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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung
31. Dezember 2007 Betr.: Pakistan, Russlanddeutsche, Steigerwald

D ie Eskalation der Lage in Pakistan haben SPIEGEL-Reporter in den vergangenen


drei Jahren detailliert beschrieben: Erich Follath, 58, analysierte allein in zwei
Titelgeschichten, wie die Atommacht an den Rand des Abgrunds geriet. Seine Kolle-
gin Susanne Koelbl, 42, war ebenfalls oft zu Gast in dem Land zwischen Hindukusch
und Arabischem Meer – im Oktober erst begleitete sie die vorigen Donnerstag er-
mordete Oppositionspolitikerin Benazir Bhutto, 54, bei deren Rückkehr aus dem Exil
in Dubai. Die Titelgeschichte dieser Woche führte Autor Follath auch zurück zu sei-
ner ersten Begegnung mit Bhutto. Vor
bald 20 Jahren hatte er die damals gerade
35-Jährige nach ihrem Wahlsieg in Kara-
tschi interviewt, bald darauf wurde sie Mi-
nisterpräsidentin. „Eine faszinierende Per-
sönlichkeit“ sei die Politikerin gewesen,
sagt Follath, der bei seinen Reisen durchs
Land aber auch viele Beispiele ihrer rück-

JAY ULLAL
sichtslosen Vetternwirtschaft fand. Bhuttos
Amtszeiten beurteilt der SPIEGEL-Mann
eher negativ, dennoch habe sie in der ge- Follath, Bhutto (1988 in Karatschi)
gegenwärtigen Situation „die Hoffnung
Pakistans verkörpert“. Das Foto auf dem SPIEGEL-Titel entstand am Tag des Atten-
tats. Das Geschehen löste vor Ort und in der Welt so etwas wie eine „Alarmstufe
Grün“ aus – es droht ein Chaos in Grün, der Farbe des Islam (Seite 82).

H offnungsvoll waren mehr als zwei Millionen Russlanddeutsche seit Ende der
achtziger Jahre nach Deutschland übergesiedelt, für viele aber erfüllte sich der
Traum vom besseren Leben nicht. Sie fanden keine Arbeit – und nun zieht es, ange-
sichts des Booms in ehemaligen Sowjetrepubliken, Tausende Spätaussiedler zurück in
ihre Herkunftsländer. SPIEGEL-Redakteurin Merlind Theile, 31, besuchte im sibiri-
schen Tjumen Nataly Chramow, 32, die 2002 mit ihrer 20-köpfigen Großfamilie von
dort nach Bayern umgesiedelt war
und im April mit ihrem Mann Jurij,
28, und der gemeinsamen Tochter
zurückkehrte. „In Deutschland hat-
ten die Chramows trotz ihrer Hoch-
schulabschlüsse keine Perspektive, in
Sibirien sind ihre beruflichen Chan-
MIKHAIL GALUSTOV

cen besser“, sagt Theile. Schwer sei


es für die Familie zu ertragen, „dass
sie wohl für immer auseinanderge-
Ehepaar Chramow, Theile (in Tjumen) rissen bleibt“ (Seite 36).

W enn der fränkische Forstwissenschaftler Georg Sperber, 74, an einem Reifen sei-
nes Autos einen Plattfuß entdeckt, glaubt er nicht an einen Zufall. Ein Denk-
zettel könnte das sein, eine kleine Rache dafür, dass er gegen den Widerstand der Be-
völkerung dafür streitet, dass der ökologisch wertvolle nördliche Steigerwald als Na-
tionalpark ausgewiesen wird. SPIEGEL-Redakteurin Rafaela von Bredow, 40, sprach
mit dem Pensionär, der seit je dagegen kämpft, Wälder vor allem als Holzfabriken zu
betrachten – und dafür oft als „Ökospinner“ verunglimpft wurde. Sperbers Gegner
empfingen Bredow, die in Hamburg lebt, mit tiefer Skepsis, als Großstädterin verste-
he sie „ohnehin nichts“ von der Materie, hieß es. Weit gefehlt: Die Biologin wuchs im
familieneigenen Forst im Saarland auf, im Steigerwald erfuhr sie nun, „wie wenig im
Streit um den Nationalpark Sachargumente zählen“ (Seite 114).

Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 3
In diesem Heft
Titel
Die Märtyrerin und die Macht der Generäle ......... 82
Interview mit dem früheren pakistanischen Premier
Nawaz Sharif über den Tod Benazir Bhuttos ......... 88 CDU-Länderchefs droht Wahlschlappe Seite 20
In drei Bundesländern wird
Deutschland bis zum 24. Februar gewählt –
Panorama: Bundesregierung lehnt Gehaltsgrenzen ein Testlauf für die Große
für Manager ab / Brüssel plant Koalition in Berlin, den Links-
schärfere Abgasnormen für Lkw / Merkel für Kurs von SPD-Chef Kurt
langfristige DDR-Aufarbeitung .............................. 15 Beck sowie die Partei Die Lin-
Rückblick 2007 ...................................................... 18
Wahlen: Union vor massiven Stimmenverlusten ke. Und in allen drei Ländern
in drei Ländern ..................................................... 20 muss sich Angela Merkels
Parteien: Entfremdung zwischen CDU CDU nach einer SPIEGEL-

SEAN GALLUP / GETTY IMAGES


und katholischer Kirche ........................................ 24 Umfrage auf teils empfind-
Karrieren: Wie die erste Generalsekretärin liche Verluste einstellen. Be-
der CSU einen modernen Anstrich verpasst ......... 26 sonders hart trifft es die Re-
Hilfsorganisationen: Hochstapler gierungschefs von Hessen und
an der Spitze bringt Kinder-Retter in Verruf ......... 28 Hamburg, Roland Koch und
Islamisten: Einem Kämpfer aus Goslar
droht im Libanon die Todesstrafe .......................... 31 Ole von Beust, die um ihre
Rechtsextremisten: Anti-Islam-Partei CDU-Vorsitzende Merkel, Ministerpräsidenten Macht fürchten müssen.
breitet sich aus ...................................................... 33
Essay: Die Chancen eines neuen
deutschen Weltbürgertums .................................... 34
Russlanddeutsche: Junge Aussiedler hoffen
auf ein besseres Leben in Sibirien ......................... 36
Spielsucht: Jugendliche im
gefährlichen Sog virtueller Welten ........................ 42
Hochstapler mit Bambi Seite 28
Gerade erst nahm Dr. oec. Dr. h. c. Markus Dewender bei der Bambi-Gala stolz
den Preis für seinen Verein „Kinder brauchen uns“ entgegen, der 59 afghanische
Gesellschaft
Kinder in deutsche Kliniken gebracht hatte. Jetzt entpuppt sich Dewender als
Szene: Rückblick 2007 ......................................... 44 falscher Doppeldoktor – und auch auf seinen Verein fallen Schatten.
Eine Meldung und ihre Geschichte – über einen
braven Schweden, der in Terrorverdacht geriet ..... 46
Geld: Wie ein Einwandererkind in London
durch Immobiliendeals zum Milliardär wurde ....... 48
Ortstermin: Ein bayerischer Ingenieur baut
das Traumauto der Deutschen .............................. 53
Lieber Staat als privat? Seite 58
Wirtschaft Ob Post, Telekom, Bahn oder
Trends: Prüfer belasten WestLB-Banker / Entsorgungsunternehmen –
Ministerium kritisiert Bundesagentur für Arbeit / viele Staatsfirmen wurden
Russland sucht Bahninvestoren ............................. 54 in den vergangenen Jahren
Rückblick 2007 ...................................................... 56 privatisiert. Die Bürger sollten
Standort: Warum Privatisierungen
oft scheitern .......................................................... 58
von besseren und billigeren
Globalisierung: Interview mit Hapag-Lloyd-Chef Leistungen profitieren. Doch
Michael Behrendt über die Abhängigkeit davon ist heute in vielen Be-
der Weltwirtschaft von der Container-Schifffahrt ... 62 reichen wenig zu spüren. Et-
Aktien: Chinesische Kleinanleger träumen liche Altmonopolisten beherr-
SCHULZ / IMAGO

vom Leben in Wohlstand ...................................... 64 schen wie eh und je ihre Märk-


Firmensanierung: Dutzende Berater und te, von offenem Wettbewerb
Anwälte verdienten an der Pleite keine Spur. Schon denken die
des westfälischen Möbelherstellers Schieder ......... 66
Unternehmen: Ein bayerischer Destillateur
Schaffner, Bahnreisende ersten Politiker wieder um.
brennt mit Erfolg Malzwhisky ............................... 70

Medien
FOTOS: DPA; IMAGO; GALLUP/ACTION PRESS; DDP (V. L. N. R.)

Trends: Olli Dittrichs Ausflug ins


Reklamegeschäft / „Bild“ lagert aus ...................... 72
Fernsehen: Rückblick 2007 .................................. 73
Auszeichnungen: Die absurdesten Preise
des Medienjahres 2007 .......................................... 74

Rückblick 2007
Ausland
Panorama: Burmas Mönche rufen erneut Seiten 18, 44, 56, 73, 80, 106, 112, 126
zum Streik / Perus Terrortruppe Leuchtender Pfad
steigt in den Drogenhandel ein ............................. 79 Nach dem schwarz-rot-goldenen WM-Jahr 2006 begann ein Spiel ohne Grenzen. Das
Rückblick 2007 ...................................................... 80 schmelzende Eis am Nordpol erwärmte die Herzen der Deutschen für den kleinen
USA: SPIEGEL-Gespräch mit Kaliforniens Eisbären Knut, scheinbar biedere Banken taumelten, weil sie sich im globalen
Gouverneur Arnold Schwarzenegger
über den Klimaschutz und seine Favoriten Finanzcasino verzockt hatten, und Kanzlerin Angela Merkel halste sich eine Menge
im Präsidentschaftswahlkampf .............................. 93
4 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Georgien: Präsident Micheil Saakaschwili
vor der Wahl .......................................................... 96
Interview mit dem inhaftierten früheren
Verteidigungsminister Irakli Okruaschwili
über seinen Konflikt mit dem Staatschef ............... 97
Kriegsverbrechen: Wie ein internationales
Tribunal über Liberias
Ex-Diktator Charles Taylor richten will ................ 98
Slowenien: Europas Musterschüler unter Druck 102
Global Village: Im italienischen Bergmassiv
Gran Sasso warten Forscher
auf ein wissenschaftliches Wunder ...................... 104

GEORGE OSODI / AP
Sport
Szene: Rückblick 2007 ........................................ 106
Nachwuchs: Wie Bundesliga-Vereine ihren
Nachwuchs in Internaten ausbilden ..................... 108
Ex-Staatschef Taylor bei einer Vorverhandlung in Freetown, Sierra Leone (2006) Skirennen: Deutschlands beste Läuferin
Maria Riesch versucht sich als Buchautorin ......... 111

Afrikanischer Diktator vor Gericht Seite 98


Wissenschaft · Technik
Prisma: Rückblick 2007 ....................................... 112
Umwelt: Rückkehr zum Urwald – bayerischer
Charles Taylor war einer der schlimmsten Kriegstreiber Westafrikas. Ab kommen-
Kulturkampf um einen neuen Nationalpark ......... 114
der Woche steht er in Den Haag vor einem internationalen Tribunal. Dem ehe- Psychologie: Wie lassen sich gute Vorsätze
maligen Präsidenten Liberias werden schwerste Verbrechen im Nachbarland Sierra am besten wahr machen? ..................................... 117
Leone vorgeworfen. Frieden schaffen durch Gerechtigkeit – ist das möglich? Tiere: Chinesische Zoodirektoren wollen
zwei greise Schildkröten verkuppeln ................... 118
Physik: Interview mit dem Nobelpreisträger
Robert Laughlin über
den Irrglauben an eine Weltformel ...................... 120

Mit Immobilien zum Milliardär S. 48 Bestattungstechnik: Auf den Friedhöfen


verwesen die Leichen nicht mehr ........................ 122
Auf den ersten Blick mag der Londoner Spekulant Andreas
Panayiotou wie eine Hassfigur für Kapitalismuskritiker Kultur
erscheinen: Durch gewagte Immobiliendeals ist er zum Szene: Altphilologe Joachim Latacz kritisiert
JIRI REZAC

Spekulationen zur Person des Dichters Homer .... 125


Milliardär geworden. Das Einwandererkind darf als Mus- Rückblick 2007 .................................................... 126
terbeispiel für die rasanten Karrieren im wichtigsten Städtebau: Der deutsche Architekt Christoph
Panayiotou Kapitalmarkt der Welt gelten. Ingenhoven erklärt, warum er
nicht in Ländern wie China bauen will ................ 128
Film: „Darjeeling Limited“ von Wes Anderson ... 131
Literatur: SPIEGEL-Gespräch mit
dem Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger

Enzensbergers General Seite 132


über seine Jugend in der NS-Zeit
und seine neue Biografie „Hammerstein“ ........... 132
Bestseller .......................................................... 135
Ein Freiherr und hoher Militär begeistert den einst Kino: Wie Wim Wenders im sizilianischen
linken Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger: Kurt Palermo einen Fim über den Tod dreht ............... 136
von Hammerstein (1878 bis 1943), Held seiner litera- Nahaufnahme: Der älteste Filmvorführer
DIETER MAYR

rischen Biografie „Hammerstein oder Der Eigen- Deutschlands gibt seine letzte Vorstellung ........... 138
sinn“, war schon 1933 ein Gegner Hitlers. „Er sah die
Katastrophe voraus“, so erklärt der Schriftsteller im
SPIEGEL-Gespräch seine Faszination. Enzensberger Briefe ..................................................................... 6
Impressum, Leserservice ................................ 140
Chronik ............................................................... 141
Register .............................................................. 142
Personalien ........................................................ 144
FOTOS: WITTERS; SCHMAUCH/LAIF; AP; KEYSTONE (V. L. N. R.)

Hohlspiegel /Rückspiegel ................................ 146


Titelbild: Foto Aamir Qureshi / AFP

Goldfieber
Ärger wegen einer Plauderei mit einem Gast aus Tibet auf, dem Dalai Lama. Das Wenn am 8. August in Peking
Böse von irgendwo dort draußen kam ganz nah: Der islamistische Terror nistete sich die Olympischen Spiele be-
im Sauerland ein, und an internationalen Doping-Machenschaften ging der Radsport ginnen, ist dabei sein alles. Im
zugrunde. Dass gierige deutsche Spitzenmanager immer noch viel weniger verdie- KulturSPIEGEL, dem Maga-
nen als ihre Kollegen in den USA, war da kein rechter Trost, und es half auch nicht, zin für Abonnenten, erklären
dass Tom Cruise für seine Rolle als Graf Stauffenberg einen Preis bekam. Nur auf zwölf Künstler, warum sie zu
die Deutsche Bahn war Verlass: Die Lokführer streikten streng national. Hause mitfiebern werden.

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Briefe

Christentum ist das perverseste System, das


jemals über den Menschen geleuchtet hat“
„Von meinem Vater stammt folgender Satz: lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen
‚Mein Sohn, du kannst den Koran lesen übrig. Jefferson und andere Gründungs-
und auswendig lernen, aber wenn du kein väter der USA waren Deisten, Agnostiker
oder Atheisten; vor allem waren sie alle
Arabisch verstehst, wirst du den Koran überzeugte Säkularisten, die die Religion
nicht verstehen. Es gibt aber leider viele, als reine Privatsache ansahen.
Odenthal (Nrdrh.-Westf.) Gerhard Löw
die den Koran auswendig können,
aber ihn nicht verstehen, und das ist Gründliche Auswertung von Bau- und
die größte Gefahr für die Menschen.‘“ Münzinschriften und der – wenigen –
schriftlichen Quellen aus dem 7. Jahrhun-
Abdullah El Youssfi aus Duisburg zum Titel dert hat in den letzten Jahren ein völlig
SPIEGEL-Titel 52/2007 „Der Koran – Das mächtigste Buch der Welt“ neues Bild des frühen Islam ergeben und
eine neue sprachgeschichtliche Einordnung
Ansätze für ein besseres Verständnis des
hatte. Aber wahr ist auch, dass die neue Koran. Ergebnis: Der Gott des Islam ist his-
Gott der Christen, Muslime, Juden Generation sich aufrappelt und bildet.
Hierbei ist der große Anteil von Musli-
torisch gesehen eindeutig identisch mit
Nr. 52/2007, Titel: Koran – Das mächtigste Buch der Welt dem Gott der Christen, und das genau so,
minnen nicht zu übersehen. wie der Gott der Christen auch der Gott
Dass Sie die Titelgeschichte zu Ihrer Weih- Krefeld (Nrdrh.-Westf.) Ayse Sari der Juden ist. Und viele dunkle, unver-
nachtsausgabe dem Koran widmen, finde ständliche Stellen im Koran lassen sich auf-
ich klasse! Zur Sache: Würden sich die Is- Nicht alle Muslime, sondern der Islam ist klären, wenn man sie auf schlichte Ab-
lamisten nach dem Koran richten, gäbe es der Feind der westlichen Kultur und Zivi- schreibfehler zurückführt.
keinen islamistischen Terror. Klipp und klar lisation. Keine Interpretation könnte den Berlin Reinhard Kaiser
steht in Sure 109: „Sprich: O ihr Ungläubi-
gen, ich diene nicht dem, dem ihr dienet. Dass die SPIEGEL-Redaktion ausgerech-
Und ihr seid nicht Diener dessen, dem ich net in ihrer Weihnachtsausgabe, also zum
diene. Und ich bin nicht Diener dessen, höchsten christlichen Fest, den Koran als
dem ihr dienet. Und ihr seid nicht Diener Titelthema wählt, ist bezeichnender und
dessen, dem ich diene. Euch euer Glaube beklemmender als alle Analysen.
und mir mein Glaube.“ – Kann es dazu Hemmingen Ute Lindemann
noch Fragen zur Toleranz geben? AAMIR QURESHI / AFP

Forchheim (Bayern) Detlef Binder Ihr Titel hebt dankenswerterweise hervor,


dass es rund um den Globus von Vernunft
Der Islam ist keine Religion, sondern eine geleitete Muslime gibt, für die säkulare
minutiöse Anweisung für das tägliche Le- Prinzipien nicht inkompatibel sind mit
ben der Muslime (bis hin zum Schneiden Koranschüler (in Karatschi) ihrem Glauben, und die trotz Fatwas den
der Fingernägel). Dies führt dazu, die Erleuchtung statt Barbarisierung Mut haben, ihre Ansichten offen auszu-
Selbstentfaltung des Individuums (vor al- sprechen. Sie sind ein Beleg dafür, dass
lem des weiblichen) zu hemmen. Während Islam liberalisieren. Der Westen muss die das Streben nach Demokratie, Menschen-
sich heute China, Indien, Ostasien und säkularen Muslime unterstützen, damit sie rechten und Rechtsstaatlichkeit keine na-
Lateinamerika rasch entwickeln, hat die ihre Religion entmachten können. tionalen Grenzen kennt. Ohnehin ist die
islamische Welt wenig mehr zu bieten als Berlin Ellahe Bograt Unterscheidung zwischen vermeintlich
billige Textilien, Öl (das in 50 Jahren zu „christlichen“ oder „islamischen“ Werten
Ende geht) und eine Ware, die niemand Auch wenn der von Ihnen erwähnte US- eher Kosmetik und der absurde Versuch,
haben will: Terror. Abgeordnete Keith Ellison – Demokrat einen Monopolanspruch auf universelle
Wiesbaden Hans-Peter Schuh islamischer Religion – bei seinem Amtseid Überzeugungen zu erheben, die wir nicht
ein Koran-Exemplar aus dem „persön- den Religionen zu verdanken haben. Die
Schade, dass ich mich als gebildete, junge lichen Nachlass des US-Gründervaters intellektuelle Kampflinie verläuft nicht
Muslima, aufgewachsen als Deutschtürkin, Thomas Jefferson“ benutzt hat, muss hier zwischen Christen, Juden oder Muslimen,
nicht wirklich mit Ihrem Artikel identifi- klargestellt werden, dass Jefferson mit Re- sondern zwischen Säkularisten auf der
zieren kann. Darin steht viel über Krieg, ligion so gut wie nichts am Hut hatte, we- einen und Fundamentalisten auf der an-
viel über Islamisten, die im Namen Allahs der mit dem Islam noch mit irgendeiner deren Seite.
Blut unschuldiger Menschen vergießen. Je- anderen Religion. Seine Bemerkung „das Frankfurt am Main Waqar Tariq
doch sind Sie kaum auf den zweiten Teil
Ihrer Überschrift – „Frieden“ – eingegan-
gen. Ich konnte beispielsweise nichts über
die Abschaffung der Sklaverei in Zeiten
Vor 50 Jahren der spiegel vom 1. Januar 1958
Kommentar von Jens Daniel Verhandeln – worüber? Atomenergie
Mohammeds (Lob sei mit ihm!) lesen. Plädoyer für Forschungszentrum in Jülich. Sowjetunion Parteichef Chru-
Oder: Dass neugeborene Töchter bis dahin schtschow fordert Anerkennung des Status quo. Israels Annäherungs-
lebendig vergraben wurden, weil sie für versuche Westdeutschland soll Waffen liefern. Kuba Rebellion gegen Dik-
die Familie als Schande galten, ein Grauen, tator Batista. US-Konkurrenzkampf zwischen Film und TV Gegenschlag
eingeleitet. Biografie über US-Autor O. Henry „Ich war Piggy“. Brite
das erst mit dem Propheten Mohammed entdeckt „Stimme der Zukunft“ Bandbreite über neun Oktaven.
endete. Sie erwähnen flüchtig, dass der Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de
erste Befehl Allahs „Lies“ ist. Wahr ist, oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben.
dass die islamische Welt bis vor kurzem Titel: Simulation einer geplanten Mondfahrt
nicht wirklich den akademischen Schwung
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Briefe

Frauen von Natur aus rührselig und emp-


findsamer sind als das männliche Ge- Auch der Zufall schafft Muster
schlecht. Nr. 51/2007, Atomkraft: Rätsel um
Riad (Saudi-Arabien) Dr. Mohammad Alfadda die Leukämiehäufung in Kraftwerksnähe

Wie wäre es, wenn in einem Titel über die Cui bono? Wer gibt für so etwas Geld aus?
Bibel ein für seine antichristliche Haltung Und warum wird eine solche Studie, die
bekannter Muslim zu Wort käme? Was ha- überhaupt keine neuen Erkenntnisse
ben Sie sich dabei gedacht, einen für seine bringt, „just in time“ zur wiederaufkei-
extrem islamkritische Haltung bekannte menden Diskussion über längere Akw-
Person wie de Winter in Ihrem Korantitel Laufzeiten in per se atomkritische Medien
zu Wort kommen zu lassen? Warum aus- lanciert und fachlich ahnungslosen politi-

SUHAIB SALEM / REUTERS


gerechnet jemand, der den Einsatz nicht- schen Lautsprechern als pseudowissen-
rechtsstaatlicher Mittel gegen Islamisten, schaftliche Agitationshilfe serviert?
die menschenverachtenden Zustände in Saarbrücken Prof. Dr. Jürgen Althoff
Guantanamo und die Kriegstreiberei ge- Universität des Saarlandes
gen Iran befürwortet? Traurig.
Heiligtum Kaaba in Mekka Hamburg Juliane House Selbstverständlich müssen die Leukämie-
Den Islam liberalisieren? fälle nach allen Regeln der medizinischen
Leon de Winters Artikel bringt viele Be- Kunst untersucht werden. Aber bitte nicht
Auch das mächtigste Buch der Welt be- obachtungen in einen überzeugenden Zu- vergessen, dass der Zufall Muster schafft!
darf, wenn schon nicht einer Neuauflage, sammenhang, die sonst punktuell anfallen Attendorf (Österreich) Dr. Alois Rieger
dann wenigstens einer zeitgemäßen Inter- und selten so schlüssig zusammengefasst
pretation im Sinne der Aufklärung. Wer werden. Allerdings ist die Tonart so ge- Wie kommen Sie auf die Idee, Leukämie
sein Leben uneingeschränkt einer vor mäßigt, als handle es sich um einen ge- sei gut heilbar? Seit wann ist eine Chemo-
knapp 1400 Jahren niedergeschriebenen schichtlichen Überblick aus großer Di- therapie ein Spaziergang? Eine Knochen-
Handlungsunterweisung wie dem Koran stanz. Wahrscheinlich ermöglicht auch nur marktransplantation ein Routineeingriff?
unterwirft, verhält sich so, als wolle er mit eine solche historische Betrachtungsweise, Ich hoffe, die „Atomkraft ist toll!“-Serie im
den ersten Computern im Internet surfen! sich nicht bedroht zu fühlen, sondern op- SPIEGEL ist eine Trilogie, die mit diesem
Inzlingen (Bad.-Württ.) Wolfgang Blanck timistisch in die Zukunft zu blicken. Teil endet, mehr Unfug zu diesem Thema
Berlin Johan Wanja halte ich nicht aus. Nachdem Krümmel zu
Man kann glauben, dass Mohammed ei- einer Bagatelle heruntergeschrieben wur-
nen Engel gesehen hat, der ihm den Koran de, die Folgen von Tschernobyl, Hiroshima
offenbart hat. Man kann aber auch glau- Loyale und tüchtige Bürger und Co. verharmlost wurden (angeblich
ben, dass Mohammed nie einen Engel Nr. 50/2007, Ausländer: Wie sich die Mafia weniger Tote), wird die kritische Betrach-
gesehen hat und der Koran in Wirklich- im Italiener-Milieu ausbreitet tung einer Studie – soweit eine gute Sa-
keit von Mohammed selber stammt. So che – überflüssigerweise mit erschreckend
einfach ist das. Das Gleiche gilt entspre- Ich habe Ihren Artikel „Weiße Weste für propagandistischen Aussagen ergänzt, die
chend für Joseph Smith und das „Buch die Parallelwelt“ gleichzeitig mit Interesse jeder Imagewerbung der Energieversorger
Mormon“, für Zarathustra und die Gathas und Bedauern gelesen. Ich begrüße, dass zur Dekoration gereicht. Ebenso gut könn-
im „Awesta“ und selbstverständlich auch der SPIEGEL über die mangelhafte Inte- te man behaupten, dass Atomkraftwerke
für alle Propheten der Bibel. gration junger Italiener im deutschen Bil- die Krebsforschung fördern, weil sie für
Köln Robert Groenewold dungssystem berichtet. Diese Problematik gute Fallstudien sorgen.
ist mir seit Beginn meiner Mission in Lippstadt (Nrdrh.-Westf.) Frank Boneberger
Wie kann man nur den Koran als Werk Deutschland ein höchstwichtiges Anliegen.
voller Poesie bezeichnen? Habt ihr ihn Dank der Pisa-Studie wird nun dieses The-
nicht durchgelesen? Ich habe ihn komplett menfeld zum Glück auch in der breiteren
gelesen. Kaum eine Seite vergeht, in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Ich kann
nicht über Ungläubige gehetzt wird. mich nur darüber freuen. Was ich dage-
Erding (Bayern) Bettina Kohler gen bedauern muss, ist die Art, wie aus ei-
ner gravierenden soziologischen und bil-
Gern würde ich den Artikel auf Türkisch dungspolitischen Lage Schlussfolgerungen
haben und meinem Vater zum Lesen ins Feld der Kriminalität gezogen werden
schicken, mit dem ich über das Thema und pauschal darauf hingewiesen wird,
schon seit langem streite. Mit meiner nach- dass Menschen, die sich in dieser Lage be-
drücklichen Sturheit und meiner angebo- finden, besonders anfällig für illegales Ver-
renen Neugier (angestellt im Deutschen halten seien. Das kann ich nicht nachvoll-
Zentrum für Luft- und Raumfahrt) habe ziehen. Ich möchte unterstreichen, dass
ich ihm schon manches Mal zum irdischen die Italiener in Deutschland loyale und
„Nachdenken“ verholfen. tüchtige Bürger sind, die mit der Mafia
München Hakan Kocak nichts zu tun haben. Das Problem vieler
Kinder und Jugendlicher, die an der Bil-
Frauen erben nur die Hälfte dessen, was dung zu scheitern drohen, ist zu ernst, um
FABIAN BIMMER / AP

ein männlicher Verwandter vom Nachlass nicht die größte Aufmerksamkeit zu ver-
erhält, weil Frauen nach Islamvorschriften dienen. Die Mafia im Übrigen auch. Dafür
nicht zu den Haushaltsausgaben beitragen dürfen aber die beiden Probleme nicht
müssen, das ist die Pflicht des Mannes. miteinander vermischt werden.
Ihre Aussage zählt nur halb so viel vor Ge- Berlin Antonio Puri Purini Kinder auf der Elbe vor dem Akw Krümmel
richt wie die Aussage des Mannes, weil Italienischer Botschafter Zu einer Bagatelle heruntergeschrieben
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Einfühlsam und lehrreich
Nr. 51/2007, Altern: Hundertjährige –
die Pioniere der kommenden Gesellschaft

Für viele der immer zahlreicher werden-


den Betagten ist das Altwerden eine Tragö-
die. Auch solche Alten, die geistig noch fit
sind, haben meistens körperliche Ausfälle,
die zum Beispiel einen sinnvollen Einsatz
für andere ausschließen. Werden sie nach
jahrzehntelanger glücklicher Ehe Witwer
oder Witwe, sehnen sie sich nach dem Tod.
Möge der in so vieler Hinsicht hilfreiche
SPIEGEL ihnen gangbare Wege aufzeigen,
wie sie – ohne Dignitas & Co. – Erfüllung
ihres Wunsches finden.
Hamburg Eva Wrede

Ich bin 56 Jahre und beginne Angst zu


fühlen vor dem Alter. Bisher habe ich im-
mer gedacht: Die nächsten 20 Jahre. Jetzt
denke ich plötzlich: Die nächsten 40 Jahre.
Der Bericht hat vieles in mir geändert. Frau
Haag und Frau Merke machen Mut, Mut,
Mut – vielleicht ohne es selbst zu wissen.
Monheim am Rhein (Nrdrh.-Westf.)
Katharina Hannemann

Eine ganz hervorragende Reportage hat


Barbara Hardinghaus da geschrieben, ein-
fühlsam, lehrreich und sprachlich perfekt.
Herzlichen Glückwunsch!
Hamburg Jürgen Bischoff

Ihr Artikel macht deutlich, dass man unter


„Altersvorsorge“ mehr als nur finanzielle
Sicherung sehen sollte. Bis 2050 wird der
Bevölkerungsanteil der 60- bis 79-Jährigen
in Deutschland auf etwa ein Viertel anstei-
gen. Neben dem Einsatz von Selektions-,
Optimierungs- und Kompensationsstrate-
gien brauchen wir auch mehr körperliche
und psychische Altersvorsorge bereits in
jungen Jahren, um die eigenen Fähigkei-
ten und die Motivation bis ins hohe Alter
aufrechtzuerhalten. Außerdem wären mehr
Flexibilität und Perspektiven für berufli-

CARSTEN KOALL

Hundertjährige Hanna Merke


Ihr Beispiel macht Mut

ches und gesellschaftliches Engagement äl-


terer Menschen förderlicher als starre Al-
tersgrenzen beim Rentenübergang. Nur so
können die Potentiale des Alters genutzt
und der demografische Wandel generatio-
nengerecht bewältigt werden.
Gießen (Hessen) Hannes Zacher

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Briefe

behörde da von sich gibt. Seit wann gehen


bei uns die Rechte des Datenschutzes vor
den Menschenrechten? Oder sind bei uns
Wohnungen rechtsfreie Räume für Men-
schen, die ihre Kinder foltern?
Hamburg Martina Juhnke

Das viele Gute und die große Verantwor-


tung, die wir Kinderärzte in Fällen der Kin-
desmisshandlung stillschweigend tun und
übernehmen, wird nicht erwähnt! Dafür
will man uns zum „Blockwart“ machen!
Diesem Staat mag das gefallen, für eine
freie Gesellschaft ist das der Tod!
Durach (Bayern) Dr. Jörg Franke
JENS KOEHLER / DDP

Ich möchte eine Lanze dafür brechen, dass


Fachkräfte wie Frau Navarro bei ihrer
wichtigen Arbeit nicht aus den Augen ver-
lieren, dass Kindesmissbrauch und -miss-
Trauer um totes Schweriner Kind handlungen nicht nur ein Phänomen der
Nicht nur ein Phänomen der Unterschicht prekären Unterschicht sind, sie kommen
auch in Familien der bürgerlichen Ober-
schicht vor. Und aus eigener leidvoller Er-
Datenschutz vor Kinderschutz? fahrung wünsche ich diesen Kindern, dass
Nr. 51/2007, Kinderschutz: Das Versagen der Ärzte
wertvolle Fachkräfte sie nicht vergessen,
nur, weil ihre Eltern so aussehen, dass
In vielen Städten und Landkreisen entste- man ihnen „so etwas“ einfach nicht zu-
hen zurzeit Netzwerke zur Früherkennung trauen würde.
von Kindswohlgefährdung. An diesen Berlin M. Brauner
Netzwerken beteiligen sich Frauenärzte,
Hebammen, Behörden und Kinderärzte.
Sie haben Leitlinien zum abgestimmten Mehr Papierkram als ein Unternehmer
Vorgehen bei Verdacht auf Kindesmiss- Nr. 50/2007, Familien: Warum
handlung unter Berücksichtigung der ak- überforderte Mütter ihre Kinder töten
tuellen Fachliteratur. Wie alle anderen Be-
teiligten stellen sich die Kinderärzte jeden Als alleinerziehende Mutter von drei Kin-
Tag der Realität in den Familien, die oft dern kann ich einiges verstehen – nicht
grau ist, aber eben nicht schwarz oder gleichzusetzen mit entschuldigen. Wer
weiß. Sie vollführen dabei täglich den Spa- alleinerziehend seinen Pflichten nach-
gat zwischen der Verantwortung für das kommt und in der Arge sowie beim Ju-
Kind und der Gefahr des Kontaktverlustes gendamt seine Anträge einreicht, hat mehr
zu den Familien – und Kinderärzte bringen Papierkram als manch Unternehmer. Mit
Fälle zur Anzeige, allein hier in Gelsen- ein oder zwei kleinen Kindern stunden-
kirchen etwa zwei- bis dreimal pro Monat. lang auf kargen Gängen in Ämtern zu war-
Gelsenkirchen Dr. Gerrit Lautner ten, bis man drankommt, ist psychischer
Dr. Christof Rupieper Stress. Beim Warten auf die Bescheide,
zum Beispiel für den Kindergarten, muss
Ein wichtiger Beitrag zum hochsensiblen man hier in Bayern teilweise monatelang
Thema Kinderschutz, aber etwas tenden- die Gebühren auslegen, bis das Jugendamt
ziös. Wichtig bleibt festzuhalten, dass eine die Gelder erstattet. Sicher kann man poli-
Vorsorge gegen Kindesmisshandlung nur tisch noch mehr Termine „verordnen“ –
effektiv mit einem personalisierten und pro- allein, helfen wird das nicht. Die Gesetze
fessionellen Netz vor Ort aller am Kindes- und Diskussionen gehen an den echten
wohl Beteiligten und einer zentralen Daten- Problemen einfach vorbei. Wenn es nicht
erfassung und -auswertung funktioniert. endlich „menschelt“, sehe ich in den Vor-
Homburg (Saarland) Karl Stiller schlägen der Politiker keine wirkliche
Chance für Hilfe in Problemfällen!
Ein wunderbarer, aufrüttelnder Artikel Neumarkt i. d. Opf. (Bayern)
über die Versäumnisse von Kinderärzten Alexandra Lindner
und Jugendämtern – wenn die sich bei der-
artigen Fällen wegen unterlassener Hilfe- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An-
schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
leistung vor Gericht verantworten müss- Die E-Mail-Anschrift lautet: leserbriefe@spiegel.de
ten, würden sie sich sicher mehr für
Vorträge wie dem von Bianca Navarro
interessieren. Die Krönung ist aber der In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befinden
sich Beilagen der Firmen Stiebel-Eltron, Holzminden, Ha-
Ausspruch, Kinderschutz dürfe nicht vor pag-Lloyd, Hamburg, SPIEGEL-Verlag/Abo, Hamburg, so-
Datenschutz gehen – ich fasse es nicht, was wie die Verlegerbeilage SPIEGEL-Verlag/KulturSPIEGEL,
Sven Holst von der Bremer Datenschutz- Hamburg.

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 13
Panorama Deutschland
MANAGERVERGÜTUNGEN

Merkel lehnt Gehaltsgrenzen ab


I n der Großen Koalition bahnt sich eine weitere Auseinan-
dersetzung an: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Wirt-
schaftsminister Michael Glos (CSU) treten bei der Diskussion
ben Korrekturen im Aktienrecht kommen für die SPD dabei
Steuererhöhungen in Betracht. „Es findet eine Diskussion dar-
über statt, ob Boni oder sonstige Sonderleistungen stärker be-
um eine Begrenzung von Managergehältern massiv auf die steuert werden müssen“, sagt der Abgeordnete Christian Lan-
Bremse. Die SPD dagegen arbeitet an konkreten Vorschlä- ge, der dem Arbeitskreis angehört.
gen, wie eine überzogene Bezahlung von Top-
Führungskräften verhindert werden könnte.
Gerade bei Aktiengesellschaften, deren Vorstän-
de die höchsten Gehälter in der deutschen Wirt-
schaft beziehen, erscheine die Einführung einer
Vergütungsobergrenze „nicht sinnvoll und ver-
fassungsrechtlich bedenklich“, schreibt das Bun-
deswirtschaftsministerium in der Antwort auf
eine Anfrage des FDP-Bundestagsabgeordneten
Volker Wissing. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt
beabsichtige die Bundesregierung „weder gesetz-
liche Beschränkungen im Sinne eines bran-
chenspezifischen noch eines universell gültigen
Maximallohnes“. Die Frage, wie viele Manager in
Deutschland überbezahlt sind, lässt das Ministe-
rium unbeantwortet. „Zu der Anzahl eventuell
,überbezahlter‘ Manager liegen der Bundesregie-
rung keine Zahlen vor“, heißt es in dem Schrei-
ben. Dagegen will die SPD Managern an den
Geldbeutel gehen. Spätestens im Frühjahr soll
eine von Parteichef Kurt Beck eingesetzte Ar-
beitsgruppe Vorschläge zur gesetzlichen Rege-
lung von Vorstandsgehältern unterbreiten. Ne-

ACTION PRESS
Merkel, Wirtschaftsführer

KINDERPORNOS U M W E LT

Operation ohne Folgen Rußfilter für jeden Lkw


D ie Ermittlungen im bisher angeblich größten deut-
schen Fall von Kinderpornografie werden für viele
der 12 000 verdächtigten Internet-Nutzer keinerlei Folgen
N ach den umstrittenen Vorschlägen zur Reduzierung des Kohlen-
dioxid-Ausstoßes von Pkw verlangt Brüssel nun auch für Last-
wagen und Busse schärfere Abgasnormen. Die EU-Kommission will
haben. Wie mehrere Staatsanwaltschaften aus Nordrhein- den Ausstoß von Rußpartikeln um 66 Prozent, den von Stickoxiden
Westfalen, dem Schwerpunkt der Fahndung, übereinstim- um 80 Prozent drosseln. Wenn das EU-Parlament und eine Mehrheit
mend mitteilten, habe die von der Staatsanwaltschaft der 27 Mitgliedstaaten dem Vorschlag folgen, können die neuen
Berlin angestoßene Operation „Himmel“ nur wenig zu- Grenzwerte 2013 in Kraft treten. Das, was dann noch aus dem Aus-
tage gefördert, was strafrechtlich relevant wäre. So be- puff kommt, sollen „on board“-Messinstrumente fortlaufend auf-
richtete der Kölner Oberstaatsanwalt Rainer Wolf, dass zeichnen. Verstöße gegen die „Euronorm VI“ wären jederzeit fest-
von den rund 500 Verdachtsfällen, die der Kölner Behör- stellbar. Im Vergleich zur 15 Jahre alten Euro-Schadstoffnorm würde
de aus der Hauptstadt zur Bearbeitung gemeldet wurden, der Stickstoffausstoß damit auf ein Zwanzigstel und der Ruß auf ein
„allenfalls eine Handvoll“ weiterverfolgt würden. Die Sechsunddreißigstel reduziert. Um
anderen Fälle hätten „sofort eingestellt“ werden müssen. diese Werte zu erreichen, müssten, ne-
So seien viele der gemeldeten Nutzer nach den vorlie- ben anderen technischen Veränderun-
genden Erkenntnissen „nur für Sekunden“ und daher gen, alle Diesel-Lkw und -Busse mit
„möglicherweise aus Versehen“ auf die ins Visier gerate- Partikelfiltern ausgerüstet werden. Die
SASCHA BAUMANN / DDP

ne Kinderporno-Seite im Internet geraten, erklärte die Hersteller werden sich gegen diesen
Dortmunder Oberstaatsanwältin Ina Holznagel. Es sei Vorstoß, anders als gegen die Pkw-
fraglich, ob die Zeit überhaupt ausgereicht habe, sich Da- Normen, kaum sperren können: Ihre
teien auf den eigenen Computer zu laden. Die Opera- Exporte in die USA müssen schon
tion „Himmel“ habe einen „irren Verwaltungsaufwand heute ähnliche Vorgaben erfüllen.
für fast gar nichts produziert“, kritisierte ein Strafermitt-
ler aus Westfalen. Autobahnverkehr
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 15
Panorama

S TA S I - A K T E N

Plädoyer für Birthler-Behörde


B undeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich intern für
einen langfristigen Bestand der Birthler-Behörde ausgespro-
chen. Sie setzt sich damit von Forderungen des stellvertreten-
erhebliche Defizite festgestellt. Nur jeder dritte befragte Schüler
wusste, wer die Mauer errichtet hatte. Brandenburger Lehrer ge-
hen dem leidigen Thema DDR offenbar systematisch aus dem
den CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Arnold Vaatz ab, der die Weg – was möglicherweise mit dem Wirken der heutigen Leite-
Stasi-Akten möglichst zügig an das rin der Birthler-Behörde zu tun hat. Als erste Bildungsministerin
Bundesarchiv übergeben lassen will. Brandenburgs hatte Marianne Birthler Anfang der neunziger Jah-
In der Koalition ist umstritten, wann re auf Massenentlassungen von DDR-Lehrern verzichtet und sich
die Birthler-Behörde ihre Eigenstän- lediglich von Stasi-belasteten Pädagogen getrennt.
digkeit verlieren soll: Während einige
für 2014 plädieren, wollen andere die
Behörde erst 2019 auflösen. Merkel
sprach sich nun für eine lange Exis-
tenz der Behörde aus, die aus der
friedlichen Revolution 1989 heraus
entstanden war. Sie verwies auf die
Vorbildfunktion der Institution für
andere Staaten, die sich bei der Auf-
arbeitung ihrer Vergangenheit an dem
deutschen Modell orientierten. Zudem lau-
fen bereits erste Vorbereitungen für den

DAVIDS / KUGLER (L.); LEHNARTZ / SÜDD. VERLAG (R.)


20. Jahrestag der Revolution 2009. Ein Be-
schluss zur Abwicklung der Stasi-Akten-
Behörde wäre laut Einschätzung des Kanz-
leramts das „falsche Zeichen“, zumal jüngs-
te Studien belegen, wie mangelhaft das
Wissen ostdeutscher Schüler zur DDR-Ge-
schichte ist. Eine Studie der Freien Univer-
sität Berlin hatte besonders in Brandenburg

Birthler, Mauerfall

A F G H A N I S TA N gemäßigte Teile der islamistischen Tali-


ban sein. So hatte sich der deutsche Bot- Nachgefragt
Gespräche mit Taliban schafter in Kabul, Hans-Ulrich Seidt, im

gefährdet?
September mit dem ehemaligen Außen-
minister der Taliban, Wakil Ahmad Mu- Trüber Ausblick
tawakil, getroffen. Bei dem Gespräch
Wie wird
D ie Bundesregierung fürchtet, dass
der Rauswurf zweier hoher Vertre-
ter von Uno und EU aus Afghanistan
hatte dieser betont, zwischen den Tali-
ban und der Bundesregierung gebe es
„viele Gemeinsamkeiten“, und die Bun-
sich Ihre
persönliche
indirekt die diplomatischen Bemühun- desregierung um eine „wohlwollende finanzielle
gen um eine Stabilisierung des Landes Begleitung“ von politischen Gesprächen Situation im
gefährden könnte. Die gebeten. Als Geste des gu- kommenden
überraschende Ausweisung ten Willens sei es an der Jahr entwickeln?
vorige Woche sei womög- Zeit, dass die Kabuler Re-
lich Ausdruck einer wach- gierung eine Reihe von Sie wird sich eher ... MÄNNER FRAUEN
senden Konfliktbereitschaft politischen Gefangenen
des afghanischen Präsiden- freilasse. Der Bundesnach- ... verbessern 28 % 37 18
ten Hamid Karsai mit den richtendienst hatte bereits
Regierungen des Westens, im Sommer 2005 sondiert,
heißt es in Berlin; die bei- ob die Taliban kompro- ... verschlechtern 52 % 44 59
den Diplomaten hatten das missbereit seien, die Ge-
SAEED KHAN / DPA

Land wegen angeblicher heimgespräche aber abge-


Kontakte zu lokalen Tali- brochen, weil die Islamis- ... nicht ändern 19 % 18 21
ban verlassen müssen. Op- ten sich nicht von al-Qaida
fer der Konfrontation könn- distanzieren wollten. TNS Infratest für den SPIEGEL; rund 1000 Befragte;
vom 17. und 18. Dezember; an 100 fehlende Prozent:
te ausgerechnet die 2007 „weiß nicht“/keine Angabe
begonnene Annäherung an Mutawakil
16 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Deutschland
K R I M I N A L I TÄT DINNER FOR ONE

„Ungekannte Menschenfeindlichkeit“ Tiger oder Bär


Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) über
den Umgang mit jugendlichen Straftätern D ie Erben von Freddie Frinton, bekannt als Butler James
aus dem NDR-Kultsketch „Dinner for One“, verfügen
über ein kostbares Erbstück. Im Wohnzimmer des älteren
SPIEGEL: Zwei jugendliche Intensivtäter haben in der Sohns Steven im englischen Watford nordwestlich von Lon-
Münchner U-Bahn einen Rentner fast totgeschlagen. don liegt das Präparat des Bengaltigers, über den Vater Frin-
SÜDD. VERLAG

Waren ausgerechnet die gestrengen Bayern zu milde ton innerhalb von 18 Minuten elfmal stolpern oder springen
mit polizeibekannten Tätern? musste. Im besonders traktierten Nackenbereich musste der
Merk: Natürlich nicht. Alle Intensivtäter werden in einer Dinner-Tiger mit einem Stück Leopardenfell nachgebessert
Spezialkartei gespeichert, damit wir sie schnell ermitteln werden. Auch fehlen dem Tournee-erprobten Tierschädel
und bestrafen können. Diese Täter wurden aufgrund der Handy- ein paar Zähne, wie der NDR bei einem Hausbesuch für
Daten schnell gestellt. Straftaten aber passieren überall, man kann eine neue „Dinner for One“-
sie trotz aller Vorkehrungen nicht vollständig verhindern. Dokumentation, die an Silves-
SPIEGEL: Die Union will nun das Jugendstrafrecht verschärfen. ter ausgestrahlt wird, feststell-
Glauben Sie, dass die Anhebung der Höchststrafe von 10 auf te. Freddie Frinton hatte bei
15 Jahre junge Gewalttäter tatsächlich abschreckt? der Aufzeichnung des Einak-
Merk: Ja. Zudem ist es wichtig, dass Täter angemessen bestraft ters 1963 in Hamburg auf der
werden können. Es gibt heute Jugendliche, die gehen mit einer Verwendung seines gut 30
bislang ungekannten kriminellen Energie und Menschenfeind- Zentimeter hohen Tigerschä-
lichkeit vor. Da reichen zehn Jahre nicht – auch nicht, um sie dels bestanden, da seine
wieder auf die richtige Bahn zu bringen. Schritte exakt darauf eingeübt
SPIEGEL: Sind die Jugendgefängnisse auf solche Täter vorbereitet? waren. Er verschmähte ein
Merk: Unsere Jugendgefängnisse leisten schon viel und werden in vom NDR besorgtes Eisbären-
Zukunft noch mehr leisten. Die meisten dieser Jungkriminellen fell mit Schädel, das – verse-
haben keinen Schulabschluss. Sie haben zu Hause weder gelernt, hen mit einem Zettel „Freddie
regelmäßig zu arbeiten, noch wissen sie, wie man sich in einer Frinton: der 90. Geburtstag“ –

WDR
Gemeinschaft benimmt. Viele sind mit Gewalt aufgewachsen. Sie noch bis 1991 in der Requisite
zu sozialisieren ist ein harter Job. Frinton als Butler James des Senders lagerte.

B Ü R O K R AT I E

Feuerwehr lähmt
Bundeswehr
E ine EU-Arbeitszeitrichtlinie bereitet
der Bundeswehr beträchtliche Pro-
bleme. Nach Angaben des Verteidi-
gungsministeriums müssen Militärflug-
plätze zeitweilig gesperrt werden, Sol-
datenausbildung auf Übungsplätzen ist
nur noch „eingeschränkt“ möglich. Der
Grund: Die Feuerwehrleute der Streit-
kräfte, überwiegend zivile Beamte, dür-
fen nur noch 48 statt 50 Stunden die
Woche arbeiten und nicht mehr, wie
bisher üblich, 960 Überstunden im Jahr
ableisten. Die EU-Vorgabe, die seit
März 2006 auch deutsches Recht ist, be-
wirke „zunehmend Einschränkungen
im Flugbetrieb“ und gefährde dadurch
den „geforderten Einsatzstatus“ der
Luftwaffengeschwader. Um „massive
Auswirkungen auf die Einsatzbereit-
schaft zu vermeiden“, erwägt die Bun-
deswehr sogar, zusätzliche Brand-
bekämpfer anzuheuern, obwohl sie ihr
Zivilpersonal eigentlich reduzieren will.
Vor allem für unterirdische Führungs-
und Munitionsbunker der Bundeswehr,
in denen die Feuerwehr rund um die
Uhr präsent sein muss, werden Kräfte
gesucht.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 17
Rückblick 2007
China fühlte sich provoziert. FA L L M A R C O
Der deutsche Botschafter in
Peking wurde einbestellt, der
Menschenrechtsdialog ausge-
Junge, komm bald
setzt, Außenminister Frank-
Walter Steinmeier kurz vor
wieder
einem geplanten Besuch aus-
geladen. Lukrative Geschäfte
wie ein Kooperationsabkom-
ImitmMarco
März flog der Schüler
Weiss aus Uelzen
einem Ferienflieger nach
men der Deutschen Börse mit Antalya, als einer von zwei
der Börse in Shanghai legte Millionen Deutschen, die sich
die Pekinger Führung auf Eis. jedes Jahr an der türkischen
Die SPD witterte ihre Chance, Riviera sonnen. Erst am

CHRISTIAN CHARISIUS / REUTERS


Merkel endlich auch in 15. Dezember kehrte er im
der Außenpolitik zu stellen.
Steinmeier mokierte sich
über die „Schaufensterpoli-
tik“ der Kanzlerin und sagte
an ihre Adresse gerichtet:
„Ich glaube jedenfalls nicht,
Beck, Müntefering dass sich die chinesische Rea-
lität nach dem Applaudimeter
SPD te der Parteitag im Oktober der deutschen Presse richtet.“

GETTY IMAGES
entscheiden. Und wie dort SPD-Chef Kurt Beck ließ wis-
Becks List die Mehrheiten sein würden,
wusste Beck. Zwei Wochen
sen, er kenne China „recht
gut“ und wer China-Politik
Weiss-Unterstützer
D oppelspitzen sind häufig
ein Problem, jedenfalls in
der Politik. Eigentlich weiß
nach dem Parteitag kündigte
der Vizekanzler, dessen Frau
schwer erkrankt ist, seinen
nur mit öffentlichen Mahnun-
gen mache, werde nicht weit
kommen. Merkel blieb un- exklusiv für ihn gecharterten
man das in der SPD seit Willy Rücktritt an. „Es ist aus- gerührt. Ihrem Außenminis- Privatjet zurück, als bekann-
Brandt und Helmut Schmidt. schließlich dieser private ter entgegnete sie kühl: „Als tester Jugendlicher Deutsch-
Auch Gerhard Schröder und Grund“, sagte er. Bundeskanzlerin entscheide lands. Dazwischen lagen 247
Oskar Lafontaine endeten Politik ist nie gerecht. Lange ich selbst, wen ich empfan- Tage Untersuchungshaft im
nicht als Traumpaar. Kurt hieß es von Franz Müntefe- ge.“ Und zur chinesischen Gefängnis von Antalya, weil
Beck und Franz Müntefering ring, keiner kenne die SPD so Reaktion sagte sie nur: „Habe Weiss, 17, auf einem Hotel-
ahnten früh, was auf sie zu- gut wie er. Ausgerechnet in ich mich jemals in die Frage zimmer versucht haben soll,
kam. Nachdem Beck im Mai Kurt Beck fand er seinen eingemischt, wen China ein- die 13-jährige Engländerin
2006 Parteichef geworden Meister. Umgekehrt weiß lädt?“ Die Deutschen hatte Charlotte M. zu vergewalti-
war, hielt Müntefering ein Beck genau: Sollte er wirklich sie dabei auf ihrer Seite. Über gen. Einen zwingenden Be-
paar Monate lang die Luft an. bundespolitischen Erfolg ha- 80 Prozent der Bundesbürger weis für den Vorwurf gab es
Dann konnte er nicht mehr. ben, hat er es keinem mehr halten es einer Umfrage für nie, nur die Behauptung des
Es war im Herbst 2006, Beck zu verdanken als dem den SPIEGEL zufolge für Mädchens und die Tatsache,
redete über die Unterschicht, trickreichen Ex-Vizekanzler. richtig, dass Merkel den Dalai dass es zu einem vorzeitigen
Müntefering hielt dagegen: Denn nirgendwo verhedderte Lama empfangen hat. Samenerguss gekommen war,
„Wir sind keine Schichtenpar- sich die Union hilfloser als dem Jungen zufolge bei ein-
tei, wir sind eine Volkspar- beim Thema Mindestlohn. vernehmlichen Zärtlichkei-
tei.“ Er düpierte Beck bei der Das jedoch war nicht Becks ten. Der Fall entwickelte sich
traditionsreichen „Spargel- Verdienst – die Fallstricke zu einem türkisch-britisch-
fahrt“ des Seeheimer Kreises hatte Müntefering ausgelegt. deutschen Justizdrama, mit
im Mai 2007, dann, im Spät- einem äußerst schwerfälligen
sommer, nahm es kein Ende KANZLERIN türkischen Gericht, mit einem
mehr mit dem Sticheln und angeblichen Opfer in Eng-
Piesacken. Der Vizekanzler
wurde zu Becks unbequems-
Teurer Tibeter land, das sich von den Anwäl-
ten des Beschuldigten nicht
tem Kritiker.
Wochenlang hielt der Partei-
chef still, dann schlug er
F ür Angela Merkel war
2007 außenpolitisch ein
rundum erfreuliches Jahr –
befragen lassen wollte, und
mit einer aufgeputschten
deutschen Öffentlichkeit, er-
zurück, kühl und konsequent. bis zum 23. September. Da regt bis in die Spitzen der
Er hatte sich ein besonderes empfing sie im Kanzleramt Politik. Selbst der EU-Beitritt
Thema ausgesucht – die Ver- einen freundlichen älteren der Türkei wurde mit dem
SEAN GALLUP / ACTION PRESS

längerung des Arbeitslosen- Herrn. Es war das erste Mal, Ausgang des Verfahrens in
gelds I für Ältere. Er hatte in dass ein Bundeskanzler den Antalya verknüpft. Das Ende
die Partei hineingehört und Dalai Lama, das geistliche der Haft kam überraschend,
diskret den Rückhalt organi- Oberhaupt der Tibeter, in die der Prozess hingegen, so
siert. Müntefering wider- Regierungszentrale einlud. zeichnet sich ab, wird noch
sprach, Beck blieb stur. Das Die Folgen waren gewaltig, Monate dauern. Diese Zeit
Listige daran: Im Zweifel soll- nach innen wie nach außen. Dalai Lama, Merkel wollte das Gericht Marco
18 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Deutschland
Weiss dann doch nicht mehr ben soll. Der Prozess gegen und Günter Sonnenberg wa-
im Gefängnis zumuten – die jungen Männer wird wohl ren als Mordkommando er-
nach einer skandalös langen nicht vor Mitte 2008 begin- mittelt worden – es spricht je-
U-Haft eine rechtsstaatliche nen. Einen Vorgeschmack lie- doch viel dafür, dass Folkerts
Entscheidung. ferte Adem Y. Ende Oktober sich am Tattag in Amsterdam
bei einer Vernehmung durch aufhielt. Für Aufsehen sorgte

RONALD WITTEK / DPA


TERRORISMUS zwei Polizeibeamte: Das ein weiteres Detail der Re-
deutsche Recht habe für ihn cherche: Die Sicherheits-
Drei große Ziele keine Bedeutung, erklärte der
Türke, für ihn gelte nur der
behörden hatten jahrzehnte-
lang geheim gehalten, dass
Gelowicz (l.)
D ie Gruppe brauche „drei
große Ziele“, sagte Fritz
Gelowicz Anfang September konstatierte der amerikani-
Koran. Und wer ihn aufhalten
wolle, müsse ihn schon töten.
sich die in den achtziger Jah-
ren in Köln-Ossendorf ein-
sitzende RAF-Frau Verena
bei einer Autofahrt, einen sche Heimatschutzminister RAF Becker dem Verfassungs-
Flughafen zum Beispiel, da Michael Chertoff, sei „Teil schutz anvertraute – und
„packen wir irgendwo eine
Bombe hin“. Die Idee schei-
des Schlachtfelds“ geworden.
Mehr als 700 Kilo Wasser-
Suche nach dem Stefan Wisniewski als Todes-
schützen bezichtigte. Der
terte, denn am 4. September,
kurz nach jener Fahrt, bei der
stoffperoxidlösung hatte das
Trio gehortet, durch Erhitzen
Buback-Mörder frühere RAF-Kader Peter-Jür-
gen Boock stützte in einem
die Polizei mittels einer im
Wagen versteckten Wanze
mithörte, nahmen Sonderein-
sollte daraus Sprengstoff wer-
den. Alle drei ließen sich laut
Ermittlern in Pakistan ausbil-
E ine SPIEGEL-Enthüllung
brachte die deutschen Si-
cherheitsbehörden im April
SPIEGEL-Gespräch ihre Ver-
sion. Drei Jahrzehnte nach
dem Mord begann die Bun-
heiten Gelowicz und seine den, in einem Lager einer in Bedrängnis: Der Mord der desanwaltschaft daraufhin mit
beiden Komplizen Daniel S. Truppe namens „Islamische Roten Armee Fraktion (RAF) neuen Ermittlungen. Sie will
und Adem Y. im Sauerland Dschihad Union“, die sich im an Generalbundesanwalt die früheren RAF-Terroristen
fest. Hätte geklappt, was September zu den misslunge- Siegfried Buback am 7. April Klar, Brigitte Mohnhaupt,
die drei Islamisten geplant nen Plänen bekannte. Anfang 1977 in Karlsruhe kann sich Folkerts und Sonnenberg, die
hatten, wäre es wohl der November nahmen Fahnder nicht so zugetragen haben, weiterhin zu allen Tatabläu-
schlimmste Anschlag in der in der Türkei Attila Selek fest, wie die Gerichte einst fest- fen schweigen, durch die
deutschen Nachkriegsge- einen Freund von Gelowicz, stellten. Die RAF-Mitglieder Androhung von Beugehaft
schichte geworden. „Europa“, der das Trio unterstützt ha- Knut Folkerts, Christian Klar zur Aussage zwingen.
HANS-CHRISTIAN PLAMBECK
Kanzlerin Merkel, CDU-Länderchefs Koch, Wulff, Beust: „Wenn Koch verliert, ist alles drin“

WA H L E N

Schwenk nach links


In den nächsten Wochen wird bei Wahlen in drei Bundesländern auch über Kurt Becks
SPD-Politik einer „sozialen Balance“ und den Mindestlohn abgestimmt:
Nach einer SPIEGEL-Umfrage müssen zwei CDU-Landeschefs um ihr Regierungsamt bangen.

E
nde dieser Woche wird Hilfe aus terpräsident Koch zittern, ob er wenigstens ben kann. Es geht um neue Koalitionen
Berlin kommen. Und dass sie drin- sein Amt in Hessen behalten darf. und Konstellationen und um die Frage, ob
gend gebraucht wird, das muss Ro- Und nicht nur dort wird am 27. Januar die politischen Koordinaten der Republik
land Koch wurmen: Angela Merkel hat sich gewählt. Im Nachbarland Niedersachsen bis zur Bundestagswahl 2009 weiter nach
für Freitagabend angekündigt, um den stellt sich am selben Tag mit Christian links verschoben werden – oder ob The-
hessischen CDU-Funktionären im Wies- Wulff ein weiterer Merkel-Rivale zur men wie Mindestlohn und soziale Gerech-
badener Kurhaus gut drei Wochen vor der Wahl. Und bereits vier Wochen später, am tigkeit nur Eintagsfliegen sind.
Landtagswahl Mut zu machen. 24. Februar, stimmen die Hamburger über Nach einer Umfrage des Düsseldor-
Sie hätte diesmal allen Grund, von einer eine neue Bürgerschaft ab. fer Instituts Advanced Market Research
Richtungswahl zu sprechen oder davon, In allen drei Wahlen geht es um weitaus (AMR) im Auftrag des SPIEGEL zeichnet
wie wichtig es sei, hart zu kämpfen, ge- mehr als um Landespolitik: Es geht um die sich in den drei Bundesländern ein ge-
rade jetzt. Vielleicht wird die CDU-Chefin Kräfteverhältnisse in der Großen Koalition meinsamer Trend ab: Die CDU muss sich
aber auch ein wenig Genugtuung empfin- und in den beiden großen Parteien, es geht auf zum Teil erhebliche Stimmenverluste
den, dass ihre Unterstützung jetzt von je- um Macht und Spielräume für Angela einrichten. Neben Koch, der um fast neun
nem Mann gebraucht wird, der im partei- Merkel und SPD-Chef Kurt Beck. Es geht Prozentpunkte abzurutschen droht, hat
internen Konkurrenzkampf einst vor Kraft darum, ob es der Partei Die Linke gelingt, auch Hamburgs Erster Bürgermeister Ole
kaum laufen konnte und ihr den Job im auch in Westdeutschland eine feste politi- von Beust (CDU) Grund, über seine poli-
Kanzleramt streitig machen wollte. Heute, sche Größe zu werden, ob sie so das Par- tische Zukunft nachzudenken – er büßt
das zeigen Umfragen, muss CDU-Minis- teienspektrum auf Jahre hinaus verschie- laut Umfrage rund fünf Prozentpunkte ein.
20 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Deutschland

Nur der niedersächsische Amtsinhaber zur Denkzettelwahl gegen die damalige rot-
Christian Wulff sitzt trotz zu erwartender grüne Bundesregierung stilisiert. Diesmal
CDU-Verluste von gut vier Punkten mit aber stellt seine eigene Partei die Kanzlerin,
Hilfe der FDP noch fest im Sattel. Koch muss also stärker auf landespolitische
In Hessen und Hamburg dagegen Themen ausweichen.
scheint die absolute Mehrheit, mit der die Doch gerade da sieht es nicht gut für
Christdemokraten in beiden Ländern mo- ihn aus. Zwar kann er im persönlichen
mentan regieren, laut Umfrage verloren. Umfragevergleich mit seiner SPD-Heraus-
Für Koch reicht es bei der Sonntagsfrage forderin Andrea Ypsilanti in den meisten
nicht mal mehr mit der FDP zu einer Re- Fragen punkten (siehe Grafik), aber seine
gierungsmehrheit – SPD, Grüne und Linke Politik kommt eher schlecht an. Mehr als
wären gemeinsam genauso stark. In Ham- die Hälfte der hessischen Wähler (55 Pro-
burg droht den Liberalen ein erneutes zent), so die Demoskopen, seien mit der
Scheitern an der Fünfprozenthürde. Arbeit der Koch-Regierung „weniger“ oder
Dafür könnte die neue Kraft links von „gar nicht“ zufrieden. Die Arbeitslosen-

SVEN KAESTNER / AP
der SPD die politischen Verhältnisse in zahlen sind höher als beispielsweise im
beiden Parlamenten umkrempeln und un- Beck-Land Rheinland-Pfalz nebenan, zu-
gewohnte Koalitionen erzwingen: Die Lin- gleich macht Hessen mehr Schulden als
ke hat trotz ihres teilweise obskuren Per- die meisten anderen Länder.
sonals derzeit tatsächlich Chancen, ihren Besonders alarmierend: In der Schul- Linke-Spitzenkräfte Gysi, Lafontaine
Bremer Wahlerfolg vom vergangenen Mai und Bildungspolitik, einem landespoli- „Er würde die Lust verlieren“
in Hamburg und Wiesbaden zu bestätigen. tischen Kernthema, trauen mehr Wähler
Spannend wird es vor allem in Hessen. (34 Prozent) der SPD gute Arbeit zu als der tagswahlkampf. Geschickt hat SPD-Frak-
Zweimal hat Koch dort die Landtagswahlen amtierenden Koch-Truppe (27 Prozent). tionschef Peter Struck in Berlin die Januar-
mit bundespolitischen Themen gewonnen, Zum ersten Mal droht Koch zudem bun- Wahlen zu einer „Volksabstimmung über
beide Male hatte er den Landesentscheid despolitischer Gegenwind in einem Land- den Mindestlohn“ hochgejazzt. Ab Mitt-
woch dieser Woche will Hessens
L A N D TA G S W A H L H E S S E N B Ü R G E R S C H A F T S W A H L H A M B U R G SPD-Chefin Ypsilanti auf den Markt-
Wahlergebnis Wahlergebnis plätzen des Landes Unterschriften
Februar 2003 Februar 2004 für die populäre Forderung sammeln
– und Koch als den großen Ver-
48,8 Dezember-
47,2 Dezember- hinderer dieser sozialen Wohltat
Umfrage Umfrage geißeln.
Sonntagsfrage 42 ... wenn am kom-
Die CDU-Führung steht dem
Coup ratlos gegenüber. Denn die
40 „Welche Partei würden menden Sonntag SPD-Forderung, die bei den Post-
Sie wählen, ... 30,5 Bürgerschaftswahl zustellern durchgedrückte Mindest-
29,1 33
... wenn am kommen- 33 wäre?“ entlohnung für Beschäftigte in ähn-
den Sonntag Landtags- Advanced Market Research (AMR) für
licher Form auch auf andere Bran-
den SPIEGEL; 1000 Befragte in Hessen/
wahl wäre?“ in Hamburg; Angaben in Prozent; an chen auszuweiten, findet weit bis
100 fehlende Prozent: Sonstige
in die CDU-Anhängerschaft hinein
12,3
10,1 Zustimmung. Selbst der Wahlkämp-
7,9 12 fer Wulff lässt plötzlich Sympathien
9 10 dafür erkennen: Die Deutschen
6 2,8 7
– 4 – könnten doch nicht ignorieren, dass
CDU SPD FDP Grüne Linke CDU SPD FDP GAL Linke 22 von 27 europäischen Ländern be-
reits einen Mindestlohn hätten.
„Wenn Sie Ministerpräsident Roland „Wenn Sie den Ersten Bürgermeister Koch dagegen gibt weiter den
Koch (CDU) und seine Herausforderin Ole von Beust (CDU) und seinen Her- Hardliner: „Der Staat darf nicht die
Andrea Ypsilanti (SPD) vergleichen: ausforderer Michael Naumann (SPD) Höhe von Löhnen festlegen, denn
Wer von beiden ...?“ vergleichen: Wer von beiden ...?“ davon versteht er nichts“, ließ der
von Hesse vergangene Woche verbrei-
Ypsilanti Koch gibt in der Öffentlichkeit Naumann Beust ten. Sein Aufruf zur „Gelassenheit“
30 53 eine bessere Figur ab 27 60 angesichts der SPD-Aktion darf je-
ist die stärkere doch als Zeichen wachsender Ner-
21 63 Führungspersönlichkeit 29 46 vosität gewertet werden.
passt eher passt eher Immerhin hat gerade die Hessen-
32 46 zu Hessen zu Hamburg 23 48 CDU unter Kochs Führung ein-
schlägige Erfahrungen mit Unter-
34 46 ist sympathischer 32 45 schriftenaktionen im Wahlkampf:
versteht mehr Vor seinem ersten Wahlsieg 1999
17 53 von Wirtschaft 23 42 schickte Koch seine Leute mit Listen
setzt sich eher für los, auf denen die Wähler gegen die
31 36 neue Arbeitsplätze ein 29 33 doppelte Staatsbürgerschaft unter-
An 100 fehlende schreiben sollten – und prägte auch
32 40 ist glaubwürdiger 29 31 Prozent: „keiner
dadurch sein Image des skrupel-
von beiden“
setzt sich stärker für losen Machtmenschen, der auf dem
37 39 soziale Gerechtigkeit ein 26 38 Rücken von Ausländern Stimmung
macht, wenn es dem eigenen Fort-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 21
Deutschland

ARNE DEDERT / DPA


Koch-Herausforderin Ypsilanti: Unterschriften für den Mindestlohn Hamburg-Kandidat Naumann: Haufenweise teure

kommen dient. Auch jetzt spielt Koch wie- er abschaffen, das letzte Kindergartenjahr Genossen nach Jahren der Entschuldigun-
der mit dem alten Rezept: „Wir haben zu umsonst anbieten. Kürzlich kam der be- gen für die Härten der Agenda-Politik end-
viele kriminelle junge Ausländer“, polter- urlaubte „Zeit“-Herausgeber auf die Idee, lich wieder die CDU attackieren können.
te er vergangene Woche via „Bild“ – seine den bereits laufenden Bau einer U-Bahn- Die Unterschriftenkampagne zum Min-
Reaktion auf einen türkischen und einen Linie zu stoppen und die Mittel dafür in so- destlohn wird vom Willy-Brandt-Haus in
griechischen Schläger, die in München ziale Projekte umzuschichten. allen drei Wahl-Bundesländern unterstützt,
einen Rentner zusammengetreten hatten. Amtsinhaber Beust gefällt sich unter- um den eigenen Anhängern ein identitäts-
Nur: Dass junge Ausländer häufiger dessen in der Rolle des präsidialen Über- stiftendes Thema zu liefern.
gewalttätig sind als junge Deutsche, be- vaters, der über den Problemen der Stadt Sollte es den Sozialdemokraten dadurch
streitet kaum jemand. Zum Wahlkampf- schwebt: bürgerlich, hanseatisch, liberal. gelingen, auch nur einen der drei Unions-
Hit taugt so etwas kaum – ebenso wenig Zudem profiliert er sich als Klimapolitiker. länderchefs aus dem Sattel zu heben, hät-
wie Kochs Forderung nach einem Burka- Mit beiden Strategien könnte sich der te Beck seinen innerparteilichen Führungs-
Verbot an hessischen Schulen. Der lusti- CDU-Mann den Machterhalt sichern, ohne anspruch untermauert. Seine Kanzlerkan-
ge Vorstoß ging ins Leere, nachdem nicht in eine Große Koalition gehen zu müssen. didatur, offiziell noch nicht erklärt, wäre
einmal Kochs Kultusministerium eine ein- Denn in der Hansestadt mehren sich die wohl nur Formsache.
zige Schülerin mit Vollschleier auftreiben Zeichen einer schwarz-grünen Annähe- Die Unionsstrategen rätseln derweil, wie
konnte. rung. So hat der Grünen-Parteitag in Ham- sie verhindern können, dass die SPD sie
Hilfsweise beschwor Koch in den ver- burg zwar eine Koalition mit der Linken mit dem Mindestlohn nun Branche für
gangenen Monaten in fast jeder Rede die ausgeschlossen – nicht aber mit der CDU. Branche vor sich hertreibt. Zwar hat Mer-
Gefahr, dass „die Altkommunisten“ der Und auch der liberale Beust könnte sich kel mehrfach erklärt, sie wolle keinen ge-
Linken ins Parlament einziehen und mit wohl mit dem Gedanken anfreunden, als setzlichen Einheitsmindestlohn. Aber das
SPD und Grünen ein wirtschaftsfeindliches erster Unionsmann ein schwarz-grünes ist keine Position für die Ewigkeit. Falls
„Linksbündnis“ bilden könnten. Auch dies Bündnis auf Landesebene zu schmieden. Roland Koch trotz der Kampagne der SPD
eine Strategie mit zweifelhafter Wirkung: In Berlin wird der Ausgang der drei als Ministerpräsident bestätigt wird, will
„Damit hat Koch uns erst richtig bekannt Landtagswahlen mit größter Aufmerksam- Merkel dem Koalitionspartner keine weit-
gemacht“, glaubt Willi van Ooyen, Spit- keit verfolgt. Vor allem der Urnengang in reichenden Zugeständnisse mehr machen.
zenkandidat der Linken in Hessen. Und Hessen gilt im Kanzleramt als Probelauf Ein Koch-Sieg wäre ein Beleg dafür, dass
ohne den Einzug der Linksaußenpartei für die Bundestagswahl 2009. Und für auch wirtschaftsfreundliche Positionen im
wären nach den Umfragen gar keine Kon- SPD-Chef Kurt Beck ist der 27. Januar der Wahlkampf eine Chance haben.
stellationen denkbar, in denen die Koch- erste ernstzunehmende Test nach fast 20 Verliert Koch aber, wackelt das strikte
Herausforderin Ypsilanti eine Chance auf Monaten an der Parteispitze. Nein der Union zum gesetzlichen Min-
den Ministerpräsidentenjob hätte. Für ihn geht es um die Frage, ob sich der destlohn. Eine Herzensangelegenheit ist
Auch der Hamburger SPD-Kandidat Kurswechsel zu einer Politik der „sozialen diese Frage für Merkel ohnehin nicht.
Michael Naumann profitiert den Umfra- Balance“, wie er sie nennt, auch bezahlt „Wenn Koch verliert, ist alles drin“, sagt
gen zufolge nicht von eigener Stärke – nur macht. Und ob sich das verkündete „Ende ein CDU-Spitzenmann. Rückt die SPD
ein Achtungserfolg der Linken macht eine der Zumutungen“ – die Wiederannähe- dann, bestärkt etwa von einem Wahlerfolg
Mehrheit links von der Union rechnerisch rung an die Gewerkschaften, die Verlän- der Parteilinken Ypsilanti, noch weiter
möglich. Die einst mächtige SPD hingegen gerung des Arbeitslosengeldes und der nach links, würde Merkel ihr wohl aus tak-
dümpelt in der Hansestadt seit der Wahl Post-Mindestlohn – in Wahlergebnissen tischen Gründen auf diesem Weg folgen.
2004 bei etwas über 30 Prozent – obwohl niederschlägt. Ein Profiteur dieses Szenarios könnte in
Naumann haufenweise teure Wahlge- Einstweilen herrscht im SPD-Lager Hannover sitzen: Die AMR-Umfrage für
schenke verspricht. Studiengebühren will schon deshalb gute Stimmung, weil die den SPIEGEL weist Christian Wulff derzeit
22 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
MARCO-URBAN.DE (M.); HANS-CHRISTIAN PLAMBECK / LAIF (R.)

Wahlgeschenke SPD-Politiker Beck, Jüttner: Erster ernstzunehmender Test

als Sieger im CDU-internen Fernduell mit LANDTAGSWAHL NIEDERSACHSEN Hoffnungen auf Hessen und Ham-
Koch um die Position hinter Merkel aus. burg. Für Lafontaine steht dabei
Wahlergebnis
Dabei hat auch der Niedersachse beim Februar 2003 viel auf dem Spiel – vor allem,
Regieren keineswegs immer eine gute Fi- Dezember- ob er auch noch 2008 die politi-
gur gemacht. Beim Rauchverbot etwa 48,3 Umfrage sche Agenda mitbestimmen kann.
kämpfte Wulff zuerst an der Seite der Wir- Im vergangenen Jahr hat er alle
te gegen strenge Vorschriften – um an-
schließend überraschend die Fronten zu
44 Sonntagsfrage vor sich hergetrieben, die SPD
zum Abschied von Gerhard Schrö-
„Welche Partei würden
wechseln. Doch im Unterschied zu Koch, ders Agenda-Politik gezwungen
33,4 Sie wählen, wenn am
der nach wie vor unter schlechten Sym- 34 und wohl auch dazu beigetragen,
kommenden Sonntag
pathiewerten leidet, polarisiert Wulff nur dass die Union sich aus Furcht
Landtagswahl wäre?“
wenig. Er ist im Land beliebt, zeigt sich vor Stimmenverlusten von radi-
gern lächelnd in Talkrunden – und kommt Advanced Market Research (AMR) für kalen Wirtschaftsreformen verab-
den SPIEGEL; 1000 Befragte in Nieder-
mitsamt seiner neuen Freundin beim Pu- sachsen; Angaben in Prozent; an 100 schiedete.
blikum besser an als der biedere Hesse. fehlende Prozent: Sonstige Bei den Landtagswahlen wird
Bei der Sonntagsfrage reicht es nach 8,1 7,6 sich nun aber zeigen, welche
Einschätzung der Meinungsforscher der- 8 Durchschlagskraft Lafontaine wirk-
zeit für eine Fortsetzung der niedersäch- 7 lich hat: Scheitern seine Linken bei
0,5 4
sischen CDU/FDP-Koalition. Für Wulff ist den Landtagswahlen, drohen dem
das die Chance, doch noch ganz nach oben CDU SPD FDP Grüne Linke Saarländer Hohn und Spott – auch
zu kommen: Fiele Koch nach einer Wahl- aus den eigenen Reihen, wo er
„Wenn Sie Ministerpräsident Christian
schlappe in Hessen zurück, könnte Wulff mehr gefürchtet als geliebt wird.
sich langfristig als Alternative andienen.
Wulf f (CDU) und seinen Herausforderer Selbst im engsten Führungskreis
Dafür zeigt er sich – etwa mit seinem
Wolfgang Jüttner (SPD) vergleichen: der Linken wird über einen schlei-
Ja zum Mindestlohn – derart geschmeidig,
Wer von beiden ...?“ chenden Rückzug Lafontaines spe-
dass sein SPD-Herausforderer Wolfgang gibt in der Öffentlichkeit Jüttner Wulff kuliert, sollte die Westausdehnung
Jüttner schon klagte, der CDU-Mann ko- eine bessere Figur ab 14 68 scheitern. „Er würde die Lust ver-
piere einfach die sozialdemokratischen ist die stärkere lieren“, glaubt ein ostdeutscher
Thesen. Dabei muss Wulff, anders als Koch Führungspersönlichkeit 17 49 Spitzenmann der Partei.
und Beust, laut Umfragen bisher nicht passt eher zu Ziehen die Genossen dagegen
einmal den Einzug der Linken in den Niedersachsen 26 45 bei den anstehenden Wahlen in
Landtag fürchten. Bei vier Prozent sehen weitere Westparlamente ein, hätte
die Meinungsforscher die Partei von Oskar ist sympathischer 24 49 Lafontaine tatsächlich die politische
Lafontaine und Gregor Gysi derzeit in Nie- versteht mehr Landkarte in Deutschland verän-
dersachsen. Der Partei fehlt dort akzepta- von Wirtschaft 19 46 dert. Dann wäre aus der alten ost-
bles Personal ebenso wie ein großstädti- setzt sich eher für deutschen PDS eine gesamtdeut-
sches Milieu, in dem sich Wähler finden neue Arbeitsplätze ein 28 41 sche Linke geworden. Und eine
ließen. Im konservativen Emsland etwa ge- An 100 fehlende dauerhafte Herausforderung für die
lang es den Genossen nur mit Mühe, über- ist glaubwürdiger 28 37 Prozent: „keiner SPD. Matthias Bartsch,
von beiden“
haupt Kreisverbände zu gründen. setzt sich stärker für
Stefan Berg, Michael Fröhlingsdorf,
31 34 Per Hinrichs, Horand Knaup,
So richtet die Linken-Führung um Os- soziale Gerechtigkeit ein Ralf Neukirch
kar Lafontaine und Gregor Gysi ihre
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 23
Deutschland

nach einmal klar dokumentieren, was sie


unter christlichem Menschenbild versteht.
PA R T E I E N
Stattdessen zeigt der Streit um die
Stammzellen nun, wie weit sich die Kirche

„Schwindel mit dem C“ und die CDU in wichtigen Fragen von-


einander entfernt haben. Dass führende
Bischöfe ausgerechnet die prominenteste
Katholikin der Union attackieren, Minis-
Krise einer Langzeitbeziehung: Der Streit um die Stammzell- terin Schavan, ist ungewöhnlich.
forschung zeigt, wie weit sich Union und katholische Kirche Die Intensität der Debatte zeigt aber
voneinander entfernt haben. Die Kirche sucht neue Verbündete. auch, wie wichtig die Union für die Kirche

E
s kränkt sie, es schmerzt sie. Annet-
te Schavan sitzt im Restaurant des
Reichstags und zerteilt den Leber-
knödel vor sich auf dem Teller mit einer
Wucht, als machte sie ihn für den Ärger
verantwortlich. Den Ärger mit den Her-
ren von der katholischen Kirche, die ein-
fach nicht sehen wollten, welch segensrei-
che Rolle die Union spiele.
Die zurückliegenden Tage waren für
Schavan nicht einfach, sie ist ja nicht nur
Bundesforschungsministerin, sondern auch
Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen
Katholiken und im Katholischen Deut-
schen Frauenbund. Und ausgerechnet die-
se katholische Kirche legt sich jetzt so mas-
siv mit ihr an.
Zum Streitfall ist die embryonale Stamm-
zellforschung geworden, eines der heikels-
ten Felder der modernen Wissenschaft. Bis
jetzt dürfen nur Zelllinien aus Embryonen
nach Deutschland importiert werden, die
vor dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden.
Schavan will nun den Stichtag verschieben,
auf Drängen der Wissenschaft.
Eine einmalige Verschiebung des Stich-
tags, erklärte daraufhin Bischof Wolfgang
Huber für die evangelische Kirche, kön-
ne „für hochrangige Forschungszwecke“
durchaus in Kauf genommen werden. Das
sehen katholische Würdenträger ganz an-
ders. Denen geht es um Grundsätzliches.
Sie stellen die Frage, ob Embryonen
den Interessen Dritter geopfert werden
dürfen. Für jede der weltweit über 500
BPA E.V. / ACTION PRESS

Stammzelllinien, mit denen die Medizin


der Zukunft entwickelt werden könnte,
wurden gleich mehrere menschliche Em-
bryonen zerstört. Getötet, sagen jene Kir-
chenmänner, denen schon die befruchtete
Eizelle als vollwertiges menschliches We- Papst-Besucherin Merkel*: Tochter eines evangelischen Pfarrers
sen gilt.
Auf dem CDU-Parteitag Anfang De- Damit traf Cordes die CDU an einem nach wie vor ist. Als das Präsidium der
zember in Hannover hatte Schavan dafür wunden Punkt. Denn Merkels Union muss Sozialdemokraten im November die glei-
plädiert, den Forschern ein Stück entge- in der Großen Koalition ja nicht nur um che Position wie die CDU beschloss,
genzukommen. Kanzlerin Angela Merkel ihre Wirtschaftskompetenz bangen. Auch schwiegen die Bischöfe. Die SPD kann fest-
unterstützte ihre Ministerin. Am Ende be- die Konservativen fühlen sich an den Rand legen, was sozialdemokratische Inhalte
kamen sie eine knappe Mehrheit. gedrängt. Unter Merkel ist die Partei, so sind, wie die FDP ihrerseits zu bestimmen
Dass die katholische Kirche den Be- fürchten ihre Kritiker, auf dem Weg zur versucht, was liberal bedeuten soll. Auch
schluss kritisieren würde, war zu erwar- Demokratischen Union. Ohne C. Grüne und Linke setzen auf ihre jeweilige
ten. Aber die Heftigkeit der Reaktion war Dabei sollte die christliche Tradition in Deutungshoheit. Aber was christlich ist,
überraschend. Der Kölner Erzbischof Kar- der momentanen Identitätskrise eigentlich definiert nicht die Christlich Demokrati-
dinal Joachim Meisner nannte Schavans ein Anker sein, das wichtigste sinnstiftende sche Union – „das machen wir“, verkündet
Verhalten „unwahrhaftig“ und „prinzi- Element. Deshalb sind konservative Unions- Kardinal Meisner.
pienlos“. Der deutsche Kurienkardinal politiker wie Fraktionschef Volker Kauder
Paul Josef Cordes sagte, ihre Partei betrei- gegen einen neuen Stichtag für die Stamm- * Mit Benedikt XVI. in dessen Sommersitz Castel Gandol-
be „Etikettenschwindel mit dem C“. zellen: Hier kann die CDU seiner Meinung fo im August 2006.

