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Nach dem überraschend erfolgreichen Tarifjahr 2009 zeigten sich im vergangenen Jahr deutliche Spuren der Wirtschaftskrise in der
Tarifpolitik. In vielen Tarifbereichen stand 2010 die Beschäftigungssicherung eindeutig im Vordergrund. Gleichwohl wurden parallel
flächendeckend reguläre Lohn- und Gehaltsverhandlungen geführt. Insgesamt konnte im Jahr 2010 mit einer jahresdurchschnittlichen
Tarifsteigerung von 1,8 % der sehr moderate Anstieg der Verbraucherpreise von durchschnittlich 1,1 % mehr als ausgeglichen werden. Es
ergibt sich ein reales Tarifplus von 0,7 %. Weitere bedeutsame tarifpolitische Themen waren die Leiharbeit und die Mindestlohnpolitik.
1
der Metallindustrie und in der chemischen rifrunde fielen relativ zurückhaltend aus.
Industrie genannt, die zum einen die Mög- In zahlreichen Branchen verzichteten sie
lichkeiten tariflich geregelter Kurzarbeit auf eine quantifizierte Forderung. Statt-
Das Tarifjahr 2010 erweitern, zum anderen die Anwendung dessen verlangten sie eine „angemessene
im Überblick verschiedener betrieblicher Personal- Entgelterhöhung“ (chemische Industrie,
maßnahmen empfehlen, um betriebsbe- Bankgewerbe) oder eine „angemessene re-
1.1 Rahmenbedingungen dingte Kündigungen zu vermeiden. Für ale Erhöhung mit sozialer Komponente“
die Lohn- und Gehaltsabschlüsse gilt: In (Deutsche Bahn AG). Auch in der Metallin-
Die Tarifentwicklung reagierte mit der einer ganzen Reihe von Branchen wurden dustrie gab es erstmals keine bezifferte For-
– aus früheren Konjunkturzyklen be- für 2010 überwiegend Pauschalzahlungen derung, stattdessen beschränkte sich die IG
kannten – zeitlichen Verzögerung auf die vereinbart, die nicht zu dauerhaft tabel- Metall, nach vorgezogenen Gesprächen der
wirtschaftliche Entwicklung. Zu Jahres- lenwirksamen Tarifanhebungen führen. Tarifparteien über Möglichkeiten der Be-
beginn 2010 war die Grundtendenz der Während in der chemischen Industrie schäftigungssicherung, in den eigentlichen
Konjunktur bereits wieder „aufwärts ge- aufgrund der kurzen (nur elfmonatigen) Tarifverhandlungen auf die Forderung
richtet“ (Projektgruppe Gemeinschaftsdi- Laufzeit bereits im Frühjahr 2011 erneut nach einer „Realeinkommenssicherung“.
agnose Frühjahr 2010). Das Bruttoinlands- über die Entgelte verhandelt wird, wur- Dies war aus Sicht der Arbeitgeber ein „in
produkt (BIP) nahm in den ersten beiden de in der Metallindustrie bei längerer der Geschichte der Bundesrepublik z. T.
Quartalen 2010 gegenüber den Vorjahres- Laufzeit nach einer Pauschalzahlung für einmaliger Vorgang“ (BDA 2010, S. 78).
quartalen real um 2,2 und 4,3 % zu. Trotz 2011 eine (dauerhafte) Tarifsteigerung In anderen Bereichen beharrten die Ge-
einer gewissen Verlangsamung des Erho- von 2,7 % vereinbart. Die ökonomische werkschaften auf traditionellen Tarifforde-
lungsprozesses in der zweiten Jahreshälfte Lage verbesserte sich im Laufe des Jahres rungen: Für den Bereich des öffentlichen
ergab sich für das vergangene Jahr ein rea- 2010 – für die meisten Beobachter über-
les BIP-Wachstum von 3,6 %. Dies schlug raschend stark –, sodass auch die Rah-
1 Dieser Prozess ist allerdings teilweise auf statisti-
sich auch auf dem Arbeitsmarkt nieder: menbedingungen für die Tarifverhand- sche „Bereinigungen“ zurückzuführen (BA 2010).
Die saisonbereinigte Zahl der registrierten lungen besser wurden. Dies machte sich Das Gesamtvolumen der Unterbeschäftigung be-
Arbeitslosen, die im Frühsommer 2009 mit u. a. in der Stahlindustrie bemerkbar, wo lief sich Ende 2010 auf gut 4 Mio. Personen.
