jahres 2022 so viel
Vergnügen bereitet haben wie
Barry Goodman (65). Der Co-
Chef des Hedgefonds Millburn
Ridgefield konnte in seinem Büro
in Midtown Manhattan auf sei-
nem Computerbildschirm beob-
achten, wie das Vermögen der
Anleger stetig wuchs und gedieh:
Sein Flaggschiff-Fonds erzielte
binnen zehn Monaten ein Plus
von mehr als 20 Prozent – wäh-
rend Aktien- und Staatsanleihe-
Foto: [M] Sven Simon / SZ Photo
114  DEZEMBER 2022
kurse wegen Zinswende und
Inflation um mehr als 20 Pro-
zent kollabierten.
„Unsere Strategien haben
immer dann gut funktioniert,
wenn es starke Kursbewegun-
gen an den Märkten gibt“, sagt
Goodman. Und zwar derzeit vor
allem in eine Richtung: abwärts.
Die Zinswende und die Knapp-
heit vieler Rohstoffe markierten
einen Wendepunkt, der noch
viele Turbulenzen auslösen
werde, prophezeit er, und das
durchaus mit Vorfreude: „Das
dürfte riesige Chancen für uns
erzeugen.“
Das Werkzeug zum Ausnut-
zen dieser Gelegenheiten ver-
dankt Goodman dem Firmen-
gründer Malcolm Wiener (87).
Der nämlich sah zu Beginn der
70er Jahre Signale, wo andere
Chaos erblickten. Signale, die es
nach Auffassung der Ökonomen
in den Kursdaten des Rohstoff-
handels gar nicht geben durfte:
Der Wissenschaft zufolge wa-
ren die Börsen so effizient, dass
Fondsmanager nicht dauerhaft
mehr Geld verdienen konnten
als der Markt insgesamt, einfa-
cher gesagt: als alle anderen
auch.
Wiener lag nichts daran, mit
den Koryphäen der Universität
ENTSCHLEUNIGUNG
Pony statt Sprit:
Eine VW-Käfer-Fahrerin
zuckelt durch die Ölkrise.
Stabilisator von Chicago über deren Theorie
Fondscharts der effizienten Märkte zu strei-
im Vergleich, ten. Stattdessen arbeitete er
indexiert
still an einer Methode, aus der
Lumyna Millburn Kursentwicklung von Kakao
Ridgefield
MSCI
oder Weizen auf den künftigen
iBoxx Preistrend zu schließen. Denn
160 er hatte erkannt, dass Preisbe-
wegungen meist eine Weile an-
140
halten und erkennbare Trends
120 ausprägen. Der ehemalige Ma-
rinesoldat, der per Stipendium
100
der US Navy in Harvard Wirt-
80 schaft studiert hatte, gründete
27.10.17 27.10.22
einen der ersten Hedgefonds –
= 100 und verdiente ein Vermögen.
Seine Strategie funktioniert
Krisen- noch immer, besonders in Kri-
gewinner senzeiten wie heute. Die Trend-
Fondscharts freunde bei Millburn verwalten
im Vergleich, inzwischen 8,8 Milliarden Dol-
indexiert
lar, einen Teil davon für deut-
Man AHL sche Privatanleger. Den einst
MSCI
iBoxx von der Wissenschaft verkann-
ten Kurssignalen sei Dank.
160
Für Anleger ist die Krisen-
140 festigkeit solcher Trendfolge-
fonds gerade jetzt hochwill-
120 kommen. Denn der Kursrutsch
an den Börsen ist vermutlich
100
noch nicht ausgestanden. Die
80 Strategen der Bank Berenberg
warnen vor weiteren „40 Pro-
27.10.17 27.10.22
= 100 zent Abwärtsrisiko für US-Ak-
tien“. Inflation und Zinserhö-
Quelle: Refinitiv
Grafik: manager magazin hungen lassen einen solchen
Einbruch plausibel erscheinen.
Auch Hedgefonds-Milliardär
Stanley Druckenmiller (69)
rechnet mit einer längeren Eis-
zeit. „Meine zentrale Prognose
ist, dass der Dow in zehn Jahren
nicht viel höher stehen wird als
heute“, warnt „Druck“, der einst
gemeinsam mit Investorenle-
gende George Soros (92) die
britische Notenbank zum Ab-
werten des Pfundes zwang und
heute nur noch sein eigenes Ka-
pital verwaltet. Sollte er recht
behalten, würden günstige
Fonds auf Indizes wie Dow Jo-
1973 nes Industrial oder Dax jahre-
lang insgesamt stagnieren.
Trotz der höheren Gebühren
lohnt es sich daher, nach Fonds-
managern Ausschau zu halten,
manager magazin

die auf vielfältige Weise nach
Rendite fahnden dürfen. Am
besten solche, die in der Krise
bereits Können und Resilienz
bewiesen haben, so wie manche
Trendfolger. Einige gute Fonds
sind auch für deutsche Privat-
anleger erhältlich (siehe Tabelle
Seite 117).
Die Macherinnen und Ma-
cher der Trendfonds sind zuver-
sichtlich, dass die schwierigen
Börsenzeiten ihr Geschäft be-
flügeln werden. Das gilt auch
für einige andere Hedgefonds-
Strategien, die in EU-konfor-
men Varianten verfügbar sind.
Trotz der teils hohen Gebühren
könnte eine Beimischung in den
kommenden Monaten Stabilität
ins Depot bringen. Und Ren-
dite liefern, auch wenn Aktien-
und Anleiheindizes noch jahre-
lang stagnieren oder gar fallen
sollten.
Lernendes Anticrashsystem
US-Pionier Millburn Ridgefield
hat seine Trendfolgemodelle
über die Jahre immer weiter
verfeinert, und das ohne Zutun
seines Gründers: Bereits 1982
heuerte Wiener für die tägliche
Fronarbeit des Trend-Tradings
den heute als Co-Chef verant-
wortlichen Statthalter Good-
man an. Der Sohn eines Last-
wagenfahrers aus Brooklyn war
schon als Teenager Laufbur-
sche an der Wall Street gewe-
sen, wo sein Vater aufgrund
seines kaputten Rückens in der
Poststelle eines Brokers ange-
heuert hatte. An der New Yor-
ker Rohstoff börse arbeitete
Sohn Barry sich zum Händler
hoch.
Mit ihm war das heutige
Führungsduo komplett: Schon
1975 hatte Wiener den Compu-
ter wissenschaftler Grant
Smith (70) eingestellt, der sei-
ne auf Papier notierten Han-
delsstrategien digitalisierte und
seit Jahren an der Seite von
Goodman das Unternehmen
leitet. Perfekt ist das computer-
manager magazin
ALTERNATIVE INVESTMENTS  PORTFOLIO
1987 Mehr Geld verwaltet nur der von
SCHWARZER Ray Dalio (73) gegründete US-
MONTAG Rivale Bridgewater Associates
Schwacher Trost: (zuletzt: 126 Milliarden Dollar).
Wertpapierhänd- „Von den Anfängen in den
ler Spencer 80er Jahren bis zur Finanzkrise
Varian vom
hat Man AHL hauptsächlich
Broker Wedbush
ist am 19. Trendfolgemodelle eingesetzt“,
Oktober 1987 sagt Russell Korgaonkar (44).
inmitten des Der Brite ist Chefanlagestratege
Geschehens. von Man AHL, der für systemati-
sche, computerbasierte Strate-
gien zuständigen Sparte der bör-
sennotierten Gruppe. Er sitzt in
einem Konferenzraum im fünf-
ten Stock des erst 2011 fertigge-
stellten Riverbank House, das
weniger als zehn Minuten Fuß-
weg von der Bank of England und
der alten Börse entfernt ist.
Draußen vor den großen Balko-
nen glitzert die Themse in der
Novembersonne.
Nebenan sitzen die Resear-
gesteuerte System nicht: Der cher aus Korgaonkars Team im
Corona-Kurssturz vom März Handelssaal der gesamten Man
Crash-
2020 hat Millburn so wie viele Group, rund ein Dutzend Reihen
resistent
Fondscharts Trendfolger zumindest teilwei- von Computerarbeitsplätzen
im Vergleich, se kalt erwischt. Zu schnell füllt den großen Raum. Auf vielen
indexiert krachten die Märkte ein, als Monitoren steckt oben links ein
SEB dass die Modelle vollständig großes Namensschild, weil hier
MSCI umschwenken konnten. Mill- schon lange nicht mehr jeder je-
iBoxx burns Diversified Program ver- den mit Namen kennt. Die Kolle-
140 lor im ersten Quartal 2020 gen zum Beispiel von der Man-
120 knapp 16 Prozent, fast so viel Tochter GLG haben auch gar
wie der US-Aktien-Leitindex. nichts mit Computermodellen zu
100
Allerdings schafften die Ma- tun, sondern fahnden vor allem
80 schinen es, rechtzeitig die wie- mit ihrem eigenen Kopf nach In-
27.10.17 27.10.22 der steigenden Märkte auszu- vestmentchancen.
= 100 nutzen – sodass der Fonds Und auch Korgaonkars Daten-
schon zwölf Monate später die analytiker spüren längst nicht
Ohne
Delle wieder ausgebügelt hatte. mehr nur Kurstrends nach. In
Absturz
Fondscharts Als Grund dafür sieht Co- den vergangenen zehn Jahren ha-
im Vergleich, Chef Goodman auch den Ein- ben sie durch neue Daten und
Foto: [M] Lennox McLendon / AP / picture alliance
indexiert satz der künstlichen Intelli- Analysen eine zweite Gruppe von
Jupiter
genz. „Durch das ständige sehr vielfältigen Renditequellen
MSCI Lernen können wir mit mehr angezapft. Das Hauptmotiv: Man
iBoxx Marktszenarien umgehen als AHL soll auch dann glänzen,
160 herkömmliche Trendfolge- wenn die Finanzmärkte jahre-
140 fonds.“ lang langsam und träge dahin-
120 Auch andere Trendfolger dümpeln – und herkömmliche
100
nutzen lernende Maschinen. Trendfolger mangels starker
Einer ist sogar zum zweitgröß- Trends stagnieren.
80
ten Hedgefonds der Welt auf- In den ersten Monaten der
18.7.18 27.10.22 gestiegen: die Man Group in Zins- und Zeitenwende brauchte
= 100
London mit mehr als 74 Milliar- es für den Erfolg aber gar keine
Quelle: Refinitiv
Grafik: manager magazin den Dollar Kundenkapital. Mathegenies in Fußballmann- 2
DEZEMBER 2022 115
 PORTFOLIO ALTERNATIVE INVESTMENTS  
schaftsstärke. „Je einfacher ein
Trendfolgemodell war, desto
besser lief es 2022“, räumt Kor-
gaonkar ein.
Minimalistisches Design
Wie gut ein simples, robustes
Trendfolgemodell in einem aus-
geprägten Crash funktioniert,
bewies 2022 die schwedische
Bank SEB mit ihrer Fondsgesell-
schaft. Deren Strategie ist seit
Jahresbeginn sogar 23 Prozent im
Plus. Dabei umfasst das Team der
Stockholmer gerade einmal sie-
ben Forscher. „Unser Trendfolge-
modell ist vergleichsweise ein-
fach“, sagt Co-Fondsmanager
Mikael Nilsson. Sein Kollege
Otto Francke bringt den Ansatz
auf den Punkt: „Wir folgen ein-
fach der Herde.“ Das habe schon
in vielen unterschiedlichen
Marktphasen funktioniert.
Die Sorge der großen Hedge-
fonds, dass die seit Jahrzehnten
praktizierte Methode zu populär
werden und deshalb nicht mehr
funktionieren könnte, teilt Nils-
son nicht. „Wir werden weiter mit
Foto: [M] Nicholas Roberts / AFP
relativ einfachen Methoden von
ihnen profitieren können, ohne
die Sache unnötig zu verkompli-
zieren.“
Der schlanke Ansatz der Skan-
dinavier hat unbestreitbar einen
großen Vorteil für Anleger: Die
Gebühren sind weniger als halb
116  DEZEMBER 2022
GIER-BANKER
September 2008
Hilfspaket für die
so hoch wie bei manchen Riva-
len.
Ob komplex oder einfach: In
der Vergangenheit hätten
Trendfolger im Portfolio die
zwischenzeitlichen Verluste bei
Börsencrashs deutlich redu-
ziert, zeigen die Daten der
Fondsgesellschaft Pimco. Für
Anleger sei ein Depotanteil von
5 bis 15 Prozent „eine gute Ba-
lance“.
Bleibt die Frage, was mit den
übrigen 85 bis 95 Prozent des
Kapitals zu tun ist. Wer ange-
sichts von Zinswende und Infla-
tion nicht mehr den gesamten
großen Rest in Aktien und An-
leihen investieren will, braucht
weitere Alternativen.
Zu viert gegen den größten
Kapitalmarkt
Welchen Aufwand erfolgreiche
Fondsmanager seit der Zins-
wende betreiben müssen, lässt
sich in Londons Victoria Street
studieren. Hinter der Glasfassa-
de im achten Stock eines Büro-
hochhauses – mit Blick auf
einen Turm des Parlamentsge-
bäudes und die alte Geheim-
dienstzentrale des MI6 – müht
sich ein Viererteam um den
Engländer Mark Nash so viel
Rendite aus den darbenden An-
leihemärkten herauszupressen,
wie es eben möglich ist, ohne
allzu hohe Verluste zu riskieren.
Das Plus von mehr als 3 Prozent
seit Januar seines Jupiter Abso-
lute Return Bond Fund ist aller
Ehren wert, angesichts von 20
Prozent minus bei den Staats-
anleiheindizes.
2008 Nashs Zugewinn war nur
möglich, weil er seinen Fonds
Demonstration 2022 noch häufiger umgebaut
am 25. hat als die Mächtigen nebenan
in Westminster ihr Regierungs-
vor der New kabinett. Gleich fünf unter-
Yorker Börse schiedliche Finanzmarktphasen
NYSE gegen das
700 Milliarden („Regime“ im Hedgefonds-Jar-
Dollar schwere gon) hat er allein seit Weih-
nachten 2021 identifiziert. Die
Banken Masse der Anleger schwankte
zwischen Inflationsangst und
Rezessionsfurcht, Nash zwi-
schen Short-Wetten auf fallen-
Abgekoppelt
Fondscharts de Staatsanleihekurse und
im Vergleich, Bond-Käufen. Seit Kurzem re-
indexiert duziert Nash wieder seine
Fidelity Fast
Short-Wetten.
MSCI
iBoxx Gegen den Techhype
Knapp zusammengefasst: „Es
180 war ein höllisches Jahr“, sagt
Nash. Als Teil des Risikoma-
140 nagements nutzt er ein Sicher-
heitsnetz, das durchaus an die
100 Trendfolgefonds erinnert: Sein
Team entwickelt zwar Progno-
60 sen über die künftige Marktent-
wicklung. Viel Geld darauf ver-
27.10.17 27.10.22
= 100 wettet der Fonds aber erst,
wenn der Markt bereits beginnt,
tatsächlich in die vom Team er-
An der Angst wartete Richtung zu tendieren.
verdient Solche Vorsicht ist Dmitry So-
Fondscharts
im Vergleich, lomakhin fremd. „Ich greife ins
indexiert fallende Messer“, beschreibt der
M&G
Fondsmanager von Fidelity
MSCI International seinen Ansatz,
iBoxx was erst einmal paradox klingt.
160 Das Plus von fast 20 Prozent
seit Jahresbeginn aber zeigt,
140
dass er am Aktienmarkt meist
120 an der richtigen Stelle zupackt.
Nur wenige Kollegen im Lon-
100
doner Fidelity-Haus nahe der St
80 Paul’s Cathedral genießen so
27.10.17 27.10.22 viel Freiheit wie der Russe, der
= 100 vor mehr als 25 Jahren seine
Heimatstadt Moskau verließ,
Quelle: Refinitiv
Grafik: manager magazin nach dem Studium (Computer-
manager magazin
 ALTERNATIVE INVESTMENTS  PORTFOLIO