24 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Konflikte zwischen CDU und Kirche frauenehe als Ideal. Dann kam Ursula von che verbunden, hat ihre Kontakte zum
gab es schon in der Asylpolitik oder beim der Leyen. Katholizismus in den vergangenen 18 Mo-
Abtreibungsrecht. Dennoch bestand kein Die Familienministerin malt seit zwei Jah- naten spürbar intensiviert. Der Europa-
Zweifel an der privilegierten Partnerschaft, ren an einem neuen Frauen- und Familien- politiker und Klosterschüler Martin Schulz
da beide Seiten davon profitieren. Die Kir- bild ihrer Partei. Sie will mit Milliardenbe- mahnte jüngst im Parteipräsidium, man
che, weil sie eine Partei hatte, die meist trägen den Krippenausbau fördern, damit müsse sich intensiver mit der frischen
ihre Interessen vertrat. Die CDU, weil sie Mütter früher in ihren Beruf zurückkönnen. Bertelsmann-Erhebung befassen. Dort
im katholischen Milieu ihre treuesten An- Die Reaktion der konservativen Bischöfe steht, dass Religion und Glauben für die
hänger fand. Das hat sich geändert. war heftig. Von der Leyen wolle Mütter zu Deutschen eine wichtigere Rolle als an-
Der Wandel der Union belastet das Ver- „Gebärmaschinen“ degradieren, schimpfte genommen spielten, auch für junge Er-
hältnis zu den Katholiken weit mehr als der Augsburger Bischof Walter Mixa. wachsene.

THOMAS ERNSTING / BILDERBERG

MICHAEL KAPPELER / DDP


Manipulation einer Eizelle, Bischof Mixa*: Überraschend heftige Reaktion

das zu den Protestanten. Der traditions- Hardliner wie Kardinal Meisner empfeh- SPD-Chef Kurt Beck hat die politischen
bewusste Katholizismus passte gut zur kon- len der CDU inzwischen, das C aus ihrem Chancen einer Annäherung an die Kirche
servativen Haltung vieler Unionsanhänger, Namen zu streichen. Im Kardinal-Höffner- ebenfalls erkannt. Beck ist praktizierender
und die katholische Soziallehre spielte für Kreis, einem Zusammenschluss katholischer Katholik und hat ein gutes Verhältnis zum
das Selbstverständnis der Christparteien Unionsabgeordneter, sagte er, der Verzicht Vorsitzenden der Bischofskonferenz, dem
eine ebenso große Rolle wie das Bekennt- auf diesen Buchstaben könne der Partei Mainzer Bischof Kardinal Karl Lehmann.
nis zur Marktwirtschaft. auch das politische Handeln erleichtern. Im Die Grünen haben ihr Verhältnis zur
Doch mit dem allmählichen Verschwin- Übrigen seien die Grünen der Kirche in ei- Kirche ziemlich entkrampft. Die Berliner
den klassischer Milieus lockerte sich auch nigen Fragen wie der Stammzellforschung Parteiführung pflegt steten Kontakt zu den
das enge Band zwischen Union und ka- sehr nahe. Die Drohung wurde verstanden: Bischöfen. Sie weiß, dass viele Wähler der
tholischer Kirche. Die deutsche Einheit Wenn die Union sich bei ihrer Suche nach Grünen gerade im Süden der Republik
verschärfte die Lage noch. Viele Ostdeut- neuen Wählern von der katholischen Kirche überzeugte Christen sind. Als kürzlich
sche gehören gar keiner Kirche an, der entferne, werde sich diese eben Verbünde- Volker Beck den Kölner Erzbischof Meis-
Rest ist mehrheitlich evangelisch. te in anderen Parteien suchen. ner als „Hassprediger“ bezeichnete, teilte
Die Katholiken sind an der Spitze der Dort ist man sehr interessiert. Die SPD, Fraktionschefin Renate Künast ihrem Par-
CDU schon seit längerem schlecht vertre- traditionell eher der evangelischen Kir- teifreund öffentlich mit, dass sie das nicht
ten. Generalsekretär Ronald Pofalla ist für die angemessene Wortwahl halte. Par-
evangelisch, Fraktionschef Kauder eben- UMFRAGE: CHRISTLICHE WERTE teichefin Claudia Roth schwärmte kürzlich
falls. Die wichtigste CDU-Politikerin, sogar, Kardinal Lehmann sei ein „kluger
Kanzlerin Merkel, ist Tochter eines evan- „Spielen in der heutigen Politik Mann voller Herzenswärme“.
gelischen Pfarrers. Allerdings wird es wohl noch dauern,
von CDU und CSU christliche
Merkel will ihre Partei gegen alle Wi- ehe die katholische Kirche in Sozialdemo-
derstände der Kirche modernisieren. Sie Werte noch eine Rolle?“ kraten und Grünen so überzeugte Partner
glaubt, dass die Union neue Wähler ge- hat wie immer noch bei vielen Christde-
winnen muss, unter den Frauen, den Jun- 8% eine große Rolle mokraten. Als vor Weihnachten der Berli-
gen und den Großstädtern. ner Erzbischof Kardinal Georg Sterzinsky
Neben der Stammzellforschung geraten in der Kirche bei der Katholischen Aka-
Christdemokraten und katholische Kirche eine kleine Rolle 58 % demie eine Messe für alle Bundestags-
deshalb vor allem bei der Familienpolitik abgeordneten feierte, waren nach der Zäh-
aneinander. Unter Merkel hat die CDU 32 % eher keine Rolle lung eines Mitarbeiters unter den etwa 60
einen bemerkenswerten Schwenk voll- Gottesdienstbesuchern vier Sozialdemo-
zogen. Lange galt die klassische Haus- TNS Forschung für den SPIEGEL vom 17. und 18. Dezember; kraten und ein Grüner. Der Rest kam von
500 Befragte; an 100 fehlende Prozent: der Union. Horand Knaup, Ralf Neukirch,
„weiß nicht“/keine Angabe René Pfister, Peter Wensierski
* Rechts: in einer Augsburger Frühgeborenenstation.

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 25
Haderthauer – erfolgreiche
KARRIEREN
Geschäftsfrau mit Familie, fest-

Laptop und verwurzelt in konservativen


Werten und trotzdem aufge-
schlossen – soll dort die Stimmen

Dirndl holen, wo die CSU schwächelt:


in den Städten, wo Multikulti,
Homosexuelle oder Frauen, die
trotz Baby in ihren Job zurück-
Gestandenen CSU-Männern galt
kehren, keine Aufreger sind.
Christine Haderthauer als uner- Polter-Attacken, von ihrem
fahren und blass. Inzwischen steht Vorgänger Markus Söder me-
die neue Generalsekretärin für dienwirksam inszeniert, sind da-
den fälligen Generationswechsel. bei nicht ihr Ding. Die neue Ge-

SCHULZ / IMAGO
neralsekretärin will die CSU

E
s ist ein kalter Nachmittag, Christine nicht umkrempeln, sondern po-
Haderthauer springt ins Auto und pulärer verkaufen. „Papiere hel-
ist wütend. Gerade hat CSU-Vize Christsoziale Haderthauer: Einfache Botschaft fen keinem, wir müssen mit den
Horst Seehofer in Berlin in einem Inter- Menschen reden.“ Für ihren Stil
view mit SPIEGEL ONLINE mal so eben Es läuft gerade nicht gut in der CSU, da- gibt es ein Vorbild: Angela Merkel. Ha-
erklärt, die Union habe sich zu wenig bei rückt die traditionelle Klausurtagung derthauer findet die Kanzlerin „cool“ und
um Kinderarmut gekümmert. Er sagt der Landesgruppe Anfang Januar in Wild- effizient. Ihre ersten Wochen im Amt zei-
auch, dass Kinderrechte in die Verfassung bad Kreuth näher. Dafür, dass es gut läuft, gen, dass sie selbst auf ähnliche Art bei der
sollen. Und findet den Mindestlohn für soll aber seit fast drei Monaten Christine Basis ankommt. Die CSU stehe nun halt
Postler gut. Haderthauer, 45, sorgen, Juristin und Land- auch für Laptop und Dirndl, heißt es dort.
Haderthauer schäumt. Kurz zuvor hat tagsabgeordnete aus Ingolstadt. Sie ist die Zwar wird sie von vielen noch unter-
die CSU einen Arbeitskreis für Kinder- neue Generalsekretärin, die erste Frau auf schätzt, sie gilt als politisches Leichtge-
politik gegründet, die Partei will keine Ver- diesem Posten. Wie sich die Bayernpartei wicht. Das kann sich aber ändern. Denn
fassungsänderung und den Mindestlohn nach dem Sturz von Edmund Stoiber be- die Generalsekretärin wird dem Alther-
schon gar nicht. Einen Angriff nennt Ha- hauptet, wird auch von ihr abhängen. Im renclub CSU nicht nur brav zuarbeiten.
derthauer deshalb Seehofers Interview. März sind Kommunalwahlen, im Septem- Die ehemals despotisch geführte Partei hat
„Warum sagt der nichts im Vorstand? Im- ber ist Landtagswahl, Pflichtergebnis für sich geändert. Die Jungen machen ihre
mer danach?“ die CSU: 50 Prozent plus X. eigene Politik.
Deutschland

Mit ungetrübtem Selbstbe- Arzt, zwei Kinder, eigene Kanz-


wusstsein führt etwa Georg lei, Politik. Parteichef Erwin
Schmid – so einer gilt mit sei- Huber kam kaum an ihr vorbei,
nen 54 Jahren in der CSU als als er einen Generalsekretär
jung – die Landtagsfraktion. Der suchte, der die CSU moderner
neue JU-Vorsitzende in Bayern, machen sollte.
Stefan Müller, 32, und der jüng- Das Duo funktioniert. Ha-
ste CSU-Bezirksvorsitzende derthauer nennt die Zusam-
Karl-Theodor Freiherr zu Gut- menarbeit mit Huber „kon-
tenberg, 36, legten wahre Blitz- genial“. Mit Seehofer gibt es
karrieren hin und weichen auch hingegen gar keine, mit dem
mal von der Sprachregelung der Berliner Landesgruppenchef
Zentrale ab. Die CSU wird mun- Peter Ramsauer sei sie auf ei-

JOERG KOCH / DDP


terer und unübersichtlicher. nem guten Weg, mit Minister-
Haderthauer ist auf dem Weg präsident Günther Beckstein
nach Mittelfranken, sie muss geht es mal so, mal so.
sich vorstellen bei der Basis in Spät in der Nacht im Auto
Neustadt a. d. Aisch. Sie ist spät CSU-Spitzen Seehofer, Beckstein*: Es läuft gerade nicht gut gibt es neue Fragen: Als Gene-
dran, hundemüde und hungrig. ralsekretärin muss sie zum
Haderthauer beißt in ein Mozzarella- Sie lernt noch. Zum Beispiel die einfa- Frankenfasching nach Veitshöchheim. Sie
Sandwich, danach ist der Lippenstift weg. che Botschaft an die Basis auf dem Land: braucht ein Kostüm. Missgriffe in Veits-
„Das sind doch die wirklichen Probleme Die Hauptschule ist prima, der Mindest- höchheim können Karrieren kosten.
des Lebens“, ruft sie durchs Auto, sie lohn Mist, die Ehe unser höchstes Gut. Sie Haderthauers Vorgänger Markus Söder
lacht. lernt, dass sie in Berlin die Landesgruppe schrammte 2007 an einer Katastrophe vor-
Sie lacht viel, etwa über ihr Büro, das ihr pflegen muss, damit von dort keine Quer- bei. Seine Referenten hatten ihm ein En-
sagen sollte, mit welchem Landtagskolle- schläger kommen. Dass sie dem CDU-Kol- gelskostüm schneidern lassen. Dann wur-
gen sie es in Neustadt zu tun hat. Hans legen Ronald Pofalla versprechen muss, de bekannt, dass auch Partei-Rebellin Ga-
Herold heißt er, sie kennt ihn kaum, was mit ihm „um die Häuser zu ziehen“. briele Pauli als Engel erscheinen würde.
sich nicht gehört in ihrem Job. Das Büro Haderthauer hat eine Bilderbuchbio- Söder musste als Musketier gehen.
war so ungeschickt, Herold direkt zu fra- grafie vorzuweisen: Gymnasium, Geigen- Wie immer man in der CSU Haderthau-
gen, wer er eigentlich sei, und der schick- unterricht, Studium, Hochzeit mit einem er bis dahin einordnen wird – „den Engel“,
te eine Art Selbstauskunft. „Wie peinlich“, sagt sie, „könnt ihr euch abschminken, den
stöhnt Haderthauer. * Im Oktober 2005 beim Lammabtrieb im Altmühltal. mach ich garantiert nicht“. Conny Neumann
Deutschland

SCHROEWIG (L.); PETER STEFFEN / PICTURE-ALLIANCE/ DPA (R.)

„Kinder brauchen uns“-Chef Dewender (nach der Bambi-Verleihung, mit verletztem Kind aus Afghanistan): Zu viel des Guten

H I L F S O R G A N I S AT I O N E N

„Ganz viele Verrückte“


Bei der jüngsten Bambi-Verleihung wurde der Verein „Kinder brauchen uns“ geehrt.
Dabei ist der Chef ein Hochstapler, zudem gefährden zweifelhafte
Adoptionen und christliches Missionieren auch die Arbeit anderer Helfer in Afghanistan.

W
enn es einen Tag gibt im Leben Leider war die Geschichte vom guten Und während Dewenders Verein Kinder
des Markus Dewender, einen Menschen von Mülheim nun doch zu schön, brauchen uns (KBU) so nun schon das Geld
Tag, ganz unvergesslich und un- um wahr zu sein. Dewender und seine Leu- für den nächsten Flug zusammenhat,
vergleichlich, dann war es der 29. Novem- te leisten sich Eskapaden, die Experten ge- klagen Organisationen wie das Oberhau-
ber 2007: der Tag der Bambi-Verleihung in standener Hilfsorganisationen schaudern sener Friedensdorf, die seit Jahrzehnten af-
Düsseldorf. Unten im Saal klatschten: Tom lassen. Und Dewender selbst ist ein Hoch- ghanische Kinder für Operationen nach
Cruise, Sophia Loren, Königin Rania von stapler – mit zwei falschen Doktortiteln und Deutschland fliegen, über einen „dramati-
Jordanien, 1300 Gala-Gäste. Und oben auf einer offenbar frisierten Vita. schen Einbruch“ bei den Spenden.
der Bühne stand er: Dr. oec. Dr. h. c. Mar- Die Geschichte von Aufstieg und Sün- Dewender hat 15 Jahre in diversen Hilfs-
kus Dewender, Vorstandsvorsitzender der den-Fall des Dr. Dr. Dewender aus Mül- werken mitgearbeitet, lang genug, um die-
Hilfsorganisation „Kinder brauchen uns“. heim an der Ruhr ist eine tragische: die se Mechanismen zu kennen. Irgendwann
Er hielt stolz den Preis in die Kameras, Geschichte eines Mannes, der angetreten muss er wohl beschlossen haben, dass man
den der Burda-Verlag seinem Verein ge- war, Gutes zu tun, und dem man nicht mal besser liefert, was gewünscht ist: eine gute
rade verliehen hatte, den Bambi in der nachsagen kann, dass er sich persönlich Story. Und dass es da eine andere Wahr-
Kategorie „Engagement“. bereichert hätte, höchstens mit Prestige: heit geben dürfe – keine Wahrheit der Fak-
59 kranke Kinder hatte das Hilfswerk im Neben dem Bambi nahm der falsche Dop- ten, sondern so etwas wie eine Wahrheit
Oktober mit einem Charterflug aus Afgha- peldoktor am 17. November auch noch den der guten Absichten.
nistan geholt, um sie hier in Kliniken be- Deutschen Kinderpreis entgegen. Schon über den Auslöser seines En-
handeln zu lassen. Seit dieser Aktion bekam Der Fall Dewender sagt vielmehr et- gagements verbreitet Dewender mehrere
Dewender, 41, endlich die bundesweite was über die Mechanismen im Barmher- Versionen. Version eins erzählte er am
Aufmerksamkeit, die er so dringend brauch- zigkeits-Business: über den harten Kon- 24. November in einem „WAZ“-Interview:
te. Für mehr Spenden, für mehr Gratisbet- kurrenzkampf der Hilfsorganisationen „Ich war 1994 beruflich in Pakistan.“ Da-
ten in deutschen Krankenhäusern, für die um öffentliche Wahrnehmung; über leicht- mals machte er, der angehende Betriebs-
nächsten, schon geplanten Hilfsflüge. Und gläubige Journalisten, leichtfertige Bam- wirt, spontan einen Abstecher in ein
was hätte es nun noch Größeres geben kön- bi-Juroren, die an das Gute glauben Flüchtlingslager nach Peschawar. Er sah
nen als diese Bambi-Bühne für seinen klei- wollen, auch weil sich das Gute so gut - das Elend, sah die unschuldigen Kinder –
nen Verein, den vor kurzem nur die wenigs- vermarkten lässt, besonders kurz vor kurzerhand steckte er sechs in ein Taxi
ten kannten? Und für ihn, den Vereinschef? Weihnachten. und brachte sie in ein Hospital. „Dort habe
28 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
te zusehends.“ Enayats Probleme seien
ihm wichtiger geworden als seine eigenen
– Anzeichen für ein Helfersyndrom.
Im Februar 1999 fliegt Enayat nach Af-
ghanistan zurück, im Mai Dewender hin-
terher, um ihn für eine Adoption zurück-
zuholen. Und worüber sich heute selbst
Adoptionsexperten nur wundern können:
Dewender schafft es. Er bekommt dafür
vom Jugendamt Mülheim die Zustimmung.
Dabei wohnt er noch bei seinen Eltern, ist
voll berufstätig, hat weder Frau noch
Freundin, die sich mit ums Kind kümmern
könnte. Außerdem braucht er weiter viel
Zeit für seine ehrenamtliche Arbeit – er ist
1998 zur Konkurrenz des Friedensdorfs,
zum Hammer Forum, gewechselt.
Zwei Jahre später holt Dewender noch
Enayats Bruder Ali nach Deutschland und
adoptiert ihn ebenfalls. Beim Hammer Fo-
rum heißt es heute, wegen der Adoptionen

PHOTO PRESS SERVICE VIENNA


sei man zu Dewender „auf Distanz“ ge-
gangen. Der dockt dafür 2001 beim Verein
für Afghanistan-Förderung (VAF) in Bonn
an und importiert bis heute ständig weite-
re mehr oder weniger kranke Kinder aus
Enayats Verwandtschaft: zwei Schwestern,
Kinder in afghanischem Flüchtlingscamp: Gewöhnung an den westlichen Lebensstil? zeitweise einen Bruder, einen Neffen, eine
Nichte – auch über den Verein KBU.
ich für die Behandlung der Kinder be- beitgeber, die Firma Agiplan Integrale Eine andere Familie aus Dewenders Um-
zahlt.“ Bauplanung, vom Trip ins Flüchtlingslager feld wächst mit der Zeit ebenfalls an: die
Eine rührende, eine perfekte Geschich- nicht angetan gewesen sei. von Heike und Andreas Timmler aus
te, so erzählte sie bei der Bambi-Gala auch Im Friedensdorf beginnt er im Fahr- Schwelm. Anfang 2002 war die etwa sie-
die Laudatorin Sabine Christiansen einem dienst, das immerhin ist sicher. Der neue benjährige Zahra zur Behandlung aus Af-
Millionenpublikum mit Tremolo in der Hiwi gilt als gute Kraft, was auch damit zu ghanistan gekommen. Das Kind war in die
Stimme. Die Story hat nur den Fehler, dass tun hat, dass er sehr oft Zeit hat. Im Jahr Feuerstelle seines Elternhauses gefallen.
Dewender bereits 1992 als Ehrenamtlicher 1998 taucht Dewenders Name fast täglich Gasteltern in Deutschland werden die
im Friedensdorf in Oberhausen begonnen in den Dienstbüchern auf, oft schon mit- Timmlers. Als Zahra wieder heimkehrt,
hatte – und der angebliche Peschawar-Trip tags, aber es gibt nun mehr und mehr Pro- fliegt Andreas Timmler ihr hinterher und
1994 schon deshalb nicht der Anfang von bleme: Die Kinder des Dorfes werden kos- überzeugt den Vater der Halbwaise, das
allem gewesen sein kann. tenlos in Kliniken behandelt. Dewender Mädchen für die Adoption freizugeben.
Peschawar sei nicht 1994 gewesen, son- jedoch stellt einige von ihnen noch ande- Ein Deal, der offenbar mit Geld versüßt
dern schon 1992, korrigiert sich Dewender ren Ärzten vor, weil er Diagnosen und Me- wurde: Alle zwei Monate, so schreibt
nun gegenüber dem SPIEGEL – so passt es thoden misstraut. Als die Dorfleitung das Timmler in einem Reisebericht, kann der
auch wieder mit dem Anfang. Merkwürdig merkt, fürchtet sie, die Vertragskliniken Vater nach Kabul kommen, „um sich eine
nur, dass er damals im Friedensdorf keiner könnten die Gratisbetten kündigen. finanzielle Unterstützung abzuholen“.
Seele etwas über seine angebliche Reise Das Ende kommt, als Dewender sich Dewender bezeichnet sowohl die Adop-
nach Pakistan erzählte. „Das habe ich mir zum persönlichen Beschützer von Enayat tion der Timmlers, die noch Zahras Schwes-
verkniffen“, sagt er. Allerdings auch gleich Shah, einem etwa zwölfjährigen Afghanen, ter Gulsum nachgeholt haben, als auch die
noch in einem Lebenslauf, den er 2000 ge- berufen fühlt. Das Friedensdorf achtet eigenen Adoptionen als Privatsache. Damit
schrieben hat. Er habe sich mit Paten- streng darauf, dass Ehrenamtliche keine habe der Verein nichts zu tun. Der achte
schaftskindern in Lateinamerika und Afri- enge Bindung zu den Kindern bekommen. rigoros darauf, dass Gasteltern, die Kinder
ka Briefe geschrieben, heißt es dort zur So will man vermeiden, dass sich die klei- nach einer Operation betreuten, die Klei-
Abwechslung: „Der Schriftwechsel weckte nen Patienten an einen westlichen Le- nen nicht hierbehielten.
in mir immer mehr den Wunsch, selbst ak- bensstil gewöhnen oder – der Alptraum Dem VAF waren solche Anflüge von
tiv tätig zu werden. So gelangte ich 1992 seriöser Hilfswerke – sich gar Adoptionen Doppelmoral womöglich nicht ganz ge-
zum Friedensdorf Oberhausen.“ Von Pe- anbahnen. Das kann in Afghanistan, das heuer. Mehr noch störte aber, dass De-
schawar kein Wort. wie andere muslimische Länder offiziell wender und die beiden Timmlers 2003 den
Bleibt noch eine vierte Version: Der keine Volladoptionen erlaubt, das Aus für Verein „Kinder brauchen uns“ mitgründe-
„Rheinischen Post“ erzählte er 2001, er solche Operationsflüge bedeuten. ten und somit eine Konkurrenz aufzogen.
habe mal seinen Vater im Krankenhaus be- 1998 muss Dewender das Dorf verlas- Der VAF schloss alle drei wegen „vereins-
sucht. Dort soll ihm ein angolanisches Kind sen. Dass er wegen mangelnder Distanz zu schädigenden Verhaltens“ aus.
aus dem Friedensdorf aufgefallen sein, das den Kindern gehen sollte, bestreitet er heu- In der neuen, eigenen Truppe wurde
nie Besuch bekam. Er habe sich mit ihm te ganz entschieden – sein Lebenslauf von Heike Timmler nun zweite Vorsitzende,
angefreundet, und so sei er zum Friedens- 2000 liest sich anders: „Ich fühlte mich un- Dewender der Chef. Sie sind von da an
dorf gekommen. Peschawar? Kein Pescha- gewöhnlich stark zu Enayat hingezogen, eine von all den vielen unbekannten Hilfs-
war. Dewender heute zu Variante vier: die gewisse Distanz, die man bei dieser gruppen mit großer Mission und kleinem
„Das war eine Deckstory.“ Er habe die Pe- Tätigkeit immer aufrechterhalten muss Budget. Doch während Dewender die
schawar-Sache verschwiegen, weil sein Ar- (was mir auch sonst stets gelang), bröckel- Welt retten will, geht bei ihm zu Hause
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 29
Deutschland

in Mülheim alles drunter und drüber. ihm zuvor auf der eigenen Website auch de beiziehen. Dort findet sich der renom-
Seine afghanische Kinderschar läuft aus „sehr herzlich“. Wer ihm aber den Titel ver- mierte polnische Wirtschaftsprofessor Jer-
dem Ruder, Ali fliegt von der Schule, hat liehen hatte, verschwieg man dabei lieber. zy Wilkin, und die Unkenntnis ist ganz
mehrmals wegen Drogen mit der Polizei Ein Ehrendoktor allein war jedoch nicht beiderseits: „Ich kenne Herrn Markus De-
zu tun, eine der Schwestern droht mit genug, ein richtiger sollte es auch noch wender nicht. Er hat nie unter meiner Auf-
Selbstmord, will an die Presse gehen. Die sein. Das Problem: Dewender hatte Mitte sicht eine Doktorarbeit geschrieben“, sagt
Stadtverwaltung bestellt Dewender zum der Neunziger nur an der Essener Verwal- Wilkin. Seine Universitätsleitung bestätigt
Gespräch ein. tungs- und Wirtschafts-Akademie drei Jah- nach Überprüfung der Urkunde, dass das
Doch der Mann hat wenig Zeit. „Etwa re im Abendstudium zugebracht. Sein „Be- Dokument „gefälscht wurde, noch dazu
40 Stunden pro Woche, also die Freizeit, triebswirt (VWA)“ ist kein staatlicher Uni- sehr schlecht“. Stempel, Urkundennum-
das Wochenende, den Urlaub“, arbeite De- versitätsabschluss. Erst recht aber reicht er mer, die Unterschriften: alles falsch.
wender nun neben seinem Job für KBU, nicht aus, um einen Doktor aufzusatteln. „Sie treffen in diesem Metier der Hilfs-
sagte er kürzlich in einem Interview. Der Trotz seiner enormen Arbeitsbelastung organisationen auf ganz viele Verrückte“,
Verein ist knapp bei Kasse, er plant eine durch Beruf, KBU und seine Adoptiv- sagt einer, der Dewender viele Jahre na-
spektakuläre Aktion, eine, die ihn endlich kinder und Mündel soll ihm nun eine aka- hestand, „das ist gleichzeitig deren Stärke
groß herausbringt: die „Luftbrücke“ mit demische Laufbahn in Rekordzeit geglückt und Schwäche.“ Nur ein Getriebener ist
einem Charterflieger nach Afghanistan. sein: 2005 habe er bei einem Polen-Pro- bereit, sein Leben so der Sache zu wid-
Schon vorher glaubte Dewender offen- jekt seiner Firma Kontakte zu den Univer- men, wie Dewender es tut. Doch gleich-
bar, dass er auch persönlich mehr Reputa- sitäten Warschau und Sofia bekommen. zeitig besteht immer die Gefahr, dass sol-
tion brauchte. Ein Doktortitel würde sich Dabei habe man ihm wegen seiner langen che Leute aus der Spur laufen, weil sie
gut machen, auch in Afghanistan. Doktor, Berufspraxis akademische Abschlüsse mit mehr Gutes tun wollen, als gutgehen kann.
das klingt dort erst mal nach Mediziner. „überschaubarem Aufwand“ avisiert. Auch die Timmlers sind solche Geister-
fahrer der guten Sache: Schon 2004 ließen
sie sich mit den Worten zitieren, es gehe ih-
nen darum, den Kindern während ihrer
Zeit in Deutschland „noch eine weitere
Hoffnung mitzugeben, nämlich den Glau-
ben an Jesus Christus“. Das Spendenkon-
to für ihre Adoptivtochter Zahra lief über
einen christlichen Missionsverein. Auf der
KBU-Website heißt es außerdem, „sehr
viele Kinder“ besuchten die Georg-Müller-
Schulen in Gevelsberg und Wetter.
Beide Schulen sind sogenannte Be-
kenntnisschulen. Zwar sagt Dewender,
kein KBU-Schützling sei je missioniert
PETER STEFFEN / PICTURE-ALLIANCE/ DPA

worden. In Wetter wirbt man aber damit,


dass „die Lehrkräfte an Jesus Christus als
ihren Herrn und Retter glauben“ und
„Schülerinnen und Schüler mit christ-
lichen, an der Bibel orientierten Werten
konfrontiert werden“. Lehrer in Gevels-
berg antworten auf die Frage nach ihrem
letzten guten Buch schon mal: „Die Bi-
KBU-Mitglied Timmler (beim Hilfsflug im Oktober): Spendenkonto beim Missionswerk bel.“ Oder wünschen sich, „dass meine
Schüler eines Tages genauso begeistert sind
Den ersten Titel, einen Doctor honoris In Sofia hat er dann laut der Urkunde, von Jesus Christus, wie ich es bin, weil er
causa, bekommt er im Juni 2005. Ein Mann die er vorzeigt, am 28. Februar 2006 ein alleine es möglich macht, dass wir mit dem
habe ihn angerufen, von einer Yorkshire Studium mit dem „Magister Atrium“ der großen Gott in Kontakt treten können“.
University. Man beobachte sein Engage- Ökonomie abgeschlossen – ein Fehler, der Dabei weiß Dewender, wie gefährlich
ment, wolle ihn auszeichnen, so schildert es echten Akademikern kaum unterlaufen auch nur der Verdacht einer Christianisie-
Dewender. „Da habe ich mich sehr ge- dürfte, muss es doch „Magister Artium“ rung der Kinder sein kann: „Man würde
freut.“ Die Yorkshire University firmiert in heißen. Und an der Uni Warschau erwarb uns die Arbeit in Afghanistan untersagen.“
der Karibik, auf Tortola, einer der britischen er angeblich nur vier Monate später, am Und möglicherweise nicht allein der De-
Jungferninseln – und ist deutschen Gerich- 26. Juni 2006, einen Wirtschaftsdoktortitel wender-Truppe: „Damit schadet sich der
ten gut bekannt, weil ihre Ehrendoktor- – auch diese Urkunde präsentiert er dem Verein nicht nur selbst, er gefährdet alle
würde en masse in Spam-Schreiben gegen SPIEGEL. Das Problem: Die Agiplan er- westlichen Hilfsorganisationen in Afgha-
Geld angeboten wurde. Im Mai 2006 verur- fuhr erst im Sommer 2005 von dem Projekt nistan“, kritisiert Obeidullah el-Mogaddedi,
teilte das Amtsgericht Nordhausen einen in Polen. Damit hätte Dewender nur noch Vorsitzender des VAF in Bonn.
Dr. h. c. der Yorkshire University wegen ein Semester für sein Fernstudium samt So ist es mit dem Verein des Doppel-
Titelmissbrauchs, im Juli 2007 das Amts- Abschluss in Bulgarien gehabt. Gleichzei- doktors wie bei so vielen Organisationen:
gericht Cham eine Heilpraktikerin – sie hat- tig will er aber auch schon seine Doktor- Es sind oft die falschen Menschen, die das
te sich den Titel für 3800 Euro gekauft. Die arbeit in Warschau geschrieben haben – Richtige versuchen, weil sich zu wenige
Kultusministerkonferenz in Bonn hatte dazu was nach polnischen Gesetzen ausge- der richtigen Menschen so eine Arbeit an-
in einem Gutachten festgestellt, dass „Gra- schlossen ist: Eine Dissertation darf erst tun möchten. Vom SPIEGEL mit den Vor-
de bzw. Ehrengrade der Yorkshire Univer- begonnen werden, wenn ein Magister- würfen konfrontiert, kündigte Dewender
sity nicht zur Führung genehmigt werden“. oder Masterabschluss schon vorliegt. an, Selbstanzeige wegen Titelmissbrauchs
„Ich habe nichts gezahlt“, erklärt De- Auf die Frage nach seinem Doktorvater zu erstatten. Jürgen Dahlkamp,
wender jetzt, und sein Verein gratulierte muss Dewender erst mal selbst die Urkun- Udo Ludwig, Marta Solarz

30 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Umkämpftes Lager al-Barid
Freiwillige aus aller Welt

kin. Nach der Schule hatte ihr


Sohn eine Lehre als Dreher in
einer Werkstatt absolviert,
doch dauerhafte Beschäf-
tigung fand er nicht. Mehre-
re Umschulungen lösten sich
mit Arbeitslosigkeit ab, zum
Schluss bildete er sich zum
Computerfachmann weiter.
„Er schrieb Hunderte Bewer-
bungen“, erzählt seine Mut-
ter, „aber keine einzige brach-
te etwas.“
Dann war Sinasi plötzlich

AFP
weg. Die kleine Zweizimmer-
wohnung, in die er zwischen-
zeitlich gezogen war, hatte er in aller Stil-
ISLAMISTEN
le verlassen. Die Mutter erfuhr erst davon,
als sich der Vermieter Wochen später bei

Ende unter Trümmern ihr beschwerte. Sie dachte, ihr Sohn sei in
die Türkei gegangen, „da haben wir ja viele
Verwandte“.
Ein junger Deutsch-Türke hat im Libanon angeblich auf Seiten einer larSinasi war Muslim, und er ging in Gos-
in die Moschee, aber ein Fanatiker?
Terrortruppe gegen die Armee gekämpft. Im Gefängnis „Mein Sohn ist nicht radikal“, glaubt Ley-
soll er gefoltert worden sein. Nun droht ihm die Todesstrafe. la A. Aber womöglich hat sie einfach über-
sehen, wie ihr Sinasi sich allmählich ver-

A
us den Häuserruinen im Flüchtlings- schen Behörden werfen Sinasi A. mehrfa- änderte. Vielleicht ist er ein Musterbeispiel
lager quoll Rauch, als die islamisti- chen Mord, Mordversuch sowie die Mit- für die Entwicklung eines Jugendlichen,
schen Kämpfer einen letzten Aus- gliedschaft in der terroristischen Vereini- der nach außen ein unauffälliges, unspek-
bruchversuch wagten. Über dem Camp gung Fatah al-Islam (FI) und das Schüren takuläres Leben führte, sich aber unbe-
Nahr al-Barid im Norden des Libanon lag innerer Unruhe vor. Er selbst sagt, er sei in merkt von der eigenen Familie radikali-
noch die Morgendämmerung, doch die Ar- der Haft gefoltert worden. Mögliches Urteil sierte.
mee des Levantestaates, die das Gebiet im Falle eines Schuldspruchs: die Todes- Als Sinasi sich wieder meldete und am
weiträumig abgesperrt hatte, war auf dem strafe. Derzeit wartet der Mann, der im Telefon von der Suche nach Arbeit be-
Posten: Der Vorstoß endete in Maschinen- Beiruter Gefängnis von der deutschen Bot- richtete, war Leyla A. erleichtert: Ein
gewehrsalven des Militärs. Nur zehn der schaft betreut wird, auf seinen Prozess, in Gerücht, Sinasi habe sich in die Luft ge-
verbliebenen Kämpfer der Islamistentrup- dem es auch um seine Vergangenheit in sprengt, konnte also nicht stimmen. Das
pe Fatah al-Islam konnten entkommen, Deutschland gehen wird. Telefongespräch war der letzte Kontakt zur
wohl durch einen unterirdischen Gang. Im Aus dem heimischen Goslar war Sinasi Mutter. Erst später fiel ihr auf, dass Sinasi
Schlachtfeld an der Mittelmeerküste barg im Sommer 2006 verschwunden. Das Haus nie sagte, wo er eigentlich gerade war.
die Armee nach eigenen Angaben 222 Lei- der Familie A. liegt im Stadtteil Oker, es ist Einiges spricht dafür, dass der junge
chen von Untergrundkämpfern, 163 Solda- ein Industriegebiet mit gewöhnlichen Rei- Deutsche sich auf den Weg in den Irak ge-
ten der Regierungstruppen seien bei den henhäusern. Im Wohnzimmer hängen drei macht hatte. Die libanesischen Behörden,
Kämpfen gefallen. Und mehr als 200 mut- in Holz gerahmte Koranverse an der Wand, die A. immer wieder verhört haben, ver-
maßliche Kämpfer sitzen seit jenen Sep- auf dem Sofa sitzt seine Mutter Leyla, die muten, dass Sinasi zeitweilig in Haditha
tembertagen 2007 in den Gefängnissen. über ihren Sohn spricht. „Sinasi hat im- untergetaucht war, einer Stadt nordwest-
Unter den Festgenommenen befindet mer davon geredet, dass er ins Ausland lich von Bagdad. Angeblich habe er sich
sich auch ein junger Mann, der nicht in wollte, um Arbeit zu finden“, sagt die Tür- dort einer Qaida-nahen Gruppe ange-
das Profil eines mit sunni- schlossen, gemeinsam mit drei
tischem Glauben erfüllten weiteren Rekruten. Bewiesen
arabischen Freischärlers zu ist das nicht, aber Sinasi A.
passen scheint: Sinasi A., 25, wäre dann einer jener Ge-
ein Deutscher türkischer Ab- fährder, vor denen das Bun-
stammung. Laut libanesischen deskriminalamt und das Bun-
Behörden soll er an vorders- desamt für Verfassungsschutz
ter Front in der Schlacht seit langem warnen.
um Nahr al-Barid gekämpft In einer vertraulichen Ana-
haben. lyse haben die beiden Behör-
Das Schicksal des jungen den 80 Personen aus Deutsch-
Mannes aus Goslar könnte land identifiziert, die in den
sich für die Bundesregierung vergangenen Jahren in den
zu einem jener diplomati- Irak reisten, um sich dem
schen Krisenfälle entwickeln, Dschihad anzuschließen. 45
bei denen es um Leben oder von ihnen exportierten den
Tod geht. Denn die libanesi- Verdächtigte Sinasi A., Fayez A. (mit Familie): „Sehr harter Kämpfer“? Krieg aus dem Irak in andere
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 31
Deutschland

Staaten. Stimmen die Vorwürfe der Liba- dieser Auseinandersetzung gehört auch ein nung. Wochenlang befragte ihn der Ge-
nesen, dann ist Sinasi A. über Syrien in Bruder des „Kofferbombers von Köln“ heimdienst, im Oktober wurde er in das
den Libanon gezogen, wo er wohl bei der Youssef al-Hajdib, der in Tripoli aufwuchs. berüchtigte Gefängnis Rumi im Norden
FI landete. Glaubt man der Darstellung libanesi- Beiruts verlegt, das Terrorverdächtigen
Die FI ist eines jener Derivate von Osa- scher Ermittler, die mittlerweile auch meh- und Staatsfeinden vorbehalten ist.
ma Bin Ladens Qaida, die es mittlerweile rere Zeugen vernommen haben, dann hat Als Leyla A. ihn dort an einem Mitt-
in fast allen nordafrikanischen und arabi- Sinasi A. in diesem Krieg an zentraler Stel- woch Mitte Dezember besuchte, erkannte
schen Ländern gibt. Gegründet wurde die le gekämpft, nachdem er im Frühjahr im sie ihren Sohn kaum wieder. Abgemagert,
Gruppe von einem Palästinenser namens Libanon eingetroffen war. Die ersten zwei mit leerem Blick und tiefen Augenhöhlen
Schakir al-Absi, den seine Anhänger Monate verbrachte er angeb- saß Sinasi ihr gegenüber,
Scheich nennen und nach dem die Verei- lich in einem Gästehaus der Arme und Gesicht übersät
nigten Staaten wegen seiner Beteiligung FI in der Nähe des sogenann- von Narben. Der Geheim-
an der Ermordung eines amerikanischen ten Chan-Viertels, das für dienst habe ihn gefoltert, habe
Diplomaten in Jordanien fahndeten. Seit Neuankömmlinge der FI in Sinasi ihr gesagt, erinnert sich
sich der ehemalige Kampfpilot im Früh- Nahr al-Barid reserviert war. Leyla A. Es wäre nicht das
jahr 2007 öffentlich zur Ideologie Osama Von dort aus wurden die Frei- erste Mal, dass der libanesi-
Bin Ladens bekannte, gilt die FI als Statt- willigen verteilt. Später soll er sche Geheimdienst Häftlinge

STEFAN SOBOTTA / VISUM


halterin der Qaida im Libanon, im Norden in ein eigenes Heim umgezo- misshandelt. Einem Beamten
des Landes proklamierte Absi ein islami- gen sein, das zugleich als Mu- des Bundeskriminalamts, der
sches Emirat. nitionslager diente. im Libanon zusammen mit
Die wortgewaltige PR zeigte alsbald Der libanesische Geheim- dem Militärgeheimdienst er-
Wirkung: Junge Kämpfer aus aller Welt dienst geht davon aus, dass mittelte, fiel schon vor Jahren
schlossen sich der FI an, selbst aus Ländern der Deutsche zu jenem Kom- Mutter Leyla A. auf, dass ein Verdächtiger
wie Dänemark stammen die Freiwilligen. mando gehörte, das am 20. Angst um den Sohn nach einem Verhör grün und
Mehrere hundert Mitglieder soll die Grup- Mai, nach dem Banküberfall blau geprügelt erschien.
pe vor dem Kampf um Nahr al-Barid ge- in Tripoli, die Armee beschoss. Sinasi A. Sinasi A.s frühe Vernehmungen beim
habt haben. Als Hauptquartier hatte Absi soll als Heckenschütze, später auch mit Nachrichtendienst fanden anfangs ohne
das Flüchtlingslager nahe der Mittelmeer- Panzerfäusten eingesetzt worden sein. Er Anwalt oder Konsularbeamte statt; in die-
stadt Tripoli auserkoren, das einst gebaut habe eine Gruppe von fünf Männern an- ser Zeit soll er seine Beteiligung an dem
wurde, um den endlosen Strom von paläs- geführt, die aus einem Präzisionsschützen, Aufstand gestanden haben. In den Ermitt-
tinensischen Flüchtlingen aufzufangen. Bis einem Kämpfer mit einer Panzerfaust, zwei lungsakten ist auch die Rede von zwei Ge-
zu 40 000 Menschen hausten hier dicht ge- Aktivisten mit Kalaschnikows und einem heimdienstagenten, die der Deutsche er-
drängt. Von dort aus attackierten die ille- Munitionsträger bestanden habe. Todes- mordet habe. Seiner Mutter sagte Sinasi
galen Kämpfer die libanesische Armee. mutig sei Sinasi A. auf einem Motorrad dagegen, er habe „niemanden umgebracht,
Die Krise begann mit einem Banküber- durch Nahr al-Barid gerast und habe die ich wollte hier nur eine Frau finden“. Erst
fall mutmaßlicher FI-Mitglieder im Mai Stellungen der Militärs beschossen. Die am 12. Oktober, beim Untersuchungsrich-
2007. Weil die Soldaten die Flüchtlingslager libanesischen Behörden beschreiben ihn ter, wurde ein Vertreter der deutschen Bot-
nicht betreten dürfen, bezogen Panzer Stel- als einen „sehr religiösen, sehr harten schaft vorgelassen. Seitdem haben sich die
lung auf den nahegelegenen Hügeln. Die Kämpfer“. Haftbedingungen deutlich verbessert.
Militärs beschossen das Quartier, die FI Es muss in den letzten August- oder ers- Im Gefängnis lernte Sinasi A. auch einen
reagierte mit Panzerabwehrraketen. Aus ten Septembertagen gewesen sein, als das weiteren Mann aus Deutschland kennen,
den Scharmützeln entwickelte sich ein Militär Sinasi A. in einem eingestürzten der wie er im Verdacht steht, der FI anzu-
dreimonatiger Bürgerkrieg, der das Land Gebäude in der Tauniji-Straße unter Trüm- gehören: Fayez A., 42, ein Deutsch-Liba-
einmal mehr erschütterte. Zu den Toten mern fand, verletzt und mit wenig Hoff- nese aus Koblenz, der vor drei Jahren mit
seiner Frau und drei Kindern zurück in
den Libanon zog. Fayez A. sitzt bereits seit
Mai in Rumi, die Ermittler werfen ihm vor,
Anlagen des Militärs ausgespäht und An-
schläge geplant zu haben.
Dreimal besuchten ihn deutsche Diplo-
maten bislang im Gefängnis, zuletzt am
5. November. Gegenüber seinem Anwalt
klagte er ebenfalls über Folter durch den
Geheimdienst. Der Fall von Fayez A. wird
demnächst vor Gericht verhandelt, ihm
drohen bis zu fünf Jahre Haft. Vor einem
Richter hat A. zugegeben, als Kurier für
die FI zwischen Syrien und dem Libanon
gependelt zu sein, den terroristischen Cha-
rakter der Gruppe will er allerdings nicht
gekannt haben.
Die beiden Deutschen haben sich mitt-
lerweile angefreundet, Fayez übersetzt für
Sinasi, der kein Arabisch spricht. Auf einen
RAMZI HAIDAR / AFP

Rechtsanwalt hat der junge Mann aus Gos-


lar bislang verzichtet. Sein Schicksal, hat er
gesagt, liege allein „in Allahs Hand“. Nur
der könne gerecht über ihn urteilen.
Libanesische Armee bei Tripoli: Panzer gegen den Scheich Matthias Gebauer, Holger Stark

32 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
RECHTSEXTREMISTEN

Spiel mit
der Angst
Kölner Radikale wollen mit der
ersten „Anti-Islam-Partei“
in die Parlamente einziehen.
Verfassungsschützer sind
alarmiert – ebenso wie die NPD.

D
ie vier jungen Männer fallen kaum
auf in der Fußgängerzone. Ab und
zu drücken sie einem Passanten

MICHAEL GOTTSCHALK / DDP


mit freundlichem Lächeln ein Flugblatt
in die Hand – was die Herren auf der Ho-
hen Straße in Köln treiben, wirkt so harm-
los wie Spendensammeln für Hungernde
in Afrika. Doch die Aktion ist Teil einer
politischen Strategie, die nordrhein-west-
fälische Verfassungsschützer derzeit be- Protestaktion von „Pro Köln“: „Kein zweites Mekka“
unruhigt.
Denn die Zettelverteiler arbeiten für die Das Spiel mit der Angst vor einer an- Die Methode der Rechten hat auch bei
Organisation „Pro Köln“, die seit Monaten geblichen muslimischen Gefahr funktio- der populistischen FPÖ in Österreich und
argwöhnisch beobachtet wird. Ausgerech- niert auch auf der Hohen Straße in Köln: dem Vlaams Belang in Belgien von sich
net in der sonst so weltoffenen Domstadt Etliche, die einen Zettel angenommen ha- reden gemacht. Im November stellte Bei-
bündelt die Truppe den Protest gegen die ben, tragen sich anschließend auf einer Un- sicht FPÖ-Kollegen in einem Referat im
geplante Großmoschee im Stadtteil Ehren- terschriftenliste gegen die Moschee ein. Ein Grazer Gothensaal die Kölner Anti-
feld. Mehr als 20 000 Unterschriften haben Beamter sagt, er wolle „kein zweites Mek- Moschee-Kampagne vor. „Ob Graz, Köln
die rund 300 Mitglieder schon gesammelt. ka in Köln“. Eine Verkäuferin fürchtet, oder Wien: Wir werden den Kampf euro-
Und den Erfolg wollen etliche bekannte dass es wegen der geplanten Großmoschee paweit führen“, tönte er dabei. Für nächs-
Rechtspopulisten nun für den Einzug in in ihrer Nachbarschaft „laut wird“. Wer ten September hat er Freunde von der
deutsche Parlamente nutzen. einmal unterschrieben habe, so der Düs- FPÖ, dem Vlaams Belang und dem franzö-
Mit ihrer aus dem Verein „Pro Köln“ seldorfer Neonazismus-Experte Alexander sischen Front national zu einem „Anti-
hervorgegangenen Partei „Pro NRW“ pla- Häusler, werde später zielgerichtet mit aus- Islam-Kongress“ nach Köln eingeladen.
nen deren Chefs Markus Beisicht und länderfeindlicher Info-Post versorgt – was Jurist Beisicht und einige Vorstandskol-
Manfred Rouhs für 2010 den Sprung in den Pro NRW freilich dementiert. legen pflegen seit Jahren Kontakte zur
nordrhein-westfälischen Landtag. In NRW- Dass das dubiose Personal in Köln ultrarechten Szene. Mit den Radikalen der
Kommunen sind bereits fast ein Dutzend sich an die Spitze der Moschee-Gegner „Deutschen Liga für Volk und Heimat“
Pro-Köln-Ableger gegründet worden, die setzen konnte, lasten Kritiker auch den setzte Ex-Republikaner-Mitglied Beisicht
2009 bei den Kommunalwahlen antreten Stadtvätern an. Fast alle Ratsfraktionen Anfang der neunziger Jahre 1000 Mark
wollen – unter anderem in Gelsenkirchen, hatten den Bau einer Großmoschee Kopfgeld auf eine untergetauchte Asyl-
Duisburg, Düsseldorf, Essen und Bottrop. grundsätzlich begrüßt, ohne die Bürger bewerberin aus. Sein Vize Rouhs war
Wo keine neuen Moscheen geplant seien, hinreichend einzubinden. Eine Stadt- NPD-Mitglied. Und Vorstand André Picker
werde halt gegen die bestehenden ge- sprecherin sagt, nun aber würden wenigs- legte sich als Anwalt für die Nazi-Band
kämpft, sagt Beisicht. Und sogar die tens „Gespräche über die Höhe der Mina- Weiße Wölfe ins Zeug, die bereits Liedzei-
Hauptstadt haben die Kölner Rechtspopu- rette“ geführt. Die etablierten Parteien, len wie „Juda verrecke und Deutschland
listen im Visier: Funktionäre ließen im so sieht es jedenfalls Forscher Häusler, erwache“ auf CD bannte.
Oktober in Berlin Postwurfsendungen ge- „ignorierten zu lange Ängste und Sorgen Mittlerweile haben die Pro-NRW-Leute
gen eine geplante Moschee in Charlotten- von Bürgern“. auch einen solventen Geldgeber gefunden.
burg verteilen und gründeten nebenbei die Denn kürzlich trat der Solinger Bauunter-
Bürgerbewegung „Pro Deutschland“. nehmer Günther Kissel, 90, der Partei bei.
Verfassungsschützer halten es für mög- Der Greis ließ auf seinem Firmengelände
lich, dass Beisicht und seine Kameraden schon einmal den britischen Holocaust-
mit ihrem Kampf gegen Muslime und Mo- Leugner David Irving fabulieren.
scheen bei Wählern punkten – und im Kissel trennt freilich sauber zwischen
ROLAND GEISHEIMER / ATTENZIONE

Westen gar an der NPD vorbeiziehen Politik und privaten Geschäften: Die von
könnten. Deren Kader, die traditionell eher ihm gegründete Firma, deren geschäfts-
den Schulterschluss mit Israel-feindlichen führender Gesellschafter er nach wie vor
Muslimen suchen, versuchen die neue ist, arbeitet derzeit an einem Projekt, das
Konkurrenz zu blockieren: In Münster so gar nicht zur Partei passen will. Das
gründeten sie sogar einen Verein mit dem Bauunternehmen errichtet für voraus-
Namen „Bürgerbewegung Pro Münster“, sichtlich sieben Millionen Euro eine Groß-
um den Kölnern den Weg nach Westfalen „Pro NRW“-Chef Beisicht moschee in Duisburg-Marxloh.
zu erschweren. Kontakte in die ultrarechte Szene Andrea Brandt, Guido Kleinhubbert

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 33
Deutschland

E S S AY

Wi r We lt b ü rge r
von Dirk Kurbjuweit

I
m Jahr 2007 wurden die Deutschen Weltbürger, alle Deut- Der dritte Ort, an dem sich das Weltgeschehen bemerkbar
schen. Bis dahin war ein Weltbürger, wer sich viel im Ausland machte, ist die deutsche Milchtheke, an der im Sommer die Preis-
aufhielt und eine feine Gesinnung zeigte. Jetzt ist Weltbürger, schilder ausgetauscht wurden. Die Preise stiegen, und die über-
wer lebt. Die Deutschen sind tiefer denn je in das globale Ge- raschten Deutschen mussten lernen, dass dies mit dem neuen
schehen verstrickt, ob sie wollen oder nicht. 2008 werden sie sich Milchdurst der Chinesen zu tun habe. Deren Wohlstand steigt,
in dieser neuen Rolle zu bewähren haben. Aber wie? Welche Ei- und bei ihrer großen Zahl hat das Folgen für die Weltmärkte.
genschaften braucht der deutsche Weltbürger? Auch Brot, Butter, Bier, Öl, Gas und zuletzt sogar Tannenbäu-
Mit einer neuen Bürgerlichkeit kommt man da nicht weit. Wer me wurden oder werden teurer, weil die Nachfrage weltweit ge-
die Deutschlandfahne schwenkt, die Familie ehrt und die Kinder stiegen ist, das Angebot aber nicht Schritt halten kann. Damit wur-
Latein lernen lässt, ist den neuen Herausforderungen längst nicht de drastisch spürbar, dass die Deutschen nicht nur weltweit um
gewachsen. Auch der innere Linksrutsch macht noch keinen gu- Jobs konkurrieren, sondern auch um Rohstoffe bis hin zum
ten Weltbürger. Solidarität ist zwar auch für die neue Zeit ein schlichtesten Nahrungsmittel.
wichtiger Begriff, aber in der deutschen Debatte wird er nur na- Das alles lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Das Jahr
tional und nach alten Mustern verwendet. Mit links und rechts 2007 eröffnete den Generalangriff auf die Lebensweise der Deut-
lässt sich hier nicht hantieren. Diese Kategorien sind zu klein schen und des Westens insgesamt. Die Terroristen wollen uns
geworden, zu eng für die all- aus dem Wohlgefühl der politi-
tägliche Verstrickung ins große schen und wirtschaftlichen Frei-
Ganze. heiten bomben. Die Knappheit
Das abgelaufene Jahr brachte der Rohstoffe und der Kampf ge-
den Deutschen drei dramatische gen den Klimawandel deckeln
Veränderungen, die allesamt Phä- unsere Aussichten auf ewiges
nomene einer wachsenden Glo- Wachstum. Es sieht so aus, als
balisierung sind. Drei deutsche könnte das neue Weltbürger-
Orte standen dabei im Mittel- dasein bitter werden.
punkt.
Der eine Ort ist Heiligen-
damm, die schöne, weiße Stadt
an der Ostsee. Als sich die Staats-
D
as muss aber nicht sein. 2007
war das Jahr der Offenba-
rung, nun weiß jeder, wie es
und Regierungschefs der G 8 im steht. 2008 kann damit begonnen
Juni dort trafen, sprachen sie werden, sich in der Welt einzu-
MARC-STEFFEN UNGER

nicht wie üblich vor allem über richten. Es geht erst einmal dar-
Wachstum. Es ging vielmehr dar- um, Haltungen zu finden für die
um, dem amerikanischen Präsi- neue Zeit. Einen der ersten poli-
denten George W. Bush ein tischen Tugendkataloge hat vor
klitzekleines Zugeständnis zu G-8-Gipfel in Heiligendamm: Der Himmel hat keine Grenzen 2400 Jahren der griechische Phi-
entlocken, ein Signal, dass auch losoph Platon aufgestellt. Der
die USA in den internationalen Kampf gegen den Klimawandel Stadtbürger, fand Platon, brauchte Tapferkeit, Besonnenheit,
einsteigen würden. Weisheit und Gerechtigkeit. Könnte das, was für die Stadt von da-
Heiligendamm hat gezeigt, dass die Weltagenda völlig neu aus- mals gelten sollte, auch für die Welt von 2008 und danach sinn-
sieht. Wer jetzt Wachstum anstrebt, muss sagen, wie es mit dem voll sein?
Klimaschutz zu vereinbaren ist. Auf den islamistischen Terrorismus gibt es für den hiesigen
Berichte von Forschern hatten Ende 2006 gezeigt, dass sich die Weltbürger nur eine Antwort, und die heißt: weitermachen. Wir
Erde schneller erwärmt als bislang angenommen. Und wenn sie lassen uns mit Gewalt nicht beibringen, wie wir zu leben haben.
sich weiterhin erwärmt, wird der Planet eines Tages nicht mehr Natürlich gibt es an der westlichen Lebensweise einiges auszu-
so lebenswert sein wie heute. Es kommen dann Stürme, Über- setzen, aber das diskutieren wir nicht mit Leuten, die Bomben
schwemmungen und Hitzeperioden, die vielen Menschen die Le- basteln, und auch nicht mit ihren Sympathisanten. Deren einzi-
bensgrundlage rauben könnten. ges Ziel ist es, eine freie Gesellschaft in eine unfreie zu verwan-
Mit diesem Szenario im Blick rückt die Welt noch enger zu- deln, und die Freiheit bleibt das Fundament von allem, dazu
sammen. Der Himmel hat keine Grenzen, und was der eine an gehören selbstverständlich die Freiheit des Karikaturisten und
Kohlendioxid hinausjagt, kann die Lebensgrundlagen des ande- die Freiheit des Opernregisseurs.
ren zehntausend Kilometer entfernt beeinträchtigen. Die Freiheit ist dem Weltbürger so viel wert, dass er sie sich
Der zweite Ort, der die Deutschen zu Weltbürgern gemacht auch nicht von einem Innenminister mit den besten Absichten be-
hat, ist das sauerländische Dorf Oberschledorn, wo im ver- schränken lässt. Die Demokratie ist mit den bestehenden Geset-
gangenen September drei Islamisten festgenommen wurden, zen wehrhaft genug, und zur Demokratie gehört die Normalität,
zwei Deutsche und ein Türke. Sie planten Attentate, die Hun- also ein gleichmäßiges, verlässliches Gelten von Freiheiten und
derte das Leben gekostet hätten. Im Jahr 2007, verkündete Gesetzen. Deshalb ist Wolfgang Schäubles Äugeln nach einem
die Bundesregierung, ist Deutschland endgültig ins Faden- Deutschland im permanenten Ausnahmezustand, also ein
kreuz des islamistischen Terrorismus gerückt. Deutschland ist Deutschland der Beschränkungen, unangebracht. Wenn es so
jetzt Ziel. weit käme, hätten die Terroristen, die Feinde der Freiheit, ihren
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ersten Sieg errungen. 2008 sollte ein ganz normales Jahr werden, Politiker zu verlassen. In Sachen Klimaschutz ist der Weltbürger
egal was kommt. auch Weltpolitiker, also Entscheider. Er entscheidet täglich über
Dies ist ein Auftrag an die Weltbürger, nicht nur an die Politi- seinen Beitrag zum Klimaschutz. Nimmt er die Angebote der
ker. Innenminister Schäuble denkt auch deshalb so viel über Bundesregierung zur Wärmedämmung an? Fährt er 180 oder 110
Zurüstungen für die innere Sicherheit nach, weil er Angst hat vor auf der Autobahn? Ohne die richtigen Entscheidungen der Bür-
dem Tag danach. Das ist eine Angst vor der Angst des deutschen ger kann kein Klimaschutzabkommen Erfolg haben.
Bürgers, der einen blutigen Terroranschlag angeblich nicht ver- Hier kommt eine Tugend ins Spiel, die Platon Besonnenheit ge-
kraften kann, kopflos wird und der Politik hysterisch Versäum- nannt hat. Es ist ein schönes, nützliches und in diesem Fall ganz
nisse vorwirft. Diese Angst kann man Schäuble nehmen. Der Tag und gar treffendes Wort. Es passt zu einer Gesellschaft, die ihre
danach ist für den Weltbürger selbstverständlich ein Tag der Nor- Freiheiten liebt und die nicht religiösem Fundamentalismus wi-
malität plus Trauer. Es ist kein Tag der Verunsicherung. Es gilt wei- dersteht, um dann langsam in eine Ökodiktatur zu gleiten.
terhin: weitermachen. Das ist nicht Tapferkeit, aber eine Ver- Die Tugend Besonnenheit lässt einem alle Freiheiten, es geht
wandte davon: Standhaftigkeit. nur darum, sich vor einer Entscheidung zu besinnen und das Für
Für den ökonomischen Teil des neuen Weltbürgerdaseins gilt und Wider abzuwägen. Die Besonnenheit schafft die paar Se-
ein Satz, der vorn arrogant klingt, sich aber nach hinten freund- kunden oder Stunden, die die Vernunft braucht, um wirksam
lich entwickelt: Im Zweifel können wir die höheren Preise be- werden zu können. Denn die Vernunft ist viel langsamer als Gier,
zahlen, aber wir wollen nicht, dass es so weit kommt. Lust oder Eitelkeit, die es natürlich weiterhin geben soll, auch
Ein Land, das kaum Rohstoffe hat, kann nur auf seine Men- wenn sie keinen günstigen Klimakoeffizienten haben. Der Welt-
schen bauen. Sie müssen in der weltweiten Konkurrenz um Ar- bürger bleibt Mensch, aber als besonnener Mensch entscheidet er
beit so viel Wissen und Geschick anbieten können, dass sie be- mehr und mehr vernünftig im Sinne der Umwelt. Damit wird er
gehrt sind für die guten Jobs, die mit den hohen Gehältern. Das Avantgarde, bleibt jedoch tolerant. Der Porsche-Fahrer wird ihm
geht nur über Bildung und Ausbildung. Auch da landet der Welt- nicht zum Paria, der Porsche-Fahrer gehört weiterhin dazu.
bürger des Jahres 2008 in der Nähe von Platon. Aus Bildung folgt Das ist die neue Solidarität in den Zeiten der nahenden Kli-
nicht immer Weisheit, und Weisheit kommt manchmal ohne Bil- makatastrophe. Die Gesellschaft trägt klaglos jene mit, die
dung vor, aber eine Schnittmenge gibt es in der Regel doch. ökologisch unvernünftig handeln. Damit wird der Porsche-Fahrer
Es ist traurig, dass Deutschland zum Solidaritätsempfänger, was
in diesem Punkt immer noch ihn womöglich ins Nachdenken
nicht an der Spitze mitmischt. bringt. Im besten Fall wird er
Zwar sind die Ergebnisse bei der zum Ausgleich Solidaritätsgeber
Pisa-Studie, die Leistungen von und gründet eine Stiftung, die
Schülern misst, besser geworden, Bildungspatenschaften für Kin-
aber sie sind noch immer nicht der armer Familien übernimmt.
gut genug. Und Deutschland lässt Das klingt utopisch, aber manch-
einen Teil seiner jungen Bevölke- mal sind Utopien zu schön, um
rung chancenlos. Auch die jüngs- darauf verzichten zu können. Die
te Pisa-Studie hat gezeigt, dass Gesellschaft käme so jedenfalls
Kinder, die in armen Familien in ein interessantes Gleichge-
aufwachsen, diese Armut wahr- wicht. Jeder wäre Solidaritätsge-
scheinlich niemals loswerden, ber und -empfänger. Es wäre eine
JOCHEN ZICK / KEYSTONE

weil sie zu wenig Bildung ge- neue Form von Gerechtigkeit,


nießen und deshalb die guten Platons vierte Bürgertugend.
Jobs nicht kriegen können. Es hat allerdings keinen Sinn
In der globalisierten Welt wer- mehr, Gerechtigkeit nur national
den sie damit in die Zange ge- zu verstehen. Unter der CO2-
nommen: Sie kriegen nicht ein- Suppenküche (in Berlin): Auftrag an die Politik Glocke geht es mehr denn je
mal die schlechten Jobs, weil um den Ausgleich zwischen den
andere Länder jeden denkbaren Mindestlohn in Deutschland un- Gesellschaften. Es ist mit nichts zu begründen, dass die armen
terbieten können. Und sie werden besonders stark von den Länder, darunter immer noch China und Indien, nicht den Le-
steigenden Preisen für Brot oder Milch getroffen. Das heißt, das bensstandard der reichen Länder erreichen dürfen. Das heißt,
wenige Geld, das sie haben, ist auch noch wenig wert. sie werden wachsen und werden reichlich Kohlendioxid in die Luft
Bildung ist deshalb ein Auftrag an die Politik und jeden Ein- pusten, und wer ihnen das nehmen will, den werden sie mit Ver-
zelnen. Jeder muss eine Chance bekommen, und wer eine Chan- teilungskriegen überziehen.
ce hat, muss sie auch nutzen. Deutschland steht hier in einem in- Deshalb ist ein globaler Sinn für Gerechtigkeit notwendig. Er
ternationalen Wettbewerb und sollte an der Spitze mitspielen. Das wird unsere Wohlstandsaussichten deckeln, denn wenn sich alle
ist der Egoismus des deutschen Weltbürgers. Beim Thema Bildung Wünsche erfüllen sollen, ist die Erde demnächst eine Sauna. Ge-
will er sich durchsetzen. recht im Sinne eines Weltbürgertums ist also, nicht danach zu
schielen, wie besonnen andere handeln, sondern zur Not Welt-

A ber es gibt auch ein Angebot an die Weltgemeinschaft. meister der Besonnenheit zu sein. Aber nicht mal das würde rei-
Deutschland nimmt das Umweltthema unbedingt ernst und chen, den Klimawandel zu stoppen. Die Besonnenheit ist wich-
geht schonend mit den Ressourcen um. Das nimmt tendenziell tig, aber noch wichtiger sind neue Technologien, und hier kommt
Druck von den Preisen und verlangsamt den Klimawandel. wieder die Bildung ins Spiel, die Dialektik der Bildung. Sie hat der
Auf diesem Gebiet gilt die Aufforderung: nicht weitermachen. Menschheit die Technologie beschert, die heute ein Teil des Pro-
Es muss sich etwas ändern, der Ausstoß von Kohlendioxid muss blems ist. Sie muss ihr die Technologie bescheren, die die Pro-
sinken, sonst wird der Klimawandel bedrohlich. Die Bundes- bleme löst. Auch deshalb darf keiner, der eine gute Idee haben
regierung schien das unter der Führung von Angela Merkel be- könnte, der Chancenlosigkeit ausgesetzt sein.
griffen zu haben. Sie kämpfte international für wirksame Ab- Der Kern des neuen Weltbürgertums ist daher Bildung. Zu-
kommen, doch nun, wo es drauf ankommt, schützt sie deutsche sammen mit der Standhaftigkeit, der Besonnenheit und dem Sinn
Hersteller von CO2-Großemittenten wie Porsche oder Mercedes für Gerechtigkeit rüstet sie die Deutschen für die schwierigen Jah-
vor Zumutungen aus Brüssel. Es reicht deshalb nicht, sich auf die re, die kommen. Es können trotzdem gute Jahre werden. ™
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FOTOS: MIKHAIL GALUSTOV

Ehepaar Chramow, Tochter Katja (im Dezember in Tjumen): Als sie wegzogen, gab es einen Supermarkt, jetzt sind es sechs

RUSSLANDDEUTSCHE

Im Osten schimmert die Hoffnung


Mit der ganzen Familie kam Nataly Chramow vor fünf Jahren aus Sibirien nach Deutschland.
Sie war jung, gut ausgebildet und sprach fließend Deutsch. Nun ist sie
nach Russland zurückgekehrt – wie viele andere Spätaussiedler auch. Von Merlind Theile

E
in halbes Jahr nach dem Einzug in in die sibirische Stadt, mit Mann und Kind deutschen Pass bekommen, Arbeit haben,
das Rotklinkerhochhaus am Stadt- und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. ein gutes Leben im Westen führen – diesen
rand von Tjumen sieht es nicht so Abends sitzt sie jetzt oft in ihrer Küche Plan hatte sie, und er glich dem Traum vie-
aus, als wären die Chramows nun endgül- und telefoniert mit den Eltern in Bayern, ler anderer Familien, als sich der Eiserne
tig angekommen. Im Wohnzimmer stehen ihre Mutter, Lilia Hoffmann, ruft fast jeden Vorhang öffnete und die Ausreise auf dem
die Couchgarnitur und der Flachbildfern- Tag an. Nataly Chramow sagt dann, dass es deutschen Ticket plötzlich möglich war.
seher vor nackten Wänden, das Kinder- ihr gutgehe, dass ihr die Arbeit großen Doch längst nicht alle fanden ihr Glück in
zimmer muss renoviert werden, für den Spaß mache und ihrem Mann Jurij auch, der fernen Heimat der Ahnen.
Esstisch fehlen Stühle. Die Räume wirken das sei das Wichtigste. Sie sagt nicht, dass Es gibt Tausende Geschichten von miss-
kahl, fast so, als sei das Leben woanders sie sich sonntags nach den Mittagessen mit lungener Integration und dem brennenden
geblieben. der ganzen Familie sehnt und dass sie Wunsch, wieder nach Hause zurückzu-
Nataly Chramow, 32, sitzt am liebsten in manchmal traurig ist, sie will nicht, dass kehren, vor allem nach Russland oder Ka-
ihrer Küche. Hier gibt es schon braune ihre Mutter weint. sachstan. Von den 2,2 Millionen Deutschen
Hängeschränke, eine Eckbank und einen Sie will zufrieden sein. aus den ehemaligen Sowjetrepubliken,
mittelgroßen Tisch, hier essen sie, meistens „Ich verstehe, dass im Leben nicht im- die seit Ende der achtziger Jahre nach
zu dritt. Früher waren sie oft 20 Leute, jeden mer alles angenehm ist“, sagt Nataly Chra- Deutschland eingewandert sind, gingen
Sonntagmittag traf sich die ganze Familie, mow, ihr Deutsch klingt fast perfekt. „Aber nach Schätzungen von Beratungsstellen
aber das ist vorbei. Nataly Chramows El- ich glaube, dass jede Entscheidung, die ich bislang mehrere tausend auf eigene Faust
tern, ihre Schwester, ihre Großmutter und treffe, die beste für mich ist.“ zurück. Sehr viele würden ihnen wohl fol-
all die anderen Verwandten sind in Deutsch- Eigentlich hatte sich Nataly Chramow gen, wenn sie nur könnten: Das Zentrum
land geblieben. Nur Nataly, geboren am für Deutschland entschieden. Mit der gan- für deutsche Kultur in Tjumen schätzt die
28. Februar 1975 in Tjumen, nahm ihren zen Familie samt deutschstämmiger Groß- Zahl der rückkehrwilligen Russlanddeut-
neuen deutschen Pass und kehrte zurück mutter einreisen, als Spätaussiedler den schen auf bis zu 25 Prozent.
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Deutschland

Elmar Welt kennt etliche dieser Fälle. Er das als Eingeständnis werten, dass die Doch spätestens mit der Russischen Re-
arbeitet in Karlsruhe für „Heimatgarten“, deutsche Aussiedlerpolitik in manchen Fäl- volution wurden die Privilegierten zu Ver-
ein Projekt der Arbeiterwohlfahrt (Awo), len gescheitert ist. „Wir haben jeden Tag folgten. Nach 1917 trieben die Bolschewiki
das Flüchtlingen bei der Rückkehr in ihr Kontakt mit den Schicksalen“, sagt Welt. die Russifizierung massiv voran, sie ent-
Herkunftsland hilft. Als das Projekt Ende „Die Leute gehen hier kaputt.“ eigneten viele deutschstämmige Siedler,
der neunziger Jahre gegründet wurde, be- Da, wo sie herkommen, haben sie viel- deportierten sie in Lager, verboten ihre
treute man vor allem Asylbewerber aus leicht noch Chancen. Vor allem in Russ- Sprache. Unter Stalin wurde alles noch
Ex-Jugoslawien. land boomt die Wirtschaft, das jährliche schlimmer. 1937 erschossen die Roten Na-
Doch seit ein paar Jahren fragen immer Wachstum liegt inzwischen bei sieben Pro- taly Chramows Urgroßvater. In der Fami-
mehr Aussiedler an, rechtmäßige Deut- zent. Das Land braucht dringend Arbeits- lie wusste niemand, warum, die Angst vor
sche also, die vom Staat sogar Geld dafür kräfte, besonders jene Hochqualifizierten, dem nächsten Akt staatlicher Willkür wur-
bekommen hatten, aus dem Osten hierher- die seit Ende der achtziger Jahre gen de zum ständigen Begleiter.
zuziehen, und die ihren deutschen Pass Westen gezogen sind. Präsident Wladimir Nach Hitlers Angriff auf die Sowjetunion
nun am liebsten wieder eintauschen wür- Putin hat kürzlich ein Förderprogramm im Juni 1941 wurden die Deutschen aus dem
den gegen ein Flugticket in die alte Hei- aufgelegt, um ausgewanderte Russland- Wolgagebiet vertrieben und in Viehwaggons
mat. Auf Welts Schreibtisch häufen sich deutsche heimzulocken. 80 Millionen Euro ins Niemandsland verfrachtet, vor allem
klagende Briefe, viele voller Scham dar- sollen in den nächsten fünf Jahren als Prä- nach Sibirien. Wer das überlebte, musste
Zwangsarbeit leisten. Nataly Chramows Ur-
n großmutter, deren Schwester und Schwa-
S i b i r i e
Nowosibirsk ger schufteten in einem Lager bei Tjumen.
1948 bezog Familie Hoffmann eine Ba-
Tjumen Omsk racke in der Stadt. Man war jetzt nicht
R U S S L A N D mehr von Stacheldraht umgeben, doch ein
Jekaterinburg Gefängnis war das Leben immer noch. Die
Moskau Deutschen hatten keine Pässe und durften
ihren Wohnort nicht unerlaubt verlassen.
DEUTSCH- Bei Verstößen drohten 20 Jahre Zuchthaus.
a
Wolg

LAND KASACHSTAN Nataly Chramows Großeltern Frieda


Burgkirchen Hussenbach und Wiktor Hoffmann, Jahrgang 1930 und
heute Linjowo
an der Alz 500 km 1931, prägten diese Erfahrungen fürs Le-
UKRAINE ben. Erst als Stalin starb, besserte sich
manches. In seinem Todesjahr, 1953, wur-
de Nataly Chramows Mutter geboren. An-
ders als ihre Eltern durfte Lilia Hoffmann
studieren, sie wurde Deutschlehrerin und
heiratete einen Russen. Allmählich war es
keine Schande mehr, deutsch zu sein.
Wenn Nataly Chramow an ihre Kindheit
in Tjumen zurückdenkt, fallen ihr die vie-
len russischen Freunde ein, aber keine Hän-
seleien gegen sie als Deutsche. Sie hat dun-
kelbraune Haare und slawische Gesichts-
züge, sie spricht Russisch wie alle anderen,
sie ist völlig integriert. Das Einzige, was sie
unterscheidet, ist ihr christlicher Glaube.
Dass sie sich als Russin auch deutsch
fühlt, belastet Nataly nicht, im Gegenteil.
„Als Jugendliche habe ich verstanden, dass
ich mit meinen zwei Kulturen wahrschein-
lich reicher bin als die anderen“, sagt sie.
Sie geht ihren Weg in Tjumen, schreibt
immer gute Noten, erst in der Schule, dann
Wohnsiedlung in Tjumen*: Sehnsucht nach den Verwandten im Studium. Nach fünf Jahren macht sie ihr
Diplom in Germanistik und Anglistik.
über, es in Deutschland nicht geschafft zu mien und Umzugshilfen fließen. Es ist Schon mit 22 Jahren fängt sie als Dozentin
haben. ein bisschen wie vor 240 Jahren, als sich für Deutsch und Englisch an einer der bei-
Die meisten bitten um Geld für ihre Nataly Chramows Vorfahren aus Süd- den staatlichen Universitäten an. Die Arbeit
Rückumsiedlung, weil Hartz IV dafür nicht deutschland an die Wolga aufmachten. erfüllt sie, aber sie bekommt dafür kaum
reicht, aber Welt kann ihnen nichts geben. Schon damals mangelte es im Riesen- Geld, umgerechnet nur 100 Euro im Monat.
Die Bundesregierung finanziere keinen land an Fachkräften. Ab 1763 warb Zarin Ende der neunziger Jahre taumelt die
Tourismus, das sei immer die Maxime der Katharina II., eine gebürtige Prinzessin aus russische Marktwirtschaft. Die Schlangen
Behörden gewesen, sagt Welt. Preußen, deutsche Handwerker und Bau- vor den Lebensmittelläden in Tjumen wer-
Immerhin: In Karlsruhe eröffnete die ern an, Zehntausende folgten ihrem Auf- den wieder länger, die Arbeitslosenquote
Awo vor wenigen Wochen Deutschlands ruf, darunter auch die Hoffmanns. Sie steigt und auch die Kriminalitätsrate. Die
erste Beratungsstelle für rückkehrwillige ließen sich in Hussenbach im unteren Hoffmanns haben Angst um ihre Nataly,
Aussiedler, mitfinanziert von der Landes- Wolgagebiet nieder, dort entstanden über wenn sie abends von der Uni mit dem Bus
regierung Baden-Württemberg. Man kann hundert deutsche Kolonien. Die Einwoh- zu ihnen nach Hause fährt.
ner genossen Steuerfreiheit, durften ihre Sie hören von immer mehr Familien, die
* Blick aus der Chramow-Wohnung. eigene Sprache und Kultur pflegen. in den sicheren Westen gehen. Russland-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 37
Deutschland

lernötigste, aber Nataly ist gerührt von der


Hilfsbereitschaft in diesem Land.
Und nur ein paar Schritte von ihrer neu-
en Wohnung entfernt hat ein Frauenarzt
seine Praxis.
Sie habe etwas mit den Eierstöcken, sagt
er, nichts Schlimmes, er verschreibt ein
Medikament. Nach wenigen Wochen ist
Nataly schwanger. Am 27. September 2003
kommt ihre Tochter Katja zur Welt.
„Das war eine sehr glückliche Zeit für
mich“, sagt Nataly. Eine Weile sieht es so
aus, als könnte ihr Traum vom guten Le-
ben in Deutschland in Erfüllung gehen.
Ihr Mann Jurij muss jetzt bloß noch Ar-
beit finden.
Im Sommer hat er nach dem Anfänger-
kurs noch einen viermonatigen Sprachkurs
gemacht, er beherrscht Deutsch nun ver-
handlungssicher. Doch seine russischen
Universitäts-Diplome werden in Deutsch-
land nicht vollständig anerkannt. Er be-
Taufe von Katja Chramow*: „Eine sehr glückliche Zeit“ kommt einen Bachelor in Ingenieurwesen,
aber sein Abschluss in Materialwissen-
deutsche wie sie, die in Deutschland gute Sie will zu den guten Ärzten in Deutsch- schaften ist hier nichts wert.
Jobs und schöne Häuser haben. Wir könn- land. Sie sollen ihr helfen, endlich Mutter Im Oktober 2003 beginnt Jurij erst mal
ten auch so leben, sagt der Vater irgend- zu werden. ein Praktikum beim PVC-Hersteller Vin-
wann, wir können auch nach Deutschland Alle warten jetzt auf den Aufnahmebe- nolit in Burgkirchen. Für 197 Euro netto im
ziehen. Doch Großvater Hoffmann wehrt scheid aus Deutschland, nur die Großmut- Monat macht er dort ein Dreivierteljahr
sich. Er will nicht, dass seine Familie noch ter hadert. Frieda Hoffmann ist schon über gute Arbeit, sein Zeugnis lobt Fleiß, Leis-
mal entwurzelt wird, nur um sich wieder 70, sie hat ihr Leben in Tjumen gelebt, ihr tungswillen, Initiative. Die erhoffte Fest-
heimatlos zu fühlen in der Fremde. Mann ist hier begraben, sie will ihn nicht anstellung bleibt aus.
Seine Enkelin Nataly hatte ein anderes verlassen. Es ist Gott, der sie schließlich Er entschließt sich, noch mal zu studie-
Bild von Deutschland. Als Studentin hat umstimmt. ren, um seinen Abschluss in Materialwis-
sie mal einen Monat dort verbracht, in Als in einer heißen Sommernacht im senschaften nachzuholen, er ist ja erst 25.
Hamburg, Lübeck und Lüneburg. Sie fühl- Jahr 2001 ein Nachbarhaus brennt und Im Oktober 2004 fängt er an der Univer-
te sich nicht fremd. „Diese Geschichte, die- die Flammen schon ganz nah sind, betet sität Augsburg an. Doch der tägliche Weg
se Architektur, ich war total von den Frieda Hoffmann zu Gott. Wenn er Re- von Burgkirchen ist weit und teuer, Jurij
Socken“, sagt sie. „Ich sah Deutschland gen schickt, will sie nach Deutschland nimmt sich für 200 Euro ein WG-Zimmer
durch eine rosa Brille.“ gehen, das verspricht sie ihm in dieser in Augsburg und sieht Frau und Kind nur
Nach dem Tod des Großvaters 1998 re- Nacht. Als wenig später dicke Tropfen noch am Wochenende.
det die Familie wieder über die Umsied- vom Himmel das Feuer löschen, steht ihr Nataly ist mit Katja die meiste Zeit al-
lung. Den Eltern geht es um Perspektiven Entschluss fest. lein. Manchmal geht sie mit ihrer Oma spa-
für die Töchter, Nichten und Nef- zieren, die Kontakte zu anderen
fen. Natalys Mutter Lilia Hoffmann SIE HABEN IHRE DIPLOME, SIE Müttern bleiben flüchtig. Niemand
füllt 20 Aufnahmeanträge aus, nie- trinkt mit ihr Kaffee, keine lädt sie
mand soll zurückbleiben. Der Zu- SPRECHEN DIE RICHTIGE SPRACHE, zu Krabbelgruppen ein. Freund-
sammenhalt der Familie ist das Al- ABER KEINER BRAUCHT SIE. schaften zu Deutschen aus ihrer
lerwichtigste. Generation entstehen nicht, keine
Für Nataly ist klar, dass sie nicht ohne Am 20. Juli 2002 bricht die ganze Fami- einzige in fünf Jahren. Nataly Chramow
Jurij geht, diesen großen, aschblon- lie nach Deutschland auf. Ihr Hab und Gut betont noch heute, wie nett die Menschen
den Russen, der in ihrem Unterricht saß. ist verschenkt und verkauft, auf die Reise in Bayern gewesen seien, sie gibt nieman-
Seit 1999 sind die beiden ein Paar, im nimmt jeder nur einen Koffer mit. Sie sind dem die Schuld dafür, dass sie vor Ein-
August 2001 ist Hochzeit. Jurij Chramow 20 Leute aus 3 Generationen. samkeit depressiv wurde.
hat inzwischen zwei Diplome, in Inge- Sie fahren vier Stunden nach Jekaterin- Als die Tochter zwei Jahre alt ist, will
nieurwesen und Materialwissenschaften, burg, fliegen vier Stunden nach Köln, fah- Nataly unbedingt wieder anfangen zu ar-
beide mit Auszeichnung. „Wir waren ren weiter mit dem Bus ins Aufnahmelager beiten, noch vor Ablauf der dreijährigen
jung, und wir hatten gute Ausbildungen. Friedland. Bald steht fest, dass sie nach Erziehungszeit. Mit dem russischen Namen
Wir waren überzeugt, dass wir uns etwas Bayern kommen, nach Burgkirchen an der und dem russischen Diplom habe sie keine
aufbauen können in Deutschland“, sagt Alz, in Nachkriegswohnblocks im Ortskern. Chance, in Deutschland eine Stelle als Leh-
Nataly. Jurij und Nataly Chramow beziehen eine rerin zu finden, sagt der Berater der Ar-
Dass sie mit Jurij ein Kind will, weiß sie Wohnung im selben Haus wie ihre Eltern. beitsagentur, sie könne ja Nachhilfe geben.
schon lange, doch sie wird nicht schwanger. Anfangs besitzen sie keine Möbel, nur Nataly bewirbt sich bei verschiedenen
In Tjumen sagen die Ärzte, mit ihr sei al- Matratzen, aber sie sind glücklich, weil sie Sprachinstituten und bekommt nur Absa-
les in Ordnung, aber sie glaubt ihnen nicht. endlich eine eigene Bleibe haben. Vom So- gen. Den Regeln nach müsse sie auch fach-
zialamt bekommen die Chramows ein biss- fremde Jobs annehmen, sagt der Berater
* Lilia und Arkadij Hoffmann, Jurij Chramow, Olga Hoff- chen Geld und Bescheide für Herd und der Arbeitsagentur. Nataly bewirbt sich als
mann mit Nichte Katja, Pfarrer Helmut Eisenrieder, Na-
taly Chramow, Frieda Hoffmann am 11. September 2004 in Waschmaschine, von den deutschen Nach- Kinderfrau und Altenbetreuerin. In den
Burgkirchen an der Alz. barn Möbel und Besteck. Es ist nur das Al- Absagen heißt es, sie sei überqualifiziert.
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Deutschland

