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ROLF BERGMANN

PETER PAULY
STEFANIE STRICKER
VI. Grundbegriffe der Wortbildung

1. Die Ermittlung der Morpheme


Einführung Der Textanfang aus 'Der Tod in Venedig' von Thomas Mann wird unter dem
Aspekt des Aufbaus des sprachlichen Zeichens betrachtet:
in die deutsche Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten Ge-
burtstag amtlich sein Name lautete, hatte an einem FIiihlingsnachmittag des
Sprachwissenschaft Jahres 19.. , das unserem Kontinent monatelang eine so gefahrdrohende Miene
zeigte, von seiner Wohnung in der Prinzregentenstraße zu München aus allein
einen weiteren Spaziergang unternommen. Überreizt von der schwierigen und
Vierte, überarbeitete und erweiterte Auflage getahrlichen, eben jetzt eine höchste Behutsamkeit, Umsicht, Eindringlichkeit
von ROLF BERGMANN und Genauigkeit des Willens erfordernden Arbeit der Vormittagsstunden, hatte
der Schriftsteller dem Fortschwingen des produzierenden Triebwerkes in
und STEFANIE STRICKER seinem Innem, jenem -motus animi continuus«, worin nach Cicero das Wesen
der Beredsamkeit besteht, auch nach der Mittagsmahlzeit nicht Einhalt zu tun
vermocht und den entlastenden Schlummer nicht gefunden, der ihm, bei zu-
Mit Beiträgen von nehmender Abnutzbarkeit seiner Kräfte, einmal untertags so nötig war. So
URSULA GÖTZ hatte er bald nach dem Tee das Freie gesucht, in der Hoffnung, daß Luft und
ANNETTE KLOSA Bewegung ihn wiederherstellen und ihm zu einem ersprießlichen Abend ver-
helfen würden.
CLAUDINE MOULIN Es war Anfang Mai und, nach naßkalten Wochen, ein falscher Hochsommer
MICHAEL SCHLAEFER eingefallen. Der Englische Garten, obgleich nur erst zart belaubt, war dumpfig
wie im August und in der Nähe der Stadt voller Wagen und Spaziergänger
CLAUDIA WICH-REIF
gewesen. Beim Aumeister, wohin stillere und stillere Wege ihn geführt, hatte
Aschenbach eine kleine Weile den volkstümlich belebten Wirtsgarten über-
blickt, an dessen Rand einige Droschken und Equipagen hielten, hatte von dort
bei sinkender Sonne seinen Heimweg außerhalb des Parks über die offene Aur
genommen und erwartete, da er sich müde fühlte und über Föhring Gewitter
drohte, am Nördlichen Friedhof die Tram, die ihn in gerader Linie zur Stadt
zurückbringen sollte.
Zufällig fand er den Halteplatz und seine Umgebung von Menschen leer.
Weder auf der gepflasterten Ungererstraße, deren Schienengeleise sich einsam
gleißend gegen Schwabing erstreckten, noch auf der Föhringer Chaussee war
ein Fuhrwerk zu sehen; hinter den Zäunen der Steinmetzereien, wo zu Kauf
stehende Kreuze, Gedächtnistafeln und Monumente ein zweites, unbehaustes
Universitätsverlag Gräberfeld bilden, regte sich nichts, und das byzantinische Bauwerk der
WINTER
Aussegnungshalle gegenüber lag schweigend im Abglanz des scheidenden
Heidelberg
Tages.
Thomas Mann, Die Erzählungen, Frankfurt a.M. 1966. S. 444f.
42 VI. Grundbegriffe der Wortbildung Morphemanalyse 43

Der Inhalt des vorliegenden Textes wird durch die am Aufbau des Textes Element -keil verbindet sich nur mit Adjektiven, so dass nur eine Zweigliede-
beteiligten Einheiten vermittelt. Im herkömmlichen Sinne gelten als kleinste rung in eindringlich und -keit erfolgen kann. Die durch das Element -lieh
bedeutungstragende Einheiten der Sprache die Wörter. Bereits das Beispiel gegebene Festlegung auf die Wortart Adjektiv ist in der Bildung auf -keit
Eindringlichkeit (Z. 6) zeigt aber, dass in Wörtern wieder andere Wörter aufgehoben. Der Bestandteil eindringlich seinerseits ist ebenfalls in eine
enthalten sein können, neben denen andere Elemente stehen, die man nicht Zweiheit aufZulösen, da sich das Element -lieh mit Verben, Substantiven und
als Wörter bezeichnen kann, die aber auch an der Bedeutung des ganzen Adjektiven verbindet. Die Wortbildungsstruktur kann folgendermaßen ver-
Wortes beteiligt sind. Das Verfahren der Ermittlung und Bestimmung dieser anschaulicht werden:
Einheiten soll zunächst an diesem Beispiel Eindringlichkeit erarbeitet werden.
Eindringlichkeit (Subst.)
In Eindringlichkeit ist das Adjektiv eindringlich enthalten. Die Gegenüber-
stellung von Eindringlichkeit und eindringlich als selbständig vorkommenden
Wörtern führt zu der Beobachtung eines Elements -keit. Dieses ist bereits
eindrin;::(Adj.) ~ -keit
insofern an der Bedeutung des Wortes Eindringlichkeit beteiligt, als das Wort
Eindringlichkeit einer anderen Wortart angehört als das Wort eindringlich und
sich die beiden Wörter nur in diesem Element -keil unterscheiden. -keit lässt
/
eindring(en) (Verb) "'"
-lieh
Strukturelle Elemente wie eindringlich und -keil bilden auf verschiedenen,
sich auch in anderen Wörtern wiederfinden: hierarchisch geordneten Ebenen Wörter oder Teile von Wörtern. In dieser
Eindringlich / keit Haltbar / keit Eigenschaft werden sie Konstituenten genannt, ihre Verbindung und Anord-
Freundlich / keit Regsam / keit nung Konstituentenstruktur. Als unmittelbare Konstituenten, also als Bil-
Traurig / keit Übel / keil dungselemente auf derselben hierarchischen Stufe, stehen sich im gewählten
Beispiel eindringlich und -keil gegenüber, wobei eindringlich seinerseits eben-
Diesen Wörtern mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung ist gemeinsam, dass falls als Wortbildungsprodukt erkannt und in die unmittelbaren Konstituenten
sie Substantive sind und dass bei Abtrennung des Elements -keit Adjektive als eindring(en) und -lieh zerlegt werden kann.
Grundlage erkennbar werden. Aufgrund dieses Befundes lässt sich dem Die Beschreibung der Konstituentenstruktur setzt die morphologische
Element -keit die Funktion zuordnen, zu Adjektiven Substantive zu bilden, in Durchsichtigkeit und die semantische Motiviertheit einer Wortbildung
denen die Adjektivbedeutung als selbständige Größe ausgedruckt wird. Diese voraus (man vergleiche Kapitel m.6.). So ist das Wort Eindringlichkeit im
Funktion ist das, was das Element -keil zur Bedeutung des ganzen Wortes Hinblick auf die durch die Kombination der einzelnen Elemente entstandene
beiträgt. Bedeutung beschreibbar als 'Eigenschaft des Eindringlich-Seins'. In dieser
Auch das Wort eindringlich steht in einer vergleichbaren Wortreihe: Umschreibung der Bedeutung bleibt die Konstituente eindringlich erhalten,
während die Konstituente -keit durch bedeutungsbeschreibende sprachliche
eindring / lieh bedroh / lieh
Mittel ersetzt wird. Mit dieser Art der Umschreibung, die als Paraphrasie-
männ / lieh freund / lieh
rung bezeichnet wird, werden die beiden unmittelbaren Konstituenten ein-
gelb / lieh bitter / lieh
dringlich und -keit in ihrer Funktion verdeutlicht. Zugleich wird die Ent-
Es handelt sich um Adjektive, deren Grundlage Verben, Substantive oder scheidung für diese Form der Zerlegung begründet.
Adjektive sind. An ihrer Bedeutung ist das Element -lieh beteiligt. Das Die kleinsten am Zustandekommen der Bedeutung eines Wortes beteiligten
Beispiel männlich zeigt, dass bei der Kombination von Elementen auch Einheiten der Sprache werden Morpheme genannt. Verbreitet ist eine ver-
lautliche Veränderungen auftreten können. kürzte Definition des Morphems als kleinste bedeutungstragende Einheit der
Das Wort Eindringlichkeit besteht also aus drei Elementen, die gemeinsam Sprache. Wenn man aber Bedeutung als Verweisung eines Ausdrucks auf
die Bedeutung ergeben. Das sind eindring(en), -lieh, -keit. Diese Elemente einen Inhalt versteht, so hat nur eine Morphemkonstruktion als Ganzes eine
stehen im Hinblick auf die Bedeutung aber nicht einfach nebeneinander. Das
44 VI. Grundbegriffe der Wortbildung Fugenelemente 45