Wer am Crash verdient

Alternative Investmentstrategien für turbulente Zeiten
Name WKN Gebühren1 Rendite 2022 Rendite Strategie
(Jan-Okt)1 5Jahre1

Trendfolger
Candriam Diversified Futures A0YDS9 1,7 15,6 7,1 Trendfolge, Gegenläufigkeit, Muster. Anteilspreis
Classique 13.500 Euro.
Lumyna - Millburn Diversified ML0VJL 2,7 18,0 3,2 Trendfolgepionier, ausgebaut zum komplexen
Ucits Fund Multistrategiemodell.
Man AHL Trend Alternative A0RNJ6 2,8 17,5 4,5 Zweitgrößter Hedgefonds der Welt mit Wurzeln im
„Trend Following“.
Schroder Gaia Blue Trend A143M3 1,5 35,4 8,9 Bislang Renditesieger 2022, „für
be­r atungsfreien Handel nicht zugelassen“.
SEB Asset Selection Fund A0J4TG 1,2 23,4 3,9 Einfaches, günstiges Trendfolgemodell vom
erfahrenen, kleinen SEB-Team.

Global-Macro-Trader
M&G Episode Macro Fund A2JQ9J 2,0 14,8 3,4 Bewertung und Anlegerstimmung sind die Basis der
Fondsstrategie.

Aktien Long/Short
Fidelity Active Strategy (FAST) A1W4L5 2,0 18,6 14,0 Turnaroundkandidaten und Short-Wetten gegen teure
Hypeaktien.
Jupiter Merian Global Equity A113XF 1,7 20,1 3,8 Computermodell analysiert Bewertung und
Absolute Return Fund Wachstum tausender Firmen.

Anleihen
Jupiter Strategic Absolute Return A113WT 0,9 3,4 Start: Makroökonomische Wetten, mit funktionierendem
Bond Fund 2018 Risikomanagement.

1| pro Jahr, in Prozent Quelle: mm-Recherche, Morningstar

wissenschaften). Denn er darf auch
„short“ gehen, also auf fallende Aktien-
kurse wetten.
Solomakhin muss vor allem die
Geschäftsaussichten und die Aktienbe-
wertung einzelner Unternehmen rich-
tig beurteilen. Seine Fidelity Active
Strategy ist ein ganz anderes Spiel als
die Trendfolge oder Nashs Anleihe-
fonds. Daher bieten Long-Short-
Aktienstrategien für Anleger ein weite-
res Portfolioelement, das auch dann
funktioniert, wenn die Leitindizes jah-
relang stagnieren sollten. „Eine lange
Seitwärtsphase an den Aktienmärkten
wäre das ideale Szenario für meinen
Fonds“, sagt Solomakhin.
Psychologen der Anlegerpanik
Die besten Investments, sagt Solomak-
hin, seien die, bei denen er sich selbst
richtig schlecht fühle. So wie bei der
Entscheidung, keinen Cent in die Leit-
index-Schwergewichte Amazon, Alpha-
bet und Microsoft zu investieren. Die
Kurseinbrüche Ende Oktober nach den
enttäuschenden Geschäftszahlen ga-
ben dem kühlen Analytiker recht.
Ein schlechtes Bauchgefühl quält
auch David Fishwick häufig. „Viele In-
vestments unseres Fonds finde ich ge-
radezu verstörend“, sagt der Fondsma-
nager des M&G Episode Macro Fund.
Das Unwohlsein hat Methode: Der Bri-
te nutzt Daten zur Stimmung der An-
leger, um die verhasstesten Invest-
ments am Kapitalmarkt aufzuspüren,
egal ob Aktien oder Anleihen: „Im Kern
geht es darum, uns Stress auszuset-
zen.“
Statt auf Konjunkturdaten achtet
Fishwick vor allem auf die Bewertung
von Aktien und Anleihen. Und er ana-
lysiert die Stimmungslage der Investo-
ren, die zwischen Panik und Euphorie
schwankt. Die nötigen Daten dafür
liefern Drittanbieter mit Anlegerum-
fragen und Auswertungen zur Positio-
nierung der Investorenherde am Deri-
vatemarkt.
Schon im Herbst 2021 spekulierte
Fishwick auf Kursverluste bei Staatsan-
leihen. Anfang 2022 ging er auch bei
Aktien „short“. Nicht ohne das typische
Angstgefühl, versteht sich: Wäre sein
Timing falsch gewesen, hätte er viel
Anlegerkapital verbrannt.
Aktuell ist er nicht mehr „short“ bei
Bonds. Im Gegenteil, er hat gerade US-
Treasuries mit 30 Jahren Laufzeit ge-
kauft. Die sind unbeliebt wie selten
zuvor, weil sie 2022 mehr als ein Drittel
ihres Werts verloren haben. Aber:
„Wenn wir eine Rezession bekommen
sollten, möchte ich lieber Staatsanlei-
hen besitzen als Aktien.“
Bis die Finanzmärkte hoffentlich in
die erwartete Richtung drehen, muss
Fishwick sich gelegentlich ablenken von
dem Stress. In der Mittagspause ging
der Fondsmanager deshalb gern in eine
alte Kirche in der Nähe des Londoner
Büros, um ein wenig Orgel zu spielen.
Leider ist das nicht mehr möglich, doch
immerhin darf Fishwick mittags noch
bei einem Yamaha-Klavierhändler in
die Tasten hauen. Hauptsache, es ist
Musik drin. 1 Mark Böschen