Die dreiköpfige Familie lebt nun von mo- Besseren verändert in Tjumen, sagen die meine Ehe kaputtgeht durch die Belas-
natlich 702 Euro ALG II plus Kindergeld, Freunde. tungen.“
Jurij Chramow hat keinen Anspruch auf Nataly und Jurij wollen das selbst se- Zurück in Bayern, verkaufen sie ihren
Bafög, weil er schon einen Hochschulab- hen. Sie kratzen ihre Ersparnisse zusam- alten Nissan, für den die ganze Familie zu-
schluss hat. Als 2006 in Bayern die Stu- men und fliegen an Weihnachten zu seinen sammengelegt hatte, er bringt noch 2000
diengebühren beschlossen werden, muss Ju- Eltern nach Tjumen. Euro. Mit Jurijs letztem Lohn bei MAN
rij die Uni nach drei Semestern verlassen. Er Es ist wirklich vieles anders geworden in reicht das für drei Flugtickets und den Um-
kann sich das Studium nicht mehr leisten. der 600 000-Einwohner-Stadt. Alte Fassa- zugscontainer. Die Spedition, die ihre Sa-
Wieder verschickt er Bewerbungen, den wurden renoviert, die Straßen wirken chen nach Tjumen bringt, nimmt aus
über 200 insgesamt, ohne den erhofften sauberer, neue Autos fahren herum. Deutschland noch den Hausstand von vier
Erfolg. Im Frühjahr 2006 schafft er sechs Nachts ist nun alles hell und bunt be- anderen Familien mit, die auch zurück
Wochen lang als Lagerarbeiter, Mitte Mai leuchtet, die Geschäfte sind lange geöff- wollen, nach Krasnojarsk, Omsk, Kasach-
bekommt er über eine Zeitarbeitsfirma net. Als die Chramows wegzogen, gab es stan.
eine Stelle als Schlosserhelfer bei MAN in einen großen Supermarkt, jetzt sind es Beim Abschied am Flughafen hat dann
Augsburg. Im Blaumann muss er für acht sechs, und die Einkaufswagen sind voll mit keiner geweint, sie hatten das so verabre-
Euro die Stunde Gussformen glattfeilen, Fleisch, Fisch und frischem Obst. Nataly det. Als Nataly, Jurij und Katja Chramow
es ist eine Drecksarbeit, für die am 6. April 2007 die Sicherheits-
man kein Diplom mit Auszeich- BEIM ABSCHIED AM FLUGHAFEN kontrolle am Münchner Flughafen
nung braucht. Wenn er abends passiert haben, abends gegen halb
nach Hause kommt, ist er zuse- HAT KEINER GEWEINT, acht im Terminal 1, Abschnitt C,
hends schlechter gelaunt. Wahr- SIE HATTEN DAS SO VERABREDET. dreht Nataly sich noch mal um und
scheinlich müsse man Deutscher guckt durch die Glasscheibe in die
sein, um Ingenieur zu werden, sagt er ein- schließt daraus, dass es den Leuten gutge- Halle. Dort stehen ihre Eltern und ihre
mal zu seiner Frau. hen müsse. Schwester, sie winken und lächeln ihr zu.
In den Nachrichten hören Nataly und Sie besucht ihre frühere Chefin an der Nataly Chramow winkt und lächelt zurück.
Jurij Chramow bald jede Woche, dass in Universität, die ihr gleich ihren alten Job Den Kloß in ihrem Hals schluckt sie runter.
Deutschland Lehrer und Ingenieure feh- anbietet. Jurij hört dasselbe bei der Firma, Sie darf jetzt nicht traurig sein, sie darf
len, dass man sogar Fachkräfte aus dem für die er vor der Umsiedlung als Mate- noch nicht mal zweifeln. Sie will die rich-
Ausland anwerben will. Sie verstehen das rialwissenschaftler gearbeitet hat. Man tige Entscheidung getroffen haben.
alles nicht. Sie haben ihre Diplome, sie freue sich, wenn er wiederkomme. Gegen 20 Uhr steigt sie mit Mann und
sprechen die richtige Sprache, sie sind so- Seinen Eltern gehört eine Dreizimmer- Kind in eine Tupolew 154 der russischen
gar schon hier, aber keiner braucht sie. wohnung in einem Rotklinkerhochhaus am Fluglinie UTair, noch fünfeinhalb Stunden
Im Herbst 2006 kommen Freunde aus Stadtrand. In ein paar Monaten könnte er bis Tjumen. Pünktlich um halb neun hebt
Tjumen zu Besuch. Sie sind auf der Durch- mit Nataly und Katja dort einziehen, zum die Maschine ab. Die Eltern weinen erst,
reise nach einem zweiwöchigen Griechen- Preis der Nebenkosten, weniger als 100 als sie wieder im Auto sitzen.
land-Urlaub. Nataly und Jurij haben in Euro im Monat. „Es ist tragisch“, sagt Nataly Chramow
den vergangenen Jahren nie Urlaub ge- Die Rechnung ist einfach. In Bayern gibt jetzt beim Tee in ihrer Küche in Tjumen,
macht, bloß vier Tagesausflüge nach es Natalys Familie. In Tjumen gibt es gute eigentlich waren die Eltern ja vor allem
Salzburg. Die Freunde erzählen vom Wirt- Arbeit, alte Freunde und eine günstige für sie von hier weggegangen. „Aber das
schaftsboom in der sibirischen Stadt, von Wohnung. Nataly Chramow tut die Ent- Leben in Deutschland war nicht mein
den riesigen Förderanlagen für Gas und scheidung weh, aber nach dem jahrelangen Leben.“
Erdöl, von ihren guten Jobs bei Lukoil Frust denkt sie, dass sie wegmuss aus Grau muss es gewesen sein, denn Nata-
und Gasprom. Es habe sich vieles zum Deutschland. „Ich hatte Angst, dass sonst ly Chramow sagt, ihr Leben in Tjumen sei
nun bunt. Sie will das Gute sehen. Sie hat
hier Freundinnen, und sie hat einen Job,
der ihr große Freude bringt und immerhin
200 Euro im Monat, plus Extrageld von
ihren Nachhilfestunden. Die vierjährige
Katja fühlt sich wohl im russischen Kin-
dergarten, und Jurij Chramow kommt
abends glücklich von der Arbeit. Er ver-
dient monatlich 1000 Euro, davon kann
man in Tjumen gut leben, wenn man kaum
Miete zahlen muss. Vielleicht gibt es dem-
nächst ja noch Geld aus dem russischen
Fördertopf für Rückkehrer, die Flugtickets
und die Rechnung der Spedition haben sie
vorsichtshalber aufgehoben.
Dass auch ihre Eltern irgendwann wie-
der herziehen, glaubt Nataly Chramow
nicht. Sie sind zwar schon länger arbeitslos
in Bayern, aber in Tjumen haben sie keine
Wohnung mehr und später bloß Anspruch
auf eine winzige Rente. Nur Natalys
MIKHAIL GALUSTOV

Großmutter hat ihr gesagt, dass sie eines


Tages zurückkehren möchte, heim zu
ihrem Mann. Auf dem Friedhof in Tjumen
gibt es neben Wiktor Wilhelmowitsch
Rückkehrer-Paar Chramow bei Kirchenbesuch (in Tjumen): Das Gute sehen Hoffmann für sie noch einen Platz. ™
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 39
Computerspieler*
Hochgefühl und Macht im Netz

Dabei breitet sich das Spielproblem so


rasend aus wie die Computer selbst. Elek-
tronisches Spielzeug war auch in diesem
Jahr heißbegehrt. Bei jedem zweiten Kind
stand es nach Angaben der Marktforscher
der Firma Synovate auf der Wunschliste
für Weihnachten. Nur gut ein Drittel der
Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren
wünschte sich klassisches Spielzeug wie
Bastelsets oder Autos. Puppen und Stoff-
tiere standen nur noch bei 14 Prozent der
Kleinen auf dem Wunschzettel.
Offensichtlich leben schon viele 10- bis

SUEDRAUMFOTO / IMAGO
20-Jährige in einer Art Parallelwelt. „Süch-
tige befriedigen im Netz vor allem ihre
sozialen Bedürfnisse“, weiß der Psycho-
loge Thomas Hintz vom Mannheimer Zen-
tralinstitut für Seelische Gesundheit. Sie
suchten Gesprächspartner und Bestäti-
einer Sucht. Manche Schätzungen gehen gung in der virtuellen Welt und vernach-
SPIELSUCHT
von rund 1,5 Millionen Abhängigen in lässigten darüber ihr soziales Leben in der

Ork statt Deutschland aus.


Die Wissenschaftler fordern ein Ein-
schreiten der Politik, denn die Mechanis-
Realität.
Anders als bei einer Drogenabhängig-
keit wird das Hochgefühl bei der Spiel-

Haschisch men der Abhängigkeit seien mit denen der


Alkoholsucht vergleichbar. „Die Zahlen
sind erschreckend und fordern die sofortige
Umsetzung flächendeckender Jugend- und
sucht nicht von einer Substanz produziert,
sondern durch soziale Erfolge. Die Heran-
wachsenden werden nicht high vom Hasch,
sondern berauschen sich an ihrer Rolle als
Hunderttausende Deutsche sind
Spielerschutzmaßnahmen“, sagt Sabine Ork, Elfe oder Ritter. „Im Netz habe ich
süchtig nach Computerspielen. Grüsser-Sinopoli von der ISFB. Mehrere das Gefühl“, gab ein Online-Süchtiger bei
Weil es keine ausreichenden tausend Spieler wurden befragt, darunter einer Untersuchung zu Protokoll, „ich
Therapieangebote gibt, setzen Hunderte Grundschüler. Das Fazit: Viele kann Entscheidungen treffen, ich habe
Betroffene auf Selbsthilfe. von ihnen sind kaum mehr sozialfähig. Macht.“ Auf die Frage, warum er denn so
Bei Thomas begannen die Probleme mit oft vor dem Computer sitze, erklärte ein

W
ie immer war Thomas R., 17, nach einem gutgemeinten Weihnachtsgeschenk: Junge: „Da kann ich meinen Vater jeden
der Schule als Erstes in sein Zim- „World of Warcraft“ lag 2006 unter dem Tag totschießen.“
mer geeilt, um den Computer Baum, und auch die zusätzliche Monats- Durchschnittlich 35 bis 40 Stunden pro
hochzufahren. Er verzichtete wie immer gebühr von zwölf Euro für das Spiel nahm Woche verbringen Extremspieler im Netz.
auf das Mittagessen, um keine Minute zu seine Mutter in Kauf. Sie war ja schon froh, Nicht jeder wird allerdings dabei zwangs-
verlieren, und wie immer war an Hausauf- dass er sich nicht so ein reines Ballerspiel läufig zum Abhängigen. „Es gibt Jungen,
gaben nicht zu denken. Aber an diesem gewünscht hatte. Sie wollte nicht altmo- die jahrelang ,World of Warcraft‘ spielen
Tag blieb der Bildschirm dunkel. Seine disch sein, schließlich, so hatte sie gelesen, und dann von einem Tag auf den anderen
Mutter hatte das Netzkabel einfach durch- gehe es bei dem Spiel ja auch um Team- aufhören, weil sie sich verliebt haben“, er-
geschnitten. Für Thomas brach die Welt, fähigkeit. klärt Forscherin Grüsser-Sinopoli.
seine virtuelle Welt, zusammen. Er rastete Doch bereits nach wenigen Wochen ver- Die unendlichen Weiten des Netzes ha-
aus, schrie seine Mutter an, schmiss eine ließ Thomas kaum noch sein Zimmer. Zum ben die Probleme verschärft, die beim Auf-
Flasche gegen die Wand, heulte und zit- gemeinsamen Essen erschien er nur sel- kommen von PC- und Konsolen-Spielen
terte vor Wut und rannte aus der Woh- ten. Er schwänzte sein Handballtraining, kaum absehbar waren. Online-Rollenspie-
nung. „Das war nicht mehr mein Kind“, blieb auch an den Wochenenden zu Hau- le wie „World of Warcraft“ – mit weltweit
sagt seine Mutter rückblickend. se. Morgens kam er kaum aus dem Bett, mehr als neun Millionen Abonnenten –
Noch ein Jahr zuvor war die Mutter weil er sich sogar nachts heimlich vor den ziehen mittlerweile Spieler über Jahre in
stolz auf den Gymnasiasten. Aber der Jun- Computer setzte. Und wenn die Mutter ihren Bann. Mit einem einfachen Lock-
ge aus Berlin-Friedrichshain, der zweimal ihn auf die schlechteren Schulnoten an- mittel: Sie belohnen diejenigen, die im Cy-
in der Woche zum Handballtraining ging, sprach, reagierte er aggressiv. Hilfe fand berspace die meiste Zeit verbringen. Über
sich am Wochenende mit seinen Kumpels sie schließlich bei der Telefon-Hotline der sogenannte Gilden verabreden sich die
im Jugendclub traf, der ordentliche Schüler ISFB, die zum sofortigen Einschreiten riet Spieler zu Online-Feldzügen, die mehrere
mit einem Notenschnitt von 2,8 war ein- und nun auf der Suche nach einem Thera- Stunden dauern können. Wer nicht mit-
fach abgedriftet: verschwunden in den un- pieplatz für Thomas ist. macht, dem droht Ächtung oder Aus-
endlichen Weiten der „World of Warcraft“, Die meisten Krankenkassen aber erken- schluss. Die Spieler erschaffen ein soziales
eines Online-Rollenspiels. nen die Diagnose Computersucht nicht an. Umfeld, das es nur noch im Internet gibt
Nun ist Thomas einer von Hundert- Obwohl sich der Spieldrang schleichend und Tag für Tag zur Teilnahme zwingt in
tausenden Computerspielsüchtigen in zu einem gesellschaftlichen Großproblem einem System aus Belohnung und Strafe.
Deutschland. Nach einer Studie der Inter- entwickelt hat, sind Therapieplätze in Während die neue Sucht schnell um sich
disziplinären Suchtforschungsgruppe an Deutschland noch immer rar. Erst in rund greift, können Wissenschaft und Politik nur
der Berliner Charité (ISFB) zeigte rund einem Dutzend Einrichtungen gibt es bis-
jeder zehnte Computerspieler Merkmale lang spezielle Angebote. * Auf der Games Convention im August 2007 in Leipzig.

42 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
langsam reagieren – allein schon hatte versucht, sich aus Liebeskum-
weil die neue Form der Abhängig- mer mit einem Küchenmesser um-
keit erst erforscht werden muss. Da zubringen.
es bislang wenige wissenschaftliche Die Sucht erfasst allerdings nicht
Untersuchungen gibt, ist die Krank- nur Jugendliche.„Bei uns melden
heit nicht einmal als solche aner- sich Rechtsanwälte, die wegen In-

STAR-MEDIA / INTER-TOPICS
kannt. Wer einen Therapieplatz ternet-Sucht ihre Praxis aufgeben
sucht, muss selbst zahlen, bei seiner mussten, verzweifelte Ehefrauen,
Kasse betteln oder auf „psychische die mit den Kindern dastehen,
Störung“ plädieren. Wenigstens während der Mann nur noch am
verschärfte das Bundeskabinett Computer zockt“, sagt Christine
kurz vor Weihnachten die Kenn- Hirte. Seit sie zusehen musste, wie
zeichnungspflicht für sogenannte Zielgruppe Kind: Erschreckende Zahlen ihr Sohn beim Spielen im Netz ver-
Ballerspiele. wahrloste, betreibt sie unter der
Es scheint ein wenig wie beim Wett- Reihe von Internet-Plattformen wie Netzadresse www.rollenspielsucht.de Auf-
lauf zwischen Hase und Igel zu sein. Poli- www.onlinesucht.de, auf denen sich Be- klärung.
tik und Wissenschaft haben auf die virtuel- troffene austauschen und Angehörige Die virtuelle Realität sei schon viel wei-
le Gefahr kaum reagiert, da ist die Indu- Unterstützung finden können. Es gibt ter als die gesellschaftliche Debatte in
strie längst weiter. Alarmiert durch die Berichte von Menschen, die den Ausgang Deutschland, sagt Medienwissenschaftler
schlagzeilenträchtigen Diskussionen über aus ihren künstlichen Welten nicht mehr Vorderer. „Video- und Online-Spiele ha-
Gewaltspiele, setzt sie längst auf neue finden. ben die Gesellschaft längst infiltriert. Ihre
Geschäftsideen, um vom Negativ-Image Ein „World of Warcraft“-Spieler etwa Bedeutung kann gar nicht hoch genug ein-
wegzukommen: „Der Trend geht klar erzählt von einem 14-jährigen Mädchen, geschätzt werden als Leitmedium“, mahnt
zu Online-Rollenspielen und ,Serious das sich in einen Mitspieler verliebte: „Es er. Forschung und Politik in Deutschland
Games‘“, sagt Peter Vorderer, Experte für gab keine Fotos, keine Telefonate, aber vernachlässigten fahrlässig „diese unend-
neue Medien an der Freien Universität beide waren fest davon überzeugt, dass sie liche Dimension“.
Amsterdam. Die „Serious Games“ sollen sich bis an ihr Lebensende lieben würden.“ Dabei hat die Spieleindustrie, deren
dem Spieler das gute Gefühl geben, es Das Problem nur: Der Junge wohnte 800 Umsatz in Deutschland bei 1,13 Milliarden
gehe auch um Gehirnjogging. Kilometer weit entfernt. Das Mädchen Euro liegt, schon die nächste Zielgruppe im
Alleingelassen vom Gesundheitswesen, wurde depressiv, weil es nicht zu dem Jun- Visier. Speziell auf Senioren zugeschnitte-
greifen die Angehörigen der Exzessiv- gen konnte. Eines Tages loggte sich dann ne Games sollen die wachsende Schar der
spieler zur Selbsthilfe – oftmals auch im die Mutter ein und fragte, was eigentlich Rentner an die Computer locken.
Netz. Inzwischen existiert eine ganze los sei. Da war es fast zu spät: Ihre Tochter Markus Deggerich, Irina Repke
Rückblick 2007

Was war da los,


Herr Blaszkiewitz?
Der Zoodirektor Bernhard Blaszkiewitz, 53,
über sein Jahr mit Knut

„Der 23. März 2007 wird mir noch lange in Erin-


nerung bleiben, an diesem Tag hatte Knut seinen
ersten öffentlichen Auftritt. Sogar CNN war da, als
Umweltminister Sigmar Gabriel die Patenschaft
für den kleinen Eisbären übernahm. Seitdem hat-
ten wir ein Plus von 500 000 Zuschauern und da-
durch Mehreinnahmen von über vier Millionen
Euro. Ich gebe zu, manchmal ging mir der Rum-
mel um das weiße Wollknäuel auf die Nerven,
Knut hat vieles untergehen lassen. Etwa unser
Spitzmaulnashorn Zawadi, das kurz nach Knut
CHRISTIAN SCHROTH / ACTION PRESS

auf die Welt kam. Oder das sehr seltene Aye-Aye


aus Madagaskar. Aber ich freue mich, dass wir
2008 in der Lage sein werden, größere Investitio-
nen umzusetzen. Die Gorillas bekommen eine Frei-
anlage, die Antilopen eine neue Halle und das Aqua-
rium eine frische Fassade. Und Knut wird nicht in
Vergessenheit geraten, da bin ich mir sicher. Er
wird zwar immer eisbäriger, aber er bleibt Knut.“

Blaszkiewitz (r.)

Ü B E R FA L L D E S J A H R E S setzt sich in der Nacht fort, TOTE DE S JAH R E S Kasse, tanzte als Stripperin
wird zur Straßenschlacht, ein und lernte so den texanischen
Hässliches Mob von Betrunkenen gegen
die eilends gerufenen Polizei-
Endlich Ölmilliardär Howard Marshall
kennen. Mit 26 heiratete sie
Deutschland Hundertschaften. Die Deut-
sche Presse-Agentur meldet
unsterblich ihn, mit 27 war sie Witwe.
Da hatte sie sich längst in

E igentlich war an der Stim-


mung nichts auszusetzen,
sagen Augenzeugen – anfangs.
am nächsten Tag: Hetzjagd
auf Inder. Dieser Begriff wird
die stürmische Debatte
A ls junges Mädchen
träumte Anna Nicole
Smith davon, dass die Welt
eine Kopie ihres Idols Mari-
lyn Monroe verwandelt: die
Haare gefärbt, die Brüste
Es ist der 18. August, die prägen, auf der ganzen Welt von ihr Notiz nähme. Als sie vergrößert, Star ihres eigenen
Mügelner feiern ihr Altstadt- ist Mügeln ein Thema. Die am 8. Februar tot aufgefun- Pin-up-Kalenders. Kurz nach
fest, als plötzlich, kurz nach „Hetzjagd“ wird zum Syn- den wurde, in einem Hotel- der Geburt ihrer Tochter
Mitternacht, am Zeltausgang onym für jene typisch deut- zimmer in Florida, hatte sie starb ihr Sohn aus erster Ehe,
Flaschen fliegen. Verletzte sin- sche oder ostdeutsche Frem- es endlich geschafft: Fernseh- an einem Drogenmix. Smith
ken blutend zusammen, Inder denfeindlichkeit, die jederzeit sender unterbrachen ihr Pro- wurde auf den Bahamas
und Deutsche gehen einander umschlagen kann in Lynch- gramm, Amerika, die ganze begraben, an seiner Seite –
an die Kehle. Was als Bier- und Pogromstimmung. Acht Welt nahm Anteil, auch an gestorben, wie eine Zeitung
zeltrauferei beginnt, mit frem- Anzeigen werden erstattet, dem absurden Vaterschafts- schrieb, an einer Überdosis
denfeindlichem Unterton, gegen Deutsche, gegen Inder. streit, der nach ihrem Tod Leben.
Monatelang ermittelt die Leip- um ihre einjährige Tochter
ziger Staatsanwaltschaft. An- entbrannte. Smith, 1967 als
fang Dezember beginnt vor Vickie Lynn Hogan geboren,
dem Amtsgericht Oschatz der starb an einer Medikamen-
Prozess; die Staatsanwalt- tenvergiftung, das Ende eines
schaft schließt einen Lebens, das ohne Alkohol
rechtsextremistischen Hinter- und Tabletten wahrscheinlich
grund aus, die Anklagen lau- gar nicht auszuhalten war.
ten auf Sachbeschädigung und Mit 16 die Schule abgebro-
DANNY MOLOSHOK / AP

Volksverhetzung. Am 5. De- chen, in einem Hähnchen-


zember ergeht das Urteil ge- grill gejobbt, dort ihren ersten
JAN WOITAS / DPA

gen den vermeintlichen Mann kennengelernt, mit 17


Haupttäter, Frank D., 23 Jahre Ehefrau, mit 18 Mutter. Sie
alt, Baumaschinenführer: acht arbeitete bei Wal-Mart an der
Monate Gefängnis, ohne Be-
Misshandelter Inder währung. Smith (2005)
44 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Gesellschaft
SUCHE DES JAHRES auf mehr nicht. Schon der KLÜGER WERDEN MIT: steht das in irgendeinem
Zeitpunkt, ab dem die Verbo- Reiseführer, aber die Deut-
Wo ist Maddie? te gelten, variiert. In Bundes-
ländern wie Niedersachsen
Maria Emilia schen verlangen immer Sopa
castellana. Das ist das Erste,

A m Anfang, im Mai dieses


Jahres, schien die Ge-
oder Baden-Württemberg
handelte man schnell, da darf
Santamarta was sie sagen beim Abend-
essen: Sopa castellana.
schichte klar: Madeleine Mc- in Restaurants seit dem 1. Au- Die 51-jährige Hotelbesitze- SPIEGEL: Die wollen kastili-
Cann, damals drei Jahre alt, gust 2007 nur noch in separa- rin im nordspanischen sche Suppe?
wurde aus einer Ferienanlage ten Raucherräumen geraucht Calzadilla de los Hermanil- Santamarta: Ja, das ist eine
in Portugal entführt. Es be- werden; in anderen Bundes- los über den Pilgerboom Brotsuppe mit Knoblauch
gann eine der größten Such- ländern gilt das Gesetz erst und Eiern. Die bestellen das
aktionen nach einem Kind, ab dem 1. Januar 2008. ständig. Ich meine, mir ist das
die es jemals gab. Die Eltern, Beispielsweise in Bayern, egal, aber komisch ist das
Gerry und Kate McCann, wo aber das schärfste Nicht- schon.
hielten das Interesse an dem rauchergesetz Deutschlands SPIEGEL: Kennen Sie eigent-

JESUS F. SALVADORES / WHITE STAR


Fall am Laufen, sie reisten gelten werde, so Experten. lich einen Mann namens
durch Europa, nach Afrika, Zum Jahresbeginn wird dort Hape Kerkeling?
Prominente versprachen Mil- das Rauchen in allen öffent- Santamarta: Nein, nie gehört.
lionen für Hinweise. Die Mc- lichen Gebäuden, in Gaststät- SPIEGEL: Das ist Deutschlands
Canns wurden die berühmtes- ten, aber auch in Festzelten, berühmtester Pilger. Sein
ten Eltern der Welt. Heute, also auch auf dem Oktober- Buch steht seit über einem
acht Monate später, ist nichts fest, verboten sein. Die längs- Jahr auf den Bestseller-
mehr klar. Gibt es überhaupt te Ausnahmeliste hingegen Santamarta listen.
einen Entführer? Haben die habe Nordrhein-Westfalen, Santamarta: Gut, dann
Eltern ihre Tochter selbst kritisieren die Deutsche SPIEGEL: Frau Santamarta, schicken Sie den mal vorbei –
getötet? Es tauchen immer Hauptstelle für Suchtfragen Ihr Hotel liegt direkt am er kriegt auch eine Suppe.
neue Zeugen auf, die Made- sowie das Deutsche Krebsfor- Jakobsweg. Wie gehen die
leine irgendwo gesehen haben schungszentrum. Im karne- Geschäfte? Zitate 2007
wollen. In England und Por- valfreudigen Nordrhein-West- Santamarta: Dafür, dass ich
tugal gibt es bereits Maddie- falen wird das Rauchen in erst seit August letzten Jahres »Ich wundere mich,
Bücher, sie ist jetzt, so scheint Gaststätten erst ab 1. Juli dabei bin, sehr gut. Langsam welche Phantasien das
es, eine Marke, ein ewiges verboten sein, in Festzelten wird es ruhiger, aber wir bei Männern auslöst.«
Mysterium. Nur die einzig darf weiter geraucht werden. hatten bis Mitte Oktober
wichtige Frage bleibt un- Bundesweit bildet sich immer wahnsinnig viele Gäste. Die CSU-Landrätin Gabriele Pauli
über die Zeitschriftenfotos, auf
beantwortet: Wo ist Maddie? stärkerer Widerstand bei SPIEGEL: Wie kamen Sie auf denen sie Latexhandschuhe trägt
Wirten und Verbänden: Der die Idee ein Hotel zu bauen?
D E B AT T E D E S J A H R E S Deutsche Hotel- und Gast- Santamarta: Meine Tochter
stättenverband unterstützt die brauchte einen Job, und in »Mami, das ist nicht
gerecht!«
Rauchfreie Zone Klage eines Wirts, der vor
dem Bundesverfassungs-
der letzten Zeit kamen immer
mehr Pilger an unserem Hof Paris Hilton, die wegen Trunkenheit
am Steuer ins Gefängnis musste
M an werde eine einheitli-
che Lösung finden, man
gericht gegen das Gesetz
vorgeht. Michael Windisch,
vorbei und fragten nach einer
Unterkunft. In unserem Dorf
wolle einen „Flickenteppich“ Geschäftsführer des Restau- gab es nur eine kleine »Drehort geht vor Inhalt.«
vermeiden, sagte Nie- Herberge, die immerzu aus-
Harald Schmidt auf die Frage,
dersachsens Minister- gebucht war. Da habe ich nach welchen Kriterien
präsident Christian dem Pfarrer ein Grundstück er seine Rollen aussuche
Wulff vor einem Jahr, abgekauft und darauf mein
bevor sich alle Län- kleines Hotel gebaut, die
derchefs trafen, um „Casa el Cura“.
»Alles, nur keinen
über ein Gesetz für SPIEGEL: In Deutschland ist
Porno.«
die 19 Millionen Rau- der Jakobsweg seit einiger Die Moderatorin Barbara
Schöneberger auf die Frage,
NIEHUES / ADVANTAGE

cher im Land nach- Zeit ein großes Thema.


welche Jobs sie annehmen würde
zudenken. Es sollte Santamarta: Das kommt mir
ein Sieg der Vernunft auch so vor. Wir haben immer
über den Föderalis- mehr deutsche Gäste, und die »Ich brauche keinen
mus werden. Heraus- sind völlig in Ordnung. Die Ferrari mehr, den Learjet
gekommen jedoch ist kommen an, duschen, essen habe ich auch verkauft.
eine Gesetzessammlung von rants „Malermeister Turm“ und legen sich ins Bett. Das Ich konzentriere mich
Bund und Ländern, die weit in Goslar, will auf das Urteil sind mir die liebsten Gäste. jetzt wieder auf die
entfernt davon ist, das Rau- nicht warten. Er hat aus Die meisten sind ja müde vom wirklich wichtigen Dinge
chen in Deutschland einheit- Protest gegen das Gesetz in Laufen. Nur frage ich mich,
lich zu regeln. In Landesbe- Niedersachsen drei Löcher in ob es in Deutschland keine
im Leben. Ein Porsche
hörden, in Schulen, Kranken- die 30 Zentimeter dicke Suppen gibt? Boxster reicht mir
häusern und Universitäten Wand gemeißelt, für den SPIEGEL: Wie kommen Sie vollkommen!«
darf nicht geraucht werden. Kopf und die Hände, die so darauf? Der frühere Chef der nordhessi-
Darauf konnten sich die die Zigarette zum Mund Santamarta: Ich weiß nicht, schen Computerfirma Biodata, Tan
Siekmann, über seine Ansprüche
Ministerpräsidenten einigen, führen können. woran das liegt, vielleicht
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 45
Gesellschaft Szene

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE zwei Männer, schwarze Anzüge. Wie
im Kino, dachte Martin, gleichzeitig war
ihm übel vor Angst. Was soll das?

Terrorist für eine Nacht Mr Norén, wir stellen die Fragen.


Welchen Vereinen gehören Sie an, Mr
Norén?
Wie ein Schwede zum Islamisten gemacht wurde Sind Sie religiös?
Warum hassen Sie die USA?

W
ütend? Und ob, er kochte, er Zehn Jahre war Martin mit seiner Sein Koffer wurde gebracht, jede Un-
zitterte vor Zorn und wegen Freundin I. zusammen gewesen, ein klei- terhose untersucht, seine Bücher, sein
der erlittenen Demütigung; er nes Haus, drei Kinder; für ihn eine Ehe, Laptop, sein Kulturbeutel, Schuhe, Stif-
brannte darauf, den zu finden, der ihm wenngleich ohne Trauschein. Etwa die te, Kalender.
das angetan hatte, vilken skitstövel, das Hälfte aller Ehen in Schweden wird Sprechen Sie Arabisch?
Arschloch – und er hatte Zeit, darüber geschieden, so war es auch bei Martin, Wer sind Ihre Kontaktleute zu al-
nachzudenken, auf jenem Rückflug knapp drei Monate vor diesem Orlando- Qaida? Reisen Sie nach Afghanistan?
nach Schweden, nach der abscheulichs- Flug war er bei I. ausgezogen, „wir hatten Martin antwortete, stundenlang, zu-
ten Nacht seines Lebens, einer Nacht zu oft Streit“, sagt er. Und seine Schwie- nehmend verzweifelt: Er sei kein Ter-
der Verhöre, des Eingesperrtseins. gereltern, Elektromeister Holm und seine rorist, nur ein Angestellter aus Lund.
Er saß in Reihe 28. Economy, Mittel- Frau, hätten sich in alles eingemischt. Aber wie sollte er die Vorwürfe, die nie
sitz. Um ihn Leute, die braungebrannt „Ständig stand ich allein gegen drei.“ präzisiert wurden, entkräften?
waren, schliefen, eine Stewar- Haben Sie Schulden?
dess, die ihn immer wieder Wie oft waren Sie in Afgha-
beäugte, wie er durch dieselbe nistan?
Zeitschrift blätterte, die Buch- Papiere, Gürtel, Uhr hatte
staben und Bilder ergaben kei- man ihm genommen. Martin
nen Sinn. schätzte, dass das Verhör vier
Ich war sehr zornig, sagt Stunden gedauert hat, danach
Martin. wurde er in Handschellen in
Aber inzwischen habe sich das „Seminole State Prison“
sein Zorn verwandelt. gebracht, die Zelle war vollge-
Verwandelt, sagt er, in das kotzt, Urin und Kot, eine Be-

JOHAN BÄVMAN / SYDSVENSKAN BILD


kalte Bedürfnis nach Bestra- tonpritsche, eiskalt, die Decke
fung und nach Rache. war viel zu dünn, er lag auf
Am Tag zuvor hatte Martin dem Beton, bestialischer Ge-
Norén in Kopenhagen eine stank, er bibberte.
Boeing 757 bestiegen, Iceland- Nach sechs Stunden holte
air, Flug 689, Ziel: Orlando, man ihn raus. Zurück zum Flug-
Florida. Der Abflug hatte sich hafen, Einreise verweigert, hier
verzögert; sie landeten erst ge- ist Ihr Rückflugticket, sie be-
gen 23 Uhr in Florida, die Ma- Norén gleiteten ihn an die Maschine,
schine rollte aus, endlich, Mar- Mittelsitz, Economy, Reihe 28.
tin freute sich auf Bier und Bett. Da In Lund erstattete Martin Anzeige.
hieß es, die Passagiere sollen sitzen blei- Die schwedische Staatsanwaltschaft ver-
ben. Nur eine Formalität, erklärte der folgte die Denunziation von der FBI-
Kapitän über Bordfunk. Website zum Computer eines gewissen
Martin blieb also sitzen, schaute arg- Leif Evert Torbjörn Holm, Martins
los aus dem Fenster, der ausgestirnte Aus der „Süddeutschen Zeitung“ Schwiegervater. Holm wurde vernom-
Nachthimmel, er war zwar zu einer men. Wenn man die Protokolle liest
Konferenz hier, aber immerhin: Florida. Seine ehemaligen Schwiegereltern und mit Holm spricht, gewinnt man den
Martin Norén aus Lund, Schweden, und seine geschiedene Freundin konn- Eindruck eines selbstgerechten, gefähr-
Computertechniker, ein schmaler, stiller ten Martin die Trennung nie verzeihen. lichen Menschen.
Mann, kahlköpfig, getrennt lebend, drei Ihre Vorwürfe, Drohungen, Forderun- Ein Liberaler, heißt es, sei ein Kon-
Kinder, die er zu selten sieht. Kein reli- gen kannte Martin. Was er nicht wusste: servativer, der eine Nacht im Gefängnis
giöser Mensch, er glaubt nicht an Gott, dass sein Ex-Schwiegervater, Elektro- war. Martin knüpfte nach seiner Rück-
sondern an einen aufgeräumten Keller. meister Holm, kurz vor Martins Flug kehr an sein altes Leben an, aber etwas
Jeden Freitag holt er seine Halbschu- auf einer FBI-Website eine Warnung in ihm ist zerbrochen, und obwohl er
he, stellt sie auf, cremt sie, poliert sie, hinterlassen hatte, einen gewissen ein scheuer Mensch ist, weiß er, er
„es entspannt mich“. Martin Norén betreffend. Es ist einfach, sollte seinen Fall öffentlich machen.
Martin, im Flugzeug, wunderte sich. man klickt ein Formular an, trägt den „Man will nach Disneyland und landet
Warum dauerte das so lange? Die Namen dessen ein, den man denunzie- in einer Zelle.“ Das Verfahren ist in-
Stewardess kam jetzt durch den Gang, ren will. zwischen abgeschlossen, der Prozess
blieb stehen. Martin wurde jetzt aus dem Flugzeug soll jetzt beginnen. Martin Norén will
Ob Martin wohl mal mitkommen geführt, draußen schnappten ihn sechs die Bestrafung seines Schwiegervaters,
könnte, ja, mit Handgepäck? Bewaffnete. Führten ihn weg. Ein Ver- vielleicht Schadensersatz, auf jeden Fall
Merkwürdig. Aber er taperte mit. hörzimmer. Festgeschraubter Stuhl, Rache. Ralf Hoppe

46 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Gesellschaft

GELD

Ein smarter Hai


Wer über soziale Ungleichheit klagt, mag solche Leute nicht: Der Spekulant Andreas Panayiotou
ist durch gewagte Immobilien-Deals reich geworden. Nicht nur in London, dem
weltweit wichtigsten Markt der Großverdiener, findet er immer neue Kunden. Von Thomas Hüetlin

Immobilienspekulant Panayiotou, Londoner City: Der Finanzplatz Nummer eins, die Basis seines 715-Millionen-Pfund-Imperiums

D
ie Italiener strengen sich an, seit und dazu eine mächtige, schwarze Son- Euro, zahlbar 100 Millionen sofort, die
Stunden, aber es reicht nicht. Sie nenbrille von Prada. zweiten 100 in vier Jahren.
haben pinkfarbene Flamingos ge- Andreas Panayiotou, so schien es, war Andreas Panayiotou, der Londoner Fi-
zeigt, die Siesta hielten in einer grün- nicht beeindruckt. nancier und Immobilienspekulant, ist auf
schimmernden Lagune. Weiße Strände mit Aber jetzt hebt der Zypriot den Arm Shoppingtour und interessiert sich für gro-
blauem Wasser. Bebaubare Hügel mit duf- und zeigt auf einen Sarazenen-Turm, ei- ße Sachen, vorzugsweise in Europa. An-
tenden Wacholderbüschen. Eine Ferien- nes der Wahrzeichen der Insel. fang des Jahres erwarb er Einkaufszentren
anlage samt Fünfsternehotel. Ein sieben- „Ein hübscher kleiner Leuchtturm“, sagt in Rostock, Lübeck, Elsdorf und Düren,
gängiges Menü mit Dom Pérignon, Jahr- der Zypriot. dann ein Hotel in Liverpool, ein Hotel in
gang 1998, kistenweise. Der Sarazenen-Turm, das Symbol der Glasgow, schließlich einen Club Méditer-
Am Ende tat ihnen sogar ein Delphin Kampfkraft Sardiniens über Jahrhunder- ranée auf Sizilien.
den Gefallen und sprang am Horizont über te, ein hübscher kleiner Leuchtturm. Drei Seine Kriegskasse, sagt er, sei gut ge-
das Wasser, aber das Gesicht des Zyprioten Italiener schlucken kurz, dann grinsen sie füllt. Die „Sunday Times“-Rich-List, eine
aus London blieb trotzdem so hart, als tapfer, denn sie wollen, dass der Zypriot Zusammenstellung der reichsten Men-
hätte es einer in Stein gehauen. Kein Stau- aus London kauft. Die Flamingos, den Sa- schen, die in Großbritannien leben, führt
nen, keine Freude, keine Anerkennung, razenen-Turm, die Ferienanlage mit fast ihn mit einem Vermögen von 715 Millionen
nur die starren Lippen eines Pokerspielers 400 Zimmern, alles: für 200 Millionen Pfund auf Platz 104. Knapp hinter Paul
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McCartney, der auf 725 Millionen Pfund Der graue Maschendrahtzaun vor der Dinge einfach trennen. Drüben die Fünf-
geschätzt wird, ein wenig vor Lily Safra Terrasse komme weg. Ebenso die grünen sternekiste und hier das wahrhaft exklu-
mit 650 Millionen Pfund, jener Witwe, de- Plastikstühle, die veralteten Baumarkt- sive Resort, samt Privatkoch und Butler-
ren Mann 1999 in Monaco von seinem armaturen im Bad, die rostige Aircondition, service. Morgens geht der Typ zum Golf-
Pfleger getötet wurde. der blaue Bauernschrank, der Fernseher spielen, danach lässt er sich von seiner
Langsam fährt die dunkle Mercedes- aus der Vor-Flatscreen-Epoche. Frau oder Freundin verwöhnen. Das Letz-
Limousine einen kleinen Berg am sardi- „Unser Problem hier ist nicht das Fünf- te, was die Leute wollen, ist irgendeine
schen Meer hinauf, ein Tross von vier sternehotel, wo wir 1000 Euro oder mehr Form der Sichtbarkeit.“ Dann setzt Pana-
Autos, voll mit Bankern, Versicherungs- pro Nacht verlangen können“, sagt einer yiotou zu einer Pause an, in der man nur
experten und anderen Beratern, folgt. Auf der Italiener. „Sorgen macht uns der Vier- seinen Kaugummi hört. Zweimal beißt er
dem Gipfel öffnet der Chauffeur die rech- sternebereich. Die Leute, die Pauschal- zu, dann sagt er: „Wir nennen das super-
te hintere Tür des Mercedes: Panayiotou pakete haben wollen. Mit ihnen ist kaum exklusive Juwel ,Paradise Island‘.“
steigt aus. Geld zu verdienen.“ Es sei wie bei einer Paradise Island, wie eine Attraktion auf
dem Jahrmarkt oder ein Film von Disney.
Die Italiener schauen tapfer und setzen
wieder ihr Sarazenen-Turm-Lächeln auf.
In den Autos auf der Fahrt zu einem Tal,
in dem ein zweiter Golfplatz gebaut wer-
den soll, beginnen die Verhandlungen der
Berater. Von den 100 Millionen sind jetzt
noch 80 übrig, Tendenz weiter sinkend. Da
die Italiener die Anlage zwar verkaufen,
aber auch in Zukunft betreiben wollen,
wird eine Jahresmiete von sieben Prozent
des Kaufpreises vorgeschlagen. Selbst
wenn sich Panayiotou das gesamte Geld
von der Bank für fünf Prozent leihen wür-
de, blieben ihm 1,6 Millionen Euro Gewinn
pro Jahr. Dazu käme noch der Wert-
zuwachs der Anlage über die Jahre. Wenn
die Immobilie edel genug ist und er sie
billig genug bekommt, so Panayiotous Kal-
kül, dann kann er nur gewinnen – und
zwar groß gewinnen.
Deshalb spielt er auf Zeit. Als die 80
Millionen sich gen 70 bewegen, sehen
JIRI REZAC (L.); GRANT SMITH / VIEW PICTURES / REX FEATURES (R.)

selbst die handelserfahrenen Italiener rat-


los aus. Panayiotou verabschiedet sich
Richtung Privatflieger.
Sein Immobilienreich führt Panayiotou
vom Hauptquartier seiner Firma aus, einem
sieben Millionen Pfund teuren Townhouse
in bester Lage, Nummer sieben Portland
Place. Sein Büro im fünften Stock ist groß
wie ein halber Tennisplatz. Auf seinem
Tisch liegt sein wichtigstes Arbeitsgerät: ein
billiger Taschenrechner. Die Italiener lässt
er zappeln, immer noch. Sie interessieren
jetzt nicht. Panayiotou kümmert sich lieber
um den Londoner Immobilienmarkt. Jahre-
lang hat der seine Gier gestillt. Jetzt ma-
Es stehen etwa 30 Bungalows hier oben, Fluglinie: Allein die First Class bringe die chen ihm die Preise in dieser Stadt Sorgen.
70 Meter über dem Meer. Unten ist nichts großen Scheine. „Ich bin überzeugt, dass die Immobi-
als Brandung und Sand, aber das sind nicht Es scheint eine Sprache zu sein, die lienpreise in London um 20 Prozent über-
die Details, die Panayiotou interessieren. Panayiotou versteht. Der sagenhafte Reich- bewertet sind“, sagt Panayiotou, sein Ge-
Er will dealen, und das heißt, dass der Preis tum, den der Aufstieg des Finanzplatzes sicht straff und ernst wie ein Messdiener.
runter muss. Weit runter. London in den letzten 15 Jahren der Stadt „Die Dinge sind außer Kontrolle geraten.
Panayiotou füllt seine Lunge mit Luft, beschert hat, war auch der Grundstein von Die Preise müssen runter.“
sein Körper, über den er beim Frühstück Panayiotous Karriere vom Reinigungs- Besonders unter Druck sieht Panayio-
erzählt hat, er trainiere ihn jeden Tag ein- betreiber aus dem Londoner East End zu tou den Mietmarkt, dem er seinen Auf-
einhalb Stunden, lässt den grauen Anzug einem der wohlhabendsten Immobilien- stieg zu verdanken hat. Weil die Kaufprei-
straff sitzen. Gegen das Schweigen des moguln des Landes. Bei Bonuszahlungen se viel schneller gestiegen seien als die
Manns mit dem Geld setzen die Italiener von allein 14 Milliarden Pfund im vergan- Mieten, könne man den gesamten Bereich
ihre Beschwichtigungen. Ihre Bungalows genen Jahr für die Angestellten des Londo- zurzeit vergessen.
haben vier Sterne, pro Nacht kosten sie für ner Finanzzentrums, weiß Panayiotou über Deshalb hat Panayiotou bereits Anfang
zwei Personen 500 Euro, aber wenn man diese Klientel, dass sie nur zufrieden ist, dieses Jahres 700 seiner 2500 Londoner
die Italiener reden hört, klingt es, als seien wenn sie das Beste und Teuerste bekommt. Wohnungen für rund 200 Millionen Pfund
sie gezwungen, ein Elendsquartier anprei- Der Zypriot deutet jetzt hinüber zum verkauft. „Man kann die Mieten hier nicht
sen und gleichzeitig renovieren zu müssen. Fünfsternehotel und sagt: „Lasst uns die nennenswert steigern über Nacht, und nen-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 49
Gesellschaft

nenswert würde heißen, sie um die Hälfte fernt, trotzdem waren es Lichtjahre. Hier Reinigungsgewerbe“, sagt Panayiotou mit
zu erhöhen oder zu verdoppeln“, sagt er jener Teil Londons, in dem Karl Marx und tiefer Stimme, die nach Selbstsicherheit,
und stemmt seine frischgeputzten schwar- George Orwell die düstere Seite großer Rendite und Stolz auf die Immi-
zen Schuhe auf dem dunkelroten Marmor- des Kapitalismus studiert hatten, dort die grantenherkunft klingen soll, jene zyprio-
fußboden. „Aus diesem Grund breiten wir Beletage mit ihren mahagonigetäfel- tischen Wurzeln, die ins East End ver-
uns jetzt in Europa aus.“ ten Büros und weinseligen Drei-Stunden- pflanzt und dort gehärtet wurden.
Es ist kein Vordringen in feindliche Ter- Lunches. Ruhe galt damals im East End als Luxus,
ritorien. In seinem Hauptquartier stapeln „Wir kriegten kein Taschengeld, nichts“, den sich keiner leisten konnte. Wer auf
sich die Angebote von Leuten, die ver- sagt Panayiotou. Seine Eltern kamen Ende den turbulenten Straßen des Londoner Ar-
kaufen wollen, von Firmen, die auf der der fünfziger Jahre nach England, weil es, beiterviertels nicht untergehen wollte,
Suche sind nach Kapital, denn eines hat so Panayiotou, nichts gab auf Zypern, was musste nicht nur zäh sein, sondern vor al-
sich inzwischen herumgesprochen: Lon- die Familie satt gemacht hätte. „Wir waren lem schnell und wach. „Wenn du fünf Mi-
don ist weltweit der Finanzplatz Num- arm“, sagt er, „es gab dort unten kein Busi- nuten still stehst“, hieß eine der meistver-
mer eins. Hierher kommen die Leute, ness, keine Arbeit – nur kleine Dörfer.“ breiteten East-End-Regeln, „dann klauen
wenn sie Geld brauchen. Viel Geld. Sie Die Eltern hätten nicht Erfolg oder Reich- sie dir hier die Schnürsenkel.“ Panayiotou
kommen, weil sie ein gutes Geschäft ma- tum gesucht, sie hatten eigentlich nur ein wollte nicht zu den Opfern gehören.
chen wollen. Aber sie vergessen oft, dass Ziel: überleben. Weil es im Osten Londons, diesem La-
Leute wie Panayiotou erst einschlagen, Um das zu schaffen, daran ließen die byrinth aus alten Fabriken, brackigen
wenn große Gewinne und minimale Risi- Eltern keinen Zweifel, musste man hart Kanälen, Eisenbahnschienen und Wett-
ken garantiert sind. arbeiten. Die Mutter nähte Kleider in der büros, kein Grün zum Fußballspielen gab,
Trotzdem ist die Anziehungskraft des
Kapitalplatzes London groß. Nicht nur für
Panayiotous Italiener, für Geschäftema-
cher weltweit.
Noch vor 30 Jahren als „kranker Mann
Europas“ verhöhnt, hat vor allem die Bör-
se, die City of London, dank der Reformen
des Thatcherismus, Großbritannien ins
21. Jahrhundert katapultiert und sogar die
New Yorker Wall Street abgehängt. 43 Pro-
zent des internationalen Aktienhandels
wurden 2005 in London abgewickelt, in
New York 31 Prozent. Dazu existieren in
London mehr ausländische Banken als
in New York, der Versicherungsmarkt ist
inzwischen zweimal so groß.
Der Finanzmarkt dient nicht nur als
Hauptmotor der britischen Wirtschaft, er
ist auch als Jobmaschine auf der Insel
ohne Konkurrenz. Während nur noch 15
Prozent der erwerbstätigen Briten im In-
dustrie- und Baugewerbe arbeiten, sind
heute 20 Prozent im Finanzsektor an-
gestellt. Dazu hängen ein Drittel aller Jobs
im Dienstleistungssektor direkt von der
City ab.
Wenn es um die Zukunft des Landes
geht, daran lässt Premierminister Gordon
Brown keinen Zweifel, ist die City of Lon-
don das mit Abstand wichtigste Kapital des
Landes.
London ist ein eigener Planet, täglich
neu geformt von den Regeln eines ziemlich
ungebremst dahinwalzenden Kapitalismus.
Das Bruttosozialprodukt der Stadt hat das
reicher Länder wie Schweden oder der
Schweiz hinter sich gelassen. Panayiotou-Anlageobjekte*, -Privatyacht: „Größer, größer und noch mal größer“
Als Andreas Panayiotou, jetzt 42 Jahre
alt, in einem beigefarbenen, engen Sozial- Fabrik, versorgte Haushalt und Kinder, war Boxen für die Jungs in dieser Gegend
reihenhaus im East End von London auf- setzte sich abends zu Hause noch mal an die Freizeitbeschäftigung Nummer eins. In
wuchs, war die City noch ein elitärer Club die Maschine, schneiderte bis Mitternacht. manchen Haushalten gab es keinen Fern-
der oberen Klassen, in dem die Jobs über Der Vater versuchte, vom Ersparten sein seher, dafür zwei Paar Boxhandschuhe,
Generationen weitergereicht wurden. Neu- eigenes Geschäft aufzubauen. „Das war mit denen die Väter die Söhne aufeinander
einsteiger waren selten, und wenn, dann damals der Plan vieler Einwanderer. Die einprügeln ließen.
mussten sie sich leise eingliedern – Bowler- Italiener versuchten es mit Sandwichbars, Panayiotou lehnt sich am Scheitel seines
hut, Regenschirm und eine ebenso steife Griechen gingen Richtung Restaurants und schwarzglänzenden Konferenztisches zu-
Geschäftsordnung. rück. „Ich habe mit sieben angefangen zu
Das Reihenhaus der Panayiotous lag kei- * Dunblane Hydro Hotel in Schottland, Club Med Kama- boxen“, sagt er. „Das war mein Leben, da-
ne zwei Meilen von dieser Gesellschaft ent- rina auf Sizilien. mals. Alles war Boxen.“ Er liebte den Ring,
50 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
beim Training habe er mehr gelernt als in und der Bruder gingen zurück nach Zy- verdoppelte ihren Wert innerhalb eines
der jeder Schule. „Jeder in der Geschäfts- pern. Andreas sollte sich um die Geschäf- halben Jahres. Panayiotou wurde mutiger,
welt kann gut sein, wenn die Geschäfte te kümmern. er suchte nach billigeren Gegenden, Ge-
laufen. Aber wenn es Probleme gibt“, sagt Er wollte mehr, wollte ins Zentrum der bäuden, die kein seriöser Makler betreten
Panayiotou, „dann werden viele von den Macht, wo er heute seinen Firmensitz hätte, und er blieb an den Industrieruinen
Schwierigkeiten erdrückt. Genau dieses hat, aber er hatte keine Ahnung, wie. Nur, seiner Jugend hängen: den todgeweihten
Gefühl lernt man im Ring zu überwinden. dass dies mit dem Säubern anderer Leu- Betonklötzen des East End. „Ich nahm
Es gibt diese Minisekunde nachdem man einen Zirkel vom Radius ei-
getroffen wurde und denkt: ,Au weia, ich „ICH BEZAHLTE EINE MILLION, ner Meile“, sagt Panayiotou,
werde diesen Kampf verlieren.‘ Dann muss RENOVIERTE FÜR EINE MILLION, UND „zog einen Kreis um die
man Kraft finden, zurückzukommen. Wer angeblich begehrenswerten
diesen Weg kennt, verfügt über innere DER WERT WAR VIER MILLIONEN.“ Objekte und entschied mich
Stärke, Selbstvertrauen und den Glauben, für die Dinge, die keiner
dass am Ende alles gutgeht.“ Die Worte te Kleidung nicht klappen würde, ahnte wollte.“ In Hackney kaufte er ein still-
kommen ruhig und regelmäßig. er. gelegtes Krankenhaus und eine Schuh-
Abends arbeitete er als Rausschmeißer In der City hatte nach den Reformen fabrik, in Islington eine ehemalige Gewehr-
im King’s Oak, der Pub liegt an einer Aus- Margaret Thatchers eine neue Generation fabrik und viele Lagerhallen, in Dalston
fallstraße im Londoner Osten. Dunkles die Macht übernommen. Typen, die Pa- eine alte Schule.
Fachwerk, vier Biersorten und Chips mit nayiotou noch vor ein paar Jahren am „Nicht einmal die Leute in der Gemein-
Schinkengeschmack. Samstagabend aus dem King’s Oak gewor- deverwaltung konnten den Wert dieser Ge-
bäude richtig einschätzen“, sagt Panayio-
tou, „deshalb bekam ich immer einen guten
Preis. Die City wuchs und wuchs, Hun-
derttausende arbeiteten dort, und ich hat-
te die Klötze ein, zwei Meilen davon ent-
fernt.“ Die Börse wucherte, Panayiotous
Immobilien stiegen im Wert. „Ich bezahlte
zum Beispiel eine Million, renovierte für
eine Million, und als ich fertig war, betrug
der Wert des Ganzen bereits vier Millionen
Pfund“, sagt er. Aus 4 wurden 40, 400, 700.
Oder, wie Panayiotou es formuliert, „grö-
ßer, größer und noch mal größer“.
Ein paar Wochen später tigert Panayio-
tou wieder über den dunkelroten Marmor
seines riesigen Büros. Er wirkt wie frisch
aus der Wäscherei geliefert, trotzdem
durchdringt ihn eine Spannung, als sei er
ein Boxer, der durch die siebte Runde
keucht, obwohl er den K.o. des Gegners
für die dritte Runde geplant hat.
Was ist mit den Italienern?
Die Italiener seien over, sagt Panayio-
tou. Over. Aus. Vorbei. Der Preis war im
oberen Achtziger-Bereich steckengeblie-
ben. Es war kein Geschäft, wie es der Zy-
priot mag: Mieteinnahme höher als die
Zinsen plus gewaltigem Wertzuwachs über
die Jahre. Geschenktes Geld also, solange
man richtig einkauft. Sardinien war nicht
richtig.
Am Ende, sagt Panayiotou, hätte er den
Italienern noch 50 Millionen geboten. Die
Hälfte.
Mit geschenktem Geld wurde Panayio-
tou überschüttet im East End. Aber jetzt,
bei steigenden Zinsen, immer noch über-
Dave und Gary waren damals Panayio- fen hatte, verschwanden jetzt mit einem höhten Immobilienpreisen, sind die Ge-
tous beste Freunde, er hat sie nicht ver- Aston Martin in den Tiefgaragen der Bank- schäfte risikoreicher geworden, und Pana-
gessen, er lädt sie auf seine 50-Meter-Yacht häuser. Zwischen dem East End und der yiotou verabscheut Risiko. Gegen Risiko
ein oder ins vornehme Londoner Lokal City bestand eine unsichtbare Mauer, hat er seinen Zehn-Pfund-Taschenrechner,
Cipriani. Zum Beweis hat Gary, der von immer noch. Aber sie hatte Löcher be- und normalerweise tippt er so lange dar-
Sozialhilfe lebt und drei Kinder großzieht, kommen. auf herum, bis sich die Ungewissheit auf-
Fotos mitgebracht. „Wir wollten damals Panayiotou fing klein an. Er baute die gelöst hat: in gute Zahlen. Sichere Zahlen
alle reich werden“, sagt Gary. „Aber nur Wohnungen über den Wäschereien aus, – Gewinn.
Andy hat es geschafft. Nicht einmal Posh vermietete sie, kaufte vom Profit ein klei- Notfalls tippt er auch in den Abend hin-
und Becks können da mithalten.“ nes Haus in Islington, dem damaligen ein, er tippt die halbe Nacht, und meistens
1996 starb Panayiotous Mutter. Die Wohnort des Oppositionsführers der tippt er auch noch an den Wochenenden,
Familie verlor ihr Zentrum, der Vater Labour Party, Tony Blair. Die Immobilie die er auf seinem 100 Hektar großen Land-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 51
JIRI REZAC
Spekulant Panayiotou auf Sardinien: Nächstes Jahr, wenn noch mehr Leute bei fallenden Preisen verkaufen müssen, wird es noch besser

sitz in Essex verbringt. Essex könnte das Tippen auf seinem Zehn-Pfund-Taschen- die Zeit nicht einmal, sondern vierfach an-
Paradies sein, er hat eine nette Frau dort, rechner wieder mehr Spaß. Gerade vor- zeigt, was wahrscheinlich schon deshalb
drei Töchter, Pferde, seine Ruhe. Aber hin beim Lunch ist ihm ein Fondsmanager angenehm ist, weil sie jetzt wieder auf sei-
Panayiotou tippt auf seinem Zehn-Pfund- aus Deutschland über den Weg gelaufen ner Seite ist. „20 000 Pfund“, sagt er, „cash
Rechner, so, wie er auf den Sandsack ge- und fragte, ob sich der Milliardär das bezahlt.“
droschen hat, früher einmal. Weiter. Wei- Riverside-Portfolio, 23 Shopping-Zentren Draußen vor seinen Fenstern greift die
ter. Immer weiter. in deutschen Großstädten, nicht noch ein- Dunkelheit nach der Stadt, unten in der
Es ist ein neuer Kampf jetzt, wer zu we- mal ansehen möchte. Oxford Street drängen sich Zehntausende
nig hat, das sind seit der Krise dieses Herbs- „Ich habe doch schon vor zwei Monaten weiter vor den Ladenkassen, um trotz sin-
tes die Banken selbst. „Sie wissen immer gesagt, dass ich das Ding nicht mag. 122 Mil- kender Realeinkommen an jenem Lieb-
noch nicht, wie groß ihre Verluste sein wer- lionen Euro – zu teuer“, sagte Panayiotou. lingshobby der Briten teilzunehmen, das
den“, sagt Panayiotou. „Jetzt Geld zu lei- Dann fügte er hinzu, für 100 Millionen laut vieler Meinungsumfragen „Shopping“
hen ist sehr, sehr schwierig.“ Deshalb sei er würde er es sich noch einmal überlegen. heißt.
gezwungen, den Eigenanteil zu erhöhen, „Okay, klingt gut“, sagte der Fondsmana- Drinnen sitzt Panayiotou und strahlt wie
was sich lohne, solange die Preise fallen. ger und versprach, seinen Chef anzurufen, ein kleiner Junge, der süchtig danach ist,
Vor ein paar Tagen hat er die neuen Re- noch heute. im Autoquartett zu gewinnen. Der be-
geln angewandt. Er hat das beste Hotel in schleunigte Kapitalismus und
Cambridge erworben, dazu ein Schloss in SEIT DIE PREISE FALLEN UND sein unstillbares Verlangen
Schottland. Jeweils um die 50 Millionen, DIE BANKEN ANGESCHLAGEN SIND, nach mehr – er sitzt im
„alles fünf Sterne, alles Luxus, eine Suite Cockpit und spürt nicht den
kostet 1000 Pfund“, sagt Panayiotou. HAT ER WIEDER SPASS. Anflug eines schlechten Ge-
So wie sich die Welt entwickle, werde es wissens.
für die Klientel der Reichen immer einen Panayiotou sitzt jetzt ganz gerade. Er „Gerade“, sagt er, „habe ich mir mein
Markt geben. Auch in schlechten Zeiten, mag das. Die Regeln haben sich geändert, zweites Boot gekauft. 40 Meter, 12 Millio-
vielleicht sogar besonders in denen. Des- aber das Spiel läuft wieder zu seinen Guns- nen Pfund.“
halb soll in beiden Läden alles vom Feins- ten. Nächstes Jahr, erzählt er, wenn noch Die Bemerkung, er könne doch nur mit
ten sein: Luxus-Spas, Jahrgangs-Cham- mehr Leute auf dem Schlauch stünden und einem Boot herumfahren, lässt den Zy-
pagner, in Schottland ein Hubschrauber- bei fallenden Preisen verkaufen müssten, prioten überrascht aussehen – als höre er
landeplatz, obwohl die Autofahrt vom würde es noch besser. Wer Cash habe, solchen Unsinn zum ersten Mal, als stehe
Flughafen in Edinburgh nur 20 Minuten könne in der Depression richtig kassieren, so etwas nicht in den Spielregeln des
beträgt. Panayiotou grinst breit wie ein sagt er. Es sei fast wie früher – eine Win- Finanzplaneten London.
Geldschrank. „Man schafft es auch in 15 win-Situation. Er lacht – laut, dunkel, ehrlich in seiner
Minuten“, sagt er. „In einem Ferrari.“ Er ist jetzt gut drauf. Er blickt auf eine Gier. „Stimmt nicht“, sagt er. „Man kann
Seit die Preise fallen und die Banken weitere Neuerwerbung – eine überdimen- mal das eine Boot benutzen, und dann,
angeschlagen sind, macht Panayiotou das sionale Jacob-Uhr am Handgelenk, die ihm zur Abwechslung, das andere.“ ™
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Gesellschaft

Der Geisterfahrer
Ortstermin: Ein Ingenieur entwickelt in Bayern
das Traumauto der Deutschen.

E
r schlüpft auf der A 9 aus München 50 000 Interessenten den Loremo auf der mo wie eine Muschel. Er klappt die mit
heraus, er tritt das Gaspedal durch Internet-Seite des Unternehmens vorbe- der Frontscheibe und dem Lenkrad ver-
bis zum Anschlag und schert auf die stellt, unverbindlich. „Wenn nur fünf Pro- bundene Haube hoch, steigt ein und sinkt
linke Spur aus, dort bleibt er dann eine zent von denen bleiben“, sagt Sommer, in den Fahrersitz. Sommer und seine Kol-
Weile. Uli Sommer fährt Richtung Norden, „hätten wir schon ein Viertel einer Jahres- legen sind jetzt 1000 Kilometer mit ihm ge-
halb sitzend, halb liegend, er klammert produktion verkauft.“ 10 000 Autos im ers- fahren, und wenn sie ihn nicht über 80
sich an das Lenkrad eines Smart Roadster, ten Jahr, das ist der Plan. Stundenkilometer beschleunigten, brauch-
er nennt ihn den Flachgeklopften. Er mag Uli Sommer, 43 Jahre alt, ist der Sohn ei- te er 1,9 Liter für 100 Kilometer.
diese Form, das Flache, das Reduzierte, nes Vaters, der sein Auto verkaufte, als das Er stößt dann 50 Gramm Kohlendioxid
doch es reicht ihm nicht. Er will weniger. Waldsterben sichtbar wurde. Sommer trägt pro Kilometer in die Atmosphäre. Angela
Nach einer halben Stunde geht Sommer eine graue Gore-Tex-Jacke, Jeans und Merkel und Sigmar Gabriel, die das Klima
vom Gas, er lässt die Autobahn hinter braune Wildlederschuhe, sein Gesicht ist am liebsten in roten Winterjacken in Grön-
sich und fährt nach Wolnzach, einem klei- unrasiert, seine Haare wie für den Wind- land retten, streiten in der EU über einen
nen Ort zwischen München und Ingol- kanal geschoren. Ein Autobauer, der auf Grenzwert von 120 Gramm.
stadt, in dem sein Traum Wirklichkeit einem Parteitag der Grünen nicht auffallen Der Motor sitzt Sommer im Rücken, es
wird – ein Traum, den er wahrscheinlich würde. ist ein Turbo-Diesel, zwei Zylinder, 20 PS,
mit Millionen umweltbewussten das reicht für das Standard-
Deutschen teilt. modell. Das schnelle Modell soll
Sommer stoppt vor einer klei- drei Zylinder bekommen und
nen weißen Halle, in der sich ein 200 Stundenkilometer schnell
Rolltor hebt wie ein Vorhang. sein. Der Verbrauch würde im-
Dahinter steht ein kleines grau- mer noch unter drei Litern lie-
es Auto, das seinen Namen auf gen. Sommer will auch ein Mo-
der Innenseite seiner Fronthau- dell mit Elektromotor anbieten,
be verbirgt: Loremo. Es klingt weil manchen Kunden die Illu-
wie der Name eines italienischen sion gefällt, sie würden über-
Herrenparfums, das hat der Lo- haupt keine Abgase in die Um-
remo mit Ferrari gemeinsam. welt blasen. „Das sind Glau-
Loremo, „low resistance mo- benskriege“, sagt er. „Es gibt
bile“. Es ist ein Auto, das wenig keine saubere Energie, jede
Widerstand leistet. Energie hat Folgen. Es interes-
WOLFGANG MARIA WEBER

Der Entwickler geht um sein siert mich nicht, was der Motor
Objekt. Er fährt mit der Hand verbrennt. Hauptsache, es sind
über die Karosserie und sagt: nicht mehr als zwei Liter.“
„Wir wollen in allem an die Er schließt die Haube und
Grenzen gehen.“ schiebt den Loremo zurück an
Er meint die Grenzen nach Ingenieur Sommer: Hauptsache, es braucht weniger als zwei Liter seinen Platz, er muss zurück
unten. nach München in sein Büro, es
Der Loremo soll flach sein. Er soll leicht Ein Auto hat Sommer nie besessen, geht jetzt um andere Werte. Wenn der
sein. Er soll sparsam sein. Er soll billig nicht wirklich. „Das einzige Auto, von dem Prototyp sich vermehren soll, wenn er
sein. Er soll aber auch schön sein und ich mir einbildete, ich besäße es, war ein tausendfach vom Band laufen soll, zuerst
schnell. Ford Escort“, sagt er. Ein Freund hatte ihm in Deutschland, dann in Europa, vielleicht
Es klingt, als sei Sommer auf die Gegen- den Wagen geschenkt und dann wieder auch in China und Indien, brauchen Som-
fahrbahn geraten, als fordere er die Auto- abgenommen. mer und seine Kollegen jetzt Geld.
mobilkonzerne zum Crashtest heraus. Sommer passt in kein Lager, er ist Mit- Seit drei Jahren sind sie eine Aktien-
Der Prototyp des Loremo, der vor Som- glied im Allgemeinen Deutschen Fahrrad- gesellschaft, sie haben 45 Investoren, von
mer steht, er nennt ihn in sanftem Baye- Club und sagt: „Das Auto ist etwas, das die denen ihnen jeder mindestens 60 000 Euro
risch „Fahrerprobungsträger“, erreicht die Menschheit weitergebracht hat.“ Er erin- gab. Es sind Peanuts in diesem Geschäft, es
Ziele, die Sommer sich setzte. Er duckt nert sich, wie er als Jugendlicher im Kar- reicht nicht.
sich in Hüfthöhe vor seinem Entwickler. Er wendelgebirge vor seinem Zelt saß und die In den Büros hocken Sommer und seine
soll weniger als 15 000 Euro kosten. Er ist toten Bäume betrachtete und Angst be- Kollegen vor Bildschirmen und erklären
160 Stundenkilometer schnell. Er wiegt kam. Und wie er als Erwachsener an sei- Investoren am Telefon ihren Traum, 15
weniger als 600 Kilogramm. Er verbraucht nem Geburtstag ein Cabriolet mietete und gegen den Rest der Welt. Angelina Jolie
weniger als zwei Liter. Eigentlich müsste sich fühlte wie ein anderer Mensch, ir- und Robbie Williams haben sie schon. Sie
es das Auto des Jahres sein, „Klimakata- gendwie glücklicher. sitzen beide in einem Loremo, ihre Bilder
strophe“ ist das Wort dieses Jahres. In der Halle in Wolnzach, in der auch kleben an den Toilettentüren des Büros,
Seitdem Sommer den Plan für sein „Schwimmbadüberdachungen mit Niveau“ sie in einem orangefarbenen, er in einem
Traumauto veröffentlichte, haben nahezu gebaut werden, öffnet Sommer den Lore- blauen. Mario Kaiser

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 53
Trends

BAH N

Private
Russen-Loks
K ünftig sollen sich private Investoren

V. SAYAPIN / ITAR-TASS / PICTURE-ALLIANCE / DPA


an den russischen Eisenbahnen betei-
ligen können. Nach den Plänen des Kreml
soll dabei zunächst der Güterverkehr des
nach den USA zweitgrößten Bahn-Sys-
tems für private inländische Kapitalgeber
geöffnet werden. Die Russischen Eisen-
bahnen sind als Aktiengesellschaft in
hundertprozentigem Staatsbesitz. Das
Unternehmen kann den wachsenden
Transportbedarf der Wirtschaft nicht mehr
decken. Lokomotiven und Waggons stam- Güterzüge an der Baikal-Amur-Magistrale (in Tynda, Sibirien)
men überwiegend aus der Sowjetzeit und
sind verschlissen, 73 Prozent der Elektroloks sind schrottreif. aufs Tempo: „Wir brauchen schneller unabhängige Unterneh-
Bahnchef Wladimir Jakunin, Intimus von Präsident Wladimir men im Güterverkehr.“ Gegen Widerstände in der Bahn-Büro-
Putin, kann sich daher für die Zukunft „private Loks“ vor- kratie fordert der Vizepremier die „Schaffung von Wettbewerbs-
stellen. Sergej Iwanow, stellvertretender Regierungschef, will im bedingungen“. 80 Prozent des russischen Güterverkehrs wer-
Schienenverkehr gar „einen Wettbewerb verschiedener An- den auf der Schiene bewegt. Nur eine „qualitative Erneuerung“
bieter“ erreichen. Bis Februar wollen Regierungsexperten ein des Schienenverkehrs, mahnte Putin kürzlich auf einem Eisen-
konkretes Reformkonzept vorlegen. Alexander Schukow, fürs bahnerkongress, könne einen „ernsthaften Impuls für einen
Operative der Bahn-Reform zuständiger Vizepremier, drängt sozialen und wirtschaftlichen Aufschwung“ in Russland geben.

POSTDIENSTLEISTER prüfen. Am vergangenen Freitag BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT


mussten zu den bisherigen sieben drei
Einbruch bei Pin weitere Pin-Gesellschaften Insolvenz
anmelden. Intern wird derzeit auch
Ministerium kritisiert
N ach der Insolvenz seiner ersten
Tochtergesellschaften hat der ins
geprüft, ob dem strauchelnden Unter-
nehmen tatsächlich schon Kunden ab-
Auftragsvergabe
Schlingern geratene private Postanbie-
ter Pin nun auch noch die Polizei im
Haus. Am Sonntagabend vergangener
gesprungen sind, wie die Konkurrenz
behauptet. Demnach sollen bereits
50 Unternehmen und Behörden mit
I n der Affäre um die Aufträge für einen
Ex-McKinsey-Berater gerät der Chef der
Nürnberger Bundesagentur für Arbeit
Woche drangen Einbrecher in die einem Jahresumsatz von 30 Millionen (BA), Frank-Jürgen Weise, weiter unter
Büros der Berliner Pin Service Gesell- Euro von Pin zur Deutschen Post Druck. Das Bundesarbeitsministerium teilt
schaft SSC ein, die für das Unterneh- übergelaufen sein. Zahlen, die der die Ansicht des Bundesrechnungshofs,
men die Buchhaltung und die Lohn- private Postanbieter dementiert. „Wir dass die BA gegen das Vergaberecht ver-
abrechnungen macht. Die Diebe ent- können das in unserem Zahlenwerk stoßen und teilweise fünffach überhöhte
wendeten neben einzelnen Laptops nicht nachvollziehen“, heißt es aus Honorare gezahlt hat. Zudem bezweifeln
offenbar gezielt Festplatten mit dem Unternehmen. die Beamten – unter Verweis auf eine agen-
Zahlen aus der Personalbuchhal- turinterne Dienstbesprechung –, dass Weise
tung. Andere Wertgegenstände und sein Stab mit dem Vorfall nur am
ließen die Einbrecher dagegen Rande befasst gewesen seien. All das geht
zum Teil stehen. „Wir können aus einem Schreiben des Staatssekretärs
uns bislang keinen Reim darauf Rudolf Anzinger hervor, in dem Weise auf-
machen, was die Täter mit den gefordert wird, 30 detaillierte Fragen zu
Daten anfangen wollen“, heißt beantworten. Laut Rechnungshof hatte die
es bei Pin. Die Berliner Kripo BA auf Initiative von Weises Büro im
ermittelt, hat aber bisher keine Herbst 2005 mit Hilfe der Beratungsfirma
Hinweise auf die Täter. Die neue McKinsey ein Projekt zur Integration von
TOBIAS SCHWARZ / REUTERS

Pin-Geschäftsführung um den Arbeitslosen gestartet. Im Sommer 2006


Düsseldorfer Sanierungsexper- vergab die BA ohne Ausschreibung einen
ten Horst Piepenburg ist unter- Folgeauftrag in Höhe von drei Millionen
dessen damit beschäftigt, tiefer Euro – an einen der beteiligten Berater, der
in das Zahlenwerk der insgesamt sich inzwischen selbständig gemacht hatte.
91 Tochterunternehmen vorzu- Die BA beteuert, Weise habe die Details
dringen und deren Liquidität zu Pin-Mitarbeiter des Vergabeverfahrens nicht gekannt.
54 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Wirtschaft
WESTLB

Beweise für
Kursmanipulationen
I m Vorfeld der Verluste im Eigenhan-
del der WestLB, die sich im vergange-
nen Jahr auf über 600 Millionen Euro
beliefen, manipulierten Mitarbeiter der
Bank kontinuierlich die Kurse von VW-
Vorzugs- und Stammaktien. Das geht
aus mehreren Prüfberichten hervor, die
der Bank – aber auch der Staatsanwalt-
schaft – inzwischen vorliegen. So hat
die Handelsüberwachungsstelle der
Deutschen Börse festgestellt, dass der
Mitarbeiter B. „den Markt unzulässig
beeinflussende Order, insbesondere in
der Schlussauktion des jeweiligen
Handelstages, zum Nachteil der WestLB
AG eingestellt“ hat. Im Auftrag der
Bankenaufsicht BaFin stellten die Wirt-
schaftsprüfer der KPMG fest, dass die
Bank praktisch den gesamten elektroni-
schen Xetra-Handel von VW-Aktien do-
minierte. Zwischen dem 28. September
2005 und dem 30. März 2007, also über
CHRISTIAN BAUER/ ACTION PRESS

WestLB-Zentrale in Düsseldorf

anderthalb Jahre hinweg, betrug der


durchschnittliche Anteil der WestLB am
Xetra-Gesamtumsatz 63,5 Prozent bei
den Vorzügen und 22,7 Prozent bei den
Stämmen. Zwischen 1. Oktober 2006
und 30. März 2007 stieg der Anteil so-
gar auf 71,1 Prozent bei den Vorzügen
und 37,8 Prozent bei den Stämmen.
B. hatte darauf gewettet, dass sich die
Preisdifferenz, der Spread, zwischen
den beiden Aktiengattungen verringern
würde. Der BaFin liegen Anhaltspunkte
vor, dass B., um die gewünschte Kurs-
differenz zu erzielen, „marktbeeinflus-
sende Absprachen“ mit dritten Markt-
teilnehmern getroffen hat. In einem
routinemäßig mitgeschnittenen Telefo-
nat mit seinem Vorgesetzten räumt B.
auf die Frage, was denn mit dem Spread
bei VW sei, sogar ein: „Äh, den habe
ich unchanged gelassen.“ Kurz darauf
sagt er: „Das Ding (gemeint ist die
Preisdifferenz –Red.) wäre ohne mich
50 geworden.“ Tatsächlich lagen die
beiden Aktiengattungen an jenem Tag
nur etwa 30 Euro auseinander.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 55
Wirtschaft

S TA N D O R T

Wie viel Staat braucht das Land?


Privatisierung und Liberalisierung – diese Schlagworte standen einmal für mehr Wettbewerb bei
Bahn und Post, bei Energieversorgern und Kommunalbetrieben. Doch nicht immer sind die
Leistungen billiger und besser geworden. Bei vielen Politikern hat deshalb ein Umdenken begonnen.