Bedeutung, an der die einzelnen Morpheme in unterschiedlicher Weise be- en-straße (Z. 4), Vormittag-s-stunden (Z. 7), Mittag-s-mah/zeit (Z. 10), Win-
teiligt sind. s-ganen (Z. 20), Gräb-er-jeld (Z. 31), Aussegnung-s-halle (Z. 32).
Das Verfahren, mit dem die Morpheme ermittelt werden, gliedert sich in Das Beispiel Gebun-s-tag zeigt, dass das Fugenelement nicht unbedingt in
die beiden Schritte des Segmentierens und Klassifizlerens. Segmentieren Zusammenhang mit der Flexion der ersten Konstituente Gebun zu sehen ist.
bedeutet die Zerlegung von komplexen Wörtern in ihre Bestandteile (ein- Bei der Flexion des Femininums Gebun tritt kein -s auf. Das Fugenelement
dringlich, -keil). Für den als Morphem zu klassifizierenden Bestandteil -keit kann hier also keine flexivische Bedeutung (etwa des Genitivs Singular oder
werden Oppositionen gebildet, die das Morphem -keil in verschiedenen des Plurals) in die Bedeutung der Bildung einbringen. Das gilt auch für -s- in
Umgebungen zeigen. Aussegnung-s-halle.
In anderen Fällen stimmen die Fugenelemente formal mit Flexionselemen-
Eindringlich- ten der ersten Konstituenten überein, zum Beispiel in Prinzregent-en-straße
FreundLich- -keit (Genitiv Singular), Vormittag-s-stunden (Genitiv Singular), Mittag-s-mah/zeil
Traurig- (Genitiv Singular), Win-s-ganen (Genitiv Singular), Gräb-er-jeld (Plural).
Die Segmentierung ist nur dann sinnvoll, wenn auch die verbleibenden Das Fugenelement -er- tritt nur bei Wörtern auf, die den Plural mit -er
Elemente mit einer vergleichbaren Funktion in anderen Umgebungen vorkom- bilden: Grab - Gräberfeld, Huhn - Hühnerei, Rind - Rindersteak.
men. Diese Bedingung ist insofern erfüllt, als die Elemente eindringlich,
freundlich und traurig auch als selbständige Wörter, und zwar als Adjektive, 2. Die Funktionsklassen der Morpheme
auftreten.
Beim Klassifizieren des Morphems ist in syntagmatischer Hinsicht seine Morpheme lassen sich aufgrund ihrer Funktion verschiedenen Klassen zuord-
Umgebung und in paradigmatischer Hinsicht seine Beziehung zu anderen in nen. Grundlage jedes Wortes ist immer mindestens ein Morphem, das die
denselben Umgebungen auftretenden Morphemen zu berücksichtigen. Das inhaltliche Beziehung des Wortes zu dem bezeichneten Sachverhalt und zu
Morphem -keil tritt an andere Wörter an und bildet mit ihnen Substantive. In anderen Wörtern begründet und häufig auch allein als Wort auftreten kann,
diese Klasse gehören ferner beispielsweise die Morpheme -heit, -e, -erei, zum Beispiel schön in Schönheit. Nach ihrer Wichtigkeit für das ganze Wort
-ung, die alle feminine Substantive von anderen Wörtern ableiten:
nennt man diese Morpheme Grundmorpheme. Ein Wort besteht aus minde-
stens einem Grundmorphem, zum Beispiel Tee (Z. 13), klein (Z. 20). Es
Menschlich-keit, Schön-heit, Größ-e, Lauf-erei, Beweg-ung. kann aber auch mehrere Grundmorpheme aufweisen. Beispielsweise bestehen
Es gibt allerdings auch eine Reihe von Fällen, in denen ein Morphem nur in die Bildungen Hoch-sommer und Halte-platz jeweils aus zwei Grundmor-
einer Morphemkonstruktion auftritt, wie zum Beispiel Him- in Himbeere. Die phemen. Die Morpheme in Hoch-sommer können auch als selbständige Wör-
Abtrennung des Morphems Him- ist durch die Opposition zu Erdbeere als ter allein auftreten (hoch und Sommer). Grundmorpheme dieser Art werden
richtig erweisbar . Morpheme wie Him- in Himbeere werden als unikale als freie Grundmorpheme bezeichnet. In Halte-platz ist Platz ebenfalls ein
Morpheme bezeichnet, da sie nur in einer einzigen Verbindung auftreten. freies Grundmorphem, während Halte- so als Wort nicht vorkommt. Grund-
Wortbildungen mit unikalen Morphemen sind in der Regel nur historisch zu morpheme, die als selbständige Wörter in dieser Form nicht vorkommen,
erklären. werden als gebundene Grundmorpheme bezeichnet. Häufig werden die
Grundmorpheme zur Bildung neuer Wörter mit Morphemen vom Typ -keit,
Fugenelemente -lieh usw. kombiniert, so zum Beispiel in amt-lieh (Z. 2). Diese Morpheme
Das Substantiv Gebunstag (Z. 1-2) weist außer den Bestandteilen Gebun und treten entweder vor Grundmorpheme und werden Präfix genannt (z.B. er-,
Tag mit -s- ein Element auf, das in der Fuge zwischen beiden Elementen ge-, be-, ver-) oder sie treten hinter Grundmorpheme und werden Suffix
steht und entsprechend als Fugenelement bezeichnet wird. Vergleichbare genannt (z.B. -lieh, -heit, -ung, -nis). Als Oberbegriff für Präfix und Suffix
Fugenelemente zeigen auch andere Wortbildungen des Textes: Prinzregent- wird Affix verwendet. Diese Morpheme modifizieren die Bedeutung der
Grundmorpheme und dienen der Überführung eines Grundmorphems in ver-
,
VI. Grundbegriffe der Wortbildung f Arten der Wortbildung 47
schiedene Wortarten und damit zugleich in verschiedene syntaktische Funk- 3. Arten der Wortbildung
tionen. Im Hinblick auf ihren Anteil an der Bildung des ganzen Wortes
Während die Flexionsmorpheme der Verbindung der Wörter im Text dienen
heißen sie Formationsmorpheme.
und neue Wortformen schaffen, bilden Grund- und Formationsmorpheme
Die Segmentierung der Morpheme des Wortes Jahres (Z. 3) führt auf eine
neue Wörter. Dabei können grundSätzlich zwei Verfahren nach der Art der
weitere Klasse von Morphemen. Das Element -es lässt sich aufgrund folgen-
beteiligten Morpheme unterschieden werden. In dem Wort Hochsommer (Z.
der Oppositionen segmentieren: Jahr-es,' Haus-es,' Hut-es,' Mann-es. Die
16) treten als unmittelbare Konstituenten die beiden Wörter hoch und Sommer
verbleibenden Elemente Jahr-, Haus-, Hut-, Mann- können auch mit einem
zusammen. Wortbildungen wie diese, in denen die beiden Konstituenten Wör-
Segment -e verbunden auftreten: Jahr-e, Haus-e, Hut-e, Mann-e. Im Unter-
ter oder Grundmorpheme sind, die auch außerhalb der jeweiligen Verbindung
schied zu den Formationsmorphemen entsteht bei dieser Verbindung kein
vorkommen, nennt man Komposita oder Zusammensetzungen. Den Wort-
neues Wort. Es entsteht eine neue Wortform oder ein neues grammatisches
Wort, das heißt ein Wort, das grammatisch anders einsetzbar ist. Das Mor- bildungstyp nennt man Komposition oder Zusammensetzung. Den Kom-
posita sind Wortbildungen gegenüberzustellen, in denen eine Konstituente
phem -es lässt sich als Genitivendung im Singular neutraler und maskuliner
nicht selbständig vorkommt. Die Konstituente -keil in dem Wort Eindring-
Substantive klassifizieren. In syntagmatischer Hinsicht ist sein Auftreten
gebunden an neutrale und maskuline Substantive, denen die Artikelform des
lichkeit (Z. 6) ist als Formationsmorphem zu klassifizieren. Sie leitet aus dem
Wort eindringlich eine neue Bildung ab. Solche Bildungen nennt man Deri-
oder eines vorangehen kann. In paradigmatischer Hinsicht steht die Genitiv-
vate oder Ableitungen. Den Wortbildungstyp nennt man Derivation oder
endung -es in Opposition zur Dativendung -e und zum Fehlen von Endungen
Ableitung.
im Nominativ und Akkusativ. Um die Opposition auch dieser Formen in
Komposition und Derivation können in einem Wort kombiniert auftreten,
Bezug auf die Endung benennen zu können, spricht man ihnen eine Null-
wie an dem Beispiel Aussegnungshalle (Z. 32) sichtbar wird. Die gesamte
endung zu; sie wird als 0 geschrieben: Geist-@ gegenüber Geist-es. Das
Bildung ist zunächst als Kompositum aus Aussegnung und Halle zu charak-
Morphem -es gehört in die Klasse der Flexionsmorpheme oder Flexive, die
terisieren. Das Element -s- ist als Fugenelement zu bestimmen. Die erste
vor allem die Beziehungen der Wörter im Satz ausdrücken und daher auch
Konstituente Aussegnung ist eine Ableitung eines Substantivs auf -ung von
Relationsmorpheme heißen. Auf diese Weise sind sie an der grammatischen
Bedeutung beteiligt, die die Wörter im jeweiligen Kontext haben. Formations- einem Verb aussegn(en), das selbst aus einem Präfix aus- und einem Grund-
morphem segn(en) besteht. Die zweite Konstituente Halle ist ein substantivi-
und Relationsmorpheme lassen sich als stets unselbständige Hilfsmorpheme
sches Grundmorphem.
den Grundmorphemen gegenüberstellen. Die Flexionsmorpheme bilden
jeweils kategorial bestimmte geschlossene Paradigmen. Im Unterschied dazu
sind die Wortbildungsparadigmen offen, insofern sie durch Neubildungen 4. Typen der Komposition
prinzipiell erweiterbar sind. Determinativkompositum
Die im Text von Thomas Mann vorkommenden Wörter lassen sich nun- In dem Text von Thomas Mann begegnen neben Hochsommer weitere Kom-
mehr segmentieren, ihre Morpheme klassifizieren. Es treten beispielsweise posita, zum Beispiel Frühlingsnachmittag (Z. 2), Vormittagsstunden (Z. 7),
die folgenden Grundmorpheme auf: Tag in Gebunstag (Z. 1-2), Weg in Halteplatz (Z. 26), Gedächtnistajeln (Z. 30). Das Zweitelement der Kom-
Heimwege (Z. 22), Garten in Wirtsgarten (Z. 20), fünjinjünfzigsten (Z. 1). posita legt jeweils die Wortart fest. Sofern das Zweitelement ein Substantiv
Formationsmorpheme sind beispielsweise -ung in Wohnung (Z. 4), -lieh und ist, legt es auch das Genus fest. Hochsommer ist ein maskulines Substantiv,
-keit in Eindringlichkeit (Z. 6), er- und -lieh in ersprießlich (Z. 30). Als da Sommer ein maskulines Substantiv ist. Vormittagsstunde ist ein feminines
Flexionsmorpheme klassifizierbar sind beispielsweise -em in seinem (Z. 1), Substantiv, da Stunde ein feminines Substantiv ist. Die Flexion des Kom-
-es in Jahres (Z. 3), -en in produzierenden (Z. 8). positums wird am Zweitelement ausgewiesen. Aufgrund dieser wichtigen
grammatischen Funktionen wird das Zweitelement Grundwort genannt.
48 VI. Grundbegriffe der Wortbildung Komposition -+9