manager magazin DEZEMBER 2022 117


„Ende 2023 wird die
­Inflation bei 2,5 oder
3 Prozent liegen“
Für die hohe Inflation sind vor allem die USA
verantwortlich, sagt Olivier Blanchard.
Der ­frühere IWF-Chefökonom hält die Lage
für b­ eherrschbar. Die zunehmenden Konflikte
in der Welt bereiten ihm viel größere Sorgen.
F
Olivier ür alle Fragen rund
Blanchard hat um Inf lation und
eine ganze Schulden gibt es
Generation der
kaum einen besseren
führenden
neokeynesiani- Gesprächspartner als
schen Makro- Olivier Blanchard
ökonomen (73). Der Franzose
ausgebildet war von 2008 bis
2015, in der Zeit der großen
­Finanzkrisen, Chefökonom des
Internationalen Währungsfonds.
Zuvor forschte und lehrte er ein
Vierteljahrhundert lang am Mas­
sachusetts Institute of Techno­
logy (MIT). Schon 2010 forderte
Blanchard, die Notenbanken soll­
ten ihr Inflationsziel von 2 Pro­
zent anheben. Die Ziele blieben
niedrig – die Teuerung läuft nun
davon. Heute arbeitet Blanchard
am Washingtoner Peterson Insti­
tute for International Economics.
Das manager magazin traf ihn
Anfang November in Frankfurt
bei der Investorenkonferenz der
Fondsgesellschaft Lupus Alpha,
wo er mit Großanlegern den Aus­
blick für die Märkte diskutierte.
manager magazin
Interview  PORTFOLIO
eine Wand auf der Angebotsseite
geprallt. Unternehmen, die nicht
genug produzieren konnten, ha­
ben ihre Preise stark erhöht.
„Aus dem Nichts“ heißt also:
„importiert aus den USA“?
So könnte man das auch formu­
lieren. Die Welt ist ein integrier­
ter Markt, deshalb hat das Ge­
schehen auch Europa getroffen.
Aber in Europa hat zuvor weder
die Fiskal- noch die Geldpolitik
gesündigt. In diesem Sinne kann
man sagen, dass die europäische
Inflation „aus dem Nichts“ kam.
Die expansive Geldpolitik hat
fast alle Vermögenspreise auf-
gebläht. Die Aktienkurse in
den USA und Europa sind erst
um 20 Prozent gesunken.
Kommt das dicke Ende noch?
Wir haben keine allgemeine
­Blase. Es gibt einzelne Blasen,
nach meiner Ansicht etwa
­K rypto. Im Zentrum steht aber
der Aktienmarkt. Ob er korrekt
bewertet ist, hängt entscheidend
davon ab, welches Bild man von
Realzinsen und Rezession hat.
manager magazin: Herr Blan- Wenn Sie glauben, dass wir in
chard, EZB-Präsidentin Chris- a nderthalb oder zwei Jahren
­
tine Lagarde, Ihre frühere ­w ieder in einer Vor-Covid-Welt
­Chefin beim IWF, hat Wirbel sein werden, dann sind Aktien
gemacht mit dem Satz, die wahrscheinlich unterbewertet.
­Inflation sei „aus dem Nichts Wenn Sie glauben, dass wir
gekommen“. Hat sie recht? eine große Krise haben, die sehr
Olivier Blanchard: Ich kann ihren lange anhalten wird, dann sind
Punkt verstehen, aber die Formu­ Aktien stattdessen vielleicht
lierung ist vielleicht nicht die überbewertet.
beste. Woher kam die Inflation? Was glauben Sie? Dauerkrise
Eindeutig nicht aus der Ukraine, oder Problem für zwei Jahre?
denn wir hatten das Problem Was die Inflation angeht, ist das
größtenteils schon vor dem Krieg. wahrscheinlich eine Sache von
Nach einer anderen Theorie sind zwei Jahren. Der Ukraine-Krieg
die lang anhaltenden Niedrig­ könnte lange anhalten. Aber der
zinsen und die viele Liquidität Effekt auf die Energiepreise in
Foto: Thomas Pirot für manager magazin
schuld. Aber auch dafür kommt Europa wird weitgehend ver­
das Timing nicht hin. schwinden, weil wir bis dahin die
Woher kam die Inflation also? Infrastruktur für LNG-Importe
Es steht außer Zweifel, dass sie in bauen können. Wir werden die
den USA anfing, in dem Moment, Inflation besiegen. Ich bin mir
als die Biden-Regierung ihr Sti­ ziemlich sicher, dass Fed und EZB
muluspaket von 1900 Milliarden das können. Meiner Vermutung
Dollar startete. Es gab einen gro­ nach wird die Inflationsrate Ende
ßen Nachfrageschub, während 2023 bei 2,5 bis 3 Prozent liegen.
Covid zu vielen Störungen führ­ Vielleicht dauert es auch etwas
te. Sehr starke Nachfrage ist auf länger, bis wir dort sind. 2
DEZEMBER 2022 119
 PORTFOLIO  INTERVIEW
Was bedeutet das für das Aus-
maß der Rezession?
Der US-Arbeitsmarkt ist über-
hitzt, und die Fed muss ihn ab-
kühlen. Das wird kaum ohne
eine substanzielle Erhöhung der
Arbeitslosenquote passieren. In
der Euro-Zone dagegen ist der
Arbeitsmarkt weniger eng, aber
die Rezession könnte dennoch
kommen wegen des Gasengpas-
ses und der großen Unsicherheit,
die Konsum und Investitionen
beeinträchtigt.
Anleger wie der Hedgefonds
Elliott bezweifeln die Glaub-
würdigkeit der Zentralbanken.
Wie groß ist das Risiko, dass
die den Kampf verlieren?
Die Zentralbanken sind ent-
schlossen, die Inflation zu sen-
ken, auch wenn es schmerzhaft
ist.
Man könnte sie daran hindern.
Es gibt tatsächlich zwei Gefah-
ren. Einerseits die der sogenann-
ten finanziellen Dominanz: Man
möchte vielleicht den Zinssatz
stark erhöhen, aber das Finanz-
system kann das nur schwer ver-
kraften. Also halten die Noten-
banken inne. Aber das ist eher
Foto: Thomas Pirot für manager magazin
eine Frage des Tempos als der
Richtung. Die andere Gefahr ist
die fiskalische Dominanz: Der
Finanzminister könnte anrufen:
„Leute, keine Zinserhöhung!“ Im
Falle der EZB wären 19 Anrufe
nötig – und ich denke, dass es
­keinen aus Deutschland gäbe. In
den USA könnte Trump wieder-
gewählt werden und irgendeinen
Trottel für die Fed ernennen. Der
„Wir können uns vorübergehend
höhere Haushaltsdefizite leisten.“
Olivier Blanchard
120  DEZEMBER 2022
entscheidet dann, dass Inflation
großartig ist und niedrige Zinsen
gut für den Chef sind. Das ist
wirklich das einzige Szenario, das
ich mir vorstellen kann. Es fällt
mir schwer zu glauben, dass es
hohe Wahrscheinlichkeit hat.
Märkte greifen nicht zum Tele-
fon, sie crashen. Ein 50-prozen­
tiger Aktiencrash wäre eine
Dimension, wie wir sie bei frü-
heren Zeitenwenden gesehen
haben.
Wie wahrscheinlich ist ein Rück-
gang um 50 Prozent, zusätzlich
zu den 20 Prozent, die wir bereits
hatten? Ich kann mir so ein Sze-
nario einfach nicht vorstellen. Es
müsste schon irgendein auslösen-
des Ereignis geben, vielleicht der
Einsatz von Atomwaffen und ein
größerer Krieg. Falls das passie-
ren sollte, würden wir alle mög-
lichen Probleme bekommen, und
die Aktienkurse wären das ge-
ringste.
Europas Regierungen geben
jetzt viel für Krisenhilfen aus.
Können wir uns das leisten?
Wir können uns vorübergehend
höhere Haushaltsdefizite leisten.
Denn die realen Zinsen werden
langfristig wahrscheinlich nied-
rig bleiben. Die Ausgaben für
den Schuldendienst bleiben also
verkraftbar. Es gibt Spielraum
für Programme zum Schutz vor
hohen Energiepreisen. Schulden-
finanzierte Steuersenkungen für
die Reichen, wie sie Ex-Premier
Liz Truss in Großbritannien
plante, winken die Anleiheinves-
toren aber nicht durch.
Droht ein Sicherheits- und Geopolitik do-
Aktiencrash? minieren heute. Müssen Öko-
Olivier nomen sich in den Debatten
Blanchard kann
nun weiter hinten anstellen?
sich dafür kein
ökonomisches Die Welt sieht heute anders aus,
Szenario weniger freundlich. Wir werden
vorstellen einen Rückgang sehen bei Han-
del, Auslandsinvestitionen, der
Globalisierung. Die Gefahr von
Kriegen hat sich erhöht. Das wird
enorme Auswirkungen auf das
Produktivitätswachstum haben
und für die Emerging Markets. In
einigen Staaten sind Populisten
an der Macht. Der Klimawandel
ist ein Einschnitt. Er wird Migra-
tionsbewegungen auslösen.
Die Ära nach dem Kalten Krieg
wird also im Rückblick wie ein
goldenes Zeitalter erscheinen.
Ich würde den Rahmen noch
­weiter spannen: Die Dekaden seit
den 1950ern waren wahrschein-
lich eine ganz besondere Epoche.
Wir dachten, die Demokratie
würde dominieren und wir wür-
den immer stärker werden. Jetzt
haben wir dazugelernt: Wir dür-
fen das nicht für selbstverständ-
lich halten. 1
Das Interview führten die
mm-Redakteure Christian Schütte
und Mark Böschen.
manager magazin
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Voll
gelinkt
Inflationsindexierte Bonds bieten einen
automatischen Teuerungsschutz.
Anleger müssen aber auf die Details achten.
D
ie Bank of England hatte
den Crash der britischen
Staatsanleihen schon ge­
stoppt, den die neue Regie­
rung von Liz Truss (47)
mit ihren Schuldenplänen
losgetreten hatte. Doch
Anfang der zweiten Okto­
berwoche stürzten die Kurse erneut.
Notenbankchef Andrew Bailey (63)
musste seine Rettungskäufe auf eine
weitere Kategorie von Papieren aus­
dehnen, und er tat dies mit drastischen
Worten: Die „Dysfunktion“ in dieser
Marktkategorie lasse einen „sich selbst
verstärkenden Ausverkauf“ befürchten,
die Finanzstabilität sei in Gefahr.
Die Papiere, die er meinte: Inflation-
Linked-Bonds (ILB), genannt Linker –
inflationsindexierte Anleihen, die als
Langläufer mit einem eingebauten
Foto: Tolga Akmen / Reuters
Teuerungsschutz besonders von Pen­
sionsfonds gehalten werden.
Die Intervention hob die Kurse. Der
Sturm in London endete mit der Ablö­
sung von Liz Truss durch den neuen
Premier Rishi Sunak (42). Und wer die
Linker für ein Produkt gehalten hatte,
122  DEZEMBER 2022
Retter in der Not:
Bank-of-England-Chef
Andrew Bailey
musste in der
jüngsten Finanzkrise
auch den milliarden-
schweren Linker-
Markt stützen
mit dem man sorglos durch inflationäre
Zeiten kommt, hatte eine Lektion er­
halten: Heftige Kursschwankungen
gibt es auch bei diesen Papieren.
Dabei ist die Grundidee der infla­
tionsgeschützten Bonds attraktiver
denn je. Gegen die heute zweistelligen
Teuerungsraten können klassische
Zinspapiere die Kaufkraft des Erspar­
ten nicht verteidigen. Mit indexierten
Anleihen schütteln Anleger die Gefahr
der Geldentwertung gleichsam ab: Ka­
pital und Zinsen der Linker sind an
einen Preisindex gekoppelt und wach­
sen im Gleichschritt mit diesem. Ob
Gold, Immobilien oder Aktien – keines
der anderen Investments, die gemein­
hin für den Inflationsschutz empfohlen
werden, bietet eine solche Automatik.
Die Mechanik dieser inflationsinde­
xierten Anleihen ist allerdings ein we­
nig kompliziert. Wer damit nicht nur
Kaufkraft absichern, sondern auch an
der Börse traden will, muss sich die
Papiere – respektive die Fonds, die da­
rin investieren – sehr genau ansehen.
Steigende Inflation bedeutet nicht
automatisch, dass auch gleich alle 2
 PORTFOLIO  Geldanlage
Linker im Kurs zulegen oder
gegenüber anderen Anlagefor-
men outperformen. „Es ist nicht
intuitiv“, sagt Tobias Frei (52),
ILB-Spezialist beim Vermögens-
verwalter Bantleon.
Der Nominalzins regulärer
Anleihen lässt sich gedanklich in
zwei Teile zerlegen: den realen
Zins und einen Ausgleich für
künftige Inflation. Beides kann
sich im Zeitablauf verändern und
den Anleihekurs bewegen.
Linker schalten den einen Teil
des Wettspiels aus: Das Infla-
tionsrisiko ist voll versichert, die
Linker-Rendite ist der reale Zins.
Der jeweils am Markt zu beob-
achtende Zinsabstand zwischen
den gesicherten und den norma-
len Anleihen wird im Linker-Jar-
gon als die Break-even-Inflation
(BEI) bezeichnet. Er zeigt an, mit
welcher Geldentwertung die
Bondinvestoren rechnen.
Die BEI-Rate ist für Wäh-
rungshüter und Investoren eine
Schlüsselgröße: Die Zentralban-
ken lesen daraus Inflationserwar-
tungen ab. Anleger können ihre
eigene Prognose mit der des
Marktes abgleichen: Wer die ein-
gepreiste Inflation für zu niedrig
hält, wird den Linker dem nor-
malen Bond vorziehen.
Bemerkenswert ist, dass der
weltweite Inflationsschub die
Foto: Herbert Knosowski / AP / picture alliance
124  DEZEMBER 2022
langfristigen BEI-Raten bisher
nur um einige Zehntelprozent-
punkte nach oben bewegt hat
(siehe Grafik). Für die Notenban-
ken ist das ein beruhigendes Zei-
chen: Zumindest die Profiinves-
toren vertrauen ihnen weiterhin.
Der Erwartungsanker hält.
Nachzügler Deutschland
Den ersten Inflationsbond kon­
struierte der US-Starökonom
und Erfinder Irving Fisher (1867
bis 1947) bereits 1925. Israel und
Chile emittierten Mitte der 50er
Jahre erste staatliche ILB; in in-
flationsgeplagten Schwellenlän-
dern wie Brasilien, Mexiko, Süd-
afrika oder der Türkei sind diese
Papiere heute fest etabliert. Die
Regierungen stärken damit ihre
Glaubwürdigkeit, denn sie kön-
nen solche Schulden nicht durch
Gelddrucken entwerten.
Richtig groß wurde das Lin-
ker-Geschäft allerdings erst
durch die Briten: 1981, im Kampf
gegen zweistellige Inflations­
raten, brachte London die erste
indexierte Staatsanleihe auf den
Markt. Heute wird mehr als ein
Fünftel der britischen Staats-
schulden über – meist sehr lang
laufende – Linker finanziert. Die
USA, der größte Bondemittent
der Welt, zogen 1997 nach; ihre
sogenannten TIPS (Treasury
Bundesfinanzminister
Steinbrück (M.), hier
mit Kollegin Lagarde
und Bundesbank-Chef
Weber, führte 2006
deutsche Linker ein
Stabile Er- ­Inflation-Protected Securities)
wartungen machen heute gut die Hälfte des
Inflationsrate und weltweiten ILB-Marktes aus.
implizit erwartete Größter Emittent in der Euro-­
Teuerung
Zone ist Frankreich, das seit 1998
(Break-even-
Inflation, BEI) bei seine OATi (Obligation Assimi­
inflationsinde- lable du Trésor indexée) anbietet.
xierten Anleihen Deutschland blieb Nachzüg-
verschiedener ler: Die Indexierung von Verträ-
Restlaufzeiten gen war bei der D-Mark-Einfüh-
Deutschland rung 1948 verboten worden, um
Inflationsrate1 stabile Preise zu sichern. Erst
Restlaufzeit: 2006 legte der damalige Finanz-
3,5 Jahre
7,5 Jahre
minister Peer Steinbrück (75;
SPD) die erste inflationsgebunde-
10
ne Anleihe auf. Die neuen Papiere
8
6
sollten ausdrücklich auch Privat-
4
anleger ansprechen; detaillierte
2
Produktinformationen bietet on-
0
line die Deutsche Finanzagentur,
bei der die Bundesschulden zen-
1/ 19 10/ 22
tral gemanagt werden.
USA
Heute erreichen die deutschen
Inflationsrate
ILB ein Volumen von knapp 77
Restlaufzeit: Milliarden Euro, das entspricht
5 Jahre 4,5 Prozent der umlaufenden
10 Jahre
Bundeswertpapiere. Fünf Linker
8
sind zurzeit verfügbar: Der ältes-
6 te wird im nächsten April fällig,
4 die anderen Restlaufzeiten rei-
2 chen von 3,5 bis 23,5 Jahren.
0 Das Emissionsvolumen wird
1/ 19 10/ 22 regelmäßig aufgestockt. Über die
Banken können die Papiere jeder-
1 | Euro-Zone, HVPI
ohne Tabak.
zeit ge- oder verkauft werden,
Quelle: Deutsche Mindest- oder Höchstbeträge
Finanzagentur, FRED
Grafik: manager magazin gibt es nicht. Worauf indessen zu
achten ist: Der zu zahlende Preis
übersteigt in der Regel den Bör-
senkurs – denn der schon aufge-
laufene Inflationsausgleich wird
in der Notierung nicht berück-
sichtigt.
Soll ein kaufkraftgesicherter
Betrag an einem festen Ablauf-
termin verfügbar sein, ist ein
Linker das naheliegende Invest-
ment. Britische Pensionsfonds
decken ihre Verpflichtungen des-
halb gern damit ab. Privatleute,
Spät dran: Erst die so planen, müssen aber auch
mögliche Nachteile kennen.
So kann der Preisindex des
Linkers von der selbst erlebten
Teuerung abweichen. Deutsche
ILB sind an den harmonisierten
Verbraucherpreisindex (ohne Ta-
manager magazin