3,49 Mio. ihren Höhepunkt erreicht hatte, die IG Metall angesichts der guten Bran-
ging kontinuierlich bis auf 3,15 Mio. im chenkonjunktur im September 2010 eine
Dezember 2010 zurück.1 Insgesamt blieb überdurchschnittliche Tarifsteigerung von Reinhard Bispinck, Dr., ist Wissenschaftler
jedoch das Niveau der wirtschaftlichen 3,6 % plus Pauschalzahlung durchsetzen im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen
Entwicklung noch unter dem Vorkrisen- konnte. Institut (WSI) und Leiter des WSI-Tarifarchivs
niveau. in der Hans-Böckler-Stiftung.
Die Gewerkschaften in den krisen- 1.2 Tarifforderungen und e-mail: Reinhard-Bispinck@boeckler.de
betroffenen Industriebranchen legten -abschlüsse Götz Bauer, Monika Müller, Ulrich Schmidt,
gleichwohl tarifpolitisch einen Schwer- Monika Schwacke-Pilger, Andrea Taube und
punkt auf die Beschäftigungssicherung. Die Lohn- und Gehaltsforderungen der Monika Wiebel sind Sachbearbeiterinnen
Beispielhaft seien die Vereinbarungen in Gewerkschaften in der diesjährigen Ta- und Sachbearbeiter im WSI-Tarifarchiv.
https://doi.org/10.5771/0342-300X-2011-3-123
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Übersicht 2: Ausgewählte Lohn- und Gehaltsabschlüsse West und Ost zur Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft
für 2010 (EVG) zusammengeschlossenen früheren
Abschluss Tarifbereich Ergebnis Gewerkschaften Transnet und GDBA so-
18.02.2010 Metallindustrie Nordrhein- 320 € Pauschale insg. für Mai 2010 - März 2011 wohl über einen neuen Branchentarifver-
Westfalen (Pilotabschluss) 2,7 % ab 01.04.11 trag für den schienengebundenen Perso-
Laufzeit bis 31.03.12
nennahverkehr (SPNV) als auch über eine
27.02.2010 Öffentlicher Dienst Bund, 1,2 % ab 01.01.10
Gemeinden 0,6 % Stufenerhöhung ab 01.01.11 Tariferhöhung für die Beschäftigten der
0,5 % Stufenerhöhung ab 01.08.11 Deutschen Bahn AG.