Die Bedeutung des Kompositums wird von Erstelement und Grundwort hältnis wird als exozentrisch bezeichnet. Häufig erfolgt die Bezeichnung nach
gemeinsam festgelegt: Frühlingsnachmittag 'Nachmittag im Frühling', Vor- einem Besitzverhältnis. Exozentrische Determinativkomposita mit einem
mittagsstunden 'Stunden am Vormittag', Halteplatz 'Platz, wo ein öffentliches derartigen Bedeutungsverhältnis werden Possessivkomposita genannt.
Verkehrsmittel hält', Gedächtnistafeln 'Tafeln zum Gedächtnis'. Die durch .. Anderen Komposita mit einem exozentrischen Bedeutungsverhältnis liegen
das Grundwort gegebene Bedeutung wird durch das Erstelement spezifiziert. Ubertragungen zugrunde:
Das Erstelement bestimmt (determiniert) die Bedeutung des Grundwortes Langfinger 'Person, die (im übertragenen Sinne) lange Finger hat'
näher. Aufgrund dieser Funktion der Erstelemente werden sie als Bestim- Dickkopf 'Person, die (im übertragenen Sinne) einen dicken Kopf
mungswörter bezeichnet. Der in diesen Bildungen vorliegende Kompositions- hat'.
typ wird im Hinblick auf die Bedeutungsbeziehung zwischen Bestimmungs-
Kopulativkompositum
wort und Grundwort Determinativkompositum genannt. Das Bedeutungs-
In dem Auszug aus Thomas Manns Erzählung zeigt sich in dem Kompositum
verhältnis wird als subordiniert bezeichnet. Ein Merkmal der Determinativ-
naßkalt (Z. 16) ein anderes Bedeutungsverhältnis zwischen Erstelement und
komposita ist, dass sie im folgenden Text durch ihr Grundwort vertreten
Zweitelernent. Beide Elemente stehen semantisch gleichwertig nebeneinander.
werden können. Frühlingsnachmittag ist durch Nachmittag ersetzbar, Ge-
Die Bedeutungen beider Elemente bilden additiv die Bedeutung des Kom-
dächtnistafeln durch Tafeln. Der Ersatz ist möglich, da die Bedeutung des
positums: naßkalt 'nass und kalt zugleich'. Das Bedeutungsverhältnis der-
Kompositums innerhalb der Bedeutung des Grundwortes liegt. Ein solches
artiger Komposita ist als koordiniert zu bestimmen. Sie werden als Kopula-
Bedeutungsverhältnis wird als endozentrisch bezeichnet.
tivkomposita bezeichnet. Bei diesen Komposita gehören beide Elemente
Die Art der Determination kann variieren. Sie ergibt sich nicht unmittelbar
derselben Wortart an. Sie stammen zudem aus demselben Bedeutungsbereich,
aus der Bildung selbst, sondern oft erst aus den außersprachlichen Gegeben-
hier aus dem der Witterungsadjektive. Die Elemente sind grundsätzlich auch
heiten. So liegt bei Frühlingsnachmittag 'Nachmittag im Frühling' und
vertauschbar: naßkalt = kaltnaß. Die Bedeutung verändert sich dadurch
Vormittagsstunden 'Stunden am Vormittag' eine zeitliche Determination des
nicht, allerdings ist die Umkehrung der Reihenfolge in der Regel nicht
Grundwortes durch das Bestimmungswort vor, Halteplatz weist ein lokale
üblich. Bei Determinativkomposita ist die Umkehrung der Reihenfolge der
und funktionale Determination auf, und bei Gedächtnistafeln ist eine Bestim-
Elemente stets mit einer Veränderung der Bedeutung verbunden: Hochsom-
mung durch den Zweck gegeben: 'Tafeln zum Gedächtnis'.
mer versus Sommerhoch.
Die unmittelbaren Konstituenten eines Kompositums können selbst schon
Komposita sein. Das gilt beispielsweise für Prinzregentenstraße (Z. 4). Bei Zuswmmnenrückung
diesem Kompositum ist das Bestimmungswort bereits zusammengesetzt. Von dem häufigen Typ der Zusammensetzung ist der Sonderfall der Zusam-
menrückung zu unterscheiden. Gemeint ist, dass eine syntaktische W ort-
(A + B) + C (Prinz- + -regent-en) + -straße
gruppe unter Beibehaltung der Wortfolge und der Flexion zu einem neuen
Possessivkompositum Wort 'zusammengerückt' worden ist:
Bei anderen Komposita liegt ein anderes Bedeutungsverhältnis vor:
drei Käse hoch zu Dreikäsehoch
Rotschwänzchen 'Vogel, der einen roten Schwanz hat' nimmer satt zu Nimmersatt
Langbein 'Person, die lange Beine hat' lange Weile zu Langeweile.
Bei Rotschwänzchen und Langbein wird wie bei den bisher behandelten An der Bildung Langeweile wird die Beibehaltung der Flexion sichtbar, die
Komposita das ZweitgIied durch das Erstglied determiniert. Es handelt sich bei Komposita wie Hochsommer gerade nicht gegeben ist.
also um Determinativkomposita. Allerdings liegt die Bedeutung der ganzen
Bildung außerhalb der Bedeutung des Grundwortes. Ein Rotschwänzchen ist
kein Schwänzchen, ein Langbein ist kein Bein, weshalb das Kompositum auch
nicht durch das Grundwort ersetzt werden kann. Ein solches Bedeutungsver-
50 VI. Grundbegriffe der Wortbildung Derivation 51

5. Typen der Derivation Wortgruppe braune Augen, die mit Hilfe des Suffixes -ig abgeleitet worden
ist.
In dem Auszug aus der Erzählung 'Der Tod in Venedig' begegnen auch
einige Wortbildungen, in denen eine Konstituente nicht frei vorkommt,
braunäugig
sondern als Formationsmorphem zu klassifizieren ist, zum Beispiel Wohn-ung
(Z. 4), Abnutzbar-keit (Z. 12), Beweg-ung (Z. 14), dumpf-ig (Z. 17), be-steht A
braun(e) Aug(en)
~-ig
(Z. 10), be-lebt (Z. 20), ver-helfen (Z. 14-15). Es handelt sich dabei um
Derivate oder Ableitungen.
Derartige Ableitungen von Wortgruppen nennt man Zusammenbildungen.
Der Bestandteil, mit dem das Formationsmorphem bei der Ableitung
Eine Deutung der Bildungen Schriftsteller und braunäugig als Komposita
verbunden wird, heißt Basis. Die Basis kann aus einem Grundmorphem (z.B.
scheidet aus, da es Steiler und äugig als Grundwörter nicht gibt.
dumpf-) oder einem bereits gebildeten Wort (z.B. ahnutzbar-) bestehen.
Zwischen der Basis und dem Derivat kann ein Wechsel der Wortart ein- Derivation ohne Affix
treten: wohn(en) .... Wohn-ung; beweg(en) .... Beweg-ung; ahnutzbar .... Abnutz- Bei den bisherigen Beispielen für eine Derivation war stets ein Affix an der
bar-keit. Es kann auch nur ein Wechsel der Bezeichnungsklasse eintreten: Wortbildung beteiligt. Diese Ableitung mit Hilfe von Affixen wird als ex-
Bamberg ('Ort') .... Bamberger ('Person'). Ein Wortart- und/oder Bezeich- plizite Ableitung bezeichnet.
nungsklassenwechsel durch Ableitung wird Transposition genannt. Die Wort- Es gibt auch eine Art der Ableitung, an der kein Affix beteiligt ist. Die
artzugehörigkeit wird durch das Suffix festgelegt. Überführung eines Wortes in eine andere Wortart ohne Affix, aber mit einer
Eine Ableitung ohne Wortartwechsel und ohne Wechsel der Bezeichnungs- Veränderung der Ausdrucksseite durch Kürzung und gegebenenfalls durch
klasse wird als Modifikation bezeichnet. Sie erfolgt grundsätzlich bei der Aufnahme des ablautenden Vokals starker Verben, bei denen diese Art der
Wortbildung mit Präfixen, da Präfixe keinen Einfluss auf die Wortartzugehö- Ableitung besonders häufig vorkommt, heißt implizite Ableitung. Beispiele
rigkeit haben: leben .... be-leben; helfen .... ver-helfen. Modifikation kann aber aus dem Text sind Einhalt(Z. 10) und Kauj(Z. 29). Diese Ableitungen wei-
auch bei der Wortbildung mit Suffixen vorliegen. Ein Beispiel aus dem Text sen gegenüber den Basisverben einhalten und kaufen Substantivierung und
von Thomas Mann ist dumpf .... dumpf-ig (Z. 17). Kürzung um die Infinitivendung -en auf. Aufnahme des ablautenden Vokals
Die Funktion der Suffixe beschränkt sich nicht auf die Wortartzuweisung. starker Verben findet sich bei Griff gegenüber der Basis greifen.
Die Suffixe haben semantisch unterscheidbare Funktionen, wobei auch ein Neben der impliziten Ableitung gibt es eine weitere Form der suffix losen
einzelnes Suffix polyfunktional sein kann. Das wird beispielsweise an den Ableitung, bei der keine Veränderung der Ausdrucksseite festzustellen ist.
Substantiven des Textes sichtbar, die mit Hilfes des Suffixes -ung aus Verben Ein Beispiel aus dem Text ist Fonschwingen (Z. 8). Die Bildung unterschei-
abgeleitet sind: Wohnung (Z. 4) 'Ort des Wohnens', Bewegung (Z. 14) 'Vor- det sich ausdrucksseitig vom Infinitiv nur durch die Substantivgroßschrei-
gang des Bewegens'. bung. Eine derartige Überführung eines Wortes in eine andere Wortart ohne
Affix und ohne Veränderung der Ausdrucksseite heißt Konversion.
Zusammenbildung
Ein anderer Derivationstyp zeigt sich im Text bei dem Wort Schriftsteller
(Z. 8). Nach einer Wörterbuchdefinition bezeichnet die Bildung 'jmd., der 6. Grenzbereich von Komposition und Derivation
literarische Werke verfasst'. Die Ableitung erfolgt mit Hilfe des Suffixes -er Wortbildungen wie Chemiewerk und Schönheit lassen sich eindeutig und
von der Basis Schrift stellen in der Bedeutung von 'einen Text herstellen'. problemlos den Typen Komposition und Derivation zuordnen. Chemiewerk ist
Die Bildung ist durch die Basis Schrift stellen nicht mehr voll motiviert, da t:in Determinativkompositum. Die Bildung kann im Satz auch durch das
eine solche Wortgruppe in dieser Bedeutung nicht mehr gebräuchlich ist. Eine Grundwort Werk allein vertreten werden. Ebenso sicher ist Schönheit als
voll motivierte Bildung ist dagegen beispielsweise braunäugig. Basis ist die Derivation zu bestimmen. Von einem Adjektiv ist durch ein Formationsmor-
52 VI. Grundbegriffe der Wortbildung Afflxoide 53