bak) für die Euro-Zone gekoppelt.
Je nach Lebensumständen fällt
der Kostenanstieg anders aus.
Wenig attraktiv ist die schma-
le Rendite. Der reale Zins der
deutschen ILB war bis vor Kur-
zem sogar negativ. Wer im No-
vember 2021 einen deutschen
Linker kaufte, musste ein reales
Minus von rund 2 Prozent pro
Jahr akzeptieren. Mittlerweile
sind die Zinsen zwar gestiegen.
Die reale Rendite krebst aber
auch jetzt nur um die Nulllinie.
Wer mithilfe des Zinseszins­
effekts ein Vermögen aufbauen
will, muss auf risikoreichere An-
lagen wie etwa Aktien setzen.
Der Kurs der Papiere kann zu-
dem stark schwanken. Der Preis
einer Anleihe bewegt sich stets
gegenläufig zum Marktzins, denn
ihr fixer Kupon ist umso unat-
traktiver, je mehr die Alternative
abwirft. Steigt der reale Zins, fal-
len auch die Linker-Kurse. Dieser
Effekt ist umso heftiger, je länger
die Restlaufzeit der Anleihe.
In der Zinswende 2022 zeigt
sich das deutlich. Die Zentralban-
ken bremsen scharf, die Zehnjah-
reszinsen amerikanischer und
europäischer Bonds sind um 200
bis 300 Basispunkte gestiegen.
Da sich die Inflationserwartun-
gen der Profis kaum verändert
haben, bedeutet das einen kräfti-
gen Realzinsanstieg. Ein beispiel-
hafter britischer Langfrist-Lin-
ker mit Fälligkeit 2068 erlitt
zwischen Januar und September
einen Kursverlust von mehr als
zwei Drittel. Was die Bank of
England auf den Plan rief, war
aber erst das Chaos der Regie-
rungskrise: Als sich der Kurs in
einem illiquiden Markt binnen
Stunden halbierte, mussten die
Währungshüter eingreifen.
Wer mit Indexanleihen auf
Kursgewinne spekulieren will,
sollte dafür passende Fonds su-
chen. Die Auswahl der richtigen
Papiere ist anspruchsvoll, des-
halb kann sich anstelle eines ETF
auch ein aktiv gemanagter Fonds
lohnen. Es gilt, antizyklisch zu
manager magazin
Geldanlage  PORTFOLIO
Pionier: Der
amerikanische
Starökonom
Irving Fisher
erfand in den
1920er Jahren
die neuartigen
Bonds
Gesicherte
Exoten
Anteil inflations-
indexierter Bonds
an der gesamten
Staatsver-
schuldung, 2020,
in Prozent
Chile 43
Brasilien 23
Großbritannien 22
Welt 12
Frankreich 11
Türkei 11
denken und genau auf die enthal- Witz: Den Prospekt für das Pro-
USA 6 tenen Emittenten und Laufzeiten dukt werde man ausschließlich
zu achten. In den Fonds mit Lin- an die Mitglieder der Ökonomen-
Spanien 4 kern der Euro-Staaten stecken vereinigung AEA schicken – die
zum Beispiel auch italienische seien nämlich die Einzigen, die
Deutschland 3 Anleihen, die in einer Krise über- sich dafür interessierten.
durchschnittlich fallen könnten. Heute sind die TIPS ein 1,5-Bil-
Tobias Frei von Bantleon sieht lionen-Dollar-Markt. Und es gibt
Anglo- bei der Kursentwicklung eine dazu ein Nischenprodukt für Pri-
Dominanz ­Parallelität zu Aktien, die sich vate. Die sogenannten Series I
Anteile der historisch gut nachzeichnen Bonds können nur von US-Bür-
Staaten am Markt
für inflationsinde-
lässt. Der Einstieg ist am güns- gern, nur in begrenzter Höhe und
xierte Anleihen, tigsten, wenn der Markt noch von nur online bei der Treasury ge-
2020, in Prozent Deflationsszenarien beherrscht kauft werden. Weil sie aber plötz-
wird. Mit einem beginnenden lich risikofreie Nominalzinsen
Aufschwung steigen die Aktien- von teils über 9 Prozent boten,
Foto: Alpha Stock / Alamy / mauritius images
kurse. Und auch die Linker sind sind sie der neue Liebling crash-
plötzlich besonders im Vorteil, geschädigter Kleinanleger: Die
weil das Thema Inflation zurück- Verkaufsplattform des Ministe-
kehrt. Im Rückblick waren etwa riums wurde zuletzt überrannt;
die Weltfinanz- und die Covid- der Absatz, der 2020 keine 0,4
53 USA
20 Großbritannien
Krise gute Kaufgelegenheiten. Milliarden Dollar betrug, stieg in
9 Frankreich Viele Privatanleger dürften den vergangenen zwölf Monaten
7 Brasilien einfache Konstruktionen bevor- auf über 27 Milliarden.
3 Mexiko
3 Deutschland zugen. Als die US-Regierung in Vielleicht sollte Finanzminis-
5 Sonstige den 90ern die Einführung inde- ter Christian Lindner (43; FDP)
xierter Bonds erwog, kursierte im seine Bundes-Linker auch bekann-
Quelle: Weltbank
Grafik: manager magazin Finanzministerium angeblich ein ter machen. 1 Christian Schütte
DEZEMBER 2022 125
 PORTFOLIO
GELDANLAGE FÜR ...
HEDONISTEN
Begehrte Holzklasse
Vergriffene Möbel von Finn Juhl aus Teak-
holz dürften einen Preisanstieg erleben.
A R
ls Vitra 1993 aufhörte,
den Side Chair von
Charles und Ray
­Eames aus Fiberglas
herzustellen und ihn statt­
dessen mit einer Plastiksitz­
schale produzierte, stiegen
die Preise für alte Fiberglas­
modelle. Ähnliches dürfte
nun bei den Teakholzmöbeln
des dänischen Midcentury-
Designers Finn Juhl gesche­
hen. Denn das Teakholz, das
sein Markenzeichen war,
darf nicht mehr aus Myan­
KOPFMENSCHEN
Die große Raupe Nimmersatt
Ohne Microsoft geht nicht viel im Alltag.
Die Aktie ist ein digitales Basisinvestment.
M
icrosoft liefert das
Betriebssystem der
Wissensökonomie.
Wo immer Men­
schen in Büros und an
Schreibtischen arbeiten, be­
spielen sie die Programm­
palette von Microsoft. Alter­
nativen gibt es zwar, aber sie
werden, wenn überhaupt,
nur von einer verschwindend
kleinen Minderheit genutzt.
Windows, Exchange, Word,
Fotos: PR (2), privat
Excel, Powerpoint und Out­
look sind so etwas wie digi­
tale Grundversorgung des
21. Jahrhunderts. Der Edge-
Browser, die Suchmaschine
126  DEZEMBER 2022
Chieftain-Stuhl von House of
Finn Juhl aus Walnussholz,
fabrikneu: Ältere Teakmo-
delle haben Wertpotenzial
Bing und die Spielekonsole
Xbox kommen obendrauf.
Mit Beginn der Pandemie
etablierte sich Teams als
Standard für Videokonferen­
zen. Skype gehört genauso
zu Microsoft wie das Berufs­
netzwerk Linkedin und die
Softwareentwicklungsplatt­
form Github.
Wir alle hängen in irgend­
einer Form an Microsoft, so
wie die deutsche Volkswirt­
25 %
betrug
zuletzt das
Gewinnplus
mar importiert werden. Aus
anderen Ländern kommt nur
eine schneller wachsende
­Variante mit ungeeigneter
Qualität für den Hersteller
House of Finn Juhl, der auch
unter dem Namen One Col­
lection bekannt ist. Der Run
auf die vergriffenen Teak­
holzmodelle ist also pro­
grammiert. Noch sind Exem­
plare des Häuptlingsstuhls
für rund 12.000 Euro zu
h aben, zum Beispiel bei
­ Achtfache des 2023 erwar­
­t hemodernwarehouse.com
in London. Vintage-Modelle
aus den 50er Jahren kosten
schon das Vielfache. 1
Verena Richter
ist Journalistin
und liebt Design.
Sie schreibt
auch für „Salon“.
schaft am russischen Gas.
Nur sehr viel stärker.
Am interessantesten aber
ist zweifelsohne das Cloud­
geschäft des IT-Giganten.
Weltweit operieren drei do­
minante Spieler: Microsoft,
Amazon und Alphabet. Der
Umsatz des Riesen aus Red­
mond in der „Intelligent
Cloud“ lag zuletzt bei 75 Mil­
liarden Dollar, 2014 waren es
noch 22 Milliarden – was
einer jährlichen Wachstums­
rate von 17 Prozent ent­
spricht. Schöner noch ent­
wickeln sich die operativen
Gewinne: von 8,5 Milliarden
Dollar im Jahr 2014 auf 32,7
Milliarden bis zum Ende des
vergangenen Geschäftsjah­
res, also über 18 Prozent pro
Jahr. Die Wachstumsraten
steigen von Jahr zu Jahr und
liegen im Moment bei gut 25
Prozent. Hier läuft eine sich
UNERSCHROCKENE
Antispekulativ
Agrarhändler Bunge
zockt nicht mehr.
ohstoffhändler Bunge
aus St. Louis bringt
Agrargüter vom Far­
mer zum Verarbeiter.
Die Aktie kostet nur das
teten Gewinns. Jahrelang
belasteten spekulative Tra­
ding-Deals das Ergebnis,
denen das Management nun
abgeschworen hat, sagt In­
vestor Dmitry Solomakhin
von Fidelity. Just hob das
Management die Gewinn­
prognose für 2022 an. 1
immer schneller drehende
Gewinnmaschine.
Der Reingewinn landete
zuletzt bei 73 Milliarden Dol­
lar, der Marktwert steht bei
1,65 Billionen. Daraus er­
rechnet sich ein Kurs-Ge­
winn-Verhältnis von 23. Ist
das wirklich zu viel für ein
Unternehmen, dessen Ge­
winne zweistellig wachsen
und das an seinen Kunden
klebt, wie Klimaschützer auf
dem Asphalt? Man muss die
Produkte nicht in sein Herz
schließen, aber man kann
Respekt vor einer Firma ha­
ben, die sich mit ihrer un­
glaublichen Gewinndynamik
in eine andere Bewertungs­
dimension geschraubt hat. 1
Hendrik Leber
zählt zu den
angesehensten
Value-Investoren
der Republik.
manager magazin
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 PORTFOLIO
MAGISCHES VIERECK
E Neue Rezepte
ines ist k la r :
Deutschland
braucht ein neues
Geschäftsmodell.
Wir haben es mit
einer Strukturkrise
zu tun, die seit Langem
schwelt. Im Zentrum steht
dabei nicht die aktuell sünd­
haft teure Energie, die der­
zeit die Produktion in vielen
Betrieben bedroht. Das wird
vorbeigehen, womöglich
schneller, als viele heute für
möglich halten. Es geht um
tiefer wurzelnde Probleme.
Die Bundesrepublik ist
immer noch so industrie­
fixiert wie kaum ein anderes
vergleichbares Land. Ein
Fünftel der Wirtschafts­
leistung wird durch die
­Fertigung physischer Waren
erbracht (ohne Bau). Doch
die Industrieproduktion
­bröckelt, seit Jahren schon,
zuletzt mit beschleunigtem
Tempo. Den historischen
Höhepunkt erreichte der
deutsche Output preis­
bereinigt im Dezember 2017.
­A ktuell liegt die Produktion
auf dem Niveau vom Herbst
2010.
So ist die Lage: Die große
Stärke dieses Landes ist
nicht mehr in dem Maße
­gefragt wie früher. In den
vergangenen Jahrzehnten
haben wir gut von der nach­
holenden Industrialisierung
Chinas und anderer Schwel­
lenländer gelebt. Doch
diese Phase ist vorbei. Das
Wachstum dort ist rückläu­
fig. Protektionismus greift
um sich. Die sich zuspit­
zende geostrategische Lage
stellt die internationale
Fotos: PR
Arbeitsteilung grundsätzlich
infrage.
128  DEZEMBER 2022
Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen
Journalismus an der Technischen Uni­versität Dortmund.
für ­Innovation
Deutschlands Wirtschaft braucht eine
Forschungsoffensive.
Kein Wunder, dass
Deutschland inzwischen
wieder zu den konjunkturel­
len Schlusslichtern in Euro­
pa gehört. Der Befund weckt
üble Erinnerungen an die
Phase zwischen Mitte der
1990er und Mitte der 2000er.
Versunken im Treibsand aus
allgemeinem Defätismus
und endlosen Verteilungs­
debatten, steckte die Gesell­
schaft über Jahre fest.
So weit sollten wir es dies­
mal nicht kommen lassen.
Wir müssen uns etwas ­Neues
überlegen. Ansätze gibt es.
Aber wir müssten uns schnel­
ler und entschlossener in
Richtung Zukunft bewegen.
Immerhin, Deutschland
verfügt über einen leis-
tungsfähigen Wissenssek-
tor. Während die Erforschung
Keine großen Sprünge
Staatliche Forschungsausgaben, in Prozent des
Bruttoinlandsprodukts (BIP)
1,2
0,9
0,6
0,3
1981 1990 2000
Quelle: OECD
von Grundlagenwissen vor
allem vom Staat finanziert
wird, ist die Entwicklung
neuer Produkte Sache der
Privatwirtschaft. Zusammen
gibt Deutschland 3,1 Prozent
der Wirtschaftsleistung für
Forschung und Entwicklung
(F&E) aus – ein ansehnlicher
Wert im internationalen Ver­
gleich.
Das Problem ist nur: Der
private Teil des F&E-Bud­
gets wird überwiegend von
einer überschaubaren Zahl
von Industriekonzernen ge­
tragen. Ob die dazu künftig
noch in der Lage sind und
ob sie das nötige Tempo
­hinbekommen? Fraglich. Be­
rechnungen des Deutschen
Instituts für Wirtschafts­
forschung zeigen, dass die
F&E-Ausgaben der Wirt­
schaft zuletzt deutlich zu­
Deutschland
Frankreich
USA
Italien
Japan
Großbritannien
2010 2020
Grafik: manager magazin
rückgegangen sind. Die gro­
ße Herausforderung besteht
deshalb darin, das F&E-Sys­
tem systematisch schneller
und effektiver zu machen.
Kürzlich hat das Bundes­
forschungsministerium den
Entwurf für eine „Zukunfts­
strategie Forschung und In­
novation“ vorgelegt. In dem
halb fertig veröffentlichten
Papier finden sich die übli­
chen Heißluftbegriffe („Res­
sourceneffizienz“, „Talente
fördern“, „Vielfalt“ …), aber
überall, wo es konkret wer­
den könnte, lässt der Ent­
wurf Leerstellen („entfällt
für den Moment“). Statt sich
in allerlei Detailprogram-
men und Mikrozielen, die
man ohnehin nicht mit
­Inhalt füllen kann, zu ver­
heddern, sollte sich die Bun­
desregierung lieber daran­
machen, die Grundlagen zu
verbessern. Und das heißt
ganz schlicht: mehr Geld
ausgeben.
Der öffentliche Teil des
­n ationalen F&E-Budgets
sollte deutlich wachsen.
Schon jetzt sind die Aus­
gaben im internationalen
Vergleich stattlich (siehe
Grafik). Aber mehr wäre bes­
ser. Schon eine Steigerung
um ein Drittel würde das
jährliche Wirtschaftswachs­
tum pro Kopf um 0,2 Pro­
zentpunkte steigern, hat der
Internationale Währungs­
fonds (IWF) als Faustformel
berechnet. Das klingt nach
Peanuts, aber angesichts der
lahmenden Produktivitäts­
entwicklung wäre es ein gro­
ßer Schritt nach vorn. Zumal
es um überschaubare Sum­
men geht.
manager magazin