240 € Einmalzahlung im Januar 2011
Laufzeit bis 29.02.12 Im Dezember begann die Schlichtung
21.04.2010 Chemische Industrie 550 € Pauschale insg. für 11 Monate, unter Vorsitz des früheren SPD-Politikers
Laufzeit regional unterschiedlich bis 02/03/04/2011
Peter Struck. Mitte Januar legte Struck
10.05.2010 Kfz-Gewerbe Baden-Württemberg nach einem Nullmonat (Mai)
0,6 % ab 01.06.10 einen Schlichtungsspruch vor, der die
1,0 % Stufenerhöhung ab 01.12.10 Zustimmung der Tarifparteien fand. Mit
1,9 % Stufenerhöhung ab 01.07.11
0,6 % Stufenerhöhung ab 01.01.12 dem neuen Branchentarifvertrag ver-
Laufzeit bis 30.04.12 pflichteten sich die führenden Bahnunter-
20.05.2010 Papier verarbeitende Industrie nach 6 Nullmonaten (Mai - Oktober) nehmen, die in Deutschland Nahverkehr
1,3 % ab 01.11.10
1,5 % Stufenerhöhung ab 01.05.11 anbieten, bei künftigen Ausschreibungen
1,3 % Stufenerhöhung ab 01.03.12 mit Personalkosten zu kalkulieren, die
Laufzeit bis 31.08.12
31.05.2010 Hotel- und Gaststättengewerbe nach 2 Nullmonaten (Juni und Juli) mindestens dem jetzt festgelegten Niveau
Nordrhein-Westfalen 2,0 % ab 01.08.10 entsprechen. Der Entgeltabschluss für die
1,8 % Stufenerhöhung ab 01.07.11
Laufzeit bis 30.04.12 Deutsche Bahn AG umfasst Bestandtei-
10.06.2010 Bankgewerbe 300 € Pauschale insg. für Mai - Dezember le in der Summe von rund 5 %. Parallel
1,6 % ab 01.01.11 zur EVG verhandelt die Gewerkschaft
Laufzeit bis 29.02.12
23.06.2010 Energiewirtschaft Nordrhein- 2,6 % ab 01.07.10
deutscher Lokomotivführer über einen
Westfalen (GWE-Bereich) Laufzeit bis 30.06.11 Bundes-Rahmen-Lokomotivführer-Ta-
01.09.2010 Landwirtschaft Bundesempfehlung: rifvertrag (BuRa-LfTV).
180 € Pauschale für April - Oktober
2,1 % ab 01.11.10 In einigen Tarifabschlüssen wurden
2,3 % Stufenerhöhung ab 01.11.11 auch in dieser Tarifrunde Regelungen ver-
Laufzeit bis 31.10.12
30.09.2010 Eisen- und Stahlindustrie 150 € Pauschale für September
einbart, die aus wirtschaftlichen Gründen
3,6 % ab 01.10.10 Abweichungen von vereinbarten Vergü-
Laufzeit bis 31.10.11 tungselementen erlauben. Dies betrifft
19.11.2010 Wohnungs- und nach einem Nullmonat (Dezember)
Immobilienwirtschaft 3,0 % ab 01.01.11 sowohl Pauschal- und Einmalzahlungen
1,0 % Stufenerhöhung ab 01.01.12 wie auch dauerhafte Tarifanhebungen
Laufzeit bis 31.12.12
und umfasst zeitliche Verschiebungen
Quelle: WSI-Tarifarchiv – Stand: 31.12. 2010. ebenso wie Kürzungen bzw. Wegfall ein-
zelner Bestandteile. Zum Teil werden in
diesem Jahr auch entsprechende Regelun-
Übersicht 3: Ausgewählte Vereinbarungen über Abweichungen bei gen aus Vorjahresabschlüssen wirksam
Pauschal- und Einmalzahlungen sowie Tarifanhebungen
(Übersicht 3).
Tarifbereich Leistung Abweichende Regelung
Chemische Industrie 550/611/715 € Verschiebung/Kürzung auf bis zu 300/333/390 €
Einmalzahlung zahlbar aus wirtschaftlichen Gründen durch eine 1.3 Leiharbeit und Mindest-
bis 30.06.10 einvernehmliche Vereinbarung möglich lohnpolitik
Holz u. Kunststoff 1,5 % ab 01.06.10 Kürzung, Verschiebung oder Wegfall der Erhöhung
verarbeitende Industrie bis max. 31.12.10 durch Betriebsvereinbarung
Berlin, Brandenburg möglich, Beschäftigungszusage als Voraussetzung In der Stahltarifrunde gelang der IG
Kautschukindustrie 200 € Pauschale im Bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Einigung Metall die tarifliche Vereinbarung einer
April 2010 mit Betriebsrat Kürzung, Verschiebung und Wegfall Equal-Pay-Regelung, die sicherstellen
möglich
Metallindustrie 2,7 % ab 01.04.11 Verschiebung der Erhöhung um max. +/– 2 Monate soll, dass Leiharbeiter entsprechend den
in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Lage des Tarifbestimmungen der Eisen- und Stah-
Betriebes durch freiwillige Betriebsvereinbarung
möglich lindustrie entlohnt werden. Auch andere
Gewerkschaften kündigten an, in dieser
Quelle: WSI-Tarifarchiv; Stand: 31.12.2010.
Frage tarifpolitisch aktiv zu werden. In
der bayerischen Milchwirtschaft war dies
Außerhalb der DGB-Gewerkschaften 2010 und eine 2 %ige Tarifa nhebung ab sogar Gegenstand eines Arbeitskampfes,
ist der Abschluss des Marburger Bundes Mai 2010 mit einer Laufzeit von 20 Mona- der allerdings zu keiner positiven Einigung
für die Ärztinnen und Ärzte an kommuna ten durch. Außerdem werden künftig Be- führte.
len Krankenhäusern vom 9.6.2010 zu nen- reitschafts- und Notdienste besser bezahlt. In der Mindestlohnfrage setzte sich
nen. Nach dreiwöchigen Streikaktionen Erst im Januar 2011 konnte der Tarif- die Auseinandersetzung um weitere
setzte der Marburger Bund eine Pauschal- konflikt bei der Deutschen Bahn AG vorläu- Branchenmindestlöhne nach dem Ent-
zahlung von 400 € für Januar bis April fig beendet werden: Dort verhandelten die sendegesetz fort. In der Pflegebranche
2
einigt. Er steigt in zwei Stufen auf 9,00 € der Leiharbeit mit einer mehrstufigen Ta-
bzw. 8,00 € zum 1.7.2013. In weiteren vier rifanhebung.