phem ein Substantiv abgeleitet worden. Das Suffix -heit kann selbständig Der Grenzbereich von Komposition und Derivation lässt sich nicht so
nicht vorkommen. leicht fassen wie die eindeutigen Komposita und eindeutigen Derivationen.
Vergleicht man jedoch Chemiewerk mit Buschwerk, Laubwerk oder Schuh- Ein Affix und damit eine Derivation liegt in jedem Fall dann vor, wenn das
werk, so ist auf Anhieb erkennbar, dass diese Bildungen nicht sinnvoll durch Element nicht oder nicht mehr selbständig im Wortschatz vorkommt, wie
Werk ersetzt werden können. In diesen Bildungen hat -werk nicht die Bedeu- zum Beispiel -heit und -turn (man vergleiche Kapitel XV.3: Grammatikalisie-
tungen 'Produkt' oder 'Fabrik', sondern das Element verleiht den Bildungen rung). Die Schwierigkeit liegt vor allem in einer Abgrenzung von Komposita
eine kollektive Bedeutungskomponente: Buschwerk 'Gesamtheit der Büsche'; und Affixoidbildungen, da sie formal, ausdrucksseitig gleich sind. Die weite-
Laubwerk 'Gesamtheit des Laubes' und Schuhwerk 'Schuhe; Gesamtheit der ren Kriterien (semantische Entleerung gegenüber dem selbständig vorkom-
Schuhe'. Die Hauptbedeutung dieser Bildungen liegt auf dem ersten Bestand- menden Morphem, Reihenbildung) werden nicht von allen Elementen in
teil, nicht wie bei Determinativkomposita auf dem zweiten. Der zweite gleicher Weise erfüllt. Zudem kommt ein subjektiver Ermessensspielraum
Bestandteil ist semantisch entleert. Das Element -werk neigt zur Reihen- hinzu. In jedem Fall gibt es einen breiten Übergangsbereich zwischen Grund-
bildung: Ast-, Busch-, Flecht-, Laub-werk usw. Obwohl Werk als eigenständi- morphemen und Suffixoiden. So könnten die Bildungen Bildwerk, Dichtwerk
ges Wort existiert, hat es in diesen Bildungen eine suffix artige Funktion. und Bauwerk (Z. 31) als Zusammensetzungen wie als Ableitungen klassifi-
Suffixartige Morpheme werden Suffixoide (auch Halbsuffixe) genannt, die ziert werden.
Bildungen Suffixoidbildungen.
Andere Beispiele für Suffixoidbildungen sind Ideen-gut, Won-gut; Pflan- 7. Kurzwortbildung
zen-reich, Tier-reich; Lumpen-zeug, Papier-zeug.
Eine andere Art der Wortbildung ist die Kurzwortbildung, bei der mehrere
Einige Elemente befinden sich derzeit in der Entwicklung von einem
Formen unterschieden werden können. In den Beispielen Ober(kellner),
Grundwort zu einem Suffixoid. Das gilt zum Beispiel für Lawine, worunter
Foto(grajie) sowie (Regen)schirm, (Schall)platte werden links- oder rechts-
gegenwartssprachlich eine an Gebirgshängen niedergehende Masse von
stehende Bestandteile in der Funktion der ganzen Morphemkombination ver-
Schnee oder Eis verstanden wird. An den Beispielen Schnee-lawine - Sand-
wendet. Man spricht in diesen Fällen auch von Kopfwörtern und Schwanz-
lawine - Geröll-lawine - Schutt-lawine - Blech-lawine - Gäste-lawine -
wörtern.
Schulden-lawine zeigt sich, dass sich Lawine von der ursprünglichen Bezeich-
nungsklasse 'Schnee, Eis' allmählich entfernt und die pejorativen Bedeutungs- Eine andere Kürzungsform liegt in den Beispielen Bier(glas)deckel, Tank-
(stellen)wart vor. Zwei Wörter werden zu einem zusammengezogen, wobei
merkmale 'zu viel', 'nicht mehr einzudämmen' annimmt: Blechlawine 'be-
ein Zwischenelement wegfällt. Diese Kürzungsform wird als Klammerfonn
sorgniserregend viel Blech' (= viele Autos).
bezeichnet.
Auch zwischen Komposita und Präfixbildungen ist ein Übergangsbereich
erkennbar. Präfixartige Morpheme dienen oft als verstärkende Zusätze: Affen- In Fällen wie Kripo (Ktiminal-fQlizei), Hapag (Hamburg-Amerikanische
hitze, Riesen-durst, Mords-kerl, Pfunds-wetter, Blitz-eTj'olg, Bomben-stim-
Paketfahrt Aktiengesellschaft) oder Nato (North Atiantic Treaty Organization)
mung. Die genannten ersten Bestandteile haben alle eine verstärkende Bedeu-
liegt eine wortförmige Verbindung von Wortanfängen vor. Bei aneinander-
tung, ganz unabhängig davon, welche Bedeutung sie als eigenständiges Wort gereihten Großbuchstaben ergeben sich silbisch artikulierte Initialkombinati0-
haben. Die Elemente sind semantisch entleert. Entsprechend sind sie auch nen: UB, LKW, UKW. Bildungen dieser Art werden als Initialwörter be-
zeichnet.
leicht austauschbar: Affen-, Höllen-, Bomben-, Mords-hitze. Schließlich
neigen sie wie Suffixoide zur Reihenbildung: Pfunds-kerl, -wetter, -eis,
-Laune, -feier. Derartige präfixartige Morpheme werden Präfixoide (auch 8. Lehnwortbildung
Halbpräfixe) genannt, die Bildungen Präfixoidbildungen. Präfixoidbildun- In der Erzählung von Thomas Mann kommen mehrere Wörter vor, die nicht-
gen und Suffixoidbildungen werden als Affixoidbildungen zusammengefasst. heimischen Ursprungs sind. Dazu gehören die durch Anführungszeichen als
Zitat markierten lateinischen Wörter "motus animi continuus" (Z. 9; 'an-
54 VI. Grundbegriffe der Wortbildung Paraphrasierung 55

haltende Bewegung der Seele') sowie mehrere Wörter, die im Deutschen ganz wie auch unseres Wortschatzes überhaupt. Aufgabe der Sprachwissenschaft
geläufig sind. Lateinischen Ursprungs sind beispielsweise Kontinent (Z. 3) ist es, die Gemeinsamkeiten und je spezifischen Merkmale zu erforschen.
und Monumente (Z. 30), aus dem Französischen stammen Equipagen (Z. 21;
'elegante Kutsche') und Chaussee (Z. 28), aus dem Englischen Tram (Z. 24; 9. Para phrasierung als Analyseverfahren
Kurzform zu tramway 'Straßenbahnlinie').
Wortbildungen, die durchsichtig und motiviert sind, lassen sich hinsichtlich
Für Fragen der Wortbildung sind die Wörter von Interesse, die Morphem-
ihrer Konstituentenstruktur beziehungsweise ihres Basisbezuges auch be-
kombinationen darstellen, die also gebildet sind. Diese Bildungen können als
schreiben. Ein Mittel der Beschreibung ist die Paraphrase.
fertige Wortbildungen ins Deutsche entlehnt worden sein; in dem Fall handelt
Ziel der Paraphrase ist es, die an der Wortbildung beteiligten Konstituen-
es sich um (Wort-)Entlehnung. Sie können aber auch aus entlehnten Elemen-
ten beziehungsweise die Basis und die Wortbildungsbedeutung sichtbar zu
ten im Deutschen gebildet worden sein; dann liegen Lehnwortbildungen vor.
machen. Entsprechend soll die Paraphrase die Konstituenten eines Komposi-
Diese Unterscheidung betrifft die Entstehung der Bildungen und ist sprach-
tums beziehungsweise die Basis eines Derivats enthalten.
historisch zu untersuchen.
lm Deutschen begegnet eine große Fülle von Bildungen mit Lehnelemen- Turmuhr 'Uhr an einem Turm'
ten. Dabei kann in seltenen Fällen die Basis heimisch, das Formationsmor- Lehrer 'jemand, der lehrt'
phem entlehnt sein (z.B. Bummel-ant, Horn-ist, Schwul-ität), oder es tritt - Um die Bedeutung einer Wortbildung mit der Paraphrase zu erfassen, muss
sehr viel häufiger - ein heimisches Formationsmorphem an eine entlehnte die Paraphrase der Bildung semantisch entsprechen und die Wortart zu
Basis an (z.B. realist-isch, deklinier-bar, phrasen-haft). In vielen Fällen sind erkennen geben:
alle beteiligten Morpheme entlehnt: Million-är, Kapital-ist, Rektor-at, Sozial-
ist. Diese Bildungen sind wie heimische Wortbildungen analysierbar, da ihre kindlich 'sich einem Kinde gemäß verhaltend'
Basiswörter als selbständige Wörter vorkommen. In den Bildungen Fris-eur, kindisch 'sich als Erwachsener in unangemessener Weise wie ein Kind
Mass-eur, Emigr-ant, Illustr-ation liegen als Basen Verben vor, die selbst benehmend'
suffigiert sind:fris-ieren, mass-ieren, emigr-ieren, illustr-ieren. Die Ableitung Eine Wortbildungsparaphrase, die Struktur, Bedeutung und Wortart einer
erfolgt in diesen Fällen durch Wechsel des Suffixes -ieren mit -eur oder -ant Bildung wiedergeben soll, unterscheidet sich oft erheblich von einer Bedeu-
oder -ation. tungsangabe in einem Wörterbuch. Ein Wörterbuch wie der 'Duden. Das
Schwierigkeiten ergeben sich bei der Analyse dann, wenn die Bildungen große Wörterbuch der deutschen Sprache' will beispielsweise die Verwen-
Basen haben, die im Deutschen isoliert sind, also nicht in anderen Wörtern dungsweisen einer Bildung möglichst genau aufZeigen. Die W ortbildungs-
vorkommen. Das gilt beispielsweise für Veterin-är, Dek-an, Bar-on. Dass es struktur kann dabei vernachlässigt werden. So finden sich im Duden (V, S.
sich um gebildete Wörter handelt, ist aus vergleichbar gebildeten Wörtern 2390) zu dem Derivat Lehrer folgende Bedeutungsangaben: ,,1.a) jmd., der
wie Million-är, Kastell-an, Kompagn-on zu erkennen. an einer Schule unterrichtet", "b) jmd., der an einer Hochschule od: Univer-
Ein weiteres Problem der Lehnwortbildung besteht in der Feststellung des sität lehn", ,,2. jmd., der anderen sein Wissen vermittelt, der durch sein
Basiswortes, wenn mehrere Wörter dafiir in Frage kommen. Das gilt bei- Wissen, seine Persönlichkeit als Vorbild angesehen wird; Lehrmeister". Eine
spielsweise fiir die Bezeichnung Rassist, neben der im Deutschen Rasse, Wortbildungsparaphrase wird nicht gegeben; sie ist auch nicht Aufgabe eines
Rassismus und rassistisch existieren. Wörterbuchs.
Mit diesen Problemen werden Spezifika der Lehnwortbildung sichtbar, die Wortbildungen, an denen unikale Morpheme beteiligt sind, lassen sich
aber nicht dazu führen dürfen, diesen großen Bereich aus der Wortbildung nicht paraphrasieren, da sie nicht vollständig durchsichtig sind: Hirn-beere,
auszugrenzen. Die Lehnwortbildung steht gleichrangig neben der heimischen Un-flat, Sint-flut. Ebensowenig lassen sich Wortbildungen paraphrasieren, die
Wortbildung. Beide Systeme bilden das Gesamtsystern unserer Wortbildung lexikalisiert sind, also eine Bedeutung aufweisen, die aus den einzelnen
56 VI. Grundbegriffe der Wortbildung Analysebeispiele 57