A
n diesem Dienstag startet die Post den Bonner Riesen kommt keiner an, ob- Manche Kommunen vollziehen sogar
in ein neues Zeitalter. Zum Jahres- wohl immerhin 750 Unternehmen eine schon die Kehrtwende: Sie bringen Müll-
wechsel verliert sie das letzte Privi- Lizenz für den Briefversand erworben ha- abfuhr oder Wasserversorgung wieder
leg aus staatlicher Zeit, das Briefmonopol ben. Der Logistikkonzern bestimmt den zurück in staatliche Obhut (SPIEGEL
für Sendungen bis 50 Gramm. Dann ist der deutschen Markt weiter zu etwa 90 Pro- 24/2007).
Weg frei für echten Wettbewerb im Ver- zent. Die Post ist nicht bunt geworden, die Die Privatisierung hat ihren Zauber ver-
sandgeschäft. Eines bloß fehlt zum Gelin- alles überstrahlende Farbe bleibt Gelb. loren. Die Hoffnung ist verflogen, dass al-
gen: eine ernsthafte Konkurrenz. Die Privatisierung und Liberalisierung, les billiger und besser wird, wenn erst die
Der Hamburger Paketversender Hermes wie sie der Politik einst vorschwebte, ist private Hand die Dinge richtig anpackt:
Logistik hat Anfang Dezember alle Pläne gescheitert – nicht nur im Briefgeschäft: schneller, effizienter und kundenfreund-

RWE-Mitarbeiter in einem Kohlekraftwerk T-Punkt-Filiale (in Bonn)

JÖRN WOLTER / WOLTERFOTO.DE


LANDOV / INTER-TOPICS

STROM- TELE-
VERSORGER KOMMUNI-
begraben, zusammen mit der Viele Altmonopolis- licher. Das war die Verheißung,
KATION
niederländischen TNT Post auch Machtstruk- ten beherrschen heute und sie stimmt längst nicht
Privatpost zuzustellen. Und die turen unver- genauso wie in frühe- Wettbewerb immer.
Zukunft der Pin Group ist un- ändert ren Zeiten das Gesche- funktioniert Denn Privatisierung kann nur
gewiss, seit ihr Mehrheitsaktio- hen auf ihren Märkten, von gelingen, wenn der Staat gleichzei-
när, der Springer-Verlag, kein Geld offenem Wettbewerb keine Spur. tig – wie in der Telekommunikation –
mehr nachschießen will. Der Staat habe Der Börsengang der Deutschen Bahn für Wettbewerb sorgt. Sonst werden – wie
das Briefmonopol durch den Mindestlohn ist in weite Ferne gerückt, Konzern- bei der Post – nur die Monopolgewinne
„besser als je zuvor“ geschützt, begrün- chef Hartmut Mehdorn will Bahn und privatisiert. Und die lassen sich – wie bei
det Springer-Chef Mathias Döpfner zer- Schiene nicht trennen und erschwert so vielen Stadtreinigungen – ungeniert in die
knirscht seinen Ausstieg. Konkurrenten den Eintritt ins Geschäft. Höhe schrauben, wenn die öffentliche
Mag sein, dass der Manager auch ein- Auch die vier großen Energieversor- Kontrolle durch ein Parlament und die
fach das Marktpotential falsch eingeschätzt ger dominieren nach der Liberalisierung Wähler fehlt.
hat. Gleichwohl versteht es die Deutsche ihre Einflussgebiete wie eh und je, sie er- Postkunden stellen irritiert fest, dass der
Post AG zwölf Jahre nach dem Ende zeugen mehr als 80 Prozent des Stroms, Konzern sein Filialnetz kräftig ausgedünnt
der Bundespost noch immer glänzend, ihr das Oligopol besteht nahezu unangetas- hat, Tausende Briefkästen fielen der Spar-
Monopol beinhart zu verteidigen. Gegen tet fort. wut zum Opfer, manche Sendungen wer-
den heute später zugestellt als zu Bundes- So sensible Belange wie die Herstellung gaben leichtfertig aus der Hand zu geben.
post-Zeiten. Bahnreisende beobachten, von Banknoten, Briefmarken oder Perso- Der „Ausverkauf der Städte“, mahnt Ude,
dass viele unrentable Strecken stillgelegt nalausweisen sind nicht mehr allein Sache könne „kein Patentrezept zur Gestaltung
werden, 5000 Kilometer seit 1995, viele Ge- der Obrigkeit. Seit 2000 ist die Bundes- der städtischen Zukunft sein“.
meinden im Osten haben den Anschluss druckerei in Berlin in privater Obhut – was Die Zweifel an der kategorischen Über-
verloren. viele Innenpolitiker der Großen Koalition legenheit des Marktes wachsen. Politiker
Einige Dienstleistungen sind sogar teu- heute bereuen: Sie lassen prüfen, ob An- denken neu darüber nach, welche Auf-
rer geworden, seit der Staat die Märkte für teile am Unternehmen wieder zurückge- gaben Private übernehmen können – und
Dritte geöffnet hat. Als Städte wie Berlin kauft werden sollten – aus Sicherheitsgrün- was in öffentlicher Hand bleiben muss: Wie
oder Potsdam ihre Wasserversorgung teil- den. Denn was wäre, wenn künftig etwa viel Staat braucht also das Land?
privatisierten, stiegen die Preise dort dras- biometrische Informationen aus Millionen Vor einer Generation noch lautete die
tisch an, zum Teil um 20 Prozent. Reisepässen in falsche Hände gerieten? Antwort: so viel, wie zur Daseinsvorsorge
Der Wissenschaftler Ernst Ulrich von Inzwischen beurteilt mancher Politiker der Bürger nötig ist, und das wurde weit
Weizsäcker verweist gern auf das Beispiel seine früheren Entscheidungen in einem ausgelegt. Häfen, Krankenhäuser, Strom-
der deutschen Gebäudeversicherungen: anderen Licht. Hamburgs Bürgermeister erzeuger, Fluglinien, sogar Industriebe-
Nachdem die Länder sie in den Wettbe- Ole von Beust bedauert zutiefst, dass die triebe wie VW oder Veba – alles stand
werb entlassen hatten, sind die Prämien Hansestadt mit dem Verkauf ihrer Elektri- unter staatlicher Kuratel. Jahrzehntelang
weitaus teurer geworden. Denn jede der zitätswerke an Vattenfall Einfluss auf die konnte kaschiert werden, dass die Betrie-
privatisierten Versicherungen musste nun Strompreise verloren hat – und zudem eine be personell hoffnungslos überbesetzt wa-
ein Vertreternetz aufbauen. wichtige Einnahmequelle. Das würde er ren. Seit Anfang der neunziger Jahre al-
In einem Bericht an den Club of Rome heute nicht mehr tun, sagt Beust offen. lerdings hat sich einiges verändert.
kommen Weizsäcker und seine Mitauto- Auch kleinere Kommunen steuern um. Die Zahl der bedeutenden direkten Be-
ren zu einer paradoxen Erkenntnis: Die Im Landkreis Lüneburg übernimmt nach teiligungen des Bundes ist seit 1991 von
Privatisierung habe selten zu mehr Wett- 14 Jahren Privatbetrieb jetzt die kom- 136 auf 33 gesunken. Der Rückzug des

Schienennetz (in Frankfurt a. M.) Post-Chef Zumwinkel, Mitarbeiter


MICHAEL PROBST / AP (L.); OLIVER BERG / DPA (R.)

bewerb und nicht immer zu bes-


BAHN munale Gesellschaft Staates sei eine „von der breiten
POST
seren Angeboten geführt, zu- Börsengang für Abfallwirtschaft Filialnetz Öffentlichkeit leider nur unzu-
gleich aber sei sie oftmals über ungewiss (GfA) das Leeren der ausgedünnt reichend wahrgenommene Er-
das Ziel hinausgeschossen: „Es Mülltonnen, in der folgsstory“, meint Bundesfinanz-
scheint, das Pendel ist zu weit in Stadt erledigt sie diese Auf- minister Peer Steinbrück. Tatsäch-
Richtung Privatsektor ausgeschlagen.“ gabe bereits seit Jahren. Im Früh- lich gibt es einige Staatsbetriebe, die
Heute lässt der Staat Aufgaben von Pri- jahr hatte die GfA ein so günstiges An- sich regelrecht gesundgeschrumpft haben.
vaten erledigen, die bis vor kurzem noch gebot vorgelegt, dass der Kreis die Ge- Die Deutsche Lufthansa beispielsweise
selbstverständlich zum hoheitlichen Kern- bühren mit Jahresbeginn um 20 Prozent ist zu einem respektablen, vor allem ren-
bereich zählten. So werden immer mehr senkt. „Wir können Synergieeffekte nut- tablen Unternehmen gewachsen. Auch die
Gefängnisse von Sicherheitsunternehmen zen“, erklärt Geschäftsführer Hubert Rin- Privatisierungsbilanz in der Telekommu-
geplant, gebaut und oft auch betrieben. ge, warum er die private Konkurrenz aus- nikationsbranche kann sich sehen lassen,
Viele Kommunen haben sich inzwischen stechen konnte. zumindest aus der Sicht der Verbraucher.
von ihren Krankenhäusern getrennt, Hes- Kommunalbetriebe könnten durchaus Seit 1998 purzeln die Preise für In- und
sen hat sogar die Universitätskliniken in mit fremden Anbietern mithalten, meint Auslandsgespräche auf immer neue Tief-
Gießen und Marburg an einen privaten Münchens Oberbürgermeister Christian stände. In zehn Jahren sind die Kosten für
Konzern verkauft. Ude und warnt seine Kollegen davor, Auf- die Gesprächsminute in die USA um 98,8
Wirtschaft

Prozent gefallen: von rund 74 Cent auf 0,87 nen als mehrere. Dieses Unternehmen aber In manchen Fällen allerdings ist fraglich,
Cent. Dennoch gelang es der Branche, ist hin- und hergerissen zwischen wider- ob der Staat Privatanbietern überhaupt
ihren Gesamtumsatz seit 1998 um etwa ein streitenden Interessen: der öffentlichen allzu viel Raum geben sollte. Das gilt vor
Drittel auf 66 Milliarden Euro zu steigern. Aufgabe, in den Ausbau und die Wartung allem, wenn Fragen der nationalen Sicher-
Zahlreiche neue Anbieter haben sich von Schienen, Rohren oder Masten zu in- heit berührt sind.
am Markt etabliert. 85 Unternehmen vestieren, und dem privaten Anspruch, Dazu gehört zum Beispiel die Privati-
boten Ende 2006 eigene Telefon- und möglichst hohe Gewinne einzufahren. sierung der Flugsicherung: Hier hatte der
Datenleitungen an, darunter einige, die Ein solcher Interessenkonflikt lässt sich Bundespräsident so ernsthafte Bedenken,
es in puncto Preis und Service durch- nicht überwinden, wie die Briten dass er die Unterschrift unter ein
aus mit dem Altmonopolisten aufnehmen nach der Bahnprivatisierung in entsprechendes Gesetz verwei-
können. Hier ist ein echter Markt ent- den achtziger Jahren schmerzlich BUNDES- gerte.
standen. erfahren mussten. Die Auftei- DRUCKEREI Oder die Sicherheit der Ener-
Wesentlich nüchterner fällt da- Furcht vor gieversorgung: Was passiert,
gegen die Bilanz für den Brief- Sicherheits- wenn die russische Gasprom
markt aus. Das liegt allerdings lücken sich im großen Stil am deutschen
vor allem daran, dass keine Bun- Energiemulti RWE beteiligte und
desregierung die Liberalisierung letztlich die Preise diktieren
dieses Marktes ernsthaft voran- könnte?
getrieben hat. Die rot-grüne Ko- Auch eine private Bereitstel-
alition sagte einen festen Termin lung des wichtigsten aller Roh-
für eine Freigabe des Marktes so- stoffe ist heikel: „Wasser“, sagt
gar wieder ab. Und auch die jet- der Politiker Ude, „ist ein zu
zige Bundesregierung sträubt sich kostbares Gut, um es dem freien
und baut neue Wettbewerbshür- Spiel der Marktkräfte zu über-
den wie den Mindestlohn auf. lassen.“

TORSTEN LEUKERT / DPA


Noch düsterer sieht es auf dem Es steht viel auf dem Spiel. In
Energiemarkt aus. Obwohl der der Debatte um die Grenzen der
Staat die Gebietsmonopole der Privatisierung geht es nicht bloß
Gas- und Stromkonzerne schon darum, dass die Bürger zuverläs-
Bundesdruckerei in Berlin
1998 aufgehoben hat, ist das sig und bezahlbar mit elementa-
Gewerbe von regulärem Wett- ren Gütern versorgt werden. Ein
bewerb noch Lichtjahre entfernt. Rückzug des Staates hätte auch
Nur der Start war vielverspre- gravierende politische Konse-
chend: Aufgeschreckt von quir- quenzen.
ligen Angreifern, senkten die Wenn alles in private Hände
großen Versorger die Preise in- übergeben würde – Stadtwerke,
nerhalb weniger Monate um bis Krankenhäuser, Nahverkehr –,
zu 25 Prozent. was hätte das Parlament dann
Doch der Trend hielt nicht noch zu entscheiden?
lange. Anstatt die Anfangserfol- Viele Bürger fragen sich heute
ge abzusichern, Spielregeln für schon, warum sie fast die Hälfte
den Markt zu definieren und ihres Einkommens als Steuern
WALSH / IFA-BILDERTEAM

eine Behörde zu schaffen, die all und Abgaben abführen, wenn


dies überwacht, setzte die Bun- ihnen der Staat immer weniger
desregierung auf freiwillige Ver- bietet. Wenn er, wie in der Ham-
einbarungen mit der Industrie – burger Innenstadt, nicht einmal
ein fataler Fehler. FLUG- mehr für die Gehwege Sorge
Flughafen München
Kaum hatten sich die großen
Versorger vom Schock erholt, SICHERUNG trägt. Dort haben Eigentümer und
gingen sie auf Einkaufstour, ihre Kassen lung von British Rail in ver- Gesetz zur Mieter am Neuen Wall die lu-
waren aus Monopolzeiten prall gefüllt. Im schiedene Betriebe erwies sich Privatisierung xuriöse Einkaufsstraße auf eige-
Ergebnis bildete sich ein Oligopol aus vier als gewaltiger Fehlschlag. Damals gestoppt ne Rechnung saniert: mit hellem
Großkonzernen: E.on, RWE, EnBW und konkurrierten 25 Betreiber um die Granit, gepflasterten Parkstreifen
Vattenfall. Sie diktieren den Markt, und die Nutzung der Gleise, die Abstimmung und terracottafarbenen Blumenkü-
Preise fast nach Belieben. Zwar ist es dem funktionierte nicht, die Züge waren un- beln. Und sie bezahlen auch die Sicher-
Verbraucher unbenommen, den Anbieter pünktlich. Inzwischen wurde das Netz wie- heitskräfte, die auf Segway-Rollern pa-
zu wechseln, allerdings können die Konkur- der dem Staat zugeordnet. Auch die Pri- trouillieren und Falschparker der Polizei
renten kaum billiger sein: Die vier Großen vatisierung des britischen Wassergeschäfts melden.
beherrschen nahezu komplett die Erzeu- misslang gründlich. Investitionen blieben Wird die Privatisierung zu weit getrie-
gung und den Vertrieb von Strom – und aus, die Preise aber stiegen. ben, warnen Juristen wie der Verfassungs-
bestimmen damit den Großhandelspreis. Geht es um den Betrieb von Netzen, so richter Siegfried Broß, könnte der Staat
Solche Zwänge machen deutlich, wo der lautet die Lehre der Briten, ist der Staat ge- in eine ernste Legitimationskrise gera-
Privatisierung Grenzen gesetzt sind: Wann halten, sich einzumischen: Er muss klare ten: „Wofür steht er noch, wenn er sich
immer natürliche Monopole bestehen, in Regeln setzen und ihre Einhaltung kon- selbst eines großen Teils seiner Substanz
Form von Stromleitungen zum Beispiel, trollieren: damit auch der letzte Landwirt begibt?“
Abwasserkanälen oder Schienennetzen, ist im hintersten Tal mit Strom versorgt wird Am Ende bliebe ein Staat übrig, der das
ein offener Wettbewerb kaum denkbar. und seine Post bekommt. „Privatisierung Land bloß noch verwaltet. Das Gestalten
In solchen Fällen vermag ein einzelnes braucht Steuerung“, betont der Wissen- überließe er anderen. Frank Dohmen,
Unternehmen den Markt besser zu bedie- schaftler Weizsäcker. Alexander Jung
Wirtschaft

sind im Zweifel immer teurer, obwohl die


Wegstrecke viel kürzer ist.
GLOBALISI ERUNG
SPIEGEL: Eine absurde Welt!
Behrendt: Nein, das ist einfach eine Frage

„Ohne uns kein Welthandel“ der Produktivität. Ein in den sechziger Jah-
ren fahrender konventioneller Frachter ab-
solvierte vier Rundreisen im Jahr und be-
förderte 100 000 Tonnen Ladung. Unsere
Hapag-Lloyd-Chef Michael Behrendt über die Verschiebung modernen Container-Schiffe kommen bei
der globalen Handelsströme und die zunehmende 6,5 Rundreisen auf 1,3 Millionen Tonnen.
Abhängigkeit der Weltwirtschaft von der Container-Schifffahrt Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass
die Kosten kaum noch eine Rolle spielen.
SPIEGEL: Hapag-Lloyd ist mittlerweile nach noch drei Prozent. Bei Elektronikproduk- SPIEGEL: Wundern Sie sich trotzdem manch-
Transportkapazität die fünftgrößte Con- ten sind die Transportkosten fast völlig zu mal, wenn etwa Tomaten aus Holland nach
tainer-Linie der Welt, für Sie fahren über vernachlässigen. Einen Fernseher von Chi- Asien gefahren werden, um dann als Toma-
140 Schiffe mit Platz für bis zu 9000 Stan- na nach Europa zu transportieren kostet tenmark wieder zurückzukommen?
dardcontainer um die Welt. Sind die immer zehn Dollar, einen Staubsauger einen Dol- Behrendt: Klar, da muss ich schon schmun-
voll ausgelastet? lar. Und eine Flasche Bier einen Cent. zeln. Aber es ist nicht meine Aufgabe, mir
Behrendt: Ladungsströme sind nie ausge- SPIEGEL: Kann es passieren, dass ein Apfel darüber den Kopf zu zerbrechen. Wenn
glichen, es gibt immer eine stärkere und aus dem Hamburger Umland mehr Trans- ein Kunde sagt, ich soll etwas von A nach
eine schwächere Richtung. Aus Fernost portkosten verursacht als ein Apfel aus B fahren, dann mache ich das.
sind die Schiffe durchweg voll ausgelastet, Neuseeland? SPIEGEL: Und Sie werden nicht mal von
in der Gegenrichtung nur zu etwa 60 Pro- Behrendt: Das kann durchaus passieren. Ihrem eigenen grünen Gewissen gepackt?
zent. Im Transpazifikverkehr ist das Ge- Die sogenannten landseitigen Transporte Studien haben ergeben, dass die Schiff-
fälle noch extremer.
SPIEGEL: Das klingt, als könnten Sie die Ex-
portschwäche der USA an der Auslastung
Ihrer Schiffe ablesen.
Behrendt: Die USA haben in hohem Maße
Produktion ausgelagert, sie spielen als Fer-
tigungsstandort eine vergleichsweise ge-
ringe Rolle. In Europa ist diese Entwick-
lung ebenfalls zu sehen, jedoch nicht so
ausgeprägt.
SPIEGEL: Was wird denn überhaupt noch
in großen Mengen nach Asien transpor-
tiert?
Behrendt: Von Europa aus vor allem Ma-
schinen, Chemieprodukte, industrielle
Bauteile.
SPIEGEL: Gibt es noch Dinge, die nicht im
Container transportiert werden?
Behrendt: Ganz wenige. Und die Contai-
nerisierung geht noch immer weiter. Vor
einigen Jahren wurden Bananen nach der
Ernte erst in ein Lagerhaus, dann auf einen
Laster, dann in riesige Kühlschiffe und
SPOHLER / LAIF

schließlich wieder auf einen Laster ge-


packt. Heute werden sie direkt auf der
Farm in einen Kühlcontainer verladen und
so bis zum Bestimmungsort gebracht, ohne
Unterbrechung der Kühlkette. Für den Michael Behrendt
Händler ein Riesenvorteil: Da praktisch steht seit sechs Jahren an der Spitze des
täglich ein Schiff ankommt, kann er so dis- traditionsreichen Logistikkonzerns Hapag-
ponieren, dass die Lagerhaltung auf dem Lloyd, der 1970 aus der Fusion der Ham-
Wasser stattfindet, was ihm erhebliche Kos- burg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-
ten spart. Der Container ist viel revolu- Gesellschaft (Hapag) und ihres Bremer
tionärer, als man es sich je vorgestellt hat. Konkurrenten Norddeutscher Lloyd ent-
SPIEGEL: Im Jahr 2007 wurden etwa 112 stand. Nach einer schweren Krise in den
Millionen TEU bewegt – ein „Twenty Foot siebziger Jahren ist das Unternehmen, das
Equivalent Unit“ entspricht einem 20-Fuß- heute zum Reisekonzern TUI gehört, wie-
Standardcontainer –, im Jahr 2002 waren der auf Expansionskurs und übernahm
es noch 66 Millionen TEU. Welche Rolle unter Behrendts Leitung die kanadische
spielen bei diesen Mengen noch die Trans- Reederei CP Ships. Weltweit zählt Hapag-
portkosten für den Warenpreis? Lloyd damit zu den fünf größten Unterneh-
Behrendt: Kaum noch eine. Ein Motorrad men der Container-Schifffahrt. Mitte 2008
beispielsweise kostete 1970 rund 5000 soll Behrendt, 56, auch den Vorsitz im
Dollar, der Seefrachtanteil lag bei 500 Verband Deutscher Reeder übernehmen. Container (im Hamburger Hafen)
Dollar, also zehn Prozent. Heute sind es
62 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
fahrt mehr Schwefeldioxid ausstößt als alle gibt, kaufen die Menschen
Kraftfahrzeuge dieser Welt zusammen –
Starke Box mehr günstige Produkte. Und
und immerhin 27 Prozent der globalen Containerumschlag im internationalen die kommen nicht aus den
Stickstoffemissionen. Seeverkehr in Millionen TEU* teuren Industrieländern, son-
Behrendt: Da möchte ich ganz deutlich wi- 138 dern werden importiert.
dersprechen. Die Schifffahrt ist die mit Ab- Veränderung SPIEGEL: Ein globaler Ab-
stand umweltfreundlichste Transportart, 2000 bis 2007: +100 % schwung würde Ihnen nichts
wenn man die CO2-Emissionen pro Tonne Wachstum
112 ausmachen?
und Kilometer berücksichtigt. Die CO2- der Welt- 98 Behrendt: Nach allen Erfahrun-
Emissionen liegen beim Lkw dann bei 110 wirtschaft +20 % 91 gen würde sich dies nur be-
im selben 84
Gramm, bei der Bahn sind es 35 Gramm, Zeitraum: grenzt auf unser Geschäft
*20-Fuß-Containereinheit
beim Container-Schiff 8,4 Gramm. Die 75 auswirken. Selbst in Ab-
66 Quelle: Global Insight
Weltschifffahrtsorganisation IMO schreibt schwungzeiten werden Güter
einen Schwefelanteil im Brennstoff von 56 58 weltweit bewegt. Wenn es den
höchstens 4,5 Prozent vor. Wir verwenden geschätzt Prognose Bürgern schlecht geht, können
Treibstoff mit nur 3,5 Prozent Schwefel- 2000 2002 2004 2006 2007 2010 sie sich immer noch das Paar
anteil. In küstennahen Gewässern fahren Turnschuhe für zehn Dollar
wir Brennstoff mit einem Anteil von 1,5 aus China leisten.
Prozent. Und während der Hafenliege- ren. Was halten Sie von dem Vorschlag, SPIEGEL: Aber wenn sich der Welthandel
zeiten wird Diesel eingesetzt, der nur noch ein wenig Tempo aus dem Schiffsverkehr abschwächt, verliert Ihr Geschäft doch
0,2 Prozent Schwefel enthält. zu nehmen? auch an Volumen? Und mit der Kredit-
SPIEGEL: Laut einer Uno-Studie könnten Behrendt: Sehr viel. Wir gehörten zu den krise in den USA funktioniert die gesamte
Schiffe 23 Prozent weniger CO2 ausstoßen, ersten Reedereien, die die Geschwindig- globale Arbeitsteilung – China produziert,
wenn sie nur 10 Prozent langsamer füh- keit verringert haben. Wenn die Schiffe Amerika und Europa konsumieren – nicht
nur 20 Knoten statt 23,5 Knoten fahren, mehr.
reduziert sich der Ausstoß sogar um die Behrendt: Ich glaube nicht an diese Kol-
Hälfte. Aber insgesamt steuert die Schiff- lapsszenarien. Amerika ist zweifellos ein
fahrt nur zwei Prozent zu den weltweiten wichtiger Faktor, aber nicht der einzige.
CO2-Emissionen bei. China ist weit weniger abhängig vom
SPIEGEL: Reeder nutzen zum Betrieb der US-Geschäft als noch vor einigen Jahren
Schiffsmotoren selten Diesel, sondern in und orientiert sich auch stark in Richtung
erster Linie billiges, äußerst schadstoffrei- Asien und Europa. Der Bedarf an Gütern
ches Schweröl. Sollte man das nicht besser ist ja da, die Produktion würde nur in
verbieten? andere Märkte abwandern, und wir
Behrendt: Das wäre derzeit kaum mög- würden einfach folgen, nach Vietnam
lich, denn die Raffinerien können gar nicht etwa oder Indien. Wo auch immer die
genug Schiffsdiesel produzieren. Schweröl Warenströme hingehen, wir folgen ihnen.
ist ein Produkt, das bei der Produktion von Eines ist sicher: Ohne uns, ohne die Con-
leichten Kraftstoffen automatisch entsteht. tainer-Schifffahrt, gibt es keinen Welt-
Wenn es nicht in der Schifffahrt verwen- handel.
det würde, müsste es an Land entsorgt SPIEGEL: Wenn die Schifffahrt gleichsam
werden. der Puls der Globalisierung ist, müssten
SPIEGEL: Jetzt machen Sie es sich ziemlich Sie in Ihren Auftragsbüchern schon die
leicht. Schweröl ist doch vor allem billiger künftigen Machtverhältnisse der Weltwirt-
als Diesel. schaft ablesen können. Ist Indien bereits
Behrendt: Natürlich ist der Preis wichtig, auf dem Sprung, der nächste große Ak-
aber es gibt einfach nicht genug Diesel. teur zu sein?
Die Raffinerien könnten heute damit bloß Behrendt: Nach Indien bauen wir tat-
einen Bruchteil des Bedarfs der Schifffahrt sächlich neue Dienste auf. Es gibt mehr
decken. eingesetzte Schiffe, mehr Abfahrten, mehr
SPIEGEL: Ihre Branche ist ein großer Profi- angesteuerte Häfen. Aber einen solchen
teur der Globalisierung. Nun wächst aber Ausbruch an ökonomischer Aktivität wie
die Sorge, dass der Welthandel nicht in China sehen wir sonst nirgends auf
mehr so schnell zulegt. Protektionistische der Welt, wenngleich Asien nicht nur
Stimmen werden lauter. Macht Ihnen das China ist. Auch Südamerika entwickelt
Sorgen? sich, da gibt es Potential. Bislang werden
Behrendt: Protektionismus können wir als jährlich aber nur rund 5 Millionen
Exportweltmeister nicht wirklich wollen. Container zwischen Europa und Süd-
Als zum Beispiel die Weltwirtschaft nach amerika transportiert, nach Asien sind es
den Terroranschlägen 2001 abrutschte, hat- 20 Millionen.
te das auf den Welthandel nur geringen SPIEGEL: Sie bewerten die Aussichten für
Einfluss. Im Gegenteil: In der Schifffahrt Ihre Industrie also als durchweg po-
haben wir sogar Rekordmengen transpor- sitiv?
tiert. Sie dürfen nicht vergessen: Wir trans- Behrendt: Seit Jahren geben die Marktfor-
portieren große Mengen preiswerter Pro- scher Wachstumsprognosen aus, die bei
CHRISTOPH PAPSCH

dukte für die Supermärkte dieser Welt. sechs bis sieben Prozent liegen. Und jedes
Wenn eine Volkswirtschaft in eine Schwä- Jahr müssen die Erwartungen deutlich
chephase gerät, wenn also Einkommen nach oben korrigiert werden.
schrumpfen und es weniger Beschäftigung Interview: Alexander Jung, Thomas Schulz

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 63
Wirtschaft

Börse hat sich von Einbrüchen immer wie-


der schnell erholt. Liu glaubt, aus den
AKTIEN
Schwankungen die richtigen Lehren gezo-
gen zu haben.

Chinesisches Roulette Anfang Februar 2007 brachen erstmals


die Kurse ein, Gerüchte über höhere Steu-
ern auf Kapitalgewinne hatten den Markt
verunsichert. Ende Mai erhöhte die Regie-
Ob Müllmann oder Mönch, Arbeiter oder Student: Der Traum rung dann die Abgabe für Aktientrans-
vom schnellen Reichtum macht Millionen Chinesen zu aktionen, wieder stürzten die Kurse ab.
Börsenzockern und treibt die Kurse immer weiter nach oben. Auch Liu verlor kräftig, das war für ihn
ein Schock, verzweifelt suchte er einen

N
och vor einem Jahr verbrachte Liu mand weiß, wie lange es währt. Über eine Wahrsager auf. Was der ihm prophezeite,
Haitao, 25, seine Freizeit in Karao- Million neue Wertpapierkonten eröffne- will Liu zwar nicht verraten. „So ein
ke-Bars oder mit seiner Freundin. ten die Chinesen an besonders turbu- Spruch“, erklärt er, „wirkt nur, wenn man
Inzwischen hat er das Karaoke-Singen auf- lenten Börsentagen. In den vergangenen ihn für sich behält.“ Auf jeden Fall zockt
gegeben, und auch eine Freundin hat er zwei Jahren vervierfachte der Shanghaier Liu weiter, ohne allerdings noch in Panik
nicht mehr. Aktienindex seinen Wert, und viele Anle- zu geraten, wenn die Kurse fallen. Er will
Liu lebt nur noch für die Börse – für ger in der Volksrepublik verschulden sich sich nicht irritieren lassen – auch nicht von
den Traum, reich zu werden. sogar, um mitzuzocken. häufigen Warnungen der Regierung.
Es ist fünf Uhr nachmittags, Liu verlässt Auch Liu will mitspielen beim Roulette, Peking will das Börsenfieber abkühlen,
den gläsernen Klotz der staatlichen Bank, das sich an den Börsen in Shanghai und bevor es zum Crash kommt. Auch deshalb
bei der er als Software-Ingenieur arbeitet. Shenzhen dreht. Er sieht jetzt seine fielen die Kurse allein im November um fast
Er geht direkt nach Hause, in einen Wohn- Chance – „historisch“ nennt er sie. Mit 20 Prozent. Doch wo sonst sollte Liu Geld

6000
Shanghai-
Composite-Index
5000

4000
Quelle: Thomson
Financial Datastream
3000

LIAO PAN / IMAGINECHINA


2000
YANG LIU / CORBIS

1000
2006 2007
Shanghaier Börse, Spekulant Liu: Peking will das Aktienfieber abkühlen, bevor es zum Crash kommt

block am Rande von Peking. Hier bewohnt den Gewinnen, die er an der Börse erzielt, anlegen? Sicher nicht auf einem Sparkonto
Liu ein Zimmer mit Bett, Fernseher und möchte Liu später eine Firma gründen. bei den staatlichen Banken: Die überhitzte
Schreibtisch. Vielleicht wird er sich aber auch zur Ruhe Konjunktur treibt die Inflation derart in die
Noch bevor Liu die trübe Neonbeleuch- setzen. Er kann sich derzeit so allerhand Höhe, dass die Chinesen für ihre Ersparnis-
tung anknipst, schaltet er den Laptop an. vorstellen, nur eins nicht mehr: ein Berufs- se praktisch Minuszinsen bezahlen müssen.
Die Börse hat zwar längst geschlossen, und leben lang bei der Bank zu malochen. Lieber setzen die Chinesen auf die Bör-
neben der Arbeit hat Liu ohnehin fast den Ein Leben in Wohlstand – der Traum se, sie lassen sich mitreißen vom Jubel,
ganzen Tag lang online mitgezockt wie scheint für den Chinesen greifbar nahe. den ihre rote Obrigkeit – trotz aller offizi-
auch seine vier Kollegen, mit denen er sich Liu verschiebt jetzt per Mausklick Beträge, ellen Mahnungen – selbst kräftig anfacht.
das Büro teilt. Zu Hause bereitet Liu den von denen er früher nicht zu träumen wag- Eine Rekordzahl von Staatsbetrieben ging
heutigen Börsentag nach, er will das oft te. Als Daytrader kauft er täglich Aktien jüngst in Shanghai oder Hongkong an die
verrückte Auf und Ab der Kurse besser und stößt sie schnell wieder ab, sobald Börse; einige vervielfachten schon am ers-
verstehen lernen. ihre Kurse gestiegen sind und er genügend ten Handelstag ihre Marktwerte. An solch
Die Börse hat seinen Alltag bereits jetzt Gewinn machen kann. bullischen Tagen leuchten im ganzen Land
verändert: Wenn Liu beispielsweise vor Mit dieser Methode verdiente Liu an sei- die elektronischen Anzeigetafeln der Ak-
einigen Monaten etwas im Zentrum von nem besten Tag 50 000 Yuan, das entspricht tienverkaufsstellen in Rot. Grün scheinen
Peking zu erledigen hatte, fuhr er erst 4700 Euro. Inzwischen hat er sein Kapital sie dagegen, wenn die Kurse fallen.
mit dem Bus und wechselte dann zweimal verzehnfacht, er besitzt jetzt Aktien für Auch in Nanjing, der früheren Reichs-
die U-Bahn. Jetzt nimmt er ein Taxi. Das 120 000 Yuan. Das bekommt manch ein Fa- hauptstadt am Jangtse, beherrscht die Bör-
kostet zwar ein Vielfaches, aber er spart brikarbeiter in zehn Jahren. se den Alltag: In der Verkaufsstelle von
eine wertvolle Stunde Zeit. Kein Boom währt allerdings ewig – von Guotai Junan, wo der Kleinanleger Qin
Jede Stunde zählt in dieser Zeit des Ak- dieser Binsenweisheit des real existieren- Yingsheng, 59, und seine Freunde ihre Tage
tienfiebers, das bereits Millionen Klein- den Kapitalismus bekamen die Chinesen verbringen, ist die Stimmung aufgeladen
anleger angesteckt hat und von dem nie- bisher aber nur wenig zu spüren, denn ihre wie in einer Spielhölle.
64 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Qin sitzt vor einem roten Telefon, er Im Mai, als die Kurse zeitweilig einbra- Im Internet mit Aktien zu spekulieren –
tippt die Nummern-Codes seiner Aktien chen, loderte im Internet Volkszorn auf, dieses Vergnügen ersetzt Yuyang jetzt die
in die Tasten, dann lauscht er einer weib- er richtete sich gegen Peking, weil es die Online-Games. Real Geld zu verdienen
lichen Computerstimme: Sie liest mono- Verluste verursacht habe. Da die Volks- ist natürlich viel aufregender. An Tagen,
ton die aktuellen Kurse vor. Qin ist seit republik von freier Marktwirtschaft weit wenn sich die Börse heftig bewegt, nimmt
seinem fünften Lebensjahr erblindet. Für entfernt ist, glauben Chinesen kaum an Yuyang seinen Laptop mit in Vorlesungen,
Anleger wie ihn stehen hier die Telefone Zufälle, wenn ihre Aktien plötzlich ins dann stößt er schnell Aktien ab oder kauft
bereit statt der sonst üblichen Computer- Grüne, in die Verlustzone, taumeln. neue hinzu. Er sagt: „Über Wirtschaft ler-
terminals. Auch Studenten lassen sich von War- ne ich an der Börse sicher mehr als bei
Der Zocker wird ständig umringt, fast nungen der Regierung nicht beeindrucken. meinen Professoren.“
die ganze Nachbarschaft sucht seinen Rat, Immer mehr zocken an der Börse, zu den Yuyang verdankt seinen Aufstieg zum
die Menschen vertrauen dem spekulativen wild Entschlossenen gehört Ökonomie- Kleinaktionär seinen Eltern, einfachen Ar-
Instinkt des Blinden. Eine Frau schreit Qin student Liu Yuyang, 22, in Shanghai. beitern in Nordostchina: Anfang des Jah-
immer neue Namen von Firmen zu. Es Yuyang, wie ihn seine Freunde rufen, grün- res, als an der Uni plötzlich alle über die
handelt sich um Hightech- und Pharma- dete kürzlich die Internet-Seite „Gupiao Börse sprachen, liehen sie ihm 5000 Yuan.
Werte, damit kennt sich Qin aus. Soll sie ANZEIGE
Seitdem vervierfachte Yuyang diesen Ein-
kaufen oder verkaufen? Ständig dieselben satz. Er bezeichnet sich stolz als „hart-
Fragen. Qin antwortet geduldig – auch er gesottenen Zocker“, mit Vorliebe kauft er
schreit, damit er im Tumult gehört wird. sogenannte Laji-Gu, das sind hochriskante
Seine Informationen bezieht Qin aus dem „Schrottaktien“, die im Gefolge der Blue-
Radio, jeden Abend hört er Börsennach- chips mitsteigen, aber sich höchstens für
richten. Aber er befolge nie Tipps von kurzfristiges Zocken eignen. An seinem
Analysten, sagt er, er vertraue nur seiner Computer ruft Yuyang die Kurve einer sol-
Intuition. chen Schrottaktie auf – er deutet auf den
Qin lässt die Finger seiner rechten Hand Gipfel, kurz bevor der Wert abknickte.
über die Telefontastatur fliegen, er kennt „Ich habe im richtigen Moment verkauft,
fast alle 1400 Codes der Aktien auswendig, ein Glück“, sagt er und strahlt wie einer,
die an den Börsen von Shanghai und der im Lotto gewonnen hat.
Shenzhen notiert sind. Seinen Spieleinsatz Wenn er seine Freundin trifft, träumen
hat er mittlerweile auf 200 000 Yuan ver- sie gemeinsam davon, reich zu werden. Sie
fünffacht. Aus seinen Gewinnen bessert er zockt zwar nicht, aber sie inspiriere ihn
seine Rente auf – der Staatsbetrieb, für beim Investieren, sagt Yuyang, zum Bei-
den er Elektrokabel fertigte, unterstützt spiel wenn sie von ihrer Mutter erzählt,
ihn mit 300 Yuan monatlich. die an der Börse Yuan-Beträge in Millio-
Für Qin sind dies hektische Tage, gera- nenhöhe anlegt.
de jetzt im Dezember und Januar will er So weit möchte auch Yuyang es bringen.
den Rückgang des Marktes nutzen und re- „Reich werden ist ruhmreich“ – dieser De-
lativ billig Aktien dazukaufen. Im neuen vise des legendären Reformers Deng Xiao-
Jahr werde die Börse dagegen noch einmal ping eifert auch seine Generation nach. Er
kräftig zulegen, prophezeit Qin, bis zu den glaubt fest daran, dass China auch nach
Olympischen Spielen, dem großen patrio- den Pekinger Spielen weiterboomen wird.
tischen Ereignis, über das hier alle reden Und dann hebt Yuyang den Blick vom
und das mehr zählt als trockene Firmen- Monitor und wiederholt, was er in seinen
daten wie Gewinn und Umsatz. Auch Qin Ökonomievorlesungen gelernt hat: „Chi-
ist ganz sicher: Peking werde keinen Crash na ist nicht Japan, bei uns gibt es keine
zulassen. Aber nach Olympia will er seine Blase, die platzen könnte. Unsere Volks-
Aktien schnell verkaufen, solange die Kur- wirtschaft besitzt genügend Potential, um
se hoch sind. auch in zehn Jahren noch zweistellig zu
Der blinde Zocker von Nanjing wurde wachsen.“ Und wenn die Exporte ein-
durch die Aktienblase berühmt – wie knicken? „Dann kurbeln wir eben unsere
manch andere kuriose Spekulanten, über eigene Binnennachfrage an.“
die Chinas staatliche Presse berichtet: Da Eigentlich interessiert Yuyang sich nicht
ist etwa der Müllmann in Shenzhen, der an besonders für Politik, doch beim Handel
der Börse abräumte. Oder der Mönch in Ban“ – zu Deutsch etwa „Aktienbrett“; mit Aktien habe er gelernt, sagt er, welch
Xi’an, der ein Wertpapierkonto eröffnete dort tauscht er mit Kommilitonen Anlage- mächtigen Einfluss die Regierung auf den
und deshalb von seinem Tempel versto- tipps aus. Markt nimmt.
ßen wurde. Buddhismus und Börse – das Yuyang redet ständig über Aktien, auch Und deshalb horcht Yuyang jetzt stets
ging der geistlichen Obrigkeit eindeutig zu jetzt, während der Vorbereitung auf sein auf, wenn die Marktaufseher in Peking die
weit. Examen. In seinem Studentenwohnheim Anleger vor Risiken warnen – wie bei-
Aber auch die rote Obrigkeit sorgt sich teilt er sich eine winzige Bude mit einem spielsweise auf dem jüngsten KP-Partei-
über die exzessive Spielwut der Landsleu- Kommilitonen, sie ist gerade groß genug tag. „Hätte ich schon früher auf die Politi-
te. In Shanghai appellierte sie an Studen- für zwei Betten und zwei Schreibtische. ker gehört, sagt der Student, „hätte ich bei
ten, zu pauken, statt mit Aktien zu han- Auf Yuyangs Seite des Zimmers herrscht anschließenden Kurseinbrüchen Verluste
deln. Den Regierenden missfällt nicht die ein einziges Durcheinander, Bücher über vermieden.“ Und genau diese Lektion ist
kapitalistische Profitgier – die ist durchaus politische Ökonomie stapeln sich neben es ja, die Chinas Kleinkapitalisten lernen
erwünscht, solange sie sich unpolitisch aus- schmutziger Kleidung und zerknüllten Pa- sollen: Zocken ist erlaubt, aber für ihre
tobt. Doch fürchten die Behörden Auf- piertaschentüchern. Doch Yuyang hat nur Verluste sollen die Chinesen sich selbst ver-
stände von Kleinanlegern, falls es plötz- Augen für seinen Laptop, dort leuchten antwortlich machen – und nicht die kom-
lich zum Crash kommt. die Kurven seiner Aktien auf. munistische Obrigkeit. Wieland Wagner

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 65
Wirtschaft

am Fall Schieder aufzeigen, wie das Re-


strukturierungsgeschäft funktioniert.
FIRMENSANIERUNG
Dort hielt 2005 der globale Kasinokapi-
talismus Einzug. Zwar hatte Demuth aus

Westfälische Bonanza einem Betrieb mit 27 Mitarbeitern Europas


größten Möbelbauer mit rund 115 Gesell-
schaften im In- und Ausland gemacht.
Aber in jenem Jahr erhielt das Unterneh-
Monatelang kämpfte Europas größter Möbelhersteller vergebens men mit den Entscheidungsstrukturen ei-
ums Überleben. Doch selbst in der Pleite gibt es Gewinner: nes Dorfvereins unter anderem mit Hilfe
Eine Heerschar von Beratern und Anwälten verdiente gut dabei. der WestLB eine internationale Finanzie-
rung der Champion-League-Klasse, mit der
es nicht umgehen konnte. Die Firma woll-
te an neue Investoren und frisches Geld, die
Banken wollten das Risiko breiter streuen.
Die große Zahl der Bankverbindungen der
verschiedenen Schieder-Gesellschaften soll-
te zusammengefasst werden.
Über 320 Millionen Euro Kreditvolumen
wurden verteilt; mit bis zu 15 Prozent Zins-
satz je nach Risiko, wie Insider berichten.
Am Ende gab es vier Gläubigergruppen
aus deutschen Banken und deren auslän-
dischen Töchtern, Investmentbanken und
angelsächsischen Fondsgesellschaften, de-
ren Kredite unterschiedlich gut besichert
waren. Mancher Geldgeber war gleich in
mehreren Gruppen vertreten. Fortan war
Schieder also nicht mehr allein deutschen
Mittelstandsbanken rechenschaftspflichtig,
sondern auch renditeorientierten Invest-
mentbankern und Hedgefonds.
Das Schicksal nahm seinen Lauf, als Pa-
triarch Demuth im Januar 2007 in London
vor Investoren Probleme in der Bilanz er-
wähnte. Die Tatsache als solche war nicht
dramatisch, die Investoren aber wurden
misstrauisch. Kreditversicherer begannen
ihre Versicherungen aufzukündigen.
SALOME KEGLER / DPA

Und so beauftragten die Schieder Möbel


Holding und vier ihrer Töchter die Invest-
mentbank Houlihan Lokey am 31. Januar
mit der Beratung des Unternehmens bei
der „Finanziellen Reorganisation“; ge-
Demonstrierende Schieder-Mitarbeiter*: Rennen um die Rettung verloren meint war damit die „Neuordnung der
Verbindlichkeiten“ in allen denkbaren Va-

A
m Nachmittag des 15. Juni reichte tersuchungshaft. Schließlich war die wahr- rianten bis hin zum Verkauf von Vermö-
Interimsgeschäftsführer Ulrich Wle- scheinlich größte Pleite des Jahres 2007 genswerten und Schulden der Firma.
cke beim Amtsgericht Detmold den mit Finanzschulden von rund 400 Millio- Ab dem 20. Februar sollten diese Bera-
Insolvenzantrag ein: Das Rennen um die nen Euro unvermeidbar. ter ein monatliches Honorar von 165 000
Rettung von Europas größtem Möbelher- Die Verlierer sind das Unternehmen mit Euro zuzüglich Mehrwertsteuer erhalten.
steller war verloren. rund 11 000 Mitarbeitern und die meisten Zugleich wurde „ein Honorar in Höhe
Monatelang hatten Kohorten von Bera- der etwa 48 Gläubigerbanken, die auf ei- von 2 % des Reorganisationsvolumens
tern die Schieder Möbel Holding GmbH in nem großen Teil der ungesicherten Kredi- (das Festhonorar), in jedem Fall aber
der Nähe des westfälischen Herford durch- te sitzenbleiben. EUR 3 Mio.“ vereinbart. Grundlage bei
leuchtet. Geldhäuser, Investmentbanken Doch auch in der Pleite gibt es Gewin- der Berechnung des Festhonorars war das
und Hedgefonds kauften und verkauften ner: Im Umfeld des neuen Kapitalismus Volumen bestehender Verbindlichkeiten
im Hintergrund die Schulden des Unter- der Finanzinvestoren ist auch in Deutsch- aus dem Jahr 2005, die Gegenstand der
nehmens, verhandelten über Quoten und land eine „Restrukturierungsindustrie“ Reorganisation waren – einschließlich der
Anteilsübernahmen. entstanden. Zu ihr gehören Sanierungs- neuaufgelaufenen Schulden. Im Erfolgsfall
Im April wurde ein erster Insolvenz- berater und Interimsmanager, Insolvenz- winkte Houlihan Lokey ein Honorar von
antrag in letzter Sekunde abgewendet. Im berater und Rechtsanwälte, die sich gegen acht Millionen Euro aufwärts. Bislang er-
Juni griff die Staatsanwaltschaft ein, und stolze Honorare am Turnaround ange- hielt Houlihan lediglich die Monatszah-
der Firmengründer Rolf Demuth und drei schlagener Unternehmen versuchen. lungen von Februar bis Juni in Höhe von
Manager wanderten zeitweise wegen des Solange alles gutgeht und alle Investoren insgesamt 825 000 Euro ausgezahlt.
Verdachts der Bilanzmanipulation in Un- an dem Geschäft verdienen, gehören die Die Mitarbeiter der Europa-Zentrale von
Honorare zu den gutgehüteten Geheim- Houlihan Lokey in Frankfurt am Main wa-
* Am 18. April vor der Zentrale der Deutschen Bank in nissen. Doch in der westfälischen Provinz ren nicht die Einzigen, die sich um Schieder
Frankfurt am Main. ging etwas schief. Und deshalb lässt sich kümmern sollten. Am 15. März schloss das
66 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Wirtschaft

lebenswichtigen Mittel nur für Berater-


kosten ausgegeben worden. Selbst Gold-
man Sachs taucht in der Aufstellung mit
einer Millionengebühr für den gewährten
Kredit auf. Insider schätzen, dass am Ende
zwischen 15 und 20 Millionen Euro an in-
terne und externe Consultants flossen.
Hinter den Kulissen lief bis zur Insol-
venz ein Hauen und Stechen zwischen den
Gläubigern ab – natürlich immer abgesi-
chert durch die Expertise ihrer eigenen
Berater. Bis zu hundert Leute wurden bei
Telefonkonferenzen zusammengeschaltet.
Bis zum Schluss hielten alle Beteiligten das
Unternehmen für sanierungsfähig. Offen
war nur, wer die Zeche zahlten sollte. Wer
also wie viel seiner gewährten Kredite
abschreiben musste. Durch den Überbrü-
ckungskredit war zu den vier alten Gläu-
bigergruppen eine fünfte gekommen, und

ROLF VENNENBERND / DPA


diese besaß nun im Insolvenzfall auch noch
die besten Sicherheiten.
Verschärft wurde das Problem durch die
Entdeckung der Bilanzmanipulation Ende
Mai. Das Unternehmen war nun stärker
Schieder-Gründer Demuth (2004): Wegen des Verdachts der Bilanzmanipulation in U-Haft überschuldet als vermutet. Bis zur Insol-
venzanmeldung blieben nur noch drei
Unternehmen eine Vergütungsvereinbarung Schieder-Berater verweisen darauf, dass Wochen Verhandlungszeit. Am Ende schei-
mit der internationalen Anwaltskanzlei die Honorare und Erfolgsprämien übliche terte die Rettung Schieders an wenigen
Freshfield Bruckhaus Deringer ab. Marktpreise seien. Zudem sei der Fall des fehlenden Millionen Euro in einer neuen
Die deutschen und englischen Anwälte Möbelherstellers schwierig gewesen. Man Finanzierung, der Uneinigkeit der ver-
der Kanzlei sollten das Schieder-Manage- habe ein desolates Management vorgefun- schiedenen Gläubiger und deren Prin-
ment im Zusammenhang mit der Finanzie- den. Bei Alix Partners seien etwa 15 Mit- zipienreiterei.
rung aus dem Jahr 2005 beraten. Entlohnt arbeiter im Einsatz gewesen, bei Fresh- Je deutlicher den Gläubigern wurde,
wurde nach Zeitaufwand; so kostete die field in der Spitze bis 40 Mitarbeiter. Auch dass sie dieses Mal den Kürzeren ziehen
Arbeitsstunde eines deutschen Partners 500 Houlihan habe 8 Leute eingesetzt. Zu- könnten, desto lauter wurde die Kritik an
Euro, während sein britischer Kollege deut- dem seien Freshfield und Alix Partners den Beratern. Insbesondere der Vertrag
lich mehr, nämlich 625 Pfund, liquidierte. auf einem Teil ihrer For- mit Houlihan Lokey und
Nach Funktion in der Kanzlei staffelten sich derungen sitzengeblie- Der Schieder-Konzern das mögliche Festhonorar
die weiteren Honorare, wobei ein deutscher ben. Außerdem würden in Millionenhöhe waren
vor der Pleite im Juni 2007
Referendar – also ein angehender Jurist in die Honorare der Berater dabei umstritten. Zudem
der praktischen Ausbildung – mit 100 Euro der Gläubiger die Kosten hatten sich die Berater
pro Stunde zu Buche schlug. treiben.
Mitarbeiter
Am 22. März unterzeichnete Schieder Tatsächlich dürfen in
weltweit 11000 nicht nur die deutsche
Schieder Holding, son-
auch einen Vertrag mit der Unternehmens- einem solchen Sanie- Umsatz dern auch deren wert-
beratung Alix Partners, der eine ähnliche rungsfall Gläubiger wie 2005/2006 950 Mio. ¤ volle Töchter im Ausland
Vereinbarung vom 9. März ersetzte. Wegen Banken ihre Berater dem als Vertragspartner gesi-
der angespannten Finanzlage sollte Alix Unternehmen in Rech- Tochter- chert, als Garant für ihre
Partners unter anderem die Liquiditäts- nung stellen, die auch unternehmen 115 Honorare.
planung und das Cash-Management ver- schon mal eine halbe Das allerdings wollte
bessern, die Business-Planung und das Million Euro binnen vier Insolvenzverwalter Sven-
Restrukturierungskonzept überarbeiten Wochen kosten. Und die nutzen das Holger Undritz von der Anwaltskanzlei
sowie ein Sanierungsgutachten erstellen. weidlich; so tummelte sich bei Schieder White & Case nicht anerkennen. Am 21.
Die Stundenhonorare: zwischen 250 und am Ende das komplette Who’s who der September forderte er Houlihan-Lokey-
725 Euro. Bei solchen Sätzen fallen schnell internationalen Anwalts- und Beratersze- Chef Ansgar Zwick auf, „vorbehaltlos und
mal Arbeitsstunden im Wert von 60 000 ne. „Es war eine richtige Bonanza“, sagt unwiderruflich“ auf alle Ansprüche ge-
Euro am Tag an – ohne Mehrwertsteuer. ein Insider. genüber den Gesellschaften in Österreich
Laut einer internen „Übersicht Berater- Die Schieder-Übersicht weist bis zum und Liechtenstein zu verzichten.
kosten“ der Schieder Möbel Holding zum 10. Mai nicht weniger als 22 Firmen mit Be- Houlihan Lokey lehnte ab. Zum Stand
10. Mai 2007 soll allein Alix Partners bis zu raterstatus aus. Bis Anfang Mai sind binnen der Auseinandersetzung wollen sich die
diesem Zeitpunkt 1 948 490,07 Euro abge- weniger Wochen allein über zehn Millionen Kontrahenten nicht äußern. Fest steht, dass
rechnet haben. Die Zahlungen der Anwäl- Euro an die Berater geflossen. Zum Ver- die liechtensteinischen und österreichi-
te von Freshfields summierten sich nach gleich: Anfang April hatte ein Bankenkon- schen Unternehmen an die Holding des
dieser Aufstellung bis zum Stichtag auf sortium unter der Führung von Goldman Kunstmäzen Nicolas Berggruen verkauft
über 1,9 Millionen Euro. Natürlich wurden Sachs mit einem kurzfristigen Überbrü- wurden. Zwei Millionen Euro des Kauf-
in den folgenden Wochen von den ver- ckungskredit in Höhe von rund 65 Millio- preises flossen allerdings vorerst auf ein
schiedenen Beratern Rechnungen ge- nen Euro Schieder in letzter Sekunde zu- Treuhandkonto – zur Absicherung mög-
schrieben, die sich auf Millionensummen nächst vor der Insolvenz bewahrt. Bereits licher Honoraransprüche von Houlihan
addierten. am 10. Mai waren gut 15 Prozent der über- Lokey. Markus Dettmer

68 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Wirtschaft

UNTERNEHMEN den zu sein. Und hier hat der „Wasi“, nen Kumpeln um einen Kasten Weißbier,
der Wasmeier Markus, sein Ski-Museum dass er in Schliersee einen Whisky brennt.

Bayerische gebaut.
Und jetzt gibt es noch eine Attraktion,
eine Whisky-Destillerie. „Verrückt müs-
1994 war das.
Kurz darauf begann er, ganz nebenbei,
mit den Whisky-Experimenten in der fa-

Schnapsidee sen S’ halt sein“, erklärt Stetten seinen


Gästen seine Motive, „total wahnsinnig,
völlig plemplem.“ Und natürlich starr-
köpfig. „Verstehn S’?“, fragt er dann, „ein
miliären Obstbrennerei, die er in dritter
Generation führt. „Am Anfang war des
Zeug nicht trinkbar“, räumt Stetter ein,
aber mit der Zeit lernte er dazu.
Ein deutscher Destillateur brennt
am Schliersee Malzwhisky – bisserl wie die Schotten.“ Aha, klar. Die Im Jahr 2002 füllte er seinen Whisky
sprechen auch kein Oxfordenglisch. Und erstmals ab, die 1600 Flaschen waren bin-
mit zunehmendem Erfolg. Sein die Bayern eben kein Hochdeutsch. Die nen zwei Wochen ausverkauft. Die Pro-
ehrgeiziges Ziel: Er Schotten tragen Kilt, die Bayern Lederho- duktion stieg rasant – auf 30 000 Flaschen
will eine Kultmarke schaffen. sen. Und die Schotten sind, wie auch die im Jahr. Dann ging es nicht mehr. Der Be-
Bayern, Individualisten und Freistaatler. trieb war zu klein, und Stetter beantragte,

D
raußen, vor der riesigen Fenster- Und dann die Landschaft. Berge, schöne die erste reine Malzwhisky-Destillerie in
wand, erstrecken sich die ver- Natur, raues Klima. Natürlich auch frisches Deutschland zu errichten.
schneiten Wiesen bis zum Wendel- Wasser, „aus der Bannwaldquelle. De facto Drei Millionen Euro hat er inzwischen
stein, dessen Felsspitze, von der Abend- is des zwar des Schlierseer Leitungswas- investiert, in die Brennerei samt Lagerhal-
sonne erleuchtet, in den weißblauen Him- ser“, sagt Stetter und lächelt verschmitzt. le und Verkostungslokal. Und zehn Jobs
mel ragt. Aber so klingt’s halt besser. sind entstanden, darunter ein Ausbildungs-
Drinnen, hinter dem hölzernen Tresen, „Slyrs“ heißt die Marke, die Stetter platz für eine Destillateurin; eine Lehre,
steht der Wirt in Jeans, Trachtenjanker, samt Logo und Flaschendesign selbst ent- die in Deutschland pro Jahr nur etwa zehn
kariertem Hemd und orangefarbener Kra- wickelt hat. Der Name bezeichnete einst junge Menschen beginnen.
Wie alle Pioniere musste auch Stetter
kämpfen. Das Bundesamt für Finanzen
beispielsweise wollte seine Anlage zu-
nächst der Biersteuer unterwerfen, weil
das Grundprodukt des „Slyrs“ Braugerste
ist. Aus der wird Gerstenmalz und schließ-
lich Whisky-Maische, die dann vergoren
und zweimal destilliert wird. Whisky-Mai-
sche kannten die Finanzbeamten aber bis
dato nicht – wohl aber Braugerste.
Das Problem: Stetter hätte ein Biersteuer-
buch führen müssen, die Whisky-Maische
erst be- und dann wieder, vor der Destil-
lation, entsteuern müssen. Ein riesiger
bürokratischer Aufwand – „für nix und
wieder nix“. Erst nach einer ausführlichen
Korrespondenz mit einer untergeordneten
Behörde des Landwirtschaftsministeriums
hatten die Finanzbeamten ein Einsehen.
In drei Jahren will Stetter bis zu 60 000
Flaschen jährlich verkaufen. Einige Fässer
PETER SCHINZLER

aber lässt er liegen: für seinen Zwölf-


jährigen, der 2015 auf den Markt kommen
soll. Der Restbestand wird knallhart ra-
tioniert.
Whisky-Brenner Stetter: „Verrückt müssen S’ halt sein, total wahnsinnig, völlig plemplem“ Rund 16 000 Flaschen gehen derzeit in
den professionellen Vertrieb, zu Käfer nach
watte. Was zur Vollendung des gängigen ein Kloster, das die Mönche Adalung, München, ins Adlon und ins KaDeWe in
Klischees bayerischer Voralpenlandidylle Hilupalt, Kerpalt, Antonius und Otakir im Berlin, ins Hilton nach Dubai oder ins
fehlt, ist eine Halbe Helles. Bier aber gibt’s Jahr 779 in dieser Gegend gründeten. Hofbräuhaus in Seoul. Und künftig auch
in dieser Kneipe nicht. Daraus wurde Schiers – und schließlich nach Dänemark, Frankreich und England.
Aber Whisky. Und den brennt Florian Schliersee. Diese Geschäfte hat Stetter vor ein paar
Stetter, der Mann hinter der Theke, selbst. Die Story („Schtori“, wie Stetter sagt) ist Wochen auf der InterWhisky, der größten
Stolz blickt er nach rechts, über die 600 jedenfalls gut. Und wenn sie der Destilla- Messe für Whisky, abgeschlossen. Dort war
sorgsam gestapelten Weißeichenfässer à teurmeister erzählt, erscheint es dem er der einzige Deutsche.
225 Liter, in denen der hochprozentige Zuhörer als die natürlichste Sache der Die restlichen Flaschen vertreibt Stetter
Stoff mindestens drei Jahre lagert. Welt, dass in Oberbayern Whisky gebrannt vor Ort. Inzwischen kommen die Besucher
Wie kommt einer auf die Schnapsidee, wird. Nur dass es bislang eben noch keiner schon busweise zu seiner Destillerie. Je-
im Herzen Oberbayerns Whisky herzu- gemacht hat. der von ihnen darf nur eine Flasche kau-
stellen? Die Idee dazu kam Stetter in Schottland fen. „Sonst wären die Regale längst abge-
Hier, in Neuhaus am Schliersee, 60 Kilo- bei einer Studienreise mit anderen Destil- räumt“, sagt Stetter.
meter südlich von München, wohnt Ger- lateuren. Die jungen Schnapsbrenner be- Dafür gibt’s den „Slyrs“ bei Ebay – zu
hard Polt, hier erholt sich Paul Kirchhof, suchten auch eine Destillerie. Nach einigen Schwarzmarktpreisen. Der aktuelle Jahr-
der Steuerrechtsprofessor, von den Stra- „Glaserln“ trumpfte der Stetter Flo auf: gang liegt 20 bis 30 Prozent über dem re-
pazen, doch nicht Finanzminister gewor- „Des kann ich auch.“ Und wettete mit sei- gulären Verkaufspreis. Wolfgang Reuter
70 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Medien Trends

WERBUNG sen stimmen. Innere Haltung und äußeres Erscheinungsbild


müssen einfach perfekt aufeinander abgestimmt sein.

„‚Dittsche‘ bleibt SPIEGEL: Ihre neueste DVD zeigt Ihre Wandlungsfähigkeit. Wie
tief stecken Sie in solchen Momenten in einer Figur?
Dittrich: Die Spots zum Beispiel haben wir fünf Tage in einer

draußen“ kurz vor der Eröffnung stehenden Filiale in Emden gedreht. Pro
Charakter ein halber Tag. Allein die Maske dauerte zwei, drei
Stunden. Selbst in den Drehpausen blieb ich in der jeweiligen
Der Komödiant Olli Dittrich („Dittsche“), 51, über seinen Figur. Ich kann gar nicht anders.
Ausflug ins Media-Markt-Reklamegeschäft SPIEGEL: Strengt das nicht an?
Dittrich: Anstrengend war eigentlich nur, als Möchtegern-
SPIEGEL: Was kann man in einem Elektromarkt über Deutsch- Prada-Tante Claire vier Stunden auf Highheels herumzu-
land lernen? laufen und dabei immer weiblich geschmeidig zu bleiben, nicht
Dittrich: Großmärkte sind sicher eine Art repräsentative Ver- irgendwann wie eine billige Transe rüberzukommen.
tretung der Bundesrepublik. Jede Bevölkerungsschicht ist an- SPIEGEL: Welchen Ihrer Figuren würden Sie eine Medienkar-
zutreffen. Wenn ich früher einen Durchhänger hatte, bin ich riere zutrauen?
gelegentlich in Baumärkte gegangen. Ich
wollte gar nichts kaufen. Es hat mich nur
beruhigt, nicht allein zu sein.
SPIEGEL: Ihre Media-Markt-Rollenspiele
werden von Kritikern, Werbern und Kon-
sumenten gelobt. Wie viel Deutschland
bilden Sie in diesen Spots ab?
Dittrich: Deutschland im Ganzen abzubil-
den war zunächst gar nicht das Klassen-
ziel. Eher unterschiedlich anstrengende
Leute zu finden, die – komisch überhöht –
eine große Bandbreite deutscher Kund-
schaft zeigen. Lustig, skurril, nervig, aber
doch liebenswert.
SPIEGEL: Wie viele standen zur Wahl?
Dittrich: Es gab 20 bis 30, zunächst eher
zweidimensionale Figurenideen, von der
Klingelton-infizierten 17-Jährigen bis zum
langweiligen Bürohengst, der eine Mikro- Werbekampagne mit Dittrich
welle kaufen will. Mein Ansatz war immer,
am Ende echte Menschen zu zeigen, keine Karikaturen. Das ist Dittrich: Wenn man es darauf anlegen wollte – allen.
meine Welt. Da kenne ich mich aus. Dann haben wir eingegrenzt, SPIEGEL: Warum taucht ausgerechnet Ihr berühmtestes
und es blieben acht Charaktere übrig, die nach wochenlanger Zweit-Ich, „Dittsche“, nicht zwischen den Regalen auf? Auch
Tüftelei anfingen zu leben. Es ist großartig, wenn das passiert. der braucht doch gelegentlich einen Fön oder eine Kaffee-
SPIEGEL: Wie schafft man das? maschine.
Dittrich: Mit Hilfe eines tollen Teams und Genauigkeit: model- Dittrich: „Dittsche“ bleibt draußen. Er hält sich nicht in die-
lierte Zähne, handgeknüpfte Perücken, aufwendige Kostüm- sem Kosmos auf, sondern lebt beschützt in seinem Imbiss. Bei
arbeit. Selbst Manschettenknöpfe, die man gar nicht sieht, müs- Ingo.

VERLAGE vorstellen, heißt es im Verlag. So könn-


ten etwa „Bild der Frau“ oder „Compu-
Umbaupläne bei „Bild“ ter Bild“ künftig fertigproduzierte
Mode- oder Autoseiten für das Massen-

D ie „Bild“-Gruppe soll trotz des an- blatt beisteuern. Vor allem die frisch in-
CHRISTIAN O. BRUCH / VISUM

stehenden Umzugs des Boulevard- stallierte Ratgeberseite vier der „Bild“


blatts von Hamburg nach Berlin enger könnte dann weitgehend an die Spezial-
zusammenrücken. Bereits im Dezember titel der Gruppe ausgegliedert werden.
hatte der Springer-Verlag Zeitungen und Das würde auch Kosten sparen. Die
Zeitschriften der „Bild“-Familie unter Auflage der „Bild“-Zeitung ist seit Jah-
Vorstand Andreas Wiele gebündelt und ren rückläufig, bisher konnte der Verlag
die bisher getrennte Anzeigenvermark- Diekmann jedoch über Preiserhöhungen immer
tung zusammengelegt. Nun soll auch wieder Rekordgewinne einfahren. Weil
der Austausch von Inhalten zwischen seit Dezember zugleich Herausgeber einige „Bild“-Mitarbeiter wohl ohnehin
dem Massenblatt „Bild“ und den in aller „Bild“-Titel, ist für die Vernetzung nicht mit nach Berlin gehen, biete der
Hamburg verbleibenden Zeitschriften unter dem Stichwort „Kompetenztrans- Umzug nun auch die Chance, über Stel-
wie „Bild der Frau“ forciert werden. fer“ zuständig und will seine Ideen lenbesetzungen und bessere Ressourcen-
„Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann, Anfang des Jahres den Chefredakteuren nutzung nachzudenken, heißt es im Haus.
72 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Rückblick 2007 Fernsehen

STEPHAN PERSCH / ZDF


JOE FISH / MULTIMEDIA
CINETEXT

WDR
„Der letzte Tanz“ „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ „Castells, lebende Türme“ „Bella Block: Weiße Nächte“

JANUAR, ARD die Seele dieser fiktionalen JULI, WDR Döhnert (Buch) hielten sich
Geschichtsstunde. trotz einer eingeflochtenen
Der letzte Tanz Castells, lebende Türme Liebesgeschichte an den
Vor der Vergangenheit APRIL, ARD Starke Männer, hübsche Geist der damaligen Abläufe.
braucht man nicht niederzu- Mädchen, leichte Kinder – Herb und überzeugend: An-
knien, man kann sie entsor-
Ein ganz gewöhnlicher Jude katalanische Menschen neke Kim Sarnau.
gen. Jan Ruzicka (Regie), Grandioses TV-Solo von Ben bauen mit ihrem Körper le-
Barbara Engelke und Bele Becker. Unter der Regie von bende Türme. Das wunder- OKTOBER, ZDF
Nord (Buch) zeigten, dass Oliver Hirschbiegel spielte bare Zusammenspiel von
sich flotte Dreierbeziehungen Becker einen eigentlich areli- Heimat und Irrsinn montier-
Bella Block: Weiße Nächte
aus den 68er Jahren nicht giösen Juden, der sich hoff- te Gereon Wetzel, 35, zu Dem Film mit Kommissarin
wiederholen lassen. nungslos in seinen Glaubens- einem spannenden Bilder- Bella Block (Hannelore Ho-
wurzeln verheddert. bogen. ger, Buch: Katrin Bühlig, Re-
FEBRUAR, ZDF gie: Christian von Castelberg)
MAI, PROSIEBEN AU G U ST, Z D F gelang es dank bester Schau-
KDD – Kriminaldauerdienst spielkunst, den russischen
Mit einem Schlag degradierte
Das Inferno – Eine andere Liga Opfern einer Kinderhandels-
dieses furiose Krimi-Spiel alle Flammen über Berlin Kleiner Kiez-Film vom Sieg organisation ein anrührendes
anderen TV-Polizeiwachen Packend realistisch lässt Re- einer Mädchen-Fußball- Gesicht zu geben.
des Landes zu Schlafsälen. Es gisseur Rainer Matsutani mannschaft über großkotzige
waren nicht nur die schnellen den Berliner Fernsehturm in Konkurrenz aus den besse- NOVEMBER, ARD
Schnitte und die Darsteller Flammen aufgehen. ren Wohnvierteln, so weit, so
(Götz Schubert, Manfred bekannt. Dann aber: die an-
Contergan
Zapatka, Saskia Vester), es JUNI, ZDF rührendste und schüchterns- Der Zuschauer durfte nach
waren die aberwitzig schreck- 37°: Kleine Schritte – te Liebesszene, die seit lan- langem juristischem Hin und
lichen Geschichten, die Autor gem im Fernsehen zu sehen Her endlich diese überzeu-
Orkun Ertener aus der Wirk- großes Glück war, die Begegnung einer gende Fernseherzählung von
lichkeit ins Fernsehen holte. Yogi, 11, ein tamilischer Jun- brustoperierten jungen Frau der größten Arzneimittel-
ge, blieb tapfer, klug und rea- (Karoline Herfurth) mit katastrophe sehen, die es je
MÄRZ, ARD listisch. Zum Fußballer, sei- ihrem jungen Trainer (Ken in Deutschland gegeben hat.
nem Lebensziel, werde er es Duken), von der Filme- Unvergesslich der Auftritt
Die Flucht wohl nicht mehr bringen, sag- macherin Buket Alakus hin- der gengeschädigten Denise
Bilder des Verlusts blieben te er. Das Borussia-Dort- reißend inszeniert. Marko.
hängen: die über das Eis zie- mund-Banner zierte trotzdem
henden Flüchtlingstrecks, trotzig seinen Rollstuhl. Yogi S E PTE M B E R , RT L DEZEMBER, ARD
das erfrorene Kind, der hat die sogenannte Glaskno-
Selbstmord des alten Grafen chenkrankheit. Wer an ihr
Prager Botschaft Späte Aussicht
(Jürgen Hentsch), den die leidet, ist einem brutalen Mit der Rekonstruktion der Überlastetes Personal und
Russen erschossen in seinem Wechsel zwischen Hoffnung Vorgänge im Spätsommer bürokratischer Starrsinn: Ein
Schloss finden. Dazu: Holly und erneuten Knochen- 1989, als DDR-Bürger auf das glänzendes Team greiser Dar-
Finks Kamera, Kai Wessels brüchen ausgesetzt. Simone Gelände der deutschen Bot- steller (Rosemarie Fendl,
Regie, die dem Optischen Grabs Film war beste Doku- schaft in Prag flüchteten, fei- Ernst Stankovski, Heinz Bau-
alle epische Freiheit gab, und mentationsarbeit, und die erte RTL eine Auferstehung mann) zeigt das harte Leben
eine herrisch-schöne Frauen- Reihe 37° ein Glücksfall im der Movie-Kunst. Lutz Ko- im Pflegeheim an den Gren-
gestalt (Maria Furtwängler), Fernsehen. nermann (Regie) und Rodica zen der Menschenwürde.
MARC MEYERBRÖKER/ZDF

SIMONE GRABS / ZDF

WILLI WEBER / WDR


RTL

„KDD – Kriminaldauerdienst“ „37°: Kleine Schritte …“ „Prager Botschaft“ „Contergan“


d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 73
Medien

GETTY IMAGES (L.); GEORG HILGEMANN / ACTION PRESS (R.)


Cruise , Holmes (bei der Bambi-Verleihung) „Anne Will“-Sendung

R. HAAS / SÜDDEUTSCHER VERLAG (M.); KNIPPERTZ / AP (R.)


OLIVER MARK / VANITY FAIR

„Vanity Fair“-Cover Struve Jauch

Medienakteure und -ereignisse 2007: Zu manchem Phänomen fiel selbst nachträglich niemandem eine sinnvolle Erklärung ein

AU S Z E IC H N U NGE N

Von Bambis und Bären


Deutschlands Medienmacher verleihen sich gegenseitig gern und viele Preise.
Ein paar besonders absurde Kategorien fehlen bislang – und werden hier nachgereicht.

Der Preis für den dümmsten Preis

E
s gibt im hiesigen Mediengewerbe bernste Laudatio, während die Auszeich-
eine kaum noch zu überschauende … geht an Burda. Natürlich sind Medien- nung für den durchgeknalltesten Preisträ-
Vielzahl von Preisen und Anerken- preise vor allem Marketinginstrumente. Un- ger an wen geht? Korrekt: Cruise, der sich
nungen. Deren Bedeutung lässt sich weni- ternehmen loben sie mit viel Pomp aus, um acht Minuten lang bedankte und zum Ende
ger am ästhetischen Wert der Trophäen Reklame in eigener Sache zu machen und hin Stauffenberg zitierte: „Es lebe das heili-
ablesen als an der Bekanntheit von Juro- sich zugleich in Glanz oder Seriosität der ge Deutschland.“ Amen. Rehauge, sei wach-
ren, Laudatoren – oder wenigstens der Gewinner zu sonnen. Journalisten/Stars sam! Und wenn wir schon bei Tieren sind:
profanen Höhe des Preisgeldes. greifen gern zu, weil sie mit Geld/Pres-
Besonders viel Phantasie investieren tige/Medienpräsenz/Jobangeboten rechnen Die Bären-Marke am Band
die Ausrichter mittlerweile in die Gestal- können. Schwierig wird es, wenn man zwar … gebührt dem Berliner Eisbär-Baby Knut.
tung einzelner Kategorien, wie nicht nur Preis und Promi hat, aber noch keinen Er und die britische Queen sind die einzi-
die Anfang November verliehenen MTV- Grund. Tom Cruise erhielt Burdas Bambi gen Welt-Topstars, die sich nicht mal an
Awards belegten. Dort gab es auch für den für seine Courage. Courage? Courage! Be- Regieanweisungen der US-Fotografiegöttin
„Künstler“ mit der „besten Fan- oder On- gründung: Weil er „bereit ist, für seine Pro- Annie Leibovitz halten. Knut feierte gera-
line-Interaktion“ einen Preis (der übrigens jekte auch Risiken einzugehen“. Risiken? de seinen ersten Geburtstag, Elizabeth II.
an Tokio Hotel ging). Man weiß nicht so Risiken! Vielleicht das Risiko, dass Cruise’ 2007 ihre diamantene Hochzeit.
recht, wie Stars online interagieren. Aber neuer Film, in dem er Claus Schenk Graf
das Kategorienthema ist damit noch lange von Stauffenberg spielt, weniger als hundert Der innovativste Sender
nicht ausgereizt. Das zu Ende gehende Millionen Euro einspielen könnte? „FAZ“- … ist – kaum zu glauben, aber hallo – die
Medienjahr hätte noch viel Platz geboten Herausgeber Frank Schirrmacher fand das gute, alte ARD! Sabine Christiansen heißt
für Auszeichnungen, die an dieser Stelle mit der Courage übrigens toll und erhält jetzt Anne Will heißt jetzt Caren Miosga
deshalb nachgeholt werden sollen: deshalb den „Welken Lorbeer“ für die al- („Tagesthemen“) heißt jetzt Dieter Moor
74 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
PHILIPP RATHMER / VOX (R.)
MICHAEL PROBST / AP

Kirch „Rich“-Cover Mälzer

RTL (L.); KATHRIN SCHUBERT / VOX (R.)

„Bauer sucht Frau“-Sendung Kiewel (M., beim „Perfekten Promi Dinner“)

(„Titel Thesen Temperamente“). Harald über die Hälfte des deutschen Privatfernse- sam ein zwölfgängiges Menü zuzubereiten.
Schmidt hat jetzt Oliver Pocher und Frank hens (unter anderem ProSieben, Sat.1, Ka- Wer’s nicht rechtzeitig schafft, wird unge-
Plasberg den Sprung ins Erste geschafft. bel 1, DSF, Premiere) eine fulminante Pleite bremst durch den Bodennebel geschickt.
So viel Umbaulust war selten, erst recht in hingelegt. Nun bastelt er sich ein neues Im-
einem öffentlich-rechtlichen Apparat, was perium. Kirch hat noch Zeit für Hobbys: die Quotenüberraschung Nummer eins
auch mit folgender Person zu tun hat: Deutsche Bank auf Milliarden verklagen, Meist können Journalisten im Nachhinein
weil sie mitschuldig sei an seinem Absturz. immer prima begründen, weshalb eine neue
Der verrückteste TV-Macher Sendung erfolgreich beziehungsweise ein
… gehört schon lange nicht mehr zu jener Den Pleitegeier in Plastik Desaster werden musste. Zu den Wahn-
Zielgruppe, die immer noch irrtümlicher- … sicherte sich das vermeintliche Mil- sinnsquoten der RTL-Real-live-edutain-
weise als werberelevant gilt: Günter Struve lionärsmagazin „Rich“. Es sollte ein mit ment-docusoap-events „Bauer sucht Frau“
ist 67, Noch-Programmchef der ARD und Anzeigen vollgestopfter Schnöselkatalog fiel niemandem eine wirklich plausible Er-
wahrscheinlich der wahnsinnigste deut- werden, den es nicht mal am Kiosk, son- klärung ein: Ebenso hilflos stoffeligen wie
sche Programm-Besessene, findet nicht nur dern für Superreiche frei Haus gab. Nach paarungsbereiten Landwirten werden Frau-
Harald Schmidt. Struves Nachfolger wird nur drei Monaten stellte das Blatt Insol- en zugeführt, um dann das Balzverhalten zu
demnächst Volker Herres, dessen Irrsinn venzantrag. „‚Rich‘ muss man sich verdie- beobachten. Aufbereitet wird das Ganze in
noch als ausbaufähig gilt – wie die Markt- nen“, war der Slogan des ersten und wohl einer Mischung aus Wenn’s-in-der-Leder-
anteile, die 2007 so schlecht waren wie nie auch letzten deutschen „Statusmagazins“. hos’n-juckt, Hof-Tristesse und schlager-
zuvor seit Gründung der ARD. Vielleicht Den Spott der Branche gab’s gratis. kitschigem Klangteppich. Teils mehr als acht
sterben ihr doch langsam die Zuschauer Millionen schauten zu. Folgende Varianten
weg. Durchschnittsalter: 59 Jahre. Auferstanden-aus-Kantinen-Award böten sich für weitere gebeutelte Berufs-
– den hat sich das Genre der Kochshows gruppen an: „Lokführer sucht Frau“, „Koch
Die nacktesten Wahrheiten hart erarbeitet. Unfassbar, was dieses Jahr sucht Job“, „Promi sucht Sender“. Apropos:
… lieferte Günther Jauch. Ein halbes Jahr auf allen Kanälen gebrutzelt und blanchiert
lang hatte er mit der ARD um den Sonn- wurde! Billigstproduzierte TV-Unterhal- Die unbekanntesten Promis
tagabend-Talkshow-Platz verhandelt und tung, die zugleich als Reklamebühne jener … zeigt jede Woche Vox. Das Format zum
am Ende entnervt aufgegeben. Über „Gre- Top(f)stars herhalten muss, die in ihren ei- Preis heißt „Das perfekte Promi Dinner“
mien voller Gremlins“ wetterte er frisch genen Restaurants gar nicht mehr gesehen und präsentiert beim gegenseitigen Beko-
enttäuscht im SPIEGEL, über „Profilneu- werden vor lauter Medienkarriere – wie chen vier angeblich bekannte Menschen,
rotiker“, „Irrlichter“ und „Wichtigtuer“. etwa Tim Mälzer. Das Genre zerkocht sich die sonst niemand kennt. Oder haben Sie
So wenig Maskerade ist im hiesigen Show- aber gerade selbst, weil alles immer spek- schon mal von Michael Meziani, Mary
geschäft selten. takulärer wird, damit öder – und erfolglo- Amiri, Katja Mitchell oder Doreen Dietel
ser. Unbestätigten Gerüchten zufolge plant gehört? Wer gar nichts hat und ist, wird
Der Jungunternehmer-Preis RTL noch, ein Dutzend der bekanntesten in den erklärenden Untertiteln „Schmuck-
… geht an Leo Kirch. Vor fünf Jahren hat TV-Köche beim Fallschirmsprung aus 10000 designerin“ genannt oder „Ex-Model“.
der mittlerweile 81-Jährige als Herrscher Meter Höhe versuchen zu lassen, gemein- Auch „Schauspieler“ ist ein Hinweis dar-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 75
CHRISTOPHER ADOLPH/VARIO IMAGES (L.); REUTERS (R.)
Klum, Darnell (mit Nachwuchsmodel Barbara) Übertragungswagen (bei der Tour de France 2007)

ADOLPH / EVENTPRESS (L.), STEPHAN PICK (R.)