Branchen2 liegen z. T. schon seit Längerem Diese Gesamtabschlussraten sind nur
Tarifverträge zu Mindestlöhnen vor, die Tarifentwicklung von begrenzter Aussagekraft, weil sie sich
jedoch (noch) nicht per Rechtsverordnung immer auf die gesamte, je nach Tarifbe-
nach dem Entsendegesetz für allgemein- 2.1 Lohn- und Gehalt reich sehr unterschiedlich lange Laufzeit
verbindlich erklärt wurden. der Tarifabkommen beziehen. Berück-
Die DGB-Gewerkschaften schlossen 2010 sichtigt man lediglich die im Jahr 2010
1.4 Tarifeinheit in ganz Deutschland Lohn- und Gehalts abgeschlossenen und auch in Kraft getre-
tarifverträge für rd. 8,8 Mio. Beschäftigte tenen Tariferhöhungen, ergibt sich eine
Zu lebhaften Diskussionen und Aktivi- ab, davon für rund 7,5 Mio. in den alten Abschlussrate von 2,3 % (West: 2,2 %,
täten führte der Beschluss des Bundesar- und 1,3 Mio. in den neuen Bundeslän- Ost: 2,9 %). Differenziert man diese Grö-
beitsgerichts vom 23.6.2010 zur Abkehr dern. Das entspricht rund 48 % der von ße nach Wirtschaftsbereichen, dann er-
vom bisher geltenden Grundsatz der Ta Tarifverträgen erfassten Beschäftigten. gibt sich für 2010 eine Streuung zwischen
rifeinheit im Betrieb, wonach in einem Für weitere 7,5 Mio. Beschäftigte traten 1,3 % im Bereich Gebietskörperschaften/
Betrieb jeweils nur ein Tarifvertrag zur Stufenerhöhungen in Kraft, die bereits Sozialversicherung und 4,2 % im Bereich
Anwendung kommen kann (BAG 2010). 2009 oder früher vereinbart wurden. Bei private Dienstleistungen/Organisationen
Das Bundesarbeitsgericht stellte nunmehr rund 2,1 Mio. Beschäftigten liefen 2009 ohne Erwerbszweck. Zu berücksichtigen
fest, dass für verschiedene Arbeitsver- oder früher die Vergütungstarifverträ- ist stets, dass die Erhöhungen zu unter-
hältnisse derselben Art in einem Betrieb ge aus, aber es kam bis zum Jahresende schiedlichen Zeitpunkten im Jahresverlauf
nicht nur einheitliche Tarifregelungen zur (noch) nicht zu Neuabschlüssen bzw. lau- wirksam wurden.
Anwendung kommen können. Der Deut- fende Tarifverträge sehen für 2010 keine Wie bereits in den Vorjahren spielten
sche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Tarifanhebung vor. auch im Jahr 2010 „Nullmonate” bei den
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeit- Tarifabschlüssen eine bedeutende Rolle.
geberverbände (BDA) legten daraufhin ABSCHLUSSRATE Für rund 6,9 Mio. (2009: 7,3 Mio.), das ent-
einen gemeinsamen Vorschlag zur Wie- spricht rund 78 % der von Neuabschlüssen
derherstellung dieses Grundsatzes durch Die tarifliche Abschlussrate belief sich ge- begünstigten Beschäftigten, gab es Tarif-
Änderung des Tarifvertragsgesetzes vor samtwirtschaftlich im Durchschnitt auf abschlüsse mit verzögerter Anpassung der
(BDA/DGB 2010). Er sieht vor, dass bei 3,2 % (2009: 3,9 %), in Westdeutschland Lohn- und Gehaltserhöhungen. Rund 23 %
konkurrierenden Tarifverträgen für die- betrug die Rate 3,0 %, in Ostdeutschland von ihnen mussten zwischen einem Monat
selbe Beschäftigtengruppe der Tarifver- 4,4 %. Die Abschlussrate schließt alle, ggf. und fünf Monaten auf die reguläre Tarifer-
trag gelten soll, der von der Gewerkschaft auch 2011 und später in Kraft tretenden höhung warten, für 77 % vergingen sechs
geschlossen wurde, die die meisten Mit- tabellenwirksamen Erhöhungen ein. Nicht und mehr Monate bis zur ersten Tarifstei-
glieder in dem betreffenden Betrieb hat. berücksichtigt werden Pauschalzahlungen gerung. Für 75 % der davon betroffenen
Während der Laufzeit dieses Vertrages und zusätzliche Einmalzahlungen, die sich Beschäftigten vereinbarten die Gewerk-
soll eine Friedenspflicht für alle Gewerk- nicht dauerhaft in den Tariftabellen nie- schaften als Ausgleich Pauschalzahlungen,
schaften bestehen, die konkurrierende derschlagen. Die Spannweite der durch- die durchschnittlich 38 € (West: 38 €, Ost:
Tarifverträge abgeschlossen haben, also schnittlichen Gesamtabschlussraten reicht 42 €) im Monat betrugen.