Elementen nicht hinreichend erschlossen werden kann. Dazu gehören Bildun- Abnutzbarkeit
gen wie Morgenrock, Unhold, inständig. explizite deadjektivische Derivation 'Eigenschaft, Tatsache, dass etw. ab-
nutzbar i s t ' / ""
10. Analyse von Wortbildungen
ahnutzbar- -keif
Bei der Wortbildungsanalyse sind die morphologischen und semantischen explizite deverbale Derivation SuffIX; Formationsmorphem
Aspekte der Bildung zu beschreiben. Bei allen Bildungen ist grundsätzlich

'"
'fähig, abgenutzt zu werden'
binär vorzugehen. Ein binäres Vorgehen erweist sich besonders bei Bildungen
aus mehr als zwei Grundmorphemen als wichtig: Eichenschrankwand
'Schrankwand aus Eiche'.
/
abnutz (en)-
präfig. Verb
-bar
Suffix; Formationsmorphem
Zur morphologischen Bestimmung gehört die Angabe des Wortbildungs-
typs und der beteiligten Morpheme. Die Bedeutung der Bildung wird durch
/"'.
ah- -nutz (en)
die Paraphrase bestimmt. Präfix verbales Grundmorphem
trennbar

Kompositum
[. . .j das byzantinische Bauwerk der Aussegnungs!w/le gegenüber (Z. 31-32)
11. Wortfamilien
Die zu analysierende Bildung ist als Genitiv Singular des Femininums Aus- Morphologische Strukturen bestimmen nicht nur den Aufbau der Wörter, son-
segnungshalle zu bestimmen. dern auch große Teile der Wortschatzgliederung in synchroner und diachro-
ner Hinsicht (zu dieser Unterscheidung sieh Kapitel XIV.9.). Dabei kommt
Aussegnungshalle den morphologischen Paradigmen oder Wortfamilien eine besondere Rolle zu.
endozentrisches Determinativkompositum mit der Als Wortfamilie wird auf synchroner Ebene die Gesamtheit der mit einem
/ Paraphrase 'Halle zur Aussegnung' "'" Grundmorphem gebildeten Wörter bezeichnet.
In dem anschließenden Ausschnitt aus dem 'Wortfamilienwörterbuch der
Aussegnung -s (= Fugenelement) Halle deutschen Gegenwartssprache' von Gerhard Augst wird die Wortfamilie zu
explizite deverbale Derivation substantivisches Grundmorphem biegen dargestellt. Diesem Wort werden komplexe Wörter zugeordnet, die
'Handlung des Aussegnens' mit dem Bezugswort zusammen synchron gegenwartssprachlich eine Wortfa-
/
aussegn(en)-
"'.-ung milie bilden. Dabei werden die Wortbildungen zugleich einer Bedeutung des
Basisverbs zugeordnet. Im Anschluss an die Tabellen werden die Stichwörter
präfig. Verb SuffIX; Fonnationsmorphem getrennt nach ihren Bedeutungen in Einzelartikeln genauer besprochen. Dabei
/
aus-
Präfix
trennbar '"
segn(en)-
verbales Grundmorphem
werden auch Weiterbildungen genannt (zu Bügel zum Beispiel Kleiderbügel,
Steigbügel).

Derivation
[. .. ] bei zunehmender Abnutzbarkeit seiner Kräfte (Z. 11-12)
Die zu analysierende Bildung ist als Dativ Singular des Femininums Abnutz-
barkeit zu bestimmen.
58 VI. Grundbegriffe der Wortbildung Wortfamilien 59

Definitionen
• Morpheme sind die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten der Sprache.
biegen, bog, gebogen • Unikale Morpheme sind Morpheme, die nur in einer einzigen Verbindung
beugen
FUT di~u Wf ist tin, besondtr~ DdTsullMngs[orm .~(UJ"hJt auftreten. Bildungen mit unikalen Morphemen sind nur historisch erklärbar.
1. ~tV1.1s"h bi~gnr. ltrHmmtn
,'ord<n, Dos Vb, biegen tntfalw fine große W!,. J.ZM
gehoren Bo~en, Bügel. D4' abg.!e;"", Vb, beugen '""";- 2. zwingtn. flch ZN fxgm • Fugenelemente sind die an der Verbindungsstelle von erster und zweiter Kon-
(k~lt umt"Ntits tin~ kltint Wf Di~ nuultn In/etrm4ntm 3, lin Jev PIrys.l
,ullt1J Buckel 14. bücken nicht ~br ZII bie-geoj ttnigt
stituente auftretenden Elemente.
4. lin der Spr4Cml1./
altenntn allerding, bei Vorg.b. Jen z"ummenhang, VgL • Grundmorpheme sind Morpheme, die selbständig auftreten können und die
"Is "gm. Wfn. Buck.~ bücken, lexikalische Bedeutung des Wortes begründen.
• Freie Grundmorpheme sind Grundmorpheme, die auch als selbständige
biegen
beul <TI
Wörter vorkommen können.
1. CIW. Jcrtimmtn, gdeTNmml Wffdtn
Beus e
2. du Richtung lindtm • Gebundene Grundmorpheme sind Grundmorpheme, die in der Form nur
beue sam
bieg ." un b~ s.am gebunden an ein anderes Morphem, nicht aber als selbständige Wörter vor-
bieg sam BeuK uni kommen können.
Bi~ um k~r UD ge beug ,
Bi~ un& ver beuC en
• Formations- oder Wortbildungsmorpheme sind unselbständige Morpheme, mit
Bog en
v'" beu~ unt deren Hilfe neue Wörter gebildet werden.
Bug d
vor beu, en • Relations- oder Flexionsmorpheme sind unselbständige Morpheme, die keine
Jb bieg en
, w bieg zuruck beug <n
<r neuen Wortbildungen schaffen, sondern neue Wortformen, das heißt neue gram-
Ab bieg ung
,ui bieg .n 1. Ihatl erw. biegen auf etw, so Ilmformend ein- matische Wörter.
... us biez en wirken, dass es eine gekrümmte, abgtwinlultt Form • Komposita oder Zusammensetzungen sind Wortbildungen, in denen die umnittel-
bei bi~ rn
durch bieg .n ahii/t: Rohr<, Bleche b,; einen Draht zu einer Spinle baren Konstituenten Wörter oder Grundmorpheme sind, die auch außerhalb der
em bit« en b.; er hat den Stab wieder gerade gebogen; Äste zur jeweiligen Verbindung vorkommen.
hin bi~ en Seite, nach unten b.; gebogen werden, eine gebogene
um bi~ en • Detenninativkomposita sind Komposita, bei denen das Zweitelement, das
Form annehmen: die Bäume bogen sich im Wind; 0
ver btq: en Grundwort, durch das Erstelement, das Bestimmungswort, näher spezifiziert
wredu bieg C'n der 1isch bog sich unter der L ... t der Speuen (es
,\fehrere Prä!ig;erngm mU biegen 1 ~den (aMeh) im waren Speisen in überreichem M..ß aufgetragen) <ID
wird. Das Bedeutungsverhältnis ist subordiniert.
rnetaplxrriscben Sutn gebraHChr (biegen = ImdnJtint Ang... geradebiegen 0 um g. etw. in Ordnung bringen • Possessivkomposita sind exozentrische Determinativkomposita, bei denen das
I'genhtit, Sit .....ion. '0 heeinfl."en. ver'nd.em, Jas, ne den Bedeutungsverhältnis oft als Bezeichnung nach dem Besitz einer Eigenschaft zu
<tgenm Vorsu/bmgen bmer gefiilll): ab-; bei-; hin-; ver-;
biegsam I Adj./ leicht zu biegen: biegsames Holz;
zurecht-; v!L aMCb du ZM~ gend... Biegsamkeit, die; -, 1o. PI.! <-keit) d.t" B~gsamsein beschreiben ist.
• Kopulativkomposita sind Komposita, bei denen das Bedeutungsverhältnis zwi-
schen dem Erstelement und dem Zweitelement koordiniert ist.
Bogen, der; os, -I Bögen a. aUS einem elastischen Aufhängen von Kleidlmg5Stücleen <kurz für Kleider-
gebogenen StAb und einer Sehnt bestehende Schuss-
• Zusammenrückung ist ein Sonderfall der Zusammensetzung, bei dem eine syn-
bügel) <ID Kleiderbügel; b. als Fußstlitze für den
waffe: den B. spannen; Pfeil und B. <ID Bogen.chie- taktische Wortgruppe unter Beibehaltung der Wortfolge und der Flexion zu einem
Reiter. d~ in Höhe der Füße seitlich vom Sattel
ilen - Flitz(e)bogen als KinderspielzeHg d~n.ender her.whängt <kurz für Steigbügel} <ID Steigbügel; c. neuen Wort 'zusammengerückt' worden ist.
kleiner B. zum Abschnellen von Pfeilen; b. M u, i k als Teil des Brillengesttlls. mit dem d~ Brilk auf • Derivate oder Ableitungen sind Wortbildungen, bei denen aus einer Basis mit
(gebogene) elAstische Stange aus Hartholz, mit der dem Ohr auf1~gt <kurz für Brillenbügel}; cl. zum Hilfe eines Formationsmorphems ein neues Wort gebildet worden ist.
die Saiten eines Streichinttrumenus gestrichen u. Schutz des Abzugs einu Gewehru <kurz für • Explizite Ableitung ist die Ableitung mit Hilfe eines Affixes.
dad"rch zum Tönen gebracht werden <ID Fieddbo- Abzug,bügel) <ID Abzugsbügel; e. als Einfassung • Transposition ist eine Ableitung mit Wortart- und/oder Bezeichnungsklassen-
gen; Geigen- aus festem Material am oberen Rand von H and-
wechsel.
Bogen .P4pierbogt1l' vgL don taschen, Geldbeuteln o. Ä.; daran angebrachter,
Bügel. der; -', - zu einem Bogen o. Ä. gekrümmter fester Griff einer Handtasche; f. als Stromab,,,hmer
• Modifikation ist eine Ableitung ohne Wortartwecbsel.
(gebogener) schmaler Gegenstand (in unterschiedli- bei elektrischen Bahnen • Zusammenbildung ist ein Sonderfall der Derivation, bei der eine Wortgruppe die
chen Bereichen) a. aus Holz od. Kunststoff z"m Ableitungsbasis darstellt.
• Konversion ist die Überführung in eine andere Wortart ohne Affix und ohne
Veränderung der Ausdrucksseite.
• Implizite Ableitung ist die Überführung in eine andere Wortart ohne Affix, aber
mit einer Veränderung der Ausdrucksseite durch Kürzung der Basis und gegebe-
Gerhard Augst, Wortfamilienwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. S. 108 nenfalls Aufnahme des ablautenden Vokals starker Verben.
ROLF BERGMANN
PETER PAULY
STEFANIE STRICKER
I
t Vll. Die Wortarten