Für die größten Brocken
der Grundlagenforschung
geben Bund und Länder jähr-
lich rund zehn Milliarden
Euro aus. Damit finanzie-
ren sie die Einrichtungen
der Helmholtz-Gemein-
schaft, die Max-Planck-In­
stitute und die Institute
der Leibnitz-Gemeinschaft
sowie die Forschung an
­Universitäten über die Deut-
sche Forschungsgemein-
schaft (DFG). Eine Aufsto-
ckung der Ausgaben um ein
Drittel, wie sie der IWF vor-
schlägt, würde also gut drei
Milliarden Euro kosten.
Damit ließe sich einiges
bewegen. Denn ein großer
Teil der Forschergemeinde
ist ständig damit beschäf-
tigt, aufwendige Anträge für
Projekte zu schreiben, die
durch einen langwierigen
Begutachtungsprozess müs-
sen – und häufig am Ende
scheitern. Weil Mittel knapp
sind, liegen die Förderquoten
der DFG bei 30 Prozent. 70
Prozent der Anträge werden
abgelehnt. Eine grandiose
Verschwendung von produk-
tivem Geist, die sich durch
eine Aufstockung der Mittel
lindern ließe.
Neues Wissen zu schaffen
ist relativ billig. Aber es ist
flüchtig. Es lässt sich prin­
zipiell überall auf der Welt
anwenden. Forscher und
­Entrepreneure sind mobil
und gehen dorthin, wo sie
die besten Bedingungen vor-
finden. Die Herausforderung
besteht deshalb darin, die
Anknüpfungspunkte zu ver-
bessern, mit denen sich das
Wissen in Deutschland und
im übrigen Europa halten
manager magazin
Verheddert: Bundesministerin für Bildung und Forschung Bettina Stark-Watzinger
lässt. Und da kommt der Ka-
pitalmarkt ins Spiel.
Die teure Übersetzung in
neue Produkte und Prozesse
– der Entwicklungsteil von
F&E – läuft in Deutschland
vor allem in etablierten
Großkonzernen ab, die letzt-
lich auf den Basisinnovatio-
nen des vorvergangenen
Jahrhunderts fußen (Auto,
Elektro, Chemie). Wenn wir
die aktuelle Strukturkrise
überwinden wollen, dann
braucht es Raum für neue
Unternehmen.
Was fehlt, ist ein entwi-
ckelter Markt für Wachs-
tumskapital. Firmen, die die
Start-up-Phase hinter sich
haben, aber noch keine Ge-
winne machen, benötigen
risikobereite Finanziers.
Weil es davon in Deutsch-
land zu wenige gibt, sind sie
gezwungen auszuweichen.
Biontech zum Beispiel,
die erfolgreichste deutsche
Unternehmensgründung seit
SAP, ist inzwischen an der
Börse 35 Milliarden Euro
wert. Das ist über die Hälfte
mehr als die Deutsche Bank
oder Adidas und nur ein
Drittel weniger als Bayer
oder BMW.
Dabei wurde der mRNA-
Spezialist erst 2008 ge­
gründet – von Forschern, die
an staatlichen deutschen
Universitäten gewirkt haben,
Özlem Türeci und Uğur
Şahin. Börsennotiert ist die
Firma seit 2019, allerdings
an der New Yorker Nasdaq,
nicht in Frankfurt oder
P aris. Warum? Weil der
­ Technologien ersetzt wer-
­Kapitalmarkt in Europa auf
immer weniger etablierte
Unternehmen konzentriert
ist und für das Neue
kaum Spielraum lässt, wie
eine OECD-Studie zeigt.
Deutschland findet sich der
Untersuchung zufolge nicht
mal unter den globalen
  PORTFOLIO
­T op-20 -Standorten für
­Börsengänge.
Es ist höchste Zeit, die Be-
dingungen dafür zu schaf-
fen, dass ein wissensgetrie-
bener Kapitalismus florieren
kann. In einer Welt der in-
dustriellen Sättigung und
übernutzten natürlichen
Ressourcen stellt geistiges
Eigentum den eigentlichen
Wert der Wertschöpfung dar.
Tatsächlich gibt es einen
Hunger nach Neuem: Der
Verbrauch von fossilen Ener-
gieträgern muss runter und
durch andere Quellen und
Foto: Julia Steinigeweg / Agentur Focus
den. Alternde Gesellschaften
brauchen eine innovative
Medizin, außerdem Roboter
jeglicher Erscheinungsform,
um menschliche Arbeit zu
unterstützen und zu erset-
zen. Es gibt genügend zu tun.
Wir müssen es nur anders
anpacken. 1
DEZEMBER 2022 129
Auch das noch:
Die Norqain-Gründer
Ben Küffer (l.)
und Mark Streit auf
einem Gipfel
 LEBEN

ALTER
VERWALTER
Youngster mit viel Geld, Altmeister mit großem Netz-
werk – bei einem Schweizer Start-up
herrscht das Work-Life-Paradies auf Gründer-Erden.

Foto: [M] Philipp Müller Photography

manager magazin DEZEMBER 2022 131

 LEBEN  NORQAIN
D
er Markenname wirkt wie aus
einem Marketinggrundkurs.
Norqain: N soll für New ste-
hen, dann Open-Minded,
dazu ein wenig Rebellious, Q
wie Quality, Adventure, Inde-
pendent und Niche dürfen
auch nicht fehlen. Das Resul-
tat kann kaum jemand aussprechen.
„Was ist das nur für ein Name, dachte
ich, als ich ihn das erste Mal hörte“,
sagt Jean-Claude Biver, eine der
Koryphäen der Uhrenbranche.
Das war vor zwei Jahren. Eigentlich
wollte der 73-Jährige kürzertreten, lag
zudem 2021 nach einem schweren
Fahrradunfall drei Monate im Kran-
kenhaus. Jetzt ist er Berater des Ver-
waltungsrats der Uhrenfirma mit die-
ser unaussprechlichen Marke.
Der Hauptgrund ist 40 Jahre jünger
als der Altmeister und besitzt etwas,
das auch Biver groß gemacht hat: Cha-
risma und einen festen Plan. Ben Küf-
fer ist Gründer und CEO, aber davon
gibt es viele. Was den Mann augen-
scheinlich auszeichnet: Er ist kein
Prahler, Poser oder Träumer. Sondern
ein Enthusiast mit Know-how, der ein
paar entscheidende Sachen anders
macht. Vor allem: Er spielt sein Netz-
werk genial aus, reaktiviert pensionier-
te Dinosaurier der Branche und hört
auf ihren Rat. Küffer und Biver liefern
ein Beispiel, wie aus einer geschickten
Kombination von Jung und Alt Erstaun-
liches entstehen kann. „Den ersten
Foto: PR
Nebenprodukt, Hauptprodukt: Die „Wild One“ für rund 5300 Euro
132  DEZEMBER 2022
Kontakt zu Jean-Claude werde ich nie
vergessen. Er meldete sich übers Han-
dy, an Ostern, morgens um sieben
Uhr“, erzählt Küffer. Typisch Biver, er
ist ein brillanter Netzwerker und ver-
sierter Fachmann, der schon seit 50
Jahren immer wieder die Uhrenindus-
trie aufmischt. Und bis heute ein Ener-
giebündel, das stets um fünf Uhr mor-
gens zu arbeiten beginnt. Den Kontakt
stellte Mike Baur her, Ex-UBS-Banker,
jetzt Venture Capitalist und Gründer
der Swiss Ventures Group, wo Biver seit
fünf Jahren Aktionär ist.
Zwei Tage nach dem ersten Telefo-
nat stand Biver bei Norqain in der Tür.
Alle seien „supernervös“ gewesen, sagt
Küffer. Aber Bivers „positive Energie“
habe die Lage entspannt. „Er hat uns
Youngster ernst genommen.“ Als der
Jungunternehmer Biver die Kollektion
zeigte, lobte der Qualität, Design,
Preispolitik.
Und dann spielte er seine Erfahrung
aus: „Wenn es so gut läuft, muss man
den nächsten Gipfel erklimmen. Und
der heißt Innovation“. Soll heißen, Uh-
ren, die sich im Material, Look und ho-
hen Zusatznutzen für die Träger von
anderen Marken deutlich unterschei-
den. Küffer bat Biver um Unterstüt-
zung. Eine Woche später startete man
zusammen die neue Linie. Das Ziel, die
ultimative Sportuhr.
Vorgestellt wurde die „Wild One“
diesen September: Sie besteht aus
einem neuen Hightechmaterial auf Kar-
bonbasis, kombiniert mit einem Poly-
mer, das zu 60 Prozent aus ökologi-
schem Rizinusöl gefertigt wird. Es
heißt Norteq, ist extrem hart und lässt
sich einfärben – eine Besonderheit, da
Karbon sonst nur schwarz ist. Das neue
Ultimum wiegt nur 84 Gramm, halb so
viel wie vergleichbare Stahlmodelle.
Mountain-Biking, Golfen, Kampfsport,
sonstige Killer für Mechanikuhren –
laut Küffer kann man „quasi alles mit
ihr machen. Darum heißt sie auch ‚Wild
One‘“.
Solch auch finanziell gewagte uhr-
macherische Kapriolen sind nur dank
eines weiteren Herrn der alten Garde
möglich – Marc Küffer. Der Vater des
Gründers saß 25 Jahre im Vorstand des
mächtigen Schweizer Uhrenverbands
und war zudem Chef und Miteigner von
Roventa Henex, einem Uhrenauftrags-
hersteller für Topmarken, der inzwi-
schen zu 40 Prozent dem Münchener
Finanzinvestor Findos gehört. Senior
Küffer verkaufte seine Anteile, finan-
zierte Norqain mit, präsidiert im Ver-
waltungsrat und stellt den Youngstern
neben dem Geld auch sein enormes
Netzwerk zur Verfügung. Produziert
werden die Norqain-Uhren, natürlich,
bei Roventa Henex.
Wie Küffer junior hielt es auch Mit-
gründer Ted Schneider (34). Auch er
spannte seinen Vater geschickt für sei-
ne Firma ein. Théodore Schneider
(66), genannt Teddy, hatte eine beson-
dere Motivationslage. 2017 verkaufte er
die Mehrheit seiner Uhrenfirma Breit-
ling für geschätzt knapp 800 Millionen
Euro an den Finanzinvestor CVC Capi-
tal Partners. Danach wurde die Weh-
mut von Vater und Sohn immer größer.
Küffer, seit Jahren eng mit den
Schneiders befreundet, ermunterte die
beiden mit einer einfachen Argumenta-
tion: „Weil wir die Einzigen der jungen
Generation sind, die eine unabhängige
Uhrenmarke gründen. Die moderner
ist, etwas frecher.“ Schneider junior in-
vestierte, sitzt jetzt im Verwaltungsrat
und bringt sein Know-how als Marke-
teer ein.
Teddy zieht im Hintergrund als drit-
ter der Good Old Buddys die Strippen.
„Er hilft uns beim Netzwerken, hat im-
mer gute Tipps parat. Aber er sitzt nicht
im Verwaltungsrat, ist finanziell nicht
manager magazin