Pocher, Schmidt Schöneberger

auf, dass der nächste Karriereschritt zum tion stimmt – die Auflage noch nicht so. bei Anne Will. Ach ja, und auf einem el-
Arbeitsamt führen müsste. Eine der be- Berlin ist eben nicht Beverly Hills. fenbeinfarbenen Sofa wartet immer ein
kannteren Teilnehmerinnen war mal die Normalmensch auf einen Kurzeinsatz als
ZDF-„Fernsehgarten“-Moderatorin Andrea Die Goldene 1 + 1= – 2 Stimme aus dem Volk. Klar, Will ist viel
Kiewel, die Ende des Jahres dann alles … haben sich Harald Schmidt und sein besser vorbereitet und kritisch und alles.
verlor: Jobs, Restglaubwürdigkeit, Gatten Show-Nachwuchs Oliver Pocher verdient. Aber irgendwie ist es die gleiche Soße wie
und Zukunft. Der SPIEGEL hatte ihre Vor ihrer ersten gemeinsamen Show waren früher – nur in Dunkelbraun.
Schleichwerbeverträge mit den Weight die Hoffnungen enorm, dass beide Seiten
Watchers enthüllt. Aber selbst Kiewel dürf- von der Late-Night-Liaison profitieren wür- Den Zickzack-Award
te 2008 medial resozialisiert werden. Viel- den. Leider zerstören sie nun den Ruf des ... verdienten sich ARD und ZDF mit ihrer
leicht mit einer Kochshow auf Neun Live? jeweils anderen: Pocher wirkt neben Schmidt Tour-de-France-Berichterstattung. Erst fan-
Oder im „Dschungelcamp“, dessen dritten wie ein glucksender Sonderschulabbrecher den sie die Leistungsschau der Pharma-
Aufguss RTL für Anfang 2008 angedroht auf Ecstasy, Schmidt neben Pocher wie ein industrie super sauber, dann super eklig.
hat? Und wenn wir schon bei der sich epi- Sozialkundelehrer, der reich geerbt hat. Ge- Erst glaubten sie an die Macht der Er-
demisch ausbreitenden Klasse der C-Pro- meinsam sind sie unausstehlich. Schmidt, neuerung, dann wollten sie nix wie raus.
mis sind: bitte, bitte, versuchen Sie’s wieder solo! Neuerdings findet die ARD alles wieder
super sauber und will 2008 wieder dabei
Bester Roberto-Blanco-Ersatz Der größte Journalisten-Witz sein. Da ist selbst die Telekom weiter, die
… als die lustige, sexiest Neger von de … ist „Bild“-Kolumnist Norbert Körz- ihr Spritz-Tour-Team nicht mehr sponsern
whole doitsche Land is’ Bruce Darnell, där dörfer (auch bekannt unter dem Künstler- mag.
wou bei Heidi Klums „Germany’s Next namen „Blieswood“). Am schlimmsten
Topmodel“ auf ProSieben in die Jury im- führt er sich auf, wenn er Tom Cruise Superweiber 2007
ma noch mehr geflennt hat als die Mädels, zum Immer-mal-wieder-Weltexklusiv-In- Barbara Schöneberger könnte auch in
wenn eine rausgefloge is’. Nach die zweite terview trifft, in dem der Scientologe dann der Rubrik „Rampensau/Abt.: sehr blond“
Staffel, er selbst is’ gefloge, was nix mit beichtet, dass er Frau und Kind liebt, reüssieren. Gibt es überhaupt noch eine
seine Sprasche zu tun haben. 2008 er darf Deutschland toll findet und Norbert sein Show, die diese Frau nicht moderiert/de-
acting als the neue Star in eine ARD-Coa- Freund ist. Distanz versucht „Körzi“ nicht koriert/frequentiert? „Jetzt singt sie auch
chingshow mit de Bruce als de Bruce. We mal mehr zu heucheln: „Ich kenne Tom noch“ – und genau so nannte sie ihr Ge-
love you! You’re so weißnichtwhatbutgut! Cruise. Ich flog in seinem Jet. Ich saß im sangsdebüt, weil Selbstironie heutzutage
Jeep neben ihm, als er Katie Holmes zum Programm gehört. Ab 2008 Gast-
Der Goldene Anglizismus zungenküsste.“ In puncto totaler Kritik- geberin der „NDR Talk Show“. Veronica
… gebührt trotzdem Ulf Poschardt, Chef- losigkeit löst er damit den „Bild“-Papst- Ferres, fast noch überaller als Schöne-
redakteur der im Frühjahr gestarteten beauftragten Andreas Englisch ab. berger, aber inklusive anspruchsvoller
deutschen Ausgabe des US-Blatts „Vanity TV-Movie-Rollen („Checkpoint Charlie“).
Fair“. Poschardt will „Facts and Figures“ Die beste Christiansen-Kopie Schwerste Betroffenheit wird mitgeliefert.
über die „Movers and Shakers“ liefern und Früher saßen fünf Wichtigtuer bei Sabine Da ist sie Maria Furtwängler ähnlich, die
ist sicher, dass der „Spirit“ seiner Redak- Christiansen. Jetzt sitzen fünf Wichtigtuer nicht nur „Tatort“-Kommissarin, Ärztin
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HOFFMANN/IMAGO (M.); RAUPACH/ULLSTEIN BILD (R.)
CONNY KLEIN / ARD / DEGETO
Furtwängler in „Die Flucht“ Kerkeling SPIEGEL-Redaktionshaus

BABIRAD PICTURE (L.); KAY NIETFELD / DPA (R.)

Will, Meckel Herman-Abgang bei „Kerner“

und Dirigenten-Großnichte ist, sondern Beichte gehofft. Dass die beiden am Ende Buch des Papstes – auf Platz eins der SPIE-
sich einbringen will in ihre Rollen und von ausgerechnet „Bild am Sonntag“ die Ent- GEL-Bestsellerliste stand, wo das Werk
Wladimir Putin schon mal forderte, sich hüllung samt Ein-Satz-Geständnis („Ja, wir auch schon die zweite Hälfte 2006 wie fest-
für die Vergewaltigung deutscher Frauen sind ein Paar“) schenkten – geschenkt! Zur geschraubt war. Inzwischen wurden fast
bei der Vertreibung der Deutschen aus den Strafe mussten sie mit dem Springer-Ge- drei Millionen Exemplare verkauft. Das
Ostgebieten zu entschuldigen. Für ihren säftel über ihre „mutige Liebes-Beichte“ Buch hat längst den Status des Top-Ver-
dazu passenden ARD-Zweiteiler „Die leben. legenheitsgeschenks erreicht und eignet
Flucht“ gab’s passenderweise den Publi- 2) TV-Talkerin Maybrit Illner und Tele- sich für Geburtstage und Hochzeiten wie
kums-Bambi aus dem Verlag ihres Gatten. kom-Chef René Obermann: Meinungs- Beerdigungen. Bitte als Nächstes: „Ich bin
Demgegenüber stürzt Christine Neubauer trifft Marktmacht? Kommunikation trifft dann mal da – Hapes Kreuzweg durch 25
allmählich ab auf dem schmalen Grat zwi- Kapital? Egal. Alle „Sucht Anschluss“-, Jahre Privatfernsehen“.
schen Superweib und Moppel-Ich. „Scharfe Nummer“- und „Heißer Draht“-
Witze waren schnell erschöpft. Den erfolgreichsten Rausschmiss
Supermann 2008? 3) Gülcan und Sebastian: Sie ist Viva- … erlebte Eva Herman bei Johannes B.
„heute-journal“-Moderator Claus Kleber Moderatorin mit einer Stimme, die jeden Kerner. Vom Moderator bedrängt, von
schien ein paar Tage lang für die wirklich Hamster zerreißt. Er heißt Kamps und zwei aufgeregten Profi-Betroffenen (Senta
ganz großen Aufgaben auf den eisigen Gip- ist hauptberuflich Sohn des gleichnami- Berger, Margarethe Schreinemakers) ein-
feln des deutschen Mediengeschäfts prä- gen Backwaren-Millionärs. Deutscher Proll gekeilt, war der TV-Rauswurf das Beste,
destiniert. Bleibt jetzt aber doch lieber und deutsch-türkische Barbie – Völkerver- was der Buchautorin und Familien-Missio-
beim warmen ZDF. ständigung in ihrer schrecklichsten Form. narin passieren konnte. Einer Apotheose
Heirateten in acht Folgen vor dem IQ-Pre- zur Märtyrerin für obskure Kirchenkreise
Der Heimwerker-Preis kariat des ProSieben-Publikums. und Altrechte steht nun nichts mehr im
… für das beste selbstgebastelte Layout 4) Bärbel Schäfer, Michel Friedman: Er Wege. Kerner verdanken wir bei der Ge-
ohne Störung durch teure, externe Grafik- ist Autor von „Vanity Fair“, wo er sich legenheit das schönste Political-Correct-
päpste geht an die „Frankfurter Allge- zuletzt von dem alten Neonazi Horst Mah- ness-Missverständnis des Jahres: „Auto-
meine“. Sie hat ihre Frakturschrift über ler mit „Heil Hitler“ begrüßen ließ. Über bahn geht halt nicht!“
den Kommentaren abgeschafft und nun sie wurde zuletzt gemeldet, sie werde
ein buntes Foto auf Seite eins. Wenn die „für den auf Literatur spezialisierten Pay- Das meistzitierte Medium
Frankfurter aussehen wollten wie alle Zei- TV-Kanal Lettra zweimal monatlich bei … ist 2007 wie immer der SPIEGEL. Und
tungen, dann haben sie das geschafft. Schriftstellern zum Plaudern vorbeischau- das nicht etwa deshalb, weil er gegen Ende
Glückwunsch! en“. Beiden gönnt man die Traumkarriere. des Jahres so oft selbst Objekt der Bericht-
erstattung wurde. Außerdem verdient das
Power-Paare of the Year Die heiligste Schrift des Jahres Magazin den deutschen Transparenz-Preis.
1) Anne Will und Miriam Meckel hätten … war nicht „Harry Potter“, sondern Hape So offen agiert kaum ein anderes Medien-
ihre Beziehung nicht mehr publik machen Kerkelings Jakobsweg-Tagebuch „Ich bin unternehmen. Wechselt gerade die Chef-
müssen. Alle Medien-und-auch-sonst-Jour- dann mal weg“, das 49 Wochen – nur kurz redaktion. Sonst ist aber alles okay.
nalisten hatten irgendwann auf die Lesben- unterbrochen ausgerechnet vom „Jesus“- Jury: Markus Brauck, Thomas Tuma

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 77
Panorama Ausland
Mönchsproteste (im September)

klopften im Schutz der Dämme-


rung an Haustüren und riefen ihre
Mitbürger zum einwöchigen Gene-
ralstreik auf. Die Aktion hatte nach
Augenzeugenberichten am Montag
in den Vororten der ehemaligen
Hauptstadt Rangun begonnen und
sich bis Donnerstag bereits nach
Mandalay und Pakokku ausgebrei-
tet. Offenbar hatten die Regimekri-
tiker ihr Vorgehen gut koordiniert.
Neben Flugblättern verteilten sie
auch CDs, auf denen bis dahin
noch nicht bekanntes Material über
das brutale Vorgehen der Sicher-
heitskräfte gegen die Mönche zu
sehen ist.
AFP

Andere Mitglieder von Protest-


gruppen organisierten Telefonket-
BURMA ten, riefen Prominente an und forderten sie auf, bald wieder
gegen die Militärs auf die Straße zu gehen. Auch die „Allianz

Aufruf zum Streik der Mönche Burmas“, die im September in Pakokku gegrün-
det worden war und die Proteste damals wesentlich voran-
getrieben hatte, meldete sich aus dem Untergrund zu Wort.

A uf den ersten Blick scheint die Junta das südostasiatische


Land nach den blutig niedergeschlagenen Aufständen vom
September wieder fest im Griff zu haben. Doch es rumort wei-
Sie ermahnte ihre Anhänger, sich nicht einschüchtern zu lassen
und weiterhin keine Almosen von Angehörigen des Militärs,
Beamten der Regierung und deren Familien anzunehmen.
ter im Land der Pagoden. Buddhistische Mönche und Dissi- Gemäß dem buddhistischen Glauben kommt das einer Ex-
denten zogen vergangene Woche durch Städte und Dörfer, kommunizierung gleich.

AU ST R A L I E N unterzeichnete Rudd mit seinem promi- PERU


nenten Umweltminister, dem früheren
Klima im Wandel Sänger der Rockband Midnight Oil,
Peter Garrett, medienwirksam das Kyo-
Kokain statt Revolution
V ier Wochen ist die neue Labor-Re-
gierung erst im Amt, doch Minister-
präsident Kevin Rudd lässt keinen Tag
to-Protokoll – auch dagegen hatte sich
Ex-Premier John Howard stets ener-
gisch gewehrt. Nun will Canberra sogar
D ie maoistische Terrortruppe Leuch-
tender Pfad hat der Revolution
abgeschworen – und sich mit der Ko-
verstreichen, ohne mit der Politik seines seine Asylpolitik überprüfen, die im in- kainmafia im peruanischen Urwald
ternationalen Ver- zusammengetan. In den vergangenen
gleich besonders Monaten verübten die Guerilleros
A. BERRY/AFP (L.); M. CHEBIL/POLARIS/STUDIO X (R.)

restriktiv ist. Die mehrere Anschläge auf Polizeiposten in


„pazifische Lö- den Tälern der Flüsse Apurímac und
sung“, wonach Ene östlich der Anden, einem wichtigen
illegale Einwande- Anbaugebiet für Koka. Die Kämpfer
rer auf entfernte verfügen nach Aussagen von Dorf-
Pazifikinseln ver- bewohnern über moderne Waffen. Von
schifft wurden, soll ihrem Anführer Abimael Gúzman, der
bald der Vergan- in einer Marinebasis bei Lima inhaftiert
genheit angehö- ist, sollen sie sich losgesagt haben; sie
ren: Sie ist kost- handeln als „be-
spielig, ineffizient waffneter Arm“
Rudd Garrett und inhuman. Als der Drogenmafia.
Nächstes könnte Experten fürch-
konservativen Vorgängers aufzuräumen. Rudd, einst ein Karrierediplomat, ten, dass der
Anfang Dezember kündigte Rudd den der fließend Chinesisch spricht, auch Leuchtende Pfad
Abzug der 580 australischen Soldaten die bisherigen Leitlinien in der Außen- in Allianz mit den
im Irak bis zum Juni 2008 an. Dann ver- wirtschaftspolitik korrigieren: Anders Kokainhändlern
sprach er, sich bei den Ureinwohnern als der erklärte Bush-Freund Howard ganze Landstriche
für Massaker und Misshandlungen aus sucht der neue Premier mehr Ab- unter seine Kon-
CORBIS

der Siedlerzeit zu entschuldigen. Und stand zu Amerika – und mehr Nähe trolle bringen
auf der Uno-Klimakonferenz auf Bali zu China. könnte. Maoistische Kämpfer (1984)
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 79
Rückblick 2007
GIULIA BONGIORNO, ziehen sich Verfahren in der
MICHELLE HUNZIKER Regel jahrelang hin. Und
Michelle Hunziker sagt: „Die
Doppelte Gewalt ist nah, im Haus,
aber auch im Büro.“ Die bei-
Verteidigung den Frauen hatten sich vor
vier Jahren kennengelernt,

W enn „der schönste Po


des Landes“ und eine
rechtskonservative Abgeord-
als Hunziker, von anonymen
Briefen verfolgt, bei der An-
wältin Rat suchte. Bongiorno
nete sich für Frauenrechte ist in der Justizszene nicht
starkmachen – dann ist die weniger bekannt als Hunzi-
Chance groß, dass ker im Fernsehen.
ANTONIO SCATTOLON A3 / LAIF / CONTRASTO
die Meldung aus Mit gerade 33 Jah-
Italien kommt. Mi- ren verteidigte
chelle Hunziker und die Sizilianerin die
Giulia Bongiorno, Polit-Legende
die Verteidigerin des Giulio Andreotti
früheren Premiers gegen die Anklage,
Giulio Andreotti mit der Mafia ge-
im spektakulären meinsame Sache
Mafia-Prozess von gemacht zu haben.
Er wurde freige-
sprochen, Bongiorno ist seit-
dem die bekannteste Anwäl-
tin Italiens. Während der Silva neben Massengrab bei Villa Fruela (Kastilien)
Fußball-Europameisterschaft
2004 wurde Italiens Stürmer
Francesco Totti für drei Spie- „Verein zur Wiedererlangung DIETER SCHOLZ
le gesperrt, weil er einen der historischen Erinnerung“
dänischen Spieler angespuckt
hatte. Auch er nahm sich
und öffnete inzwischen schon
das 90. Massengrab; Gerichts-
Krise der
Giulia Bongiorno zur Vertei-
digerin. Zurzeit sitzt die Ju-
mediziner halfen mit kosten-
losen DNA-Analysen bei
Führerschaft
ristin für die Nationalallianz
des Postfaschisten Gianfranco
Fini im Parlament – ihrem
der Identifizierung der Toten.
Es ist vor allem die Genera-
tion der Enkel, die mehr als
S chon als Missionar pran-
gerte er in den siebziger
Jahren die Verbrechen des
Parteichef stand sie bei des- 30 Jahre nach dem Ende der rhodesischen Apartheid-
sen Scheidung zur Seite. Franco-Herrschaft Aufklä- Regimes an, mehrfach verhaf-
rung verlangt und sich nicht tete ihn die Geheimpolizei.
E M I L I O S I LVA mehr an das offizielle Schwei- 30 Jahre später heißt dasselbe
gegebot der letzten Jahrzehn- Land Simbabwe, aber um die
Ende des te halten will. Dass das spani-
sche Parlament kurz vor Jah-
Menschenrechte ist es kaum
besser bestellt – und Dieter
Schweigens
PHOTOMOVIE / INTER-TOPICS

resende nun auch ein „Gesetz Scholz hat immer noch Ärger
zur historischen Erinnerung“ mit der Obrigkeit. Heute

A uf dem Sterbebett hatte


die Großmutter dem
Journalisten-Enkel einst ent-
an die Opfer des Bürgerkriegs
und der Diktatur Francos ver-
abschiedete, ist nicht zuletzt
sind dem 69-Jährigen die Hä-
scher des Autokraten Robert
Mugabe auf den Fersen. Be-
hüllt, dass ihr Mann 1936 aus ein Sieg Emilio Silvas. Es sagt vor der gebürtige Berliner
Hunziker, Bongiorno seinem Dorf im Nordwesten staatliche Unterstützung bei im vergangenen Jahr zum Bi-
Spaniens von Falangisten der Suche nach Verschollenen schof geweiht wurde, nahmen
1999, haben die Stiftung verschleppt und erschossen zu – neueste Forschungen ihn zwei Agenten der berüch-
„Doppia Difesa“ („Doppelte worden sei. Emilio Silva, 42, gehen von einer Viertelmil-
Verteidigung“) gegründet, machte sich daraufhin auf die lion Verschleppter aus, deren Scholz
zum Schutz von Frauen und Suche. Und tatsächlich: Mit Schicksal bis heute unklar ist.
Kindern vor Gewalt. „Gewalt Hilfe eines greisen Zeugen Trotzdem ist Emilio Silva
ist keine Privatangelegenheit. fand er jenen Platz, wo sein nicht zufrieden. Er fordert
Mach die Tür auf!“, so ihr Großvater mit zwölf weite- einen genauen Zensus aller
Motto. Im Jahr 2006 sind ren Männern hingerichtet Toten des Bürgerkriegs und
in Italien mehr als eine Mil- und im Straßengraben ver- der Zeit danach sowie Ent-
THILO THIELKE / DER SPIEGEL

lion Frauen Opfer von Ver- scharrt worden war. Silva ließ schädigung für Verfolgte, die
gewaltigung und anderen die sterblichen Überreste unter Franco Zwangsarbeit
Übergriffen geworden. „Wir exhumieren. Aus ganz Spa- leisten mussten oder enteig-
wollen versuchen, die Pro- nien meldeten sich daraufhin net wurden. Silvas Kampf ge-
zessdauer zu verringern“, Angehörige vermisster Franco- gen die Lebenslügen des mo-
sagt Bongiorno. In Italien Opfer. Silva gründete den dernen Spanien geht weiter.
80 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Ausland
Bischofsweihe gemischt hatte, gierungskritischen Fernseh- nen Dollar Darlehen an klam-
mag eine persönliche Geste senders RCTV an. Später me Eigenheimbesitzer. Mit
an den Deutschen gewesen trieb er seine Kommilitonen einem Sonderprogramm von
sein: Der Staatschef wurde zum Protest gegen das Verfas- insgesamt 200 Millionen
von Jesuiten großgezogen; sungsreferendum im Dezem- Dollar will er Tausende Haus-
Dieter Scholz und seine Glau- ber, mit dem Chávez seine eigner vor der Zwangsverstei-
bensbrüder verbargen ihn Macht auszuweiten versuch- gerung bewahren. Der Ban-
einst vor dem rhodesischen te. Anhänger des Staatschefs ker begann seine Karriere bei
Geheimdienst. „Mugabe war brachen Goicoechea bei einer der First National Bank. Aber
damals ein afrikanischer Na- Schlägerei das Nasenbein, er will mehr als nur Geld ver-
tionalist, ein Streiter für die auch Morddrohungen hat der dienen: Er will den Schwa-
Rechte der Schwarzen“, sagt Student schon erhalten. Doch chen Schutz bieten, den der
Scholz, „heute ist er ein starr- der Enkel baskischer Einwan- Staat versagt. Ronald Grzy-
sinniger Diktator und keinen derer gilt als Dickschädel. Er winski ist der Robin Hood
Deut besser als sein weißer ist ein glänzender Redner, des amerikanischen Kapitalis-
Vorgänger Ian Smith.“ man spürt den Scharfsinn der mus. Schon 1973 kaufte er
Jesuiten, die ihn während sei- mit drei Kollegen die South
YON GOICOE CHEA nes Studiums an der katholi- Shore National Bank in der
schen Universität „Andrés South Side von Chicago und
Baskischer Bello“ rhetorisch und intel-
lektuell geschult haben. Die
Dickschädel Niederlage des Präsidenten
beim Verfassungsreferendum

V enezuelas Staatsfeind
Nummer eins ist 23 und
ist für Goicoechea nur ein
Etappensieg; Chávez strebe
REA / LAIF

studiert Jura im letzten Se- weiterhin nach einem tota-


mester. Präsident Hugo litären System, warnt er. Sein
Chávez’ Leute lassen Yon Studium ist in wenigen Mo-
tigten Central Intelligence Goicoechea kaum aus den naten beendet, danach wollte
Organization (CIO) ins Ver- Augen. Kürzlich zum Beispiel er eigentlich Anwalt werden.
hör. Vergangenes Frühjahr mischte sich ein Abgesandter Doch daraus wird wohl
hat Scholz, ein rotgesichtiger der venezolanischen Bot- nichts, Goicoechea hat sich

COUTESY SHOREBANK CORPORATION


Mann mit schlohweißem schaft unter die Journalisten, bereits ganz der Politik ver-
Haar, einen Hirtenbrief der als Goicoechea vor der Presse schrieben. Im Februar will er
simbabwischen Bischöfe im Europaparlament erläuter- eine Partei gründen, die
unterzeichnet. Darin wird sich an sozialdemokratischen
Mugabes Regime kritisiert: Werten orientieren soll.
Die Machthaber seien „hass- Kaum noch überraschend:
erfüllt, voller Missachtung, Er kann sich inzwischen
rassistisch, korrupt, gesetzlos, vorstellen, irgendwann selbst Grzywinski
ungerecht, habgierig, uneh- Präsident zu werden.
renhaft und brutal, um an baute sie zu einem Kreditin-
den Privilegien von Macht RONALD GRZYWINSKI stitut für Schwarze und andere
und Reichtum festzuhalten“. Minderheiten aus. Um deren
Trotz „der Rede von der
Sozialistischen Reform“ sei
Der Robin Hood Viertel machen die anderen
Geldhäuser einen weiten Bo-
von Chicago
NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF

Mugabes Regime noch re- gen. Allein in Chicago half


pressiver als das der Rhode- er, mit drei Milliarden Dollar
sier: Häftlinge würden gefol-
tert, Demonstranten verprü-
gelt, die Krise des Landes
D as Eigenheim ist die Tro-
phäe der amerikanischen
Mittelschicht. Es zeigt, wer es
52 000 Sozialwohnungen zu fi-
nanzieren. Seit den achtziger
Jahren ist Grzywinski auch
sei „eine Krise der Führer- geschafft hat in einem Land, in der Dritten Welt aktiv. In
schaft“. Im heutigen Simbab- das für Erfolglose nur Verach- Bangladesch beriet die Shore-
we sind solche Sätze gefähr- Goicoechea tung übrig hat. Seit im Früh- Bank Friedensnobelpreis-
lich. Mugabe lässt Kritiker jahr die Immobilienkrise her- träger Muhammad Yunus, der
im Gefängnis verschwinden, te, warum er Chávez für ei- einbrach, sind Hunderttau- sich dafür einsetzt, sogenann-
Tausende weiße Farmer wur- nen potentiellen Diktator hal- sende Amerikaner mit ihrem te Mikrokredite zu vergeben,
den vertrieben, die Wirtschaft te: Der Regierungsvertreter Häuschen in der Vorstadt statt Millionen in gigantischen
des Landes ist ruiniert. Mitt- beschimpfte ihn als „Lakaien vom sozialen Absturz be- Entwicklungshilfeprojekten
lerweile liegt die Inflations- des US-Imperialismus“. Goi- droht. Weil viele von ihnen zu verpulvern. Ex-Präsident
rate über 7000 Prozent, das coechea ist der charisma- die Raten nicht mehr aufbrin- Bill Clinton nannte die Shore-
Volk hungert, nichts habe tischste unter den Studenten- gen wollen, lassen die Ban- Bank „die wichtigste Bank
sich in diesem Jahr zum Bes- führern, die den Caudillo ken sie fallen. Ronald Grzy- Amerikas“. Und das Magazin
seren gewendet, sagt Scholz. herausgefordert haben. Im winski bildet die Ausnahme: „US News & World Report“
Dass sich Mugabe trotz der Frühjahr führte er die Pro- Sein Geldinstitut, die Shore- wählte Grzywinski zu einer
Kritik mit einer Militäreskor- testmärsche der Studenten Bank in Chicago, verteilte der wichtigsten Führungsper-
te unter die 5000 Gäste der gegen die Schließung des re- mitten in der Krise 4,5 Millio- sönlichkeiten des Jahres 2007.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 81
Titel

Märtyrerin der
Macht
Mit Benazir Bhutto starb wohl die letzte Chance, das Land
zwischen Hindukusch und Arabischem Meer
zu befrieden. Die Atommacht Pakistan, Verbündete der
USA und Brutstätte islamistischer Gewalt,
droht nach dem Attentat von Rawalpindi im Chaos
zu versinken – und die Welt mit sich zu reißen.

S
ie konnte alles sein: für ihre Wähler sie mochte oder nicht, ob die Regierung
Princess Charming mit sanfter, ein- von George W. Bush richtig damit lag, sie
schmeichelnder Stimme und betören- als ihre Favoritin und große Hoffnungs-
dem Augenaufschlag, Gott und die Welt trägerin der Demokratie aufzubauen – kalt
versprechend. Gutsherrin gegenüber ihren hat sie keinen gelassen.
Untergebenen der Landgüter von Larkana, An diesem schicksalhaften Donnerstag-
ungeduldig im Ton, hart in der Sache. In- nachmittag in der Garnisonsstadt Rawal-
stinktpolitikerin im Umgang mit ihren pindi, nur wenige Kilometer vom Parla-
Parteifreunden und politischen Gegnern, ment und den Ministerien Islamabads ent-
begnadet im Aufnehmen von Stimmungen fernt, will sie Wahlkampf machen. Sie will
und unerbittlich in der Durchsetzung ihrer die Entschlossene im Kampf gegen isla-
Pläne: Benazir Bhutto, 54, ein Produkt mistischen Terror geben, sich als Retterin
westlicher Elite-Erziehung und östlicher Pakistans präsentieren. Frau Bhutto – erst
Feudalgesinnung, bewundert von den ei- Mitte Oktober nach über achtjährigem Exil
nen und gepriesen als beste Chance für ihr in ihre Heimat zurückgekehrt – liegt mit
Land und als Fackelträgerin der Demokra- ihrer „Volkspartei“ PPP vorn in den Mei-
tie; gehasst von den anderen, die sie eine nungsumfragen zur Parlamentswahl, die
korrupte, beratungsresistente Egomanin Präsident Pervez Musharraf für den 8. Ja-
schimpften – die Evita Perón Pakistans, nuar angesetzt hat.
mit dem IQ einer Hillary Clinton und dem Hoffnung, fast so etwas wie eine feier- Oppositionsführerin Bhutto am 27. Dezember 2007
eisernen Willen einer Maggie Thatcher. liche Aufbruchstimmung liegt in der klaren
Die „Unvergleichliche“ bedeutet ihr Winterluft, als sich die Kandidatin zu ihrem Volksnähe bestanden, trotz des Attentats
Vorname, den die ehrgeizigen und mäch- Auftritt chauffieren lässt: weiß der Wagen, von Karatschi, wo wenige Stunden nach
tigen Eltern für ihr Kind aussuchten; als weiß das altertümliche Megafon, weiß der ihrer Ankunft in Pakistan durch einen
Titel ihrer Autobiografie wählte Benazir, Schal, in den sie sich hüllt. Selbstmordattentäter 140 Menschen ge-
ihrer historischen Bedeutung stets bewusst, Langsam schiebt sich das Gefährt durch storben waren und sie selbst nur knapp
eine programmatische Zeile: „Daughter of die jubelnde Menge, ein Alptraum für die der Katastrophe entging. „Allah hat schon
Destiny“ – Tochter der Vorsehung. Ob man Sicherheitsleute. Aber Bhutto hat auf längst meine Todesstunde entschieden“,

Die letzten Stationen im Leben der Benazir Bhutto: „Ich habe meine Wahl getroffen und mich nicht vor der Verantwortung gedrückt“
JOHN MOORE / GETTY IMAGES (M.); B. K. BANGASH / AP (R.)
OLIVIER MATTHYS / DPA

Treffen mit Afghanistans Präsident Karzai Wahlkampfrede im Park von Rawalpindi Auf dem Weg zum wartenden Wagen

82 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
JOHN MOORE / GETTY IMAGES
in Rawalpindi: „Allah hat schon längst meine Todesstunde entschieden“

sagte sie damals besorgten Parteifreunden. das Schiebedach, um ihre Fans zu be- haben, sonst wäre er mit seinen Waffen
Nach ihrer umjubelten Rede in Rawalpin- grüßen. Da schlägt der Attentäter zu. nicht so problemlos und so nah an sein
dis Liaqat-Bagh-Park nimmt sie im Wagen Er gibt mehrere Schüsse ab. Entgegen Opfer herangekommen. Er zündet den
Platz, der sich einige Meter Richtung Ein- ersten Berichten wird Bhutto nicht getrof- Sprengstoffgürtel, den er am Leib trägt.
gangstor in Bewegung setzt. Dort hat sich fen. Aber der Mörder geht auf Nummer Die Druckwelle wirft Bhutto, die sich nach
eine Gruppe von Anhängern versammelt. sicher, er hat seine Tat offensichtlich im den Schüssen noch geduckt hat, mit dem
Trotz aktueller Attentatswarnungen steigt Detail geplant – und muss im Umfeld der Kopf gegen den Bügel des Autoverdecks;
Bhutto auf den Sitz und streckt sich durch Sicherheitskräfte einen Mithelfer gehabt das Metall gräbt sich in ihren Kopf. Die
FOTOS: JOHN MOORE / GETTY IMAGES (3)

Fahrt durch die Menschenmenge Augenblick des Selbstmordattentats Verzweifelter in den Trümmern

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 83
Titel

Suizid-Attacke reißt neben der Politikerin


noch mindestens 20 andere mit in den Tod.
Erschütternde Szenen spielen sich ab:
Zwischen zerfetzten Menschen sitzt, un-
gläubig und wie erstarrt, ein unverletzter
Mann und blickt reglos in die Ferne. An-
dere schreien ihre Verzweiflung heraus.
Parteianhänger, blind vor Wut, versuchen
die Tür des Krankenhauses einzutreten, in
das Frau Bhutto unter Sirenengeheul ein-
geliefert wird. Sie wissen, alles ist verge-
bens, denn sie haben die Blutüberströmte
gesehen. Die wütende Menge versucht den
Operationssaal zu stürmen.
Am 27. Dezember 2007, 18.16 Uhr Orts-
zeit, erklären die Ärzte des Städtischen
Hospitals Benazir Bhutto für tot: An die-
sem Tag, in dieser Minute, ist Pakistans
wohl letzte Hoffnung auf eine friedliche
Zukunft ausgelöscht.
Wer hat sie umgebracht?
Waren es Qaida-Terroristen, die Bhutto
schon vor Monaten den Tod androhten,
weil sie Musharrafs blutigen Sturm auf die
von Islamisten besetzte Rote Moschee von
REUTERS

Rawalpindi ausdrücklich begrüßt und allen


Radikalreligiösen den Kampf angesagt hat-
te? Waren es Geheimdienstler von Paki-
stans berüchtigtem ISI, die alte Rechnun-
gen beglichen? Steckten womöglich gar
Anhänger von Nawaz Sharif hinter dem
Attentat, dem langjährigen Erzrivalen und
Hauptkonkurrenten – war es ein Rache-
akt Auge um Auge, da doch nur wenige
Stunden zuvor ein Attentat auch auf ihn
verübt wurde, das er unverletzt überstand,
das aber vieren seiner Leute das Leben
kostete (siehe Interview Seite 80)?
Wenige Stunden nach dem Mord be-
kennt sich einer, der für das Terrornetz-
werk al-Qaida zu sprechen behauptet, in
einem Telefonanruf gegenüber der Zeitung
„Asia Times“ zu dem Attentat. Schnell er-
klären amerikanische FBI-Experten das für
„sehr glaubwürdig“.
Stunden nach Bhuttos Tod wird aber
auch eine E-Mail der Politikerin bekannt,
die sie am 26. Oktober an ihren amerika-
nischen Freund und Berater Mark Siegel
geschickt hat, der sie mit ihrem Einver-
ständnis an den amerikanischen Nachrich-
tensender CNN weitergab. „Im Fall meiner
Ermordung“ hat sie ihr Schreiben betitelt
und verfügt, dass dessen Inhalt erst nach Präsident Musharraf, islamistische Aufständische: „Nationale Tragödie“
ihrem Tod veröffentlicht werden darf – der
makabre Gruß einer Politikerin, die sich ben gehen hoch in Peschawar, Lahore und in Ost und West, unabhängig auch von
offensichtlich für todgeweiht hielt, die einem halben Dutzend anderer Orte, vor ihrer ideologischen Couleur. US-Präsident
sozusagen aus dem Grab das letzte Wort, allem aber in Karatschi, der größten Stadt George W. Bush spricht von einer „feigen
die letzte Interpretation des Geschehens des Landes in der Südprovinz Sindh, der Tat“, deren Täter zur Rechenschaft ge-
liefern wollte. In den Zeilen beschuldigt eigentlichen Machtbasis der Bhutto-PPP. zogen werden müssen, Frankreichs Präsi-
Bhutto den Präsidenten, ein Attentat auf Mehr als 30 Tote bei Unruhen gleich in dent Nicolas Sarkozy und die deutsche
sie in Kauf genommen zu haben, „Mu- den ersten 24 Stunden nach dem politi- Bundeskanzlerin verurteilen in fast de-
sharraf trägt die Verantwortung“. Er habe schen Mord. Und das, obwohl das Militär ckungsgleich hilfloser Sprache den An-
ihr trotz Anfrage „die nötigen Sicherheits- eine „shoot to kill“-Order ausgegeben hat, schlag. Manmohan Singh, Premier des
vorkehrungen wie Spezialfahrzeuge, Poli- die jeden Verdächtigen auf den Straßen pakistanischen Erzfeindes Indien, sagt:
zei-Eskorten und elektronische Störsender des Landes ohne Vorankündigung mit dem „Mit ihr hat der Subkontinent eine außer-
gegen Bombenzünder verweigert“. Waffengebrauch bedroht. gewöhnliche politische Führungskraft ver-
Alles scheint möglich. Nur eines scheint Die Welt reagiert schockiert, bestürzt, loren, die für Demokratie und Versöhnung
sicher: Pakistan versinkt im Chaos. Bom- selten einmütig sind die politischen Führer gearbeitet hat.“
84 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Teilen des Landes frei operierende Terro-
Kaschmir-Region CHINA
„Das gefährlichste pakistanische
ristengruppen, ideale Rückzugsregion für
die Taliban aus Afghanistan, mögliche An-
Verwaltung
Land der Welt“ griffe gegen den Erzfeind Indien, Kampf
um Kaschmir und damit Destabilisierung
Kabul Islama- einer ganzen Weltregion – so lautet das
Peschawar bad
indische Verwaltung Alptraumszenario.
AFGHANISTAN Es ist nicht irgendein Staat, der sich da
Rawalpindi in die Reihe der „failed states“, der ge-
Waziristan scheiterten Gemeinwesen von Somalia bis
Kandahar Stammesgebiete
Lahore Burma, einzureihen droht. Pakistan ist ein
160-Millionen-Menschen-Reich, gezeichnet
P
PAKISTAN INDIEN
von explosiven Gegensätzen: Armenhaus
und Atommacht, enger Verbündeter der
Punjab
Belutschistan USA und Brutstätte islamistischer Gewalt,
Neu-Delhi
us Bush-Country und Bin-Laden-Land zu-
Ras Koh (Testzentrum Ind gleich; beherrscht von Militärs, die zu den
der ersten pakistani- korruptesten der Welt gehören und von
IRAN schen Atombombe) Gharhi Bevölkerung: 160 Millionen der demokratischen Supermacht dennoch
Khuda davon sind: 77 % sunnitische, mit den modernsten Waffen und Milliar-
Bakhsh 20 % schiitische Muslime dengeschenken verwöhnt werden.
Armee: 619 000 Mann „Den bedrohlichsten Staat für die
Sindh
Zukunft der USA“ hat der langjährige
Pakistan ist seit 1998 Atommacht und
Karatschi hochrangige Regierungsbeamte Robert
250 km verfügt nach Ansicht von Experten über
Gallucci die Islamische Republik Pakistan
etwa 65 atomare Sprengköpfe.
genannt, vom „gefährlichsten Land der
Welt“ das amerikanische Nachrichten-
magazin „Newsweek“ geschrieben. „Wenn
es denn eine zentrale Front im Kampf ge-
gen den Terror gibt, dann ist es nicht der
Irak, sondern Pakistan“, meint der Nahost-
und Islam-Spezialist Fareed Zakaria.
Wie weit die pakistanischen Kraken-
arme des Terrors auch nach Europa rei-
chen, wissen vor allem die britischen Ge-
heimdienste. In London schätzt man, dass
schon 4000 islamistische Extremisten, die
in Camps an der afghanischen Grenze aus-
gebildet wurden, nach Großbritannien ge-
kommen sind, präziser gesagt: zurückge-
kommen, denn die meisten von ihnen sind
britische Staatsbürger.
Und auch Deutschland liegt längst im
Visier der Gewalttäter. Im September wur-
de bekannt, dass ein „Trio Infernale“ von
jungen, hier lebenden Islamisten die Bun-
desrepublik im großen Stil anzugreifen
MINISTRY OF DEFENCE / AP

plante – drei Autobomben mit rund 500


Kilogramm Sprengstoff sollten detonieren.
Glaubt man dem aus Pforzheim stammen-
den Nihad C., 27, der Ende Januar vom
pakistanischen Geheimdienst ISI festge-
nommen wurde und umfassend auspackte,
Test einer atomwaffenfähigen Rakete (2004): Ein Reich explosiver Gegensätze ist der Ort Mir Ali so etwas wie die deut-
sche Exklave in Nordpakistan, ein Treff-
Sichtlich bewegt, mit Tränen in den Au- Staatstrauer. Erst Mitte Dezember hat er punkt und Ausbildungszentrum von
gen und zitternd, zeigt sich Afghanistans den von ihm sechs Wochen zuvor verkün- Dschihadisten, die sich an der Seite usbe-
Präsident Hamid Karzai vor der Presse – er deten Ausnahmezustand aufgehoben, hat kischer und arabischer Qaida-Kämpfer fit
hatte noch Stunden vor dem Attentat in mit seinem Rücktritt als Armeechef den machen für den „Heiligen Krieg“.
Islamabad mit Benazir Bhutto zusammen- Weg zu Wahlen freigemacht. In der jetzi- Die Radikalen sind Profiteure des Bhut-
gesessen und die nachbarschaftlichen Be- gen aufgeheizten Stimmung erscheint ein to-Mordes, sie wollten die Politikerin be-
ziehungen erörtert: „Sie war eine tapfere friedlicher Urnengang schwer denkbar, es seitigt sehen – sie stand, zumindest in den
Tochter der islamischen Welt. Sie hat ihr droht das Kriegsrecht. von ihr formulierten Ansprüchen, für alles,
Leben geopfert, für ihr Land und für die Dass der als „Lakai Washingtons“ ver- was sie hassen: Verwestlichung, Rule of
ganze Weltgegend. Sie sprach auch an die- schriene und als „Busharraf“ verspottete, Law mit unabhängigen Gerichten, Gleich-
sem Morgen mit so viel Liebe von meiner extrem unpopuläre Präsident das Land zu- berechtigung der Frauen, staatlich geför-
afghanischen Heimat.“ sammenhalten kann, halten viele Exper- derte „säkulare“ Schulbildung jenseits der
Noch in der Nacht zum Freitag verkün- ten für höchst fragwürdig. Bürgerkrieg, va- Madrassen, ihrer Machtbasen, die 1,5 Mil-
det Staatschef Musharraf eine dreitägige gabundierende Nuklearwaffen, in weiten lionen junge Männer ausbilden. Teile des
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 85
Wahlkämpferin Bhutto (1988)
„Außergewöhnliche Führungskraft“

Landes sind heute schon im Griff der Isla-


misten, die sich vor allem in den Dörfern,
aber auch in Großstädten wie Karatschi
frei bewegen – und handeln.
Im Januar sprengen sich Selbstmord-
attentäter vor dem Marriott-Hotel in Isla-
mabad und neben einer Polizeieinheit in
Peschawar in die Luft. Im Februar verüben
Extremisten einen Anschlag auf den
„Freundschaftsexpress“, einen Eisenbahn-
zug, der zwischen Delhi und Lahore pen-
delt, dabei sterben 68 Menschen. Einen
Tag darauf wird in der Provinz Punjab die
Regionalpolitikerin Zilla Huma Usman er-
schossen. Der Attentäter rechtfertigt sich
mit dem Hinweis, nur den Willen Gottes
vollzogen zu haben, die Frau habe schließ-
lich kein Kopftuch getragen.
Im Juli verschanzen sich radikale Ko-
ranschüler in der Roten Moschee in Isla-
mabad. Über hundert Menschen sterben,
als das Militär eingreift. „Unser Blut“, so
hatte der Anführer der Erzürnten, Abdul
Rashid Ghazi, zuvor verkündet, „soll der
erste Schritt einer islamischen Revolution
sein.“ Mitte Dezember bringt in einer
Moschee bei Peschawar ein Selbstmord-
attentäter 50 Gläubige um – der ehemalige
Innenminister, dem der Angriff offensicht-
lich galt, kommt mit dem Leben davon.
Und im Grenzgebiet zu Afghanistan es-
kaliert die Situation vollends. In Waziri-
stan, dem wilden Westen Pakistans, wo die
Zentralregierung traditionell wenig zu sa-
gen hat, liefern sich radikalislamische Auf-
ständische immer heftigere Gefechte mit
der Armee. Die „föderal verwalteten Stam-
mesgebiete“, fast so groß wie Belgien, sind
rückständig und wirtschaftlich vernachläs-
sigt, ihre gut drei Millionen Bewohner
überwiegend Analphabeten und eine leich-
ALFRED / SIPA PRESS

te Beute für die einfache „Wahrheit“.


Als Rückzugs- und Rekrutierungsgebiet
haben Taliban und Qaida-Kämpfer hier
eine weitgehend ungestörte Existenz, ge-

1956 1967 1972 1977


Zerrissenes Land Umbenennung Pakistans Gründung der Paki- Bhutto startet das Atomprogramm. Staatsstreich unter
Pakistan seit der Unabhängigkeit in „Islamische Republik stan People’s Party Generalstabschef
GET T Y I MAG ES

Pakistan“. (PPP) durch Zulfikar Zia ul-Haq; Minister-


14. August 1947 1958 Ali Bhutto. präsident Bhutto
Großbritannien entlässt Indien Machtergreifung von wird verhaftet,
1969 das Kriegsrecht
in die Unabhängigkeit. Es folgt General Ayub Khan. Machtübernahme
die Teilung des Subkontinents verhängt.
1959 durch General
in einen säkulären Staat Indien Gründung der neuen Yahya Khan.
und einen zweigeteilten islami- Hauptstadt Islamabad. 1979
schen Staat Pakistan. 1971 Bhutto wird am
1965 Dritter indisch-paki- 4. April hingerichtet;
1947/48 Zweiter Krieg zwischen stanischer Krieg. Ost- die Militärregierung
Erster Krieg zwischen Indien Indien und Pakistan pakistan wird am unter Staatspräsi-
und Pakistan um Kaschmir. um Kaschmir. 26. März als Bangla- dent Zia ul-Haq ver-
1966 desch selbständiger folgt eine stärkere
1948 Indien und Pakistan Staat. Nach schwe- Islamisierung.
Tod von Mohammed Ali verpflichten sich zu einer ren Unruhen übergibt
Jinnah, dem Gründer friedlichen Lösung des das Militär die Macht Präsident Zia ul-Haq,
Pakistans. Kaschmir-Konflikts. an Zulfikar Ali Bhutto. 1980

86 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Titel

radezu eine Heimat gefunden. Fast täglich zigsten und Klügsten zu


patrouillieren sie selbstbewusst durch die einer Militärkarriere ent-
Städte und Dörfer in den Bergen und wer- schließen – die Offiziere
ben um neue, potentielle Selbstmord- sind die wahre nationale
attentäter. Und irgendwo dort soll sich Elite.
auch Osama Bin Laden aufhalten, der Dass jetzt ihr langjähri-
„Pate des Terrors“, der sich 2007 viermal ger Generalstabschef Per-
aus dem Untergrund mit seinen provozie- vez Musharraf auf Druck
renden Botschaften gemeldet hat. der Amerikaner und Frau
Einst hatte sie die pakistanische Regie- Bhuttos die Uniform ausge-
rung heimlich gefördert, um sie als ver- zogen hat – wenngleich
deckte Spieler im Kaschmir-Konflikt ein- „unter Tränen“, wie er ge-
setzen zu können – jetzt sind die Radika- stand – und sich mit dem
len mächtiger als je zuvor und eine akute Präsidentenamt begnügt,
Bedrohung für die Zentralgewalt. Ihr Ein- schafft Verunsicherung.
fluss breitet sich aus: Unverhohlen sympa- Noch tiefer geht der Frust
thisieren viele lokale Stammesführer mit beim Geheimdienst, bei
den militanten Kräften, nicht zuletzt, weil dem es immer noch viele
bei den Angriffen der pakistanischen Ar- Sympathisanten der von
mee in den vergangenen Jahren auch vie- der ISI mitinitiierten Tali-
le Zivilisten ums Leben kamen. ban-Bewegung gibt. Und
Waziristan & Co. lassen sich bis heute für die Frage aller Fragen,
nicht mehr unter Kontrolle bringen. Statt- die Sicherheit der paki-

CORBIS
dessen fallen Hunderte Soldaten und Poli- stanischen Atombomben,
zisten den Aufständischen in die Hände. Wahlkämpfer Bhutto (1969): „Meine Tochter wird Premier“ bedeutet weder das Ru-
Hilflos wirken die Waffenstillstandsab- moren im pakistanischen
kommen zwischen Stammesführern und Armee einen Staat“, hat der pakistanische Militär noch das im Geheimdienst etwas
Militärs, die der Unruheregion eigentlich Nuklearphysiker Pervez Hoodbhoy einmal Gutes.
Frieden schenken sollen, inzwischen ist der gesagt. Während 33 Jahren der Landes- Zwar hat Musharraf erst vor zwei Jahren
Terror schon ins idyllische Swat-Tal ein- geschichte regierten die Generäle direkt, in damit geprahlt, er hätte in Sachen Nu-
gezogen, beliebtes Erholungsgebiet der den 27 „zivilen“ Jahren zogen sie hinter klearwaffen „die besten Sicherheitsvor-
Hauptstädter. Alle paar Tage sprengte sich den Kulissen die Fäden. Das Militär mit kehrungen der Welt getroffen“. Doch west-
schon in den Monaten vor dem Bhutto- seinen 619 000 Mann und einem Viertel des liche Regierungen sind davon keinesfalls
Attentat ein Selbstmörder in die Luft – jährlichen Staatsbudgets gilt als eine durch so überzeugt. Sollte Musharraf gestürzt
Tendenz steigend. Privilegien verwöhnte Truppe. Vor allem werden, weiß niemand, was aus seinem
Aber nicht nur die Islamisten haben die höheren Ränge haben viel zu verlieren, Team wird, das die geschätzten 65 atoma-
durch den Mord an Spielraum gewon- sollten in Pakistan wirklich demokratische ren Sprengköpfe kontrolliert.
nen. Auch Kräfte innerhalb des Militärs Zustände einkehren. Es gibt kaum etwas „Die Wahrheit ist, dass wir keine Ahnung
und des Geheimdienstes, die sich von ei- im Land, was nicht den Offizieren gehört haben, wie viele der Sicherheitsvorkehrun-
ner durch Bhutto angekündigten „Durch- oder woran sie nicht beteiligt sind. Die Ar- gen an Musharrafs Leuten hängen und wie
leuchtung“ ihrer Aktivitäten bedroht fühl- mee besitzt, als Stiftungen getarnt, Che- viele institutionalisiert sind“, sagte vor we-
ten und nicht mehr an einen geschwächten miefabriken, Elektrizitätswerke und eine nigen Wochen ein hochrangiger US-Beam-
Musharraf glauben, Bank. Sie ist größter ter der „New York Times“. Die Sprengköpfe
könnten hinter dem Bauherr im Land, werden, so viel weiß man, von den Träger-
Attentat stecken. lässt Zement mischen systemen getrennt aufbewahrt, ebenso die
„Alle Staaten be- und Schuhe herstel- Zünder. Die Rede ist von mindestens zwölf
sitzen Armeen, aber len. Kein Wunder, verschiedenen Atomdepots. Ein Zentrum
bei uns besitzt die dass sich die Ehrgei- für Nuklearsicherheit, Teil eines 100-Millio-

1985 1996 2007


Mohammed Khan Junejo Bhutto wird erneut abgesetzt; Im März setzt Musharraf den
wird ziviler Premierminister, Sharif wird im Jahr darauf wie- Obersten Richter des Landes ab,
am 30. Dezember werden der Premier. Die von Pakistan weil der eine Verlängerung seiner
Ausnahmezustand und geförderten Taliban überneh- Amtszeit verweigert. Die Wahlver-
DPA

Kriegsrecht aufgehoben. men die Macht in Afghanistan. sammlung bestätigt im Oktober Mu-
Atombombentest in den Bergen Pakistans, 1998 sharraf als Präsidenten trotz eines
1986 1990 1998 Boykotts der Opposition. Benazir
Benazir Bhutto, Tochter des hingerich- Am 6. August wird Benazir Bhutto Nukleartests in Indien und Bhutto kehrt am 18. Oktober aus
teten früheren Premierministers Zulfikar wegen Korruptionsvorwürfen von Pakistan. dem Exil zurück und überlebt ein
Ali Bhutto, kehrt am 10. April aus dem Präsident Ghulam Ishaq Khan ab- 1999 Selbstmordattentat unverletzt.
Exil zurück und fordert Neuwahlen. gesetzt. Nawaz Sharif wird neuer Erneuter Kaschmir-Konflikt Musharraf ruft am 3. November
Ministerpräsident Pakistans. mit Indien. General Pervez den Ausnahmezustand aus, setzt
1988 Musharraf wird nach einem die Verfassung außer Kraft und
Staatschef Zia ul-Haq kommt bei einem 1993 Staatsstreich neuer Macht- suspendiert den Obersten Richter
Flugzeugabsturz ums Leben. Bei den Präsident Khan und Ministerpräsi- haber Pakistans. erneut. Am 9. November wird
Neuwahlen wird die PPP stärkste Partei; dent Sharif treten am 18. Juli zu- Bhutto unter Hausarrest gestellt.
Benazir Bhutto wird am 2. Dezember rück. Am 19. Oktober wird Benazir 2001 Auf einer Wahlkampfveranstaltung
erste Ministerpräsidentin eines islami- Bhutto zum zweiten Mal Minister- Musharraf unterstützt offiziell wird sie am 27. Dezember bei
schen Landes. präsidentin. den Anti-Terror-Kampf der USA. einem Attentat getötet.

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 87
Titel

„Eine unglaubliche Tragödie“


Der frühere Premierminister Nawaz Sharif über den Tod von Benazir Bhutto
Sharif, 58, war politischer Ziehsohn SPIEGEL: Meinen Sie damit etwa, Mu- Sharif: Sie war schon immer sehr char-
von General Zia ul-Haq, der 1977 sharraf wäre an Bhuttos Tod interessiert mant und nett, wie meine eigene Schwes-
Bhuttos Vater, den Regierungschef und gewesen? Er hatte doch gerade erst, auf ter. Ich hatte sie zwei Tage vor ihrem Tod
früheren Präsidenten Zulfikar Ali Druck Washingtons, einen Deal mit ihr gesprochen, am 25. Dezember, meinem
Bhutto, stürzte und hinrichten ließ. Er gemacht: Er hatte die Korruptionsvor- Geburtstag. Obwohl ich verreist war,
amtierte in den neunziger Jahren würfe gegen Bhutto fallengelassen und schickte sie mir einen Blumenstrauß und
zweimal als Premier, bevor der jetzige sie offenbar als künftige Premierminis- gratulierte mir dann auch noch am Tele-
Staatschef Musharraf putschte. In terin akzeptiert – wenn er denn Staats- fon. Wir wollten uns bald treffen.
Sharifs Amtszeit fiel 1998 die erste chef bliebe. SPIEGEL: Und das, obwohl Frau Bhutto
erfolgreiche Testzündung von fünf Sharif: Ich bleibe dabei: Bhuttos Ermor- inzwischen eine Verständigung mit Mu-
Atomsprengköpfen. dung ist eine direkte Folge von Mushar- sharraf gesucht hatte?
rafs Politik. Auch bei meinem Wahl- Sharif: Ich zweifle nicht daran, dass auch
SPIEGEL: Benazir Bhutto, die Chefin der kampfauftritt vorigen Donnerstag wur- Bhutto für die Wiederherstellung der
Pakistanischen Volkspartei (PPP), ist de geschossen – vier Menschen kamen Demokratie kämpfte. Als wahre Demo-
tot. Beim Anblick ihrer Leiche im Kran- dabei ums Leben. kratin hätte sie einem Diktator wie Mu-
kenhaus von Rawalpindi sind Sie in Trä- SPIEGEL: Al-Qaida behauptet, Drahtzie- sharraf nie geholfen. Ja, sie hatte einige
nen ausgebrochen. Gut befreundet aber her des Attentats zu sein. Die islami- neue Entscheidungen für sich getroffen.
waren Sie mit Frau Bhutto doch wohl schen Fundamentalisten sind nach wie Aber ich hatte immer Vertrauen zu ihr.
eher nicht? vor gemeinsam mit den Taliban in den SPIEGEL: Nach Bhuttos Tod sind Sie der
Sharif: Kein Zweifel, wir waren politi- Grenzgebieten zu Afghanistan aktiv. momentan einzig denkbare Kandidat
sche Rivalen. Aber wir hatten auch eini- Sie wollen keine Demokratie in Paki- für den Posten des Regierungschefs. Po-
ges gemeinsam. Wir haben litisch profitieren Sie also
beide jahrelang im Exil ge- von dieser Situation,
lebt. Frau Bhutto wurde – gleichzeitig steigen natür-
so wie ich – zweimal ins lich die Erwartungen an
Amt des pakistanischen Sie dramatisch.
Regierungschefs gewählt. Sharif: Ich will jetzt nicht
Im Exil gelang es uns, die so weit denken. Momen-
bittere Vergangenheit ein tan herrscht allein Trauer
für alle Mal hinter uns zu – auch unter den Mitglie-
lassen. Gemeinsam kün- dern meiner Partei, der
digten wir den Kampf ge- Muslimischen Liga Paki-
gen die Diktatur von Ge- stans. Das ganze Land ist
FAISAL MAHMOOD / REUTERS

neral Pervez Musharraf deprimiert: Bhuttos Er-


an. Wir blieben seither in mordung gleicht einer Ka-
ständigem Kontakt. Ver- tastrophe, es ist eine un-
gangenen Donnerstag wa- glaubliche Tragödie. Ich
ren wir beide beim Wahl- stehe in engem Kontakt
kampf in Rawalpindi. Als mit den führenden Mit-
ich hörte, dass Bhutto ver- Oppositionspolitiker Sharif*: „Das ganze Land ist deprimiert“ gliedern von Bhuttos PPP.
letzt ist, brach ich meinen Gemeinsam mit ihnen
Auftritt ab und fuhr sofort ins Kranken- stan – schon gar nicht, wenn eine von werde ich den Kampf gegen die Diktatur
haus. Zu spät – sie war bereits tot. Washington gestützte Frau regiert. fortsetzen. Die Parlamentswahl aller-
SPIEGEL: Wer könnte hinter dem Mord Sharif: Darüber, ob sie hinter dem At- dings wird meine Partei boykottieren.
stecken? tentat stehen, möchte ich nicht speku- SPIEGEL: Ist das konsequente Vorgehen
Sharif: Sie sollten diese Frage Herrn lieren. Eine unabhängige Kommission gegen den islamistischen Terror, der Ihr
Musharraf stellen. Meine Partei, die muss den Mord untersuchen. Solch ein Land weltweit so in Verruf gebracht hat,
Muslimliga, erkennt ihn nicht als Präsi- Gremium einsetzen kann jedoch nur nicht ebenso wichtig?
denten an. Wir fordern schon lange, eine demokratisch gewählte Regierung. Sharif: Das kommt später. Zuerst geht es
dass er sein illegal, durch einen Staats- Wenn Musharraf das tut, wird ihm kei- um die Demokratie. Musharraf wusste
streich erworbenes Amt aufgibt. Er ist ner auch nur ein einziges Wörtchen sehr wohl, dass Bhutto und ich mit dem
zuständig für das, was in Pakistan pas- glauben. Tode bedroht wurden, als wir die Wahl-
siert. Denken Sie an die Unruhen, die SPIEGEL: Wie war Ihre Beziehung zu Be- kampagne begannen. Er hätte Bhutto
Donnerstag, nach dem Anschlag, aus- nazir Bhutto, nachdem Sie beide nach von ihrem Auftritt in Rawalpindi abhal-
gebrochen sind: Das ganze Land sieht in Pakistan zurückgekehrt waren, um den ten oder zumindest ausreichende Si-
Musharraf den Verantwortlichen für die Wahlkampf zu beginnen? cherheitsvorkehrungen treffen können.
gegenwärtige Krise; seine Politik hat zu Das aber hat er nicht getan. Er ist total
Bhuttos Ermordung geführt. * Am 27. Dezember im Hospital von Rawalpindi. gescheitert. Interview: Padma Rao

88 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
SAEED KHAN / AFP
Anhänger Bin Ladens bei einer Demonstration in Rawalpindi (2001): „Unser Blut soll der erste Schritt der Revolution sein“

nen-Dollar-Programms aus Washington, von der Aufhebung der Khanschen Immu- damit rechnen, der Unzucht angeklagt zu
wird gebaut. Aber was hilft das, wenn die nität gesprochen – käme Doktor Seltsam, werden.
geheimen Pläne al-Qaida oder anderen der Mann, der die Bombe liebt, ins Plau- Für Benazir, schon von Geburt an „die
Radikalen in die Hände fallen? dern, könnten Geheimdienstchefs und Unvergleichliche“, gelten solche Regeln
Westliche Experten warnen davor, sich Top-Militärs bis hin zu Musharraf selbst in nicht. Im besten Krankenhaus von Kara-
von den pakistanischen Versprechungen Bedrängnis kommen. Sollte die Politikerin tschi 1953 zur Welt gebracht, im Familien-
einlullen zu lassen. Vor fünf Jahren hat womöglich deswegen sterben? stammsitz Larkana von Angestellten ver-
Musharraf der Welt, genau wie heute, ver- Wie keine zweite Persönlichkeit verkör- wöhnt, lebt sie in Luxus und Freiheit. Die
sichert, ein Leck im pakistanischen Atom- perte Benazir Bhutto die Träume und liberale Mutter, eine persischstämmige
programm sei undenkbar. In dieser Zeit Tragödien ihres Volkes, ihrer Nation. Pa- Schönheit, führt sie schon in jungen Jahren
war Abdul Qadir Khan noch häufiger auf kistan ist der einzige Staat der Welt, der an heimische wie westliche Literatur her-
Reisen, der „Vater der pakistanischen seine Geburt – bei der blutigen Teilung des an; der Vater ermutigt sie, sich mit histori-
Atombombe“, der wesentlich dazu beitrug, Subkontinents 1947 in ein hinduistisch ge- schen Vorbildern wie Jeanne d’Arc zu be-
dass das Land 1998 zur Nuklearmacht wur- prägtes und ein muslimisches „Land der fassen – und mit zeitgenössischen wie In-
de. „Doktor Seltsam“, wie ihn manche Reinen“ – dem Islam verdankt. Wie um- dira Gandhi, der Frau, deren Schicksal sie
Kollegen nennen, hat sich mit seiner na- fassend die Religion den Staat, die Verfas- später auf so tragisch ähnliche Weise teilen
tionalen Rolle nachweislich nicht begnügt; sung und die Rechtsprechung prägen soll, wird und die sie schon als Teenager bei
angeblich ohne Wissen hochrangiger Mi- diese Frage spaltet bis heute die Pakistaner Verhandlungen an der Seite ihres Vaters
litärs dealte der den Islamisten ideologisch und macht sie zu einem Volk, das auch 60 kennenlernt und bewundert als „eine Frau
nahestehende Khan mit Nordkorea, Iran aus Seide und Stahl“.
und mit Libyen – er verkaufte Baupläne „Nicht ich habe mir „Meine Tochter wird in die Politik gehen
und Zentrifugen zur Anreicherung von und Ministerpräsidentin werden“, sagt Be-
Uran auf dem Schwarzmarkt. Als die CIA
dieses Leben ausgesucht. Es nazirs Vater, der dieses Amt 1973 über-
2004 Beweise für die illegalen Aktivitäten wählte mich aus.“ nimmt. Sie selbst hat nie ein Hehl daraus
Khans vorlegte, stellte Musharraf den gemacht, dass sie sich als Berufene fühlt,
Atomhändler unter Hausarrest, beließ ihm Jahre nach der Staatsgründung noch nicht nicht nur vom väterlichen Wunsch getrie-
aber die höchsten Staatsorden. vollständig seine Identität und seine Werte- ben, sondern von Gott mit einer Mission
Eine Strafverfolgung muss Khan nicht ordnung gefunden hat. betraut. „Nicht ich habe mir dieses Leben
fürchten. Die Internationale Atomenergie- Die andere große Frage, die das Land ausgesucht“, schreibt sie, stolz wie schick-
behörde, die als „Wachhund“ der Völker- auseinanderdividiert, ist seine Sozialstruk- salsergeben, in ihrer Autobiografie: „Es
gemeinschaft in Nuklearwaffenfragen fun- tur. Wie mittelalterliche europäische Lehen wählte mich aus.“
giert, würde ihn gern nach seinen Deals verwalten Großgrundbesitzer seit der Sie studiert in Harvard, Massachusetts,
befragen; doch die pakistanische Regie- Staatsgründung ihre Ländereien, die An- Geschichte und Politische Wissenschaften.
rung erlaubt weder den Uno-Kontrolleuren gestellten sind oft nicht mehr als Arbeits- Sie wird an der britischen Elite-Universität
noch den amerikanischen Geheimdiensten sklaven, die Frauen nach den besonders Oxford 1977 als erste Ausländerin Präsi-
den direkten Zugang zu Khan. streng ausgelegten Purdah-Regeln ans dentin des Studentenverbandes. Sie leitet
Benazir Bhutto hatte auch in dieser Fra- Haus gefesselt. Ähnlich wie in Saudi- auch den renommierten „Debattierclub“,
ge Kompromissbereitschaft angedeutet, Arabien müssen Vergewaltigungsopfer trinkt bei den heißen politischen Diskus-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 89
Titel

sionen Apfelwein, flirtet mit den Kommili- der Familie arrangierten Verbindung zum In ihrem persönlichen Leben hat sich
tonen. „Kind des Ostens“ nennt sie sich Ehemann genommen hat. „Mister zehn zwischenzeitlich eine Tragödie an die an-
häufig, doch während des Studiums ist sie Prozent“ heißt der Raffgierige bald im dere gereiht. Es ist, als läge ein Fluch über
eine Attraktion des Westens: enge Jeans, Volk, wegen Korruption wird er insgesamt der Bhutto-Familie. In Südfrankreich stirbt
knappe Tops, sexy Augenaufschlag. Poli- fast acht Jahre in pakistanischen Gefäng- ihr Bruder Shah-Nawaz, vermutlich vom
tisch ordnet sie sich als „demokratische nissen verbringen müssen. pakistanischen Geheimdienst vergiftet. In
Sozialistin“ ein, als „Vorkämpferin für die Keine zwei Jahre dauert Benazir Bhuttos Karatschi lässt ihr anderer Bruder Murta-
Rechte des Volkes“. erste Amtszeit, dann wird sie wegen Amts- za, der sich einer Oppositionspartei ange-
Kaum ist sie zurück in Pakistan, betrach- missbrauchs abgesetzt. Internationale Ex- schlossen hatte, bei einem Polizeieinsatz
tet Benazir allerdings die Feudalwirtschaft perten von Transparency International ha- unter ungeklärten Umständen sein Leben.
ihres Familienclans als Selbstverständlich- ben Pakistan in ihrer Regierungszeit unter Beerdigung reiht sich an Beerdigung. Be-
keit, auch das zunehmend autoritäre Ge- die drei korruptesten Staaten der Welt ein- nazir bleiben neben der schwerkranken
baren ihres Vaters in der großen Politik stört geordnet. Wegen Geldwäsche verurteilt Mutter nur ihre drei eigenen Kinder. Der
sie nicht. Sie wechselt die Farben wie ein schließlich sogar ein Schweizer Gericht Frau heute 19-jährige Bilawal, die 17-jährige
Chamäleon; volksnah, derb und tiefgläubig Bhutto zu einer Haftstrafe mit Bewährung. Bakhtwar und die 14-jährige Aseefa sind
gibt sie sich auf dem Land, aufgeklärt, Andere hätten vielleicht aufgegeben – ihr fast so wichtig wie ihre politische
weltoffen, laizistisch in der Großstadt. sie sucht die zweite Chance. In einer Art Berufung; der Älteste hat gerade sein Stu-
Im Juli 1977, sie hält sich ge-
rade erst wieder einige Tage im
Land auf, stürzt das Militär ihren
Vater. General Zia ul-Haq, der
neue starke Mann, lässt Premier
Zulfikar Bhutto verhaften, in
manipulierten Gerichtsverfahren
zum Tode verurteilen. Sie hat
noch Gelegenheit zu Gesprä-
chen mit dem Vater in der Zelle,
prägende Erlebnisse für die jun-
ge Frau. Sie kämpft gemeinsam
mit ihrer Mutter wie eine Löwin
um dessen Leben, kann aber
nicht verhindern, dass er 1979
gehängt wird. In Rawalpindi,
dem Ort ihres späteren Marty-
riums.
Sie schwört Rache, will die
Straße aufwiegeln. Die Militärs
lassen sie verhaften, stellen sie
dann fast drei Jahre unter Haus-
arrest. Brechen können sie Be-
JOSHUA ROBERTS / REUTERS

nazir nicht, die im Geheimen Al-


lianzen schmiedet – und die
Märtyrerrolle ihrer Familie kon-
sequent für die eigene Karriere
nutzt. Sie lässt sich später so-
gar zur „Vorsitzenden auf Le-
benszeit“ der PPP machen. Ein Präsidenten Musharraf, Bush, Karzai im Weißen Haus*: Verbündete im „Krieg gegen den Terror“
merkwürdiger Titel für eine Par-
tei, die sich Demokratisierung auf die Bäumchen-wechsel-dich-Spiel, immer mal dium in Oxford begonnen, er hat noch
Fahnen geschrieben hat. wieder unterbrochen von Militärinterven- keine Ambitionen erkennen lassen, eines
Benazir Bhutto darf 1984 nach Großbri- tionen, löst sie sich in den kommenden Tages die Familientradition fortzuführen.
tannien ausreisen. Sie hält es dort nicht Jahren mit Nawaz Sharif im Ministerpräsi- Seit 1999 wieder im Exil, diesmal mehr
lange aus. Nach dem mysteriösen Flug- dentenamt ab. Von 1993 bis 1996 ist wieder als acht Jahre und mit Aufenthalten in
zeugabsturz des Generals ul-Haq im Au- Frau Bhutto dran und bringt nach positi- London wie in Dubai, knüpft Frau Bhutto
gust 1988 wittert sie ihre Chance, tritt bei ven Ansätzen auch während ihrer zweiten Verbindungen zur amerikanischen Regie-
der folgenden Parlamentswahl als Spitzen- Amtszeit nicht viel auf die Reihe. Um den rung und zum Militärherrscher Pervez
kandidatin an – und gewinnt. Am 2. De- „Makel“ der Verwestlichung in der paki- Musharraf. Der Wendepunkt ist der 11. Sep-
zember 1988 wird sie als Ministerpräsiden- stanischen Männergesellschaft abzuschwä- tember 2001.
tin vereidigt und ist damit die erste Re- chen, gibt sie sich als gottesfürchtige Mus- Nach den Terroranschlägen gegen New
gierungschefin eines islamischen Staates. limin. Nicht genug damit: Obwohl sie als York und Washington setzt das Weiße
Ihr Charisma und ihre intellektuelle Bril- aufgeklärte Denkerin dem Islamismus Haus dem Pakistaner die Pistole auf die
lanz sind weit ausgeprägter als ihr Talent ideologisch fernsteht, lässt sie ihrem Ge- Brust – entweder er stellt sich an die Seite
zur Machtausübung. Während sie im Wes- heimdienst freie Hand bei der Förderung der Amerikaner im „Krieg gegen den
ten noch gefeiert wird, laufen die Dinge in der Taliban, die Pakistan den entscheiden- Terror“, oder er riskiert, in den Worten
Pakistan aus dem Ruder. Von Sozialpro- den Einfluss im stets umkämpften Nach- führender Politiker der Bush-Regierung,
grammen ist bald weniger die Rede als von barland Afghanistan sichern sollen – ein „in die Steinzeit zurückgebombt zu wer-
Vetternwirtschaft; das liegt auch an dem Schritt, den sie später bitter bereut. den“. Musharraf wird zu einem engen Ver-
Zementfabrikanten Ali Asif Zardari, den bündeten der USA, erhält Milliarden an
sie, die selbstbewusste Frau, in einer von * Am 27. September 2006. Waffen- und Wirtschaftshilfe, lässt wichti-
90 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
ge Qaida-Terroristen verhaften – doch ob bleiben und sie Regierungschefin werden nen würden. Obwohl 50 Prozent davon ans
er wirklich immer mit offenen Karten ge- sollte. Militär gingen, konnte Musharraf, ansons-
spielt hat, ist höchst zweifelhaft. Ist nun eine Wahl überhaupt noch mög- ten neben Ägyptens Husni Mubarak Ame-
Der Wendige, der gern Whisky trinkt lich? US-Außenministerin Condoleezza rikas liebster Alleinherrscher, genau das
und mit strengen Religionsregeln wenig an- Rice telefoniert noch am Attentatstag mit nicht garantieren.
zufangen weiß, taktiert und arrangiert sich Bhuttos Witwer Ali Asif Zardari, den man- Es ist wenig, was die USA für ihre Inves-
auch mit den Islamisten und ihren Partei- che Bhutto-Anhänger bereits drängten, die titionen erhalten haben. Trotz Warnungen
vertretern. Er glaubt, sie zum Machterhalt Stelle seiner ermordeten Frau einzunehmen aus Washington war der gewiefte Taktiker
zu benötigen, obwohl er selbst bei Atten- – für einen „pakistanischen Nelson Man- Musharraf immer wieder merkwürdige Al-
taten mehrmals nur knapp mit dem Leben dela“ hat ihn allen Ernstes seine Frau ge- lianzen mit radikalen Kräften in seinem
davonkommt. halten und wollte, als eines ihrer wichtigstenLand eingegangen. Amerika war sich über
Einer aktuellen Einschätzung der ame- selbstgesteckten Ziele, während ihrer Amts- den Wert Pakistans im Kampf gegen den
rikanischen Geheimdienste zufolge hat zeit dessen Rehabilitierung erreichen. Die Terror nicht mehr sicher. Erst vergangene
sich „al-Qaida in Pakistans gesetzlosen ganzen Jahre zuvor hatte Washington al- Woche erließ der US-Kongress neue Re-
Gegenden gut eingerichtet und ist heute lein auf Musharraf gesetzt, um das Land in striktionen für die Hilfe an Musharraf.
besser denn je positioniert, um den Westen der Anti-Terror-Koalition zu halten. Eher Bhutto hingegen versprach den Verei-
anzugreifen“. widerstrebend hatte Bush erkannt, dass der nigten Staaten Eindeutigkeit. Sie schien
nun ihren westlichen Mentoren
endgültig demokratisch geläutert
– und vielleicht war sie es auch,
jedenfalls deuteten ihre Mei-
nungsbeiträge in den bedeu-
tendsten westlichen Zeitungen,
ihre Vorträge und ihre Interviews
in diese Richtung. Womöglich
wäre ihr Versuch Nummer drei
der große Wurf geworden oder
doch zumindest ein kleiner Wurf
– in die richtige Richtung.
Aber Washington erträumte
sich noch viel mehr von Frau
Bhutto. Die Machtkumpanei mit
ihr an der Spitze einer Regie-
rung stellte ein bequemes Ar-
rangement in Aussicht: eine zi-
vile demokratische Fassade und
dahinter das Militär, das weiter-
hin als Garant der Sicherheit
Staat im Staat bleiben würde.
Wenn sie erst an der Macht sei,
JOHN MOORE / GETTY IMAGES

gab sie bekannt, werde sie US-


Streitkräften gestatten, gegen
Stützpunkte der Qaida auf pa-
kistanischem Boden loszuschla-
gen – falls pakistanische Solda-
ten dazu nicht in der Lage seien,
US-Anti-Terror-Einheiten im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet: Gefahr einer „Talibanisierung“ fügte sie hinzu. Ein Seitenhieb
gegen Musharraf, der immer
Für George W. Bush ist mit dem Bhutto- als US-Lakai verschriene Staatschef ein un- wieder beteuert hatte, dass trotz des an-
Mord jedenfalls ein Alptraum wahr ge- sicherer Verbündeter geworden war. geblich gewaltigen Militäreinsatzes die
worden: wütende Proteste in den Städten Es war Washingtons Vizeaußenminister wilden Grenzregionen zu Afghanistan ein-
eines nuklearbewaffneten muslimischen John Negroponte, der Spezialist für heik- fach nicht unter Kontrolle zu bringen sei-
Landes, dessen Präsident, sein „Freund“ le Missionen zwischen Lateinamerika und en. In ihrem letzten SPIEGEL-Interview
Pervez Musharraf, zumindest in den Augen dem Irak, der Musharraf im November ins vom August warnte Bhutto, die größte Ge-
der wutentbrannten Bhutto-Anhänger zum Gewissen redete, den zuvor verhängten fahr für ihr Land sei der Terrorismus, und
Kreis der Verdächtigen gehört. „Killer Ausnahmezustand aufzuheben, Frau Bhut- ihr Land dürfe „nicht talibanisiert werden“
Musharraf“, tönt es in den Straßen von to aus dem vorübergehend verordneten (SPIEGEL 33/2007).
Karatschi bis Peschawar. Hausarrest zu befreien und jene Parla- Doch in der heißen Phase des Wahl-
Die Regierung in Washington hatte für mentswahl anzusetzen, aus der sie wohl kampfs musste auch Bhutto vorsichtig sein.
ihr ehrgeiziges Projekt, das von Islamis- als strahlende Siegerin hervorgehen sollte. Ihre große Nähe zu Washington und dem
ten erschütterte Land wieder zu stabi- Zehn Milliarden Dollar haben die USA weltweit ungeliebten Präsidenten George
lisieren, vollständig auf die schöne Poli- seit den Anschlägen von New York und W. Bush konnten ihre Gegner ausschlach-
tikerin gesetzt. Das Weiße Haus drängte Washington an Pakistan vergeben, um si- ten. Vor allem ihr Rivale Sharif, der aus
bei Staatschef Musharraf darauf, die im cherzustellen, dass sich Musharraf und sei- dem Exil heimgekehrt war, achtete auf
Westen ausgebildete Bhutto heimkeh- ne Armee, die mächtigste Institution des größere Distanz zu den Amerikanern.
ren zu lassen; Washington fädelte die Landes, zu verlässlichen Verbündeten im So war in den letzten Tagen vor ihrem
merkwürdige Machtteilung mit dem eins- Kampf gegen den islamistischen Terroris- Tod nicht mehr sicher, ob der Deal mit
tigen Putsch-General Pervez Mushar- mus wandeln würden. Und, natürlich, dass dem Staatschef noch Bestand hatte. Statt
raf ein, wonach er als Zivilist Präsident sie im eigenen Land diesen Kampf gewin- auf die Machtteilung hinzuarbeiten, griff
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 91
SHAKIL ADIL / AP
Trauerzug mit dem Sarg Benazir Bhuttos nahe Larkana (am 28. Dezember 2007): „Ich habe ein ungewöhnliches Leben geführt“

sie Musharraf, der verabredungsgemäß Die Geheimdienstler und Polizisten, über- und Musharraf geben ihr nicht die letzte
sein Amt als Befehlshaber der Streitkräfte wiegend in Zivil, greifen manche aus der Ehre – von den Trauergästen werden der
abgegeben und seine zweite Präsidenten- Menge und bringen sie weg, stellen sie Staatschef und die USA mit Schmährufen
amtszeit als Zivilist begonnen hatte, im- unter Hausarrest oder verhaften sie sogar. bedacht. Die Sicherheitsvorkehrungen
mer offener an. Und auch der Staatschef Die Helden des Protests tragen Plakate, sind diesmal extrem. Ungleich schärfer
musste feststellen, dass sich Washington auf denen sie den Präsidenten zum sofor- als am Tag zuvor in Rawalpindi bei Bena-
unter den Generälen seines Landes nach tigen Rücktritt auffordern, von weitem se- zir Bhuttos schicksalhaftem Wahlkampf-
einem starken Mann umzuschauen be- hen ihre Märsche aus wie Ansammlungen auftritt.
gann – einem Mann für die Zeit nach von Pinguinen, denn die meisten tragen Ihren letzten Besuch an dieser Trauer-
Musharraf. schwarzen Anzug, weißes Hemd und Kra- stätte hatte sie einige Tage nach der Rück-
Dass es Pakistans Präsidenten gelingen watte. Die Schergen des Regimes gehen kehr im Oktober gemacht. Sie legte Ro-
wird, die den Staat auseinanderreißenden mit ihnen brutaler um als mit den Frauen: senblätter auf das Grab ihres Vaters und
Kräfte zu bändigen, den selbstzerstöreri- Sie werden getreten und geschlagen und verharrte einige Minuten in Schweigen,
schen und in alle Welt exportierten Terror dann, oft blutüberströmt, in Lastwagen gebückt, als sei sie sich nun plötzlich des
einzudämmen, die immer tiefer werden- wegtransportiert. „Helft uns doch, Paki- schweren Erbes bewusst geworden.
den sozialen Risse zu kitten – selbst seine stan vor dem Abgrund zu retten!“, rief ei- Dann setzte sie sich hin und schrieb ei-
Freunde überkommen da große Zweifel. ner kürzlich noch durch die Gitterstäbe. nige private Zeilen über ihre Vergangen-
Pessimisten wähnen das Land schon am heit, eine Art Bilanz (die sie, so typisch,
Abgrund, sehen den Staat zu einer Art So- „Helft uns doch, anschließend in der „Washington Post“
malia mit Atomwaffen verkommen, zu ei- veröffentlichen ließ). Es waren Abschieds-
ner paradiesischen Ausbildungsstätte für
Pakistan vor dem Abgrund worte, prophetisch und poetisch zugleich:
immer neue Meister des Dschihad. Nach zu retten.“ „Ich habe ein ungewöhnliches Leben
einer Meinungsumfrage vom August lagen geführt. Ich habe meinen Vater, den sie
die Sympathiewerte des Terroristen Bin Sie werden nicht aufgeben. Sie werden mit 50 Jahren getötet haben, begraben
Laden bei 46 Prozent, die von Musharraf die Wiedereinsetzung der von Musharraf und zwei Brüder, die umgebracht wurden
bei 38 Prozent. gefeuerten Juristen verlangen, allen voran in der Blüte ihrer Jahre. Ich habe meine
Aber es gibt auch Hoffnung, eine be- die Rehabilitierung von Iftikhar Chaudhry, Kinder als alleinerziehende Mutter betreut,
ginnende Zivilgesellschaft. Selten hat der dem Obersten Richter. Sie werden fordern, als mein Mann acht Jahre im Gefängnis
Druck der Straße irgendwo auf der Welt dass unabhängige Fernsehsender wieder verbringen musste, eine Geisel meiner
eine solche Gestalt angenommen: Unter ans Netz gehen können, dass die Medien- politischen Karriere“, schreibt sie. „Ich
den friedlichen Demonstranten von Paki- zensur endet. habe meine Wahl getroffen, als der Mantel
stan sind nicht wütende Oppositionelle, Benazir Bhuttos lange und schmerzli- der politischen Führung nach dem Mord an
aufgebrachte Studenten oder umsturz- che Reise ist Freitag vergangener Woche meinem Vater auf meine Schultern fiel. Ich
bereite Arbeiter in der Mehrzahl – son- zu Ende gegangen. Zehntausende Men- habe mich damals nicht vor der Verant-
dern Rechtsanwälte. Und Frauen. schen säumen den Weg, als sie im Fami- wortung gedrückt, so wie ich jetzt nicht
Die Heldinnen des Protests marschieren liengrab in Gharhi Khuda Bakhsh bei Lar- vor der Verantwortung zurückscheue.“
meist stumm, sie tragen Transparente, auf kana neben ihrem Vater zur letzten Ruhe Erich Follath, Hans Hoyng,
denen sie die Menschenrechte einfordern. gebettet wird. Ihre Konkurrenten Sharif Daniel Steinvorth, Helene Zuber

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Ausland

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Die Leute wollen Stars sehen“


Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger, 60, über seine Favoriten im
Präsidentschaftswahlkampf, sein Eintreten für Klimaschutz, den nötigen
Kurswechsel in Washington und die Möglichkeit, unter Hillary Clinton Minister zu werden
SPIEGEL: Herr Gouverneur, wohin man
schaut, es kriselt in den USA: Der Immo-
bilienmarkt bricht zusammen, der Krieg
im Irak geht weiter, Chinas Aufstieg be-
droht die heimische Wirtschaft. Geht Ihr
Land geschwächt in den Präsidentschafts-
wahlkampf, der diese Woche in Iowa
beginnt?
Schwarzenegger: Keine Sorge, die USA
sind in hervorragender Verfassung. Sie sind
nach wie vor in der Lage, die heutigen
Herausforderungen zu meistern. Wir Ame-
rikaner können uns an jede neue Situa-
tion anpassen und sind äußerst zäh und
optimistisch.
SPIEGEL: Was haben die Regierungen –
auch die Ihres Parteifreundes George W.
Bush – in den letzten Jahren versäumt?
Schwarzenegger: Die bevorstehende Wahl
wird die Zukunft Amerikas bestimmen.
Unsere Infrastruktur muss dringend mo-
dernisiert werden, im Gesundheits- und
Bildungssystem sind Reformen unerläss-
lich. Außerdem müssen wir neue Wege fin-
den, um unsere Wirtschaft wieder in Gang
zu bringen.
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?
Schwarzenegger: Wir müssen unter ande-
rem die Frage beantworten, wie wir unse-
re Abhängigkeit von fossilen Energiequel-
len verringern. Wir müssen auch sagen,
wie wir die globale Erwärmung bekämpfen
wollen, und müssen gleichzeitig unsere
Wirtschaftskraft stärken.
SPIEGEL: Klimaschutz als Konjunkturpro-
gramm, das klingt gut. Die Regierung in
Washington scheint nur nicht sonderlich
viel davon zu halten. Soeben hat die US-
Umweltbehörde das kalifornische Gesetz
zur Verringerung des Schadstoffausstoßes
gestoppt. Sie wollen die Bundesregierung
nun verklagen – mitten im Wahlkampf.
Empfinden Ihre Parteifreunde das nicht als
Sabotage, wenn Sie gegen eine republika-
nische Regierung vorgehen?
Schwarzenegger: Wir sind nicht dazu da,
alle Entscheidungen, die in Washington ge-
fällt werden, abzunicken. Ich bin nun ein-
mal nicht damit einverstanden, dass die
Bundesregierung uns ein eigenes Gesetz
zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes bei
HARALD SCHREIBER

Neuwagen verwehrt. Wir haben das Ge-


setzgebungsverfahren vor zwei Jahren auf
den Weg gebracht, und weitere 16 Bun-
desstaaten haben bereits entschieden, un-
seren Plänen zu folgen. Wir haben uns ent- Republikaner Schwarzenegger: „Nicht alles abnicken, was Washington entscheidet“

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 93
Ausland

schieden zu klagen, um den Kampf gegen schutz zu bieten, und zwar unabhängig von für das Militär und denen für Inlandsauf-
den Klimawandel fortzusetzen. Alter und Gesundheitszustand. gaben sorgen.
SPIEGEL: Damit stehen Sie allerdings ziem- SPIEGEL: Ihre Parteifreunde sagen, ein sol- SPIEGEL: Die Popularität von Präsident
lich allein in Ihrer Partei. ches System sei unbezahlbar. Bush ist so niedrig wie bei kaum einem
Schwarzenegger: Es gibt eine Vielzahl von Schwarzenegger: Sobald dieses Gesetz in anderen Präsidenten vor ihm. Tun sich die
Republikanern, die für den Unweltschutz Kalifornien gilt, werden die Krankenversi- republikanischen Präsidentschaftsbewer-
sind – etwa die Gouverneure von Florida cherer sechs Millionen zusätzliche Kunden ber deshalb so schwer?
und Utah. Immer mehr Menschen stellen haben. Ein größerer Kundenstamm ver- Schwarzenegger: Die Umfragen zeigen
fest, dass wir die Umwelt schützen und da- ringert die Kosten. Es ist wie mit Mobil- eben auch, dass die Amerikaner mit der
bei auch das Wirtschaftswachstum fördern telefonen. Zunächst waren sie geradezu Führung des Landes nicht zufrieden sind.
können. Umweltschutz ist also nicht mehr unerschwinglich. Heutzutage hat fast je- Das ist nicht gut.
eine Sache der Parteizugehörigkeit. der ein Handy. Die Kosten für die Ge- SPIEGEL: Können die republikanischen
SPIEGEL: Aber die Republikaner, die für sundheitsversorgung werden sinken, da Kandidaten dieses Handicap überhaupt
das Weiße Haus kandidieren, klingen nicht mehr Beitragszahler in das System einzah- noch wettmachen?
gerade so, als ob sie schon so weit wären. len werden. Schwarzenegger: Die Republikaner haben
Schwarzenegger: So läuft das nun mal in SPIEGEL: Sie fordern eine Gesundheits- die gleichen Chancen wie die Demokra-
der Politik. Die Kandidaten denken mög- reform, mehr Umweltschutz, eine bessere ten. Sie müssen lediglich mehr Überzeu-
licherweise, dass sie sich an jene Themen Infrastruktur und die Wiederbelebung gungsarbeit leisten, denn die Menschen ha-
halten sollten, die sie ihren Parteifreunden der Wirtschaft. Es sieht ganz so aus, als ben möglicherweise das Gefühl, dass nur
während der Vorwahlen besser verkaufen wünschten Sie sich einen Kurswechsel, weg ein politischer Wechsel im Weißen Haus zu
können, etwa Fragen der nationalen von den Lieblingsthemen der Republika- einer Richtungsänderung führen kann.
Sicherheit, Steuersenkungen oder Ein- ner hin zu denen der Demokraten? SPIEGEL: Damit liegen die Wähler vermut-
wanderungsprobleme. So funktioniert das Schwarzenegger: Nein, ganz und gar nicht. lich nicht ganz falsch.
System. Diese Themen betreffen die gesamte Be- Schwarzenegger: Doch, allein eine neue
SPIEGEL: Wie soll man denn Kandidaten, völkerung, unabhängig von der politischen Partei ändert die Richtung noch nicht. Nur
die für den Umweltschutz eintreten, er- Ausrichtung. Mein Hauptinteresse gilt eine wirkliche Führungspersönlichkeit kann
kennen?
Schwarzenegger: Einer der größten Ver-
fechter für Umweltschutz bei den Repu-
blikanern ist John McCain. Er setzt sich
seit Jahren mit Gesetzen und Öffentlich-
keitsarbeit gegen den Klimawandel ein.
SPIEGEL: Was ist mit Mitt Romney? Als
Gouverneur von Massachusetts hat er 2006
eine große Gesundheitsreform verabschie-
det. Als Präsidentschaftsbewerber aber will
er davon nichts mehr wissen. Gehört das

JONATHAN ERNST / REUTERS


mit zum Spiel?