Einführung 1. Wortformen und Wörter


Manche Wörter aus dem Text in Kapitel VI. stehen in derselben Form im

in die deutsche Wörterbuch, in der sie auch im Text vorkommen, zum Beispiel: amtlich,
Miene, Kontinent, Spaziergang, jetzt, nötig. Andere Wörter des Textes
müssen erst in die Form gebracht werden, in der sie im Wörterbuch stehen,
Sprachwissenschaft zum Beispiel: Jahres -+ Jahr, lautete -+ lauten, vermocht -+ vermögen, Kräfte
-+ Kraft·

Vierte, überarbeitete und erweiterte Auflage Dabei zeigt sich, dass manche Wörter immer in derselben Form erschei-
von ROLF BERGMANN
und STEFANIE STRICKER
j nen, wie zum Beispieljetzt, bald, oder. wie, seit, andere aber in verschiede-
nen Formen vorkommen oder vorkommen können, wie zum Beispiel seinem
- sein. Miene, Spaziergang, nötig.
} Wörter unterscheiden sich also nach ihrer formalen Veränderlichkeit oder
Mit Beiträgen von Unveränderlichkeit im Textzusammenhang. Deshalb muss auch begrifflich
URSULA GÖTZ unterschieden werden zwischen der einzelnen im Text vorkommenden W ort-
ANNETTE KLOSA form und dem Wort als Einheit im Wörterbuch. Die Veränderung der Wort-
CLAUDINE MOULIN formen heißt Flexion; die entsprechenden Wörter flektieren beziehungsweise
sind flektierbar. Unterschiedlich flektierte Wortformen eines Wortes (z.B.
MICHAEL SCHLAEFER
lautete und lautet) werden auch als unterschiedliche grammatische Wörter
CLAUDIA WICH-REIF bezeichnet.

2. Unterschiede zwischen Wörtern


Die Veränderlichkeit und Unveränderlichkeit der Wörter hängt mit ihren
unterschiedlichen syntaktischen Funktionen zusammen und drückt ihre syn-
taktischen Beziehungen aus. Dass im ersten Satz die Wortform lautete er-
scheint (statt lauteten), hängt zum Beispiel damit zusammen, dass der Bezugs-
punkt sein Name ist (und nicht etwa Namen). Die Form hielten (statt hielt)

Uni versi tä tsverlag


WINTER
I steht in syntaktischem Zusammenhang mit den Formen einige Droschken und
Equipagen (Z. 21).
Deutlich erkennbar sind auch die Unterschiede in der semantischen Bezie-
Heidelberg

I
hung der Wörter, so etwa zwischen Wörtern vom Typ Geburtstag, Name,
Frühlingsnachmittag,Jahres einerseits und Wörtern vom Typ lautete, zeigte,
besteht, verhelfen andererseits. Diese zunächst nur angedeuteten Unterschiede
R.Z. Murjasov, DaF 13 (1976) S. 121-124

I
60 VI. Grundbegriffe der Wortbildung

• Affixoldbildungen (Präfixoidbildungen und Suffixoidbildungen) sind Bildungen


mit Affixoiden, affixartigen Morphemen.
• Kopfwörter und Schwanzwörter sind Wörter, die aus einem links- oder rechts-
stehenden Bestandteil einer Wortbildung bestehen, aber in der Funktion der VII. Die Wortarten
ganzen Morphemkombination verwendet werden.
• K1ammerfonn bezeichnet eine Kilmmgsform, bei der zwei Wörter zu einem
1. Wortformen und Wörter
zusammengezogen werden, wobei ein Zwischenelement wegfällt.
• Initialwörter sind Verbindungen von Initialen, die silbisch oder wortförmig Manche Wörter aus dem Text in Kapitel VI. stehen in derselben Form im
artikuliert werden. Wörterbuch, in der sie auch im Text vorkommen, zum Beispiel: amtlich,
• (Wort-)Entlehnung bezeichnet die Entlehnung eines Wortes oder einer Wortbil-
dung aus einer anderen Sprache ins Deutsche. Miene, Kontinent, Spaziergang, jetzt, nötig. Andere Wörter des Textes
• LebnwortbUdung bezeichnet die Bildung von Wörtern aus entlehnten Elementen müssen erst in die Form gebracht werden, in der sie im Wörterbuch stehen,
im Deutschen. zum Beispiel: Jahres - Jahr, lautete - lauten, vermocht - vermögen, Kräfte
• Paraphrase bezeichnet eine inhaltliche Umschreibung motivierter Wortbildungen, -+ Kraft·
durch die ihre Konstituentenstruktur und ihr Basisbezug sichtbar gemacht wird. Dabei zeigt sich, dass manche Wörter immer in derselben Form erschei-
• Wortfamilie bezeichnet auf synchroner Ebene die Gesamtheit der mit dem
nen, wie zum Beispieljetzt, bald, oder, wie, seit, andere aber in verschiede-
gleichen Grundmorphem gebildeten Wörter.
nen Formen vorkommen oder vorkommen können, wie zum Beispiel seinem
Literaturhinweise - sein, Miene, Spaziergang, nötig.
Kurzinformation: Wörter unterscheiden sich also nach ihrer formalen Veränderlichkeit oder
Metzler Lexikon Sprache. Artikel: Komposition, Morph, Morphem, Morphologie, Paraphrase Unveränderlichkeit im Textzusammenhang. Deshalb muss auch begrifflich
(von H. Glück); Ableitung, AbleimngsaffIX, Ableitungsbasis, AffIXoid, Determinativkom- unterschieden werden zwischen der einzelnen im Text vorkommenden Wort-
positum, FlexionsmorphemlFiexiv, Fugenelemem, Grundmorphem, Kompositum, Komposi-
form und dem Wort als Einheit im Wörterbuch. Die Veränderung der Wort-
tionsfuge, Konversion, Kopfwort, Kopulativkompositum, Kurzwort, Modifikation, Possessiv-
kompositum, Schwanzwort, Transposition, Unikales Morphem, Wortbildung, Wortbildungstyp, formen heißt Flexion; die entsprechenden Wörter flektieren beziehungsweise
Zusammenbildung, Zusammenrüclrung (von H. Günther); Grundwort, LehnpräfIx, LehnsuffIx, sind flektierbar. Unterschiedlich flektierte Wortformen eines Wortes (z.B.
Lehnwort, Lehnwortbildung, Wortfamilie (von B. Schaeder)
lautete und lautet) werden auch als unterschiedliche grammatische Wörter
Einführende Literatur: bezeichnet.
I. Ban - M. Schröder, in: Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache, S. 178-217
L.M. Eichinger, Deutsche Wortbildung. Eine Einführung
J. Erben, Einführung in die deutsche Wortbildungslehre
2. Unterschiede zwischen Wörtern
R. Lühr, Neuhochdeutsch, S. 131-191
Die Veränderlichkeit und Unveränderlichkeit der Wörter hängt mit ihren
J. Meibauer, in: J. Meibauer u.a., Einführung in die germanistische Linguistik, S. 29-69
B. Naumann., Einführung in die Wortbildungslehre des Deutschen unterschiedlichen syntaktischen Funktionen zusammen und drückt ihre syn-
N.R. Wolf, in: J. Dittmann - C. Schmidt (Hgg.), Über Wörter, S. 59-86 taktischen Beziehungen aus. Dass im ersten Satz die Wortform lautete er-
Grundlegende und weiterführende Literatur: scheint (statt lauteten), hängt zum Beispiel damit zusammen, dass der Bezugs-
H. Altmann - S. Kemmerling, Wortbildung fürs Examen punkt sein Name ist (und nicht etwa Namen). Die Form hielten (statt hielt)
Deutsche Wonbi/dung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache, Erster Hauptteil: Das steht in syntaktischem Zusammenhang mit den Formen einige Droschken und
Verb; Zweiter Hauptteil: Das Substantiv; Dritter Hauptteil: Das Adjektiv; Vierter Hauptteil: Equipagen (Z. 21).
Substantivkomposita; Pünfter Hauptteil: Adjektivkomposita und Partizipialbildungen; Mor-
phem- und Sachregister zu Band I-III Deutlich erkennbar sind auch die Unterschiede in der semantischen Bezie-
W. Fleischer - I. Ban, Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache hung der Wörter, so etwa zwischen Wörtern vom Typ Gebunstag, Name,
H.-M. Gauger, Durchsichtige Wörter Frühlingsnachmittag, Jahres einerseits und Wörtern vom Typ lautete, zeigte,
H.H. Munske, in: Deutscher Wortschatz, S. 46-74
H.H. Munske, in: Germanistik in Erlangen, S. 559-595
besteht, verhelfen andererseits. Diese zunächst nur angedeuteten Unterschiede
R.Z. Murjasov, DaP 13 (1976) S. 121-124
62 VII. Die Wortarten Wortarteneinteilung 63