Entspannt gespannt: Jean-Claude Biver (r.) mit Werbefigur Dean Schneider (M.) und Ben Küffer
beteiligt“, sagt Küffer und beteuert,
dass 80 Prozent der Firmenanteile er
selbst besitzt.
Welchen Einfluss die Senioren auf
das Start-up haben, merkt man auch an
Kleinigkeiten. „Mit Jean-Claude habe
ich vereinbart, über die Zahl der aktuell
verkauften Uhren nicht zu reden“, sagt
Küffer. Überschlagen, liegt Norqain bei
circa 16.000 bis 18.000 Exemplaren,
was Küffer als „gute Schätzung“ kom-
mentiert. Breitling fertigt jährlich etwa
das Zehnfache.
Norqain ist in einem angespannten
Markt unterwegs. Immerhin spielen im
mittleren Preissegment für mechani-
sche Sportuhren (um die 5000 Euro)
Big Player wie TAG Heuer, Longines,
Tudor, aber auch Oris, Mühle Glashüt-
te, Sinn oder Tutima mit. Küffer nennt
es das „Man-gönnt-sich-etwas-Seg-
ment“. Die Kunden sind zu 80 Prozent
männlich, im Schnitt 35 bis 55 Jahre alt.
Bei Norqain, behauptet Küffer, seien sie
deutlich jünger, „und das sind die Kun-
den von morgen“. Potenzial sieht er –
natürlich – noch im Damensegment.
Den Break-even hatte Norqain schon
2019, nach dem ersten Jahr, erreicht.
manager magazin
„Doch dann kam Jean-Claude“, kontert
Küffer. Beide müssen schallend lachen.
„Das habe ich noch nie so offen gesagt,
aber es ist schlicht die Wahrheit.“ Den-
noch ist das Investment in Innovatio-
nen nach Küffers Meinung richtig und
Biver ergänzt: „Wer so einen genialen
Start hinlegt, muss dann gleich in In-
novationen und Neuheiten investieren.
Sonst kommt es zum Stillstand.“
Eitelkeit des Altmeisters
Biver brennt für die Marke. Man fragt
sich nur, warum er es nicht lassen kann.
Schließlich belebte er schon die Manu-
faktur Blancpain, polierte Omega,
brachte Hublot auf Erfolgskurs, führte
zuletzt erfolgreich die Uhrensparte des
Luxuskonzerns LVMH mit den Marken
TAG Heuer sowie Zenith. „Weil es mei-
ne Leidenschaft ist, und eine Leiden-
schaft kann nicht in den Ruhestand
gehen“, tönt Biver.
Vor allem bereitet es ihm große
Freude, der jungen Generation etwas
zurückzugeben – Erfahrung und Know-
how. Finanziell sei er nicht an Norqain
beteiligt, „ein Posten im Verwaltungs-
rat wurde mir angeboten, aber ich habe
NORQAIN  LEBEN
abgelehnt, weil ich eine eigene Marke,
die JCB, zusammen mit meinem Sohn
Pierre nächsten April lancieren möchte.
Es soll zu keiner Konfliktsituation kom-
men, darum bin ich nur ein Berater.“ Er
untertreibt wohl. „Mein Team nennt
ihn ‚Innovations-Master‘“, sagt Küffer.
Für einen 73-Jährigen kein übles Attri-
but von einer Truppe mit durchschnitt-
lich 35 Jahren.
Der Altmeister wäre natürlich nicht
an Bord, wenn es nicht seiner Eitelkeit
schmeicheln würde. „Ich habe viele Er-
fahrungen mit jungen Leuten aus Top-
universitäten mit Spitzendiplomen,
aber die hören nicht mehr zu. Sie glau-
ben, weil sie all diese Abschlüsse haben,
dass sie alles wissen. Bei Norqain ist es
umgekehrt. Vor allem spürt man, dass
sie schnell von einem lernen. Das moti-
viert mich gleich doppelt.“
Die Zusammenarbeit funktioniere
so gut, weil keine Regeln existieren. Je-
der kann Ideen einbringen, offen seine
Meinung sagen, egal ob unter den 50
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
oder im Verwaltungsrat. Küffer findet:
Foto: PR
Es lohnt sich, wenn die jüngere Gene-
ration der älteren zuhört. „Es gab 2
DEZEMBER 2022 133
 LEBEN  NORQAIN
schon immer die Tendenz, dass
Jüngere die Ratschläge der Älte-
ren mit dem Totschlagargument
abtun, ‚das war früher so, heute
nicht mehr‘. Durch die Digitali-
sierung hat sich das noch ver-
stärkt. Doch es ist kein Grund,
nicht zuzuhören. Zum Beispiel
gibt es Werte, die sich nicht ver-
ändert haben. Ein Handschlag
zählt.“
„Genau das ist es“, ruft Biver
und trommelt auf den Tisch,
„heute wird jede Kleinigkeit mit
38 Seiten langen Juristenverträ-
gen vereinbart. Man verlernt, sich
zu vertrauen und die Bedeutung
des Handschlags.“ Küffer ist auf-
gefallen, dass junge Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter zwar oft
viel Power besitzen, vor allem in
eigener Sache, aber zu häufig vor
allem mit bewusstem Frechsein
etwas erreichen wollen.
Auch beim Vertrieb versucht
es die Junior-Senior-Truppe mit
dem Gegenmodell zum Main-
stream und pflegt den klassi-
schen Einzelhandel. „In neun von
zehn Meetings höre ich, das sei
altmodisch“, sagt Küffer. Man
solle lieber zu aggressiven Prei-
sen nur über E-Commerce direkt
an Kunden verkaufen. „Wir glau-
ben an den Handel, weil man eine
Uhr live erleben muss, auch um
Foto: PR
die Qualität einschätzen zu kön-
nen“, sagt Küffer.
134  DEZEMBER 2022
Was auch zur Wahrheit gehört:
Die Uhrenhersteller haben gegen-
über den Händlern eine recht
komfortable Verhandlungsposi-
tion, seit einige Luxusmarken
den Rückzug angetreten haben.
Die neue, raue Wirklichkeit be-
gann vor vier Jahren, als Aude-
mars Piguet beschloss, sich von
Konzessionären komplett zu-
rückzuziehen, um nur noch auf
eigene Monobrand-Stores zu set-
zen. Weitere Marken zogen nach,
was Norqain jetzt clever für sich
nutzt – mit Händlern wird eng
zusammengearbeitet, rund zwei
Drittel des Umsatzes kommen
über diesen Kanal: 165 Standorte
in 25 Ländern.
Biver verhindert auch hier
Überschusshandlungen. Einige
Händler machten haarsträuben-
de Fehler: „Geschäfte mit 30
Marken, wo die Uhren wie Sardi-
nen nebeneinanderliegen, kann
man vergessen.“ Noch schlimmer
seien riesige Theken, die Kunden
eher auf Distanz halten. Moderne
Geschäfte hätten eine Kaffeebar,
Wohnzimmerambiente mit Sofas
und Büchern.
Hohe Promidichte
Was den Oldies um Biver der Ein-
zelhandel, ist den Youngsters um
Küffer Social Media. Sechs Kanä-
le werden konstant bespielt, und
natürlich haben sie auch Influen-
cer unter Vertrag, die in Bivers
Hochzeiten noch Markenbot-
schafter hießen.
Besonders wertvoll ist Dean
Schneider (30), ehemaliger Ban-
ker und vermögender Sohn mit
Jetset-Allüren, jetzt Auswanderer
und Wildlife-Retter mit athleti-
scher Figur. Vor allem dank zehn
Millionen Instagram-Followern
ist er einer der bekanntesten
Schweizer auf Social Media. Er
kuschelt mit Löwen, Schlangen
und Äffchen, um für sein Tier-
schutzprojekt in Südafrika zu
werben, das Zoologen zwar nicht
für die reine Lehre halten, aber:
Der Instagram-Tarzan ist täglich
stundenlang online, kommt bei
Instagram-­ den Digital Natives und jungen
Tarzan: Wilden gut an und wurde von
Norqain-­ Küffer & Konsorten folgerichtig
Influencer
als Mitwirkender für die „Wild
Dean Schneider
One“ verpflichtet. Logisch, dass
Norqain auf Lederarmbänder
verzichtet, stattdessen wird ve-
gan mit Kautschuk angebandelt
oder mit Leinen, bestehend aus
Meeresabfällen.
Seinen Netzwerkansatz zieht
Küffer gnadenlos durch. Ein wei-
terer seiner Mitgründer ist Mark
Streit (44), eine Schweizer Eis-
hockey-Ikone und Gewinner des
Stanley Cups mit einem Tipp-
topp-Netzwerk in die globale
Sportwelt. Im Verwaltungsrat
sitzen zudem als einzige Frau die
Liechtensteiner Skirennläuferin,
TV-Moderatorin und Unicef-Bot-
schafterin Christina Weirather
(33) sowie Lorenz Frey-Hilti
(31), Rennfahrer und Mitglied der
schwerreichen Schweizer Auto-
Import-Familie.
Der eigentliche Clou ist aber,
dass Küffer Frey-Hilti auch gleich
als Influencer einsetzt. Wobei –
einziger Makel: Auf die Damen-
zielgruppe wird das schwerlich
einzahlen. Seine Lieblingsuhr
sei die „Adventure Sport Chrono
Auto DLC“, behauptet Frey-Hilti
auf der Norqain-Website. Er
liebe einfach das „männliche,
sportliche Design“.
1 Michelle Mussler
manager magazin
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LEBEN  Interview
Sucht „Nicht-
Normschöne“:
Agentin
Heike-Melba
Fendel
EGO ÜBER
ALLES
Die deutsche Künst­ler­­
agentin Heike-Melba
Fendel über die neue
Mainstreamkultur und
was wir demnächst
von Streamingporta­
len und im Kino zu
erwarten haben. Klar
scheint ihr: „Gut aus­
sehende weiße Männer
haben jetzt zuneh­
mend ein Problem.“
136  DEZEMBER 2022
A
ls Inhaberin der Künstleragen-
tur Barbarella Entertainment
vermittelt Heike-Melba Fendel
(61) seit mehr als 30 Jahren
Schauspielerinnen und Schau-
spieler.
manager magazin: Frau Fendel,
wir fragen uns: Was macht die
Kulturindustrie aus der Zeitenwen-
de – welche Charaktere und Rollen
sind jetzt gefragt, um uns die neue
Weltunordnung zu ordnen?
Fendel: Sie liegen leider einer Illusion
von Aktualität auf. Filmstoffe zu ent-
wickeln und zu produzieren braucht
zwei bis fünf Jahre, die längste Zeit da-
von für Stoffentwicklung und Dreh-
buch. Die Film- und Fernsehbranche ist
zudem reaktiv bis reaktionär, sie orien-
tiert sich vor allem an vergangenen Er-
folgen. Was wir demnächst sehen wer-
den, wurde also schon vor Jahren auf
den Weg gebracht. Die von Kanzler
Scholz als Zeitenwende umrissenen
Verwerfungen der Jetztzeit liegen fil-
misch in der Schleife, in spe. Aktuell
sind Produktionen in der Pipeline, die
von gesellschaftlichen Emanzipations-
bewegungen geprägt sind, vom Mord
an George Floyd im Mai 2020 und der
daraus resultierenden Erstarkung der
#BlackLivesMatter-Bewegung sowie
dem weiblichen Empowerment durch
die Auswirkungen von #MeToo. Und
was das Thema Genre betrifft: Die Covid-
Pandemie hat uns gezeigt, dass Science-
Fiction real ist. Man hat gemerkt, dass
unser Leben utopischer, fantastischer
und dystopischer geworden ist als die
Fantasie. Und überraschender.
Wie und wer wird in dieser Lage ge-
castet?
manager magazin

Nicht ursprünglich mit der Covid-Pan-
demie verbunden, aber in zeitlichem
Zusammenhang stehend, hat #BlackLi-
vesMatter auch die Besetzungspolitik
radikal verändert. Zum ersten Mal ha-
ben Film und TV mit einer enormen
Geschwindigkeit auf gesellschaftliche
Bewegungen reagiert. Bereits ab Som-
mer 2020 wurden Besetzungen deut-
lich diverser, was sich rasch auf Vertre-
ter weiterer bislang im Filmgeschäft
marginalisierter Gruppen auswirkte. In
meiner 30-jährigen Erfahrung habe ich
das so noch nie erlebt. Wir haben früh
People of Color vertreten. Das war im-
mer sehr mühsam und meistens erfolg-
los. Es durfte den einen Schwarzen mal
als Assistent des Kommissars geben.
Aber echte Protagonistinnen und Pro-
tagonisten waren nicht durchsetzbar.
Prägen Netflix und andere Strea-
mingdienste immer noch den Markt?
Ja, weiterhin zunehmend. Wobei der
Gamechanger schon ein wenig zurück-
liegt mit der HBO-Serie „The Wire“,
geschrieben vom Polizeireporter und
Autor David Simon. Was da passiert ist:
Der Schauplatz Baltimore avancierte
zum Protagonisten, Realitätsverhaf-
tung war zentral und Kriminalität un-
besiegbar. Die Staffelhelden haben sich
gegenseitig umgebracht. Das hat mit
der Idee aufgeräumt, erfolgreiche Figu-
ren müsse man ewig durchziehen. Da-
rüber hat sich auch das filmische Agen-
da Setting geändert.
Es geht darum, besonders erfolgrei-
che Genres zu identifizieren und zu
bedienen. Welche sind en vogue?
In Krisenzeiten sind sowohl Hyperrea-
lismus – Stichwort „The Wire“ im
Windschatten von 9/11 – oder eben
Hypereskapismus und Heile-Welt-Fan-
tasien beliebt. Wenn Sie heute Auf-
bruch suchen, schauen Sie auf Tiktok.
Kein Joke. Die Avantgarde ist immer
dort, wo Überraschungserfolge mög-
lich sind. Buchstäblich und tatsächlich
über Nacht kannst du ein Vielfaches an
Millionenpublikum weltweit generie-
ren. Vieles, das in den erzählerischen
Mainstream einsickert, wird durch Pro-
tagonistinnen der sozialen Medien ge-
triggert: andere Typen, andere Ansät-
ze, bestimmte Formen von Selbstironie,
Abgedrehtheit, Humor. Die neuen Stars
sind geprägt von Vielseitigkeit und
manager magazin
Eigensinn. Leute, die es schaffen, Auf-
merksamkeit zu generieren. Wenn du
einen starken Persönlichkeitskern hast,
kannst du den durch alle Vertriebsfor-
men deklinieren. Film, Social Media,
Podcasts ...
Gibt es Rising Stars?
Das hat sich in vielerlei Hinsicht kollek-
tiviert. Autoren etwa werden Teil von
Writers’ Rooms. Der sogenannte Show-
runner ist zu einer Schlüsselfigur ge-
worden. Das sind Menschen, die sich
ein Format ausdenken, den Writers’
Room zusammenstellen und die ganze
Produktion überwachen vom Casting
über Regie bis zur Postproduktion. Sie
bilden das kreative Machtzentrum, ha-
ben oftmals Carte blanche bei Projek-
ten, die ihre Handschrift bis zum letz-
ten Abspann tragen. In Deutschland ist
das jemand wie Jörg Winger bei der
UFA, der international erfolgreiche
Formate wie „Deutschland 83/86/89“
oder „Unorthodox“ entwickelt hat.
Dem laufen inzwischen Programm-
macher weltweit die Bude ein. Die iro-
nische Volte ist, dass dies gleichsam die
Wiederkehr des Autorenfilmers mar-
kiert. Den hatten wir in den 80er Jah-
ren eigentlich abgeschafft. Was die
Schauspielerinnen und Schauspieler
angeht, da gibt es gar keine Geheim-
tipps mehr. Und wenn, so sind sie in
Windeseile öffentlich: Overnight Sen-
sations. Die Frage ist nur mehr, ob je-
mand „bankable“ ist. Ob internationa-
ler Hauptrollenerfolg in einem Film,
der Geld eingespielt oder eine Aus-
Oscar-reif? Regisseurin Maria Schrader
Interview  LEBEN
zeichnung bei einem A-Festival erhal-
ten hat. Ein paar Millionen Follower in
den sozialen Medien sind hier auch sehr
hilfreich.
Was unterscheidet die junge Genera-
tion von der älteren?
Dass sie sich in den sozialen Medien
brillant in Szene setzen und auch sonst
ihr Selbstmarketing beherrschen. Ver-
stockte Außenseiter sind passé. Auf der
anderen Seite haben sie durchaus poli-
tisches Bewusstsein. Und äußern das
auch. Sie sind Aktivisten. MeToo hat
hier einen Paradigmenwechsel mar-
kiert, auch und gerade bei der jüngeren
Generation.
Gibt es noch das gute alte Typecas-
ting?
Nee. Das ist jetzt das Anti-Typecasting.
Menschen, die noch vor wenigen Jahren
ums Verrecken keine Rollen gekriegt
hätten, die sind jetzt ganz weit vorn.
Das Casting fokussiert inzwischen
auch auf die Nicht-Normschönen und
die Vertreterinnen lange marginalisier-
ter Gruppen. Gut aussehende weiße
Männer haben jetzt zunehmend ein
Problem.
Die deutsche Schauspielerin und Re-
gisseurin Maria Schrader wird für
die Oscars gehandelt für ihren Film
„She Said“, die Enthüllungsgeschich-
te des Weinstein-Skandals.
Mit „Unorthodox“ hatte Schrader zu-
letzt eindeutig untermauert, dass sie
als Regisseurin auch international
bankable ist. Zudem hat sich im Film-
geschäft die Idee eines ganzheitlichen
Female Gaze durchgesetzt. Die erste
emanzipatorische Welle hat Frauen vor
der Kamera in anderen Rollen gezeigt,
sie mit mehr männlich konnotierten
Attributen ausgestattet – Stichwort Fotos: Lena Giovanazzi, Photo Image Press / Shutterstock
„Wonder Woman“. Die zweite Welle,
die auch von den Frauen massiv einge-
fordert wurde, hat Autorinnen und Re-
gisseurinnen gestärkt. Denn Geschich-
ten ändern sich, wenn Frauen sie
schreiben. Und die Inszenierungen
ändern sich, wenn Frauen sie inszenie-
ren. Kein Wunder also, dass jetzt der
Fall Weinstein von einer weiblichen
Regisseurin mit zwei weiblichen Prot-
agonistinnen erzählt wird. 1
Das Interview führte manager-maga-
zin-Mitarbeiterin Uschka Pittroff.
DEZEMBER 2022 137
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BLEIBENDE WERTE:
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In ihrer Spitzenposition bei Juwelier Wempe hat ANJA HEIDEN es rund ums Jahr mit
schillernden Schätzchen zu tun. Worauf sie sich zu Weihnachten besonders freut,
hat sie uns im Interview verraten

