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Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft
Ich möchte hier ein Problem behandeln, über das nun schon seit
70 Jahren diskutiert wird. Dabei werde ich zuerst die Frage noch einmal
aufgreifen, wann der islamische Chemiker öäbir b. Hayyän gelebt hat.
Die über dieses Problem erschienenen Arbeiten stammen aus einem Zeit-
raum, in dem wir einen nur unvollkommenen Überblick über die auf uns
gekommenen Materialien aus diesem wie aus allen anderen Gebieten der
islamischen Kultur hatten. Aber es bestand immer die Hoffnung, daß
man Quellen auffinden würde, welche die bestehenden Unklarheiten
nach und nach beseitigen würden. Und tatsächlich sind unter den
Materialien, die ich bei meiner Vorbereitung eines Supplements zu
Brockelmanns Geschichte der Arabischen Literatur untersucht habe,
solche, die unsere bisherigen Kenntnisse von der islamischen Chemie in
großem Maße zu erweitern geeignet sind. Um einen Begriff von der Trag-
weite dieser neu aufgefundenen Quellen zu geben, kann man sagen, daß
sie ungefähr den gleichen Umfang haben wie alle bisher auf diesem
Gebiet zugänglich gewesenen Quellen zusammengenommen. Diese
Quellen bestehen nicht etwa aus zweiten oder dritten Kopien bereits
bekannter Handschriften ; es handelt sich vielmehr um aus verschiedenen
Jahrhunderten stammende, völlig neuentdeckte Werke bereits bekannter
oder trotz ihrer großen Bedeutung für die islamische Chemie unbekannt
gebliebener Autoren. Gegenstand dieser Erörterungen werden nur die-
jenigen dieser Werke sein, die Hinweise auf die Persönlichkeit öäbirs
oder die Zeit, in der er gelebt hat, enthalten. Bei der Feststellung, wann
öäbir gelebt hat oder ob er überhaupt gelebt hat, geht es nicht lediglich
um die Person irgendeines Chemikers. Ganz im Gegenteil stellt öäbir
den Schwerpunkt der gesamten islamischen Chemie dar. Aber auch bei-
spielsweise hinsichtlich der Frage der ersten islamischen Chemiker und
der Bedeutung öäbirs für die allgemeine Geschichte der Chemie können
wir nur weiterkommen, wenn wir zuvor eindeutig bestimmt haben, wann
öäbir gelebt hat.
Als erster hat im Jahre 1893 M. Berthelot zusammen mit O. Houdas
einige arabische Abhandlungen Öäbirs herausgegeben. Im Jahre 1906
fand er die lateinische Übersetzung der sog. ,,70 Bücher' ť Öäbirs, unter-
suchte sie und kam zu dem Ergebnis, daß es sich um apokryphe Werke
lateinischer Autoren des 13. Jahrhunderts handele, die diese dem öäbir
Chemikern aus der zweiten Hälfte des 9. und dem Anfang des 10. Jh.,
die diese einem Manne namens öäbir zugeschrieben hätten.
Im zweiten Band setzt er sich mit dem eigentlichen wissenschaftlichen
Inhalt des Corpus öäbirs auseinander und sucht nach dem Ursprung
seiner Ideen. Nach seiner Meinung haben die chemischen Theorien
öäbirs sehr wenig mit der antiken Chemie gemeinsam. So lehnte er z.B.
die Verwendung von Symbolen und Allegorien ab, machte den Körper
von Lebewesen zum Gegenstand seiner chemischen Untersuchungen und
arbeitete mit dem der Antike unbekannten Ammoniak. Nach Kraus ist
der Ursprung von öäbirs System im Orient zu suchen, vielleicht in
Indien, vielleicht sogar in China.
Am Ende seines Buches gibt er der Tatsache Ausdruck, daß man auf
alle derartigen Fragen noch keine endgültige Antwort geben könne, da
die Studien über die Geschichte der islamischen Wissenschaften noch
nicht weit genug fortgeschritten seien.
In der Tat scheint heute, nachdem viele neue Materialien zugänglich
geworden sind, eine Überprüfung seiner Ergebnisse notwendig geworden
zu sein.
Hier werde ich die Materialien behandeln, die uns vor allem Auf-
schlüsse darüber geben, daß öäbir - entgegen der Meinung von Kraus
- im 8. Jh. n.Chr. gelebt hat. Wenn wir die Richtigkeit dieser traditio-
nellen Zeitangabe beweisen können, dann entstehen völlig neue Fragen
bezüglich der Quellen öäbirs. Nach meiner Meinung sind bei Kraus
einige Fehler in Bezug auf die Quellen öäbirs entstanden, deren Grund
in der falschen Festlegung der Zeit öäbirs liegt, andererseits aber sind
einige Vorurteile gegenüber den Quellen der Grund für eben diese falsche
Festlegung von öäbirs Zeit.