KEITH BEDFORD / REUTERS


Schwarzenegger: Romney hat sich ein we-
nig von seiner hervorragenden Gesund-
heitsreform distanziert. Er spricht nicht all-
zu häufig darüber, da er befürchtet, dass
die Neuerungen als zu wenig marktwirt-
schaftlich empfunden werden könnten. Es Präsidentschaftsbewerber Clinton, Huckabee: „Mit der Führung des Landes unzufrieden“
gibt zahlreiche Kandidaten unter den Re-
publikanern, die in allen diesen Bereichen nicht der Frage, ob ich einen republikani- ernsthaft Einfluss nehmen auf die Aus-
kompetent sind, aber sie halten sich so lan- schen Plan gegen einen demokratischen richtung unseres Landes. Diese Erfahrung
ge zurück, bis sie nominiert werden. Plan stelle. Ich verfolge einen Plan für haben wir dieses Jahr mit dem Kongress
SPIEGEL: Sie selbst haben gerade zusammen die Bevölkerung. Wirtschaft, Bildungs- gemacht. Hat sich der politische Kurs seit
mit den Demokraten in Kalifornien eine system, Infrastruktur, Gesundheitswesen, der Übernahme durch die Demokraten
Gesundheitsreform verabschiedet, die eine Energie, Umwelt – dies sind die innenpoli- geändert? Ich kann keine großen Verän-
Versicherungspflicht für alle vorsieht. Ihre tischen Aufgaben, die wir Amerikaner derungen erkennen. Das wirklich Ent-
Parteifreunde sprechen von Sozialismus. lösen müssen. scheidende ist meiner Meinung nach die
Schwarzenegger: Mein Ansatz basiert auf SPIEGEL: Die Regierung in Washington hat richtige Führungsperson.
dem Markt, ist also eher republikanisch in den vergangenen Jahren versucht, ihre SPIEGEL: Es sieht so aus, als ob die Ameri-
geprägt. Aber wir versuchen auch, Lösun- Vormachtstellung in der Welt vor allem kaner am ehesten Hillary Clinton diese
gen für ein Versagen des Marktes zu fin- durch militärische Stärke zu untermauern. Aufgabe zutrauen. Frau Clinton als Präsi-
den, denn ein solches Versagen macht das Schwarzenegger: Amerika ist sehr stolz auf dentin würde bedeuten, dass sich zwei Po-
System zu einem Desaster für die Bevöl- seine Militärgeschichte; unsere Truppen litikerfamilien fast ein Vierteljahrhundert
kerung. gehören zu den besten der Welt. Wir müs- die Macht wechselseitig teilen: George
SPIEGEL: Versicherungspflicht für alle ist sen zeigen, dass wir unsere militärischen Bush senior, Bill Clinton, George W. Bush
auch ein Kernstück der Vorschläge der de- Mittel einsetzen können, aber gleichzeitig und Hillary Clinton.
mokratischen Präsidentschaftsbewerberin versuchen, Probleme mit Diplomatie zu Schwarzenegger: Das ist leicht zu verste-
Hillary Clinton. Können Sie damit leben? lösen. Wir dürfen uns nicht darauf be- hen. Der Name spielt eben eine große Rol-
Schwarzenegger: Nun, jeder muss eine schränken, unsere Muskeln spielen zu las- le. Es ist wie damals bei den Kennedys.
Krankenversicherung vorweisen können. sen im Wissen, dass wir jeder anderen Na- Kennedy, Bush, Clinton – die Wähler er-
Wir sind davon überzeugt, dass die Versi- tion überlegen sind. Wir müssen diese Mit- kennen diese Namen einfach wieder. Sie
cherungsunternehmen in der Verantwor- tel mit Bedacht einsetzen. Und wir müssen wissen nicht immer so genau, wofür die
tung stehen, jedem Bürger Versicherungs- für eine Balance zwischen den Ausgaben konkrete Person steht, aber sie erkennen
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CHAD EHLERS/PICTURE-ALLIANCE/DPA
Strandvillen in Laguna Beach (Kalifornien): „Umweltschutz ist nicht mehr eine Sache der Parteizugehörigkeit“

den Namen. Während des Wahlkampfs SPIEGEL: Darf jemand, der wie Obama ille- Probleme.“ Qualifiziert so ein Satz für das
von George W. Bush im Jahr 2000 gab es gale Drogen konsumiert hat, für das Präsi- Präsidentenamt?
viele Leute, die glaubten, Bush senior wür- dentschaftsamt der Vereinigten Staaten Schwarzenegger: Ich weiß nicht, inwieweit
de wieder kandidieren. Sie wussten gar kandidieren? er wirklich meint, was er da sagt. Grund-
nicht, dass sie es mit Bush junior zu tun Schwarzenegger: Welche Drogen meinen sätzlich halte ich es aber für einen großen
hatten. Sie? Fehler, bei den eigenen Führungsaufgaben
SPIEGEL: Sie meinen, die Menschen wollen SPIEGEL: Marihuana. auf göttliche Eingebung zu vertrauen. Ich
Bill Clinton wiederwählen? Schwarzenegger: Bei Marihuana habe ich finde es gut, wenn ein Mensch seine eige-
Schwarzenegger: Clinton. Sie erinnern sich kein Problem. ne religiöse Überzeugung hat. Und trotz-
nur an den Namen Clinton und denken: SPIEGEL: Auch Bill Clinton hat zugegeben, dem bin ich dafür, dass man Politik
„Ja, dieser Clinton, der war gut. Das wird in jungen Jahren Marihuana geraucht zu und Religion streng voneinander trennen
schon gutgehen, auch mit ihr.“ Das ist ge- haben, aber er hat behauptet, er habe nicht sollte.
nauso wie im Filmgeschäft, da zählen auch inhaliert. SPIEGEL: Der New Yorker Bürgermeister
die Namen. Wenn die Leute ins Kino ge- Schwarzenegger: Jeder muss wissen, wie Michael Bloomberg, der vor kurzem aus
hen, schauen sie sich doch zunächst nicht er mit seiner Vergangenheit umgeht. Ich Ihrer Partei ausgetreten ist, könnte noch als
einen Film mit unbekannten Schauspielern bin da eher in die Offensive gegangen und unabhängiger Kandidat einsteigen und
an. Die Leute wollen Stars sehen. habe die Dinge beim Namen genannt. Ich dem republikanischen Kandidaten wichti-
SPIEGEL: Sie erwarten also, dass Hillary habe gesagt: „Ja, es stimmt, ich habe es ge- ge Stimmen abnehmen. Glauben Sie, dass
Clinton von ihrer Partei nominiert wird? raucht, und ich habe es genossen.“ Damals er das tun wird? Und würden Sie ihn un-
Schwarzenegger: Die Anzeichen lassen war ich jung, aber heute warne ich meine terstützen?
darauf schließen, dass sie nominiert wer- Kinder und alle Jugendlichen vor den Ge- Schwarzenegger: Ich würde darüber nach-
den könnte. Das bedeutet jedoch nicht, fahren des Drogenkonsums. denken, aber bis jetzt habe ich noch nie-
dass dies auch so eintrifft, denn in der Po- SPIEGEL: Die Republikanische Partei redet manden unterstützt.
litik ändern sich die Dinge manchmal von viel über Gott und die Bibel. Beten Sie SPIEGEL: Also muss es nicht unbedingt ein
einer Minute auf die andere. Es müssen auch bei der Arbeit? Republikaner sein? Könnten Sie auch
sich nur die Prioritäten der Leute ändern. Schwarzenegger: Ich bete – aber nicht bei mit einem unabhängigen Kandidaten
Erst kürzlich war das Thema Einwande- der Arbeit. leben?
rung in Kalifornien das Topthema, nun ist SPIEGEL: Welche Bedeutung hat der Glau- Schwarzenegger: Ich bin der Überzeugung,
es die Wirtschaft. be in der Politik? Der republikanische Prä- dass man immer für alles offen sein sollte.
SPIEGEL: Das war auch bei Hillary Clintons sidentschaftsbewerber Mike Huckabee Derzeit bin ich mit den republikanischen
Wahlkampf gut zu beobachten. Es ist noch sagt: „Vertraue auf Gott und verlasse dich Präsidentschaftsbewerbern jedoch recht
nicht lange her, da sah sie aus wie die si- nicht nur auf dein eigenes Verständnis der zufrieden.
chere Siegerin, aber jetzt scheint Barack SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, Minis-
Obama wieder gute Chancen zu haben. ter unter Hillary Clinton zu werden?
Schwarzenegger: Derzeit schauen die Schwarzenegger: Ich habe täglich mit De-
Wähler plötzlich wieder auf ihn, auf seine mokraten wie mit Republikanern zu tun.
Pläne und Visionen, und wenn Sie mich Es macht mir große Freude, mit Leuten
fragen, ob das dazu führen könnte, dass zusammenzuarbeiten, die eine andere Mei-
Hillary Clinton eine oder zwei Vorwahlen nung und Sichtweise vertreten als ich.
verliert, dann würde ich sagen: Ja, das Wenn Menschen mit verschiedenen Mei-
HARALD SCHREIBER

ist möglich. Aber führt das dazu, dass sie nungen und Hintergründen zusammen-
den Kampf am Ende verliert? Ich glaube kommen, wird jeder Einzelne gefordert,
nicht. gute Ideen hervorzubringen, und man
kann viel erreichen.
* Mit Redakteur Marc Hujer in seinem Privatbüro in Santa Schwarzenegger beim SPIEGEL-Gespräch* SPIEGEL: Herr Gouverneur, wir danken
Monica. „Ich bete – aber nicht bei der Arbeit“ Ihnen für dieses Gespräch.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 95
Ausland

Imedi (Hoffnung) durch staatliche Schlä- bauten vorbei, auf der mit Schlaglöchern
GEORGIEN
gertrupps zu zertrümmern und die Station übersäten Straße liegen totgefahrene Hun-

Marodeure an für mehr als einen Monat zu schließen.


Er trage die „Verantwortung für Geor-
giens Geschichte in den kommenden tau-
de. Ist das die „Mischung aus Schweiz und
Côte d’Azur“, die Saakaschwili seinen
Landsleuten verspricht?

der Macht send Jahren“, hatte sich der Staatschef


nach dem Gewaltstreich gerechtfertigt.
Manche seiner Gegner verunzieren Saa-
kaschwili-Porträts seither mit einem Hitler-
Reformzusagen in makellosem Englisch
waren das Pfund, mit dem der Draufgänger
in den letzten Jahren gegenüber westlichen
Partnern wucherte. Vor allem die Ameri-
Nach dem gewaltsamen Vorgehen
Schnurrbart. Doch ein Nazi ist er nicht. Er kaner schienen vom Absolventen der New
gegen die Opposition will sich ist ein Narziss. Yorker Columbia-Universität angetan.
Micheil Saakaschwili zum Staats- Gerade mal vier Jahre ist der studierte Nach der friedlichen „Rosen-Revolu-
chef wiederwählen lassen. Seine Jurist im Amt. Aber sein dunkles Haupt- tion“, mit der die Georgier ihren tief im
Gegner fürchten Manipulationen. haar hat graue Strähnen bekommen, ver- Korruptionssumpf steckenden Patriarchen
Eduard Schewardnadse stürzten, wurde
Saakaschwili im Januar 2004 zum Präsi-
denten gewählt, mit verdächtigen 96,2 Pro-
zent. Für Washington war er fortan der
Hoffnungsträger am Kaukasus.
Der Vielgepriesene revanchierte sich auf
seine Weise: Die Trasse vom Flughafen in
die Hauptstadt hat er in George-W.-Bush-
Street umbenannt. Am Tag der Präsiden-
tenwahl sollen sich die Georgier zudem in
einem Referendum zur Nato bekennen,
der Saakaschwili schnellstens beitreten
will. Doch in Brüssel gilt sein Land als noch
lange nicht Nato-reif. Dabei beträgt der
Militäretat inzwischen etwa 600 Millionen

ALEXANDER KLIMCHUK / POLARIS /STUDIO X


US-Dollar, mehr als 2000 Soldaten hat der
Staatschef in Bushs Irak-Krieg geschickt.
Zu den Reformen, die der polyglotte
„Mischa“ vorantrieb, gehörten Massen-
entlassungen im Staatsdienst und „null To-
leranz“ gegen Kriminalität. Die Folge: Die
von ihm ernannten Richter verdreifachten
die Zahl der Gefangenen auf mehr als
18 000. Auch außenpolitisch hat der Heiß-
Favorit Saakaschwili, Wahlhelferin: Es wird einsam um den Autokraten sporn sein Land in eine Sackgasse geführt.
Mit Brandreden und Drohungen provo-

D
er Himmel scheint es gut zu meinen flogen die jungenhafte Leichtigkeit. Nach zierte er Russlands Präsidenten Wladimir
mit dem jüngsten Präsidenten Eu- Außenministerin Salome Surabischwili und Putin. Der rächte sich, indem er die abge-
ropas. Als Micheil Saakaschwili, 40, einem weiteren Regierungsmitglied hat spaltenen Provinzen Abchasien und Süd-
strahlend aus seinem roten Wahlkampfbus jetzt auch sein engster Kampfgefährte ossetien in Moskauer Protektorate ver-
steigt, kommt hinter grauen Wolken für ei- Irakli Okruaschwili mit ihm gebrochen. wandelte. Damit scheint die von Saaka-
nen Moment die Sonne hervor. Im arm- Der frühere Verteidigungsminister, einst schwili versprochene „Wiedervereinigung“
seligen Bergarbeiterstädtchen Tschiatura ebenso selbstherrlich wie sein Chef und in weite Ferne gerückt. Noch härter trifft
im georgischen Nordwesten haben 2000 derzeit im Berliner Exil in Abschiebehaft, die Georgier, dass Moskau keine georgi-
Menschen anderthalb Stunden lang auf wirft dem Präsidenten die Errichtung eines schen Weine, Mineralwasser und Manda-
diesen Moment gewartet. Terrorregimes vor (siehe Interview Seite rinen mehr importiert.
Saakaschwili umklammert mit beiden 97). Es wird einsam um den Autokraten. Lewan Gatschetschiladse aber, dem Spit-
Händen ein Mikrofon und brennt vor den Der viertelstündige Auftritt des Staats- zenkandidaten des Oppositionsbündnisses
„lieben Freunden“ auf dem Marktplatz chefs in Tschiatura endet mit lauem Pflicht- aus Linken, Liberalen und Konservativen,
von Tschiatura ein Feuerwerk von Ver- beifall. Selbst Saakaschwili-Wähler wie Mi- fehlt das Zeug zum Volkstribun. Monoton
sprechungen ab: Moderne Arbeitsämter rian Gamkredlidse, 40, gehen ohne Begeis- verdammt der Weinhändler bei seinen
soll es bald geben, Lohnerhöhungen, ein terung vom Platz. Der Bergbauingenieur Wahlkampfauftritten die „Marodeure an
„Georgien ohne Armut“ und frei von Kor- fährt täglich in einen Mangan-Stollen ein, der Macht“. Doch als ahne er, dass er den
ruption. Eine Bedingung sei da allerdings: dessen Ausrüstung noch aus den dreißiger Kampf gegen Saakaschwili verlieren wird,
Das Volk müsse ihn am 5. Januar erneut Jahren stammt. Gerade 300 Lari pro Mo- warnt er zugleich vor Wahlmanipulation.
zum Präsidenten wählen. nat, umgerechnet 120 Euro, bringt ihm der Diese Sorge teilen europäische Diploma-
Kein Wort davon, warum er am 7. No- lebensgefährliche Job. Seine Wohnung ten und Männer wie Georgij Chaindrawa,
vember für anderthalb Wochen den Aus- heizt Gamkredlidse wie alle hier mit einst Minister für regionale Konflikt-
nahmezustand in Georgien verhängt hatte Brennholz, seit das zur Sowjetzeit gebau- regelung in der Saakaschwili-Regierung.
und 50 000 oppositionelle Demonstranten te Fernwärmenetz zerfiel. Unter dem jet- Der befürchtet für die Tage nach dem
in der Hauptstadt Tiflis mit Schlagstöcken, zigen Präsidenten, sagt er, gebe es wenigs- 5. Januar neue Szenen der Gewalt. „In Ge-
Tränengas und Gummigeschossen ausein- tens wieder durchgängig Strom. orgien herrschen Leute, für die die Macht
anderjagen ließ. Nicht ein einziger Hin- Mit seinem Bus hetzt Saakaschwili von das Ein und Alles ist“, sagt Chaindrawa:
weis darauf, was ihn trieb, die Sende- Termin zu Termin. Draußen ziehen graue „Der Westen hätte genauer hinsehen müs-
zentrale des unabhängigen Fernsehkanals Bergwerksruinen und bröckelnde Platten- sen bei uns.“ Uwe Klussmann

96 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
war psychische Folter. Der Präsident

„Das wäre mein Tod!“ wollte mich mundtot machen.


SPIEGEL: Wie hat man Sie denn unter
Druck gesetzt?
Okruaschwili: Durch nächtliche Verhö-
Der frühere Verteidigungsminister Irakli Okruaschwili re, stundenlang. Und es gab Leute, die
über seinen Konflikt mit Staatschef mich in meiner Zelle aufsuchten und
Saakaschwili und die bevorstehende Präsidentschaftswahl mir nach dem Leben trachteten. Saa-
kaschwili hat mir auch den jetzigen
Okruaschwili, 34, sitzt Okruaschwili: Ich habe Fehler gemacht. Verteidigungsminister ins Gefängnis ge-
derzeit in Abschiebe- Mir und meinen Anhängern ist es nicht schickt. Und der hat mir erklärt, dass
haft in Berlin. Georgien gelungen zu verhindern, dass ein Mann ich mindestens 25 Jahre hinter Gittern
fordert die Auslieferung wie Saakaschwili die absolute Macht bleiben würde.
ZURAB KURTSIKIDZE / DPA

des Oppositionspolitikers, erringt. Ich hätte früher Kritik üben SPIEGEL: Dann aber ließ man Sie frei
dem Betrug vorgeworfen müssen. Doch ich denke, dass unsere und zur medizinischen Behandlung aus-
wird. Der Ex-Minister hat Gesellschaft künftig niemandem mehr reisen. Wie fair wird die Wahl am 5. Ja-
inzwischen in Deutsch- erlauben wird, eine Einzelherrschaft zu nuar sein?
land Asyl beantragt. errichten. Saakaschwili wird scheitern. Okruaschwili: Saakaschwili wird alle le-
SPIEGEL: Sie haben den Präsidenten galen und illegalen Möglichkeiten nut-
SPIEGEL: Herr Okruaschwili, die geor- sogar mit Adolf Hitler verglichen. Das zen, um an der Macht zu bleiben. Die
gischen Behörden erheben schwere meinen Sie doch nicht im Ernst? Leute werden bedroht, damit sie nicht
Vorwürfe gegen Sie. Was sagen Sie Okruaschwili: Dieser Vergleich war eine mit der Opposition zusammenarbeiten.
dazu? logische Folge, weil der Präsident mit Zugleich terrorisiert er die Geschäfts-
Okruaschwili: Mehr als sechs Jahre habe Gewalt gegen Demonstranten vorging. welt, so dass es keine Möglichkeit gibt,
ich mit Micheil Saakaschwili zusam- SPIEGEL: Sie wurden verhaftet und ha- die Opposition zu finanzieren.
mengearbeitet, ich war seine rechte ben danach überraschend Ihre Vor- SPIEGEL: Warum hat es die Demokra-
Hand. In dieser Zeit erhob er keine würfe gegen ihn zurückgenommen. In tie in vielen ehemaligen Staaten der
Vorwürfe gegen mich. Doch in dem dem entsprechenden Interview mach- Sowjetunion so schwer?
Moment, in dem ich zur Opposition ten Sie den Eindruck, als würden Sie Okruaschwili: Wir haben mehr als 70
wechselte, hieß es, ich sei ein Verbre- unter Drogen stehen. Jahre im Totalitarismus gelebt, unsere
cher. Ein politisches Manöver. Okruaschwili: Unser Gefängnis in Geor- Anschauungen sind noch immer ent-
SPIEGEL: Sie halten die Ermittlungen gien unterscheidet sich sehr von die- sprechend beeinflusst. Viele Staatschefs
gegen Sie für ein rein politisches Ver- sem hier in Berlin: Es herrschen un- in den ehemaligen Sowjetrepubliken
fahren? menschliche Haftbedingungen. Man glauben, sie müssten die totale Macht
Okruaschwili: Solange Saakaschwili Prä- hat mich eingeschüchtert und demora- besitzen.
sident ist, werde ich in Georgien meine lisiert. Es gab keine physische Beein- SPIEGEL : Was ist Ihre Erwartung an
Unschuld nicht beweisen können. So flussung, etwa durch Narkotika, aber es den Westen?
gesehen hat meine Festnahme Okruaschwili: Ich wünschte
in Deutschland ein positives mir von Europa mehr Kon-
Element: Es wird mir hier viel trolle und mehr Kritik. Die
leichterfallen, die Vorwürfe zu ständigen Freundschaftsbe-
widerlegen. Obwohl ich diese kundungen gegenüber dem
Art Gastfreundschaft nicht er- früheren Präsidenten Eduard
wartet hatte – in Berlin gleich Schewardnadse, der irgend-
im Gefängnis zu landen. welche Verdienste um die
SPIEGEL: Was passiert, wenn deutsche Einheit hat, waren
die Deutschen Sie nach Ge- kontraproduktiv für unser
orgien abschieben? Land. Der Westen sah nicht
Okruaschwili: Ich hoffe auf unsere wirkliche Lage, und
Asyl. Eine Abschiebung – das wir wurden geblendet durch
wäre mein Tod. die Komplimente der Euro-
SPIEGEL: Man würde Sie um- päer und Amerikaner.
bringen? SPIEGEL: Welche Chancen se-
Okruaschwili: Saakaschwili hen Sie für Georgien nach
würde alle Möglichkeiten der Wahl am 5. Januar?
nutzen, mich zu vernichten, Okruaschwili: Saakaschwili
erst als Politiker, dann als muss seinen Posten räumen,
Mensch. Alle staatlichen die georgische Gesellschaft
Behörden, Polizei, Armee, darf nicht noch mehr gespal-
GEORGE ABDALADZE / AP

Gerichte, stehen im Dienst ten werden. Ich möchte


der Machthaber. nicht, dass weiterhin die bes-
SPIEGEL: Sie haben lange selbst ten Köpfe das Land verlas-
zu diesem System gehört, Sie sen, um ihr Glück im Ausland
waren einer der engsten Part- zu suchen.
ner von Saakaschwili. Polizeieinsatz in Tiflis: „Mehr als 70 Jahre Totalitarismus“ Interview: Stefan Berg

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 97
Ausland

Diamanten-
felder
SIERRA
LEONE GUINEA
Freetown
ELFEN-
LIBERIA BEIN-
KÜ ST E
LIBYEN Monrovia
NIGERIA
200 km
Afrika
Der
liberianische
Präsident Charles
Taylor unterstützte schon
auf dem Weg an die Macht
in den neunziger Jahren die Rebellentruppe
RUF in Sierra Leone. Diese bekämpfte die
eigene Regierung in Freetown. Der dortige
Bürgerkrieg forderte mehr als 100 000 Tote.
Taylor ging es dabei um die Kontrolle der
Diamantenfelder von Sierra Leone. Diese
„Blut-Diamanten“ exportierte er in alle Welt,
kaufte vom Erlös Waffen und bereicherte
sich selbst.

AFP
Angeklagter Taylor*: Dieses Exempel müssen verbrecherische Staatschefs von nun an fürchten

KRIEGSVERBRECHEN

Der Schlächter von Monrovia


Liberias Ex-Diktator Charles Taylor muss sich ab kommender Woche vor einem internationalen
Gericht in Den Haag verantworten. In Sierra Leone wird
gleichzeitig gegen seine Schergen verhandelt. Von Thomas Darnstädt und Jan Puhl

A
lhaji Jussu Jurka, 49, verkauft seine Stahlkrallen, mit denen er erstaunlich gut Charles Taylor kommt 20 Minuten zu
Vergangenheit, etwas anderes bleibt greifen kann. spät. Es ist der 3. Juli 2007, 20 nach 9, und
ihm nicht übrig. Zehn Sack Reis Mehr als 100000 Tote hat das Gemetzel hier in Den Haag hat seit neun Uhr der
oder 50 Dollar in bar, dafür gibt es Auskünf- gefordert, das elf Jahre lang Sierra Leone ganze Saal auf den Herrn im grauen Anzug
te und Erklärungen über das furchtbarste verwüstete. Zigtausende, Kinder, Frauen, mit der bordeauxroten Seidenkrawatte
Blutbad in der Geschichte Afrikas, das Familienväter, überlebten verstümmelt, weil gewartet. „Guten Morgen, Mister Taylor“,
furchtbarste jedenfalls, an das man sich hier rivalisierende Rebellengruppen mit Mache- begrüßt die Vorsitzende deutlich ungehal-
in Sierra Leone, am schwitzenden Westeck ten die Bevölkerung terrorisierten: Ober- ten den Gast.
Afrikas, erinnern kann – das Gemetzel, in arm, Unterarm, Hände oder Füße – alles ab. Der smarte Mr Taylor kann gar nichts
dem Jussu Jurka beide Arme verlor. Seit 2002 ist Frieden in Sierra Leone. für seine Verspätung. Er wird im Gerichts-
Wenn einer wie Jussu Jurka im ärmsten Jetzt ist das ärmste Land der Welt noch saal vorgeführt von stämmigen niederlän-
Land der Erde mit abgeschlagenen Armen ärmer, das Elend noch größer. Durch die dischen Sicherheitsbeamten. Die Verzöge-
dasitzt, hat er keine Chance. Aber mit stinkenden Straßen Freetowns streunen rung beruht auf den außerordentlichen
zehn Sack Reis oder 50 Dollar in bar kann hilflose Menschen ohne Arme – und eben- Sicherheitsvorkehrungen, die erforderlich
er sich und dem Club der hilflos verstüm- so hilflose Kinder, die vor kurzem noch waren, um den Schwarzen im Gefängnis-
melten Bürgerkriegsopfer hier am Rande zu den Soldateneinheiten mit der Mache- wagen vom nahen Scheveninger Knast in
der Hauptstadt Freetown schon mal ein te in der Hand gehörten. den Saal zu bugsieren.
paar Tage weiterhelfen. Es gab keinen Grund für diese Kata- 20 Minuten, was macht das schon. Jah-
Also gut, 50 Dollar. „Was sollen wir strophe knapp über dem Äquator. Keine relang haben die Völker Afrikas und die
schon machen“, sagt der stämmige Schwar- Befreiungsideen und keine Fanatiker ha- Völkerrechtler in aller Welt auf diesen Tag
ze mit den Armstümpfen, „bestenfalls ben das Schlachten befeuert, keine ethni- gewartet. Charles Taylor hat so viel Un-
können wir irgendwo Wachmänner sein schen Feindseligkeiten waren Anlass dafür, heil angerichtet, dass es gar nicht mehr so
und auf einen Knopf drücken, wenn je- dass Kinder gezwungen wurden, ihre El- sehr darauf ankommt, weshalb im Einzel-
mand einbrechen will.“ Dabei hatte Jussu tern zu erschießen, oder Mädchen als Sex- nen der Herr am Ende verurteilt wird, der
Jurka sogar noch Glück: Eine Hilfs- sklavinnen der Rebellen entführt wurden. sich nun auf den gutgepolsterten Anklage-
organisation hat ihm Prothesen spendiert, Dieser Krieg, sagt Jussu Jurka, sagen alle, sessel setzt.
hat nur einen Schuldigen, „und der heißt Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die
* Vor Gericht in Den Haag am 21. Juli 2006. Charles Taylor“. Menschlichkeit, Massenmord, sexuelle Ver-
98 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
mürbte Afrika bringen kann.
Der Prozess gegen einen Dik-
tator: Ob am Exempel des
smarten Mister Taylor gelin-
gen wird, was gleich neben-
an im Fall des Serben-Tyran-
nen MiloΔeviƒ missglückte, ist
offen.
Doch allein, dass es möglich
war, 2003 Anklage gegen den
noch amtierenden Staatschef
zu erheben, ja, ihn per inter-
nationalen Haftbefehl zu ja-
gen und schließlich einzuker-
kern, hat eine geschichtliche
Wende gebracht. Das Völker-
strafgericht hat mit dem Pro-
zess gegen Taylor schon jetzt
ein Präjudiz geschaffen, das an
Bedeutung kaum den Nürn-
berger Prozessen der Alliier-
ten gegen die Nazis am Ende
des Zweiten Weltkrieges nach-

ENRIC MARTI / AP
steht. Verbrecherische Staats-
chefs in aller Welt müssen von
nun an das Exempel Taylor
fürchten: Ihr Amt schützt sie
RUF-Rebellen in Freetown (1997): Massenmord, sexuelle Versklavung, Brandschatzung, Plünderung nicht vor Verfolgung und Be-
strafung.
sklavung, Einsatz von Kindersoldaten, bande. Anders als der Kollege Slobodan Frieden durch Gerechtigkeit? „Sierra
Brandschatzung, Plünderung: So lauten MiloΔeviƒ, der einstige serbische Diktator, Leone braucht Gerechtigkeit“, sagt in Free-
die Anklagevorwürfe im Courtroom 2 des der bis zu seinem Tod in der Haft 2006 town General Shareblood, und er meint:
internationalen Haager Völkerrechtsge- hier ebenfalls vor Gericht stand, ist der Er braucht das. General Shareblood, 23,
richtshofs. Taylor hat 1989 als Anführer smarte Liberianer mit der College-Ausbil- wünscht sich so sehr, dass die Kinder in
einer Räuberbande und später als Präsi- dung in Amerika dem Umgangston vor seiner Straße am Rande der Stadt nicht
dent Liberias Tod und Terror über seine dem Tribunal der Weltgerechtigkeit mühe- das werden, was ihre Väter waren: Killer.
westafrikanische Heimat gebracht. Unter los gewachsen. Der schwätzt nicht und pol- General Shareblood will wieder Ibrahim
seiner Präsidentschaft griff die Welle der tert nicht. Taylor hat es mit Verfahrens- Berrie sein. Er hat den Kampfnamen
Gewalt mit Wucht auf den Nachbarstaat tricks geschafft, die Verhandlung immer abgelegt und den Tarnanzug gegen weite
Sierra Leone über. wieder ins Leere laufen zu lassen. HipHop-Jeans und ein blitzsauberes
Terrortrupps plünderten die dortigen So war es auch am 3. Juli. Das Gericht T-Shirt getauscht. „Ich bin im Krieg groß
Diamantenfelder. Die Steine dienten als vertagte sich nach dem Unschuldsbe- geworden. Ich weiß, wovon ich rede, Krieg
Treibstoff für einen immer weiter ausgrei- kenntnis Taylors zügig. Kommende Wo- bringt niemandem etwas.“
fenden Krieg aller gegen alle, sie dienten che, am 7. Januar, wird es nun ernst. Zehn Jahre lang hat Berrie als Kinder-
als Zahlungsmittel für Waffen aus alten Was es dann zu sehen gibt, wird in Free- soldat in Westafrikas schmutzigen Schar-
Ostblock-Beständen. Charles Taylor, die towns Kinos dringend erwartet. „Straßen- mützeln geschossen, geplündert, gemor-
Spinne im Netz, raffte erst ein Milliarden- kinos“ heißen die Bretterbuden in der det. Endlich herrscht Frieden. Der Killer
vermögen zusammen und floh schließlich Hauptstadt Sierra Leones. Wenn einer von einst liebt seine Verlobte Mommy und
aus seiner brennenden Hauptstadt Mon- Benzin von der Tankstelle holt, läuft der seinen zweijährigen Sohn Faith, er hat le-
rovia mit Koffern voller Dollarnoten. Generator, und wenn der Generator läuft, sen gelernt und will studieren.
Zwei Staaten zugrunde gerichtet, eine dann läuft der Videorecorder. Die Videos Viele seiner Kameraden von damals sind
ganze Region destabilisiert: Taylors film- kommen aus Den Haag. wieder im Krieg, in der Elfenbeinküste, im
reife Horrorkarriere ist im Wesentlichen Die Bilder vom Prozess gegen den Kongo oder wo gerade ihre Dienste be-
unstreitig. Das Problem ist nur, den eins- Schlächter aus Monrovia im fernen Europa gehrt sind. Berrie hat widerstanden, hat
tigen Staatschef verantwortlich für die werden überall im Land gezeigt, die Vi- sein Alter Ego, General Shareblood, unter
Katastrophe zu machen, die er in West- deos von Amts wegen verteilt. „Dieser Kontrolle: „Die Bibel hat mir geholfen,
afrika ausgelöst hat. Die Ankläger stehen Prozess sendet ein Signal an alle Afrika- meine Verlobte auch“, sagt er. „Ich würde
nun vor dem Problem, die Befehlsketten ner“, sagt der US-amerikanische Straf- mich schämen, wenn mein Sohn eines
anarchischer Terrortruppen bis zum Chef rechtler David Crane, der für das Gericht Tages sagen müsste: Mein Vater war ein
zu rekonstruieren. die Anklage gegen Taylor geschrieben hat: Rebell, er hat nichts für mich getan.“
„Mister Taylor“, sagt, nun schon freund- „Die Herrschaft des Rechts wird sich als Die Soldaten kamen 1994, als Berrie
licher, die Vorsitzende Richterin Julia Se- stärker erweisen als die Herrschaft der neun Jahre alt war, nach Monrovia, in die
butinde aus Uganda, „würden Sie bitte auf- Gewehre.“ Hauptstadt Liberias, wo er mit seiner Fa-
stehen.“ Frieden durch Recht? Im Courtroom 2 in milie lebte. Sie ermordeten seine Eltern
Der Angeklagte steht auf. Den Haag wollen Juristen beweisen, dass und verschleppten ihn. „Ich weiß nicht,
„Was sagen Sie zum Anklagevorwurf?“ das geht. Dass die Verurteilung eines Ty- was damals genau passierte, ich kann mich
„Nicht schuldig, Euer Ehren.“ rannen, und sei sie auch nur im Video zu an fast gar nichts erinnern.“
Mister Taylor, 59, spricht wie ein müder sehen, den Geist der Gesetze, die Kultur Was damals passierte: In der Anklage
Staatschef, nicht wie der Boss einer Killer- der Gerechtigkeit in das von Gewalt zer- gegen Taylor ist es niedergelegt. Taylors
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 99
Ausland

Milizen terrorisierten seit 1989 das Land, gemacht. Und mir war völlig egal, auf wel- Mann überhaupt nach Freetown zu kriegen
um den liberianischen Diktator Samuel cher Seite ich stand.“ war eine Sache internationaler Verwick-
Doe zu stürzen. Die Waffen dafür hatte Am Ende, als Blauhelmtruppen ver- lungen.
Taylor aus Libyen, den Auftrag – so kann suchten, Frieden in der Region zu schaffen, Der Staatschef war im August 2003 vor
man annehmen – von den USA. gab Berrie, wie viele andere auch, seine gegnerischen Rebellentruppen ins nigeria-
Doch dem charismatischen Laienpredi- Waffe bei der Uno ab. Er bekam dafür nische Exil geflohen. Da hatten sie beim
ger Taylor ging es in Wahrheit nicht um ein bisschen Geld und konnte zur Schule Tribunal in Freetown die Anklage gegen
amerikanische Werte, sondern um die gehen. Seitdem arbeitet die internationale ihn schon fertig. Erst veröffentlichte Inter-
Kontrolle über die riesigen Diamantenfel- Hilfsmaschinerie: Mehr als die Hälfte des pol einen Fahndungsaufruf, dann setzte es
der in Westafrika. Die wichtigsten davon Haushalts von Sierra Leone wird aus Ent- den Flüchtigen auf die Liste der meist-
lagen im Nachbarstaat Sierra Leone, und wicklungshilfe bestritten. gesuchten Verbrecher der Welt – das half
darum hatte Taylor seinen Eroberungsplan In der Jomo-Kenyatta-Road haben die alles nichts. „Ich beteilige mich nicht an
mit seinem Freund Foday Sankoh gemein- Vereinten Nationen Stacheldraht ausgerollt dieser Komödie, die dem Volk Liberias und
sam ausgeheckt: Sankoh leistete Terror- und dahinter ein ganzes Barackendorf er- dem Volk Sierra Leones nicht gerecht
dienste mit einer Miliz jenseits der Grenze. richtet: den Special Court for Sierra Leone. wird“, ließ Taylor dem Gericht bestellen.
Seine „Revolutionäre Vereinigte Front“ Erstmals ist ein internationales Gericht Er spielte lieber Tennis in seinem Land-
(RUF) plünderte die Diamantenminen und am Tatort errichtet worden, auf blutigem haus im nigerianischen Calabar.
lieferte die kostbare Ware an Taylor. Tay- Boden. Dass die unglaublichen Verbrechen Taylor, völkerrechtlich gut beraten, ver-
lor versorgte dafür die RUF mit Waffen. im Land möglichst schnell und vor Ort suchte einen letzten großen Coup, der
Dagegen wiederum formierten sich ei- gesühnt werden sollten, war auch der nicht nur ihn, sondern auch die meisten
nige regierungsnahe Truppen, die zur Ver- Wunsch der 2002 neu gewählten, demo- seiner verbrecherischen Kollegen in Afrika
teidigung der Macht in Freetown mit nicht kratischen Regierung von Sierra Leone. und dem Rest der Welt der internationalen
minder brutalen Mitteln agier-
ten. Eine mörderische Spirale
der Gewalt.
Die RUF überfiel komplette
Dörfer, die „Burn House Unit“
legte alles in Schutt und Asche,
dann trat das „Cut Hands Com-
mando“ in Aktion. Männer,
Frauen, Kinder mussten sich in
einer Reihe aufstellen, Kinder-
soldaten schwangen stumpfe
Macheten und fragten jeden der
Reihe nach: „Kurzärmlig oder
langärmlig?“ Dann schlugen sie
zu, die Arme am Ellbogen oder
die Hände wurden abgetrennt.
General Shareblood war be-
geistert dabei. Selten war der
Junge klar im Kopf, kaum jemals
wachte er aus dem Blut- und
Drogenrausch auf. „Ich brauch-
BEN CURTIS / AP

te Musik zum Kämpfen. Ohne


lauten Reggae hatte ich keine
Lust.“ Also führte seine Truppe
auf ihrem Lastwagen stets ge- Diamantenwäscher im Nordosten Sierra Leones: Die Steine dienten als Treibstoff des Krieges
waltige Boxen mit sich.
Das „Hotel Africa“, drüben im liberia- So gründete Sierra Leone gemeinsam Gerechtigkeit entzogen hätte: Für Männer
nischen Monrovia, war in dieser Zeit die mit der Uno ein juristisches Unikum: ein wie ihn, erklärte der gestürzte Staatschef,
erste Adresse des internationalen organi- national-internationales Gericht, mit Rich- sei die Völkerstrafjustiz nicht zuständig, als
sierten Verbrechens. Hier logierten die tern und Anklägern aus aller Welt und ei- Staatschef sei er immun. Haftbefehl und
Agenten indischer Diamantenschleifer, von ner eigenen Strafrechtsordnung. Anklage, so ließ Taylor seine Anwälte ar-
hier aus organisierten sie die Lieferung der Nur die erste Garnitur, die überleben- gumentieren, seien von vornherein rechts-
Steine nach New York, in die vornehmen den Anführer der kämpfenden Rebellen- widrig gewesen, immerhin sei er da noch
Schmuckgeschäfte der Fifth Avenue. Das truppen, wird vor dem Tribunal angeklagt. im Amt gewesen.
Haus gehörte dem Niederländer Guus Das hat den Vorteil, dass man schnell Das Problem: Taylor hatte nicht so un-
Kouwenhoven, dem daheim Staatsanwälte vorankommt. Alle führenden Männer des recht. Bislang waren amtierende Staats-
vorwerfen, er habe mit seinen Schiffen Bürgerkriegs sind entweder tot – oder sie und Regierungschefs fürs Völkerstrafrecht
Tropenhölzer aus Liberia ins Ausland ge- sitzen in Haft. tabu. Eine Ausnahme von dieser Immu-
bracht – und auf dem Rückweg Kalaschni- Wie schwer es ist, Gerechtigkeit am Ort nität ist zwar von den Vertragsstaaten des
kows zu Taylor. des Unrechts zu schaffen, zeigte sich aller- 2002 gegründeten Internationalen Strafge-
Eine der Kalaschnikows war in den Hän- dings bald, als die Ankläger sich an den richtshofs (IStGH) in Den Haag vereinbart
den von General Shareblood: Ibrahim Fall mit dem Aktenzeichen 03-01 machten. worden. Aber die gilt nur für die Unter-
Berrie schoss für die RUF auf Regierungs- Dieser Fall betraf die Nummer 1 der ersten zeichnerstaaten dieses ersten ständigen
soldaten. Als ihn die Gegenseite gefangen Reihe, Charles Ghankay Taylor. Weltgerichts. Weil etwa die Vereinigten
nahm, feuerte er fortan auf die Rebellen, Der Ex-Präsident, so erwies sich schnell, Staaten sich bis heute weigern, das IStGH-
die eben noch seine Kameraden waren. war eine Nummer zu groß, um ihn in Sier- Statut zu unterzeichnen, muss George W.
„Ich mochte Kämpfe, mir hat das Spaß ra Leone vor Gericht zu stellen. Schon den Bush auch nicht befürchten, von IStGH-
100 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Ankläger Luis Moreno-Ocampo mit Vor- dennoch, bis am 29. März 2006 ein Hub- noch. Zwei aus der ersten Garnitur sind
würfen wegen Kriegsverbrechen im Irak schrauber mit dem Gesuchten an Bord in in der Haft gestorben – an natürlichen
behelligt zu werden. Freetown landete. Taylor, in Handschel- Ursachen, wie eine richterliche Untersu-
Natürlich hat auch Taylor beim IStGH len, wurde in Zelle 7B der Stacheldraht- chungskommission befand.
nicht unterschrieben und den Vertrag über burg geführt. Ein „Musterhäftling“, befand Aus den Blechbaracken des Sonder-
die Errichtung des Sierra-Leone-Tribunals der Gefängnisleiter, Nummer 2003-01 ver- gerichts für Sierra Leone in Freetown, die
schon gar nicht. Musste man ihn also in brachte seine Tage mit Bibellektüre. von 250 mongolischen Soldaten bewacht
Frieden lassen? Doch vor Ort wuchs die Sorge. Gar nicht werden, haben die Richter Abgesandte
Das Gericht in Freetown fällte bereits auszudenken, wenn der charismatische selbst in entlegenste Dschungeldörfer ge-
im Mai 2004 eine Entscheidung, die den Mister Taylor hier in öffentlicher Ver- schickt – um den Menschen zu erklären,
Fall Taylor schlagartig vom Dschungel- handlung vor Gericht stünde. „Die An- was der Gerichtshof will. Das ist nicht ganz
krimi zum historischen Exempel des Völ- wesenheit des früheren Präsidenten“ sei einfach, denn es gibt auch Unmut über
kerstrafrechts machte: Die Immunität von „ein Hindernis für die Stabilität und eine diese Art juristischer Aufarbeitung der
Staats- und Regierungschefs gelte vor in- Bedrohung für den Frieden in Liberia und Vergangenheit. Zum Beispiel bei der „Pro-
ternationalen Strafgerichten grundsätzlich Sierra Leone“, entschied der Uno-Sicher- moters of Peace and Justice“ (PPJ).
nicht. heitsrat und verfügte seine Überstellung Die PPJ ist eine seltsame Organisation,
Im Fall des jugoslawischen Herrschers an die holländische Nordseeküste. die ihren Sitz im feuchten Hinterzimmer
MiloΔeviƒ hatten sich die Kollegen vom Der Internationale Strafgerichtshof in eines Restaurants gegenüber dem Ge-
Jugoslawien-Tribunal um dieses Problem Den Haag war bereit, der zuständigen richtshof hat: ein Zusammenschluss der
noch herumdrücken können – niemand Strafkammer des Sierra-Leone-Tribunals Täter, der sich nun aber ernsthaft dem Frie-
hatte sich ernsthaft daran gestört, dass der einen seiner Gerichtssäle zur Verfügung den verschrieben hat. Die fünf Männer im
Kriegsgegner in Belgrad zum Zeitpunkt zu stellen – und eine sichere Zelle im in- Raum, der Vorstand, sind allesamt RUF-

FOTODESIGN CZERSKI / MAURITIUS IMAGES (L.); JAN PUHL / DER SPIEGEL (R.)
JAN PUHL / DER SPIEGEL

Opfer Jurka, Panorama von Freetown, Ex-Soldat Berrie*: „Sierra Leone braucht Gerechtigkeit“

der Anklageerhebung noch amtierte. In ternationalen Kriegsverbrecherknast un- Kämpfer gewesen: „Wir wehren uns dage-
Sierra Leone nun wurde Völkerrecht ge- weit des Strands von Scheveningen. Nach- gen, dass den Rebellen alle Verbrechen in
schrieben: Der alte Grundsatz der Immu- dem Großbritannien versprochen hatte, die Schuhe geschoben werden. Der Special
nität, so argumentierten die Richter, gelte Taylor „im Falle einer Verurteilung“ not- Court spaltet die Gesellschaft, wir brau-
allenfalls im Verkehr der Staaten unter- falls auch lebenslang auf der Insel hinter chen Versöhnung“, sagt Andrew Kaimbay,
einander. Aber ein internationales Gericht, Gittern zu halten, stand der Verschickung der Erste Sekretär. „Foday Sankoh hatte
das über den Staaten stehe, müsse sich an des gefährlichsten Mannes Westafrikas immer ein schwarzes Buch bei sich, darin
solche Restriktionen nicht halten. nichts mehr im Weg. notierte er die Namen von Kriegsverbre-
Die von Völkerrechtlern auch in Das Tribunal ist nun zweigeteilt: Eine chern. Die hätten sich nach dem Krieg ver-
Deutschland anerkannte Entscheidung von Mannschaft von rund 50 Juristen und Ver- antworten müssen“, behauptet er.
Freetown ist ein weiterer Schritt in der waltungsangestellten sitzt in einem alten Doch RUF-Führer Foday Sankoh ist tot
Entwicklung einer Weltrechtsordnung, die Bürohaus neben dem Internationalen – ein Schlaganfall im Gefängnis raffte ihn
staatliche Souveränität und damit die Strafgerichtshof in Den Haag. 2003 dahin. Eineinhalb Jahre lang war in
Selbstherrlichkeit staatlicher Repräsentan- Die anderen bleiben eingeigelt hinter Sierra Leone eine „Wahrheits- und Ver-
ten zugunsten weltweit gültiger Friedens- ihrem Nato-Draht und kümmern sich um söhnungskommission“ am Werk, die die
regeln und Menschenrechte relativiert. die übrigen acht Rebellenführer, die hier Verbrechen aufarbeitete. Unter der Fe-
„Ein unvergleichlicher Idealismus“ strahle noch in Haft sitzen. Mehrere Verurteilun- derführung von Bischof Joseph Humper
von Freetown auf das Weltrecht aus, sagt gen zu hohen Freiheitsstrafen sind schon führte sie Täter und Opfer zusammen, die
der Kölner Völkerstrafrechtler Claus Kreß. ergangen, die Berufungsverfahren laufen Menschen bekamen die Chance, sich aus-
Zweieinhalb Jahre internationaler di- zusprechen. Am Ende standen Reinigungs-
plomatischer Bemühungen brauchte es * Mit Verlobter Mommy und Sohn Faith. rituale: Mal entschuldigten sich die Täter
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 101
im Beisein des ganzen Dorfs und küssten
den Überlebenden Hände oder Füße. An-
dernorts bemalten Medizinmänner die Kil-
ler von einst mit weißer Farbe. Feierlich
wird mit der Kreide auch die Schuld ab-
gewaschen.
Dies ist die traditionelle afrikanische
Methode, Frieden zu schaffen. Und wie
stets, wenn Juristen versuchen, die Idee
des Völkerrechts und der Menschenrechte
in die von Gewalt verwüsteten Länder
Afrikas zu tragen, geht nun auch in Sierra
Leone der alte Streit wieder los. Ist es nicht
eine Anmaßung der Ersten Welt, ihre Vor-
stellungen von Recht und Strafe dem afri- SLOWEN I EN
kanischen Kontinent überzustülpen? Selbst
bei manchem Richter in Freetown wachsen
die Zweifel, ob diese Art von satellitenge-
stützter Hightech-Gerechtigkeit mitten im
halbverhungerten Sierra Leone wirklich
Deutsche vom Balkan
etwas zum Besseren wenden kann: „Wenn Das kleine Land am Südrand der Alpen übernimmt
der nächste Tyrann hier mit einem chrom-
verzierten Mercedes und von schönen die EU-Präsidentschaft. Doch Europas
Frauen umrahmt durch die Stadt fährt – die Musterschüler steht unter Druck: Die Preise explodieren,
DIAGENTUR.COM

Leute werden ihm auch hinterherlaufen,


wenn Taylor verurteilt wird.“
Journalisten klagen über staatliche Zensur.
Hat das Recht keine Chance am Äqua-
tor? Dann hat auch Berrie, der Killer, der

D
keiner mehr sein will, keine Chance. Und raußen ist es bitterkalt. Aber drin- in der slowenischen Hauptstadt, die zwei-
ganz Afrika nicht. nen, im „Zvezda“, im Zentrum fache Mutter erzielt 800 000 Euro Umsatz
Banane, Räucherfisch, Ingwer, Erdnuss- Ljubljanas, gibt das Partyvolk Gas. pro Jahr. Und nun also Zvezda Nummer
sauce: In seiner Zelle in Den Haag be- Frauen in hochhackigen Lederstiefeln und zwei.
kommt Taylor, was er will. Rund 500 Euro Männer mit Designerbrillen prosten sich Slowenien kennt viele solcher Erfolgs-
pro Tag zahlt der Internationale Gerichts- zu, Sektgläser klirren. Mitten im Gewühl geschichten. Die von Igor Akrapoviƒ zum
hof von Sierra Leone an den Internatio- eine quirlige Frau mit leuchtenden Augen, Beispiel, der knapp 35 Kilometer von
nalen Strafgerichtshof, damit der Gast im die ihre rotblonden Locken zu einem Zopf Ljubljana entfernt Auspuffanlagen für
schicken Knast des etablierten Weltgerichts zusammengebunden hat: UrΔa μefman Motorräder fertigt und es damit zu einem
anständig behandelt wird. Sojer feiert die Eröffnung ihres neuesten der führenden Unternehmen im Bereich
Taylor selbst trägt nichts zu den Kos- Cafés. Alles ist supermodern, hellbraune des Rennsports gebracht hat – weltweit.
ten seines Prozesses bei. Selbst seine Lederbänke, dunkelgebeizte Stühle, schi- Oder die der Firma Elan, die im Grenz-
Anwälte, unbezweifelbar die besten der cke Leuchter. Zvezda heißt zu Deutsch der gebiet zwischen Slowenien und Österreich
Welt, lässt er sich auf Armenrecht aus der Stern. Ski und Snowboards fertigt und vor eini-
Gerichtskasse finanzieren. Der Mann, des- μefman ist 34, sie trägt ein enges gen Jahren jenen Carver erfand, mit dem
sen Privatvermögen nach Schätzungen schwarzes Wollkleid, dazu Sandalen im heute Skibegeisterte zwischen Aspen und
mindestens 450 Millionen Dollar beträgt, Gepardenlook, den Ausschnitt ziert eine St. Moritz die Pisten herabjagen.
behauptet, er habe nichts mehr. Die Staats- Brosche mit dem Konterfei von Marilyn Wohl keines der ehemals kommunis-
anwaltschaft hat eine Ermittlungskommis- Monroe. Vor acht Jahren hat sie mit ihrem tischen Länder, die im Mai 2004 der EU
sion eingerichtet, die weltweit nach dem ersten Café den Schritt in die Selbständig- beigetreten sind, ist so dynamisch, so ziel-
Vermögen des prominenten Häftlings keit gewagt, weil sie „so gerne backt“, wie strebig wie der Zwei-Millionen-Einwohner-
fahnden soll. sie sagt, ihre Spezialität Staat am südöstlichen
So muss das Tribunal alle seine Ausga- sind Obst- und Schokola- Zipfel der Alpen. Wirt-
ben aus Spendengeldern finanzieren. Der dentorten. Sie gab ihren schaftlich geht es dem
Chefankläger, Stephen Rapp, ist ständig Job in der PR-Branche auf Land, das kleiner als
bei den Staatschefs in aller Welt unterwegs, und arbeitete anfangs bis Sachsen-Anhalt ist, so gut
um den Etat für das kommende Jahr zu- zu 20 Stunden täglich. wie nie zuvor: Sechs Pro-
sammenzubetteln. Staaten wie Deutsch- Abends, wenn die Gäste zent Wachstum meldete
land geben bislang reichlich: 2006 waren es weg waren, brachte sie die EU-Kommission für
allein aus Berlin gut eine Million Euro. noch die Tischdecken zu 2007. Auch die 500 klei-
Im Knast von Scheveningen kocht Taylor ihrer Mutter, die wusch nen und mittleren Betrie-
PETAR KURSCHNER / EST-OSTPHOTO

jetzt sein Essen selbst. Er hat sich mit sei- sie für den nächsten Tag. be im Land, die soge-
nem Zellennachbarn angefreundet, Tho- Dann fiel sie todmüde ins nannten Gazellas, leisten
mas Lubanga. Lubanga, ein Rebellenführer Bett. einen wichtigen Beitrag,
aus dem Kongo, ist beim Internationalen „Wir haben alles selbst sie exportieren Wein,
Strafgerichtshof nebenan angeklagt, wegen gemacht“, sagt UrΔa μef- Autoteile, Lederwaren.
ganz ähnlicher Vorwürfe. Nach dem Essen man, „aber es hat sich Und die Slowenen inves-
waschen sie zusammen ab. gelohnt, das Geschäft tieren, vor allem auf dem
Liberias Ex-Diktator hat sich offenbar brummt.“ Zvezda Num-
darauf eingerichtet, dass es länger dauern mer eins ist inzwischen Gastronomin µefman
wird in Den Haag. ein beliebter Treffpunkt „Alles selbst gemacht“
102 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Ausland

auch als Gefängnis diente. Ljubljana gibt Dass JanΔa daraufhin Ende November
sich mediterran, selbst in diesen Winter- die Vertrauensfrage stellte, war eher ein de-
tagen sitzen die Hauptstädter im Freien, monstrativer Akt, erwartungsgemäß stimm-
um ihren Kaffee zu nehmen. te die Mehrheit des Parlaments für ihn. In-
Doch das Bild täuscht, die Leichtigkeit, nenpolitisch kämpft der Premier gleichwohl
die das Leben der Slowenen bislang be- noch an einer anderen Front. 571 Journalis-
stimmte, ist dahin. Mit dem Euro kam An- ten brachten jüngst eine Petition auf den
fang des Jahres auch der Frust: Die Preise Weg, in der sie eine massive Einschränkung
in den Supermärkten kletterten seither steil der Medienfreiheit und politischen Druck
nach oben. Allein Lebensmittel haben sich von Seiten der Regierung beklagen. Einen
um 20 Prozent verteuert. entsprechenden Brief hatten sie im Herbst
„Es ist verdammt hart, über die Runden an zahlreiche Zeitungen und Presseagentu-
zu kommen“, schimpft Ingrid Dorner, eine ren in ganz Europa verschickt.
21-Jährige mit himbeerrot gefärbten Haa- Während der Regierungschef von einer
ren und Nickelbrille. Sie stammt eigent- inszenierten Kampagne der Opposition
lich aus Maribor, in Ljubljana studiert sie spricht und den aufmüpfigen Journalisten
Psychologie. Mit ihrem Nebenjob in einem Landesverrat vorwirft, halten viele den
Restaurant verdiene sie im Monat knapp Protest für berechtigt. Auch Bla¢ Zgaga.
800 Euro, 300 müsse sie allein schon für Der 34-Jährige ist derzeit der Robin
ihre kleine Wohnung bezahlen: „Das Geld Hood der slowenischen Medienlandschaft,
rinnt nur so aus den Fingern.“ er ist einer der beiden Initiatoren der Peti-
Ende November brach sich der Unmut tion. Zgaga sitzt mit dicker Wollmütze und
erstmals Bahn, rund 70 000 Menschen gin- wattierter Jacke vor seinem Stammlokal
gen in Ljubljana auf die Straße – eine ge- im Zentrum Ljubljanas. Er erzählt, wie er
waltige Demonstration für dieses kleine in der Zeitung „Ve‡er“ jahrelang über die
Land. Gewerkschaften, Studenten und Aktivitäten der Geheimdienste und deren
AFP

Rentner protestierten gegen die steigen- Skandale schrieb. Doch im vergangenen


Seeort Bled, Demonstration in Ljubljana (2007) den Lebenshaltungskosten und forderten Jahr seien regierungskritische Passagen im-
Die Leichtigkeit ist dahin mehr soziale Gerechtigkeit. Es war die bis- mer wieder aus seinen Texten entfernt
lang größte Kundgebung seit Proklamation worden, schließlich wurde er mit anderen,
Balkan – in Bosnien zählen sie inzwischen der Unabhängigkeit. weniger heiklen Themen betraut. Investi-
zu den größten Kapitalanlegern. Tatsächlich hat Sloweniens Inflations- gativer Journalismus sei für ihn fast nicht
Zu Titos Zeiten war die damals nörd- rate mit 5,7 Prozent besorgniserregende mehr möglich, sagt er: „Man hat mich kalt-
lichste Republik bereits das wirtschaftliche Höhen erreicht – in keinem Land der Euro- gestellt.“
Zugpferd des jugoslawischen Vielvölker- zone ist die Geldentwertung derart hoch. Kein Einzelfall, urteilt Brankica Petko-
reichs. Mit dem Geld, das Slowenien in EU-Wirtschaftskommissar Joaquín Almu- viƒ, die für das slowenische Peace Insti-
den Länderfinanzausgleich zahlte, wurden nia sah sich Anfang November genötigt, tute die Medienlandschaft beobachtet. Im-
die darbenden Republiken im Süden ge- mer wieder seien in jüngerer Zeit kritische
stützt. Von den Balkankriegen blieb es DEUTSCHLAND Wien
Journalisten degradiert, unliebsame Artikel
weitgehend verschont; lediglich unmittel- unterdrückt oder leitende Redakteure von
bar nach Ausrufung der Unabhängigkeit Print und Hörfunk durch Sympathisanten
1991 lieferten sich jugoslawische Einheiten ÖS TER R EI C H der Regierung ausgetauscht worden: „Die
mit der slowenischen Armee zehn Tage Art, wie Druck auf die Presse ausgeübt
lang kleinere Gefechte. ITA LIE N wird, ist sehr subtil.“
Mittlerweile besitzt das Land einen Maribor Staatlich kontrollierte Firmen wie Tele-
höheren Lebensstandard als Portugal und SLOWENIEN kom und Mobitel hätten ihre Anzeigen in
Ljubljana
liegt bereits dicht hinter Griechenland – den letzten zwei Jahren ohne Begründung
die „Deutschen vom Balkan“ werden die Piran storniert, berichtet der Chefredakteur des
Slowenen wegen ihrer Emsigkeit genannt. 100 km K R OATI EN Nachrichtenmagazins „Mladina“, Grega
Auch der Euro ist schon eingeführt. Kein Repov¢. Allein im vergangenen Jahr ver-
Wunder, dass Slowenien im Januar als ers- buchte sein Blatt einen Verlust von meh-
tes der neuen EU-Mitglieder die Ratsprä- das sonst so mustergültige Slowenien öf- reren hunderttausend Euro – es sei wohl
sidentschaft der Union übernimmt. fentlich zu ermahnen: Mehr als drei Pro- für seine kritische Berichterstattung abge-
Touristen, die mit dem Auto von Öster- zent Inflation seien „ein schlechtes Signal“ straft worden, so Repov¢, der auch Vorsit-
reich kommend das erste Mal die Grenze für die nächsten Euro-Aspiranten. zender der slowenischen Journalistenver-
passieren, sind meist überrascht: Die Häus- Auch sonst ist die Lage der Mitte-rechts- einigung ist: „So massiv waren die Inter-
chen sind hell und freundlich getüncht, die Regierung von Premier Janesz JanΔa zu ventionen nie.“
Balkone mit Geranien umrandet, weiter Beginn der EU-Ratspräsidentschaft nicht Kritiker halten Janez JanΔa, 49, für das ei-
südlich, an der Adria, blühen Tourismus- gerade rosig. Bei der kürzlichen Präsi- gentliche Problem. Der frühere Journalist,
orte wie Piran und Portoro¢. Keine Spur dentschaftswahl siegte Linkspolitiker Da- der sich in den achtziger Jahren in der
vom Ostmuff, den es noch in anderen post- nilo Türk, ein erfahrener Diplomat, der kommunistischen Jugend engagierte und
sozialistischen Ländern gibt. sechs Jahre lang die rechte Hand von Uno- nach der Wende zum autoritär agierenden
Ljubljana, das einstige Laibach, in dem Chef Kofi Annan war. Lojze Peterle, Favo- Konservativen wurde, habe nur ein einziges
jahrhundertelang die Habsburger regier- rit der Regierung, landete abgeschlagen Ziel, meint die angesehene slowenische Phi-
ten, ist bis heute ein Kleinod stolzer auf Platz zwei. „Der Wahlausgang ist ein losophin Spomenka Hribar: „alles dem
k. u. k. Architektur. Übersetzt heißt Lju- Denkzettel für JanΔas Kabinett“, sagt der Staat unterzuordnen“. Viele Slowenen er-
bljana die Geliebte, die Stadt wirkt fried- Wiener Balkanexperte Vedran Dzihiƒ: hofften sich deswegen von der EU-Ratsprä-
lich und jung. Mehr als 50 000 Studenten „Das Bild des ewigen Musterschülers wird sidentschaft vor allem eines: einen Schub
tummeln sich am Fuße der Burg, die einst korrigiert.“ für „mehr Demokratie“. Marion Kraske

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 103
Ausland

G RA N SASS O
Dunkle Materie
Global Village: Tief im Gran Sasso, von dessen Gipfel Hitler einst Mussolini
entführen ließ, warten Forscher aus aller Welt auf ein wissenschaftliches Wunder.

N
ach vier Kilometern unterm Berg, tember 1943 lief hier das „Unterneh- gelenkt, unterirdisch und quer durch die
nach endloser Fahrt in einer orange men Eiche“ ab. Deutsche Fallschirmjäger Alpen, in der Hoffnung, dass sie auf dem
beleuchteten Autobahnröhre, ver- und ein SS-Kommando landeten mit Gleit- Weg in Tau-Neutrinos zerfallen und genau
zweigt sich der Tunnel plötzlich. Ohne jede seglern auf dem Bergplateau, um den in dem Block aus Blei in Halle C landen,
Vorwarnung. Tief in der Erde, vergraben gestürzten und hier gefangengehaltenen vor dem Matthias Laubenstein steht. Bis-
unter anderthalb Kilometern Dolomit- Benito Mussolini zu entführen, auf Befehl her ist noch keins angekommen.
Gesteinsmasse, schiebt sich eine Edel- Hitlers. Sie überwältigten die Carabinieri Fünf Jahre lang wird „Opera“ dauern.
stahltür zur Seite und macht den Weg und forderten einen „Fieseler Storch“-Flie- „Es ist maximal erwartbar, dass pro
frei in Gänge und Hallen, in denen Män- ger an. Jahr zwei Ereignisse stattfinden“, sagt
ner mit Schutzhelmen raschen Schrittes Nach waghalsigem Start wurde der Laubenstein. Ein „Ereignis“ ist der Nach-
hinter irgendwelchen Maschinerien ver- „Duce“ ausgeflogen und an die Spitze weis eines Tau-Neutrinos in dem hausho-
schwinden. eines faschistischen Rumpfstaats gesetzt, hen Block aus Bleiziegeln. Wenn ein Er-
Im Bauch des Gran Sasso d’Italia, des der „Republik von Salò“ am Gardasee. eignis eintritt, werden die Physiker aus
höchsten Massivs des Apennin hundert Die Aktion wurde damals als eine der Korea, Israel, Russland oben in der Kan-
Kilometer nordwestlich von Rom, verbirgt spektakulärsten Leistungen deutschen Pio- tine mit Prosecco und Zigarren feiern.
sich das weltweit größte unterirdische La- niergeists und Wagemuts verkauft. Laubenstein hat einen gelben Schutzhelm
auf dem Kopf. Im August
wurde sein Sohn geboren. Er
sagt noch: „Es kann auch
sein, dass es kein Ereignis
gibt.“
Dann hätten Dutzende
Forscher umsonst Neutrinos
durch die Alpen geschossen
und umsonst 1800 Tonnen
Bleiziegel beobachtet. Fünf
Jahre lang. Es sei, sagt Lau-
benstein, manchmal schwer,
Grundlagenforschung nach
außen verständlich zu machen.
Er ist seit 14 Jahren im
Gran Sasso und wird wohl
nicht mehr gehen. Der Berg
ist ein idealer Ort. Nicht
nur, um Diktatoren zu ver-
stecken.
Eingang zum Forschungslabor Gran Sasso: „Maximal zwei Ereignisse pro Jahr“ Die Radioaktivität sei hier
unten, sagt Laubenstein, eine
boratorium für Teilchenphysik: drei künst- Ein mythischer Ort, dieser Gran Sasso. Million Mal geringer als draußen. Keine
liche Höhlen, alle über hundert Meter lang Matthias Laubenstein steht tief im Innern Strahlung stört das Warten auf die Tau-
und vollgestellt mit Teilchendetektoren, des Berges, vor einer haushohen, leise Neutrinos. Einen reineren Ort, sagt Lau-
Stickstofftanks, Kontrollräumen und Mess- surrenden Anlage. Grüne Kabelleitungen benstein, gebe es kaum auf der Welt.
geräten. ranken sich um den Block, gelbe Aufzüge, Sie mussten eigene Instrumente bauen,
In Halle A wird einem „doppelten Beta- Messuhren, fahles Neonlicht. Das sind um Strahlung überhaupt wahrnehmen zu
Zerfall“ nachgespürt, in einer anderen 200 000 mit Film beschichtete Bleiziegel, können.
baut der Physik-Nobelpreisträger Carlo die auf „Tau-Neutrinos“ warten. „Opera“ Tau-Neutrinos haben praktisch keine
Rubbia eine Anlage, um Dunkle Materie heißt das Experiment mit diesem Teilchen- Masse und keine Ladung. Sie reagieren
nachzuweisen. „Er ist längst pensioniert. detektor. 13 Länder beteiligen sich, darun- auch kaum mit Materie. Es gibt sie eigent-
Aber seine ,dark matter‘ möchte er noch ter sind Südkorea, die Türkei, Russland, lich gar nicht. Das macht den Nachweis so
finden.“ Das sagt Matthias Laubenstein, Japan und Israel. Es geht darum, die Son- schwierig. Außerdem kann niemand sagen,
ein 41-jähriger Physiker aus der Pfalz, der ne zu verstehen. wann und wo zwischen Genf und dem
eigentlich Astronom werden wollte und Im Cern-Zentrum in Genf, Europas Gran Sasso eines dieser Tau-Neutrinos ent-
jetzt, zusammen mit derzeit 740 Forschern Kernforschungs-Zentrale, werden Protonen steht, und wenn es entstehen sollte, würde
aus 24 Ländern, im Innern eines Bergs Ele- beschleunigt und in Neutrinos zertrüm- es nach einem Millimeter Flugstrecke
mentarteilchen nachstellt. mert. Neutrinos entstehen auch in der Son- schon wieder zerfallen. Laubenstein lächelt
Ein heikles, fast unmögliches Unter- ne, und wer die Fusionsprozesse in der ein wenig unsicher und weiß, dass er das
nehmen. Sonne versteht, der wird vielleicht einmal eigentlich niemandem außerhalb erklären
1400 Meter oberhalb des Laboratoriums kein Öl mehr verbrennen müssen. kann.
steht, mitten auf einem Schneefeld, das Vom Cern werden die Neutrinos 730 Ki- Wie leicht ist es doch, einen Duce zu
Berghotel Campo Imperatore. Am 12. Sep- lometer weit in Richtung Gran Sasso befreien. Alexander Smoltczyk

104 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Jugend-Vorbild van
der Vaart (2. v. l.)
TAY DUCLAM / WITTERS

NACHWUCHS

Deutschland sucht den Fußballstar


Alle Bundesligaclubs verfügen über Leistungszentren für den Nachwuchs,
allein der Hamburger SV bildet 200 Talente aus. 17 der Besten leben im Internat, eine speziell
geförderte Elite. Doch ob einer den Sprung zu den Profis schafft, weiß niemand.