auch für Gewerkschaften, die im Betrieb von 0,9 % im Grundstoff- und Produkti-
eine Minderheit der Belegschaft vertre- onsgütergewerbe, 1,6 % im Bereich Kre- LAUFZEITEN
ten. Der Vorschlag stieß nicht nur auf ditinstitute/Versicherungsgewerbe, 2,4 %
heftige Kritik der konkurrierenden Ge- im Bereich Gebietskörperschaften, Sozial- Der seit rund zehn Jahren zu beobach-
werkschaften, sondern er wurde auch in versicherung, 2,9 % im Investitionsgüter- tende Trend zu längeren Laufzeiten hat
der Arbeitsrechtswissenschaft sehr kon- und im Verbrauchsgütergewerbe, 3,2 % sich im vergangenen Jahr fortgesetzt. Die
trovers diskutiert. Die Bundesregierung im Nahrungs- und Genussmittelgewerbe Laufzeit der Vergütungstarifverträge im
zeigte sich grundsätzlich aufgeschlossen bis zu 3,8 % im Bereich Gartenbau, Land- Jahr 2010 beträgt durchschnittlich 24,3
und sagte eine sorgfältige Prüfung des und Forstwirtschaft. Der hohe Wert von
Vorschlags zu. 8,0 % im Bereich private Dienstleistun-
gen, Organisationen ohne Erwerbszweck 2 Berufliche Aus- und Weiterbildung, Forstliche
resultiert vor allem aus dem fast fünf Jahre Dienstleister, Geld- und Wertdienste sowie Wach-
laufenden Tarifabschluss für den Bereich und Sicherheitsgewerbe.
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Tabelle 2: Tarifsteigerung 20101 – in % – Die durchschnittliche jahresbezogene
Tarifsteigerung 2010 von 1,8 % liegt über
Wirtschaftsbereich Ost West Gesamt
Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft 1,7 1,6 1,6 dem sehr geringen Anstieg der Lebens-
Energie- und Wasserversorgung, Bergbau 4,5 2,5 2,9 haltungskosten von 1,1 %. Real stiegen
Grundstoff- und Produktionsgütergewerbe 3,1 2,1 2,2 die tariflichen Vergütungen im gesamt-
Investitionsgütergewerbe 0,8 1,0 1,0 wirtschaftlichen Durchschnitt um 0,7 %.
Verbrauchsgütergewerbe 1,6 1,8 1,8 Der Stand der tariflichen Lohnanglei
Nahrungs- und Genussmittelgewerbe 3,4 2,3 2,4
chung an das Westniveau kann an der
Baugewerbe 2,7 2,3 2,4
Handel 2,4 2,5 2,5
Entwicklung der tariflichen Grundvergü-
Verkehr und Nachrichtenübermittlung 2,3 2,3 2,3 tung festgemacht werden. Für den Stichtag
Kreditinstitute, Versicherungsgewerbe 1,8 1,8 1,8 31.12.2010 ergibt sich dabei folgendes Bild:
Priv. Dienstleistungen, Organ. o. Erwerbszweck 2,8 2,1 2,2 Auf Basis von rund 50 Tarifbereichen/
Gebietskörperschaften, Sozialversicherung 1,0 0,9 0,9 -branchen mit 1,65 Mio. erfassten Beschäf-
Gesamte Wirtschaft 2,0 1,7 1,8 tigten errechnet sich ein durchschnittliches
1
Jahresbezogene Erhöhung der tariflichen Grundvergütung 2010 gegenüber 2009. Tarifniveau von 96,6 %. Damit ergibt sich
Quelle: WSI-Tarifarchiv; Stand: 31.12.2010.
gesamtwirtschaftlich ein Anstieg gegenüber
dem Vorjahr um 0,5 Prozentpunkte (Ta
Tabelle 3: Tarifniveau Ost/West – in % – belle 3).
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 Die Steigerung der Ausbildungsvergü
91,9 92,3 92,8 93,4 94,0 94,6 95,1 95,2 96,8 96,1 96,6 tungen ist im vergangenen Jahr ebenfalls
Quelle: WSI-Tarifarchiv; Stand: 31.12.2010.
deutlich niedriger ausgefallen als 2009.