Die Zweifel an der geschichtlichen Persönlichkeit öäbirs sind schon
ziemlich alt. Bereits im 10. Jh. christlicher Zeitrechnung hat Ibn an-
Nadīm3 sie aufgegriffen und zu widerlegen versucht. Obwohl er nicht
sagt, wer solche Zweifel geäußert hat, wird es doch deutlich, daß er die
folgende Angabe seines Zeitgenossen Abü Sulaimän al-Mant>iqī meint4:
,,Ich habe einen Freund namens al-Hasan b. an-Nakad al-Mau§ilï.
Der pflegte Bücher zu verfassen und dem öäbir zuzuschreiben und
brachte sie dann zu Liebhabern der Chemie, womit er eine schöne
Stange Geldes verdiente".
Kraus mißt dieser Angabe von Abü Sulaimän al-Mantiqī eine große
Bedeutung bei. Er sagt, daß dessen Freund al-Hasan b. an-Nakad al-
Mauçilï nach dem Jahre 320 der Hiģra, also 932 der christlichen Zeit-
rechnung, die sog. „500 Bücher" des Corpus öäbirs verfaßt und die
8 Fihrist ed. Flügel, 354ff.
4 Cf. Kraus, Contribution I, Vorwort LXHI - LXIV.
18 ZDMG 114/2
erst in einer nach Rāzī liegenden Zeit dem öäbir zugeschrieben worden
seien. So z.B.: öäbir wie auch Rāzī haben beide ein Kitab al-Hawäss
verfaßt. Rāzī benutzt für sein Buch die antiken Autoren sowie Ibn
Mäsawaih (243/857), Kindī (256/870), Ahmad b. Rabban at-Tabarī
(250/864) und Hunain (260/873), die alle im 3. Jh. gelebt haben. Kraus
sagt nun: Wenn Rāzī öäbirs Buch, das noch umfassender und besser als
sein eigenes Buch war, gekannt hätte, so hätte er sicher nicht versäumt
daraus zu profitieren. Dagegen steht dem nichts im Wege, wenn wir
denken, daß der Verfasser von öäbirs Buch von Rāzī profitiert und
einen großen Teil seines Materials diesem Buche entnommen habe. Zu-
mindest können wir annehmen, daß entweder beide voneinander unab-
hängig sind oder dieselben Quellen benutzt haben. Kürzlich haben
J. Ruska und K. Garbeks gezeigt, daß die chemischen Rezepte im
Sirr al-asrār von Rāzī und dem Kitab ar-Riyäd al-kablr von öäbir eine
große Ähnlichkeit aufweisen.
Kraus sagt aber, daß trotz alledem ein genaues Studium der Texte
zeige, daß auch in diesem Fall zwischen öäbirs und Rāzīs Chemie keine
direkte Verbindung besteht, öäbirs Rezepte seien fast immer umfassender
und stützten sich auf „Autoritäten" wie Sokrates und Plato, seien auch auf
arithmetischer Grundlage entstanden, die bei Rāzī hingegen zu völlig fal-
schen Ergebnissen führen. Er fügt hinzu, daß er hier auch völlig mit Ruska
übereinstimme, nämlich, daß weder öäbir Rāzī nachfolge, noch Rāzī dem
öäbir, sondern daß beide sich auf eine ältere Chemieschule stützten32
Kraus weist hier auf zwei sehr wichtige Probleme hin: 1. Der große
Unterschied zwischen öäbirs und Rāzīs Auffassung von der Chemie,
2. die Tatsache, daß Rāzī in seinem Kitāb al-Hawäss , obwohl er von
antiken und von Verfassern aus dem dritten Jh. der Hiģra profitiert,
öäbirs Buch nicht benutzt. Kraus will hiermit seine Theorie über das
Datum des Corpus stützen, daß nämlich öäbirs Bücher nicht in einer
vor Rāzī liegenden Zeit entstanden seien.