zwischen den Wörtern liegen allen Einteilungen des Wortschatzes in Wort- 3. Wortarteneinteilung flektierbarer Wörter
arten oder Wortklassen zugrunde.
Nach der grundsätzlichen Unterscheidung von flektierbaren und nicht-flektier-
Ein Unterschied zwischen den Wörtern zeigt sich bei dem Versuch, ihre
baren Wörtern werden die flektierbaren Wörter nach den für sie zutreffenden
Bedeutung unabhängig von ihrer Verwendung im Kontext anzugeben. Das be-
Flexionskategorien eingeteilt. Genus, Kasus und Numerus sind die Flexions-
reitet keine Schwierigkeiten bei Wörtern des Textes wie Gebunstag (Z. 1-2)
kategorien der nominalen Wortarten des Deutschen, nämlich Substantiv, Ad-
'Jahrestag der Geburt', Wohnung (Z. 4) 'meist aus mehreren Räumen beste-
jektiv, Pronomen einschließlich Artikel. Beim Adjektiv tritt zusätzlich die
hender, nach außen abgeschlossener Bereich in einem Wohnhaus ... ', Schrift-
Komparation (Steigerung) auf.
steller (Z. 8) 'jmd., der [beruflich] literarische Werke verfasst', unternehmen
In der deutschen Gegenwartssprache werden in der Flexion der nominalen
(Z. 5) 'etw., was bestimmte Handlungen ... erfordert, in die Tat umsetzen;
Wortarten folgende grammatische Kategorien unterschieden:
Maßnahmen ergreifen', falsch (Z. 16) 'künstlich u. meist täuschend ähnlich
nachgebildet, imitiert; dem tatsächlichen Sachverhalt nicht entsprechend' oder drei Genera Maskulinum
still (Z. 19) 'so, dass kein, kaum ein Geräusch, Laut zu hören ist; ruhig'. Neutrum
Derartige Wörter, die eine kontextunabhängige, selbständige Bedeutung Femininum
vier Kasus Nominativ
haben, werden als Autosemantika bezeichnet. In der Regel handelt es sich
Genitiv
dabei um Substantive, Verben oder Adjektive. Autosemantika bilden offene
Dativ
Klassen von Wörtern, das heißt, der Wortbestand an Autosemantika verändert Akkusativ
sich kontinuierlich. Es können immer wieder neue Substantive, Verben oder zwei Numeri Singular
Adjektive entstehen. Plural
Anders verhält es sich bei Wörtern wie an (Z. 2), von (Z. 5), nach (Z. 1),
bei (Z. 11), daß (Z. 13), obgleich (Z. 17). Die Bedeutung dieser Wörter ist Die Flexionsmorpheme am Verb drucken Person, Numerus, Modus, Tempus
und Genus Verbi aus.
vom jeweiligen Kontext abhängig. Die Präpositionen an und von treten bei-
In der deutschen Gegenwartssprache werden in der Flexion der Verben
spielsweise in folgenden Funktionen auf:
folgende grammatische Kategorien unterschieden:
an: an der Wand (räumlich)
an dem Tag (zeitlich)
drei Personen 1. Person (Sprecher)
an Krücken gehen (mit Hilfe von) 2. Person (Angesprochener)
3. Person (Besprochenes)
von: von Norden (räumlich) zwei Numeri Singular
von ZU Hause lIJsen (Trennung) Plural
von nun an (zeitlicher Ausgangspunkt) drei Modi Indikativ
einer von euch (Menge, zu der der genannte Teil gehört) Konjunktiv
Lehrer von Beruf (in Bezug auf) Imperativ
der Hut von meinem Vater (Besitzer einer Sache) zwei Tempora Präsens
Post von einem Freund (Urheber) Präteritum
zwei Genera Verbi Aktiv
Derartige Wörter, die bei isoliertem Auftreten keine selbständige lexikalische
Passiv
Bedeutung tragen, werden Synsemantika genannt. In der Regel handelt es
sich dabei um Funktionswörter wie Präpositionen, Konjunktionen und Parti- Das Passiv sowie weitere Tempusformen werden mit den Hilfsverben sein,
keln. Synsemantika bilden geschlossene Klassen von Wörtern. Ihr Wort- haben und werden gebildet; diese Formenbildung (z.B. ist gekommen) nennt
bestand verändert sich kaum. Es entstehen fast keine neuen Präpositionen, man analytisch, im Gegensatz zur synthetischen Formenbildung (z.B. kam).
Konjunktionen und Partikeln.
64 Vll. Die Wortarten Wortarteneinteilung 65

Die Flexion nach den unterschiedlichen grammatischen Kategorien dient als von, zu, um, oder,jast, kaum, und, vielleicht, aber, wo, so, auf. daneben,
Grundlage einer Einteilung der flektierenden Wortarten: an, morgens, auch
Durch verschiedene Proben lassen sich die unflektierbaren Wörter weiter
differenzieren.
Wort
I a) Der Student kommt vermutlich mittags.
I I
flektierbar nicht flektierbar b) Kommt der Student mittags? Vermutlich.
I c) Kommt der Student vermutlich? *Mittags.
I I
nach Person, Numerus, Modus, nach Genus, Kasus Die Entscheidungsfrage b) kann mit dem Wort vermutlich beantwortet wer-
Tempus, Genus verb i flektiert Numerus flektiert den. Damit erweist sich vermutlich als satzwertig. Satzwertige Wörter, die

I
I I
den Geltungsgrad des ganzen Satzes modifizieren, werden als Modalwörter
bezeichnet.
genusfest genus veränderlich Die Entscheidungsfrage c) kann nicht mit dem Wort mittags beantwortet
I
I I werden. Somit besitzt mittags keinen Satzwert. Das Wort mittags ist auch
komparierbar nicb! komp1"ierb" nicht satzmodifizierend. Es kann aber im Satz umgestellt werden (zur Um-
stellprobe vergleiche man Kapitel Vill.l.). Damit erweist sich mittags als

Verb Substantiv
I
Adjektiv Pronomen, Artikel
satzgliedwertiges unflektierbares Wort. Wörter mit Satzgliedwert, aber ohne
Satzwert und ohne satzmodifizierende Funktion werden Adverbien genannt.
Die Unterscheidung von Modalwörtern und Adverbien aufgrund der Merk-
male Satzwertigkeit und Satzmodifikation ist nicht unumstritten. Einige
Nach W. Flämig, Grammatik des Deutschen. Einführung in Struktur- und Wirlrungszusam-
menhänge, S. 358
Grammatiken betrachten die Modalwörter als Sonderklasse der Adverbien.
Sie werden zuweilen auch Modaladverbien genannt; die Duden-Grammatik
Bei dieser Wortarteneinteilung nach Flexionsverhältnissen ist allerdings zu (S. 37lf.) bezeichnet sie als "Kommentaradverbien (Adverbien der Stellung-
beachten, dass nicht immer alle Wörter einer Wortart alle Merkmale der nahme und Bewertung)."
Wortart erfüllen. So gibt es beispielsweise unter den Adjektiven solche, die Die unflektierbaren Wörter ohne Satzgliedwert lassen sich danach unter-
nicht komparierbar sind: schwanger, tot. Einige Substantive sind nur im scheiden, ob sie Fügteilcharakter haben oder nicht. Wörter mit Fügteilcharak-
Singular (z.B. Hitze, Treue) oder nur im Plural (z.B. Masern, Eltern) zu ver- ter treten mit oder ohne Kasusforderung auf. Fügteile mit Kasusforderung
wenden. Das Fehlen eines Wortartenmerkmals rechtfertigt allerdings nicht, heißen Präpositionen; sie leisten die syntaktische Einfügung von präpositio-
diese Wortarteneinteilung aufzugeben und durch eine Vielzahl kleinerer nalen Satzgliedern oder Attributen. Textbeispiele sind von, auf.
Wortklassen zu ersetzen. Fügteile ohne Kasusforderung heißen Konjunktionen; sie fügen Teile von
Satzgliedern, Gliedteilsätze, Gliedsätze oder Sätze aneinander. Textbeispiele
4. Wortarteneinteilung nicht-flektierbarer Wörter sind oder, und.
Die morphologisch nur negativ als nicht-flektierbar ausgeschiedenen Wörter Unflektierbare Wörter ohne Satzgliedwert und ohne Fügteilcharakter
lassen sich nach ihren syntaktischen Eigenschaften gliedern. Der Text von heißen Partikeln; sie dienen der Modifizierung der Aussage. Textbeispiele
Peter Bichsel (Kapitel ill.) enthält beispielsweise folgende nicht-flektierbaren sind fast und kaum in den Sätzen:
Wörter: Es lohnt sich fast nicht, ihn zu beschreiben,
kaum etwas unterscheidet ihn von andern.
66 VII. Die Wortarten Wortarteneinteilung 67

Wie diese Beispiele zeigen, können unflektierbare Wörter in mehreren 5. Wortarteneinteilung nach semantischen Verhältnissen
syntaktischen Funktionen auftreten: fast kann Adverb (wir hätten fast ver- Die Beachtung der semantischen Unterschiede zwischen den Wörtern liegt der
gessen) oder Partikel (fast wie ein Kinä) sein; kaum kann Konjunktion (kaum im Schulunterricht verbreiteten Terminologie Namenwort oder Dingwort,
dass der Regen nachliifJ), Adverb (ich habe kaum geschlafen) oder Partikel Eigenschaftswort, Tätigkeitswort zugrunde. Namenwörter wie Bett, Bild,
(kaum drei Meter) sein, um kann Präposition (um die Welt segeln) oder Teppich benennen Größen, geben in einem allerdings landläufigen Sinn die
Konjunktion (ich beeilte mich, um den Bus nicht zu verpassen) sein. Der Namen der Dinge an. Zur genaueren Unterscheidung von Name und Wort ist
Terminus Partikel wird übrigens in anderen Einteilungsverfahren mit erheb- hier auf Kapitel XVI!.l. zu verweisen. Eigenschaftswörter wie alJ, müde,
lich weiterer Bedeutung verwendet, was im Einzelfall beachtet werden muss. klein, grau benennen Eigenschaften von Dingen, Tätigkeitswörter wie erzäh-
Die Unterschiede der syntaktischen Funktionen dienen als Grundlage einer len, wohnen, beschreiben, sehen Tätigkeiten. Den Wortarten lassen sich somit
Einteilung der nicht-flektierenden Wortarten: auch gewisse grundsätzliche semantische Leistungen zuordnen (man ver-
gleiche Kapitel IX.l.).
Wort
Allerdings treten im Einzelnen die vielfältigsten Probleme auf, wenn alle
I Wortarten nach einer einheitlichen Vorgehensweise aufgrund flexivischer,
syntaktischer und semantischer Merkmale eingeteilt werden sollen. Die in
flektierbar nicht flektierbar Grammatiken verwendeten Einteilungen unterscheiden sich je nach Gewich-
tung der Merkmale und Ausdifferenzierung von kleineren Wortgruppen als
Wortarten beträchtlich.

mit Satzgliedwert ohne Satzgliedwert 6. Wortarten und Wortbildung


I
rl
satzmodifIzierend nicht satz-
modumerend
mit Pügteilcharakter
~__~I ________,
ohne Pügteilcbarakter
Bei der Wortbildung werden vielfach die Grenzen der Wortarten durch Trans-
position (dazu vergleiche man Kapitel VI.) überwunden; zum Beispiel werden
aus Verben und Adjektiven Substantive gebildet:
wohnen Wohnung eindringlich - Eindringlichkeit
bewegen Bewegung beredsam Beredsamkeit

mit Kasusforderung
I
ohne Kasusforderung Dabei kommt es zu Verschiebungen in der Bedeutung, indem eine Tätigkeit
I I oder eine Eigenschaft nun wie ein Gegenstand benannt wird. Aus diesem
Modalwort Adverb Präposition Konjunktion Partikel Grunde sind die semantisch begründeten Wortartbezeichnungen nur bei pri-
mären, nicht durch Wortbildung entstandenen Wörtern problemlos anwendbar
Weitgehend nach W. Plämig. Grammatik des Deutschen. Einführung in Struktur- und Wir-
(z.B. Stadt, zan, helfen).
kungszusrucrunenhänge.S.358
7. Wortarten in Grammatiken und Wörterbüchern
Bei der Wortarteneinteilung nicht-flektierbarer Wörter sind vereinzelt Über-
Grammatiken und Wörterbücher geben Auskunft darüber, welcher Wortart
schneidungen von Merkmalen zu beobachten. So können Partikeln ebenso wie
ein Wort angehört. Beim Durchblättern eines Wörterbuchs fällt auf, dass zu
Modalwörter den Geltungsgrad eines Satzes modifizieren:
vielen Wörtern mehrere Wortartangaben gemacht werden. Diese Wörter ge-
Das Seminar ist vermutljch überfüllt. (= Modalwort) hören - wie bereits in Abschnitt 4. sichtbar geworden ist - je nach ihrer
Das Seminar ist H!fl!JJ. überfüllt. (= Partikel) syntaktischen Verwendung verschiedenen Wortarten an.
68 vn. Die Wortarten Wortarten in Grammatiken 69