Nach Berechnungen des Bundesinstituts
für Berufsbildung ergibt sich ein Anstieg
Monate (2009: 24,1 Monate). Für rund mit 2,5 %, dem Baugewerbe sowie dem von 1,8 % (West: 1,3 %, Ost: 2,9 %), der ex-
0,9 Mio. Beschäftigte (10,1 %) laufen die Nahrungs- und Genussmittelgewerbe mit akt der Steigerung der tariflichen Grund-
Abkommen zwischen elf und zwölf Mo- 2,4 %, dem Bereich Verkehr und Nach- vergütungen entspricht (BIBB 2010). Je
naten, für gut 1 Mio. (12,0 %) 13 bis 22 richtenübermittlung mit 2,3 %. Genau im nach Tarifbereich verbergen sich hinter
Monate, für 3,5 Mio. 23 Monate (39,9 %) Durchschnitt lagen das Verbrauchsgüter- diesen Durchschnittszahlen große Unter-
und für 3,3 Mio. (38 %) 24 und mehr Mo- gewerbe sowie Kreditinstitute/Versiche- schiede: Gemessen an der Ausbildungs-
nate. In den neuen Bundesländern laufen rungsgewerbe mit je 1,8 %, unterdurch- vergütung im dritten Ausbildungsjahr va-
die Tarifverträge im Schnitt knapp fünf schnittlich fielen die Tarifsteigerungen im riierte die Steigerung in 26 ausgewählten
Monat länger als in den alten (Tabelle 1). Investitionsgütergewerbe mit 1,0 % und Tarifbereichen zwischen 1,1 % und 7,1 %.
im Bereich Gebietskörperschaften, Sozial- In neun Tarifbereichen sind die Ausbil-
JAHRESBEZOGENE TARIFSTEIGERUNG versicherung mit 0,9 % aus. In Ostdeutsch- dungsvergütungen im vergangenen Jahr
land lag die kalenderjährliche Erhöhung regional oder bundesweit gar nicht ange-
Bei der jahresbezogenen Steigerung der mit 2,0 % etwas höher als in Westdeutsch- hoben worden.
tariflichen Grundlöhne und -gehälter land mit 1,7 %.
werden im Unterschied zur tariflichen Positiv beeinflusst wird die jahresbezo- EFFEKTIVVERDIENSTENTWICKLUNG
Abschlussrate die Auswirkungen aus der gene Tarifsteigerung 2010 durch die länger
(oft unterschiedlichen) Lage und Lauf- laufenden Abschlüsse aus 2009. Die da Die Effektivverdienstentwicklung erholte
zeit der Tarifabkommen berücksichtigt. raus resultierende Tarifanhebung für 2010 sich im vergangenen Jahr gegenüber dem
Auch werden ggf. im Berichtsjahr wirksam beläuft sich auf 2,3 %, die Neuabschlüsse Krisenjahr 2009. Die Summe der Brut
werdende Abschlüsse aus den Vorjahren des Jahres 2010 ergeben lediglich 1,3 %. tolöhne und -gehälter ist 2010 um 2,7 %
sowie zusätzliche Einmalzahlungen und Im Mittel ergibt sich der bereits genannte gestiegen. Je abhängig Beschäftigten er-
Pauschalzahlungen als Ausgleich für Ab- Wert von 1,8 %. gibt sich auf Monatsbasis – nominal – ein
schlussverzögerungen mit einbezogen. In Tarifbereichen mit 0,7 Mio. Be- Anstieg um 2,2 %. Das bedeutet, dass die
Die jahresbezogene Tarifsteigerung setzt schäftigten liefen Vergütungstarifverträge Bruttoverdienste 2010 erstmals nach sechs
die durchschnittliche tarifliche Grund- im Jahr 2010 aus, ohne dass bis zum Jah- Jahren real (preisbereinigt) gestiegen sind,
vergütung des gesamten Jahres 2010 zum resende neue Abschlüsse getätigt wurden. und zwar um 1,1 %. Ursächlich sind im
Vorjahr in Bezug und erfasst insgesamt Bezieht man diese Tarifbereiche mit ein, Wesentlichen der starke Rückgang der
15,9 Mio. Arbeitnehmerinnen und Ar- dann sinkt die jahresbezogene Tarifstei- Kurzarbeit und die (damit verbundene)
beitnehmer. gerung geringfügig von 1,8 auf 1,7 %. In Verlängerung der tatsächlich geleisteten
Diese kalenderjährliche Steigerung der Tarifbereichen mit weiteren 1,8 Mio. Be- Arbeitszeit.
Tarifverdienste 2010 gegenüber 2009 be- schäftigten sind die Tarifverträge bereits Auf Stundenbasis berechnet, sieht das
trug für ganz Deutschland 1,8 % (2009: 2009 oder in den Jahren zuvor ausgelaufen, Bild anders aus. Während im Jahr 2009 die
2,6 %) (Tabelle 2). Am höchsten fiel die ohne nachfolgende Abschlüsse. Berück- Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitneh-
jahresbezogene Tarifsteigerung mit 2,9 % sichtigt man auch diese Bereiche, dann merstunde vor allem kurzarbeitsbedingt
im Bereich Energie- und Wasserversor- sinkt die jahresbezogene Tarifsteigerung um 3,0 % gestiegen waren, ergibt sich für
gung, Bergbau aus, gefolgt vom Handel für 2010 insgesamt auf 1,6 %. 2010 ein Rückgang um nominal 0,2 %, real
3
110,0
105,0
Quelle: WSI-Tarifarchiv.