Ich werde zeigen, daß hieraus sich aber Beweise für das traditionell
angenommene Datum des Corpus und für den wichtigen Charakter seiner
Chemie und vielleicht seiner gesamten Wissenschaft ergeben. Dies wird
uns auch zur Erklärung führen, ob die Quellen Öäbirs und Rāzīs
„gemeinsam4 ' sind, wie Kraus behauptet hat. Indem Kraus im 2. Band
seines Buches öäbirs Materialien und Theorien und seine Quellen sehr
gut ausgewertet und den Unterschied zwischen ihm und den anderen
islamischen Naturwissenschaftlern sehr geschickt erklärt hat, befindet
er sich in Wiederspruch zu seinem eigenen ersten Band, in welchem er
behauptet, daß öäbir nicht gelebt habe und die ihm zugeschriebenen
Werke im 3. und 4. Jh. von einer Schī(a- Schule hervorgebracht worden
32 Ebenda LXII.
Kommen wir nun zu der Tatsache, die Kraus als Stütze gegen die
traditionell angenommene Entstehungszeit des Corpus anführt, nämlich,
daß Rāzī in seinem Kitāb al-Hawāss öäbir nicht als Quelle benutzt, so
zeigt eine gleichzeitige Untersuchung der Quellen beider, daß sie von-
einander völlig verschieden sind, und weist öäbir einer Zeit zu, in der
noch keine direkte Berührung mit der griechischen Kultur bestand, also
ins 2. Jh. Außerdem trennt es ihn von Rāzī und den anderen islamischen
Autoren, die vor Rāzī Bücher über hawäss = „die Eigenschaften der
Dinge" verfaßt haben.
Die Stützen für diese Behauptungen werde ich aus Kraus' eigenen
Studien entnehmen. Kraus sagt: „Es ist eine Tatsache von großer Be-
deutung, daß das Buch öäbirs sich von einem großen Teil der von anderen
islamischen Chemikern über das gleiche Thema geschriebenen Bücher
unterscheidet. Obwohl diese letzteren in Berührung mit der antiken
Literatur standen, stellt öäbirs Werk ein Sammelbecken dar für alle
Arten von literarischer Produktion43. „Obgleich öäbirs Kitāb al-Hawäss
an einigen Stellen mit den antiken Anschauungen übereinstimmt, ist es
doch von der griechischen Literatur verschieden. Sehr wahrscheinlich
stammt es aus orientalischen Quellen. Indem Öäbir sich in seinem
Kitāb al-Hawāss dem Begriff Hila „Grund, Ursache" zuwendet, kritisiert
er nicht nur die Theologen, welche die Existenz der Eigenschaften be-
streiten, sondern auch die Philosophen, besonders Aristoteles, der
leugnet, daß der menschliche Verstand je die Ursachen der Eigenschaften
auffinden könne. Während Rāzī in seinem kleinen Buch über die Eigen-
schaften sagt, die Ursachen, welche die Eigenschaften bestimmen,
seien und blieben uns verborgen, ist öäbir ganz im Gegensatz hierzu
bestrebt, die Ursachen der Eigenschaften ans Licht zu bringen"44.
Abschließend ist zu dem Problem zu sagen: Ich habe versucht zu
zeigen, daß öäbir im 2. Jh. gelebt hat und der Verfasser des Corpus ist.
Es bleiben jedoch noch viele Probleme bezüglich öäbirs Lehre und
Persönlichkeit zu bearbeiten. Vielleicht wird das Ergebnis nicht so sein,
wie ich es mir jetzt vorstelle, vielleicht irre ich mich auch völlig. Aber
nachdem ich Kraus' letzte Studien gelesen und zum Teil die Bücher von
öäbir studiert habe, bin ich davon überzeugt, daß Öäbir b. Hayyän den
42 Tamtam oder Tumtum oder mit anderen Vokalen; in Talcat Bibl.
(Kairo, Dār al-Kutub) Magami1 406.
43 Kraus, Contribution II, 64 - 65. 44 Ebenda II, 94 - 95.
Höhepunkt und die Synthese einer Kultur bildet, die sich in den 5 - 6
Jahrhunderten entwickelte, die zwischen dem goldenen Zeitalter der
griechischen Kultur und der Zeit liegen, in der die Muslime wieder be-
gannen, sich ernsthaft mit diesen Problemen zu beschäftigen. Abgesehen
davon, daß öäbir der Begründer der modernen Chemie ist45, ist er auch
derjenige Philosoph des Mittelalters, der in großem Maße an den Er-
klärungen verschiedener physikalischer, metaphysischer, philosophischer
und astronomischer Probleme der griechischen Wissenschaftler Kritik
geübt hat. Sein Einfluß auf die islamische Wissenschaft, die sich in den
folgenden Jahrhunderten mehr mit der Aufnahme und Ausarbeitung der
griechischen Wissenschaft beschäftigte, ist geringer gewesen als der, den
er durch lateinische Übersetzungen gerade auf die abendländische
Wissenschaft ausgeübt hat.
46 Holmyabd in Proceedings of the Roy. Soc. of Medicine, XVI, 1923,
46-57.