Im 'Deutschen Universalwörterbuch' des Duden-Verlages werden bei- An den Wörtern des Satzes Eigentlich versucht der Lehrer deutlich zu
spielsweise bei dem Wort doch drei Wortarten unterschieden: sprechen lässt sich zeigen, wie unterschiedlich die Wortartbestimmungen in
den grammatischen Werken ausfallen.
I. Konjunktion in der Bedeutung von 'aber': ich klopfe, doch nie-
mand öffnet.
11. Adverb in der Bedeutung von 'dennoch': sie blieb dann doch zu Wort H. Bergenholtz - G. Helblg- U. Engel 1996 Duden 1998
B. Schaeder 1m J. Buscha 1993
Hause.
m. Partikel: das hast du doch gewusst. eigen/lieh Adverb Partikel Rangierpartikel Modalpartikel

Duden. Deutsches Universalwörterbuch, S. 387 versucht finites Verb Verb Verb Verb

der Artikel bestimmter Artikel definiter Artikel Artikel


Grammatiken verfügen oft über ein Wortregister, das die Stellenangaben
Lehrer Substantiv Substantiv Nomen Substantiv
bereits nach Wortarten differenziert. In der 'Duden-Grammatik' lautet der
Registereintrag zu doch: deutlieh Adverb Adverb Adjektiv Adjektiv

d6ch Abtönungspartikel 671 . Gesprächspartikel 674 . koordinierende zu Inflnitivpartikel Partikel Subjunktor Inftnitivkon-
Konjunktion 717 . restriktive/adversative Konjunktion 721 . Stellung junktion

1413 sprechen Infinitiv Verb Verb Verb

Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, S. 884


Die unterschiedlichen Bestimmungen können an dem Wort deutlich beispiel-
Wörterbücher und Grammatiken stimmen allerdings in ihren Wortartbestim- haft erklärt werden. Das Wort deutlich ist isoliert betrachtet ein Adjektiv, da
mungen keineswegs überein, da sie die morphologischen, syntaktischen und es grundsätzlich flektierbar (und komparierbar) ist: deutliche Worte - deutli-
semantischen Kriterien unterschiedlich gewichten. In der 'Duden-Grammatik' chere Worte. In dem obigen Satz wird deutlich adverbial verwendet und ist
(S. 85-89) werden beispielsweise neun Wortarten unterschieden: fünf flektier- dementsprechend auch unflektiert. Betrachtet man das Wort als lexikalische
bare (Verben, Substantive, Adjektive, Artikel, Pronomen) und vier unflektier- Einheit, also unabhängig von seinen syntaktischen Verwendungsmöglichkei-
bare (Adverbien, Partikeln, Präpositionen, Konjunktionen). G. Helbig und J. ten, so ist es als Adjektiv zu bestimmen. Diese Bestimmung nehmen U.
Buscha unterscheiden in ihrer für den Ausländerunterricht konzipierten Engel und die 'Duden-Grammatik' vor. Legt man die syntaktische Verwen-
'Deutschen Grammatik' (S. 5-12) 12 Wortarten (Verb, Substantivwörter, dung von deutlich in dem Beispielsatz zugrunde, so kann es als Adverb
Adjektiv, Adverb, Artikelwörter, Pronomen es, Präpositionen, Konjunktio- bestimmt werden. Das syntaktische Kriterium wenden bei ihrer Klassifizie-
nen, Partikeln, Modalwörter, Negationswörter, Satzäquivalente). U. Engel rung H. Bergenholtz - B. Schaeder und G. Helbig - J. Buscha an.
kommt in seiner 'Deutschen Grammatik' (S. 18f.) durch eine weitere Diffe- Der in den Abschnitten 3. und 4. dargestellte Ansatz, der im Wesentlichen
renzierung der Partikeln auf 15 Wortarten (Verben, Nomina, Determinative, auf W. Flämig zurückgeht, verbindet morphologische (flektierbar und unflek-
Adjektive, Pronomina, Präpositionen, Subjunktoren, Konjunktoren, Adver- tierbar), syntaktische (Satzgliedwert, Fügteilcharakter, Kasusforderung) und
bien, Modalpartikeln, Rangierpartikeln, Gradpartikeln, Kopulapartikeln, semantische Kriterien (satzmodifizierend) miteinander.
Satzäquivalente, Abtönungspartikeln). Die stärkste Wortartdifferenzierung
ergibt sich aus einer streng syntaktischen Kategorisierung, bei der H. Bergen- Definitionen
holtz und B. Schaeder auf 51 Wortarten kommen. Die Wortart Verb wird • Flexion meint Veränderung der Wortformen (nach Person, Numerus, Modus,
dabei allein in zehn Verbwortarten (finites Verb, Imperativ, Hilfsverb finit, Tempus, Genus Verbi oder nach Genus, Kasus, Numerus).
Hilfsverb Imperativ, Partizip, Hilfsverb Partizip, Infinitiv, Hilfsverb Infinitiv, • Grammatische Wörter sind unterschiedlich flektierte Wortformen eines Wortes.
Infinitiv mit eingeschlossenem zu, Verbzusatz) unterteilt.
70 VII. Die Wortarten

• Autosemantika sind Wörter, die eine kontextunabhängige, selbständige Bedeu-


tung haben (Substantive, Verben oder Adjektive).
• Synsemantika sind Wörter, die bei isoliertem Auftreten keine selbständige
lexikalische Bedeutung tragen (Funktionswörter wie Präpositionen, Konjunktionen Vill. Syntax
und Partikeln).
• Offene Wortarten sind Wortarten wie Substantive, Adjektive und Verben, die 1. Vorbemerkung: Syntaxtheorie und konkrete Satzanalyse
kontinuierlich durch Wortbildung erweitert werden.
• Geschlossene Wortarten sind Wortarten wie Präpositionen, Konjunktionen und Theoretisch grundlegend fii.r das hier gewählte Vorgehen sind die Begriffe
Partikeln, die nur in geringem Umfang durch Wortbildung erweitert werden. Konstituenz, Dependenz und Mitteilungsstruktur . Die Analyse geht also
• Verben sind nach Person, Numerus, Modus, Tempus und Genus Verbi flektier-
von der Ermittlung der Konstituenten gegebener Sätze aus, interpretiert die
bare Wörter.
• Substantive sind nach Kasus und Numerus flektierbare genusfeste Wörter. Konstituentenstruktur so weit wie möglich im Rahmen von Dependenzbezie-
• Adjektive sind nach Genus, Kasus und Numerus flektierbare und komparierbare hungen und beachtet die konkrete lineare Konstituentenabfolge im Zusam-
Wörter. menhang der Mitteilungsstruktur . Dabei wird vorausgesetzt, dass Sätze im
• Pronomina sind nach Genus, Kasus und Numerus flektierbare, aber nicht-kom- Zusammenhang von Texten geäußert werden (man vergleiche dazu Kapitel
parierbare Wörter.
XI.) und daher auch nur Sätze aus Texten analysiert werden sollten.
• Modalwörter sind unflektierbare satzwenige Wörter, die den Geltungsgrad des
ganzen Satzes modifizieren. Ziel des vorliegenden Kapitels kann im Rahmen dieser Einführung natür-
• Adverbien sind unflektierbare Wörter ohne satzmodifiziernde Funktion und ohne lich nur die erste Anleitung zu konkreter Satzanalyse und die Veranschauli-
Satzwert, aber mit Satzgliedwert. chung syntaktischer Strukturen sein. Die folgende Darstellung knüpft an den
• Präpositionen sind unflektierbare Wörter ohne Satzgliedwert, die Filgteilcharakter vor allem an der Valenzgrammatik orientierten neueren Beschreibungen der
und eine Kasusforderung haben; sie leisten die syntaktische Einfügung von deutschen Syntax an, wie sie in den verbreiteten Grammatiken vorliegen.
präpositionalen Satzgliedern oder Attributen.
Dieses Verfahren sichert so auch den Zusammenhang einer syntaktischen
• Konjunktionen sind unflektierbare Wörter ohne Satzgliedwert, die Filgteilcharak-
ter, aber keine Kasusforderung haben; sie fügen Teile von Satzgliedern, Glied- Einführung mit den im Studium hauptsächlich benutzten Grammatiken, die
teilsätze, Gliedsätze oder Sätze aneinander. auch den Darstellungen in Schulbüchern zugrunde liegen. Ziel des Kapitels
• Partikeln sind unflektierbare Wörter ohne Satzgliedwert und ohne Filgteilcharak- ist also ausdrücklich nicht ein Überblick über verschiedene Syntaxtheorien.
ter; sie dienen der Modifizierung der Aussage. Dazu muss auf die entsprechende Literatur verwiesen werden.

Literaturhinweise
2. Die operationale Ermittlung der Satzglieder
Kurzinformation:
In einem Satz stehen die Wörter - wie jeder Sprecher intuitiv erfasst und wie
Metzler Lexikon Sprache. Artikel: Adjektiv, Adverb, Autosemantikum, Grammatisches
Wortform, Konjunktion, Modalwortl-partikel, Partikel, Präposition, Pronomen, Substantiv, die Schulgrammatik jedem Schüler vermittelt hat - nicht einzeln und isoliert,
Synsemantikon, Verb (von B. Schaeder); Flexion, Geschlossene und Offene Klasse (Wortart) sondern sie stehen untereinander in näheren und ferneren Beziehungen und
(von H. Glück) geben dies unter anderem in ihrer Flexionsform und in ihrer Stellung im Satz
Grundlegende und weiterfiihrende Literatur: zu erkennen. Diese sprachliche Organisation wird durch den Begriff Syntax
H. Bergenholl1. - B. Schaeder, Die Wortarten des Deutschen ausgedrückt. Syntax bezeichnet den Satzbau als Regelsystem der Sprache, die
Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, S. 85-407 sprachwissenschaftliche Teildisziplin, die sich mit der Analyse und Beschrei-
U. Engel, Deutsche Grammatik
J. Erben, Deutsche Grammatik
bung dieses Regelsysterns beschäftigt, und schließlich auch das Buch, in dem
W. Flämig, Grammatik des Deutschen diese Beschreibung gegeben wird.
G. Helbig - J. Buscha, Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht Wichtige Analyseverfahren werden an einzelnen Sätzen aus dem Text von
M.D. srepanowa - G. Helbig, Wortarten und das Problem der Valenz in der deutschen Peter Bichsel (Kapitel m.l.) sichtbar gemacht.
Gegenwartssprache
G. Van der Eist - M. Habennann, Syntaktische Analyse, S. 143-166

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