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Abb. 2: Nominale Effektiv- und Tarifverdienste je Arbeitnehmer im vergangenen Jahr um 1,1 % gestiegen.
2000 bis 2010 – Veränderungen zum Vorjahr in % – Im Jahr 2010 belief sich der Reallohnindex
auf 96 % des Niveaus des Jahres 2000. Mit
5,0 anderen Worten: Die Realeinkommen la-
Effektiv Tarif
4,0
gen im vergangenen Jahr 4 % unter dem
Niveau von 2000. Misst man die nominale
2,7 2,9
3,0 2,4 2,5 2,6 Effektivlohnentwicklung am Verteilungs-
2,1 2,0 2,2 2,2 spielraum aus Preis- und Produktivitäts-
2,0 1,6 1,5 2,2 1,8 entwicklung, ergibt sich ein Rückstand
1,8
1,0 1,5 1,4 1,6 von fast 16 Prozentpunkten. Noch deutlich
1,2
1,0 größer fällt der Rückstand auf den mo-
0,0 0,6
0,3 difizierten Verteilungsspielraum (Zielin-
– 0,2
-1,0 flationsrate der EZB plus Trendproduk-
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 tivität) aus. Alles in allem kann man vor
dem Hintergrund dieser Entwicklung mit
Quelle: Destatis, WSI-Tarifarchiv.
Blick auf die Lohnentwicklung für die Jah-
3.2 Effektivlohnentwicklung Gebrauch gemacht, die ein befristetes Ab- re 2000 – 2010 von einem „verlorenen Jahr-
weichen von den vereinbarten Tarifstan- zehnt“ sprechen.
Eine vereinbarte Tariferhöhung bedeutet dards erlauben. Tarifsteigerungen wurden In der Konsequenz hat sich auch die
nicht automatisch Effektivlohnerhöhung zudem vielfach auf noch vorhandene über- funktionelle Einkommensverteilung zu-
im gleichen Umfang. Dafür gibt es meh- tarifliche Lohnbestandteile angerechnet. lasten der Arbeitseinkommen verändert.
rere Gründe: Zunächst begrenzt die be- Im Ergebnis beobachten wir für fast den Nimmt man als Verteilungsmaßstab die
stehende Tarifbindung von derzeit rund gesamten Zeitraum 2000 – 2010 eine nega- bereinigte Lohnquote (Verhältnis der
61 % der Beschäftigten die verpflichtende tive Lohndrift, das heißt, dass die effektiv Arbeitsentgelte zum Volkseinkommen),
Anwendung der Tariflohnerhöhungen. Die gezahlten Bruttolöhne und -gehälter lang- zeigt sich eine deutliche Umverteilung
Tarifbindung ist auch im Laufe der vergan- samer steigen als die tariflich vereinbarten zugunsten der Unternehmens- und Ver-
genen zehn Jahre erkennbar zurückgegan- Entgelte (Abbildung 2). mögenseinkommen (Abbildung 3). Die
gen. Die nicht tarifgebundenen Betriebe Im Zeitraum von 2000 – 2010 sind die Lohnquote ist im vergangenen Jahrzehnt
können sich zwar an der Tarifentwicklung Bruttomonatsverdienste je Arbeitnehmer von 72,9 auf 67,6 % gefallen, lediglich
orientieren, sind aber grundsätzlich in der um 12,7 % gestiegen, jahresdurchschnitt- 2008 und 2009 gab es durch den krisenbe-
Lohngestaltung frei. Die tarifgebunde- lich um 1,2 % (Tabelle 5). Real (preisberei- dingten Gewinneinbruch vorübergehend
nen Firmen haben insbesondere in wirt- nigt) sind die nominalen Bruttoeinkom- einen begrenzten Anstieg der Lohnquote
schaftlichen Krisenzeiten oftmals von den men in sieben Jahren gesunken, in einem (Tabelle 5).