1. Was bedeutet
Weihnachten
für Sie?
Weihnachten ist von
jeher ein Highlight in
unserer Familie. Ich nachmittags und
ANJA HEIDEN, liebe diese besinnliche EFIRHW�HIǻ�RMXMZ�HIV�
Juwelenexpertin und Mitglied der Zeit, auch wenn die Christbaum!
Geschäftsleitung Wempe
Vorweihnachtszeit auf- Dieser wird einen Tag
Als Gerhard D. Wempe sich mit grund meines Berufes zuvor von den Kindern
einer eigenen Uhrenwerkstatt trubelig ist. und mir üppig ge-
1878 im niedersächsischen Seit dem Jahr 1997 ist schmückt. In diesem
(OVp�HWK� VHOEVWVWÌQGLJ� PDFKWH�� das Fest für mich noch Fall: Mehr ist mehr!
hatte er gerade mal 80 Mark bedeutender, da meine
in der Tasche. Seit 1907 ist das
Familienunternehmen in Ham-
burg ansässig und längst eine
Tochter an diesem Tag
geboren wurde und wir
nun zwei Christkinder
3. Ihr persönlicher
Geschenktipp
)Iǻ�RMXMZ�YRWIV�I\OPY�
der ersten Adressen, wenn es
um hochklassige Schmuck- und
hochleben lassen. WMZIV�)MEQERXWGLPMǺ��
Wempe-Cut® in
1
Uhrenmarken geht. Wempe ist
nicht nur Partner wichtiger
Luxusmarken, sondern fertigt
2. Ihr Weihnachts-
Highlight
Der Geburtstag meiner
der neuen Fassung
Splendora P ure!
����LERHKIWGLPMǺ�IRI�
zudem hochwertige Uhren und
wertvollen Schmuck in den ei- Tochter vormittags, der Facetten funkeln mit
genen Manufakturen. Besuch der Kirche den Kerzen des Baums
'LH� 3p�HJH� ZDKUHU� :HUWH� LVW� um die Wette!
allen Mitarbeitern wichtig. Anja
Heiden macht da keine Aus-
nahme. Das unterstreichen ihre
Antworten.

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Deputy Editor in Chief
& Fashion Director GALA,
erklärt, was Schmuck
2 als Geschenk so
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Nachhaltigkeit kein
Trend, sondern eine
Selbstverständlichkeit
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1 ���Die Zeitmeister Klassik von Wempe Glashütte i/SA
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 LEBEN  BRIEFING

BESTSELLER
(1) Das Ende des Kapitalismus
Ulrike Herrmann
Kiepenheuer & Witsch,
24 Euro
(2) Earth for All
Club of Rome (Hrsg.),
Oekom 25 Euro
(4) Think and Grow Rich
Napoleon Hill,
Finanzbuch, 14,99 Euro
(3) Eine kurze Geschichte
der Gleichheit
Thomas Piketty,
C.H.Beck, 25 Euro
(10) Dreckiges Geld
Power inside: Präsident Joe Biden will die US-Dominanz bei den Halbleitern stärken Markus Zydra, Andreas Frank,
Piper, 22 Euro
WIRTSCHAFTSKULTUR (7) Über die Psychologie
des Geldes

Billionenfache Macht
Morgan Housel,
Finanzbuch, 18 Euro
(5) Die Altenrepublik
Stefan Schulz,
Hoffmann und Campe,
Ein neues Buch erklärt Geschichte und Logik 23 Euro
(neu) So wirst du finanziell frei
des US-Chipkriegs gegen China. Margarethe Honisch,
Piper, 16 Euro
(9) Weltordnung im Wandel

D
Ray Dalio,
ie neuen US-Exportregeln für entstanden. Billige Rechenleistung, die Finanzbuch, 29,99 Euro
die Chipindustrie zielen fron- exponentiell wächst, revolutioniert die (neu) Das Zeitalter der Resilienz
tal auf China. In der Hoch- Arbeitswelt, speist das Füllhorn der Jeremy Rifkin,
technologie reiche es nicht, Gadgets – und begründet Militärmacht. Campus, 32 Euro
den Vorsprung zu halten, hat Miller porträtiert die führenden (12) Elon Musk
US-Sicherheitsberater Jake Köpfe, erklärt die technischen Meilen- Elon Musk, Ashlee Vance,
Sullivan (45) verkündet. Der Vorsprung steine, die Logik des Kampfs um Inno- Finanzbuch, 19,99 Euro
müsse „so groß wie möglich“ sein. vation und Skalenvorteile. Hochbrisant (–) Way of the Wolf
Chris Miller erklärt die Hinter- ist die Geopolitik des Ökosystems, das Jordan Belfort,
gründe. Der Historiker hat die erste über eine Billion Chips im Jahr erzeugt: Finanzbuch, 22 Euro
geopolitische Geschichte des Mikro- Design und Fertigung sind meist ge- (8) Die Prinzipien des
chips geschrieben. Nach über hundert trennt; die Topentwickler sitzen in den Wohlstands
Florian Homm, Moritz Hessel
Experteninterviews und weltweiter USA, Produzenten in asiatischen Län- Finanzbuch, 25 Euro
Archivrecherche argumentiert er, dass dern, die mit Amerika verbündet sind.
die Halbleitertechnik der entscheiden- China will eigene Hochleistungschips, (–) Das Monopol im
21. Jahrhundert
de Treiber von Wirtschaft und Politik ist aber auf Importe angewiesen. In der Hans-Jürgen Jakobs,
ist. Er führt nicht nur anschaulich und Spitze hat Taiwans TSMC das Mono- DVA, 36 Euro
prägnant durch eine komplizierte Bran- pol: Der Auftragsfertiger baut fast alle (–) Klima muss sich lohnen
che. Sein Buch ist Pflichtlektüre für Chips der modernsten Generation. Achim Wambach,
Foto: Doug Mills / UPI / laif

jeden, der die aktuellen Weltkonflikte Die Top-Chips eines iPhones werden Verlag Herder, 16 Euro
besser verstehen will. in Kalifornien entworfen und in China
Hardware ist der Kern des montiert. Hergestellt werden
Chip War
Digitalzeitalters: Ohne das „Si- Chris Miller
sie in Taiwan. Die Stabilität die- Die Bestsellerliste wird ­exklusiv für mm
von der Fachzeitschrift „buchreport“
licon“ der Halbleiterpioniere Simon & Schuster, ses Netzwerks ist heute eine in Kooperation mit Media ­Control ermittelt.
wäre das „Valley“ der Software- 431 Seiten, Frage des Weltfriedens. Sie ­basiert auf den ­Abverkäufen aus circa 3700
­repräsentativ ­ausgewählten Verkaufsstellen.
und Venture-Capital-Stars nie 14,99 Euro 1 Christian Schütte

140  DEZEMBER 2022 manager magazin


IM TRAININGSL AGER MIT ...
Marie-Christine Ostermann
Die Unternehmerin klettert
auch privat gern ganz nach oben.
Warum klettern?
Klettern fordert mich heraus. Es
braucht viel Mut, Klettertechnik, Aus-
dauer und Körperspannung, um ans
Ziel zu kommen.
Wie kamen Sie dazu?
Als ich nach Ausbildung, Studium und
Arbeitsstationen nach vielen Jahren
zurück nach Hamm kam, um unser Fa-
milienunternehmen in die nächste Ge-
neration zu führen, brauchte ich neben
dem Beruf einen sportlichen Ausgleich,
aber auch neue Freunde vor Ort, denn
meine Freunde aus der Schulzeit waren
fast alle weggezogen.
Wann und wo klettern Sie am liebsten?
In einem Fitnessstudio in Hamm, das
Boulder- und Kletterwände indoor und
outdoor hat. Außerdem bin ich in nahe
gelegene Kletterhallen oder -parks ge-
fahren. Ich war auch schon in der Frän-
kischen Schweiz an Naturfelsen klet-
tern. Eine großartige Erfahrung.
Welche andere Sportart würden Sie
gern beherrschen?
Es gibt in Hamm auch eine Wasserski-
anlage, und es reizt mich, diesen Sport
Foto: privat
Traut sich was: Ostermann an der Wand
manager magazin
BRIEFING  LEBEN
Das Wissen
der Besten
richtig zu erlernen. Bisher bin ich meis-
tens schon beim Start ins Wasser ge-
fallen.
Das größte Vorurteil über Kletterer?
Dass sie sehr hohe Risiken eingehen
und zu leichtfertig mit ihrem Leben
umgehen. Die Gefahr abzustürzen ist
schließlich immer da.
Und: Was ist da dran?
Man muss ja nicht Free Solo ohne Si-
cherung klettern. Es ist ein kalkulier-
tes, aber nicht leichtfertig eingegange-
nes Risiko. Als Kletterer muss man der Jetzt
Person, die einen sichert, sehr vertrau-
en. Man legt sein Leben in die Hände neu im
dieser Person. Dieses große Vertrauen Handel
ist etwas, das ich an diesem Sport be-
sonders schätze.
Haben Sie ein Sportritual?
Beim Klettern hatte ich nie ein Ritual,
Warum so zynisch?
aber ich hatte in den vergangenen Jah- Misstrauen zerstört die
ren sehr viel Routine. Zwei bis dreimal Zusammenarbeit. Wie
in der Woche sollte man klettern. Wenn
man mal Pause macht, verliert man Führungskräfte umsteuern.
schnell die Fitness, die man für ein sehr
hohes Kletterniveau braucht.
Weitere Themen:
Sport lieber im Team oder allein?
Generell mache ich Sport lieber mit Strategie
­a nderen Menschen zusammen. Beim
So besteht Ihr Unternehmen
Klettern habe ich Menschen kennen-
gelernt, die ich in meinem sonstigen auf Dauer im Wettbewerb
Umfeld wohl eher nicht getroffen hätte.
Was gefällt Ihnen am Klettern, das
Sie auch auf Ihren Job übertragen
Klimaanpassung
würden? Investieren Sie rechtzeitig,
Nicht die stärkste Kraft schafft es bei sonst wird es teuer
schweren Routen ans Ziel, sondern die
beste Technik. Das gilt auch für unse-
ren Erfolg im Unternehmen. 1 Pflichtgefühl
Bleibt schon wieder
Marie-Christine Ostermann (44) ist alles an mir hängen?
geschäftsführende Gesellschafterin des
Lebensmittelgroßhändlers Rullko Großeinkauf
in Hamm mit rund 70 Millionen Euro manager-
Umsatz. Sie war bis 2015 Schatzmeisterin Nachrichten
der FDP in Nordrhein-Westfalen. Jetzt App
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DEZEMBER 2022 141
harvardbusinessmanager.de
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Wau-Effekt: Nix für
gwamperte Zamperl,
also den sprichwört- Für Pistenflitzer
lich dicken Hund. Die von Aspen bis Zürs:
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142  DEZEMBER 2022 manager magazin

 STIL   LEBEN

Daniel Craig alias 007 trug sie bei der

Ass am Ärmel: Chef Henry Deakin
DIE ULTIMATIVEN
Premiere zu „Keine Zeit zu sterben“,
ein simples Silbermodell aus Schwarz-
Weiß-Emaille.
Als Managing Director in siebter
Generation (seit 1786) frohlockt
Deakin über traditionelle Insidertech-
niken wie Emaillieren, Prägung von
Siegeln und Gravuren, Gold-, Silber-,
Platinschmiede, Gemmologie – der
Laden ist der älteste familiengeführte
Juwelier Englands. Aus mehr als 5000
Designs kann der Kunde bei der Ready-
to-wear-Kollektion wählen. „Wie Sie
sich vorstellen können, ist eine Inven-
tur deshalb kein Spaß“, meint Deakin
verschmitzt. Bestseller heuer: ein pink-
farbener Flamingo neben dem Klassi-
ker mit Memento-mori-Totenkopf, bei

Manschettenknöpfe dem sich der Kiefer bewegen lässt.