M
anchmal ist Heimweh ein Thema. Wolf sitzt im Aufenthaltsraum des Nach- spätestens drei Jahren werden die Per-
Die älteren Spieler sollen sich um wuchs-Leistungszentrums und will optimis- spektiven neu bewertet. Es ist wie eine jah-
die jüngeren kümmern, das gehört tisch sein. „Ich fühle mich bombenwohl, relange Casting-Show – und die Chancen,
zu ihren Aufgaben wie Tischdienst und sportlich läuft es super, die Zukunftsper- es zu schaffen, sind nicht größer als bei
Müllraustragen. Raphael Wolf ist 18 Jahre, spektive scheint nicht schlecht zu sein.“ „Deutschland sucht den Superstar“.
ein großer junger Mann mit weichem Ge- Es ist Ende 2006, als er das sagt, vor Die, die aufgenommen werden, gehören
sicht und beinahe melancholischem Blick. rund einem Jahr. Wolf und drei andere schon zur Elite. In der Jürgen Werner Schu-
„Wir sollen aufpassen“, sagt er, „dass die Spieler aus dem Internat des Hamburger le des Hamburger SV leben 17 Spieler im
Kleineren nicht ausgegrenzt werden, dass SV lassen sich zwölf Monate lang begleiten. Alter von 13 bis 18. Hinter dem Haus liegen
nicht so ein Hass untereinander ist. Wir Fußball spielen können sie, aber wie ent- zehn Rasenplätze, hier draußen in Norder-
alle haben das durchgemacht. Ab und zu wickeln sich Charakter und Körper? Und stedt gibt es nur Fußball. Das nächste Ein-
wünscht man sich, zu Hause zu sein.“ was bleibt am Ende von den Träumen? Ein kaufszentrum ist 15 Gehminuten entfernt,
Es ist sein drittes Jahr im Internat des Jahr im Leben eines Talents verändert mit der U-Bahn ist es eine halbe Stunde
Hamburger SV, die Eltern in Pfaffenhofen manchmal alles. bis in die Stadt. Der HSV gibt mehr als
bei München, er allein, voller Hoffnungen Am Anfang, wenn sie ins Internat kom- drei Millionen Euro im Jahr für die Jugend
wie all die anderen, einmal Profi zu wer- men, ist es Schwärmerei, die ganz Jungen aus, 200 Spieler in 12 Teams, der Betrieb
den. Wolf ist der Torwart der A-Jugend, haben noch Poster ihrer Idole an den Wän- des Internats allein kostet 450 000 Euro.
Stammspieler in der Junioren-Bundesliga. den. Später geht es nur noch um Lehr- Wer bleiben will, muss schon im jüngeren
Einmal die Woche darf er zum Torwart- pläne und Beurteilungen und darum, bes- A-Jugend-Jahrgang in der höchsten Junio-
training bei den Profis. Rafael van der ser zu sein als der Konkurrent. Sie haben renliga mithalten, außerdem gilt das ganz-
Vaart grüßt ihn mit Namen. Zeitverträge unterschrieben, nach einem, heitliche Prinzip: Jeder soll zur Schule ge-
108 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Sport

hen oder einen Beruf lernen. Die, dem offiziellen Mannschaftsfoto des
die bis zum Ende bleiben, sollten HSV sitzt er neben Frank Rost. Aber
wenigstens reif sein für die 2. Mann- dann wird er in die Regionalliga-
schaft, die in der Regionalliga spielt. mannschaft delegiert, da schafft er
Das heißt, dass man vom Fußball le- es nur auf die Ersatzbank. Einsätze:
ben kann. Die meisten wollen mehr. null. Ihm fehle die Erfahrung, sagen
Jeder Bundesligaverein hat solch die Trainer, und wohl auch die Aus-
ein Leistungszentrum, so hat es der strahlung. Der Mentaltrainer Lohr
Deutsche Fußball-Bund im Jahr arbeitet mit Doll heute in Dort-
2000 beschlossen, um den Nach- mund.
wuchs zu fördern. Und wenn nur ab Raphael hat jetzt eine kleine

MICHAEL SCHWARZ
und zu einer den Sprung in die Bun- Wohnung in der Nähe des Internats.
desliga schafft, geht für den HSV die Ein unerfahrener Jungprofi wie er
Rechnung auf, sagt Markus Hirte, verdient vielleicht 3000 Euro im
der sportliche Leiter der Nach- Monat. „Ab und zu ist man depri-
wuchsabteilung. Wolf, Moslehe miert“, sagt er. Das Problem, mit
Raphael Wolf, der Torhüter, war dem die meisten zu kämpfen hät-
15, als er von Pfaffenhofen zur ten, sagt Stephan Hildebrandt, Lei-
Spielvereinigung Unterhaching ging. ter des HSV-Leistungszentrums, sei
Schon damals trainierte er mehr als die mangelnde Selbsteinschätzung.
andere, an freien Tagen zusätzlich Dani Schahin ist im Sommer 2006
beim alten Verein. Dann entdeck- von Energie Cottbus nach Hamburg

KARSTEN SCHULZ / ACTION PRESS


ten ihn Scouts des HSV. gekommen, mit 17. Ein Strafraum-
Die Familie Wolf kommt vom stürmer, torgefährlich, wendig, kopf-
Dorf, die Mutter hat ein Friseur- ballstark. Er will sein Abitur ma-
geschäft, der Vater ist Hausmann. Im chen, einen Platz im Angriff der
ersten A-Jugend-Jahr beim HSV kam A-Jugend und einen deutschen Pass.
Raphael auf zwölf Trainingseinheiten Er ist staatenlos.
die Woche. Irgendwann, sagt Ausbil- Schahin kommt aus Baalbek im
der Hirte, sei das technische Niveau Jürgen Werner Schule in Norderstedt Libanon. Der Vater Palästinenser,
bei den Torhütern gleich. „Entschei- die Mutter Russin. Baalbek ist eine
dend ist dann die Ausstrahlung.“ Hochburg der radikalislamischen
Raphael Wolf weiß, was das heißt: Bewegung Hisbollah, die ihn ver-
„Man muss teamfähig sein, auf dem einnahmen wollte, sagt Vater Scha-
Platz wie hier im Internat.“ Es ist hin, ein Englischlehrer. Dani Scha-
schwer mit dem Teamgeist im All- hin war sieben, als die Familie flüch-
tag. Es gibt Gemeinschaftsräume mit tete. „Ziel war nicht Deutschland,
Video und Billard, aber die Spieler Ziel war irgendwohin“, sagt der Va-
gehen abends auf ihr Zimmer, tele- ter. Im Libanon spielte er einst in
fonieren Stunden mit der Freundin der zweiten Fußballliga als Verteidi-
oder den Eltern. ger. Er kann die Sehnsucht des Jun-
Die Torhüter bei den Profis hei- gen nachvollziehen.
ßen Ende 2006 noch Kirschstein und Dani begann in der F-Jugend in
Wächter, der Trainer Thomas Doll. Luckenwalde, wo die Familie unter-
Bei Dolls Mentalcoach Jürgen Lohr kam. Mit 13 Jahren zog er in die
hat Raphael gelernt, wie man Gren- Sportschule von Cottbus. Da war
zen überschreitet, Sicherheit be- der Kontakt zu den Mitspielern
kommt. 20 Prozent seiner Leistung, noch eng, die Fußballer eines Jahr-
sagt Raphael, mache dieses Mental- gangs gingen in dieselbe Klasse. Es
training aus. schien kein Grund denkbar, dort
Die Ausbildung ist professionell, wegzugehen.
fast wie bei den Profis. Leistungsdia- Dann verletzte sich Dani Schahin
gnostik, Individualtraining, Videos am Kreuzband und am Meniskus.
aller A-Jugend-Spiele. Zum täglichen Fast ein Jahr lang musste er pausie-
Mannschaftstraining kommt einmal ren. Er bekam das Gefühl, dass der
die Woche das Internatstraining. Vie- Verein sich in der Reha-Phase nicht
len fällt es da schwer, das sogenann- genügend um ihn kümmerte, die
te zweite Standbein wichtig zu fin- Behandlung musste die Familie teil-
den. Wolf hat den Realschulabschluss weise selbst bezahlen. Schahin wur-
gemacht, eine Ausbildung zum Er- de dort noch Torschützenkönig der
zieher in einem Kindergarten bricht B-Junioren-Regionalliga, dann holte
er nach ein paar Monaten ab. „Ich ihn der HSV. Die Eltern blieben in
MICHAEL SCHWARZ

bin Fußballer und soll mit Puppen Luckenwalde bei Berlin.


spielen!“ Ein Scheitern liegt nicht Er bewohnt das Apartment 13 im
mehr im Bereich des Denkbaren, Internat, Fernseher und die Musik-
wenn man so lange schon zu den anlage stellt der Verein, ein Mann-
Besten zählt. Moslehe beim Torjubel schaftsposter hängt an der Wand,
Im Sommer 2007 bekommt Wolf HSV-Nachwuchsspieler, -Internat ein Zeitungsartikel über Ronal-
einen Vertrag bei den Profis, auf Mangelnde Selbsteinschätzung ist das Problem dinho. Auf dem Gymnasium ist es
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 109
Sport

nicht leicht, es gibt mehr Hausaufgaben signierte er. „Ich habe die Eltern vermisst, Tobias Ernst wechselte nach Hannover,
als auf der Sportschule, die Mitschüler sind ich weiß auch nicht.“ Er ging zurück in die wo er jetzt zusammen mit zwei anderen
neidisch. Erstmals hat Schahin eine Einla- Heimat, machte den Realschulabschluss. Jugendspielern in einer Wohngemeinschaft
dung zu einem Sichtungslehrgang des Hildebrandt setzte sich für seine Rückkehr über der Vereinsgaststätte von Hanno-
Deutschen Fußball-Bundes erhalten, doch ein, wie alle Trainer war er von der Tech- ver 96 lebt. Im Flur liegen volle Mülltüten,
er muss absagen. Er ist wieder verletzt, nik des Mittelfeldspielers begeistert. im Gemeinschaftsraum trocknen Fußball-
eine Schambeinentzündung. Jörg-Michael Eine Diplompädagogin arbeitet ganztags schuhe auf der Heizung. Er hat einen Zwei-
Gerth, Trainer der A-Jugend, sagt, er sei im Internat, es gibt Fahrdienste und Haus- jahresvertrag, er spielt in der A-Jugend,
vielleicht zu ehrgeizig, trainiere zu viel. aufgabenhilfe, und Jutta Wendorf, die von trainiert bei der zweiten Herrenmann-
Niemand kann voraussagen, wie Kar- der Putzfrau zur Internatsleiterin aufstieg, schaft, einem Oberligisten. Eine Lehrstelle
rieren verlaufen. Aber manchmal gibt es hat immer ein offenes Ohr. Aber das alles gibt es nicht mehr, nur Fußball. Anfangs
kleine Dinge, die etwas verraten. Auf der ersetzt keine Freunde. Ernsts älterer Bru- hat er einen Stammplatz, dann verletzt er
Sportanlage an der Hamburger Hagen- der, ein Automechaniker, zog nach Nor- sich. An freien Tagen fährt Ernst wieder
beckstraße wird eine Partie der A-Jugend derstedt, um nach dem Rechten zu sehen. zu den Eltern nach Geisa, er ist jetzt nur
abgepfiffen, 3:2 gegen Werder Bremen. Er schaute bei jedem Training zu. zweieinhalb Stunden unterwegs. Irgendwie
Schahin ist nur Zuschauer, er ist mit der Wenn die Freundin aus Thüringen zu tritt Tobias Ernst auf der Stelle. Zu den
Familie da, aber er rennt gleich über den Besuch kam, übernachtete Tobias mit ihr Lernzielen beim Hamburger SV gehört es,
CHRISTIAN BURKERT / VISUM
MICHAEL SCHWARZ

Jungspieler Schahin, Ernst: „Ich habe die Eltern vermisst“

Platz hinüber zur Trainerbank, wo seine im nahe gelegenen Hotel, manchmal blieb „eine stabile Eigenmotivation zu ent-
Mannschaft den Sieg feiert. Er gehört dazu. er abends beim Bruder. Gelegentlich ver- wickeln“. So steht es im Lehrprogramm.
Beim selben Spiel sitzt auch Tobias Ernst gaß er, sich abzumelden. Es gelten strenge Es soll Spaß machen. „Das Ergebnis“, heißt
auf der Tribüne, ein Teamkollege, auch er Regeln und Ausgangszeiten im HSV-In- es, „ist nicht alles.“
verletzt. Beim Schlusspfiff zieht er mit sei- ternat, seit ein „Sex-Skandal“ vor einein- Masin Moslehe hat die Härte, die Tobias
nem Bruder und dessen Freundin grußlos halb Jahren für Aufsehen sorgte; mehrere vielleicht fehlt. 16 Jahre, schwarzes Haar,
davon. HSV-Spieler sollen mit einer 16-Jährigen listige Augen, er ist Stürmer und gerade
Ernst, im thüringischen Bad Salzungen intim gewesen sein. Drei Talente mussten im vierten Jahr beim HSV. Er hat gelernt,
geboren, zog im Alter von zwölf Jahren zu das Internat verlassen, blieben aber im dass Fußball ein einziger Konkurrenz-
Hause aus, als er von der Spielvereinigung Verein. kampf ist. Einmal steht er verletzt am Spiel-
Ulstertal-Geisa auf das Jenaer Sportinter- Anfang 2007 zog Ernst erneut freiwillig feldrand und zeigt auf einen der Spieler.
nat wechselte. Damals habe er oft geheult, aus, in eine Wohnung mit dem Bruder. Er „Das ist Sascha“, sagt er. „Wir hassen uns
sagt er, „ich habe eine ganz schön enge glaubte, das sei besser für ihn. Aber er wie die Pest.“
Verbindung zu meiner Mutter“. Sie ist Ver- kam nicht voran. Sportchef Hirte sieht Er rief damals selbst an, um sich zu be-
käuferin, der Vater, ein Baumaschinist, war „keine Konstanz“ in den Leistungen, To- werben, Masin Moslehe aus Bad Ganders-
früher sein Trainer. bias sei oft verletzt, bei jedem Wehweh- heim, geboren in Berlin, seine Eltern ka-
Ernst, 17 Jahre, Lausbubengesicht, De- chen fahre er zu den Eltern nach Hause. men auch aus dem Libanon. Er hat zwei
signerjeans, in seinem Hamburger Inter- Ihm fehle „die Ernsthaftigkeit“, meint Trai- Brüder, vier Schwestern, bei der ältesten
natszimmer hingen vor einem Jahr ein ner Gerth. Die Konsequenz ist hart: Das kam er zunächst unter, im niedersächsi-
Schal seines Heimatclubs Ulstertal über „begnadete Talent“, wie ihn sein Förderer schen Winsen. Nach einem Jahr bekam er
der Couch, ein Bild der Freundin aus Hildebrandt immer noch nennt, bekam im einen Platz im Internat.
Thüringen – und eine Autogrammkarte der Sommer 2007 keinen neuen Vertrag. Er spielt eigensinnig und ungeduldig, er
Pornodarstellerin Vivian Schmitt, die be- Der HSV bot an, einen Oberligaverein in zwingt den Ball geradezu ins Tor, gegen
kam er in der Videothek, in der er sei- Hamburg für Tobias zu suchen. So könnte Concordia Hamburg neulich fiel auch der
ne Lehre macht. Im Papierkorb lag ein zer- er seine Lehre beenden. Doch diese sport- Gegenspieler wie eine Krabbe ins Netz.
knüllter Schokoladen-Adventskalender, liche Perspektive reichte der Familie nicht. Als dann Sascha traf, machte Masin beim
Anfang Dezember bereits leergefuttert. Der Vater schimpfte, Trainer Gerth wolle Torjubel nicht mit.
Mit 14 war Ernst schon einmal auf dem „nur brave Lämmchen“. Ernst brauche ei- Zweimal musste er mit Schädel-Hirn-
Hamburger Internat, nach einer Saison re- nen Bundesligaverein. Trauma und Gedächtnislücken vom Rasen
110 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
ins Krankenhaus. „Ich war in diesem Rohr
da. Ich hab voll Schock bekommen.“
Als es vor vier Wochen im Internat
brannte, entdeckte Moslehe nachts um
halb zwei das Feuer, er half einem Kame-
raden aus dem Zimmer und musste mit
Rauchvergiftung ins Hospital. Die Brand-
ursache ist ungeklärt. Im Internat wird
geraunt, dass Eindringlinge das Feuer im
Aufenthaltsraum gelegt hätten – neidische

JOE KLAMAR / AFP


Anwohner, vielleicht Ex-Spieler.
Zuletzt verschwand teure Trainingsklei-
dung aus der Wäsche, Spieler verdächtig-
ten einander, die Textilien bei Ebay zu ver-
hökern. Es gebe oft Streit im Internat, sagt Rennläuferin Riesch: Verhängnisvolle Sturzserie
Moslehe, „manchmal denkt man: Alles
Scheiße hier. Aber es ist eine Riesen- letzung genesen, riss ihr im Januar 2005 in
SKIRENNEN
chance. Die Freunde in Winsen sagen: Spä- Cortina d’Ampezzo das Kreuzband im
ter gibst du mir 50 000“.
Im Sommer sollte Moslehe eigentlich
das Internat verlassen, weil er nicht mehr
zur Schule ging, er hatte den Realschul-
Eilige Maria rechten Knie – das Aus für die Welt-
meisterschaft. Nach gerade geglückter
Olympia-Qualifikation riss im Dezember
2005 in Aspen das Kreuzband im linken
Zwei Kreuzbandrisse kosteten
abschluss nicht geschafft. Der Verein woll- Knie – das Aus für die Spiele in Turin.
te ihm zu den 500 Euro pro Monat noch Maria Riesch eine WM-Teilnahme Heute nennt sie die Leidenszeit „Durst-
150 für eine Wohnung geben. Doch sein und Olympia. Jetzt gibt sie Tipps, strecke“. Wie sie es wieder nach oben
Berater, ein junger Anwalt, setzte durch, wie man Rückschläge meistert. geschafft hat? Ein bisschen mit Mental-
dass er zunächst mit Gaststatus im Internat training, noch mehr mit ständiger Wett-

M
bleiben durfte, dann suchte er für ihn eine aria Riesch hatte im Deutsch-Leis- kampfpraxis. Die vergangene Saison
andere Schule. „Zur Absicherung“, sagt tungskurs acht Punkte im Abitur, begann mit einem zu verheißungsvollen
Moslehe, „falls ich mal länger verletzt bin.“ „ganz okay“ fand sie das und Abfahrtssieg in Lake Louise („mehr eine
Die Aussichten, ein Star zu werden, durchaus ausreichend, um ihre Zeitungs- Bürde“), sie hat sie genutzt, um wieder
schwinden. Einmal schoss Moslehe, zur Pau- kolumne im „Münchner Merkur“ während mit den Erwartungen leben zu lernen –
se bei 0:3-Rückstand eingewechselt, auswärts der Olympischen Winterspiele 2006 selbst auch damit, dass sie nach den Rücktritten
in Erfurt vier Tore. Doch wenn er nicht ru- zu schreiben. Sie wollte ihren Namen nicht von Martina Ertl-Renz und Hilde Gerg die
higer werde, sagt der Sportleiter Hirte, über fremde Texte setzen. neue Leitfigur im DSV war. Sie hatte an-
„dann wird es schwierig für ihn“. Moslehe Jetzt hat die Skirennläuferin Riesch, 23, fangs Probleme, sich bei schlechten Sicht-
wackelt, ohne dass er es so recht kapiert hat. ein Buch geschrieben. Es heißt „Abgefah- verhältnissen zu überwinden, eine psychi-
Er mag die Härte haben, die nötig ist, aber ren!“ und erscheint noch im Januar im sche Hemmschwelle, sagt sie. Und sie war
die Trainer fragen sich, ob ein Mannschafts- Münchner Riva Verlag. Überwiegend aus nach langer Reha-Phase nicht fit genug für
sport überhaupt das Richtige für ihn ist. eigener Feder gibt sie auf 150 Seiten Hob- eine Saison.
Ein Jahr nach den ersten Treffen ist Dani by- und Leistungssportlern Ratschläge, wie Diesen Sommer hat Maria Riesch, als
Schahin, der staatenlose Palästinenser, der man Tiefs und Unfälle überwindet. Damit Wachtmeisterin beim Zoll beschäftigt, wie-
Einzige, der Zuversicht ausstrahlt. Seit dem kennt sie sich aus. der voll trainiert, sie war bei allen Kondi-
Sommer war er nicht mehr verletzt. Er Das Ausnahmetalent aus Partenkirchen tionslehrgängen dabei. Sie sagt, sie sei
sagt, er wolle ein guter Mensch sein, höf- ist gerade nach beispielloser Pechsträhne in noch professioneller, noch konsequenter
lich und hilfsbereit. Eltern und Schwester die Weltspitze zurückgekehrt, drei Welt- geworden: „Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit
wohnen jetzt mit ihm in einer Wohnung in cup-Podestplätze bis Weihnachten brach- – je fitter ich bin, desto besser kann ich
Norderstedt. Im Oktober kam die Einbür- ten die mehrfache Juniorenweltmeisterin meine Fähigkeiten umsetzen.“ Sie hat rund
gerung, Mitte Dezember durfte er zum wieder in die Fernsehstudios. „Sie gehört fünf Kilogramm abgenommen.
Sichtungslehrgang der U-19-DFB-Auswahl. wieder zur ersten Liga“, sagt Mathias Maria Riesch, mit drei Jahren schon
Schahin ist noch stärker im Zweikampf Berthold, der Frauen-Cheftrainer beim sicher auf Skiern, mit zwölf Vizemeisterin
geworden, viermal spielte er in der Regio- Deutschen Skiverband (DSV). bei den deutschen Schülermeisterschaf-
nalliga. Die Trainer bescheinigen ihm glän- Die „eilige Maria“, wie die ten, galt immer als etwas
zende Perspektiven: Ein Stürmer, der den Reporter dichteten, war der draufgängerisch: „Wer bremst,
Ball sichern kann, in der Luft und am Bo- Shootingstar des Weltcup- verliert.“ Seit den Verletzun-
den, sei besonders gefragt. winters 2003/04. Deutsch- gen habe sie gelernt, „in den
Vor jedem Anpfiff betet Dani Schahin lands Zukunftshoffnung, ei- Trainingsläufen nicht mehr
mit geöffneten Händen dafür, dass er sich gentlich Spezialistin der alles zu riskieren“, sagt sie,
nicht verletzt. Er will in der Rückrunde so Speed-Rennen, fuhr drei Sie- sie sieht zu, dass sie die
gut sein, dass er im Sommer die Saison- ge in drei unterschiedlichen Ideallinie findet, und hält
vorbereitung bei den Profis mitmachen Disziplinen ein, wurde im sich zurück.
darf. In zwei Jahren spätestens will er Gesamtweltcup Dritte. Ma- Das verschaffe ihr sogar
Bundesligaspieler sein, „wenn nicht beim ria Riesch galt als die neue einen Ansporn fürs Rennen,
HSV, dann woanders“. Rosi Mittermaier („Rosi II“), die Trainingsbremse wirkt
Irgendwann will er im Libanon die Oma sie wurde mit der jungen wie ein Trick: „Ich kann mit
HUBER/ LAIF

besuchen, die hat er seit elf Jahren nicht Katja Seizinger verglichen. dem Druck besser umgehen,
gesehen. Und 2010 ist die Weltmeister- Dann folgte die verhängnis- wenn ich weiß, dass ich noch
schaft in Südafrika. Ja, sagt Dani, „alles volle Sturzserie. Gerade von Skistar Riesch Reserven habe.“
ist möglich“. Jörg Kramer einer schweren Schulterver- „Wieder erste Liga“ Jörg Kramer

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 111
Wissenschaft

U M W E LT

Zurück zum Urwald


Im Kampf gegen das Artensterben will die Bundesregierung
einzigartige Rotbuchenwälder in Wildnis zurückverwandeln. Doch
dagegen formiert sich Widerstand: Fränkischen Bürgern ist
es fürs Erste sogar gelungen, einen Nationalpark zu verhindern.

L
ametta flittert am Plastikbaum. Vor organismen. Die Kreaturen reinigen das
den nikotingelben Fensterrahmen Wasser und stellen die Luft zum Atmen be-
und den historischen Mannschafts- reit, sie bereiten fruchtbare Böden, ernähren
fotos im Vereinsheim des SV Westheim den Menschen und halten ihn gesund. Jede
hocken viele bärtige Männer, einige Frau- Tier- oder Pflanzenart, die für immer ver-
en, insgesamt an die hundert Menschen an schwindet, reißt ein Loch ins Netz.
langen plastikfurnierten Tischen. Sie rau- Anfang November hat die Bundesregie-
nen und rufen; manchmal klatschen sie, rung eine drastische Gegenmaßnahme be-
wenn der Oskar es so will. schlossen: Der deutsche Wald soll wieder
Viele hier duzen ihn, manche nennen wuchern und faulen dürfen, Refugium wer-
Oskar Ebert auch „Herr Bürgermeister“. den für beinahe schon verlorene Fauna
Er ist Chef der Gemeinde Rauhenebrach und Flora. Aus ökologischer Sicht ist prin-
tief im fränkischen Steigerwald. Seitenge- zipiell fast jedes Waldstück geeignet, aus
scheitelt und schnauzbärtig steht der Mann der Nutzung genommen zu werden. Bis
am Rednerpult und schürt mit knallenden 2020 soll die Wildnis Wirklichkeit werden
Konsonanten, den Mund sehr dicht am Mi- in zehn Prozent der Staats- und Kommu-
kro, abwechselnd Zorn, Kampfesmut und nalforste – 600 000 Hektar Urwald, fast ein
Siegestaumel bei seinen Bürgern. Drittel Sachsens.
Es geht um den Steigerwald. „Unseren Dazu hat die Bundesregierung sich in-
Steigerwald!“, sagt Ebert. Der soll Natio- ternational verpflichtet. Deutschland ist
nalpark werden – und das will niemand in Teilnehmerstaat der Uno-Konvention zur
diesem Raum. Das weiß der Herr Bürger- Biologischen Vielfalt, die 1992 beim Um-
meister, es ist auch kaum zu übersehen, weltgipfel in Rio beschlossen und von 190
denn manche seiner Zuhörer tragen Staaten ratifiziert wurde.
schwarze Hemden, auf denen steht: „Was Im Westheimer Vereinsheim taucht
Generationen mit Fleiß geschaffen, wird Oskar Ebert mit einer alarmroten Folie
der Nationalpark uns schnell wegraffen“. seiner Powerpoint-Präsentation den Saal
Ein Heimspiel für Ebert. und die Bürger in warmes Licht. „Risiken“
Seit Mai ist der Bürgermeister auf Tour steht drauf. „Man könnte meinen, es gibt
in den Dörfern, um gegen den National- Holz genug“, sagt Ebert. Pause. „Eben
park zu wettern. Jetzt haben er und die nicht!“, ruft er dann. „Es reicht nicht aus!“
Schwarzhemden fürs Erste gewonnen. Lokale Sägewerksbetreiber fürchteten um
„Ein Siech der Empörung!“, ruft er in ihre Existenz, berichtet er den aufgebrach-
weichrollendem Fränkisch ins Mikro. ten Bürgern. Schließlich soll die Hälfte der
Der Kampf um den Steigerwald ist mehr bis zu 11000 Hektar Staatswald, die für den
als nur eine bayerische Provinzposse. Er Nationalpark geplant sind, komplett aus
ist eine bittere Niederlage für all jene, die der Nutzung genommen werden: totales
glaubten, Deutschland könne weltweit eine Kettensägenverbot. Das Brennholz, mit dem
Vorreiterrolle spielen beim Artenschutz. die meisten Steigerwälder heizen, sei jetzt
Der Fall Steigerwald liefert den Planern schon knapp. „Womit sollen wir denn dann
im Bundesumweltministerium einen de- unsere Häuser warm kriegen?“, fragt Ebert.
primierenden Vorgeschmack auf das, was Der Bund kann die Länder nicht zwin-
sie erwartet, wenn sie in den kommenden gen, Flächen beizusteuern zu den ange-
Jahren ihr wohl ehrgeizigstes Projekt (ne- strebten zehn Prozent Wildnis. Aber der
ben dem Eindämmen des Klimawandels) nördliche Steigerwald böte sich ideal an
verwirklichen wollen: die Bewahrung der als bayerischer Beitrag: Er ist einer der
biologischen Vielfalt. letzten großen Buchenwälder.
Auf der ganzen Welt nimmt der Arten- Diesen einzigartigen Lebensraum zu er-
reichtum dramatisch ab – das unendlich fein halten, dafür fühlt Deutschland sich in der
geknüpfte Netz des Lebens ist voller Löcher Weltgemeinschaft verantwortlich. Denn al-
und Risse. Dabei hält das Knüpfwerk auch lein in Mitteleuropa kommt die Rotbuche
den Menschen selbst; es ist seine Lebens- vor – und Deutschland liegt im Zentrum
grundlage: Sämtliche Stoffkreisläufe stützen ihres Verbreitungsgebiets. Zwei Drittel Forstmann Sperber (mit Austernseitling)
sich auf Pflanzen, Tiere, Pilze und Mikro- des Landes bedeckte sie einst. Doch der „Dich räuchern wir noch aus!“
114 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Buchenwildnis im Nordsteigerwald
Dramatischer als im tropischen Regenwald

Stämme und faule Äste in seinem persön-


lichen Paradies: einem Stückchen Buchen-
Urwald im nördlichen Steigerwald, jetzt de-
zemberkalt und still, sonst ein Festspiel des
Lebens. Die Miniaturausgabe eines Natio-
nalparks. Sperber schwärmt, von der sel-
tenen Bechsteinfledermaus, die sich hier
so wohl fühlt wie sonst nirgends, vom raren
Halsbandschnäpper, „einem der elegantes-
ten Vögel des Waldes“. Besonders ergötzt
ihn der Eremit: Relikt der Urwälder, ein
Käfer, der als ausgestorben galt in der Re-
gion, vergangenes Jahr aber wiederent-
deckt wurde, exakt hier, „eine Sensation!“
Dass der Steigerwald sich heute als Welt-
naturerbe qualifiziert, dass er Nationalpark
werden soll – das alles ist zu einem großen
Teil Sperbers Verdienst. Deswegen tucker-
te die Trecker-Demonstration der schwarz-
behemdeten Gegner auch bei ihm zu Hau-
se vorbei. „Dich räuchern wir noch aus!“,
habe ihm einer gedroht, erzählt Sperber.
„Inszenierter Psychoterror“.
Als Sperber 1972 das Forstamt Ebrach im
nördlichen Steigerwald übernahm, wider-

Verbreitungsgebiete
der Rotbuche
Quelle: BfN
FOTOS: THOMAS-STEPHAN.COM

Mensch hat sie in den vergangenen Jahr- So kam der Stein im Steigerwald ins Rol- setzte er sich allen Direktiven zum Abhol-
hunderten zurückgedrängt auf nicht ein- len: Zwei CSU-Landräte, Günther Denzler zen der damals als unnütz betrachteten al-
mal mehr fünf Prozent der Landesfläche. und Rudolf Handwerker, hörten vom ten Buchen. Schnellwüchsige Fichten und
Dort wachsen die Bäume meist als öko- Unesco-Potential der Laubbaumwildnis Kiefern sollte er pflanzen, basta. „Ich habe
logisch karge, aber forstlich erwünschte und sahen schon Touristenströme fließen: gesagt, da mache ich nicht mit.“ Sein Lieb-
gleichaltrige Hallenwälder. Mit jener Wild- Nationalpark, Weltnaturerbe! All das auf lingsspruch: „Willst du deinen Wald ver-
nis, die der römische Historiker Tacitus Autobahnschildern zwischen Würzburg, nichten, pflanze Fichten, Fichten, Fichten.“
einst beschrieb als die „undurchdringlichen Nürnberg und Bamberg – ein Magnet! Sperber setzte sich durch und be-
Wälder Germaniens“, haben sie nicht Doch als sie im Mai so weit waren, die herrschte die Geschicke des Ebracher Wal-
mehr viel gemein. Ihre Situation ist, ver- Sache offiziell mit den Betroffenen vor Ort des 26 Jahre lang. Sein Forst, inklusive
glichen mit den tropischen Regenwäldern, zu besprechen, war es bereits zu spät. Ein mehr als 300 Jahre alter Buchengiganten,
deutlich dramatischer – die Rotbuchen-Ur- Konvoi von Traktoren tuckerte zum Ver- geriet zum Vorzeigeexemplar für natur-
wälder sind nicht einmal mehr auf einem handlungsort Ebrach im Süden des ge- gemäßen Waldbau.
Tausendstel ihrer ursprünglichen Flächen planten Großschutzgebiets. Kettensägen „So muss man die Bäume sterben las-
vorhanden. knatterten, Bürger in schwarzen, mit Slo- sen“, sagt Sperber und zeigt auf einen halb-
Stücke des Nordsteigerwalds gehören zu gans wie „Steigerwaldrebell’n“ bedruck- toten Riesen, durchlöchert von Millionen
den letzten Reservaten. Damit qualifizier- ten T-Shirts wüteten gegen den National- Käferlarven, zerklüftet in Spalten und Rin-
te sich die fränkische Ökokostbarkeit sogar park. Sogar Kinder mit nervtötend heu- nen, durchsetzt von fauligen Mulmhöhlen
als potentielles Weltnaturerbe bei der lenden Spielmotorsägen hockten vor den und vom Specht gehackten Kavernen. „So
Unesco. Doch sie kam dann doch nicht auf Transparenten: „Unser Wald ist gepflegt! etwas lässt ein Wirtschaftswald nicht zu.“
die Anmeldeliste – nur streng geschützt, Wir wollen keinen Urwald! NEIN.“ Erst wenn die Buchengreise rotten, fal-
als Nationalpark etwa, hätte sie den strik- Georg Sperber will aber. Der 74-jährige len, bersten, explodiert die Artenvielfalt
ten Unesco-Vorgaben genügt. Forstdirektor a. D. kraxelt über rottende im Wald. Engerlinge zermalmen das tote
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 115
Wissenschaft

Holz wie Kinder ihre Crunchies zum Früh- Häuser lieber mal ordentlich dämmen, Herr Zipfel sei der Mann im Saal, der
stück. Allein 1400 Käferarten in Deutsch- ihren Bedarf an Brennholz zügeln sollen? wirtschaftlich am meisten leiden würde,
land leben von Holz – genug Auswahl an All das nur wegen eines seltenen Käfers? wenn der Nationalpark kommt, sagt Ebert.
Lieblingsmaden also für rare Insektenfres- Zu stark wiegen dagegen die Worte und Dietmar Zipfel hat ein Sägewerk, zehn
ser wie den Feuersalamander. Bilder von Bürgermeister Ebert. „So sieht’s Mitarbeiter. Allerdings verarbeitet er nur
Von den etwa hundert Waldvogelarten im Nationalpark Bayerischer Wald aus“, Nadelholz – wird er es überhaupt spüren,
gründen mindestens zwei Drittel ihre Exis- sagt er und schockt das Publikum mit dem wenn im Laubwald nicht mehr geerntet
tenz auf sterbende oder tote Bäume. So Foto einer Hügelkuppe, wie ein Nadelkis- wird? „Ob ich’s merke, das weiß ich nicht“,
trommeln nahezu alle Spechte, um ihr Re- sen besteckt mit Hunderten zackiger sagt er nachdenklich. Und dann schnell
vier abzugrenzen und den Macker zu mar- Stümpfe. „Wie Hiroshima“, entsetzt sich hinterher: „Na ja, ein, zwei Arbeitsplätze
kieren – hohle Totäste in der Krone eignen nachher einer aus dem Publikum. verlier ich mit Sicherheit.“
sich perfekt als Klangkörper. Der Mittel- Die Horrorvorstellung: Im Nationalpark Rhetorisch versierter ist Andreas Knorr,
specht kann überhaupt nur existieren, wo lockt all das liegengebliebene Totholz den Forstchef des Bamberger Amts für Land-
Bäume verrotten. „Der hat eine so zarte Borkenkäfer an, der von dort aus Inva- wirtschaft und Forsten. Die Befürworter

FOTOS: THOMAS-STEPHAN.COM

Seltene Arten Feuersalamander, Mittelspecht: Erst wenn die Buchengreise rotten, fallen und bersten, explodiert die biologische Vielfalt

Nackenmuskulatur“, erklärt Sperber, „dass sionen in die umliegenden Privatwälder des Nationalparks kennen ihn als den
er mit seinem Schnabel bloß in ganz wei- startet. Bloß: Der Schädling frisst Fichten- hauptamtlichen Strippenzieher hinter dem
ches Holz eindringen kann.“ wälder kahl wie die im Bayerischen Wald. Bürgeraufstand im Steigerwald. Knorr ist
Auch bunte Singvogelmännchen können Laubbäume wie die im geplanten National- ein Freund der klaren Worte: „Der Staats-
sich besser auf Aststümpfen einer abge- parkgebiet interessieren ihn nicht. wald ist keine Spielwiese für den Natur-
storbenen Krone präsentieren als im dich- Aber Oskar Ebert hat noch mehr zu schutz.“ Solche Offenheit scheint dem
ten Laub. Weiden- und Haubenmeise brau- bieten. Ungejagt im Schutzgebiet, würden Ministerium nicht zu passen. Man hat dem
chen von Pilzen aufgeweichtes Totholz, Rotten wilder Sauen die Felder der Bauern Beamten einen Maulkorb verpasst.
um ihre Höhlen zu bauen. Schnäpper wie- verwüsten. Und ob die alten Wege durch Sein Ziel hat er aber ohnehin er-
derum nisten gern in kleinen Faulhöhlen, den Wald wohl erhalten bleiben? „Wir reicht. Jetzt sind fast alle Steigerwälder
und Baumläufer verstecken ihre Nester wandern durch den Steigerwald, wie wir dagegen – und stolz darauf. „Weil ihr den
in abgestorbenen Stämmen mit loser wollen!“ Aber lockt ein Nationalpark Aufstand geprobt und Zähne gezeigt habt,
Rinde. Dort verbirgt sich auch die Mops- nicht auch Übernachtungsgäste? „Durch ist es jetzt vom Tisch“, ruft ein Bürger-
fledermaus. Von den 22 in Deutschland ein bisschen Totholz wird kein Tourist zu meisterkollege Eberts am Ende in den
vorkommenden Fledertierspezies fühlen uns kommen.“ Und selbst wenn: „Wir wol- Westheimer Saal.
sich ganze 15 im nördlichen len keinen internationalen Der Nationalpark ist vor allem deswegen
Steigerwald zu Hause. T H Ü R I N G E N Massentourismus!“ gestorben, weil ein Landrat eingeknickt ist:
Sperber beugt sich über Was der Bürgermeister Rudolf Handwerker. Die unnachgiebigen
einen gefallenen Giganten verschweigt: In National- Proteste seiner Bürger bewegten den CSU-
und pult hingegeben im 7 20 km parks dürfen Wildschwein- Mann zur Aufgabe – im März sind schließ-
Totholz: „Da, das sind die plagen durchaus mit der lich Kommunalwahlen. Oskar Ebert, Freie
Gänge der Eremitenlar- Umstrittener Main Waffe bekämpft werden. Wählerschaft, muss sich indes wohl nicht
ven.“ Der hagere Mann Nationalpark Bamberg Demokratische Gremien vor Stimmverlust fürchten. „Kann man ein
richtet sich auf und schaut Steigerwald bestimmen über die Wege. nationales Projekt solchen Leuten über-
hoch zu den alten Riesen. Ebrach Brennholz gibt es genug – lassen?“, fragt Georg Sperber.
3
Er weiß, dass es ein Ver- Würzburg auf 80 Prozent der gesam- Vielleicht eher dem Landrat Günther
mittlungsproblem gibt. Wie B AY E R N ten Fläche bleibt der Stei- Denzler. Der kämpft weiter: „Wenn’s mit
soll man den Steigerwäl- gerwald unberührt vom dem Degen nicht mehr geht, nehmen wir
Nürnberg
dern sagen, dass sie ihre Nationalpark. eben das Florett.“ Rafaela von Bredow

116 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Forscher der Johns Hopkins University Summen, die ein Kettenraucher ohnehin
PSYCHOLOGIE
School of Medicine im US-amerikani- sparen kann, wenn er sich nicht mehr je-

Geld als schen Baltimore, Maryland, etwa haben


drogensüchtigen Frauen und Männern
Schecks ausgehändigt, wenn diese es
den Tag Zigaretten kauft. Das aus ökono-
mischer Sicht irrationale Verhalten liegt
den Forschern zufolge in der Psychologie

Therapie schafften, fünf Tage lang kein Crack zu


rauchen. Und siehe da: Zahlungen in Höhe
von 50 oder auch 100 Dollar waren viel
wirksamer (71 Prozent Abstinenz) als gutes
der Menschen begründet. Diese ließen
sich durch Anreize in der Zukunft (ver-
besserte Gesundheit, gespartes Zigaretten-
geld) viel schlechter motivieren als durch
Wie lassen sich gute Vorsätze wie
Zureden (29 Prozent). Belohnungen, die sie im Hier und Jetzt
Abnehmen oder der Verzicht Der Arzt Kevin Volpp vom Philadelphia erhalten – lieber 10 Euro heute als 20 Euro
aufs Rauchen verwirklichen? Neue Veterans Affairs Medical Center wieder- in einem Jahr.
Verhaltenstests zeigen: um hat den Geldeffekt in einer Studie So wie Menschen für ihre Verhaltens-
durch finanzielle Belohnungen. mit knapp 180 Kettenrauchern gezeigt. änderung möglichst sofort belohnt werden
Wer an einem Entwöhnungskurs mit fünf wollen, so schieben sie die Opfer, die sie

I
n New York City werden viele Kinder Terminen vollständig teilnahm, bekam pro erbringen müssen, gern auf die lange Bank.
und Jugendliche seit neuestem für Treffen 20 Dollar bar auf die Hand. Wer Man denke an die guten Vorsätze zum
etwas bezahlt, was sie ohnehin tun anschließend das Rauchen aufgab, erhielt Jahreswechsel: Klar, man gibt das Rau-
müssen: zur Schule gehen. noch mal 100 Dollar. chen auf und fängt endlich mit Sport an –
Die ersten Beträge wurden kurz vor Das Ergebnis: Immerhin 16,3 Prozent aber erst nächstes Jahr. „Personen sind
Weihnachten überwiesen: Grundschü- der Raucher hatten nach 75 Tagen das zu Verhaltensänderungen bereit, die in der
ler, die im Vormonat mindestens 95 Pro- Qualmen aufgegeben (überprüft durch Ni- Zukunft liegen, weil die erst einmal nichts
zent der Stunden absolvierten, bekamen kotintests im Urin). In der Kontrollgruppe, kosten“, sagt Volpp.
25 Dollar aufs Familienkonto; Schüler der deren Mitglieder kein Geld bekamen, war Wenn dann die Stunde der Wahr-
Highschool erhielten gar 50 Dollar pro dies nur 4,6 Prozent gelungen. heit heranrückt, werden viele Menschen
Monat. Die Fachleute waren über die Deut- sogleich schwach – genau in dieser
Die Belohnungen sind Teil eines Modell- lichkeit der Ergebnisse überrascht. Denn Phase können Geldgeschenke das Be-
versuchs, mit dem der New Yorker Bürger- die finanzielle Belohnung in Höhe von dürfnis nach sofortiger Belohnung offen-
meister Michael Bloomberg Menschen aus 200 Dollar ist gering im Vergleich zu den bar befriedigen.
der Unterschicht in Vorzeige- Dieser Effekt soll, nach den
bürger verwandeln will. 2550 Tests an Rauchern und Dro-
Familien in East Harlem, gensüchtigen, nun erstmals
Brownsville und vier anderen auch in einer Studie mit stark
Problemvierteln New Yorks fettleibigen Menschen über-
machen bereits mit. Sie sind zu- prüft werden, die Volpp gegen-
meist hispanisch oder schwarz wärtig mit 57 Testpersonen in
und arm. Eine vierköpfige Fa- Philadelphia durchführt. Eini-
milie etwa hat nur 20000 Dollar ge der Schwergewichte können
oder noch weniger im Jahr zur bis zu drei Dollar pro Tag in
Verfügung. einen Topf einzahlen. Wer in
Durch das Belohnungs-Ex- der Woche mindestens ein
EX-PRESS / ULLSTEIN BILDERDIENST

periment können die Familien (amerikanisches) Pfund ab-


ihr Einkommen um mehr als nimmt, erhält das Doppelte
5000 Dollar pro Jahr aufbes- seines Einsatzes zurück. Wer
sern – falls sie einer Vielzahl das Ziel dagegen verfehlt, ver-
von Pflichten nachkommen, liert sein Geld.
die sie bisher vernachlässigt Kritiker sind gegen die
haben. Sie müssen die Kinder Belohnungs-Experimente: Die
zur Schule schicken, aber auch Übergewichtige Amerikaner: Steuergelder fürs Abnehmen? Gesellschaft dürfe Kettenrau-
Elternabende besuchen (Be- cher, Fettleibige und Schul-
lohnung: 25 Dollar), Vorsorge- schwänzer doch nicht für
termine beim Zahnarzt wahr- ein Verhalten belohnen, das für
nehmen (100 Dollar) oder etwa die meisten anderen selbst-
einer Vollzeitarbeit nachgehen verständlich ist. Um Proteste
(150 Dollar pro Monat). gegen den Modellversuch erst
Das Projekt „Opportunity gar nicht aufkommen zu lassen,
NYC“ ist das bisher spektaku- hat New Yorks Bürgermeister
lärste Beispiel für ein wichtiger Bloomberg das 53 Millionen
werdendes Feld der Psycholo- Dollar teure Programm aus-
gie: Welche Anreize wirken, da- schließlich mit Spendengeldern
mit Bürger ihr Verhalten än- finanziert.
dern? Davon berührt sind auch Doch wenn die Anreiz-Ex-
die guten Vorsätze, die viele perimente mit Rauchern und
RALPH TALMONT / AURORA

zum Jahreswechsel fassen: Wie Dicken erfolgreich verlaufen,


kann man abnehmen, wie end- könnte gutes Verhalten bald
lich mit dem Rauchen aufhören? auch mit Steuergeldern belohnt
Neue Studien deuten nun auf werden – die gesundheitlichen
einen wirksamen Anreiz: Geld Folgen der Süchte sind am
als Therapie. Raucherin: Überraschende Wirksamkeit schneller Anreize Ende noch teurer. Jörg Blech
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 117
Wissenschaft

Zahlreiche seltene Tier- und Pflanzen- und wird per Videokamera überwacht.
TIERE
arten im Reich der Mitte fielen der rück- Jede halbe Stunde kontrolliert Jiang die

Spätes sichtslosen Industrialisierung zum Opfer –


darunter auch wildlebende Reptilien.
Dass die beiden Zootiere nun die ganze
Temperatur: 11 Grad Celsius muss das
Wasser haben, und die Luft muss 14 Grad
warm sein.

Elternglück Art retten könnten, ist ein glücklicher Zu-


fall: Erst vor einem Jahr erfuhr der Zoo in
Changsha, welche Rarität er beherbergt.
Jiang Houfu, 28, der zuständige Wärter,
An Jiang und dem Zoo in Changsha soll
es jedenfalls nicht liegen, wenn die Ver-
mählung scheitert und den riesigen Schild-
kröten spätes Elternglück verwehrt bleibt.
In chinesischen Zoos haben zwei
hatte der Schildkröte zwar jahrelang Fisch Der alten Dame könnte die plötzliche
der riesigen Shanghai-Weichschild- und Fleisch in den Teich geworfen, aber Aufmerksamkeit allerdings reichlich über-
kröten überlebt. Nun sollen sie nur in lässiger Routine, so als fütterte er trieben vorkommen – und offenbar hat sie
Nachwuchs bekommen – doch der Tauben. Jetzt hingegen ist das Tier für der ungewohnte Luxus bereits faul und trä-
Greisen-Sex könnte sie umbringen. Jiang ein Vollzeitjob: Mit einem Kollegen ge gemacht: Das letzte Mal legte sie statt
sorgt er 24 Stunden am Tag für „unseren ihrer sonst üblichen 80 (unbefruchteten)

D
as Paar, das miteinander verkup- größten Schatz“. Eier nur 20 Stück, erzählt Jiang besorgt.
pelt werden soll, ist hochbetagt. Er Aus dem Freien wurde die Greisin Zoologen warnen bereits: Die geplante
hat schon 80 Jahre auf dem Buckel, eilig in ein gekacheltes Becken verlegt; es Verkuppelung könnte die langjährigen
sie ist fast ebenso alt. ist voll überdacht, mit Glas versiegelt Schildkröten-Singles derart unter Stress
Der verwegene Plan: Im neuen setzen, dass sie dabei zugrunde
Jahr sollen die zwei miteinander gehen. Auch deshalb verhandel-
Nachwuchs zeugen. ten beide Zoos fast so intensiv
Kompliziert wird die Angelegen- miteinander, als würden sie eine
heit dadurch, dass es sich um eine Ehe zwischen Fürstenhäusern an-
Fernbeziehung handelt: Er lebt in bahnen.
Suzhou, im Osten Chinas – sie da- Keine Seite wollte dem eigenen
gegen im fernen Changsha, im In- Greis die weite Reise zum Partner
nern des Riesenreichs. Noch ahnen zumuten; stattdessen wollten sie den
sie nicht, was von ihnen erwartet Tieren am liebsten per künstlicher
wird: Momentan halten beide Win- Befruchtung zu Nachwuchs ver-
terstarre. helfen.
Dafür entwickelt Chinas Füh- Doch diese Idee warf weitere
rung umso hektischere Aktivitä- Probleme auf: So wehrte sich
ten: Vorvergangene Woche berief der Zoo in Suzhou gegen den Vor-
sie in Suzhou ein Gipfeltreffen von schlag, seinen männlichen Schütz-
Experten aus dem In- und Ausland ling zu betäuben und ihm dann per
ein. Die Biologen und Tiermedizi- Elektroschock das Schildkröten-
ner debattierten, auf welche Weise sperma zu entlocken. Das wäre zu
man die mutmaßlich letzten beiden riskant, befand Vize-Zoodirektor
Shanghai-Weichschildkröten zur Chen Daqing.
Fortpflanzung motivieren könnte. Dagegen befürworte er eine ma-
Dass die Tiere überhaupt noch nuelle Massage, um sanft an das
leben, verdanken sie dem Kommu- Schildkrötenejakulat zu gelangen.
nismus: In den fünfziger Jahren, als Am Ende hat die Expertenkon-
FOTOS: ZHANG BIWEN / IMAGINECHINA

in China eine Welle von Verstaat- ferenz in Suzhou anders entschie-


lichungen einsetzte, musste ein pri- den: Nun soll das Paar doch auf
vater Zirkus aus Shanghai sich von altbewährte, natürliche Weise Nach-
seinem Schildkrötenweibchen tren- wuchs zeugen. Der Grund: Den
nen – er überließ es dem Zoo in Experten ist kein Fall bekannt, in
Changsha. Auf ähnliche Weise ge- dem sich Schildkröten mittels künst-
langte auch das Männchen in staat- licher Befruchtung erfolgreich fort-
liche Obhut und wurde dort offen- gepflanzt hätten.
bar gut gepflegt. Tierärztliche Untersuchung*: „Unser größter Schatz“ Und so muss das Weibchen von
Jahrzehntelang geriet das Duo Changsha kommenden Sommer
nahezu in Vergessenheit. Die ge- wohl doch auf Hochzeitsreise nach
panzerte Dame in Changsha lebte Suzhou gehen. Dort sind die Bedin-
in einem Teich, ohne dass Zoo- gungen für die geplante Verbande-
besucher sie besonders beachteten. lung ideal; der Zoo verfügt über
Unterdessen tobte draußen in China zwei große, separate Teiche, die ne-
eine revolutionäre Kampagne nach beneinander liegen.
der anderen: Erst mobilisierte der Denn nach dem Liebesakt, er-
Große Vorsitzende Mao Zedong die läutert Zoomanager Chen, müssten
Untertanen und ließ sie kollektiv die Reptilien sofort voneinander ge-
Spatzen und anderes sogenanntes trennt werden. Andernfalls könnten
Ungeziefer ausrotten. Später entfes- sie miteinander in Streit geraten,
selte dann der rote Reformer Deng sich womöglich gar tödliche Verlet-
Xiaoping den Kapitalismus. zungen zufügen – und so das große
Artenschutzvorhaben zum Schei-
* Im Zoo von Changsha. Shanghai-Weichschildkröte*: Trennung nach dem Liebesakt tern bringen. Wieland Wagner

118 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Wissenschaft

zählen, die grundlegend, irgendwie funda-


mental sind. Und das ist im Kern eine reli-
PHYSIK
giöse Idee.
SPIEGEL: Was genau? Die Idee, dass es ein

„Der Urknall ist nur Marketing“ ultimatives, letztes Gesetz, eine Art Welt-
formel geben müsse?
Laughlin: Exakt. Bei uns im Westen ist die-
se Idee ideologisch tief verwurzelt – ganz
Der Physik-Nobelpreisträger Robert Laughlin über anders als im Fernen Osten übrigens. Der-
den Irrglauben an eine Weltformel, schwarze Magie in der art tiefe kulturelle Wurzeln färben das
Wissenschaft und das Ende der Teilchenforschung gesamte Denken ein. Sie lassen uns Dinge
als offensichtlich wahrnehmen, die keines-
Laughlin, 57, lehrt Theoretische Physik stehen. Sie lassen sich nicht durch eine wegs offensichtlich sind.
an der Stanford University. Im Jahr 1998 atomare Theorie der Materie erklären. Sie SPIEGEL: Was heißt dies für das Phänomen
erhielt er den Nobelpreis für seine Er- gehorchen vielmehr den Gleichungen der der Emergenz?
klärung des sogenannten fraktionierten Hydrodynamik, die das Verhalten von Laughlin: Nun, in unseren westlichen
Quanten-Hall-Effekts. Der Durchbruch Flüssigkeiten beschreiben. Aber niemand Köpfen treffen wir eine grundsätzliche Un-
gelang ihm während seiner Zeit am kann von fundamentaleren, atomaren Ge- terscheidung zwischen fundamentalen Na-
Atomwaffenlabor Livermore. In seinem setzen ausgehend beweisen, dass die Glei- turgesetzen, die schlicht da sind – und de-
Buch „Abschied von der Weltformel“ chungen stimmen. nen, die aus anderen hervorgehen. Dabei
propagiert er eine neue Ära der Physik*. SPIEGEL: Als Emergenz bezeichnen Sie also vergisst man, dass es keinerlei experimen-
alle Phänomene, die nicht auf atomare Ge- telle Hinweise auf einen solchen Unter-
SPIEGEL: Herr Laughlin, in Stanford haben setze zurückführbar sind … schied gibt.
Sie sich einmal viel Ärger mit einer Prü- Laughlin: … ja, weil sie die Folge von SPIEGEL: Beruhen die großen Erfolge der
fungsfrage zugezogen … Selbstorganisation der Materie sind. Physik nicht gerade auf dem Glauben an
Laughlin: Sie meinen die Geschichte mit SPIEGEL: Und das scheint Ihnen so bedeut- diesen Unterschied? Darauf, dass sich jedes
dem Rostbraten? sam, dass Sie gleich eine ganz neue Ära der Phänomen durch Gesetze erklären lässt,
SPIEGEL: Ja, Sie fragten, was passieren wür- Physik ausrufen, die Sie Ära der Emergenz die sich wiederum auf noch grundlegen-
de, wenn ein Student von einem 56 000 nennen. Tragen Sie da nicht sehr dick auf? dere Gesetze zurückführen lassen, bis man
km/h schnellen Rostbraten getroffen würde. Laughlin: Die Leute reden nun mal gern am Ende zur Weltformel kommt?
Was wäre die richtige Antwort gewesen? von neuen Zeitaltern oder gar vom Ende Laughlin: Das ist historisch falsch. Nehmen
Laughlin: Bei so hohen Geschwindigkeiten aller Wissenschaft. Dass eine solche Vor- wir die Metallurgie. Sie ist ohne Zweifel
verhält sich jeder Gegenstand wie ein Was- stellung überhaupt aufkommen konnte, von größter Bedeutung für unseren Alltag
serballon. Beim Aufprall wird das getrof- liegt an einer irreführenden Ideologie, der- – um Autos, Flugzeuge oder Maschinen zu
fene Objekt von einer Welle durchlaufen, zufolge nur diejenigen Gesetze wirklich bauen. Und woraus besteht diese Wissen-
die noch schneller ist als das schaft? Aus nichts als schwarzer
Projektil selbst. Diese Welle tritt Magie. Sie wurde über Jahr-
am Rücken aus, und wenn sie hunderte entwickelt zu einer
dies tut, dann bricht das ganze wirklich raffinierten Kunst.
Objekt auseinander. Kurzum: Aber sie beruht auf nichts als
Der Student explodiert. Das Kochrezepten.
Phänomen nennt sich Schock- SPIEGEL: Es war aber doch erst
welle. Aber ich wusste natürlich, die moderne Elektronentheorie
dass unsere Studenten keine der Metalle, die ein tieferes Ver-
Ahnung davon hatten. Auch ich ständnis mit sich gebracht hat.
kenne mich nur deshalb damit Laughlin: Das ändert nichts dar-
aus, weil ich in einem Nuklear- an, dass die Leute ihre Rezep-
waffenlabor gearbeitet habe. te ausgearbeitet haben – und
SPIEGEL: Warum stellen Sie dann zwar zu einer Zeit, als sie von
solche Fragen? der mikroskopischen Struktur
Laughlin: Eines zumindest habe keine Ahnung hatten. Noch vor
ich damit erreicht: Ich brauche ganz kurzem gab es einen
seither keine Prüfungen mehr hochinteressanten Artikel über
abzunehmen. in Metallen auftretende Span-
SPIEGEL: Aus einem ganz ande- nungen – und die Autoren wei-
ren Grund tauchen Schockwel- gerten sich, über Atome zu
len in Ihrem letzten Buch auf … sprechen, weil die atomare
Laughlin: … ja, weil sie zu den Theorie für die Metallurgie ir-
sogenannten emergenten Phä- relevant sei.
nomenen zählen. SPIEGEL: Wird Ihrer Meinung
SPIEGEL: Können Sie uns das er- nach die Bedeutung des tiefen
läutern? Verständnisses in der gesamten
SABINE SAUER / DER SPIEGEL

Laughlin: Entscheidend ist, dass Physik überschätzt?


Schockwellen durch einen Pro- Laughlin: Nicht nur in der Phy-
zess der Selbstorganisation ent- sik. Nehmen Sie die Medizin:
Die wirklich wichtigen Fort-
* Robert Laughlin: „Abschied von der Welt-
schritte beruhen auch da oft auf
formel“. Piper Verlag, München; 336 Seiten, bloßen Kochrezepten, wie man
19,90 Euro. Physiker Laughlin: „Der Student explodiert“ gesund wird …
120 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
THOMAS PFLAUM/ AGON / VISUM

CERN / SPL / AGENTUR FOCUS


Teilchenbeschleuniger am Cern (in Genf), Kollisionsspuren: „Der wahre Grund lag darin, sich gegen neuartige Waffen zu versichern“

SPIEGEL: Gerade die Physiker haben aber Laughlin: Ganz im Gegenteil. Ich bin sogar antwortete: ,Alle diese kleinen Noten.‘ Se-
doch stets im Kleinen das immer noch überzeugt davon, dass die Moral der Phy- hen Sie, so geht es mir mit der Physik.
Kleinere gesucht: Sie zerlegten Atome und sik in unserer heutigen Informationsge- SPIEGEL: Wundert es Sie, dass sich die
fanden die Protonen; und innerhalb der sellschaft von extremer Bedeutung ist. Öffentlichkeit vor allem für die Fragen in-
Protonen fanden sie die Quarks. Ist das in SPIEGEL: Was meinen Sie mit Moral? teressiert, die Sie quasireligiös nennen?
Ihren Augen keine Erfolgsgeschichte? Laughlin: Dass die Physik Wahrheit bietet. Laughlin: Nein, gar nicht. Deshalb gehört
Laughlin: Die Teilchenphysiker mögen in- Und mehr noch: Sie definiert Wahrheit. das Marketing ja auch dazu, wenn man be-
teressante Ergebnisse zutage gefördert ha- SPIEGEL: Und was ist Wahrheit? Dass das zahlt werden will. Wir werden noch sehr
ben. Aber all ihre Experimente wurden ja Universum im Urknall entstanden ist? viel hören von diesem Warum-ist-das-Uni-
nicht aus philosophischen Gründen durch- Laughlin: Das ist Unfug. Viele Leute stel- versum-so-wie-es-ist-Zeug.
geführt. Niemand gibt so viel Geld für len mir quasireligiöse Fragen: Woher wir SPIEGEL: Auch Sie selbst haben sich doch
Philosophie aus. Der wahre Grund, die Be- kommen, wie das Universum entstanden auch schon mit der Theorie Schwarzer
schleuniger zu finanzieren, lag darin, sich ist und so weiter. Da kann ich als Physiker Löcher befasst.
gegen neuartige Waffen zu versichern. Im nur antworten: Da bin ich kein Experte, ich Laughlin: Oh ja, ich habe die Vermutung
Kalten Krieg konnten die Regierungen es bin einzig und allein ein Experte in Sachen aufgestellt, dass es sich bei Schwarzen
nicht riskieren, dass sich etwas entwickelt, Experiment und Messung. Löchern in Wirklichkeit um einen Phasen-
das sie nicht unter Kontrolle hatten. SPIEGEL: Aber es gibt doch durchaus Mes- übergang der Raumzeit handelt …
SPIEGEL: Der Beschleuniger am Cern bei sungen, die das Urknallszenario stützen: SPIEGEL: … eine kühne These. Und wie
Genf ist also aus Angst gebaut worden? die Rotverschiebung des Lichts ferner Ga- weit ist die entfernt von einem experi-
Laughlin: Exakt. Und nun schwindet diese laxien, die Verteilung von Wasserstoff und mentellen Test?
Angst. Deshalb prophezeie ich, dass es in Helium im Universum … Laughlin: Sehr weit. Wahrscheinlich wäre
der nächsten Generation sehr schwer wird, Laughlin: … ja, und außerdem der Mikro- das allenfalls möglich mit sehr großen
noch Geld für Beschleuniger zu kriegen. wellen-Hintergrund. All das sind echte Da- Teleskopen auf dem Mond.
Ich sage Ihnen: Die enormen Beträge, die ten. Aber das Urknallszenario ist nur eine SPIEGEL: Was ist denn dann der Wert einer
solche Experimente kosten, werden nicht Art Synthese daraus, eine Theorie. solchen Spekulation?
als Almosen für Physiker gezahlt. Die Leu- SPIEGEL: Und was ist in Ihren Augen der Laughlin: Gar keiner. Ich wollte provozieren.
te, die solche Entscheidun- Wert einer solchen Syn- Denn ich bin es satt, in Seminaren zu sitzen
gen treffen, wollen nicht these? und mir Spekulationen über Schwarze
Geld fürs Wohl der Mensch- Laughlin: Letztlich ist das Löcher und Superstrings anzuhören. Nie-
heit ausgeben. Sie wollen nichts als Marketing. Wenn mand redet da über Experimente. Wer wirk-
wiedergewählt werden. Und wir unseren Kindern etwas lich originelle Dinge hervorgebracht hat, der
die Landesverteidigung ist beibringen, dann reden wir weiß: Du musst dich zu disziplinieren wissen.
nun einmal für jede Regie- zuerst von unseren Vorstel- Rede nur über Dinge, die auch messbar sind.
rung dieser Welt eine we- lungen und Ideen, weil das SPIEGEL: War der Ärger über die String-
sentliche Aufgabe. leichter zu verstehen ist. Forscher ein Anstoß für Ihr Buch?
SPIEGEL: Das ist eine sehr ein- Aber was für mich als Physi- Laughlin: Den Anstoß hat ein Foto in einer
seitige Sicht öffentlicher Fi- ker wirklich zählt, das sind deutschen Zeitschrift gegeben. Zu sehen
nanzpolitik – und eine depri- allein die Daten. Igor Stra- waren lauter String-Forscher, und es hieß,
mierende Ansicht über die winski wurde einmal gefragt, das seien die klügsten Leute der Welt …
gesellschaftliche Rolle der was er denn an Beethovens SPIEGEL: … kann es sein, dass es sich um
Physik obendrein. SPIEGEL-Titel 30/1999 Symphonien so möge. Er dieses Foto aus dem SPIEGEL handelt?
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 121
Wissenschaft

Laughlin: Oh, ja, ganz genau! Das hat mich


verrückt gemacht, als ich es gesehen
B E S TAT T U N G S T E C H N I K
habe. Keine einzige Behauptung von
diesen Typen ist durch ein Experiment
gedeckt. Nicht ein einziger hat irgend-
etwas gesagt, das wahr ist! Und der
König von allen ist er hier, Stephen Haw-
king. Ich habe gehört, dass ihm Frauen
Müde Modergruben
Babys bringen, damit er sie berührt. Die-
Auf Deutschlands Friedhöfen verwesen die Toten nicht mehr – sie
ser Mann hat einen Weg gefunden, sich verwandeln sich in Wachsleichen. Reicht der Einsatz von
zur kulturellen Ikone zu machen. Was für Grabkammern? Oder hilft nur eine aufwendige Bodensanierung?
ein Typ! Da kann man nur sagen: Ja, in-

F
sofern ist der wirklich einer der klügsten riedhofsruhe gilt als Synonym für unterbricht die vorgesehene Verwertungs-
Leute. größtmögliche Stille – ein Begriff, der kette der Grabstellen mit Neubelegung
SPIEGEL: Könnten Sie sich ein Foto vorstel- wohl bald dezent zu Grabe getragen nach Ruhefristen von 15 bis 25 Jahren. In
len, auf dem Sie inmitten der Forscher sit- werden muss. Auf deutschen Gottesäckern diesem Zeitraum, so lehrte bisher die Er-
zen, die Sie für die klügsten halten? buddeln derzeit Exhumierungsexperten im fahrung, verrotten die sterblichen Über-
Laughlin: Nein, auf meinem Foto dürf- großen Stil, vom ewigen Frieden keine reste des Bestatteten fast vollständig – aber
ten nur Leute sein, die Dinge gesagt Spur. eben nur bei guten Bodenverhältnissen.
haben, die wahr sind. Und leider muss man Grund für den Rummel: Auf einem Von solchen Idealbedingungen sind
sagen: Es wären sehr wenige. Ich weiß Großteil der Friedhöfe verwesen die Toten viele Friedhöfe heute weit entfernt. Die
nicht, welches Glaubenssystem das beste im Boden nicht mehr. Der gruselige Vor- Misere scheint hausgemacht: „Große Bau-
ist, um in der Wissenschaft Fortschritte
zu machen. Aber eines weiß ich ganz
sicher: Egal, was Sie glauben, am Ende
müssen Sie sich fragen: Mit welchem
Experiment könnte ich beweisen, dass
meine Lieblingsidee falsch ist. Und erst
wenn dieses Experiment scheitert, haben
Sie eine Chance, richtig zu liegen. Und
genau das fällt schwer. Denn nicht selten
hängt Ihre Karriere von der Richtigkeit
Ihrer Idee ab.
SPIEGEL: Aber wird in der Wissenschaft
nicht letztlich jede Idee einem solchen Test
unterzogen, wie Sie ihn fordern?
Laughlin: Von wegen. Nehmen Sie nur den
Fall des Wissenschaftsbetrügers Jan Hen-
drik Schön …
SPIEGEL: … dessen Betrug ja aufgeflogen
ist.
Laughlin: … aber nur, weil jemand in
seinem Labor geplaudert hat. Es gab da
ein Problem, und das hatte absolut nichts
mit ihm zu tun. Es ist das Problem von
BEN BEHNKE

Firmen, die unter wirtschaftlichem Druck


stehen. Da tun oder sagen Leute praktisch
alles, nur um nicht gefeuert zu werden. Ingenieur Kettler: „Es gibt zwei Arten von Friedhöfen, die feinen und die verlotterten“
Denn die Wahrheit kann beruflicher
Selbstmord sein. Deshalb darf man wis- gang der Wachsleichenbildung ist bereits so sünden in den vergangenen Jahrzehnten“
senschaftlichen Aussagen, die in einer sol- weit verbreitet, dass er sich kaum mehr moniert etwa der Ingenieur Heinrich Kett-
chen Situation gemacht werden, niemals totschweigen lässt. ler, der sich auf die Sanierung „verwe-
trauen. Zu hohe Feuchtigkeit im Untergrund sungsmüder“ Böden spezialisiert hat.
SPIEGEL: Jetzt reden Sie von einem sehr verbunden mit tiefen Temperaturen und Die Gemeinden hätten sich beim Er-
kleinen Teil des Wissenschaftsbetriebs … mangelndem Sauerstoff verwandelt die schließen neuer Friedhofsflächen fahr-
Laughlin: Überhaupt nicht. Meine persön- Weichteile vieler Leichen nicht mehr in lässig verhalten. Allzu sorglos sei stark
liche Erfahrung sagt mir, dass wir es hier Humus, sondern „in eine grauweiße, pas- tonhaltiges Erdreich von ortsansässigen
mit einem erschreckend weitverbreiteten tenartig weiche Masse“, wie der Boden- Bauern aufgekauft worden – der für die
Phänomen zu tun haben. Und es gibt sehr kundler Rainer Horn von der Christian- Friedhofsnutzung am wenigsten geeignete
viele Wege, die Unwahrheit zu sagen. Zum Albrechts-Universität zu Kiel berichtet. Untergrund: Aus dieser Bodenart kann
Beispiel kann es reichen, wahre Dinge zu Mit zunehmender Liegedauer gerinnen Wasser nur schlecht abfließen. Luft –
sagen, die aber irrelevant sind. Es gibt Mas- die Heimgegangenen schließlich „zu einer für die Verwesung unverzichtbar – dringt
sen von Experimenten, die schlicht nicht harten, beständigen Substanz“. Klopft man kaum in die verdichteten Lehmschich-
testen, was sie zu testen vorgeben. Oder mit einem Spaten dagegen, klingen die ten vor.
man behauptet, herausgefunden zu haben, wächsernen Körper von innen hohl. Der grassierende Notstand hat eine
was alle ohnehin glauben. Dann können Der auf diese Weise gestörte natürliche ganze Branche von Rettern und Heilsbrin-
Sie ziemlich sicher sein, dass es niemand in Kreislauf der Zersetzung erweist sich für gern entstehen lassen. Als jüngste Novität
Zweifel ziehen wird. die Friedhofsverwalter als Horror: Der aus drängt jetzt das von einem Schweizer ent-
Interview: Johann Grolle, Hilmar Schmundt den Fugen geratene Verwesungsprozess wickelte Renovierungssystem Linder auf
122 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
den Markt des Morbiden – eine sicherheit: „Ob das was bringt,
Brachialmethode, die eine weit- kann man immer erst nach ein paar
reichende Sanierung der sensiblen Jahren überprüfen“, mahnt Inge-
Grabstätten beinhaltet. Nach Aus- nieur Kettler.
hub des unbrauchbaren Erdreichs Der Disput um die fachgerechte
erfolgt die Auffüllung mit einer Bestattung trifft die Friedhofsver-
„individuell festgelegten Mischung walter ausgerechnet während einer
aus Mutterboden, Holzhäcksel und ohnehin großen Image-Krise. „Es
Kies“. Veredelt wird die Grabstät- gibt heute im Prinzip zwei Arten
te durch ein Entwässerungssystem von Friedhöfen“, hat Gruftenwer-
aus Drainagen und zusätzlichen ker Kettler beobachtet: „Die fei-
Filter- und Sickerschichten. nen, die wie Parks aussehen – und
Immerhin hat das Institut für die verlotterten.“
Rechtsmedizin an der Universität Schon übt sich die Zunft in
Zürich der Linder-Methode „nahe- Selbstkritik: „Viele unserer Kolle-
zu ideale Voraussetzungen zur gen waren in der Vergangenheit
raschen und vollständigen Verwe- nicht flexibel genug“, bemängelt
sung nicht nur der Weichteile, son- Manfred Zagar, Chef des Deut-
dern auch des Skeletts innerhalb schen Verbands der Friedhofsver-
weniger Jahre“ bescheinigt. walter. Mit der Attitüde „Wir sind
Doch die Ökokur für stickige die Herren des Friedhofs“ seien
Modergruben wird sich in Deutsch- viele Leute verprellt worden. So
land wohl nur schwer durchsetzen. hat sich allmählich eine Art Zwei-
Entscheidender Nachteil: Das Ver- klassengesellschaft unter den Ru-
fahren erfordert die zeitweilige hestätten gebildet.
Umbettung der wächsernen Lei- Von Politikern ist zudem wenig
chen in Ausweichgruften. Hilfe zu erwarten. Legende ist in
„So etwas kann man in der der Branche etwa der Ausspruch
Schweiz machen, aber nicht in eines Bürgermeisters, der konsta-
Deutschland, wo der Tod traditio- tierte: „Ich kann mit einem Fried-
nell ein Tabu ist“, glaubt Bernhard hof keine Wahl gewinnen, aber
Ufer zu wissen. Der Kaufmann bie- jede Wahl verlieren.“
tet eine schonendere Alternative Mit dem Karlsruher Hauptfried-
an: Er vertreibt für die BayWa AG hof könnte man wahrscheinlich
aus Karlstadt Grabkammern, die jede Wahl gewinnen. Friedhofschef
auf deutschen Friedhöfen unlängst Matthäus Vogel schuf in Baden
zum Verkaufsschlager avancierten. eine der modernsten und ansehn-
Die Stadt Köln orderte bereits lichsten Ruhestätten Europas.
insgesamt 5000 der Betonsärge, die Vermutlich gelang dies vor
Ruhrgebietsstadt Herne erwarb allem, weil der umtriebige Vor-
immerhin gleich 3000 Stück. Auch denker die Gesetze des Mark-
gutbetuchte Privatleute fordern tes auch auf das letzte Ruherefu-
den Sarkophag aus Fertigbauteilen gium des Menschen übertrug.
an, um darin ihre letzte Ruhe zu An Kollegen verteilte Vogel Merk-
verbringen. Erst kürzlich lieferte blätter, die überschrieben sind
Ufer drei Exemplare ins rheinische mit dem Titel: „Wie bleibt der
Kürten an die Angehörigen des Friedhof konkurrenzfähig? – Ak-
jüngst verstorbenen Komponisten Friedhofssanierung*: Umbettung in Ausweichgruften tuelle Marktstrategien!“ Als ei-
Karlheinz Stockhausen. ner der Ersten in Deutschland
In den kargen Kammern soll sich je- ihre Betonboxen wasserdicht präpariert – erkannte er, dass individuelle Gestal-
nes fäulnisfreundliche Klima einstellen, als Lehre aus den im Schlick zu Schmiere tungsmöglichkeiten bei der Bestattung und
das die matten Böden nicht mehr bieten. geronnenen Verstorbenen. Doch in der der Grabstätte immer stärker nachgefragt
Dirk Schoenen, Mediziner am Institut für wasserdichten Umgebung trockneten die werden.
Hygiene und Öffentliche Gesundheit des Verblichenen nun regelrecht ein und „Der Kunde steht im Mittelpunkt al-
Universitätsklinikums Bonn, ist kürzlich in nahmen die lederne Konsistenz von Mu- ler Anstrengungen“, fordert Vogel. Die-
einige Betongruften herabgestiegen, um mien an. ses Arbeitsprinzip ist sinnvoll: 16 Milliar-
deren Wirksamkeit zu überprüfen. Inzwischen haben die Hersteller nach- den Euro werden in Deutschland im
Seine erschreckende Beobachtung: In justiert und neue Filteranlagen in die Jahr rund um das Thema Friedhof umge-
einigen Gräbern war sogar „der Blumen- Gruftblöcke eingebaut. Große Hoffnungen setzt.
schmuck auf den Särgen noch erhalten, setzt die Szene überdies in eine weitere Dass die Toten von allein kommen, ist
Blüten und Blätter hatten sich nur braun Schöpfung aus der Schweiz namens „Rapid unter Profis entsprechend eine längst über-
verfärbt“. Schlimmer noch: Auch die Toten Rot“: ein Pilzextrakt, das die Sargholz- holte Binsenweisheit. In Karlsruhe werden
selbst waren keineswegs, wie erhofft, zu verrottung beschleunigen soll. die Kunden von morgen schon heute mit
Staub zerfallen: „Die Weichteile der Lei- Bei all diesen Maßnahmen ringen die attraktiven Angeboten gelockt: etwa mit
chen waren teilweise noch gut erkennbar, Bestatter mit einer branchenüblichen Un- dem Erwerb einer Baumpatenschaft. Die
wenn auch deutlich in ihrem Volumen ermöglicht eine Bestattung unter einer
reduziert.“ * Oben: vor dem Bodenaustausch; Mitte: Einbau der Drai-
ausgesuchten Eiche oder Buche für die
Erklärung für das Verwesungs-Desaster: nage und der Grabsteinfundamente; unten: Endzustand Dauer von 50 Jahren – im Angebot ab
Die Hersteller der Grabkammern hatten (im schweizerischen Mettmenstetten). 3500 Euro. Frank Thadeusz

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 123
Szene Kultur
D O K U M E N TAT I O N E N

Kino-Weltreise
E s gibt Leinwandgeschichten“, glaubt
der Regisseur Uli Gaulke, „die ver-
steht man überall auf der Welt, hinter
jedem Misthaufen.“ Zum Beispiel das
Schiffbruch-Spektakel „Titanic“. Die
Geschichte von der großen Liebe und
dem großen Verlust läuft in Wyoming
ebenso erfolgreich wie im staubigen
Open-Air-Kino in Ouagadougou, der
Hauptstadt Burkina Fasos, in dem der
junge Lassane nach Sonnenuntergang
den Projektor anwirft. Gaulke, 39, ist
der Tausendsassa des jungen deutschen
Dokumentarfilms. Für „Comrades in
Dreams“, seine Hommage an die Magie
des Lichtspieltheaters, reiste er nach
Afrika, Indien, Nordkorea und in die
Filmszene aus „Troja“ (2004) USA; er begleitete Kino-Idealisten, die
mit qualmenden Projektoren, abgenutz-
ten Filmrollen und Behelfsleinwänden
A LT E R T U M ihr Publikum verzaubern, und zeigt
eine faszinierende Welt abseits der mo-

„Eine irrwitzige Phantasterei“ dernen Popcorn-Paläste der Kino-Indu-


strie. Der junge Anup – ein schüchter-
ner Sonnyboy wie aus einem Rushdie-
Der Basler Altphilologe und Homer- was hätten die Griechen davon gehabt,
Forscher Joachim Latacz, 73, über den einen Ort wie Karatepe im Binnenland
Schriftsteller Raoul Schrott und dessen Kilikiens anzugreifen? Das am Eingang
Thesen zu Homers Heimat zum Schwarzen Meer liegende Troja aber
war ein wichtiges strategisches Ziel für
SPIEGEL: Herr Professor Latacz, was hal- ein seefahrendes Volk wie die Griechen.
ten Sie von Raoul Schrotts Behauptung, SPIEGEL: Wie beurteilen Sie die Leistung
der wahre Homer sei ein assyrischer des Übersetzers Raoul Schrott?
Hofdichter aus Kilikien gewesen? Latacz: Er hat nie Altertumswissenschaft
Latacz: Nichts. Wenn man freundlich studiert und spricht die Sprache nicht
sein will, kann man seine Ausführungen ausreichend. Als Altertumsexperte ist
als eine charmante Plauderei bezeich- er ein Dilettant. Ich kenne seine soge-
nen, eine nette Geschichte, die man sich nannte Übersetzung der ersten zwei
ZORRO FILM

als Dichter, der im fernen Irland sitzt Ilias-Gesänge, weil ich sie für den Hes-
und Bücher sammelt, ausdenken kann. sischen Rundfunk wissenschaftlich be-
Ansonsten: eine irrwitzige Phantasterei. treut habe. Ich habe damals gut ein Jahr Szene aus „Comrades in Dreams“
Schrott hat ja selbst geschrieben, dass mit Herrn Schrott fast um jedes Wort,
ihm seine These so dubios wie eine eso- jeden Vers gerungen, um ihn vor gra- Roman – segnet die Filmrollen im Tem-
terische Atlantis-Theorie vorkam. Ich vierenden Fehlern zu bewahren. Bis pel, bevor er sein Zeltkino an irgend-
kann ihm da nur zustimmen. mir klar wurde: Das kann keine Ilias- einem staubigen Ort im indischen
SPIEGEL: Macht er denn Fehler? „Übersetzung“ werden, sondern allen- Bundesstaat Maharaschtra aufschlägt
Latacz: Da könnte man eine ganze Liste falls eine „Fassung“. und ihm die Bollywood-süchtige Dorf-
aufstellen. Schrott behauptet zum Bei- SPIEGEL: Hat Schrott nicht recht, wenn bevölkerung das Zelt einrennt. Im nord-
spiel, in irgendwelchen hethitischen Keil- er sagt, dass ein Dichter wie Homer nun koreanischen Kolchose-Kino hat die
schriften tauche der Name „Ucha-lu“ auf, mal in erster Linie den Dichtern gehöre „Filmvorführ-Genossin“ Han Jong Sil
das klinge doch wie „Achi-lleus“. Oder – und nicht den Philologen? die Wahl zwischen farbstichigen Heile-
eine kilikische „Kaa- Latacz: Wer Homers Welt-Filmen und Leinwandepen über
zi“ soll in „Kassan- großartiges Werk in Ganzjahresgemüse („Das wäre doch
dra“ stecken, obwohl so einem abstrusen mal was für die Jungarbeitertruppe“).
Letzteres ein griechi- Kontext darstellt, Selbst im hermetisch abgeriegelten
scher Name ist. Das wird ihm und seiner Nordkorea gelingt es Gaulke, durch den
sind völlig aus der Zeit einfach nicht ge- Panzer der Ideologie zu dringen und
DANIEL & GEO FUCHS

Luft gegriffene Wort- recht. Homer gehört echte Menschen zu zeigen. „Darf man
spiele, keine Wissen- weder den Dichtern hier auch über Geheimnisse reden?“,
schaft. Schrott hält noch den Philologen. fragt Han Jong Sil einmal in die Kamera
AKG

Karatepe für das his- Er gehört der gan- und bekennt: „Die Filme geben den
torische Troja. Aber Latacz Homer zen Menschheit. Dingen des Lebens ihr Gesicht.“ Wer
Kino liebt, wird diesen Film lieben.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 125
Kultur

BAUEN – EIN POLITIKUM. Als „unsichtbaren Riesen“ hat tionsbauten eines nichtdemokratischen Regimes verantwortlich
der SPIEGEL kürzlich (Heft 51/2007) den Frankfurter Archi- sein“. Und um solche „Regime“ handelt es sich in den er-
tekten und Stadtplaner Albert Speer porträtiert – als einen wähnten Ländern fast durchweg. Es geht in diesem Streit weder
Mann, der vor allem wegen seines Vaters, des gleichnamigen um Neid – Ingenhoven hat einen der höchstdotierten Archi-
NS-Architekten, zurückhaltend auftritt, der aber andererseits tektenpreise gewonnen und ist sehr erfolgreich – noch um
mit seinem großen Team im Herkulesformat für Länder wie Profilierungsgezänk. Es geht um das grundsätzliche Politikum
Russland, Aserbaidschan, Nigeria, Saudi-Arabien, Libyen und repräsentativer Architektur. Friedrich Nietzsches Bemerkung,
China entweder bereits geplant hat oder aktuell plant. Das im „großen Stil“ solcher Architektur komme „der Rausch des
tun auch andere deutsche Baumeister, etwa großen Willens“ zum Ausdruck, eine „Art Macht-
das Hamburger Team Gerkan, Marg & Partner Beredsamkeit in Formen“, gilt nicht nur für die
oder der Dortmunder Architekt Eckhard Pyramiden, die Kathedralen des Mittelalters, die
Gerber. Der Düsseldorfer Architekt Christoph barocken Schlösser oder die diversen Regierungs-
Ingenhoven, 47, bekannt geworden durch die paläste des 20. Jahrhunderts bis hin zu Hitlers
elegante gläserne RWE-Zentrale in Essen Reichskanzlei. Sie trifft auch auf moderne Hoch-
und den Sieg im Wettbewerb für den neuen häuser und neue Stadtzentren im „großen Stil“ zu.
Stuttgarter Hauptbahnhof, zeigt sich, vom Das bedeutet: Der Architekt solcher Projekte sollte
SPIEGEL nach seinen chinesischen Erfahrun- besonders sensibel für die Art der Macht sein, der
gen gefragt, wenig amüsiert über die kolossa- er zur „Beredsamkeit“ verhilft. Die oft beschworene

H. G. ESCH
len Auslandserfolge seiner Kollegen. Er selbst Ingenhoven Hoffnung, gute Bauwerke könnten auch schurki-
möchte „auf keinen Fall für die Repräsenta- sche Mächte humanisieren, ist wohl eine Illusion.