zahlreichen tariflichen Öffnungsklauseln Jahr stagniert, in zwei Jahren um 0,1 % und
Ausblick 155
143
149 147 145
145
Die Tarifrunde 2011 hat als zentrales 135 128 128
Thema spürbare und dauerhafte Entgelter- 125 121
höhungen. Nach dem Stahlabschluss vom 115 106
113 116
September 2010 mit seiner Tarifsteigerung 100 104 104 113
105 109
105 106
von 3,6 % verstärkten sich die Hoffnun- 100 100 101 105 104
95
gen auf eine positive Entwicklung bei den 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010
Lohnabschlüssen. Angesichts der kräfti-
gen wirtschaftlichen Erholung im Jahr Arbeitnehmerentgelt Unternehmens- und Vermögenseinkommen
2010 und eines prognostizierten weiteren
Wachstums im laufenden Jahr verlangen
Quelle: VGR, Berechnungen WSI-Tarifarchiv.
die Gewerkschaften in den meisten Bran-
chen Tariferhöhungen im Volumen zwi-
schen 5 und 7 %. An der Spitze liegt die
Übersicht 4: Bereits vereinbarte Tariferhöhungen für das Jahr 2011
IG BCE mit einer Forderung von 6 – 7 %,
bei der Deutschen Telekom fordert ver.di Branche ab Monat % Laufzeit bis
Bankgewerbe (ohne Genossenschaftsbanken) 01 1,6 02/2012
6,5 %, mindestens 170 €, im Versiche-
Energie- und Versorgungswirtschaft Ost (AVEU) 01 3,0 12/2011
rungsgewerbe und bei Volkswagen lauten Gebäudereinigerhandwerk West inkl. Berlin/Ost 01 1,8/2,5 12/2011
die Forderungen auf 6 %. Die untere For- Hotels und Gaststätten Nordrhein-Westfalen 07 1,8 04/2012
derungsgrenze liegt bei etwa 5 %. Hotels und Gaststätten Sachsen-Anhalt 04 2,5 03/2012
Überraschend ist die deutliche politi- Kfz-Gewerbe Bayern 07 2,5 04/2012
sche Unterstützung für steigende Löhne Kfz-Gewerbe Thüringen 01 0,6
und Gehälter. Vertreter aller Parteien, da- 06 1,5 04/2012
Metall- und Elektroindustrie 04 2,7 03/2012
runter prominente Mitglieder des Bun-
Öffentlicher Dienst, Bund und Gemeinden 01 0,6
deskabinetts, betonen seit dem Herbst 08 0,5 02/2012
vergangenen Jahres wiederholt, dass die Papier, Pappe und Kunststoff verarbeitende Industrie 05 1,5 08/2012
Beschäftigten nach den Krisenopfern ma- Süßwarenindustrie Ost 01 1,9 12/2011
teriell am wirtschaftlichen Erholungspro- Wohnungs- und Immobilienwirtschaft 01 3,0 12/2012
zess teilhaben müssten. Die Tarifparteien
Quelle: WSI-Tarifarchiv 2010.
reagierten darauf durchweg reserviert und
betonten den autonomen Charakter der
Tarifverhandlungen. bewegen sich zwischen 0,6 und 3,0 % einem Teil der Branche um einen bis zwei
In einer Reihe von Tarifbereichen (Übersicht 4). Von besonderem Gewicht Monate vorgezogen wird.
wurden bereits Tariferhöhungen für das ist die für April vereinbarte Anhebung
Jahr 2011 vereinbart. Die Abschlussraten in der Metallindustrie um 2,7 %, die in
Literatur
Bispinck, R./WSI-Tarifarchiv (2010): Tarifpolitischer Jahresbericht Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA)/
2009: Tarifpolitik in der Finanzmarktkrise, in: WSI-Informationen zur Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) (2010): Funktionsfähigkeit der
Tarifpolitik, Düsseldorf Januar 2010 Tarifautonomie sichern – Tarifeinheit gesetzlich regeln, Gemeinsame Er-
Bundesagentur für Arbeit (BA) (2010): Der Arbeitsmarkt in klärung vom 4.6.2010, http://www.dgb.de/presse/++co++e13a2272-
Deutschland – Jahresrückblick 2009, Nürnberg 7215-11df-59ed-00188b4dc422
Bundesarbeitsgericht (BAG) (2010): Grundsatz der Tarifeinheit, Gesamtmetall (2010): Geschäftsbericht 2009/2010, Berlin
Pressemitteilung 46/10 Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2010): Erholung setzt sich fort
Bundesinstitut für berufliche Bildung (BIBB) (2010): Tarifliche Aus- – Risiken bleiben groß – Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2010, IMK
bildungsvergütungen 2010: Deutlich geringerer Anstieg als im Vorjahr, Report 47, April 2010
Pressemeldung vom 5.1.2011
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA)
(2010): Geschäftsbericht 2010, Berlin
https://doi.org/10.5771/0342-300X-2011-3-123
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