Harmlosere Seelen bevorzugen
Bienchen und andere Tiere, Motive aus
Klasse und britischer Humor dem Autosport, jetzt zu Weihnachten
fürs Handgelenk. Nikoläuse und Tannenbäume. Die welt- Street-Style: Stiefeletten von
weiten Kunden wie „Rockstars and Ro- (Bilder von oben im Uhrzeigersinn):

E
in exklusiver Kunde wollte bei der
Besichtigung der Manufaktur in
Birmingham wissen, was denn
so besonders sei an den Man-
schettenknöpfen von Deakin &
Francis. Nun, antwortete Henry
Deakin (40): „Überflüssigerweise pro-
duzieren wir sie über die nö-
tige Perfektion hin-
aus.“ Britischer
Humor. Hätte von
James Bond stam-
men können, die Ant-
wort. Immerhin: Auch
Zum Ausrasen: Manschettenknöpfe im
Racing-Car-Design, Silber, circa 410 Euro
ZEITLUPE
yalty“, so Deakin, haben es gern bespo-
ke, also „nach Maß“, in diesem Fall ergo
nach eigenem Gusto. Da muss schon
mal die eigene Villa oder die Jacht an
den Ärmel (Preise von 150 bis 250.000
Euro). „Wir haben noch nie Nein gesagt
zu einer Herausforderung“, erklärt der
Chef, der 22 Mitarbei-
tende beschäftigt.
Der neueste
Manschettencoup:
ein Äffchen. Wenn
man an dessen Ohr
zieht, streckt es die
Zunge heraus. Die
Briten wissen eben, wie das geht mit
dem Humor. 1 Uschka Pittroff
se auf das Fünffache des Originals.
Floris van Bommel, 250 Euro;
Prada, 1300 Euro; Canada Goose,
695 Euro; John Lobb, 1785 Euro; Rick
Owens, 680 Euro (die letzteren beiden über
www.mrporter.com)
DRESSCODE
Gestiefelt und geschnürt
Die Sneakerisierung der fußläufigen
Modewelt schreitet voran. Überall ge-
pimpte Sportschuhe mit fetten Sohlen.
Jeder High-Fashion Player von Balen-
ciaga bis Saint Laurent hat einen eige-
nen limitierten drop bis hin zu Luxus-
karossenfirmen wie McLaren. Immer
teurer, immer ausgefallener und „ex-
klusiver“ in limitierten Editionen. Ver-
meintlich coole Hipster-Papas wett-
eifern auf StockX mit ihren Söhnen um

Überraschungscoup Nun soll es die „Nautilus 5811“ richten:

Das Gehäuse wuchs von 40 auf 41 Mil-
limeter, wie Armband und Zeiger
Der Protest war riesig, als regist- besteht es aus Weißgold statt
rierte Interessenten merkten, Stahl. Der Tragekomfort steigt
dass sie Jahre umsonst auf das (verlängerbares Armband) so-
Kultmodell Nautilus 5711 von wie der Preis. Thierry Stern,
Patek Philippe gewartet hat- Präsident der Manufaktur,
ten – die Nobelmanufaktur meint, mit 68.620 Euro „sehr
stellte nämlich 2021 abrupt fair“ kalkuliert zu haben.
das gehypteste Air-Jordan-Modell.
Cool?
Das Generation-Z-Imperium schlägt
jetzt zurück. Und entdeckt das Neue im
Alten. Das Wort klingt so altmodisch
wie sie traditionell sind: Stiefeletten.
Die Dinger gibt es schon seit den 1830er
Jahren, hießen früher Chelsea Boots.
Klassischer Weise sind sie überknöchel-
hoch und damit winterfest. Die Mes-
Fotos: PR

die Produktion ein. Prompt Man könne die Uhr auch für sage: Papa, bleib bei deinen Leisten! So
schnellten die Pre-Owned-Prei- mehr als das Doppelte anbieten. 1 geht jetzt Street-Style. 1

manager magazin DEZEMBER 2022 143

 FRAUEN
UNDERCOVER
����7IMXIR�QMX�%FF���KIFYRHIR�á�������º
Auch als E-Book erhältlich.
Schon seit dem Kaiserreich
stehen Agentinnen ihren
männlichen Kollegen
in nichts nach – sie stehlen
Dokumente, rekrutieren
Informantinnen und enttarnen
feindliche Spione,
GRFK�LKU�(LQ½�XVV�DXI�GLH
Geschichte wird bis heute
unterschätzt.
Ann-Katrin Müller und
Maik Baumgärtner haben
geheime Fälle der vergangenen
hundert Jahre recherchiert
und mit ehemaligen und aktiven
Geheimagentinnen gesprochen.
Hier erzählen sie ihre
Geschichten und zeigen,
wer die Frauen waren,
die der heutigen Generation
von Spioninnen den Weg ebneten.
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IMPRESSUM
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144  DEZEMBER 2022
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manager magazin

AUSFAHRT
Nichts für Faule
Ein Auto, das einem den eigenen Charakter vor
Augen führt? Ja, gibt es. Aber tut das der Seele gut?
E
s dauerte nur wenige Kilometer, da war mir
eins klar wie Quellwasser: Der Volvo XC60 ist
kein Wagen, er ist ein mobiler Waldorfschul-
lehrer. Ein PS-Pädagoge, der seinen Fahrer
oder seine Fahrerin zum Experimentieren
animiert, natürlich – ganz nach Rudolf Steiner
– ohne Druck auszuüben. Sprich: Er gibt seinen
­Pilotinnen und Piloten große Freiheiten.
Die größte und wichtigste liegt im Antrieb: Die
Kombination aus 310-PS-Vierzylinderbenziner und
umgerechnet 145-PS-E-Motor erlaubt es, entweder
rein elektrisch, kombiniert oder nur mit Benzin
durch den Alltag zu flitzen. Gegner der Plug-in-
Technologie unterstellen den Fahrern oft, beson-
ders den Dienstwagenbesitzern, ihr Stromkabel
ein ganzes Autoleben lang verpackt spazieren zu
fahren. Im Testwagen, das sei zur Ehrenrettung der
Gattung gesagt, lag es ausgepackt.
Der XC60 ist, über alle Antriebsarten hinweg,
der meistverkaufte Volvo in Deutschland. Das mag
zunächst mal an seinem schlichten, für ein SUV
durchaus schlanken Äußeren liegen, auch an der
menschenfreundlichen Ästhetik, die so manchem
deutschen Konkurrenzprodukt mit aggressivem
Frontdesign und schmalen Scheinwerferschlitzen
manager magazin
Ausfahrt  IMPRESSUM
Margret Hucko testet jeden Monat ein anderes Führungskraftfahrzeug.
Diesmal wundert sie sich über ihre Ladedisziplin.
abhandengekommen ist. Außerdem vermitteln v­ iele
MOTOR Features ein Sicherheitsgefühl, vom Luftfilter mit
Plug-in-Hybrid,
Reihen­ Partikel- und Pollenüberwachung bis zum Cross
vierzylinder, vorn Traffic Alert (bremst automatisch, wenn der Fahrer
zurücksetzt und sich plötzlich Fußgänger, Rad­
228 (310) fahrer oder Autos nähern).
kW (PS) Beim Einsteigen überrascht ein Startknopf, der
Hinterachs-­ nicht gedrückt, sondern gedreht werden möchte.
Elektroantrieb Acht-Gang-Automatik und Motor ergeben eine
­harmonische Einheit, die die Insassen ruckelfrei
107 (145) und kraftvoll durchs Leben kutschiert.
kW (PS)
Ohne Elektrounterstützung kommt der XC60
ANTRIEB auf gut 700 Kilometer Reichweite, zusammen mit
Allrad dem E-Antrieb sind es rund 80 Kilometer mehr –
Acht-Gang- und da sind wir zurück in der Welt von Freiheit und
Geartronic (Lade-)Druck. Denn das regelmäßige Ansteuern
Höchst­
einer Stromsäule bedarf angesichts dieser Werte
tatsächlich extremer Selbstmotivation, zumal das
Fotos: manager magazin, PR
geschwindigkeit
Tanken bis zu zwölf Stunden dauern kann. Mir hat
180 der Wagen erschreckend vor Augen geführt, dass
km/h mein innerer Schweinehund oft größer war als das
ökologische Gewissen. Wie hätte man früher in Be-
PREIS urteilungen formuliert: Margret war stets bemüht.
AB 77.100 Aber an der Waldorfschule gibt es glücklicherweise
Euro keine klassischen Zeugnisse. 1
DEZEMBER 2022 145
 WAS MACHT EIGENTLICH ...
E
s ist Ende Oktober,
eine Finanzkonferenz
in Montreal. Desiree
Fixler (50) spricht
über die Frage, wie es
jemandem ergeht, der
die eigene Branche angreift
und grüne Geldanlagen als
bloßes Marketinginstrument
geißelt. Ein paar Tage später
bei einem Kongress in New
York, Thema: Geld und Mo-
ral. Wieder sitzt sie auf dem
Podium. Für den Rest des
Jahres stehen ähnliche Auf-
tritte an.
Man kann sagen: Wie
nachhaltig die Geldbranche
wirklich ist – das ist ihr Le-
bensthema geworden.
Bis Anfang 2021 war Fix-
ler Nachhaltigkeitschefin der
Fondsgesellschaft DWS. Der
damalige Chef Asoka Wöhr-
mann (57) hatte sie bei der
Deutsche-Bank-Tochter ein-
gestellt – und nach einigen
Monaten wieder entlassen.
Fixler wurde zur Whistle-
blowerin, warf der DWS und
der Branche Scheinheiligkeit
beim Klimaschutz vor und
ist seither ein „Stachel im
Fleisch“, wie Ex-Kollegen es
nennen.
Immer wieder meldet sich
Fixler auch bei Linkedin zu
den Themen zu Wort – vor
allem dann, wenn es ein an-
Foto: [M] Ossi Piispanen für manager magazin
derer tut: Stefan Hoops
(42), seit Sommer DWS-
Chef. Fixler widerspricht
ihm, stellt unbequeme Fra-
gen, kritisiert und attackiert.
Die Managerin ist zur Ak-
tivistin geworden. „Vom
Chief Sustainability Officer
zum Chief Trouble Officer“,
sagt sie lachend.
Das nächste manager magazin erscheint am 16. Dezember 2022. Bis dahin täglich: www.manager-magazin.de
146  DEZEMBER 2022
Desiree Fixler?
Die ehemalige DWS-Nachhaltigkeits-
chefin ist ein Paria ihrer
Branche. Sie macht das Beste draus.
Chief Trouble
Officer:
Desiree Fixler
in ihrem
Zuhause in
London
Mehr als 20 Jahre hat Fix- Richtung. Kurz nachdem sie
ler im Finanzsektor zuge- den DWS-Aufsichtsratsvor-
bracht, unter anderem im sitzenden Karl von Rohr
Investmentbanking von (57) und den Deutsche-
Merrill Lynch und JP Mor- Bank-Nachhaltigkeitschef
gan. Was sie erlebte, als Jörg Eigendorf (54) in
sie ihren DWS-Job verlor, einem Schreiben auf mut-
lenkte ihr Leben in eine neue maßliche Missstände im
Nachhaltigkeitsmanagement
der DWS hingewiesen hatte,
gelangte ein internes Memo
an die Nachrichtenagentur
Bloomberg. Wöhrmann be-
gründete darin ihren Abgang
unter anderem damit, dass
sie die Nachhaltigkeitsstra-
tegie kaum vorangebracht
habe. Es waren nicht die
sonst üblichen, erwärmen-
den Abschiedsworte.
„In Gesprächen über
neue Jobs stand seitdem die
Frage im Raum, was muss
bei der DWS vorgefallen
sein, wenn man so verab-
schiedet wird“, erzählt Fix-
ler, die inzwischen in Lon-
don lebt. Einen neuen Job in
der Branche hat sie nicht ge-
funden, stattdessen reifte
die Erkenntnis: „Ich muss
die Sache aus meiner Sicht
erzählen.“ Sie machte ihre
interne Kritik publik: dass
die DWS sich nach außen hin
grüner gibt als sie ist.
Bei der DWS rückte die
Staatsanwaltschaft an,
Wöhrmann verlor seinen
Job. Die DWS weist die Vor-
würfe zurück, nur eins
räumt Hoops ein: Möglicher-
weise habe man nachhaltige
Produkte sehr lautstark ver-
trieben. Das Urteil der Fi-
nanzaufseher steht noch aus.
Wegen ihrer Entlassung
ist Fixler vors Arbeitsgericht
gezogen – und hat verloren.
Der Prozess, so sagt sie, sei
eine Farce gewesen. Mittler-
weile hat sie deswegen ein
weiteres Ziel: Sie kämpft für
einen besseren Schutz für
Whistleblower. Vor allem in
Deutschland.
1 Katharina Slodczyk
manager magazin
Das digitale Kursangebot des manager magazins

Erfolgreich und motiviert ins neue

Jahr starten – mit den richtigen Zielen
Kursstart 19. Dezember 2022
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