S TÄ D T E B AU

„Ich baue nicht in China“


Der Architekt Christoph Ingenhoven über die verblüffenden Welterfolge seiner deutschen Kollegen

D
eutsche Architekten sind im Aus- tekten zurzeit besonders erfolgreich sind. uns zurückhalten? Ich glaube daran, dass
land sehr erfolgreich, der SPIEGEL Ich gönne jedem meiner Kollegen seine es eine Kongruenz gibt zwischen der poli-
berichtete vor kurzem darüber. Es Erfolge im Ausland und glaube daran, dass tischen Verfassung eines Landes – ob es
wird auch Zeit, dass die Deutschen endlich jeder dort versucht, auf seine Weise das eine Demokratie ist oder keine, ob die
ihren Horizont erweitern. Zu lange – fast jeweils Beste zu geben. Mir liegt aber auch Menschenrechte geachtet werden oder
die ganzen neunziger Jahre über – waren daran, auf das ein oder andere hinzuwei- nicht – und der Art, wie Architekten dort
viele westdeutsche Büros nur damit be- sen und eine Debatte anzuregen, die über- behandelt werden.
schäftigt, in Ostdeutschland auf der grü- fällig ist. In welchen Ländern sollten wir China zum Beispiel ist ein Land mit sehr
nen Wiese Einkaufszentren zu bauen und Architekten uns engagieren, wo sollten wir vielen Menschen, ein Land, in dem es
in den Innenstädten Shopping-Malls. Nun
arbeiten sie auf einmal in Saudi-Arabien, in
Aserbaidschan und Libyen, bei Wettbe-
werben in China treten oft deutsche Ar-
SIMPLE TREE IMAGING DESIGN SHANGHAI / AS&P - ALBERT SPEER & PARTNER

chitekten gegeneinander an: ein Büro aus


Kaiserslautern gegen eines aus Hamburg,
Stuttgart oder Frankfurt am Main.
Auch ich arbeite mit meinem Büro zu
60 bis 70 Prozent im Ausland. Wir haben
Projekte in Luxemburg, Österreich, Japan,
in Australien – alle mit ökologischem
Anspruch. In Irland bauen wir einen
CO2-freien Universitätskomplex, in der
Schweiz am Zürichsee ein Bürohaus, das
den höchsten Energiestandards des Lan-
des entspricht, unter anderem mit See-
wasser geheizt und gekühlt wird. Doch in
China werde ich in absehbarer Zeit nichts
mehr bauen und auch nichts in Libyen,
nichts in Saudi-Arabien, also nichts in all
jenen Ländern, in denen deutsche Archi- Speer-Entwurf für China-Metropole Changchun: „Land der vielen Tragödien“

128 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
H. KNAUF / INGENHOVEN AR / DPA
Ingenhoven-Plan des Stuttgarter Hauptbahnhofs: Respekt und Fairness zwischen Bauherr und Baumeister

große, gewaltsame gesellschaftliche Ver- Wir waren jung und fühlten uns wie Unter großen Mühen und mit vielen
änderungen gibt, mit vielen Tragödien, holländische Kaufleute des 17. Jahrhun- Querschlägen kam ein Vertrag zustan-
zu denen übrigens auch die Umweltver- derts, die ausprobieren, ob sie in der Fer- de. Doch durch die große asiatische Fi-
schmutzung gehört. In so einem Land zählt ne Geld verdienen können. Um es vor- nanzkrise von 1997 kam unser Bauherr
das einzelne Leben, zählen individuelle wegzunehmen: Am Ende war es die größ- in Schwierigkeiten, er kündigte uns und
Rechte offenbar nicht viel. Und da ist es te Kränkung meines Berufslebens. behielt das letzte Honorar, 500 000 Dol-
nur logisch, dass die westlichen Vorstel- Wir sollten ein großes Kaufhaus bauen, lar, ein.
lungen von geistigem Eigentum kaum ernst in der ehemaligen Altstadt von Shanghai. Zu dem Zeitpunkt gab es auf der Bau-
genommen werden. Das europäische Ur- Es sollte ein 350 Meter hoher Turm wer- stelle lediglich eine Grube. In China ist es
heberrecht ist für uns Architekten die Ba- den, sehr anspruchsvoll, mit doppelter üblich, für Bauprojekte Wanderleiharbeiter
sis unseres Schaffens, in den Augen vieler Fassade und ökologischer Energietechnik. zu beschäftigen, die keinen festen Wohnort
Chinesen gilt es aber als überflüssig. Es gab unendliche Verhandlungen, immer haben, sondern von Ort zu Ort ziehen und
1994 habe ich gemeinsam mit meinem 50 Leute an einem Tisch, immer wieder in mehrstöckigen Stahlcontainern direkt
damaligen Partner Jürgen Overdiek einen mussten wir seltsame Begehrlichkeiten an der Baustelle schlafen. In die Baugrube
Wettbewerb in China gewonnen. Für uns abwehren, zum Beispiel, dass wir von wurde eine Abfangekonstruktion hinein-
war es ein Abenteuer, dort hinzugehen, unserem Honorar bestimmten Funktio- gebaut, diese wurde unterhöhlt, brach zu-
wir waren auch stolz, denn wir waren mit nären 50 Flüge Businessclass nach Europa sammen, zehn Menschen starben. Wir hat-
Abstand die ersten Deutschen, die so ein zahlen sollten, was wir natürlich immer ten die Abfangekonstruktion nicht geplant
großes Projekt in China bauen durften. ablehnten. und berechnet, wir waren nicht schuld,
aber es war trotzdem für uns eine sehr ein-
schneidende, schlimme Erfahrung.
Wir hatten überhaupt nur durch Zufall
von dem Unglück gehört. Und zwei Jahre
später erfuhren wir wieder durch Zufall,
als wir nämlich in einer Architekturzeit-
schrift blätterten, dass jemand völlig ande-
res vorhatte, unseren Entwurf zu realisie-
ren. Wir mussten einen Urheberrechtspro-
zess anstrengen, immer wieder legte der
Bauherr Revision ein. Am Ende haben wir
vier Prozesse in China geführt und ge-
wonnen. Es ist dem Bauherren dann ver-
boten worden, das Projekt ohne unsere
MEINHARD VON GERKAN, GMP

Zustimmung zu vollenden. Er hat trotz-


dem einen Turm hingestellt, der unserem
entfernt ähnelt, jedoch in fast allen Details
und materiellen Qualitäten entstellt ist.
Jeder macht andere Erfahrungen, aber
unsere waren denkbar schlecht. Wir sind
Gerkan-Modell für Lingang New City (bei Shanghai): „Das Individuum zählt nicht“ danach noch zu einigen Wettbewerben ein-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 129
Kultur

geladen worden, wir haben jedes Mal ab- auch Kanada, USA, Australien sind die Viele Kollegen hierzulande schwärmen
gesagt. Ich werde so lange nicht in Chi- Verfahren in der Regel transparent, die davon, wie schnell und unbürokratisch
na arbeiten, bis man mir glaubwürdig Honorare gut – und Geld ist immer auch man in Ländern wie China, Libyen und
macht, dass ich das auf höchstem Niveau ein Ausdruck von Respekt. Das Urheber- Vietnam bauen könne, und sie beklagen
tun kann. recht wird sehr ernst genommen, und die sich, wie schwerfällig die Prozesse gerade
Dieses Jahr haben wir eine Anfrage er- Zeitspannen sind so bemessen, dass man in Deutschland seien. Ich möchte zu be-
halten, ob wir nicht ein Hochhaus, das am Ende das beste Ergebnis erzielen kann. denken geben, dass die vielen demokra-
wir für Frankfurt am Main geplant hatten Wir Architekten aus Deutschland soll- tisch-bürokratischen Hemmnisse uns oft
und das dann dort nicht realisiert wurde, ten also ein natürliches Interesse haben, davor bewahren, zu schnell, zu groß, zu
nach Libyen verkaufen wollten. In Libyen in diesen Ländern zu arbeiten und bei den einfach und zu vulgär zu bauen. Mit dem
wird das Regierungsviertel ganz neu ge- Wettbewerben dort gegen die wirklich bes- chinesischen Prinzip – Geschwindigkeit,
baut, es macht mich nachdenklich, dass ten Büros der Welt anzutreten und damit Achsialität, Hurra-Modernismus – bekom-
hauptsächlich deutsche Architekten daran unsere Konkurrenzfähigkeit zu schärfen. me ich keine Qualität.
beteiligt sind. Ich jedenfalls will meinen Dass deutsche Architekten in China, Mein Büro kann und will nicht in zwei
Entwurf nicht nach Libyen geben. Man Aserbaidschan und Saudi-Arabien nicht Jahren eine neue Stadt bauen, und wer
holt nichts in die Wüste, was ursprünglich selbstbewusst auftreten, dass sie niedrige das kann und will, muss irgendwann zuge-
für die City West in Frankfurt geplant war. Honorare und merkwürdige Copyright- ben, dass nicht der Dienst an der Mensch-
Im Übrigen sehe ich nicht ein, warum ich Bedingungen akzeptieren, ist Teil ihres heit die Motivation dafür ist, sondern das
mich für ein absolut nicht satisfaktions- Erfolgs dort, eines Erfolgs, den ich frag- eigene wirtschaftliche Interesse.
fähiges Regime einsetzen soll. Bis meine würdig finde, denn für mich sind Respekt In der SPIEGEL-Ausgabe vor zwei Wo-
Absage akzeptiert wurde, musste ich drei- und Fairness die wichtigste Grundlage für chen war ein Interview mit den Chefs
mal schriftlich ablehnen. eine Zusammenarbeit. zweier Konzerne über Luxusgüter zu le-
sen. Sie sprachen von einer Erfahrung, die
auch ich gemacht habe, nämlich dass sich
die Leute in Schwellenländern wie China
und Russland nicht deswegen Luxuspro-
dukte leisten, weil sie von deren Qualität
überzeugt sind, sondern weil sie ihnen
als Statussymbole dienen. Sie wollen den
kürzesten Rock, das schnellste Auto, die
goldenste Uhr.
Von uns Architekten, so glaube ich, wol-
len sie das schickste Design, sie wollen es
kaufen, wollen es besitzen, so schnell wie
möglich. Sie wollen aber unsere Arbeit
daran, unseren mühsamen Weg dorthin oft
nicht begleiten, wollen all das, worüber
wir uns viele Gedanken machen – sinn-
CORNELIUS PAAS / DAS FOTOARCHIV

volle Bezüge zur historisch oft hochrangi-


ARCHITEKTURBÜRO GERBER

gen Umgebung, Klimatechnik, Nachhaltig-


keit –, nicht schätzen, nicht respektieren.
Ich aber bin so anspruchsvoll zu sagen,
dass derjenige, der mit uns arbeiten will,
verstehen muss, dass eine völlig andere
Statussymbolik möglich ist, nämlich am
Gerber-Modell (Riad), RWE-Zentrale von Ingenhoven (Essen): Türme der Macht Ende das ressourcenschonenste, das sozial
richtigste Haus zu haben.
Wir haben auch die Teilnahme an zwei Warum aber sind viele deutsche Büros Ich muss sagen, dass wir auch in Län-
Wettbewerben für den Bau des National- ausgerechnet in der Mitte Europas und im dern arbeiten, bei denen wir gewisse poli-
museums und des Parlaments von Vietnam sogenannten Westen nicht sehr erfolg- tische Bedenken haben, in Singapur etwa,
abgesagt, weil uns gewisse Andeutungen reich? Natürlich spielt unsere Geschichte in Süd-Korea. Doch man merkt in diesen
über das Urheberrecht in der Ausschrei- eine Rolle, die Nazi-Zeit hat ihre Nach- wirtschaftlich etablierten Ländern einen
bung nicht gefielen, aber auch, weil wir wirkungen. In Libyen, Saudi-Arabien oder großen Unterschied zu den Schwellenlän-
auf keinen Fall für die Repräsentations- China ist unsere Vergangenheit aber kaum dern. Dort gibt es ein ganz anderes Ver-
bauten eines nichtdemokratischen Regimes ein Thema. In Osteuropa ist es wieder an- ständnis für unsere Haltung: dass Häuser
verantwortlich sein wollen. ders, da ist man sich unserer Vergangenheit auch, aber nicht nur durch schöne Formen
Wir Architekten müssen aufpassen, dass mehr als bewusst. Da wir aber als Ein- ihre Daseinsberechtigung haben. Wir sind
wir in anderen Ländern nicht Bedingungen gangstor zur westlichen Welt gelten, ak- da gefragt für unser ökologisches Know-
akzeptieren, die wir hier nie akzeptieren zeptiert man unser Know-how. how und für die hohe Qualität unserer
würden, und zwar auf allen Ebenen. In All das zeigt uns doch umso mehr, dass Arbeit.
Ländern wie China oder Saudi-Arabien wir uns anstrengen sollten, auch bei unse- Ich selbst will mich nicht von der viel-
sind die Honorare bisweilen sehr schlecht, ren westlichen Nachbarn erfolgreich zu leicht naiven Vorstellung verabschieden,
es wird ein Tempo vorgegeben, bei dem es sein, damit unsere Nachbarn uns – und da- dass wir Architekten dafür da sind, die Welt
mir oft nicht möglich scheint, Qualität zu mit ein anderes Deutschland – kennenler- lebenswerter, schöner, gesünder zu ma-
liefern. Man erfährt kaum je, warum man nen. Bei offenen, transparenten, fairen chen. Ich glaube, dass wir das können. Und
einen Wettbewerb gewonnen hat oder Wettbewerben in westlichen Metropolen dass wir unseren Auftraggebern abverlan-
eben nicht. zu bestehen, das ist der wahre Fitnesstest. gen müssen, diesen Glauben zu teilen. Das
In Ländern wie Frankreich, Luxemburg, Nur dort erfahren wir, was wir wirklich bedeutet, im Zweifel auch ein Projekt oder
Österreich, England, der Schweiz, aber wert sind. einen Auftraggeber abzulehnen.
130 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
weil er nicht mehr aufsprin-
gen kann, wenn er eine
Speisewagenszene mit gei-
fernden schweizerdeutschen
Omas am Nebentisch zeigt,
dann passt die slapstickhaf-
te Komik zum Geschehen.
Wenn aber die drei zur
Abwechslung zu Fuß durchs
ländliche Indien trabenden
Brüder plötzlich in den Un-
glückstod eines Kindes ver-
strickt sind, dann schildert
Anderson auch die Beerdi-
gung des Knaben als far-
benfrohes Skurrilitätenka-
binett. Das wirkt absolut
deplaziert. Und besitzt

20TH CENTURY FOX


doch die tiefere, hölderlin-
sche Logik, dass gerade
die todesnahe Verzweiflung
sich häufig offenbart im
„Darjeeling Limited“-Darsteller Schwartzman, Brody, Wilson: Kindsköpfe bei der Trauerarbeit Zwang zum pausenlosen
Scherzen.
lich nie wiedersehen wollten, haben die Man kann die verschwenderische Be-
FILM
Brüder zu einer Reise zusammengefunden, geisterung, mit der Anderson seine Hel-

Drei Nesthocker die sie fortwährend „spirituell“ nennen. den lustige Louis-Vuitton-Koffer durchs
Dabei haben sie offenbar vor allem prak- Bild tragen lässt, deren Tierfigurenmuster
tisch-therapeutische Zwecke im Sinn. der berühmte Designer Marc Jacobs aus-

auf Erlösungstrip Wovon erhoffen sie sich Trost und Hei- getüftelt hat, natürlich posenhaft und gaga
lung? Der älteste, Francis (Wilson), trägt finden. Man kann die feinen Popmusik-
einen grotesken Kopfverband, weil er in fundstücke, mit denen er seinen Film
deutlich selbstmörderischer Absicht mit garniert, darunter Peter Sarstedts „Where
Der Regisseur Wes Anderson
dem Auto verunglückt ist. Peter, der mittle- Do You Go to My Lovely?“, sentimental
schickt in „Darjeeling Limited“ drei re (Brody), hat seine hochschwangere Frau und vorgestrig schimpfen. Man kann An-
Brüder auf eine Indienreise, zurückgelassen, in panischer Angst vor der dersons Hauruck-Freudianismus, in dem
die bunt, traurig und magisch ist Vaterschaft. Und Jack, der jüngste der Brü- mit Schuldkomplexen hantiert wird wie
wie ein schöner Traum. der (Schwartzman), hat eine äußerst un- in der klassischen Slapstickkomödie mit
glückliche Liebesgeschichte mit dem schöns- Sahnetorten, als üblen Manierismus ver-

D
ieser Film ist nicht jedermanns Tas- ten und schwierigsten Mädchen der Welt teufeln.
se Tee, das lässt schon der Titel (Natalie Portman) hinter sich – das weiß der Aber ein hinreißender Film ist „Darjee-
ahnen. Eltern beispielsweise sollte Kinozuschauer aus einem wunderbar stili- ling Limited“ in jedem Fall; klug inspiriert
man vor ihm warnen – nicht, weil hier gut- sierten Kurzfilm, der als Vorprogramm von durch die Film-Großtaten der Beatles aus
angezogene, wohlgesittete junge Menschen „Darjeeling Limited“ läuft. In drei Minuten der Zeit von „Help!“ und „Yellow Subma-
sich bedenkenlos Drogen in ihre Drinks spielen Portman und Schwartzman da in rine“. Gegen Ende ihrer verrückten Reise
kippen, fortwährend paffen und auch sonst einem Pariser Hotelzimmer ein Bezie- durch ein magisches Land gelangen die
potentiell schädliche Dinge praktizieren hungsdrama durch: zwei Ex-Geliebte be- drei überreifen Jungs in ein Kloster in ei-
wie schnellen Sex auf einer Zugtoilette. lauern sich, fallen übereinander her und nem indischen Gebirgskaff.
Sondern weil dieser Film auf großartig gucken traurig vom Hotelbalkon. Hier lebt, hoch droben auf einem Felsen,
poetische Weise eine Untat anklagt, die Wie fast alle Filme des Regisseurs Wes die Mutter der drei Brüder, eine christliche
fast alle Eltern begehen: die Schurkerei, Anderson ist „Darjeeling Limited“ ein Missionarin, die von der zauberhaften An-
Kinder eines Tages allein zu lassen in einer Wunderwerk absonderlicher Komik. An- jelica Huston gespielt wird – und es sieht
Welt, in der sie sich verloren fühlen. derson hat in den vergangenen Jahren kurz so aus, als könnte nun wirklich ein
„Darjeeling Limited“ handelt von drei durch Werke wie „Rushmore“ (1998) und großes Heimkommen und Einander-an-
erwachsenen amerikanischen Brüdern. Sie „Die Royal Tenenbaums“ (2001) die Kino- die-Brust-Drücken stattfinden zwischen
sind ziemlich dandyhaft ausstaffiert und zuschauer in zornig einander bekriegende den unglücklichen Kindsköpfen und der
alle so um die 30. In einem märchenhaft Lager geschieden wie kaum ein anderer Frau, die sie in die Welt gesetzt hat.
bunten, altmodischen Zug, der so heißt Filmemacher. Die einen halten ihn für ei- Aber nichts da: Selbstmitleid sei keine
wie der Film, reisen sie durch Indien. Und nen witzelsüchtigen Aufschneider und Lösung, mahnt das Muttertier und ent-
man erfährt bald, dass sie exakt ein Jahr Spinner, die anderen für einen sensiblen schwindet wie eine Fata Morgana. Auch
zuvor in New York ihren Vater beerdigt Porträtisten moderner Verzweiflungs- als Nonne ist sie die hippiehafte Egoistin,
haben. Seitdem fühlen sie sich von allen künstler. „Darjeeling Limited“ beweist die sie immer war (wie eigentlich alle
guten Geistern verlassen. schlagend: Beide Lager haben recht. Mütter bei Anderson). Den drei Helden
Die drei Helden Francis, Peter und Jack Tatsächlich kann Anderson von den läp- aber bleibt nichts anderes übrig, als mit
werden gespielt von Owen Wilson, Adrien pischsten wie von den ernstesten Dingen neuem Mut, jeder auf sich allein gestellt,
Brody und Jason Schwartzman; es handelt nicht anders als mit humoristischem den Kampf aufzunehmen mit einem
sich also um tolle, von Frauen monster- Hintersinn erzählen. Wenn er einen Ge- Leben, das ihnen keine Wahl lässt: Die
mäßig verehrte Kerle. Auch materiell fehlt schäftsmann (Bill Murray) hinter dem Zug Rückkehr ins Elternnest ist definitiv aus-
es ihnen an nichts. Obwohl sie sich eigent- herhetzen und schließlich aufgeben lässt, geschlossen. Wolfgang Höbel

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FAMILIENARCHIV DER FAMILIE VON HAMMERSTEIN
FAMILIENARCHIV DER FAMILIE VON HAMMERSTEIN
ATELIER BIEBER/NATHER / BPK
General Hammerstein (1929), Trauergast Hammerstein (1934)*, Tochter Maria Therese (1932): „Heldenrolle abgelehnt“

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Ich wurde rausgeschmissen“


Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, 78, über seine Kindheit und Jugend in der Nazi-Zeit,
die unentwegte Lust am Entdecken und den faszinierenden Lebensweg des Generals
Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord, des Helden seiner literarischen Biografie „Hammerstein“
SPIEGEL: Herr Enzensberger, Sie erzählen in Glück. Die Gründe reichen weit zurück, nisten verliebt. Noch dazu waren es Juden.
Ihrem neuen Buch „Hammerstein oder Der bis in die fünfziger Jahre. Damals passte er Einer davon spielte in der Komintern eine
Eigensinn“** die Geschichte eines deutschen nicht ins politische Klima. prominente Rolle.
Generals, der entschieden gegen Hitler war SPIEGEL: Sie haben aber schon als junger SPIEGEL: Wie kamen Sie auf diese Spur?
– die Geschichte eines guten Deutschen? Rundfunkmitarbeiter in den fünfziger Jah- Enzensberger: Reinhard Müller vom Ham-
Enzensberger: Kurt von Hammerstein hat ren erstmals von Hammerstein gehört. burger Institut für Sozialforschung hat ein
für sich selbst die Heldenrolle abgelehnt. Enzensberger: Ja, das ist ein halbes Jahr- bisher unbekanntes Protokoll der berüch-
Er machte nichts, von dem er nicht über- hundert her. So lange sitzt mir diese Ge- tigten Hitler-Rede vom Februar 1933 in
zeugt war. So einfach war das. In seinem schichte schon im Nacken. Aber für jedes Moskauer Archiven gefunden und im Jahr
Eigensinn war er unbeirrbar. Er fand das Projekt gibt es den richtigen Moment; den 2000 erstmals veröffentlicht. Hitler hatte in
ganz normal, keineswegs heroisch. muss man abwarten. dieser Rede erstmals seine Pläne vor den
SPIEGEL: Warum wusste man bisher so SPIEGEL: Was war für Sie jetzt der Impuls? Generälen dargelegt, und zwar im Bendler-
wenig über diesen Mann? Enzensberger: Die Quellenlage hat sich block, in der Dienstwohnung Hammer-
Enzensberger: Kein Historiker hat sich ein- durch den Zusammenbruch des Kommu- steins. Das zuverlässigste Gedächtnispro-
gehend mit ihm beschäftigt. Das war mein nismus grundlegend verändert. Erst da- tokoll dieser Geheimrede fand sich ausge-
nach sind wichtige Archive überhaupt zu- rechnet in den Beständen der Komintern.
* Rechts neben Hitler bei der Beerdigung des Klavier- gänglich geworden. Über einen wesent- SPIEGEL: Offenbar war eine Hammerstein-
herstellers Edwin Bechstein. lichen Teil der Familiengeschichte hätte Tochter daran beteiligt, das Manuskript
** Hans Magnus Enzensberger: „Hammerstein oder Der man früher nichts erfahren können. Dar- den Kommunisten zuzuspielen. Wie wich-
Eigensinn“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 376 über ließ sich erst jetzt etwas finden, zum tig war diese Rede nach Ihrer Meinung?
Seiten; 22,90 Euro.
Das Gespräch führten die Redakteure Volker Hage und Beispiel in Moskau: Zwei der Hammer- Enzensberger: Hitler hat darin seine
Matthias Matussek. stein-Töchter hatten sich in junge Kommu- Kriegspläne angekündigt. Die Generäle
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Kultur

nahmen das hin. Hammerstein sah die Ka-


tastrophe voraus. Er war der einzige hoch-
gestellte Militär, der vom ersten Moment
an gesagt hat: „Da mache ich nicht mit.“
Das allein wäre schon ein Grund, sich mit
ihm zu beschäftigen. Aber auch sein
ganzer Clan war höchst merkwürdig. Jedes
seiner sieben Kinder wäre eigentlich eine
eigene Biografie wert, weil sie höchst ver-
schiedene und zum Teil recht abenteuer-
liche Dinge gemacht haben. Einer der Söh-
ne war am 20. Juli im Bendlerblock dabei.
SPIEGEL: Bewundern Sie Hammerstein?
Enzensberger: Eine gewisse Bewunderung
kann ich nicht verhehlen, schon weil dieser
Herr von Hammerstein sich konträr zu sei-
ner Sozialisation verhalten hat. Der Mili-
täradel war ja ein sehr kompaktes Milieu.
Man hatte sich dort an alle möglichen un-
geschriebenen Spielregeln zu halten. Dabei
hat er von Anfang an nicht mitgespielt.
SPIEGEL: Immerhin hat er eine steile militä-
rische Karriere gemacht.
Enzensberger: Hammerstein ist zur Kaiser-
zeit in einem Eliteregiment ausgebildet
worden. In der Weimarer Republik stieg er
auf, am Ende war er der Chef der Armee.
Und die Reichswehr war in dieser Republik
eine der wenigen Institutionen, die funk-
tioniert haben. Hammerstein war, schon

DIETER MAYR
aufgrund seiner sehr guten Verbindungen,
ein einflussreicher Mann.
SPIEGEL: Hitler konnte er aber auch nicht
verhindern. In Ihrem Buch vermuten Sie, Autor Enzensberger: „Ebenso langwierige wie amüsante Detektivarbeit“
dass 1933 seine größte Angst der Bürger-
krieg war. SPIEGEL: Hätte Hammerstein, wenn er noch lich eine massive Mehrheit für sich, sowohl
Enzensberger: Der Bürgerkrieg war damals gelebt hätte, 1944 beim Attentat auf Hitler in der Bevölkerung als auch in der Armee.
das große Gespenst. Und er war ja schon mitgemacht? SPIEGEL: Wenn Sie schon in den fünfziger
latent im Gange, auf der Straße kämpften Enzensberger: Es spricht einiges dafür, ei- Jahren über Hammerstein geschrieben hät-
bereits die Milizen. Das war der eine Ge- niges dagegen. Er hat mehrfach die These ten, wäre Ihr Urteil anders ausgefallen?
sichtspunkt. Zum andern befürchtete geäußert: Die Deutschen müssen diese Enzensberger: Das weiß ich nicht. Manche
Hammerstein, dass die Reichswehr ideolo- Suppe auslöffeln, sonst gibt es eine neue haben den Leuten vom 20. Juli ja damals
gisch schon so weit infiziert war, dass sie Dolchstoßlegende, und Hitler wird zum vorgeworfen, dass sie nicht mit dem
gar nicht kämpfen würde oder – was für Mythos: „Die Verschwörer haben ihn ver- Grundgesetz der Bundesrepublik Deutsch-
den Chef der Armee noch schlimmer ge- raten, sonst hätten wir den Krieg gewon- land unterm Arm angetreten sind. Ich hof-
wesen wäre – dass Armee auf Armee ge- nen.“ Nach Stalingrad hätte die Sache für fe, ich hätte nicht so gedacht. Natürlich
schossen hätte. Das wollte er fast um jeden Hammerstein vielleicht anders ausgesehen. gab es bei den Attentätern anachronisti-
Preis vermeiden. Aber er hat alles getan, Aber er ist ja schon bald danach gestorben. sche Vorstellungen. Ihnen schwebte ein
was er konnte, um Hitler zu verhindern. Und solange Hitler siegte, hatte er tatsäch- Ständestaat oder dergleichen vor. Also
hieß es bei den Linken: „Das waren Jun-
ker, Aristokraten. Mit denen wollen wir
Kurt von Hammerstein-Equord nichts zu tun haben.“ Und bei den Rechten
wurde schon im Knabenalter auf die Militär- Beginn des Zweiten Weltkriegs noch einmal für konnte man immer wieder hören: „Das
laufbahn vorbereitet: Der Adelsspross, in des- wenige Wochen reaktiviert. Mit seiner Frau sind Vaterlandsverräter.“
sen Familie der Offiziersberuf Tradition hatte, Maria, einer Generalstochter, hatte er sieben SPIEGEL: Sie unterhalten sich mit Ihrem
kam im Alter von zehn Jahren auf die Ka- Kinder, die zum Teil recht eigene Wege gingen. Helden und anderen längst verstorbenen
dettenschule Plön. Hammerstein Die älteren drei Töchter Marie Lui- Zeitzeugen in Form fiktiver Totenge-
(1878 bis 1943) wurde im Ersten se, Maria Therese und Helga waren spräche. Hätten Sie mit Ihrer Recherche
Weltkrieg in den Generalstab auf- mit Kommunisten befreundet, zwei nur ein paar Jahre eher begonnen, wären
genommen und 1930 Chef des der drei Söhne, Kunrat und Lud- zumindest noch persönliche Gespräche mit
Heeres. wig, gehörten zum Kreis der Atten- den drei älteren Töchtern Hammersteins
In Hammersteins Dienstwohnung täter des 20. Juli 1944. möglich gewesen. Sie starben zwischen
im Bendlerblock hielt Hitler am In seinem Buch „Hammerstein 1999 und 2001.
3. Februar 1933 jene Geheimrede oder Der Eigensinn“ montiert der Enzensberger: Stimmt.
vor den Generälen, in der er seine Schriftsteller Hans Magnus Enzens- SPIEGEL: Oder sprechen Sie lieber mit To-
Kriegspläne offenlegte. Im Januar berger Zitate, historische Glossen ten? Weil das Ihrer Phantasie mehr Spiel-
1934 trat Hammerstein von sei- und Totengespräche zu einer eigen- raum lässt?
nem Amt zurück, wurde aber zu willigen Biografie. Enzensberger: Nein. Bei diesen Unterhal-
tungen geht es darum, den Abgrund zu
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Kultur

überbrücken, der uns von den Menschen


trennt, die damals zwischen die Mühlstei-
ne gerieten. Ohne historische Phantasie ist
das nicht möglich.
SPIEGEL: Sie haben mit Mitgliedern der Fa-
milie von Hammerstein Kontakt gehabt?
Enzensberger: Ich habe alle Überlebenden,
sogar die Enkel, aufgesucht. In Hamburg
lebt zum Beispiel eine Dame, die einen
Sohn Hammersteins geheiratet hat. Sie hat-
te einen fabelhaften Schatz an Fotografien
und Briefen gesammelt. Meine Recherche
war eine ebenso langwierige wie amüsan-
te Detektivarbeit. Zuerst musste ich natür-
lich das Vertrauen der Familie gewinnen.
Dort wusste man zum Teil gar nicht, wer
da bei ihnen anklopfte. Manche waren zu-
erst etwas skeptisch, aber dann haben sie
mir sehr geholfen.
SPIEGEL: Franz Jung hatte sich in den fünf-
ziger Jahren an einem Roman unter dem
Titel „Die Hammersteins“ versucht, der
auch als Filmdrehbuch geplant war.
Enzensberger: Das ist nicht gutgegangen,
weil er seiner Phantasie freien Lauf ließ.

FAMILIENARCHIV DER FAMILIE VON HAMMERSTEIN

Hammerstein-Ehefrau Maria, Töchter*


„Zum Teil recht abenteuerliche Dinge“

SPIEGEL: Haben Sie deshalb von Anfang an


auf die Romanform verzichtet?
Enzensberger: Ja. Ich wollte ohne Fiktion
auskommen. Der Leser muss sich auf mei-
nen Bericht verlassen können.
SPIEGEL: Sie haben den Text in übersicht-
liche Abschnitte aufgeteilt, verschiedene
Tonlagen gewählt. Neben den Totenge-
sprächen gibt es Essays und Glossen.
Enzensberger: Die Glossen und die Ge-
spräche muss ich auf meine Kappe neh-
men. Aber der erzählerische Text, der die
Dokumente verbindet, hält sich an die Tat-
sachen. Da muss alles belegbar sein.
SPIEGEL: Auf der anderen Seite misstrauen
Sie aber auch den Dokumenten.
Enzensberger: Die Quellenkritik gehört
zum Handwerkszeug jedes anständigen
Historikers. Bei jedem Dokument muss
man fragen, warum ist das entstanden, was
waren die Motive? Hat das jemand frei-
willig oder unter Zwang geschrieben? Ist es
später manipuliert worden?
SPIEGEL: Vieles in Ihrem Buch würde in
einem Roman unglaubwürdig wirken.

* Marie Luise, Maria Therese und Helga; um 1918.

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Enzensberger: Ich habe beim Schreiben Im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom
auch oft gedacht: Einem Romancier hätte
man das nicht abgenommen.
Jahresbestseller 2007 Fachmagazin „buchreport“; nähere
Informationen und Auswahlkriterien finden Sie
online unter: www.spiegel.de/bestseller

SPIEGEL: Sie selbst sind relativ unbeschadet


Belletristik Sachbücher
durch den Krieg gekommen. Wie standen
Ihre Eltern zum Nationalsozialismus? 1 Joanne K. Rowling 1 Hape Kerkeling
Enzensberger: Ich hatte Glück mit ihnen. Harry Potter und Ich bin dann
Sie hielten nichts von der NSDAP. Was die Heiligtümer mal weg
meinen Vater betrifft – bei ihm war, glau- des Todes Malik; 19,90 Euro
be ich, 1934 der entscheidende Moment. Carlsen; 24,90 Euro
Ich habe in seinen Papieren eine Zeitung Ende gut, alles gut: Die Freude an der Selbst-
aus dem Juli 1934 gefunden: mit Berichten Der kleine Magier nimmt überwindung auf dem
über den Schleicher-Mord und den soge- seinen Zauberhut und steinigen Jakobsweg
verabschiedet sich von machte den Reisebericht
nannten Röhm-Putsch. Das war für ihn der Kindheit und Leserschaft des Komikers zum Renner
erste weithin sichtbare Verstoß gegen die
Legalität von Seiten der Regierung. Von 2 Joanne K. Rowling Harry Potter 2 Benedikt XVI. Jesus von Nazareth
da an wollte er nicht mehr mitmachen. and the Deathly Hallows Herder; 24 Euro
SPIEGEL: Er war Fernmeldetechniker.
Enzensberger: Er war Spezialist für Tele-
Bloomsbury; 28,90 Euro (unverbindl. Preisempfehlung) 3 Rhonda Byrne The Secret –
kommunikation, wie man heute sagt. Nicht 3 Andrea Maria Schenkel Tannöd Das Geheimnis Goldmann; 16,95 Euro
ohne Stolz sagte er: „Telefonieren wollen Edition Nautilus; 12,90 Euro 4 Eva-Maria Zurhorst
sie alle.“ Er war ein sehr angesehener Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro
Fachmann. Er sollte nach Berlin ins Minis- 4 Cornelia Funke Tintentod
C. Dressler; 22,90 Euro 5 Roberto Saviano Gomorrha
terium, das hat er abgelehnt. Dann wollte
Hanser; 21,50 Euro
man ihn ins Generalgouvernement verset- 5 Tommy Jaud Millionär
zen. Auch da hat er nein gesagt. Scherz; 13,90 Euro
6 Richard Dawkins Der Gotteswahn
SPIEGEL: Wie haben Sie selbst die Zeit er- Ullstein; 22,90 Euro
lebt? Bei Kriegsende waren Sie 15 Jahre 6 Julia Franck Die Mittagsfrau
7 Susanne Fröhlich / Constanze
alt. Sie waren auch in der Hitler-Jugend. S. Fischer; 19,90 Euro
Kleis Runzel-Ich – Wer schön
Enzensberger: Natürlich. Das war ja Zwang.
7 Daniel Kehlmann Die Vermessung sein will ... W. Krüger; 14,90 Euro
SPIEGEL: Gewissermaßen. Sie sind dann im-
merhin unehrenhaft entlassen worden. der Welt Rowohlt; 19,90 Euro 8 Petra Gerster Reifeprüfung –
Enzensberger: Ich wurde einfach rausge- 8 Marina Lewycka Die Frau von 50 Jahren
schmissen. Das war keine politische Tat. Es Kurze Geschichte des Traktors Rowohlt Berlin; 19,90 Euro
hat mir nur nicht gepasst, dass man mich auf Ukrainisch dtv; 14 Euro 9 Veronika Peters Was in zwei
dauernd herumkommandieren wollte. Koffer passt – Klosterjahre
SPIEGEL: Wie war die Nachkriegszeit für Sie? 9 Cornelia Funke Tintenherz Goldmann; 18 Euro
Enzensberger: Als die Amerikaner endlich C. Dressler; 19,90 Euro
da waren, konnte ich mein bisschen Eng- 10 Tiziano Terzani Das Ende ist
10 Andrea Maria Schenkel Kalteis mein Anfang DVA; 19,95 Euro
lisch einsetzen, das ich einem guten Lehrer
Edition Nautilus; 12,90 Euro
in der Schule verdankte. Wir lebten nach 11 Eric Clapton Mein Leben
der Evakuierung wegen der Bombenan- 11 Khaled Hosseini Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro
griffe auf dem Land in der Nähe von Nörd- Tausend strahlende Sonnen 12 Ulrich Wickert Gauner muss man
lingen, und da konnte ja kein Mensch Eng- Bloomsbury Berlin; 22 Euro Gauner nennen Piper; 19,90 Euro
lisch. Ich war neugierig, habe mich sofort
mit den Amerikanern unterhalten und 12 Donna Leon Wie durch ein 13 Peter Scholl-Latour Zwischen den
wurde dann Dolmetscher in der proviso- dunkles Glas Diogenes; 21,90 Euro Fronten Propyläen; 24,90 Euro
rischen Stadtverwaltung. Später arbeitete 14 Markus Lanz Und plötzlich guckst
13 Henning Mankell Die italienischen
ich auch noch als Barmann in der Offi- du bis zum lieben Gott –
Schuhe Zsolnay; 21,50 Euro
ziersmesse. Man hat sich durchgeschlagen, Die zwei Leben des Horst Lichter
natürlich auch mit dem Schwarzhandel. 14 Milena Agus Die Frau im Mond Gütersloher Verlagshaus; 19,95 Euro
SPIEGEL: Zigaretten, Whisky? Hoffmann und Campe; 14,95 Euro
Enzensberger: Ja. Das war ein kurzer Lehr- 15 Bernhard Bueb Lob der Disziplin
gang in Sachen Kapitalismus. Ich hatte am 15 J. R. Moehringer Tender Bar List; 18 Euro
Schluss vielleicht 30 000 Zigaretten, das S. Fischer; 19,90 Euro
16 Rüdiger Safranski Romantik –
war eine Menge Geld. Und da habe ich 16 Joanne K. Rowling Harry Potter Eine deutsche Affäre Hanser; 24,90 Euro
mir gedacht: „Jetzt weiß ich, wie es geht. und der Halbblutprinz
Das genügt eigentlich. Man muss das nicht 17 Manfred Lütz Gott – Eine kleine
das ganze Leben lang machen.“
Carlsen; 22,90 Euro Geschichte des Größten
SPIEGEL: Wo war Ihr Vater? Pattloch; 19,95 Euro
17 Dieter Hildebrandt Nie wieder
Enzensberger: Der war im zerbombten achtzig! Blessing; 19,95 Euro 18 Sabine Asgodom Lebe wild und
Nürnberg geblieben. Er musste dort die unersättlich! Kösel; 14,95 Euro
Telefonleitungen zusammenflicken. Zuvor 18 Cecelia Ahern Vermiss mein nicht
19 Eduard Augustin / Philipp von
hatten ihn die Nazis noch wegen Wehr- W. Krüger; 16,90 Euro
kraftzersetzung verhaftet. Er saß im Ge- Keisenberg / Christian Zaschke
19 Cornelia Funke Tintenblut Ein Mann – Ein Buch
fängnis, als die Amerikaner kamen. Die C. Dressler; 22,90 Euro Süddeutsche Zeitung; 19,90 Euro
haben ihn rausgeholt.
SPIEGEL: Beim Schreiben Ihres Buches – 20 Stephenie Meyer Bis(s) zur 20 Karl Lauterbach Der
haben Sie sich da gefragt, wie sich die Ver- Mittagsstunde Carlsen; 19,90 Euro Zweiklassenstaat Rowohlt Berlin; 14,90 Euro
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 135
Kultur

gangenheit überhaupt vermitteln lässt?


Was kann man heute voraussetzen?
Enzensberger: Meine Tochter ist jetzt 21,
und ich kenne auch ihre Freunde ganz gut.
Einmal waren viele Schüler und Studenten
da, und ich habe gefragt: „Was ist eigent-
lich die Komintern?“ Das wussten sie
nicht. Dann muss man das eben erklären –
so diskret wie möglich, weil sich sonst
andere ärgern, die Bescheid wissen.
SPIEGEL: Sie zeigen in Ihrem Buch an-
schaulich, wie wenig die Realität mit dem
Bild der zwanziger Jahre als „Golden
Twenties“ zu tun hatte.
Enzensberger: Ich finde diesen Begriff
ziemlich obszön. Die Weimarer Republik
war von Anfang an, fast möchte ich sagen,
eine Missgeburt. Ihre kulturelle Blüte ge-
dieh auf einem politischen Misthaufen.
SPIEGEL: Wie lange haben Sie an dem Buch
geschrieben?
Enzensberger: Drei Jahre, einschließlich Re-
DONATA WENDERS

cherche. Die Arbeit in den Archiven war


spannend und voller Überraschungen. Das
Militär und die Aristokratie waren fremde
Lebenswelten für mich.
SPIEGEL: Keine Scheu vor fremdem Ter- „The Palermo Shooting“-Macher Hopper, Wenders, Campino: „Allgegenwärtiger Tod“
rain?
Enzensberger: Im Gegenteil. Ich will mich
KINO
bei der Arbeit nicht langweilen. Das ist die
Hauptsache. Das ist doch bei Ihrem Maga-
zin nicht anders.
SPIEGEL: Sie sind jetzt 78. Ist das Alter für
Sie kein Thema? Wenn Sie an Romane wie
Martin Walsers „Angstblüte“ denken?
Der sizilianische Freund
Oder an Günter Grass und seinen Ge-
Der Regisseur Wim Wenders dreht mit dem Sänger Campino und
dichtband „Letzte Tänze“? Von Ihnen hört dem Hollywood-Star Dennis Hopper den Film
man da eigentlich nur Entspanntes. „The Palermo Shooting“ – mit vielen Schießereien, aber ohne Mafia.
Enzensberger: Ach, das Alter! Das ist, so-

J
lange das Gehirn noch arbeitet, kein inter- etzt nicht noch eine Demo! Wim Wen- ist die Demonstration, dieser vermeintliche
essantes Thema für mich. Vielleicht hat das ders steht auf dem Quattro Canti, dem Akt des Widerstands der Stadt gegen den
auch mit einem gewissen Mangel an auto- belebtesten Platz der Stadt Palermo, Film, in Wahrheit eine großzügige Geste.
biografischem Interesse zu tun. Man erfährt und schaut ungläubig. Von fern sind Tril- So viele hochmotivierte Statisten wären
nicht viel, wenn man sich im Spiegel be- lerpfeifen zu hören. Eben erst sind dem selbst hier, wo mit Geld vieles zu kaufen
trachtet. Ich finde die anderen spannender. Regisseur 30 Vespas durch die Einstellung ist, zu teuer.
SPIEGEL: Sie arbeiten jedenfalls nicht an gebrettert, mit Hupkonzert, versteht sich. „Ich mag es total gern, dass wir uns von
Ihrer eigenen Monumentalisierung. Dann wieder quälte sich ein Pferdefuhr- der Stadt jeden Tag beeinflussen lassen
Enzensberger: Das wäre unergiebig. Aller- werk wie in Zeitlupe über den Platz. Und und das Drehbuch umschreiben können“,
dings will ich damit keine Regel für ande- nun eine Demonstration. Die zweite heute. sagt Campino, nachdem er den Quattro
re aufstellen. Ich bin da sehr katholisch: Wenders blickt seinen Kameramann Canti bei tosendem Verkehr viele Male un-
Macht, was ihr wollt! Ich sage nur: Für Franz Lustig an, der mit den Achseln beschadet überquert hat.
mich persönlich ist das kein großes Thema. zuckt. Hauptdarsteller Campino spielt rat- Der Frontmann der Toten Hosen spielt
SPIEGEL: Was lesen Sie gern? los an der Fotokamera herum, die er in den erfolgsverwöhnten deutschen Foto-
Enzensberger: Ich freue mich ja über jedes den Händen hält. Als die ersten Fah- grafen Finn, der in der sizilianischen Me-
Lebenszeichen. Ich freue mich über Peter nenträger mit lautem Gejohle den Platz tropole die Liebe seines Lebens findet
Sloterdijk und Alexander Kluge, ich freue erreichen, ruft Wenders: „Drehen! Einfach (gespielt von Giovanna Mezzogiorno) und
mich über Durs Grünbein, ich freue mich drehen.“ Im Nu begibt sich Campino ins dem Tod ins Angesicht blickt. Man merkt,
jedes Mal, wenn jemand das Mittelmaß Getümmel, Lustig folgt mit seiner leichten dass es Campino Spaß macht, sich in den
überschreitet. Kamera, sie lassen sich treiben im Strom Rhythmus der Stadt einzugrooven.
SPIEGEL: Was meinen Sie mit Mittelmaß? der aufgebrachten Menge. „Dieser Rhythmus geht allerdings auf
Enzensberger: Na, wenn es um die Freundin „Palermo vergessen“, so hieß einer der die Knochen“, sagt Wenders, der in dem
geht, die einem davongelaufen ist, oder letzten großen Filme über diese Stadt. Chaos erstaunlich gelassen bleibt. Als der
um irgendwelche Ehebrüche, diese ganzen Drehbuch vergessen, sagt sich Wenders, von der Produktion angeheuerte Taxifah-
blöden Toskana-Romane. Wenn aber je- der sie mit seinem Film „The Palermo rer aber zum dritten Mal an der falschen
mand sagt: „Ich habe da etwas, was ihr Shooting“ neu entdecken will. Stelle hält und damit erneut die Einstel-
noch nicht gehört habt.“ Das ist doch viel Jeden Tag zwingt sie den Regisseur, vom lung ruiniert, übertönt der „Scheiße“-Ruf
schöner. Plan abzuweichen und radikal umzuden- des Regisseurs sogar die Vespas.
SPIEGEL: Herr Enzensberger, wir danken ken, als wehrte sie sich dagegen, dass er „Heute mitten im Stadtzentrum war’s
Ihnen für dieses Gespräch. sich ein Bild von ihr macht. Doch vielleicht das Panikorchester“, sagt Wenders, als die
136 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
dem Restaurant, in dem Wenders mit sei-
nem Team gelegentlich isst, steht ein Poli-
zist mit Maschinenpistole. Der Besitzer hat
vor Gericht gegen die Leute ausgesagt, die
von ihm Schutzgelder eintreiben wollten.
Palermo ist keine Stadt, von der man
einfach so nach Belieben Bilder schießen
kann. Als der „Spex“-Chefredakteur Max
Dax hier Aufnahmen für seinen unlängst
erschienenen Fotoband machen wollte,
holte er die Erlaubnis eines lokalen Paten
ein. Dax bekam sie – musste dafür aber ei-
nige Exemplare des Buchs nach Sizilien
schicken. Nachdem sie eingetroffen waren,
ließ ihm der Pate mitteilen, ihm gefalle,
was er sehe.
Wird ihm auch gefallen, was er bei
Wenders sieht? Hat der Regisseur der
Mafia ein Angebot gemacht, das sie nicht
ablehnen konnte? Nein, nein, die Dreh-
genehmigungen seien unproblematisch
gewesen, sagt er. Man müsse nur die rich-

DONATA WENDERS
tigen Leute fragen. Tatsächlich öffneten
sich für ihn Türen zu mondänen Palästen
und düsteren Katakomben, in denen ein-
balsamierte Leichen aus mehreren Jahr-
Darsteller Campino, Mezzogiorno: In den Rhythmus der Stadt Palermo eingrooven hunderten aufgebahrt sind. Das ist die Un-
terwelt, die er zeigen will in seinem Film.
Szene endlich im Kasten ist. „Morgen da- seine Figur. Das Wandgemälde „Triumph Der Eingang zum Hades liegt bei
gegen wird’s Kammermusik: ein langer des Todes“ aus dem 15. Jahrhundert zeigt, Wenders im Stadtarchiv von Palermo.
Dialog zwischen Campino und Dennis wie der Tod auf einem halb skelettierten Campino tigert durch das Gebäude, macht
Hopper.“ Pferd durch eine Stadt reitet und mit Pfeil sich locker für das große Duell. Heute wird
Aufgeführt wird dieses Duett in einem und Bogen deren Einwohner tötet. Aus er, der Novize, der bisher nur wenige
erhabenen Konzertsaal: dem Stadtarchiv diesem Fresko hat Wenders die Geschich- Kurzauftritte vor der Kamera hatte, auf die
von Palermo. Hier lagern Akten aus meh- te seines Films entwickelt. Legende Hopper treffen.
reren Jahrhunderten, dicke, verstaubte, in „Im Zentrum des Films steht die Spiri- „Im Sommer 2006, als ich in Berlin in
Leder gebundene Folianten. Hier trifft der tualität der Stadt“, erzählt er. „Palermo der ,Dreigroschenoper‘ den Mackie Messer
Fotograf Finn auf seine Nemesis: den Tod, hat eine einzigartige Beziehung zum Tod. dargestellt habe, musste ich Tuchfühlung
gespielt von Hopper. Die Menschen hier sind sehr lebensfroh, mit Theaterschauspielern aufnehmen, und
„Ich finde es nett, dass Wim mir die gehen aber mit dem Tod recht drastisch das war nicht immer ein Spaß“, sagt Cam-
Gelegenheit gibt, dem Tod meine Stimme um, oder anders gesagt: erschreckend nor- pino. „Da hat so mancher versucht, den
zu leihen“, sagt Hopper, bleich geschminkt mal. Der Tod ist hier allgegenwärtig. Die anderen auszutricksen.“
und wenige Stunden zuvor in der Maske Häuser sind mit Totenköpfen verziert, und Doch beim Film, versichert ihm Wen-
kahlgeschoren. Dann lacht der 71-Jährige das größte Fest ist die Fiesta del Morte, ders, wisse jeder Schauspieler, dass er nur
diabolisch: „Jetzt, wo das letzte Kapitel Allerseelen. Da wird den Kinder weis- dann gut rüberkommt, wenn auch der
meines Lebens aufgeschlagen wird.“ gemacht, dass sie die Geschenke von ver- Leinwandpartner stark ist. Und im Gegen-
Über 30 Jahre ist es her, dass der Star storbenen Familienmitgliedern bekommen satz zum Tod, der seinem Gegenüber alles
und Wenders zum ersten und letzten Mal – und nicht vom Christkind oder vom nehme, sei Dennis Hopper ein Schauspie-
zusammengearbeitet haben, bei der Patri- Weihnachtsmann.“ ler, der den anderen sehr viel gebe.
cia-Highsmith-Adaption „Der amerikani- So wird auch der Fotograf Finn vom Tod Bald darauf stehen sich die zwei Haupt-
sche Freund“ mit Bruno Ganz. Hopper verfolgt, erst in seinen Träumen, später in darsteller gegenüber: Hoppers Antlitz wird
war damals direkt von den Dreharbeiten Gestalt von Hopper. Und es wird viel ge- von einem Scheinwerfer aus dem Dunkel
zu „Apocalypse Now“ nach Hamburg schossen. Mit Kamera und Linse, mit Pfeil geschnitten, Campino hält eine Laterne in
gekommen, in voller Vietnam-Montur. Er und Bogen. „Wie heißt der Film?“, fragt der Hand. „Suchst du den Ausgang?“, fragt
hatte noch die Kameras um den Hals bau- ein Passant am Straßenrand. „Ach, ,Paler- der Tod den Fotografen und ruft dann:
meln, die er als Kriegsreporter in Francis mo Shooting?‘ Es geht also um die Mafia!“ „Ich bin der Ausgang!“
Ford Coppolas Film stets mit sich trägt. Nein, es geht nicht um die ehrenwerte Ge- Schon nach dem zweiten Take ist Wen-
Heute ist Hopper selbst ein gefeierter sellschaft, die sich in Palermo zwar diskret ders mit der Einstellung zufrieden; sein
Fotograf. In Palermo hat er mit einer Digi- aus dem Stadtbild, aber nicht aus den Köp- Team bereitet sofort die nächste vor. „Ich
talkamera Fotos von Häuserwänden ge- fen der Einwohner zurückgezogen hat. mag es sehr, dass sich Wim schnell ent-
macht und zeigt sie mit einer Mischung Vor gut 15 Jahren wurde Mafia-Jäger scheiden kann“, sagt Hopper. „Coppola
aus Entdeckerstolz und Melancholie. „In Giovanni Falcone vor den Toren der Stadt dreht oft zig Takes von einer Einstellung
der Sekunde, in der man einen Augenblick in seinem Wagen mit einer Sprengladung und kann einen damit an den Rand des
in einem Bild festhält, ist er schon Teil der getötet, die einen 30 Meter großen Krater Wahnsinns treiben.“
Vergangenheit“, meint Hopper. „Es gibt in die Autobahn riss. Die Regierung in Manchmal ist es beim Film eben wie bei
zweifellos einen Zusammenhang zwischen Rom antwortete mit konsequenter Verfol- einem echten Duell auf Leben und Tod:
der Fotografie und dem Tod.“ gung, Militäreinsätzen und Sondergeset- Da muss man nicht möglichst oft, sondern
Vormittags war Hopper im Palazzo Aba- zen. Seither meidet die Mafia den offenen möglichst schnell schießen, um genau das
tellis und holte sich dort Inspiration für Konflikt mit der Staatsmacht. Doch vor Richtige zu treffen. Lars-Olav Beier

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 137
Kultur

Der Lichtspielleiter
Nahaufnahme: Im Alter von 95 Jahren legt der Münsterländer
Kinobetreiber Leo Mühlenkamp zum letzten Mal die Spule auf.

S
anft fährt er über den Projektor, als 1928 ein zweites Kino, die „Schauburg“, tagnachmittag“, erzählt er, „ging der Ka-
streichle er einen treuen Freund, auf nahe bei der evangelischen Kirche. Damit plan durch die Reihen und holte die Ju-
den er sich stets verlassen konnte. Leo standen sich die zwei größten Herausfor- gendlichen raus, wenn der Film nicht ganz
Mühlenkamp geht noch einmal durch den derungen des Katholizismus in Oelde di- 100-prozentig war. Aber Oswalt Kolle ha-
Vorführraum seines Kinos, in dem er wohl rekt gegenüber. ben wir trotzdem gezeigt.“
mehr Zeit verbrachte als im eigenen Wohn- In der „Schauburg“ bekam Mühlen- Mit der Überlebenskunst des gewieften
zimmer. Mühlenkamp ist 95, der Älteste kamps Bruder Franz einen echten Stein- Geschäftsmannes hat Mühlenkamp das
seiner Zunft in ganz Deutschland, und zum way-Flügel, um die Stummfilme zu beglei- Kino durch alle Krisen geführt. Er musste
Jahreswechsel hört er auf. ten. „Sein Schulfreund Heidenreich spiel- die zwei großen Häuser nacheinander
Doch der Projektor wird weiterlaufen. te die Geige und Lehrer Busch von der dichtmachen, ist aber immer noch stolz
Ein Nachfolger, der Mühlenkamps Kino Volksschule das Cello. Und dann kam noch auf die winzig kleinen Verzehrkinos im
in der münsterländischen 30 000-Einwoh- der Trommler der Oelder Feuerwehr- heutigen „Film-Zentrum“, die gegenüber
ner-Stadt Oelde überneh- den modernen Multiplexen
men wird, hat sich gefun- nun ihrerseits wie Relikte
den: Thomas Füßner ist al- aus der Schuhkarton-Ära
lerdings 73 Jahre jünger des Kinos wirken.
und muss erst noch einige Hier saß Mühlenkamp
Kniffe lernen. „Machen Sie bis ins hohe Alter an der
die Heizung aus, wenn die Kasse, verkaufte Süßigkei-
Projektoren laufen“, raunt ten, warf den Projektor an
Mühlenkamp dem jungen und beobachtete mit Ar-
Mann im Verschwörerton gusaugen die kleine Tafel
zu. „Dann ist es warm ge- mit den roten Leuchtdio-
nug, und Sie sparen Heiz- den über der Theke; fla-
kosten!“ ckerte ein Lämpchen auf,
Seit genau 60 Jahren be- hatte ein Zuschauer in ei-
treibt Mühlenkamp in Oelde nem der Kinos auf einen
Kinos, das jetzige „Film-Zen- Knopf gedrückt, um ein
FOTOS: CHRISTOPH GÖDAN
trum“ mit drei Sälen eröff- Getränk zu bestellen. Das
nete er 1982. Sein Vater Leo leise Flüstern Mühlenkamps
hatte in der Stadt schon vor im Dunkeln und das Klim-
dem Ersten Weltkrieg mit pern des Kleingelds gehör-
dem Lichtspielbetrieb ange- ten zum akustischen Be-
fangen. In einer Urkunde Kinobetreiber Mühlenkamp: Überlebenskünstler in allen Krisen gleitprogramm jeder Vor-
vom 21. Juni 1913 erteilte der führung.
Oelder Amtmann dem Gastwirt Leo Müh- kapelle dazu! Ja, wir hatten ein richtiges Heute verdienen die Kinos mit Popcorn
lenkamp und dem Kupferschmied Wilhelm Orchester.“ Wie stimmten sich denn die und Cola mehr Geld als mit dem Verkauf
Schürhoff die „Genehmigung zur Veranstal- Musiker während des laufenden Films ab? von Eintrittskarten; 1982 war Mühlenkamp
tung einer Lustbarkeit“. „Och, der Franz nickte, und der Trommler mit seinem Konzept also reine Avantgarde.
Der Festsaal der Stadt Oelde, in dem haute rein.“ Nun kommen die Raucher aus der gan-
Hochzeiten gefeiert, Schützenkönige ge- Als Kind hat Mühlenkamp sie noch mit- zen Umgebung nach Oelde, um gleichzei-
krönt wurden und Tanzlehrer Wiesrecker erlebt, die Adoleszenz des Kinos, als die tig qualmen und gucken zu können.
auch dem behäbigsten Westfalen die hohe Bilder erst laufen und dann sprechen lern- Aber die Leinwand, sagt Mühlenkamp,
Kunst der flotten Sohle beibrachte, wurde ten. Er kann sich noch erinnern, wie der sei davon schon recht grau geworden. Na
von Mühlenkamp senior mit dem technisch erste Tonfilm ins Kino kam, „Der Jazz- ja, im neuen Jahr sei auch damit Schluss.
bewanderten Kupferschmied für den Kino- sänger“ mit Al Jolson; er weiß noch genau, Und in seine Wehmut mischt sich Erleich-
betrieb umgebaut. Dafür musste allerdings wie die deutschen Revuefilme in den terung.
eine Wand durchbrochen und der Pro- dreißiger Jahren einen derartigen Andrang Im Schützenverein ist Mühlenkamp das
jektor in einem Badezimmer des Hotels fanden, dass sich die Zuschauer im Ge- älteste Mitglied, auch im Kegelclub „Böse
aufgestellt werden, zu dem der Festsaal wühl vor dem Kino die Anzugsknöpfe Buben“. Drei seiner Klassenkameraden le-
gehörte. abrissen. ben noch. Weil sie etwas wacklig auf den
„Das war eine Sensation damals“, sagt 1947 übernahm Mühlenkamp die Kinos Beinen sind, holt Mühlenkamp sie manch-
Mühlenkamp, „denn weit und breit gab es von seinem Vater, erlebte mit dem Boom mal mit seinem Wagen für eine kleine
ja kein anderes Kino.“ Das „Universum“- des Heimatfilms goldene Zeiten, musste Spritztour von zu Hause ab. Zum Kino
Lichtspielhaus brummte bald, von den Hö- sich aber auch mit der Kirche anlegen, fährt er lieber mit dem alten Rad, eine
fen und aus den Nachbarorten kamen die wenn er Filme wie „Die Sünderin“ zeigte, Luftpumpe hat er nicht dabei – obwohl
Menschen nach Oelde, um bewegte Bilder in dem Hildegard Knef für einen winzigen dem Rad sicher viel eher die Luft weg-
zu sehen. So baute Mühlenkamps Vater Moment nackt zu sehen war. „Jeden Sonn- bleibt als dem Fahrer. Lars-Olav Beier

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140 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Chronik 21. bis 28. Dezember SPIEGEL TV

Ein Straßenjunge DIENSTAG, 1. 1.


in Jakarta 23.00 – 23.50 UHR VOX
bettelt mit
einem Affen
SPIEGEL TV EXTRA
um Almosen von Auf der Reeperbahn nachts um 11 – ein
Passanten. Supermarkt in Hamburg-St. Pauli, Teil 2
Ladendiebstähle, Schlägereien und Ver-
stöße gegen das Hausrecht: Mitarbei-
ter und Polizei haben alle Hände voll zu
tun, wenn sich König Kunde daneben-
benimmt.

FREITAG, 4. 1.
22.45 – 0.45 UHR VOX
SPIEGEL TV THEMA
Die Chemie des Todes –
JEWEL SAMAD / AFP

Mordermittlung im Labor, Teil 1/3


Ein Mensch wird brutal getötet, der Täter
hinterlässt keine Spuren, das Motiv bleibt

F R E I TA G , 2 1 . 1 2 . D I E N S TA G , 2 5 . 1 2 .

BELGIEN Die längste Regierungskrise in FAMILIENDRAMEN Eine 37-jährige Frau aus


der Geschichte des Landes geht zu Ende. der Oberpfalz erstickt ihre beiden zwei
Ministerpräsident wird erneut Guy Ver- und drei Jahre alten Söhne, sie wird in
hofstadt. die Psychiatrie eingewiesen; ein 43-jähri-
ger Münchner bringt erst seinen acht-
S A M S TA G , 2 2 . 1 2 . jährigen Sohn um und anschließend sich
selbst.
AFGHANISTAN Mit einem Blitzbesuch in
Kabul demonstriert Frankreichs Präsi- RÜSTUNG Die russische Marine testet eine Sicherung von Spuren am Tatort
dent Nicolas Sarkozy den Willen seines neue atomare Interkontinentalrakete.
Landes, sich weiterhin an der Seite der verborgen. Verbrechen, die noch vor we-
Alliierten im Kampf gegen den Terror zu MITTWOCH, 26. 12. nigen Jahren ein Fall für die Akten wa-
engagieren. ren, können Experten heute mit Hilfe
KINDESENTFÜHRUNG I Sechs französische
GEHÄLTER Goldman-Sachs-Chef Lloyd Aktivisten der Hilfsorganisation L’Arche modernster Kriminaltechniken aufklären.
Blankfein erhält mit 67,9 Millionen Dollar de Zoé werden in der Hauptstadt des
den höchsten Bonus in der Geschichte Tschad wegen versuchter Entführung zu SONNTAG, 6. 1.
der Wall Street. je acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt. 22.15 – 23.00 UHR RTL
Sie wollten im Oktober 103 vermeintliche SPIEGEL TV MAGAZIN
S O N N TA G , 2 3 . 1 2 . Waisenkinder nach Paris ausfliegen.
Vor uns die Sintflut –
NEPAL Die Regierung des Himalaja-Staa- NATURGEWALT Nach tagelangem, schwe- Schwerpunktthema Meeresspiegelanstieg
tes beschließt die Abschaffung der jahr- rem Regen werden in Indonesien über Tödliche Gefahr Sturmflut – wie sicher
hundertealten Monarchie. 130 Menschen von Schlammlawinen sind Deutschlands Küsten?; Mörderischer
getötet. Zyklon – Reportage aus Bangladesch;
UMFRAGE 32 Prozent der Deutschen er-
warten, dass es ihnen 2008 schlechter ge- Holland in Not – Leben mit dem Hoch-
D O N N E R S T A G , 2 7. 1 2 . wasser; Kampf gegen den Untergang –
hen wird – so viele wie seit sechs Jahren
nicht mehr. ATTENTAT Die pakistanische Oppositions- Strategien zur Rettung Venedigs.
führerin Benazir Bhutto kommt bei einer
M O N TA G , 2 4 . 1 2 . Wahlkampfveranstaltung durch ein At-
tentat ums Leben. Das Terrornetzwerk
PREDIGT In seiner weihnachtlichen Mitter-
al-Qaida bekennt sich zu der Tat.
nachtsmesse geißelt der Papst den wach-
senden Egoismus auf der Welt – beson- FORMEL 1 Ralf Schumacher legt nach der
ders unter den Reichen. Zudem kritisiert Trennung von Toyota nach Angaben aus
er die Ausbeutung der Erde durch die seinem Umfeld ein Jahr Pause ein.
Menschen.
FRIEDEMANN VOGEL / GETTY IMAGES

F R E I TA G , 2 8 . 1 2 .
ISLAM Erstmals in der Geschichte der
1400 Jahre alten Religion wünschen 138 FINANZMÄRKTE Trotz US-Immobilienkrise
Gelehrte den Christen in aller Welt fröh- und der unruhigen Lage in Pakistan
liche Weihnachten. schließt der Dax mit 8067 Punkten knapp
unter seinem Allzeithoch.
KINDERPORNOGRAFIE Die Strafverfolgungs-
behörden in Deutschland ermitteln nach KINDESENTFÜHRUNG II Die im Tschad Ver-
Recherchen im Internet gegen 12 000 Ver- urteilten werden an Bord einer Sonder- Sturmflut in Hamburg (November 2007)
dächtige. maschine nach Frankreich überstellt.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 141
Register
gestorben Hans Imhoff, 85. Der Schlossersohn aus
Köln war nach eigenem Bekunden „der
Oscar Peterson, 82. Avantgardisten wie einzige Mensch mit einem Herz aus Scho-
der Star-Trompeter Miles Davis hassten den kolade“. Schon als Zehnjähriger entdeckte
Virtuosen, der gern in Smoking und Lack- er seinen Unternehmergeist und verkaufte
schuhen auftrat. Aber viele Bildungsbür- Anzündeholz; bei Kriegsende erzielte er
ger, die sonst eher Klas- gute Erlöse mit gebunkerter Maggie-Wür-
sik à la Glenn Gould als ze. 1948 gründete Imhoff in Bullay an der
veritablen Jazz hörten, Mosel seine erste Schokoladenfabrik und
verehrten den schwer- avancierte zu Deutschlands erstem Nach-

MARCOCCHI GIULIO / SIPA PRESS


gewichtigen schwarzen kriegsmillionär. Anfang der siebziger Jah-

LARRY DOWNING / REUTERS


Pianisten. Seine tech- re kaufte der begeisterte Klavierspieler die
nische Brillanz ver- Kölner Traditionsmarke Stollwerck; später
blüffte ebenso wie sein kamen Sprengel, Waldbaur, Eszet, Alprose
vorwärtspreschender und Sarotti dazu. Für seine Marken warb
Swing. Kein Zweifel, er persönlich im Fernsehen; Imhoffs
dass Peterson wesent- Hauptversammlungen
lich zur Anerkennung glichen mehr Karne-
des Jazz als Kunstform beigetragen hat. valssitzungen denn
Der Sohn karibischer Einwanderer war in Aktionärstreffen. Die
Kanada schon eine lokale Größe, als ihn rheinische Frohnatur

JÖRG CARSTENSEN / DPA


der amerikanische Impresario Norman war aber nur ein Teil
Granz während einer Taxifahrt in Montreal seiner Persönlichkeit.
im Radio hörte. Granz holte Peterson 1949 Offenbar traute er kei-
zu einem Auftritt in die New Yorker nem seiner vier Kinder
Carnegie Hall und schickte ihn anschlie- die Leitung seines sü-
ßend mit seinem Tourneeunternehmen ßen Imperiums zu,
Jazz at the Philharmonic um die Welt. 2002 wurde der Stollwerck-Konzern ver-
Der Klavierspieler begleitete Stars wie Ella kauft. Imhoffs Vermächtnis für alle Scho-
Fitzgerald und stieg schnell zu einem der ko-Süchtigen ist sein Museum am Rhein-
bekanntesten und meistaufgenommenen In- ufer, mit allem, was zur Geschichte der
strumentalisten auf. Peterson hatte fast 200 süßen Ware gehört, einschließlich eines
Platten eingespielt und etliche Grammys ge- Brunnens mit sprudelnder Schokolade zur
wonnen, als er 1993 einen Schlaganfall erlitt. Verkostung. Hans Imhoff starb nach langer
Zwei Jahre später trat er wieder auf, denn Krankheit am 21. Dezember in Köln.
er wollte am liebsten „vom Klavierschemel
ins Grab fallen“. Oscar Peterson starb am Julien Gracq, 97. Der

MAXPPP LAGUET / PICTURE-ALLIANCE/ DPA


23. Dezember bei Toronto. „letzte Klassiker“ der
französischen Literatur
Reinhard Heß, 62. Den Sportlern, die er bezeichnete sich selbst
trainierte, war er eine Art Übervater – als „Relikt aus einer
streng und fürsorglich zugleich. Von 1993 früheren Welt“, in der
bis 2003 trainierte Heß die deutschen Ski- Medien keine Rolle
springer, unter seiner Führung gewann der spielten. Der öffent-
Deutsche Skiverband 21 WM- und Olym- lichkeitsscheue Autor
pia-Medaillen. Dabei stach der Triumph aus der Loire-Region
von Sven Hannawald, der 2002 unter Heß geriet ins Rampenlicht, als er 1951 den
als einziger Springer alle vier Wettbewerbe begehrten Goncourt-Preis für sein Werk
der Vierschanzentournee gewann, beson- „Le Rivage des Syrtes“ („Das Ufer der
ders hervor. Hanna- Syrten“) ablehnte. Ein Jahr zuvor hatte er
wald war es aller- in einer programmatischen Schrift Litera-
dings auch, der 2003 turpreise als verkaufsfördernde Marketing-
die Entlassung des Er- instrumente verpönt und sich über Me-
folgstrainers forderte; dienauftritte eitler Kollegen mokiert. Seine
„er oder ich“, soll der von der deutschen Romantik und vom
JOERG KOCH / DDP

Springer gedroht ha- Surrealismus geprägten Werke erzählen


ben, da es zwischen von imaginären Landschaften; das Warten
Heß und seinen Sport- auf ein gefürchtetes, doch schließlich her-
lern zunehmend kri- beigesehntes Ereignis spielt eine zentrale
selte. Doch weder sein Rolle. Gracq, der eigentlich Louis Poirier
Nachfolger Wolfgang Steiert noch der hieß und Geografie und Geschichte an
aktuelle Bundestrainer Peter Rohwein Gymnasien unterrichtete, gehörte zu den
konnten an die früheren Erfolge anknüp- wenigen Schriftstellern, die bereits zu Leb-
fen. Reinhard Heß, der das deutsche Ski- zeiten in der Reihe Pléiade, dem Pantheon
springen als sein „Lebenswerk“ bezeich- der französischen Literatur, veröffentlicht
nete, starb an Bauchspeicheldrüsenkrebs wurden. Julien Gracq starb am 22. Dezem-
am 24. Dezember in Bad Berka. ber in Angers.
142 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Personalien
Tony Blair, 54, Ex-Regierungschef Groß-
britanniens, arbeitet an der Konsolidierung
seiner Privatfinanzen. Der Labour-Politi-
ker eifert offenbar seinem ehemaligen Kol-
legen Bill Clinton nach: Blair soll monatlich
zwischen 500 000 und einer Million Pfund
Honorar als Redner bei diversen Veran-
staltungen kassieren. Als Sondergesandter
des Internationalen Nahost-Quartetts er-
hält er kein Gehalt. Doch dieser Job und
die Tatsache, dass er über zehn Jahre lang
mit an der Spitze der Weltpolitik stand,
machen den Briten besonders in den USA
als Redner begehrt. Am 14. Januar will
Blair in der Nähe von Los Angeles in ei-
nem Stadion vor 5000 Leuten im Auftrag
der American Jewish University auftreten.
Mit der teuersten Eintrittskarte für 2500 Dol-
lar bekommt der glückliche Besitzer die
Chance auf ein Zusammentreffen mit Blair
bei einem Cocktailempfang und auf ein
gemeinsames Foto mit dem ehemaligen
Premierminister. Sollte das Interesse an
Auftritten dieser Art anhalten, könnte Fa-
milie Blair bald in der Lage sein, ihre Im-
mobilienschulden, die auf vier Millionen
Pfund geschätzt werden, zu begleichen.

Bubi, finnischer Uhu unbekannten Alters,


erhielt eine ungewöhnliche Ehrung. Jour-
nalisten in Helsinki wählten den Raubvogel
jetzt zum „Einwohner des Jahres“, weil
Bubi im Juni während eines Fußballspiels
einen spektakulären Auftritt hatte. Beim
ALICIA CANTER

Arterton

Gemma Arterton, 22, britische Schauspielerin, die im nächsten James-Bond-Film an


der Seite von Daniel Craig zu sehen sein wird, muss sich auf unangenehme Post ein-
LEHTIKUVA MARKKU ULANDER / PICTURE-ALLIANCE / DPA

stellen. Diese Warnung erhielt Arterton von ihrer Kollegin und Bond-Girl-Vorgänge-
rin in „Casino Royal“, Caterina Murino. Murino, die Craigs Kusskünste in dem letz-
ten Agentenklassiker zu spüren bekam – und sehr genoss –, hat jetzt offengelegt, dass
sie mit der zahlreichen Fanpost auch eine Todesdrohung erhalten hat. Die Italienerin
erklärte, der Hassbrief sei von jemandem gekommen, der eifersüchtig gewesen sei, weil
die Kussszene so echt ausgesehen habe: „Es war so sexy und realistisch – vielleicht weil
es das erste und einzige Mal war, dass ich von einem Engländer geküsst wurde.“

Merlin Holland, 62, Enkel des viktoriani- Sprecher der Bezirksverwaltung lehnte
schen Schriftstellers und Lebemanns Oscar die Idee rundweg ab: Die Kosten von
Wilde (1854 bis 1900), liegt im Clinch mit schätzungsweise 175 000 Pfund über zehn
Bubi der Londoner Bezirksverwaltung von Jahre zum Schutz einer einzelnen Statue
Westminster. Die Behörde ist verantwort- seien zu hoch.
EM-Qualifikationsspiel Finnland gegen lich für die Instandhaltung eines in der
TOPFOTO / UPP (L.); A. DENNIS / REX FEATURES

Belgien im altehrwürdigen Olympiastadion Nähe von Trafalgar Square gelegenen


von Helsinki postierte sich der Uhu – wis- Denkmals für Wilde. Die Skulptur, 1998
senschaftlich Bubo bubo – abwechselnd von Verehrern des einstigen Enfant ter-
auf beiden Toren und zeigte knapp über rible gestiftet, ist kürzlich zum vierten Mal
dem Rasen seine Gleitflugkünste. Die Spie- beschädigt worden: Unbekannte sägen im-
ler, insbesondere die belgischen, zeigten mer wieder die Bronze-Zigarette ab, die
sich ziemlich irritiert, das Publikum war zur Statue gehört. Holland ist erbost und
begeistert. Finnland gewann 2:0, verpasste beschuldigt das Westminster Council, das
am Ende der Qualifikationsrunde aller- Andenken Oscar Wildes nicht genügend
dings knapp das Ticket zur Europameis- zu schützen. Er forderte nun, dass Über-
terschaft 2008. wachungskameras installiert werden. Ein Wilde-Denkmal Holland
144 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8
Sigmar Gabriel, 48, Bundesum-
weltminister (SPD), bringt im Kampf
gegen die EU-Abgasnormen eini-
ges durcheinander. In einer Presse-
mitteilung seines Ministeriums zu
dem Streit über die angekündigten
strengen Abgasnormen der EU er-
klärt Gabriel es für „absurd, wenn
selbst besonders sparsame Fahr-
zeuge der Passat-Klasse ‚bestraft‘
werden“. Begründung: „Essen auf
Rädern kann man nicht allein
im Fiat Panda ausfahren.“ Gabriel
hätte es besser wissen müssen: Die
INTERNEWS

meisten Modelle des italienischen


Kleinfahrzeugs liegen mit einem
Kohlendioxidausstoß von 135 g/km Depp
über der angestrebten EU-Norm
von 120 g/km. Abgesehen davon belasten Johnny Depp, 44, Hauptdarsteller in der
einige der beispielsweise in Berlin oder von Kultregisseur Tim Burton blutig in-
Hamburg von „Essen auf Rädern“ einge- szenierten Filmversion des Broadway-Mu-
setzten Fahrzeuge mit 99 g/km ohnehin die sicals „Sweeney Todd“, hat sich bei sei-
Umwelt geringer. nem Co-Darsteller Alan Rickman unbe-
liebt gemacht. Depp hatte für die Rolle des
Carla Bruni, 40, Ex-Mannequin, Sängerin singenden, kehleaufschlitzenden Barbiers
und seit kurzem Geliebte des französischen weder Gesangsstunden noch Unterricht
Staatschefs Nicolas Sarkozy, 52, wird von im Umgang mit einem Rasiermesser ge-
ihrer Vergangenheit verfolgt. Die französi- nommen. Als es beim Dreh dann zu einer
sche Satirezeitung „Le Canard Enchaîné“ Szene kam, in der Johnny Depp Rickman
hat dieser Tage ein Interview vom Februar rasieren sollte, war das „nicht gerade ein
2007 ausgegraben. Sie sei zwar treu, aber Genuss“ für Rickman, weiß Depp zu be-
nur sich selbst, vertraute Bruni damals ei- richten. Rickman wirkte sehr ängstlich und
ner französischen Frauenzeitschrift an. verkrampft – kein Wunder: Der Mann mit
Zwar komme es von Zeit zu Zeit vor, dass dem scharfen Messer in der Hand war
sie monogam lebe. Grundsätzlich bevor- selbst verunsichert. Depp gesteht im Nach-
zuge sie aber die Polyandrie (Vielmänne- hinein, dass ihn die Situation „ganz schön
rei). Denn im Gegensatz zur Liebe, die lan- nervös“ gemacht habe; durch den Rasier-
schaum war die Angelegen-
heit ziemlich unübersichtlich.
Verletzt hat der in Südfrank-
reich lebende Schauspieler sei-
nen Kollegen zwar nicht, trotz-
dem glaubt Depp, dass der die
Zusammenarbeit zeitweise „ge-
hasst“ habe.

Helmut Linssen, 65, Finanz-


minister von Nordrhein-West-
falen, kämpft gegen seinen Ruf,
JACK GUEZ / AFP

geizig zu sein. „Mehr Geld be-


kommst du trotzdem nicht von
mir“, frotzelt Linssen regel-
Sarkozy, Bruni mäßig seine Kabinettskollegen
an, wenn sie besonders freund-
ge anhalten könne, dauere die „brennende lich zu ihm sind. Als dann die übliche
Begierde“ bei ihr nur „zwei bis drei Wo- Weihnachtsfeier mit seinen engsten Mitar-
chen“, erläuterte Bruni. Die Aussagen be- beitern besonders spartanisch ausfiel – es
stärken die Skepsis vieler Franzosen in gab nur ein paar Plätzchen zum Kaffee –,
Hinblick auf die Ernsthaftigkeit der Be- hielten das viele für einen neuerlichen
ziehung zwischen Sarkozy und Bruni. Die Beweis seiner Sparsamkeit. Darauf ange-
Presse spekulierte öffentlich, der Staats- sprochen, versichert Linssen, das Essen mit
chef habe sich vor allem aus einem Grund den Mitarbeitern sei nur aus Zeitmangel
mit der attraktiven Italienerin in Szene ausgefallen, wegen der vielen Termine mit
gesetzt: um die Peinlichkeiten vergessen den krisengeschüttelten Banken in NRW.
zu lassen, die ihm der pompöse Empfang Zum Ausgleich hat Linssen jetzt hoch und
für den libyschen Staatschef Muammar heilig ein Neujahrsessen im Januar ver-
al-Gaddafi in Paris beschert hat. sprochen.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 8 145
Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der „Frankfurter Allgemeinen“: Zitate


„Nach einem Erbvertrag von 1938 sollten
möglichst lange Testamentsvollstrecker Die „Welt“ zum SPIEGEL-Gespräch
über den Nachlass bestimmen.“ „‚Mehr Streit ums Schloss, bitte!‘“ mit
dem britischen Stararchitekten David
Chipperfield über sein umstrittenes
Die Münchner „tz“ über Leo Kirch: Wirken in Berlin (Nr. 52/2007):
„Wenn er schwerkrank sein sollte: Ist dann
Fernsehen im Fußball in Gefahr?“ Chipperfield hätte es lieber gesehen, wenn
man sich für das Projekt „weitere zehn
Jahre Zeit“ genommen hätte, wie er jetzt
im SPIEGEL sagte. „Aber das passt offen-
bar nicht zur deutschen Mentalität. Die
Deutschen finden ja wohl nicht in den
Schlaf, solange diese Lücke mitten in Ber-
lin nicht geschlossen ist.“ Seiner Ansicht
Aus dem „Uckermark Kurier“ nach müsse es in der Architektur „mehr
geben dürfen als ein entweder Alt oder
Neu“. Die Sprache der Architektur lasse
Aus der „Mainzer Allgemeinen Zeitung“: viele Variationen zu. Der kulturpolitische
„Wenn der Mann stirbt, erbt das Haus Sprecher der CDU-Fraktion im Abgeord-
nämlich nicht automatisch die Frau.“ netenhaus, Michael Braun, meinte dazu
gestern, wenn Chipperfield mit den Vor-
gaben des Bundestages nicht einverstan-
Aus der „Südwestdeutschen Zeitung“: „In den sei, „möge er seinen Sitz in der Jury
der Regel werden Täter wie diese nach zur Verfügung stellen. Niemand in
Verbüßen von sieben Sechstel der Strafe in Deutschland wird gezwungen, an der Ge-
die Heimatländer abgeschoben.“ staltung der historischen Mitte der deut-
schen Hauptstadt mitzuwirken, wenn es
ihm nicht passt“.

Die „Neue Zürcher Zeitung“ in einer


Kritik der Wallenstein-Inszenierung von
Thomas Langhoff in Wien und zum
SPIEGEL-Artikel „Theater – Feldherren
Aus der „Gelnhäuser Neuen Zeitung“ im Fernduell“ (Nr. 51/2007):

Keine Stulpenstiefel wie im Frühjahr bei


Aus der „Augsburger Allgemeinen“: Peter Steins integralem Berliner „Wallen-
„Dann kämpfen wir uns durch den dichten stein“: Thomas Langhoff, der Schillers
Verkehr der Königsstadt zum berühmten Trilogie nun am Wiener Burgtheater in
Platz der Gaukler. Abgase, Pferdekot und einer vierstündigen Strichfassung heraus-
Urin liegen in der Luft. Fahrtwind wäre bringt … verzichtet auf jegliche Histo-
schön. Doch davon ist kein Hauch zu risierung; und auch auf anderes. Dem
spüren. Die Luft steht.“ SPIEGEL vertraute er an: „Für mich per-
sönlich wäre es eine Feigheit, den ganzen
Text zu spielen.“ Ob es mutig ist oder nicht
eher mutwillig, ihn auf TV-Format zu stut-
zen, diese Frage stellt sich in Anbetracht
des Resultats.

Aus der „NRZ“ Die „Süddeutsche Zeitung“ über den


Umgang deutscher Firmen
mit ihrer Nazi-Geschichte und zum
Aus den „Rathausnachrichten“ von Berlin- SPIEGEL-Artikel „Deutsche
Lichtenberg: „Die überraschende Spende Bank will rauben“ (Nr. 36/1985):
kommt allein lebenden Kleinstrentnerin-
nen in Lichtenberg zugute.“ Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
dauerte es vierzig Jahre, bis sich einzelne
Unternehmen an die offenbar schwere Ar-
Aus dem Buch „Tiere in Osnabrück II“ beit machten, in ihre Vergangenheit zu
laut einer Buchbesprechung in den „Os- schauen. Genau genommen begann es im
nabrücker Nachrichten“: „Ratten besitzen September 1985 mit einem SPIEGEL-Arti-
ein sauber gepflegtes, seidig glänzendes kel unter dem Titel „Deutsche Bank will
Fell, Vorderbeine mit gut ausgebildeten rauben“. Darin wird aus einer Untersu-
Greifhänden und wachen Augen in einem chung zitiert, die schon 1947 von Experten
grazil geformten Kopf, in dem das intelli- des US-Finanzministeriums über die Deut-
gente Gehirn einer hochentwickelten Tier- sche Bank gemacht wurde, die aber lange
art verborgen ist.“ unbeachtet blieb.
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